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German Pages 281 Year 2018
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1385
Öffentliche Kommunikation auf sozialen Netzwerkplattformen Eine Rekonzeption des grundrechtlichen Persönlichkeits- und Datenschutzes im Zeitalter sozialer Medien
Von
Christoph Gieseler
Duncker & Humblot · Berlin
CHRISTOPH GIESELER
Öffentliche Kommunikation auf sozialen Netzwerkplattformen
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1385
Öffentliche Kommunikation auf sozialen Netzwerkplattformen Eine Rekonzeption des grundrechtlichen Persönlichkeits- und Datenschutzes im Zeitalter sozialer Medien
Von
Christoph Gieseler
Duncker & Humblot · Berlin
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster hat diese Arbeit im Jahr 2017 als Dissertation angenommen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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© 2018 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
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Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster im Januar 2017 als Dissertation vorgelegt. Die DSGVO findet darin bereits Berücksichtigung; Neuauflagen der zitierten Werke bis April 2018 wurden in der Druckfassung berücksichtigt. Im Prozess der Erstellung der Arbeit und im Promotionsverfahren haben mich zahlreiche Personen und Institutionen unterstützt, denen ich zu herz lichem Dank verpflichtet bin. Allen voran möchte ich meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Bodo Pieroth, für die Möglichkeit danken, mich im Rahmen meiner Dissertation mit diesem Thema zu beschäftigen und zugleich an seinem Lehrstuhl tätig zu sein. Er hat mich fachlich sehr beeinflusst und inspiriert und mein Dissertationsprojekt mit einem offenen Ohr und der notwendigen Geduld begleitet. Dem Zweitgutachter, Herrn Prof. Dr. Bernd Holznagel, LL.M., danke ich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Der Studienstiftung des deutschen Volkes danke ich sowohl für die großzügige finanzielle Unterstützung meines Dissertationsprojekts als auch dafür, dass sie mir ein Forum zum fachlichen und persönlichen Austausch mit anderen Doktorandinnen und Doktoranden geboten hat, aus dem ich wichtige Impulse gewonnen habe. Außerdem danke ich der VG WORT herzlich für den gewährten Druckkostenzuschuss. Persönlich möchte ich zunächst meinen Eltern für ihre vielfältige, bedin gungslose Unterstützung auf meinem Lebens- und Bildungsweg danken, der mir überhaupt erst die Chance einer Promotion eröffnet hat. Daneben danke ich meinen Freunden, meiner Familie und meiner Freundin für ihre moralische Unterstützung in dieser Zeit. Vor allem danke ich all jenen, die mir Feedback zu meinen Gedanken und Ausführungen gegeben haben und mir so die Möglichkeit geboten haben, diese weiterzuentwickeln. Das waren neben einigen guten Freunden insbesondere die Kolleginnen und Kollegen am Institut für Öffentliches Recht und Politik und den anderen öffentlichrechtlichen Lehrstühlen der Universität Münster sowie die Mitglieder des Arbeitskreises Geschichte, Methode und Dogmatik des Öffentlichen Rechts. Den Leserinnen und Lesern dieses Buchs danke ich dafür, dass Sie sich mit meinen Gedanken beschäftigen, und hoffe, dass diese Ihnen eine Quelle für Erkenntnis, Inspiration und nötigenfalls Widerspruch sein werden.
Christoph Gieseler
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 I. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 1. Tatsächliche Grundlagen und Ansatzpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 2. Rechtliche Grundlagen und Ansatzpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 II. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1. Kapitel
Öffentliche Kommunikation und die Konzeption informationeller Selbstbestimmung
22
A. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 I. Die Idee des Volkszählungsurteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 II. Informationen und Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 B. Kritik an der Konzeption der informationellen Selbstbestimmung . . . . . . . . . 27 I. Das Recht geht zu weit: Folgen der Konzeption informationeller Selbstbestimmung für die verdatete Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 1. Die Kritik in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2. Öffentliche Kommunikation und informationelle Selbstbestimmung . 29 II. Das Recht greift zu kurz: Schutz vor Verarbeitung selbst preisgegebener oder veröffentlichter Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 1. Die Schwächen des privatautonomen Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2. Die Veröffentlichung eigener Daten und die informationelle Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 a) Die öffentliche Kommunikation als Einwilligung? . . . . . . . . . . . . . 35 b) Die Öffentlichkeit der Kommunikation als Abwägungsgesichtspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 c) Die Fokussierung der informationellen Selbstbestimmung auf Daten als Grundproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 C. Zugrunde gelegtes Grundrechtsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 I. Das traditionelle Grundrechtsverständnis, insbesondere die Schutzpflicht 44 II. Die Lehre von den Gewährleistungsgehalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 III. Kritik an der Lehre von den Gewährleistungsgehalten . . . . . . . . . . . . . . . 48 IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
8 Inhaltsverzeichnis 2. Kapitel
Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit
D. Die Persönlichkeit und ihre Entfaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Begriff der Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die soziale Konstituierung von Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Identität und Individualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Kritik an den traditionellen Vorstellungen von Identität . . . . . . . . . . . . . . V. Autonomie und Individualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
56 56 57 58 60 63 64 66
E. Die Funktion des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Abgrenzung zur allgemeinen Handlungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 I. Die Abgrenzung nach der „Relevanz“ des Sachverhalts . . . . . . . . . . . . . . 68 II. Die Abgrenzung nach „Tun“ und „Sein“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 III. Verstärkung der Schutzintensität durch die Einbeziehung der Menschenwürde? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 IV. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 F. Das Recht der Selbstdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 I. Der verfehlte Gedanke der Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 1. Die Entwicklung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 2. Selbstdarstellung als multipolare grundrechtliche Entfaltungskonstellation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 II. Der Gedanke der Selbstverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 III. Abwehrrecht und Schutzpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 G. Das Recht auf Privatsphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 I. Das Recht auf thematische Privatsphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 1. Zweck in Abgrenzung zum Recht der Selbstdarstellung . . . . . . . . . . . 87 2. Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 3. Eingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 a) Notwendigkeit einer Differenzierung zwischen Staat und Privaten . 90 b) Weitergabe privater Informationen als Übergriff . . . . . . . . . . . . . . . 91 II. Das Recht auf situative Privatsphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 1. Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 2. Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 a) Definition durch soziale Konventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 b) Rechtlich konstituierte Privatsphärerechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 3. Eingriff und Schutzdimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 III. Weitere Ausprägungen des Privatsphäreschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
Inhaltsverzeichnis9 3. Kapitel
Das Recht auf Datenschutz
103
H. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht als „Wegweiser“ für eine Rekonzeption des grundrechtlichen Datenschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 J. Selbstdarstellungskomponente: Der Schutz vor Profilbildung . . . . . . . . . . . . . 105 I. Der Grund des Schutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 1. Die „Vergegenbildlichung“ des Alltags als Hemmnis für die Persönlichkeitsentfaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 2. Die „Regie“ über die Entwicklung der Gegenbilder . . . . . . . . . . . . . . 108 3. Die Möglichkeit der Anreicherung von Daten mit „Vorwissen“ . . . . . 109 4. Staatliche Profilbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 II. Die Reichweite des Schutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 1. Der Abruf von Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 2. Die Erstellung von Persönlichkeitsprofilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 III. Verhältnis zu anderen Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 K. Privatsphärekomponente: Der Schutz vor Überwachung . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 I. Der Grund des Schutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 1. Die Wahrung des Verhaltenskontextes durch die Rechte am eigenen Bild und Wort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 2. Der Schutz des „Randbereichsverhaltens“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 3. Überwachung als rechtlich relevante Beeinträchtigung der Persönlichkeitsentfaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 II. Die Reichweite des Schutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 1. Verdatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 a) Permanenz der Verdatung: Die Archivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 aa) Die Abrufbarkeit von Daten als Voraussetzung eines Grundrechtseingriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 bb) Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen menschlicher Wahrnehmung und der Erzeugung von Daten . . . . . . . . . . . . . 126 cc) Schlussfolgerung: Flüchtige und permanente Daten . . . . . . . . 128 b) Personenbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 c) Systematische Verdatung als Erweiterung der Verhaltensbeobachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 d) Verhältnis der vorstehenden Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 2. Abruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 III. Verhältnis zu anderen Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 L. Zwischenfazit: Die Phasen der Datenverarbeitung und ihre rechtliche Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
10 Inhaltsverzeichnis M. Folgerungen für die Rechte am eigenen Bild und Wort . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 I. Archivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 II. Verbreitung und Abruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 N. Die Gewichtung des Schutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 I. Die Persönlichkeitsrelevanz der Daten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 II. Der Zweck der Datenverarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 1. Differenzierung nach den Folgen eines Abrufs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 a) Bedeutung der Folgen für die persönlichkeitsrechtliche Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 b) Zusammenhang zwischen Informationsprofilen und Eingriffen . . . 144 2. Der Grundsatz der Zweckbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 III. Die Größe des Profils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 IV. Unterschiede zwischen staatlicher und privater Datenverarbeitung . . . . . 150 V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 4. Kapitel
Dispositionen im allgemeinen Persönlichkeitsrecht
O. Der Grundrechtsverzicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zulässigkeit und normative Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Verzicht auf die Schutzwirkung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Bindungswirkung des Verzichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
155 155 155 157 159 161 163
P. Die Folgen eigenen Handelns im allgemeinen Persönlichkeitsrecht . . . . . . . . 165 I. Das Recht auf Privatsphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 1. Art. 13 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 2. Das allgemeine Recht auf Privatsphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 a) Beschränkung des Schutzbereichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 b) Grundrechtsverzicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 c) Grundrechtsverzicht mit Folgen für den Schutzbereich . . . . . . . . . 170 aa) Das Beispiel der konsentierten medialen Veröffentlichung . . . 170 bb) Voraussetzungen und Folgen des Verzichts . . . . . . . . . . . . . . . 173 II. Das Recht der Selbstdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 1. Dogmatische Einordnung von Dispositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 2. Kein „Alles oder nichts“ bei den Folgen für den Schutzbereich . . . . . 176 III. Das Recht am eigenen Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 1. Dogmatische Einordnung von Dispositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 2. Differenzierung zwischen verfassungsrechtlichem und einfach-rechtlichem Recht am eigenen Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180
Inhaltsverzeichnis11 Q. Dispositionen im Recht auf Datenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Dogmatische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Wirksamkeitsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Erklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Freiwilligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Materielle Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Schutz der Demokratie vor einer Totalüberwachung . . . . . . . . . . . b) Schutz der Menschenwürde vor einem Persönlichkeitsprofil . . . . . 4. Wirkungsdauer der Einwilligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
181 181 184 184 185 187 187 190 192 193
5. Kapitel
Folgerungen für die Informations- und Datenverarbeitung auf sozialen Netzwerkplattformen
195
R. Relevanz der Veröffentlichung von Daten aus Sicht des Rechts auf Datenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 I. Archivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 II. Profilbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 1. Profile in sozialen Netzwerken und ihre Entstehung . . . . . . . . . . . . . . 199 a) Zusammenstellung von Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 b) Identifizierbarkeit: Klarnamen- und Identifizierungspflichten . . . . 201 2. Die Zurechnung der Profilbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 a) Profilerstellung durch den Betreiber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 b) Hinzufügen von Daten durch andere Nutzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 3. Einwilligung des Betroffenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 S. Schutz vor öffentlicher personenbezogener Kommunikation durch das traditionelle allgemeine Persönlichkeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 I. Das Recht auf Privatsphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 1. Die Veröffentlichung von Informationen über Dritte . . . . . . . . . . . . . . 209 2. Die Veröffentlichung den Veröffentlichenden selbst betreffender Informationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 II. Das Recht der Selbstdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 1. Die Veröffentlichung von Informationen über Dritte . . . . . . . . . . . . . . 212 2. Die Veröffentlichung den Veröffentlichenden selbst betreffender Informationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 III. Das Recht am eigenen Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 1. Die Veröffentlichung fremder Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 2. Die Veröffentlichung von Bildern durch den Abgebildeten selbst . . . . 216 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218
12 Inhaltsverzeichnis T. Der Abruf von Daten im sozialen Netzwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 I. Der Abruf öffentlicher Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 1. Eingriffswirkung unter Privatsphäregesichtspunkten . . . . . . . . . . . . . . 220 2. Eingriffswirkung unter Selbstdarstellungsgesichtspunkten . . . . . . . . . . 222 a) Festlegung eines Bildes vom Betroffenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 b) Mangelnde Kontrolle über den sozialen Kontext des Abrufs . . . . . 224 c) Erstellung algorithmenbasierter Prognosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 d) Einwilligung in die Selbstdarstellungsbeeinträchtigung . . . . . . . . . 226 II. Die Schaffung und der Schutz privater Räume in sozialen Netzwerken . 227 1. Einordnung und Voraussetzungen der Bestimmung des Empfängerkreises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 2. Der Schutz vor Zugriffen Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 3. Der Schutz vor einem „Erschleichen“ der Zugriffsmöglichkeit . . . . . . 231 III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 U. Speicherung und Zusammenführung veröffentlichter Daten . . . . . . . . . . . . . . I. Schutz vor Profilbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Schutz vor Überwachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Permanenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Personenbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Einwilligung des Betroffenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
235 235 236 236 238 238 239 240
W. Ausblick: Die Folgen der Google-Entscheidung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . 241 I. Die Zukunft der Suchmaschinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 1. Die besondere persönlichkeitsrechtliche Problematik der Suchmaschinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 2. Die Abwägung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 II. Die Regelung multipolarer Datenverarbeitungskonstellationen . . . . . . . . . 245 III. Die Pflicht zum Vergessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 Zusammenfassende Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278
Einleitung „Die durch dieses Gesetz angeordnete Datenerhebung hat Beunruhigung […] ausgelöst […]. Die Möglichkeiten der modernen Datenverarbeitung sind weithin nur noch für Fachleute durchschaubar und können beim Staatsbürger die Furcht vor einer unkontrollierbaren Persönlichkeitserfassung […] auslösen […]. Da […] nur eine lückenhafte verfassungsgerichtliche Rechtsprechung bestand, nötigen die zahlreichen Verfassungsbeschwerden […] das Bundesverfassungsgericht, die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Datenschutzes umfassender zu prüfen.“1
Mit dieser – hier bewusst etwas zuspitzend gekürzten – Einführung bereitete das Bundesverfassungsgericht den Leser 1983 auf das vor, was ihn erwartete. Es folgte eines der wichtigsten Urteile in der Geschichte des Gerichts, mit dem es nicht nur das Volkszählungsgesetz 1983 für teilweise verfassungswidrig erklärte, sondern – gleichsam auf dem Weg dahin – dem Datenschutz Verfassungsrang zubilligte und sich für eine Konzeption informationeller Selbstbestimmung entschied. Mehr als drei Jahrzehnte später hat sich manches geändert, anderes nicht. Die Einstellungen zur Datenverarbeitung sind heute nicht mehr so sehr von Furcht geprägt. Datenverarbeitung ist heute nicht mehr etwas, das stets von außen auf den Bürger „hereinbricht“. Jeder kann selbst Datenverarbeitungsprozesse in die Wege leiten, von seinem Büro aus, von der privaten Wohnung, mit dem Smartphone von unterwegs. So kann sich jedermann die Möglichkeiten, die die Datenverarbeitung bietet, zunutze machen. Durch ihre Omnipräsenz ist sie nichts „Fremdes“ und „Bedrohliches“ mehr, sondern Teil des Alltags. Das hat, je nach Betrachtungsweise, zu einem sachlicheren und rationaleren Blick auf die Datenverarbeitung beziehungsweise zu einer Resignation und Abstumpfung bezüglich ihrer Gefahren geführt. Symptomatisch war die Volkszählung 2011, die anstatt zu einer einer kollektiven Beunruhigung zu führen, wie sie das Bundesverfassungsgericht 1983 wahrnahm, trotz einiger kritischer Stimmen ganz überwiegend gleichgültig hingenommen wurde. Symptomatisch ist aber auch die Tatsache, dass in großem Umfang persönliche Daten einer (theoretischen) Weltöffentlichkeit öffentlich zugänglich gemacht werden, ohne dass der Einzelne danach noch die faktische Kontrolle darüber hat. Zugleich sind die Daten und die Algorithmen, mit deren Hilfe sie verarbeitet werden, weiterhin in der Hand Dritter, nun insbesondere großer Privatun1 BVerfGE
65, 1 (3 f.).
14 Einleitung
ternehmen. Die Menge der vorhandenen Daten und die Möglichkeiten ihrer Verwendung haben sich erheblich weiterentwickelt. Dass diese Möglichkeiten nur für Fachleute durchschaubar sind, gilt heute weiterhin und erst recht. Die in der Volkszählung 1983 abgefragten Daten gaben der „Furcht vor einer unkontrollierbaren Persönlichkeitserfassung“ sicher noch keine Grundlage. Heute sind, wenn auch an ganz verschiedenen Stellen, so viele Daten über eine Person vorhanden, dass ihre Zusammenführung in der damaligen Terminologie wahrscheinlich eine „Persönlichkeitserfassung“ darstellen würde. Auf den Punkt gebracht bedeutet das: Während die Persönlichkeitserfassung zumindest näher gerückt ist, ist die Furcht davor zurückgegangen. Diese ambivalente Entwicklung gibt Anlass, grundlegende Fragen nach dem Sinn und damit nach der Reichweite des Datenschutzes unter veränderten Rahmenbedingungen noch einmal zu stellen.
I. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes 1. Tatsächliche Grundlagen und Ansatzpunkte Ursache und zugleich Folge dieser Entwicklungen ist die immer weiter zunehmende Nutzung des Internet. Schon seit geraumer Zeit sind viele Angebote im Internet nicht mehr nur darauf ausgerichtet, dem Nutzer Inhalte zu präsentieren. Social Media bzw. soziale Medien basieren darauf, dass Nutzer selbst aktiv werden, indem sie erstens Inhalte erstellen und teilen und sich zweitens vernetzen und miteinander kommunizieren und austauschen.2 Der Nutzer ist „Prosument“, Produzent und Konsument zugleich. So kann er etwa Texte, Bilder, Audiodateien oder Videos der Öffentlichkeit präsentieren. Manche Nutzer gestalten Blogs, Podcasts, Youtube-Kanäle etc. zu bestimmten Themen mit dem Ziel, auch ihnen persönlich nicht bekannte, aber am jeweiligen Thema interessierte Personen damit zu erreichen. Aus Datenschutzsicht sind jedoch solche Nutzungsformen interessanter, bei denen ein großes Maß an persönlichen Daten entsteht. Das trifft insbesondere auf soziale Netzwerke zu. Diese werden als internetbasierte Dienste definiert, die Individuen erlauben, in einem beschränkten System ein öffentliches oder teilöffentliches Profil zu erstellen, eine Liste andere Nutzer zu artikulieren, mit denen sie eine Verbindung haben, und die Liste ihrer Verbindungen und der Verbindungen anderer Nutzer im System anzuschauen und durchzugehen.3 Soziale Netzwerke dienen damit primär der Kommunikation und Vernetzung mit anderen Nutzern, wobei in der Regel das Teilen von Inhalten, ins2 Schmidt,
S. 10 f. Journal of Computer-Mediated Communication 13 (2007), article
3 boyd/Ellison,
11.
Einleitung15
besondere von Fotos, ebenfalls eine mehr oder weniger zentrale Rolle spielt. Das mit großem Abstand wichtigste soziale Netzwerk in Deutschland ist Facebook, das ehemals wichtige Konkurrenten wie MySpace und StudiVZ praktisch vollständig verdrängt hat. Facebook soll daher als Beispiel dienen, wenn es darum geht, die zu entwickelnden Grundsätze auf konkrete Fälle anzuwenden. Daneben ist das Netzwerk Twitter im Zusammenhang dieser Arbeit ein besonders geeignetes Beispiel, da es nach seiner Struktur klar auf öffentliche Kommunikation ausgerichtet ist. Eine zunehmende Bedeutung4 haben daneben Fotocommunities wie Instagram, Flickr oder Snapchat, bei denen sich Nutzer vernetzen und Bilder teilen können. Daher wird auch auf die rechtlichen Besonderheiten der Veröffentlichung von Bildern eingegangen werden. Eine weitere Untergruppe der sozialen Netzwerkplattformen sind Seiten wie Xing und LinkedIn, die der beruflichen Selbstdarstellung und Vernetzung dienen. Ziel der Arbeit ist die Entwicklung allgemeiner Grundsätze und nicht die Bewertung bestimmter Datenverarbeitungen auf bestimmten Netzwerkplattformen. Die Beispiele dienen daher primär dazu, die Grundsätze zu illustrieren und nachvollziehbar zu machen. Die Grundsätze finden auch auf alle anderen Plattformen Anwendung, bei denen persönliche Daten durch Nutzer öffentlich gemacht werden. Auf Bewertungsplattformen, die der Bewertung natürlicher Personen (wenn auch zumeist in ihrer beruflichen Tätigkeit) dienen, wie Jameda oder MeinProf.de, werden etwa ebenfalls persönliche Daten Dritter veröffentlicht. Eine öffentliche Selbstdarstellung findet zum Beispiel auch auf Dating-Plattformen oder in Gastfreundschaftsnetzwerken wie Couchsurfing statt. Ob diese unter die Definition eines sozialen Netzwerks fallen, hängt von der Gestaltung der Plattform ab. Für die Zwecke dieser Arbeit ist das jedoch irrelevant, sofern dort persönliche Informationen öffentlich geteilt werden. Eine Besonderheit der öffentlichen Kommunikation in sozialen Netzwerken im Vergleich zu anderen Datenverarbeitungsprozessen ist die Vielzahl der Beteiligten. Bei allen zuvor genannten sozialen Medien handelt es sich um Plattformen, bei denen ein (regelmäßig kommerzieller) Anbieter die Infrastruktur für die Selbstdarstellung, Fremddarstellung und Interaktion der Nutzer zur Verfügung stellt. Private Homepages, die eine Privatperson zum Zwecke ihrer persönlichen Selbstdarstellung völlig frei gestaltet und verwaltet,5 spielen heute praktisch keine Rolle mehr. Insofern entsteht ein erstes zu begutachtendes Rechtsverhältnis zwischen dem veröffentlichenden 4 2015 nutzten laut ARD-/ZDF-Onlinestudie noch 9 % der Internetnutzer mindestens einmal pro Woche Fotocommunities, 2016 waren es schon 12 %, siehe Koch/ Frees, Media Perspektiven 2016, 418 (428). 5 Hierzu noch Misoch, Identitäten im Internet.
16 Einleitung
Nutzer und dem Betreiber der Plattform. Ein zweites Rechtsverhältnis, das aber zugleich ein soziales Verhältnis sein kann, ist bei der Veröffentlichung von Informationen über Dritte das Verhältnis zwischen dem veröffentlichenden Nutzer und dem Betroffenen. Ein drittes Rechtsverhältnis entsteht zwischen dem Betroffenen und demjenigen, dem die öffentlichen Inhalte zur Kenntnis gelangen beziehungsweise der sie für sich nutzt. Hier gibt es vielfältige Konstellationen. Es kann sich um eine Privatperson handeln, die den Betroffenen kennt oder nicht kennt, ein Unternehmen oder einen anderen Privaten mit konkreten wirtschaftlichen Interessen, etwa einen (potenziellen) Arbeitgeber, oder aber eine staatliche Stelle. Die Inhalte können einfach nur gesehen oder gezielt aufgesucht werden, die Daten können gespeichert, weiterverarbeitet oder aggregiert werden. Tatsächlich sind diese Verarbeitungsprozesse unabhängig davon, ob eine staatliche Stelle oder ein Privater handelt, sodass sich der Aufbau der Arbeit nicht an dieser Differenzierung, sondern an den Verarbeitungen und den dadurch entstehenden Pathologien orientiert. Rechtlich allerdings ist zwischen einer unmittelbaren Grundrechtsbindung staatlicher Stellen und der staatlichen Schutzpflicht hinsichtlich privater Datenverarbeitung zu unterscheiden. Theoretisch wäre eine weitere Perspektive denkbar: der Schutz des Nutzers vor sich selbst, vor seiner öffentlichen Selbstentblößung. Doch wie gesehen werden die Datenverarbeitungen nicht durch den Nutzer selbst, sondern durch Dritte durchgeführt, teilweise eben in seinem Auftrag. Natürlich wird dadurch stets die Frage im Hintergrund stehen, wie jemand zu schützen ist, der „seine“ Daten selbst veröffentlicht hat. Doch um einen „Schutz vor sich selbst“ im eigentlichen Sinne, etwa eine gesetzliche Restriktion der Selbstentblößung, wird es dabei nicht gehen. Solche Maßnahmen liegen fern und werden von keiner Seite gefordert, sodass ihre rechtliche Bewertung mangels praktischer Relevanz unterbleiben kann. Bei den relevanten rechtlichen Fragen spielt die Frage des „Schutzes vor sich selbst“ nur mittelbar eine Rolle. 2. Rechtliche Grundlagen und Ansatzpunkte Das Bundesverfassungsgericht hat im Volkszählungsurteil die Ankündigung aus der Einleitung wahr gemacht und die verfassungsrechtlichen Grundlagen umfassend geprüft. Das Ergebnis dieser Prüfung, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, hat die Gesetzgebung, die praktische Handhabung und letztlich die allgemein verbreitete Vorstellung von Datenschutz entscheidend geprägt. Gleichwohl war diese Konzeption schon vor dem Volkszählungsurteil nicht unumstritten6 und ist auch seitdem immer 6 Vgl.
Mallmann, S. 27 ff.
Einleitung17
wieder in Frage gestellt worden. Die wohl bekanntesten Grundsatzkritiken stellen die Arbeiten von Vogelgesang7, Albers8 und Bull9 dar. Die vorliegende Arbeit wird sich, wie bereits der Untertitel andeutet, in die Reihe der kritischen Stellungnahmen einordnen. Insofern ist sie als ein Element rechtswissenschaftlicher Grundlagenforschung zu verstehen. Es geht darum, Datenschutz in Hinblick auf das Phänomen der öffentlichen Kommunikation grundlegend neu zu denken. Rechtlicher Ansatzpunkt sind die Grundrechte der Nutzer, namentlich der Schutz der freien Entfaltung der Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG. Die Untersuchung soll nicht abstrakt bleiben, vielmehr werden die entwickelten Grundsätze am Ende auf typische Informations- und Datenverarbeitungen in Social Media bezogen. Ziel ist aber nicht eine umfassende Untersuchung der dort stattfindenden Datenverarbeitungen nach Maßgabe des einfachen Rechts.10 Bezüglich der maßgeblichen Rechtslage stehen nun ohnehin große Änderungen an. Am 24. Mai 2016 trat die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) in Kraft, die ab dem 25. Mai 2018 gelten und dann grundsätzlich alle Datenverarbeitungen EU-weit einheitlich und unmittelbar regeln wird. Maßgeblich werden dann nicht mehr Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG und die einfach-rechtliche Umsetzung der dazu ergangenen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung sein, sondern die DSGVO. Jedoch lässt die DSGVO an den entscheidenden Stellen Lücken. Nach Art. 2 Abs. 2 lit. d erfasst sie von vornherein nicht die Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit. Ebenso ist nach Art. 2 Abs. 2 lit. b DSGVO der Bereich der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ausgenommen. Für einen wesentlichen Teil staatlichen Handelns, für den die Nutzung öffentlicher Daten eine immer größere Rolle spielt,11 gilt daher weiterhin nationales Recht. Art. 85 Abs. 1 DSGVO überlässt es den Mitgliedsstaaten zudem, durch Rechtsvorschriften das Recht auf den Schutz personenbezogener Daten gemäß der Verordnung mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit, einschließlich der Verarbeitung zu journalistischen Zwecken und zu wissenschaftlichen, künstlerischen oder literarischen Zwecken, in Einklang zu bringen. Auch bei diesen schwierigen Abwägungsentscheidun7 Vogelgesang,
Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung? Informationelle Selbstbestimmung. 9 Bull, Informationelle Selbstbestimmung – Vision oder Illusion? 10 Hierzu etwa die Untersuchungen von Kampert, Datenschutz in sozialen OnlineNetzwerken de lege lata und de lege ferenda; Piltz, Soziale Netzwerke im Internet. 11 Henrichs/Wilhelm, Kriminalistik 2010, 30 (32 f.). 8 Albers,
18 Einleitung
gen zwischen kollidierenden Rechtspositionen bleibt nationales Recht maßgeblich; in Deutschland wird das angesichts der Gesetzgebungskompetenzen für die genannten Themengebiete vor allem Landesrecht sein. Für das Verhältnis zwischen verschiedenen Nutzern von Social-Media-Plattformen spielt das Ergebnis der Abwägung zwischen Datenschutz einerseits und Meinungsund Informationsfreiheit andererseits die entscheidende Rolle. Die Frage ist, ob diese Abwägung anhand deutscher oder anhand europäischer Grundrechte durchzuführen ist. Die GRCh bindet die Mitgliedsstaaten nach Art. 51 Abs. 1 GRCh bei der Durchführung des Rechts der Union. Bei der Umsetzung von Richtlinien ist strittig, ob diese Voraussetzung vorliegt, soweit Mitgliedsstaaten dabei einen Ermessensspielraum haben.12 Dieselbe Frage stellt sich, wenn, wie hier, eine Verordnung ausdrücklich einen Spielraum lässt. Mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit, dem die Mitgliedsstaaten Geltung verschaffen sollen, ist, wie Erwägungsgrund 153 deutlich macht, das entsprechende Recht aus Art. 11 GRCh gemeint. Dem ist das Recht auf den Schutz personenbezogener Daten „gemäß dieser Verordnung“ gegenüberzustellen, der nach Erwägungsgrund 1 zur DSGVO auf Art. 8 GRCh basiert. Maßgeblich sind also im Ausgangspunkt die europäischen Grundrechte. Das ist hier so klar geregelt, dass es auf den allgemeinen Streit nicht ankommt. Das schließt jedoch die Geltung der deutschen Grundrechte nicht aus.13 Insbesondere wenn der Gesetzgeber in „Dreiecksverhältnissen“ die Positionen zweier Grundrechtsträger in Ausgleich bringen muss, ist dabei so weit wie möglich sowohl den europäischen als auch den nationalen Grundrechten Geltung zu verschaffen und nur ausnahmsweise von einem Vorrang der europäischen Grundrechte auszugehen.14 Das überzeugt gerade im Zusammenhang mit Art. 85 DSGVO. Dass der europäische Gesetzgeber in diesen grundrechtssensiblen Bereichen die Abwägung den Mitgliedsstaaten überlässt, zeigt, dass er von einem Korridor ausgeht, in dem die Mitgliedsstaaten nach ihrem Ermessen einen Ausgleich schaffen können und sollen. Stünde das Ergebnis der Abwägung europarechtlich fest, bräuchte es die Delegation an die Mitgliedsstaaten nicht. Bei der Ausübung des Ermessens können beispielsweise länderspezifische Vorstellungen von Datenschutz und Kommunikationsfreiheit und politische Prioritäten eine Rolle spielen. Ganz entscheidend sind aber die nationalen Grundrechtsordnungen, die sowohl Leitlinien Streitstand Calliess/Ruffert – Kingreen, Art. 51 GRCh Rn. 8 ff. Urteil vom 26.02.2013 – Rs. C-617/10, Aklagare/Akerberg Fransson, abrufbar im Internet: http://curia.europa.eu (Stand: 23.01.2017), Rn. 29; BVerfGE 121, 1 (15); Jarass, Art. 53 Rn. 28. 14 Ehlers, in: Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, Rn. 79; Jarass, Art. 53 Rn. 32. 12 Zum
13 EuGH,
Einleitung19
als auch Grenzen für die Gesetzgebung enthalten können. Sofern dadurch nicht der Korridor verlassen wird, den die europäischen Grundrechte gewähren, sind diese nationalen Maßstäbe zu berücksichtigen. Die DSGVO wird vor allem für das Verhältnis zwischen Nutzer und Betreiber der Plattform maßgeblich sein, das wiederum vor allem durch das zwischen beiden bestehende Vertragsverhältnis und die in dessen Rahmen erteilte Einwilligung in Datenverarbeitungen geprägt ist. Daher wird, wenn es um Einwilligungen in diesem Verhältnis geht, jeweils auch auf die nach der DSGVO geltenden Wirksamkeitsvoraussetzungen eingegangen werden. Ohnehin sind die Ergebnisse der Untersuchung, obwohl aus dem Grundgesetz hergeleitet, auch für die Rechtssetzung und -anwendung auf europäischer Ebene relevant. Selbstverständlich hat sich weder die europäische Gesetzgebung noch die Auslegung der DSGVO am deutschen Grundgesetz zu orientieren. Allerdings sind die Gedanken, die insbesondere im Mittelteil der Arbeit zum Datenschutz entwickelt werden, durchaus universal zu verstehen. Die EU-Grundrechtecharta enthält in Art. 8 ein Recht auf Schutz personenbezogener Daten, dessen Schutzgut der Konkretisierung bedarf.15 Teilweise wird auch hier von einem Recht auf informationelle Selbstbestimmung gesprochen,16 was derselben Kritik ausgesetzt ist wie die entsprechende Konzeption auf Grundlage des Grundgesetzes. Der Schutz des Privatlebens in Art. 7 GRCh wiederum wird im Sinne eines allgemeinen Persönlichkeitsrechts verstanden.17 Insofern sind die normativen Grundlagen des europäischen Rechts dem deutschen Grundgesetz nicht unähnlich. Daher können die hier anzustellenden Überlegungen zum Schutzgut des Datenschutzes sowie der Reichweite und Gewichtung des Schutzes zumindest als Vorschlag für die Auslegung des Art. 8 GRCh und der DSGVO dienen. Diese Ansätze können etwa der Abwägung nach der Generalklausel des Art. 6 Abs. 1 lit. f DSGVO Konturen verleihen und damit zur Rechtssicherheit beitragen.18
II. Gang der Untersuchung Das Thema der öffentlichen Kommunikation auf sozialen Netzwerkplattformen bildet den Rahmen dieser Arbeit, die Rekonzeption des grundrechtlichen Persönlichkeits- und Datenschutzes ist der Weg, die damit verbundenen Fragen zu beantworten. 15 Britz,
EuGRZ 36 (2009), S. 1 (8). Rn. 1358; Calliess/Ruffert – Kingreen, Art. 8 GRCh Rn. 1. 17 Calliess/Ruffert – Kingreen, Art. 7 GRCh Rn. 3 ff.; Jarass, Art. 7 Rn. 3. 18 Zur fehlenden Rechtssicherheit angesichts der Weite der Generalklausel Kramer, DuD 2013, 380 (381); Nebel/Richter, ZD 2012, 407 (409); Schneider/Härting, ZD 2012, 199 (202). 16 Frenz,
20 Einleitung
Das 1. Kapitel zeigt anhand des Themas der öffentlichen Kommunikation, warum eine Rekonzeption nötig ist. Unter A. wird das Volkszählungsurteil vorgestellt und die wichtige Unterscheidung zwischen Informationen und Daten geklärt. Unter B. wird die Kritik an der Konzeption informationeller Selbstbestimmung aufgegriffen, strukturiert und anhand der Fragen, die das Phänomen öffentlicher Kommunikation aufwirft, neu akzentuiert. Unter C. folgt – ebenfalls als Grundlegung für die folgende Rekonzeption – eine Auseinandersetzung mit neuen grundrechtsdogmatischen Ansätzen, die in Rechtsprechung und Literatur gerade bei Fragen der Informations- und Kommunikationsordnung vorgeschlagen werden. Diese Grundlegung ist der Einstieg, um nach dem Prinzip „vom Allgemeinen zum Besonderen“ Stück für Stück die Voraussetzungen zu schaffen, um die öffentliche Kommunikation grundrechtlich zu erfassen. Bevor der Datenschutz rekonzipiert werden kann, bedarf zunächst seine rechtliche Grundlage, das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, einer näheren Betrachtung. Diese beginnt im 2. Kapitel unter D. mit einer soziologischen Betrachtung des Begriffs der Persönlichkeit. Anschließend folgt unter E. die grundrechtsdogmatische Untersuchung der diskutierten Ein- und Abgrenzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Die soziologischen Erkenntnisse ermöglichen hier einen neuen Blick auf den grundrechtlichen Handlungs- und Persönlichkeitsschutz. Auf dieser Grundlage werden anhand der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die beiden informationsbezogenen Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts untersucht, nämlich unter F. das Recht der Selbstdarstellung und unter G. das Recht auf Privatsphäre. Im 3. Kapitel wird wiederum aus der Entwicklung dieser beiden Stränge (dazu H.) das Recht auf Datenschutz entwickelt. Dieses enthält ebenfalls eine Selbstdarstellungskomponente (J.) und eine Privatsphärekomponente (K.). Zu beiden Elementen des Datenschutzes wird zunächst jeweils unter I. erläutert, warum die freie Entfaltung der Persönlichkeit einen entsprechenden Schutz vor Datenverarbeitung gebietet. Unter II. wird daraus die Reichweite des Schutzes gefolgert. Unter III. wird jeweils das Verhältnis zu anderen Grundrechten dargestellt. Teil L. stellt die Unterschiede zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung heraus. M. enthält Folgerungen für die Schutzbereiche der Rechte am eigenen Bild und Wort, die mit dem Recht auf Datenschutz eng verwandt sind, aber Besonderheiten aufweisen. Unter N. werden die Gesichtspunkte untersucht, an denen sich das Gewicht des Rechts auf Datenschutz bestimmt, wenn es bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung oder bei der Berücksichtigung kollidierender Interessen Dritter zu einer Abwägung kommt. Nachdem damit das Recht auf Datenschutz in seinen wesentlichen Zügen vorgestellt ist, muss noch ein weiterer Gesichtspunkt in die Untersuchung
Einleitung21
einbezogen werden, der bei der grundrechtlichen Beurteilung öffentlicher Kommunikation eine Rolle spielt. Das 4. Kapitel ist daher dem Thema der Dispositionen im allgemeinen Persönlichkeitsrecht gewidmet. Auch diese Untersuchung erfolgt vom Allgemeinen zum Besonderen. Unter O. wird zunächst allgemein die Figur des Grundrechtsverzichts erläutert. Unter P. werden die Ergebnisse auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht angewandt, mit dem Schwerpunkt auf der Frage, in welchen Fällen überhaupt ein Grundrechtsverzicht vorliegt und was für andere Formen von Dispositionen hier eine Rolle spielen. Das Recht auf Datenschutz wird unter Q. besonders betrachtet. Hier liegt der Schwerpunkt auf der Frage, welche Voraussetzungen für einen wirksamen Verzicht vorliegen müssen. Im 5. Kapitel schließlich endet der Bogen wieder bei den grundrechtlichen Aspekten der öffentlichen Kommunikation, die am Beispiel sozialer Netzwerke betrachtet werden. Unter R. werden zunächst die Verarbeitungsschritte untersucht, die dazu führen, dass Daten im sozialen Netzwerk verfügbar gemacht werden. Die Frage ist, inwieweit dadurch das Recht auf Datenschutz berührt wird. Unter S. wird die Veröffentlichung unter dem Gesichtspunkt der anderen Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts untersucht. Dabei wird zwischen den Rechten auf Selbstdarstellung, Privatsphäre und am eigenen Bild sowie nach selbst und von Dritten veröffentlichten Daten unterschieden. Teil T. setzt sich mit der Frage auseinander, inwieweit der Abruf der veröffentlichten Daten das Recht auf Datenschutz berührt. Dabei geht es einerseits um öffentliche Daten, andererseits auch darum, wann Daten nicht als öffentlich betrachtet werden können und welche Folgen sich daraus ergeben. Unter U. geht es um Verarbeitungsformen, die über den bloßen Abruf der Daten hinausgehen, namentlich das Herunterladen, Zusammenstellen und die weitere Verwendung dieser Daten durch Dritte. Teil W. enthält einen Ausblick, wie sich der Datenschutz im Internet, insbesondere angesichts der Google-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs, weiterentwickeln könnte und sollte.
1. Kapitel
Öffentliche Kommunikation und die Konzeption informationeller Selbstbestimmung A. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung I. Die Idee des Volkszählungsurteils Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wurde bekanntlich 1983 im Volkszählungsurteil entwickelt. Seit den 70er Jahren hatte die automatisierte Datenverarbeitung in der öffentlichen Verwaltung immer weiter zugenommen. Diese Entwicklung weckte Misstrauen in der Bevölkerung und regte eine breite öffentliche Debatte über die Privatsphäre im Lichte automatisierter Datenverarbeitung an, die auch in der Rechtswissenschaft aufgegriffen wurde.1 Die Verfassungsbeschwerde gegen das Volkszählungsgesetz gab dem Bundesverfassungsgericht Anlass, sich hierzu zu positionieren und damit einen grundrechtlichen Datenschutz zu entwickeln. Das Gericht legte seiner Entscheidung die Konzeption der informationellen Selbstbestimmung zugrunde, die zuvor in der Rechtswissenschaft entwickelt worden war.2 Sensitivität und Bedeutungsgehalt von Informationen hängen vom jeweiligen Verwendungszusammenhang ab.3 An sich harmlose Informationen erlauben weitreichende Schlüsse, wenn sie über ihre ursprüngliche Verwendung hinaus gezielt zusammengetragen und verknüpft werden. Genau das ermöglicht die automatisierte Datenverarbeitung ohne großen Aufwand. Eine Bibliothek etwa muss und darf selbstverständlich zum Zwecke der Rückgabekontrolle registrieren, wer welches Buch entliehen hat. Werden die gleichen Informationen aber von einem Dritten – etwa einer Behörde oder einem potenziellen Arbeitgeber – genutzt, um Schlussfolgerungen über einzelne Nutzer zu ziehen, kann die Ausleihe etwa von Büchern mit politischem, medizinischem oder pornographischem Inhalt einen tiefen Einblick in deren politische Einstellung, Gesundheitszustand oder Sexualleben erlauben. 1 Vgl. etwa Benda, in: FS Geiger, S. 23 ff.; Heußner, in: FS Wannagat, S. 173 ff.; Mallmann, Zielfunktionen des Datenschutzes; Podlech, in: Grundrechte, S. 50 ff.; Simitis, in: FS Coing II, S. 495 ff. 2 Maßgeblich Steinmüller, S. 84 ff. 3 Mallmann, S. 26.
A. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung23
Die Verarbeitung persönlicher Daten berührt daher dem Bundesverfassungsgericht zufolge das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG.4 Das Gericht argumentiert vor allem mit der Gefahr eines psychischen Konformitätsdrucks. Schon die Sorge davor, in welche Verwendungszusammenhänge welche Informationen einfließen und welche negativen Folgen das für den Betroffenen hat, kann dazu führen, dass man nicht mehr vollkommen selbstbestimmt handelt. Wer befürchten muss, dass die Information über ein Verhalten in einem ganz anderen Kontext negative Folgen für ihn hat, wird dieses Verhalten möglicherweise unterlassen. Die Folge ist auf Dauer Apathie und Konformität, gerade im politischen Bereich.5 Daher muss es ein Privatsphärerecht in Gestalt eines Schutzes vor „dysfunktionale(r) Weitergabe“6 von Daten geben. Da die Gefahr negativer Konsequenzen aber entscheidend von der Verwendung der Daten abhängt, kann man nicht anhand des Inhalts eines Datums abstrakt-generell bestimmen, welches Datum privat ist und welches nicht. Es gibt, in den Worten des Bundesverfassungsgerichts, „unter den Bedingungen der automatischen Datenverarbeitung kein ‚belangloses‘ Datum mehr“7. Daher verzichtet die Konzeption der informationellen Selbstbestimmung auf eine Definition „privater“ Informationen und überträgt die Entscheidung über die Reichweite seiner Privatsphäre dem einzelnen Grundrechtsträger.8 Ihm wird die Befugnis zugesprochen, „grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen“9. Persönliche Daten sind solche mit Bezug zu den persönlichen oder sachlichen Verhältnissen einer bestimmten Person.10 Das Recht ähnelt in seiner Struktur der allgemeinen Handlungsfreiheit.11 Diese schützt jedes Tun oder Unterlassen, unabhängig von dessen Bedeutung für die Persönlichkeit des Einzelnen. Denn Art. 2 Abs. 1 GG schützt gerade den Selbstentwurf des Menschen nach seinem Willen und damit die Freiheit, selbst zu bestimmen, was für seine Persönlichkeit relevant ist. Daher wird selbst das Verbot scheinbar banaler Handlungen als rechtfertigungsbedürftiger Grundrechtseingriff betrachtet.12 Das Recht auf informationelle Selbstbe4 BVerfGE
65, 1 (41). 65, 1 (43); Mallmann, S. 62. 6 Benda, in: FS Geiger, S. 23 (37). 7 BVerfGE 65, 1 (45). 8 Mallmann, S. 27. 9 BVerfGE 65, 1 (43). 10 JP – Jarass, Art. 2 Rn. 43. 11 Vgl. Bull, S. 46 f. 12 MD – Di Fabio, Art. 2 Abs. 1 Rn. 15. 5 BVerfGE
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1. Kap.: Öffentliche Kommunikation
stimmung überträgt diesen „Gedanken der Selbstbestimmung“13 von den Handlungen auf die über diese Handlungen entstehenden Daten. Der Einzelne bekommt zwei voneinander unabhängige Selbstbestimmungsrechte zugesprochen. Er kann erstens frei handeln und zweitens frei darüber entscheiden, inwieweit Daten über diese Handlungen gespeichert und verwendet werden dürfen.14 Damit ist jede Verarbeitung persönlicher Daten ein Grundrechtseingriff. Ob sich die Datenverarbeitung materiell auf die Privatsphäre des Grundrechtsträgers auswirkt, sei es auch nur in seiner subjektiven Vorstellung von Privatsphäre, spielt ebenso wenig eine Rolle wie die „Persönlichkeitsrelevanz“ der Handlung bei der allgemeinen Handlungsfreiheit. Der Eingriff besteht schon darin, dass das formale Recht des Einzelnen missachtet wurde, selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner Daten und damit die Reichweite seiner Privatsphäre zu bestimmen. Zwar soll der Einzelne „nicht ein Recht im Sinne einer absoluten, uneinschränkbaren Herrschaft über ‚seine‘ Daten“15 haben, vielmehr sei er „eine sich innerhalb der sozialen Gemeinschaft entfaltende, auf Kommunikation angewiesene Persönlichkeit“16. Diese Erwägung kommt allerdings erst im Abschnitt zu den Schranken des Rechts zum Tragen. Der Grundsatz ist das Verfügungsrecht an persönlichen Daten; erst auf Schrankenebene kann es im überwiegenden Allgemeininteresse eingeschränkt werden. Über die abwehrrechtliche Funktion hinaus begründet das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eine staatliche Schutzpflicht.17 Schon im Volkszählungsurteil bezieht das Gericht seine Begründung trotz der abwehrrechtlichen Fragestellung auch und gerade auf private Datenverarbeitung: Das Recht soll es ermöglichen, das Wissen des „sozialen Umfelds“ und der „Kommunikationspartner“ zu steuern, und damit letztlich eine bestimmte „Gesellschaftsordnung“ rechtlich absichern.18 Der Gesetzgeber hat, um die informationelle Selbstbestimmung im Privatrechtsverhältnis zu schützen, auch für diesen Bereich ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt normiert. Nach § 4 Abs. 1 BDSG 2009 sind die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten nur zulässig, soweit eine Rechtsvorschrift dies erlaubt oder anordnet oder der Betroffene eingewilligt hat. Das gilt gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 3 BDSG 2009 grundsätzlich auch für die private Datenverarbeitung. Erlaubnistatbestände für 13 BVerfGE
54, 148 (155); BVerfGE 65, 1 (42). S. 88. 15 BVerfGE 65, 1 (43 f.). 16 BVerfGE 65, 1 (44). 17 BVerfGE 117, 202 (229); BVerfG DVBl 2007, 111 (112); JP – Jarass, Art. 2 Rn. 56. 18 BVerfGE 65, 1 (43); dazu Schlink, Der Staat 25 (1986), S. 233 (240). 14 Steinmüller,
A. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung25
den privaten Bereich sind in §§ 28 ff. BDSG normiert. Das Verbot mit Erlaubnisvorbehalt ist die konsequente Folgerung aus dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung und dem dadurch bedingten Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen Privatsphäre und Datenverarbeitung. Die DSGVO sieht in Art. 6 Abs. 1 ebenfalls ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt vor.
II. Informationen und Daten In den letzten Jahren ist die Unterscheidung zwischen Daten und Informationen immer stärker in den Fokus der Untersuchungen zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung gerückt.19 Die Begriffe wurden zuvor oft synonym verwendet, müssen aber unterschieden werden.20 „Daten“ sind Zeichen, die auf einem Datenträger festgehalten sind.21 „Information“ kann als ein Sinngehalt begriffen werden, der als Rekonstruktion einer anderen (Sinn-) Selektion aufgebaut wird. Eine Information bezeichnet „weder lediglich das, was mitgeteilt, noch lediglich das, was verstanden wird, sondern das, was als Inhalt eine Mitteilung verstanden wird“22. Sie entsteht aufgrund eigenständiger Interpretations- und Zurechnungsmechanismen. Daher kann der Aussagegehalt einer Mitteilung sich je nach Empfänger unterscheiden. Die Aussage hängt von den Erwartungsstrukturen des Interpretierenden, insbesondere seinem schon vorhandenen Wissen, sowie den Prozessen und Bezugsebenen, in denen Daten interpretiert werden, ab. Das erklärt noch einmal, warum der Verwendungszusammenhang für den Informationsgehalt so eine große Rolle spielt.23 Die begriffliche Differenzierung wirft die Frage auf, ob sich die Verfügungsbefugnis des Einzelnen auf persönliche Daten oder auf persönliche Informationen bezieht. Die Antwort ergibt sich aus dem dargelegten sozialen Charakter von Informationen. Einerseits: Die Risiken, die das Recht auf informationelle Selbstbestimmung bewältigen soll, gehen nicht von Daten aus, sondern von Informationen.24 Es ist offensichtlich, dass durch bloße Zeichen auf einem Datenträger keine Persönlichkeitsgefährdung entsteht. Doch auch die Fixierung eines Sinngehalts auf einem Datenträger, gleichsam die „Verdatung“ einer Infor19 Albers, S. 87 ff.; Britz, in: Offene Rechtswissenschaft, S. 561 (566 f.); HoffmannRiem, AöR 134 (2009), S. 513 (517 f.); Poscher, in: Resilienz, S. 167 (172); Trute, in: Handbuch Datenschutzrecht, Kap. 2.5 Rn. 16 ff. 20 Albers, S. 89; Trute, in: Handbuch Datenschutzrecht, Kap. 2.5 Rn. 16; aA MD – Di Fabio, Art. 2 Abs. 1 Rn. 175. 21 Albers, S. 89; Britz, in: Offene Rechtswissenschaft, S. 561 (566). 22 Albers, S. 90. 23 Albers, S. 91 ff. 24 Britz, in: Offene Rechtswissenschaft, S. 561 (567).
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1. Kap.: Öffentliche Kommunikation
mation, ist nicht das eigentliche Problem. Das Problem entsteht, wenn der dort fixierte Gehalt von einem Empfänger interpretiert wird und damit ein neuer Sinngehalt entsteht. Denn soweit nicht absehbar ist, wer dieser Empfänger ist, welches Vorwissen er hat und in welchem Stadium welches Prozesses das Datum interpretiert wird, ist auch die entstehende Information nicht absehbar – nicht für den Speichernden und erst recht nicht für den Betroffenen.25 Dieser Kontrollverlust ist die Folge der Fixierung persönlicher Informationen in Form von Daten. In einem persönlichen Gespräch kann man in etwa abschätzen, welchen Informationsgehalt das Gesagte für den Empfänger hat. Ein gespeicherter Sinngehalt kann demgegenüber, wenn die Verwendung des Datums nicht begrenzt wird, eine Art Eigenleben entwickeln. Insofern kann die automatisierte Datenverarbeitung durchaus zu Persönlichkeitsgefährdungen führen. Das Problem sind aber nicht die Daten. Daten sind lediglich ein Werkzeug für die Bildung von Informationen, die je nach Verwendungskontext für den Betroffenen nachteilig sein können. Andererseits: Weil Informationen sich beim Empfänger bilden, ist ein selbstbestimmtes Verfügungsrecht über diese undenkbar.26 Da die Information sich maßgeblich aus dessen Erwartungen ergibt, die sich nicht hundertprozentig abschätzen und schon gar nicht kontrollieren lassen, kann es kein Selbstbestimmungsrecht über persönliche Informationen geben. Gegen ein Verfügungsrecht über persönliche Daten bestehen solche Einwände nicht. Daher kann sich das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nur auf persönliche Daten beziehen.27 Nur so verstanden lässt sich das Recht auf informationelle Selbstbestimmung bruchlos in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts integrieren. Denn selbst wenn man diese soziale Komponente des Informationsbegriffs nicht berücksichtigt und „Information“ mit der Mitteilung des Senders gleichsetzt, könnte der Einzelne mit einem Verfügungsrecht über seine persönlichen Informationen entscheiden, wer was über ihn äußern und verbreiten darf. Demgegenüber hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, das Persönlichkeitsrecht verleihe dem Einzelnen keinen Anspruch darauf, nur so in der Öffentlichkeit dargestellt zu werden, wie es ihm genehm ist,28 oder noch deutlicher: „Ein allgemeines und umfassendes Verfügungsrecht über die Darstellung der eigenen Person enthält Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG […] nicht.“29 Zudem würde ein solch umfassendes InformationsBenda, in: FS Geiger, S. 23 (37). in: Offene Rechtswissenschaft, S. 561 (567); Ladeur, DÖV 2009, 45 (49); Trute, in: Handbuch Datenschutzrecht, Kap. 2.5 Rn. 19. 27 Trute, in: Handbuch Datenschutzrecht, Kap. 2.5 Rn. 19. 28 BVerfGE 97, 125 (149). 29 BVerfGE 101, 361 (380). 25 Vgl.
26 Britz,
B. Kritik an der informationellen Selbstbestimmung27
bestimmungsrecht alle weiteren informationsbezogenen Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, insbesondere das Recht der Privatsphäre und das Recht der Selbstdarstellung, gleichsam konsumieren. Diese hat das Bundesverfassungsgericht aber auch nach dem Volkszählungsurteil noch vielfach zum Maßstab genommen. Auch das spricht dafür, dass das Bundesverfassungsgericht das Recht auf informationelle Selbstbestimmung auf persönliche Daten beschränken will. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht auch einmal festgestellt, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung schütze nicht nur vor den Möglichkeiten und Gefahren der automatischen Datenverarbeitung.30 In der betreffenden Entscheidung ging es um die Bekanntgabe der Entmündigung, die aber – davon ist auszugehen – zuvor in Datenform festgehalten ist. Daher verwirklichte sich zwar nicht die beschriebene „datenspezifische“ Gefahr; die Bekanntgabe hätte ohne die vorherige Speicherung vielmehr ebenso gravierende Konsequenzen gehabt. Doch auch hier lagen persönliche Daten vor.31 Auch die Informationserhebung in Form einer beobachtenden oder observierenden Tätigkeit der Polizei sieht das Gericht nur dann als Eingriff, wenn personenbezogene Informationen zum Zwecke der elektronischen Datenverarbeitung erhoben und gespeichert werden.32 Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gilt daher nur, wenn Daten, also auf einem Datenträger verkörperte Zeichen, zur Grundlage für persönliche Informationen werden, untechnisch gesprochen: wenn persönliche Informationen gespeichert oder „verdatet“ werden.
B. Kritik an der Konzeption der informationellen Selbstbestimmung Damit setzt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht bei der eigentlichen Gefahrenquelle an, sondern beim Werkzeug. Es verzichtet auf eine Klärung der Frage, wann Informationen ein berechtigtes Vertraulichkeitsinteresse auslösen und in diesem Sinne „privat“ sind. Stattdessen wird die Vermutung aufgestellt, dass Daten generell geeignet sind, Privatheitsinteressen zu beeinträchtigen, und deshalb generell ein Schutz vor der Verarbeitung persönlicher Daten gewährleistet sein muss, dessen Reichweite der Betroffene selbst bestimmen kann. Der Datenschutz wird gegenüber seinem ei30 BVerfGE
78, 77 (84). wäre, weil es hier schwerpunktmäßig nicht um Datenverarbeitung, sondern um die Beeinträchtigung des sozialen Geltungsanspruchs geht, das Recht der Selbstdarstellung erheblich passender gewesen, vgl. zu diesem F. 32 BVerfGE 115, 320 (342). 31 Gleichwohl
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1. Kap.: Öffentliche Kommunikation
gentlichen Zweck, dem Schutz vor Persönlichkeitsgefährdungen durch bestimmte Informationsvorgänge, verselbstständigt. Der Inhalt des Rechts ist dadurch nicht deckungsgleich mit den Eingriffen, vor denen es schützen soll. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung geht einerseits zu weit und greift andererseits zu kurz.
I. Das Recht geht zu weit: Folgen der Konzeption informationeller Selbstbestimmung für die verdatete Kommunikation 1. Die Kritik in der Literatur Schon der erklärte Zweck des Rechts, eine Gesellschaftsordnung zu verhindern, „in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß“33, ist illusorisch.34 Das gilt selbst dann, wenn man diese Forderung auf die Kenntnis über die über eine Person verfügbaren Daten beschränkt. Schon aufgrund gesetzlicher Erlaubnistatbestände gibt es permanent Datenverarbeitungen, die ohne Kenntnis und Kontrolle des Einzelnen ablaufen. Selbst soweit Datenverarbeitungen mit Einwilligung des Betroffenen durchgeführt werden, sichert das nur theoretisch die Kontrolle des Einzelnen. Die Einwilligung in Datenverarbeitungen ist jedenfalls unter heutigen Bedingungen so alltäglich, dass niemand die Kontrolle darüber behalten kann, wem er eine wie weit gehende Einwilligung in die Speicherung und Weitergabe seiner persönlichen Daten erteilt hat. Schon das Ziel ist also viel zu weitgehend formuliert. Eine solche Gesellschaftsordnung wäre auch gar nicht wünschenswert. Zweck des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung ist es, dem Einzelnen trotz der Gefahren der automatischen Datenverarbeitung eine selbstbestimmte Kommunikationsteilhabe zu ermöglichen, insbesondere indem es die vom Bundesverfassungsgericht befürchteten Einschüchterungseffekte verhindert. Durch diese Kommunikation kann der Einzelne seine Persönlichkeit entfalten; zudem ist sie auch für eine demokratische Gesellschaft unerlässlich.35 Paradoxerweise versucht das Bundesverfassungsgericht, die Freiheit der Kommunikation durch ihre Beschränkung zu erreichen. Die „Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person“36 ist im Anwendungsbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung 33 BVerfGE
65, 1 (43). S. 45; Nettesheim, in: VVDStRL 70 (2011), S. 7 (29). 35 BVerfG DVBl 2007, 111 (112); Hoffmann-Riem, AöR 123 (1998), S. 513 (521); Simitis, NJW 1984, 398 (400); Vogelgesang, S. 146. 36 BVerfGE 65, 1 (44). 34 Bull,
B. Kritik an der informationellen Selbstbestimmung29
Schranke, Grundsatz sind die Herrschaftsrechte Einzelner an verdateten personenbezogenen Informationen. Kritiker vergleichen den Schutz der informationellen Selbstbestimmung daher häufig mit dem Schutz des Eigentums.37 Die Privatrechtsordnung basiert auf der Zuordnung von Vermögensrechten an Einzelne. Durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wird eine solche „Privatisierung“ der Kommunikation befürchtet. Je mehr Ausschließlichkeitsansprüche Einzelner es an dieser Kommunikation gibt, desto mehr Hindernisse gibt es für die kommunikative Entfaltung Anderer und damit auch für die Kommunikation als Ganze. Das gilt weniger, soweit das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein Abwehrrecht gegen staatliche Datenverarbeitungen ist. Doch, wie dargelegt,38 soll der Gedanke informationeller Selbstbestimmung nach dem Bundesverfassungsgericht gerade auch im Verhältnis zwischen Privaten zum Tragen kommen. Indem der Staat aber in Ausübung seiner Schutzpflicht Privaten die Wahrung der informationellen Selbstbestimmung Dritter aufgibt, beschränkt er wiederum ihre Kommunikationsfreiheit. Durch eine zu starke Ausrichtung an subjektiven Einzelinteressen schadet das Recht so seinem eigentlichen Zweck mehr, als es ihm nützt.39 2. Öffentliche Kommunikation und informationelle Selbstbestimmung Diese Argumente verlieren an Gewicht, wenn man sich vergegenwärtigt, dass das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, wie herausgearbeitet, nur für verdatete Informationen gilt. Sofern keine Verdatung stattfindet, bleibt eine freie Kommunikation möglich. Der Tratsch auf der Straße löst keine Schutzpflicht für die informationelle Selbstbestimmung des Betroffenen aus. Im Zeitalter sozialer Netzwerke findet dieser Tratsch jedoch häufig nicht mehr auf der Straße, sondern im Internet statt. Dabei wiederum entstehen zwangsläufig Daten. Der Tratsch im Internet löst also, selbst nach diesem engen Verständnis informationeller Selbstbestimmung, prima facie eine solche Schutzpflicht aus. In gewisser Hinsicht ist das berechtigt: Der Tratsch im Internet ist für den Betroffenen gefährlicher, da er einen viel größeren Wirkungskreis hat. Er gelangt, je nach genutztem Kommunikationskanal, häufig nicht nur einzelnen Interaktionspartnern zur Kenntnis, sondern ist für die gesamte Weltöffent37 Albers, in: GVwR II, § 22 Rn. 68; Britz, in: Offene Rechtswissenschaft, S. 561 (582); Pitschas, DuD 1998, 139 (146); Trute, in: Handbuch Datenschutzrecht, Kap. 2.5 Rn. 11; Vogelgesang, S. 140. 38 Siehe A. I. 39 Vogelgesang, S. 147.
30
1. Kap.: Öffentliche Kommunikation
lichkeit oder zumindest eine große Zahl von „Freunden“ abrufbar. Dazu können die Daten unkontrolliert und womöglich auf Dauer von Dritten gespeichert und mit anderen Daten verknüpft oder weitergegeben werden. Insofern treffen die Argumente, warum es einen Schutz vor Datenverarbeitung geben muss, auch auf die verdatete Kommunikation in sozialen Netzwerken zu. Da der potenzielle Empfängerkreis der Daten viel größer ist als bei den herkömmlichen Datenbanken, die traditionell der Hauptgegenstand des Datenschutzes sind, ist die öffentliche Kommunikation im Internet aus persönlichkeitsrechtlicher Sicht womöglich noch gefährlicher. Zugleich macht das Recht auf informationelle Selbstbestimmung einen Großteil der Kommunikation in sozialen Netzwerken rechtfertigungsbedürftig. A braucht lediglich in seinem öffentlich einsehbaren „Status“ mitzuteilen, dass er mit B Schach gespielt hat – schon hat er persönliche Daten erstellt und öffentlich gemacht und die informationelle Selbstbestimmung des B ist somit berührt. Einfach-rechtlich ist die Veröffentlichung analog § 28 Abs. 1 Nr. 2 BDSG 2009 zulässig, soweit die Übermittlung, die in der Veröffentlichung liegt, zur Wahrung berechtigter Interessen des A erforderlich ist und kein Grund zu der Annahme besteht, dass das schutzwürdige Interesse des B an dem Ausschluss der Verarbeitung oder Nutzung überwiegt.40 In der DSGVO findet sich eine entsprechende Abwägungsgeneralklausel in Art. 6 Abs. 1 lit. f. Dass es überhaupt eines – im Falle des BDSG 2009 nicht einmal direkt anwendbaren – Erlaubnistatbestands bedarf, um einem Privaten eine alltägliche Kommunikation zu erlauben, ist an sich schon bemerkenswert.41 Damit wird letztlich seine Freiheits- und damit Grundrechtsausübung unter einen ständigen Rechtfertigungszwang gestellt. Das Verbot mit Erlaubnisvorbehalt im Privatrecht ist indes, wie dargelegt, die logische Schlussfolgerung aus dem Ziel einer umfassenden Kontrolle über das Wissen möglicher Kommunikationspartner. Natürlich gilt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, auch und gerade im Hinblick auf seine Drittwirkung, nicht absolut, sondern muss im Rahmen der zivilrechtlichen Beurteilung mit den Rechten Dritter abgewogen werden.42 Je nach Ergebnis dieser Abwägung könnten die befürchteten negativen Konsequenzen der informationellen Selbstbestimmung gemindert werden. Wenn ihr letztlich nur in wenigen Fällen Vorrang vor den kollidierenden Kommunikationsinteressen Dritter eingeräumt wird, wird sie trotz des Regel-Ausnahme-Verhältnisses zugunsten der Privatsphäre nicht zu einer Kommunikationslosigkeit führen. 40 Jandt/Roßnagel,
in: Digitale Privatsphäre, S. 309 (354). Anwendbarkeit des BDSG für die Datenveröffentlichung in sozialen Netzwerken Jandt/Roßnagel, in: Digitale Privatsphäre, S. 309 (351 f.). 42 BVerfGE 84, 192 (195). 41 Zur
B. Kritik an der informationellen Selbstbestimmung31
Indes erweist sich der formale Ansatz der informationellen Selbstbestimmung für eine Abwägung als völlig ungeeignet.43 Schon die Missachtung der Bestimmungsbefugnis des Betroffenen ist ein Eingriff in seine informationelle Selbstbestimmung, ohne Rücksicht darauf, ob seine Privatsphäre wirklich beeinträchtigt ist.44 Was auf der Schutzbereichsebene sicherstellen soll, dass jede noch so potenzielle Privatsphäreverletzung ausgeschlossen wird, führt auf der Schrankenebene nicht weiter. Hier wäre ein wichtiges Kriterium für die Abwägung mit der allgemeinen Handlungsfreiheit des A, wie intensiv die informationelle Selbstbestimmung des B im Einzelfall betroffen ist. Ein ausschließlich formales Verfügungsrecht ist aber ein „Ganz“ oder „Gar nicht“: Entweder der Betroffene konnte selbst über seine Daten bestimmen oder nicht. Aus dieser Perspektive erscheint jeder Eingriff gleich tief. Welche Informationen aus den Daten gebildet werden können und ob und inwieweit diese die Privatsphäre betreffen, soll gerade außer Betracht bleiben. Damit führt die informationelle Selbstbestimmung nicht nur dazu, dass alle Datenverarbeitungen pauschal als Beeinträchtigungen der Privatsphäre behandelt werden, sondern auch zu einer „Gleichmacherei“, die es erschwert, sachgerechte Abwägungen im Einzelfall vorzunehmen. Um auf Abwägungsebene zu berücksichtigen, wie tief die Datenverarbeitung im Einzelfall in die Privatsphäre eingreift, braucht es daher doch eine Reflexion über deren materielle Definition, Reichweite und Bedeutung. Das, was die Konzeption der informationellen Selbstbestimmung gerade ausblenden möchte, indem sie jeden selbst über „seine“ Daten bestimmen lässt, muss nun doch eingeführt werden. Um die Information über das Schachspiel als banal und nicht privatsphärerelevant zu identifizieren, muss eine Vorstellung von der Privatsphäre entwickelt werden. Diese Erkenntnis widerlegt den vermeintlichen Vorteil der informationellen Selbstbestimmung, neutral gegenüber individuellen Verständnissen von Privatsphäre in verschiedenen Verwendungszusammenhängen zu sein, vielmehr wird das Problem nur verschoben. Diese Verschiebung hat Konsequenzen für die Beurteilung einzelner Datenverarbeitungen. A muss ein Recht auf die Offenbarung der Information geltend machen können, das gegenüber der informationellen Selbstbestimmung des B überwiegt. Das fällt hier schon schwer. In vielen Fällen wird das die Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Hs. GG sein.45 Hier aber äußert A keine Meinung, sondern eine Tatsache. Nach dem Bundesverfassungsgericht unterfallen Tatsachenbehauptungen der Meinungsfreiheit nur, 43 Nettesheim,
in: VVDStRL 70 (2011), S. 7 (28). A. I. 45 Jandt/Roßnagel, in: Digitale Privatsphäre, S. 309 (354). 44 Siehe
32
1. Kap.: Öffentliche Kommunikation
soweit sie Voraussetzung der Bildung von Meinungen sind,46 was hier nicht der Fall ist. Zwar kann A seine allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG geltend machen; diese ist jedoch immer betroffen, wenn der Staat in Ausübung seiner Schutzpflicht einem Privaten ein Verhalten verbietet und hat insofern allgemein ein relativ geringes Gewicht. Auch im Einzelfall ist die Offenbarung der Information über das Schachspiel eher ein Akt banaler, alltäglicher Kommunikation als eine „elementare Äußerungsform[…] der menschlichen Handlungsfreiheit“47. Letztlich ist, um über die Zulässigkeit der Veröffentlichung zu entscheiden, diese verhältnismäßig wenig schutzwürdige Position des A im Einzelfall mit der bestenfalls peripher betroffenen Privatsphäre des B abzuwägen. Rechtlich gesehen steht wenig gegen wenig. Eine Interpretation der Grundrechte, die auf Abwägungen im Einzelfall beruht, ist schon als „Nullpunkt juristischer Dogmatik“48 bezeichnet worden. Zweck von Dogmatik ist gerade die Erleichterung und rechtsstaatliche Rationalisierung von Einzelentscheidungen.49 Abwägungen gelten demgegenüber als „Einfallstor für die je eigenen Wertungen des Rechtsanwenders“50, das rationaler und verbindlicher Maßstäbe entbehrt.51 In einem – jedenfalls heutzutage – derart alltäglichen Bereich wie der automatisierten Datenverarbeitung ist das besonders problematisch. Will A keine Rechte des B verletzen, müsste er vor der Veröffentlichung der Information seine Interessen umfassend gegen die des B abwägen, wobei das Ergebnis je nach Gewichtung der relevanten Aspekte sehr subjektiv sein kann. Das gleiche Problem wie auf der horizontalen Ebene entsteht im Staat-Bürger-Verhältnis: Jeder staatliche Umgang mit Daten, die sich in irgendeiner Weise auf eine natürliche Person beziehen lassen, setzt eine umfassende und nicht zuletzt deswegen wenig konturierte Abwägung voraus. Daher sollte schon auf Ebene des Schutzbereichs berücksichtigt werden, ob durch eine bestimmte Datenverarbeitung Informationen generiert werden können, die die Persönlichkeit des Betroffenen beeinträchtigen können. Wenn das nicht der Fall ist, ist von vornherein kein Schutz vor der Datenverarbeitung geboten. Wird der Schutzbereich entsprechend beschränkt, kommt es in diesen Fällen gar nicht mehr zu einer Abwägung mit den Interessen des Verarbeitenden. Damit dient ein solcher Ansatz der Rationalität und Vorhersehbarkeit der Ergebnisse. Der A kann sich darauf verlassen, dass die Veröffentlichung zulässig ist, wenn die Datenverarbeitung keine schützenswerten 46 BVerfGE
85, 1 (15). 17, 306 (314). 48 Poscher, S. 81 f. 49 Müller/Christensen, S. Rn. 406; Pieroth, JuS 1981, 625. 50 Volkmann, JZ 2005, 261 (270). 51 Kingreen/Poscher, Rn. 344. 47 BVerfGE
B. Kritik an der informationellen Selbstbestimmung33
Interessen des B beeinträchtigt, ohne dass er zusätzlich noch seine eigenen Interessen bei der Prüfung berücksichtigen muss. Vor allem aber wird der Einzelne dadurch wirklich als „eine sich innerhalb der sozialen Gemeinschaft entfaltende, auf Kommunikation angewiesene Persönlichkeit“52 wahrgenommen. Grundsatz ist dann nämlich nicht mehr der Rückzug, sondern die Kommunikation. Nicht mehr A muss sich dafür rechtfertigen, dass er kommuniziert, sondern B dafür, dass er diese Kommunikation unterbinden möchte.
II. Das Recht greift zu kurz: Schutz vor Verarbeitung selbst preisgegebener oder veröffentlichter Daten Es scheint so, als ginge eine solche Beschränkung des Schutzbereichs zu Lasten des Betroffenen. Schließlich ist er dadurch nicht mehr vor jeder Verarbeitung seiner persönlichen Daten geschützt. Doch dieser Eindruck täuscht. Der weite Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung führt keineswegs zu einem optimalen Schutz der Privatsphäre. Denn die Idee, dass jeder seine Privatsphäreinteressen am besten selbst wahren kann, ging schon immer an der Realität vorbei und tut es umso mehr, je alltäglicher Datenverarbeitungen werden. 1. Die Schwächen des privatautonomen Ansatzes Schon 1977, sechs Jahre vor dem Volkszählungsurteil, äußerte Mallmann Bedenken gegen den Ansatz informationeller Selbstbestimmung. Echte Möglichkeiten informationeller Selbstbestimmung bestünden nur in der Interaktion zwischen machtmäßig annähernd gleichgewichtigen Partnern. Im Verhältnis zu öffentlicher Verwaltung und privatwirtschaftlichen Institutionen könne der Einzelne Informationen aber nur um den Preis eines Verzichts auf die gewünschte „Leistung“, etwa einen Vertrag oder die staatliche Daseinsvorsorge, völlig verweigern.53 Dadurch funktioniert der Gedanke einer an die Privatautonomie angelehnten Selbstbestimmung über die persönlichen Daten nicht. In vielen Fällen werden Daten nicht freiwillig preisgegeben, vielmehr muss der Einzelne faktisch in Verarbeitungsvorgänge einwilligen, will er nicht auf Versicherungen oder elektronische Dienste verzichten.54 Im Hinblick darauf wird die selbstbestimmte Einwilligung teilweise als „Fiktion“ bezeichnet.55 52 BVerfGE
65, 1 (44). S. 28. 54 Hoffmann-Riem, AöR 134 (2009), S. 513 (527 f.); Vogelgesang, S. 150 f. 55 Simitis – Simitis, § 4a Rn. 3; Vogelgesang, S. 151. 53 Mallmann,
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1. Kap.: Öffentliche Kommunikation
Zum Mangel an Freiwilligkeit kommt ein Mangel an Informiertheit, die ebenso eine Voraussetzung dafür ist, dass der Einzelne seine Interessen bei der Datenverarbeitung wahren kann. Die Datenverarbeitungstechnik ist in den letzten Jahren erheblich vorangeschritten. Verbesserte Rechenleistungen von EDV-Anlagen ermöglichen immer komplexere Verknüpfungen immer größerer Datenmengen. Aufgrund scheinbar banaler Daten wie Alter, Familienstand oder sogar Adresse können Vermutungen beispielsweise über die Kreditwürdigkeit des Betroffenen, unter Umständen selbst über Gesundheitszustand oder Sexualleben aufgestellt werden. Bei bestimmten Formen des sogenannten data mining, der automatisierten Auswertung von Daten, kann nicht einmal derjenige, der die Verarbeitung steuert, am Anfang des Verarbeitungsvorgangs abschätzen, worüber ihm die verfügbaren Daten Informationen liefern. Vielmehr sucht die Software selbstständig nach Korrelationen zwischen verschiedenen Datenkategorien. Sie generiert sozusagen selbst die Fragen, auf die sie Antworten geben kann. Wenn aber nicht einmal der Verarbeiter die Verarbeitung vollständig durchschauen kann, kann der Betroffene das erst recht nicht. Auch die Möglichkeiten, den Betroffenen so zu informieren, dass er die Folgen seiner Einwilligung absehen kann, stoßen an ihre Grenzen, wenn allenfalls Fachleute in der Lage sind, die Verarbeitungsvorgänge zu durchdringen.56 Für das Gros der Grundrechtsträger bleibt beispielsweise die Adresse einfach die Adresse, auch wenn als Zweckbestimmung der Datenverarbeitung die Beurteilung der Kreditwürdigkeit angegeben ist. Damit liegen sie letztlich sogar richtig. Wenn man nicht gerade Belästigungen oder Bedrohungen am Wohnort befürchten muss, ist die Adresse an sich ein banales Datum, das der Kontaktaufnahme mit dem Betroffenen dient und regelmäßig auch dem Telefonbuch zu entnehmen ist. Das Problem ist daher nicht, dass die Adresse Dritten zur Kenntnis gelangt, das Problem sind die Informationen, die ihr mit Hilfe der EDV entnommen werden können. So können etwa statistische Erkenntnisse über die Menschen in dem jeweiligen Wohnviertel als Prognose auf den einzelnen Betroffenen übertragen werden. Wer in einem „schlechten“ Viertel wohnt, ist vermeintlich weniger kreditwürdig. Aus Sicht des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung sind aber alle möglichen Verarbeitungsvorgänge im Ausgangspunkt gleich zu behandeln. Die Speicherung der Adresse in der Kundenkartei eines Versandhändlers ist ebenso ein Eingriff in dieses Recht wie ihre Veröffentlichung in einem Online-Telefonverzeichnis und ihre Nutzung zur Beurteilung der Kreditwürdigkeit. Nach der Idee informationeller Selbstbestimmung bedürfen daher alle diese Verarbeitungsschritte einer Einwilligung des Betroffenen. Zwar können, wie oben gesehen, Datenverarbeitungen auch aufgrund gesetzlicher Erlaubnis 56 Bull,
NVwZ 2011, 257 (259).
B. Kritik an der informationellen Selbstbestimmung35
tatbestände zulässig sein. Da diese aufgrund ihrer Unbestimmtheit aber den Beteiligten wenig Rechtssicherheit bieten, werden Verbraucher gerade im Internet regelmäßig mit umfangreichen Einwilligungserklärungen konfrontiert. Datenschutz verkommt so zu einem lästigen Häkchen, das im Registrierungs- oder Bestellvorgang gesetzt werden muss. Die Einwilligung in die Generierung von Informationen, die aus Sicht vieler Verbraucher die Privatsphäre beeinträchtigen, geht so im Kleingedruckten neben der Einwilligung in Selbstverständlichkeiten unter. Hier zeigt sich die andere Seite der herausgearbeiteten Gleichmacherei der Verarbeitungsvorgänge. Diese führt einerseits dazu, dass an sich unproblematische Datenverarbeitungen zu Lasten der Kommunikation unter das Recht auf informationelle Selbstbestimmung fallen. Andererseits geraten durch diese Banalisierung des Rechts problematische Datenverarbeitungen aus dem Blickfeld der Betroffenen. Zugleich sollen die Betroffenen über die Zulässigkeit der Verarbeitungen bestimmen. Die Einwilligung ist das Instrument, um selbst über die Preisgabe und Verwendung der persönlichen Daten zu bestimmen, „manifestes Zeichen“57 der informationellen Selbstbestimmung der Betroffenen. In dem Maße, in dem das einfache Recht auf Einwilligungsmöglichkeiten verzichtet, muss es diese durch einwilligungsfeste gesetzliche Festlegungen, welche Datenverarbeitungen zulässig sind, ersetzen. Das gerät daher mit dem Gedanken informationeller Selbstbestimmung in Konflikt. Letztlich muss der einfache Gesetzgeber entscheiden, welcher Stellenwert der Einwilligung eingeräumt wird und wie sie ausgestaltet wird. Überträgt er indes die Konzeption informationeller Selbstbestimmung möglichst exakt in das einfache Gesetzesrecht, führt das unmittelbar zu der Flut an Einwilligungsmöglichkeiten, aufgrund derer aus den genannten Gründen echte Privatsphärebeeinträchtigungen eher gefördert als ausgeschlossen werden. 2. Die Veröffentlichung eigener Daten und die informationelle Selbstbestimmung a) Die öffentliche Kommunikation als Einwilligung? Zur Zeit des Volkszählungsurteils wurden Verdatungen durch die Inhaber von Großrechneranlagen vorgenommen. Es fiel daher leicht, sie pauschal grundsätzlich als Eingriff zu sehen, dem der Grundrechtsträger ausgesetzt ist. Die Konzeption informationeller Selbstbestimmung geht davon aus, dass der Einzelne seine persönlichen Daten so weit wie möglich zurückhalten und nur dann preisgeben wird, wenn er sich davon einen (z. B. wirtschaftlichen) Vor57 Simitis –
Simitis, § 4a Rn. 2.
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1. Kap.: Öffentliche Kommunikation
teil verspricht. Dann kann er in ihre Verarbeitung einwilligen. Im Zeitalter sozialer Netzwerke hat sich daran zweierlei geändert. Erstens nimmt der Betroffene die Verdatung hier selbst vor. Er gibt also keine Einwilligungserklärung ab, sondern gibt die Daten durch tatsächliches Verhalten preis. Zweitens sind die Nutzer sozialer Netzwerke nicht in erster Linie darauf bedacht, ihre Daten zurückzuhalten. Statt nach Privatsphäre haben sie eher ein Bedürfnis nach Selbstdarstellung. Hat der Einzelne seine persönlichen Daten selbst veröffentlicht, ist seine Selbstbestimmung gewahrt.58 Legt man die Konzeption informationeller Selbstbestimmung zugrunde, muss ein grundlegender Unterschied zwischen selbst und fremd veröffentlichten Daten gemacht werden. Im Abruf und der Weiterverarbeitung von Dritten veröffentlichter Daten manifestiert sich der Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung, der Betroffene verliert immer mehr Kontrolle darüber, wer von seinen Daten Kenntnis hat und was mit ihnen geschieht. Der Abruf selbst veröffentlichter Daten ist hingegen gerade die Folge der Selbstbestimmung des Einzelnen. Er hat sie veröffentlicht, damit sie von Dritten zur Kenntnis genommen werden. Man kann das als Grundrechtsausübung sehen, da der Einzelne durch die Veröffentlichung der Daten über die Preisgabe seiner persönlichen Daten bestimmt. Das ist gerade der Inhalt des Rechts. Man kann es auch als Grundrechtsverzicht sehen, da er die Herrschaft über die Daten aufgibt.59 Unabhängig davon, wie man die Veröffentlichung eigener Daten dogmatisch einordnet, verfügt der Betroffene jedenfalls über seine persönlichen Daten. Doch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist aus gutem Grund die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen. Grund sind die unterschiedlichen Informationen, die in unterschiedlichen Verwendungszusammenhängen aus denselben Daten entstehen können.60 Auch hierüber soll der Betroffene daher die Kontrolle behalten dürfen. Die Preisgabe der Daten ist noch kein Freifahrtschein für ihre weitere Verwendung. Fraglich ist daher, was die Veröffentlichung der Daten über ihre zulässigen Verwendungen aussagt. Nach der Logik informationeller Selbstbestimmung, die auf den Willen des Betroffenen abstellt, müsste man versuchen, diesem Verhalten eine Erklärung über die zulässigen Verwendungen der entstehenden persönlichen Daten zu entnehmen. Dazu ist das Verhalten des Betroffenen auszulegen. Nach der DSGVO ist die Annahme einer konkludenten Einwilligung auch grundsätzlich möglich, da nach Art. 4 Nr. 11 neben einer Erklärung auch eine sonstige eindeutig bestätigende Handlung für eine Einwilligung genügt. 58 Hoffmann-Riem,
AöR 134 (2009), S. 513 (529). diesem Streit siehe Q. I. 60 Siehe A. I. 59 Zu
B. Kritik an der informationellen Selbstbestimmung37
Diesbezüglich könnte man einerseits argumentieren, der Nutzer habe die Daten nur zum Zweck der Kommunikation im Rahmen der jeweiligen Netzwerkplattform veröffentlicht, je nach dem Charakter der Plattform etwa das Knüpfen oder Aufrechterhalten privater Kontakte, der Austausch über ein bestimmtes Interesse oder die Suche nach geschäftlichen Kontakten. Alle anderen Verwendungszwecke wären davon nicht erfasst, etwa der Abruf durch einen potenziellen Arbeitgeber (sofern es sich um ein privates Netzwerk handelt), die Speicherung der Daten durch Dritte oder deren algorithmenbasierte Auswertung.61 Andererseits könnte man anführen, der Einzelne habe die Daten im Wissen darüber, dass sie von jedermann abgerufen werden können, veröffentlicht und habe so deutlich gemacht, dass er sie in keinem Verwendungszusammenhang als privat betrachtet. Damit wären die Daten im Extremfall für jedermann, alle Zeit und jede Verwendung frei. Die beiden Auslegungen liegen denkbar weit auseinander, können aber dennoch beide eine gewisse Plausibilität beanspruchen. Die Auslegung nach einer vermeintlichen Erklärungsmäßigkeit des Verhaltens im Hinblick auf die entstehenden Daten führt daher nicht weiter. Inwieweit der Einzelne seine Daten freigeben möchte, wird individuell völlig unterschiedlich sein. Die Idee der informationellen Selbstbestimmung ist gerade, solchen unterschiedlichen Ansprüchen an die individuelle Privatsphäre Rechnung zu tragen. Sie ist aber nicht brauchbar, wenn konkludentes Verhalten ausgelegt werden muss. Dann muss nämlich, wenn nicht bestimmte Hinweise vorliegen, was selten der Fall sein wird, der typische Nutzer zugrunde gelegt werden. Das ist höchst unbefriedigend im Rahmen einer Konzeption, die so sehr auf umfassenden individuellen Bestimmungsbefugnissen basiert wie die informationelle Selbstbestimmung. Ausgerechnet dort, wo die Betroffenen wirklich selbst über ihre Daten bestimmen und nicht nur vorgefertigte Einwilligungserklärungen „abnicken“, stößt die Konzeption der informationellen Selbstbestimmung an ihre Grenzen. Letztlich ist es nämlich diese Pauschalierung, die informationelle Selbstbestimmung angesichts der Komplexität der Datenverarbeitung handhabbar macht. Die Datenverwendungsrichtlinien von Facebook62 etwa umfassen fast 3000 Wörter. Eine derart komplexe Erklärung im Verhältnis zu anderen potenziellen Nutzern der Daten durch eine bloße Auslegung tatsächlichen Verhaltens zu ermitteln, ist unmöglich. Selbst wenn es gelänge, würden ähnliche Probleme entstehen, wie sie bei der ausdrücklichen Einwilligung herausgearbeitet wurden. Zwar unterliegt der Nutzer nicht in dem Maße einem faktischen Zwang zur Preisgabe von 61 So Eifert, in: Soziale Netze, S. 253 (264); Roßnagel, in: Soziale Netze, S. 271 (282). 62 Abrufbar im Internet: https://www.facebook.com/full_data_use_policy, zuletzt abgerufen am: 01.05.2018.
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1. Kap.: Öffentliche Kommunikation
Daten wie in vielen Fällen der ausdrücklichen Einwilligung. Doch soziale Netzwerke sind in zunehmendem Maße ein selbstverständlicher und kaum verzichtbarer Bestandteil sozialer Interaktion. Zwar können Nutzer immer noch frei entscheiden, welche Daten sie preisgeben. Doch die Betreiber sozialer Netzwerke versuchen immer wieder, die Nutzer dahingehend zu beeinflussen, mehr Inhalte auf der Plattform zu veröffentlichen. Auch die weitere Verarbeitung der Daten kann eine normative Kraft des Faktischen entfalten. Werden die Nutzer daran gewöhnt, dass Daten etwa für personalisierte Werbung oder Auslese potenzieller Arbeitnehmer genutzt werden, und müssen sie daher bei der Preisgabe der Daten damit rechnen, wird die Veröffentlichung regelmäßig so auszulegen sein, dass diese Verarbeitungen von der konkludenten Einwilligung umfasst werden. So wird aus der Datenverwendung innerhalb einer rechtlichen Grauzone eine rechtmäßige. In ähnlicher Weise, wie Kunden daran gewöhnt werden, Einwilligungserklärungen abzunicken, werden Nutzer sozialer Netzwerke daran gewöhnt, dass ihre persönlichen Daten allen möglichen Verwendungen zukommen, sodass die Veröffentlichung als konkludente Zustimmung gewertet werden kann. Man wird keinen dieser Aspekte für sich genommen als eine rechtlich relevante Beeinträchtigung der Freiheit der Nutzer sehen können. Doch welche Freiheit sie bei der Bestimmung von Privatheit bzw. Öffentlichkeit ihrer Daten wirklich haben, hängt von der Gestaltung der Netzwerkplattform ab. Deren Betreiber hat ein erhebliches wirtschaftliches Interesse daran, dass mehr Nutzer mehr Daten mit mehr Verwendungsmöglichkeiten an mehr Dritte offenbaren, sodass es sich für mehr Nutzer lohnt, mehr Zeit auf der Plattform zu verbringen und dabei mehr Werbeanzeigen angezeigt zu bekommen. Insofern findet die Selbstbestimmung nicht in einem freien Raum statt, sondern unterliegt in einem gewissen Maße einer wirtschaftlich bedingten Steuerung. In noch erheblicherem Maße als bei der ausdrücklichen Einwilligung stellt sich das Problem der Informiertheit der Nutzer. Vor einer ausdrücklichen Einwilligung müssen Nutzer immerhin informiert werden, bei einer konkludenten Einwilligung muss sich die Information aus den Umständen ergeben. Der Nutzer mag selbst den Eindruck haben, nur solche Informationen preiszugeben, die jeder erhalten darf. Dass ein Algorithmus aus scheinbar banalen Daten in ihrer Summe Informationen über Gesundheitszustand, Kreditwürdigkeit etc. entnehmen kann, ist regelmäßig nicht absehbar. Es besteht daher eine Gefahr, dass die Auslegung nach dem tatsächlichen subjektiven Willen stärker zu einer völligen Freigabe der Daten tendiert, als das den Gefahren bei verständiger Würdigung angemessen ist. Um den Gefahren der automatisierten Datenverarbeitung zu begegnen, wäre es daher sachgerechter, die objektiven Gefahren zum Abwägungskriterium zu nehmen als die subjektive Vorstellung der Nutzer von diesen Gefahren.
B. Kritik an der informationellen Selbstbestimmung39
Sicherlich kann man im Hinblick auf die begrenzte Informiertheit der Nutzer und das Erfordernis der Eindeutigkeit die Einwilligung entsprechend eng auslegen und z. B. auf Datenverarbeitungen beschränken, mit denen ein durchschnittlicher Nutzer verständigerweise rechnen muss. Wie gesagt, hängt von der Auslegung der konkludenten Willenserklärung sehr viel ab, wenn man auf den Willen der Nutzer abstellt. Das Pendel kann entweder zu einer sehr weiten Auslegung ausschlagen, die die Preisgabe der Daten als völlige Aufgabe der Privatsphäre sieht, oder zu einer sehr restriktiven, die die Veröffentlichung nur als eine punktuelle Öffnung der Privatsphäre sieht. Bei der Beurteilung konkreter Datenverarbeitungen müsste ihr nach der Logik informationeller Selbstbestimmung aber tendenziell ein hohes Gewicht zukommen. b) Die Öffentlichkeit der Kommunikation als Abwägungsgesichtspunkt Jedenfalls müssen die gerade angestellten Erwägungen bei den Abwägungen innerhalb der Erlaubnistatbestände berücksichtigt werden. Stellt sich eine Datenverarbeitung nicht als Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung, sondern vielmehr als deren Wahrnehmung dar, können die Privatsphäreinteressen der Betroffenen ihr nicht entgegenstehen. Nach dem BDSG 2009 ist die Verarbeitung allgemein zugänglicher Daten durch Private ohnehin gemäß § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 und § 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BDSG 2009 grundsätzlich zulässig, es sei denn, das schutzwürdige Interesse des Betroffenen am Ausschluss der Datenverarbeitung überwiegt offensichtlich. Daten in sozialen Netzwerken sind allgemein zugänglich im Sinne der Vorschriften, wenn sie nicht nur für einen beschränkten Nutzerkreis freigegeben sind, sodass jedermann darauf zugreifen kann.63 Hintergrund der Privilegierung der Verarbeitung allgemein zugänglicher Daten ist die Informationsfreiheit der Datenverarbeiter, die bei solchen Daten neben den anderen Grundrechten der Datenverarbeiter zu beachten ist.64 Wenn der Betroffene die Daten selbst allgemein zugänglich gemacht hat, fällt es schwer sich vorzustellen, wie ihre Verarbeitung dennoch offensichtlich seinen Interessen widersprechen kann. Er hat sie gerade selbstbestimmt aus der Privatsphäre in die Öffentlichkeit gehoben und einer (theoretischen) Weltöffentlichkeit zugänglich gemacht. Wie unter I. 2. dargestellt, ist es schwer, der informationellen Selbstbestimmung Abwägungsmaterial zu entnehmen. Will man verschiedene Eingriffe gewichten, muss man eine von den Vorstellungen des jeweiligen Betroffenen unabhängige Vorstellung von Privatheit entwickeln, um anhand derer zwischen mehr und weniger privaten Informationen zu differenzieren. Will man auf Ebene der Abwägung aber nicht völlig vom Gedanken informa63 Taeger/Gabel –
Taeger, § 28 Rn. 83. § 28 Rn. 32; DKWW – Wedde, § 28 Rn. 57.
64 Gola/Schomerus,
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1. Kap.: Öffentliche Kommunikation
tioneller Selbstbestimmung abrücken, muss man so weit wie möglich die Hinweise einbeziehen, als wie privat der Einzelne selbst die Information einordnet. Die Preisgabe eines Datums an einen Personenkreis, über den der Einzelne faktisch überhaupt keine Kontrolle mehr hat, verdeutlicht unzweifelhaft, dass der Betroffene das Datum nicht für privat hält. Es liegt daher nahe, die Preisgabe auch in Fällen, in denen man sie nicht als konkludente Einwilligung in eine bestimmte weitere Verarbeitung einordnet, als ein Abwägungskriterium zugrunde zu legen. Dann aber wird sich in der Abwägung sehr häufig das Interesse des Datenverarbeiters durchsetzen. Auch auf Grundlage der DSGVO ist die Informationsfreiheit nach Art. 11 Abs. 1 GRCh für eine Zulässigkeit der Datenverarbeitung ins Feld zu führen. Wenn zudem dem Datenschutz bei selbst veröffentlichten Daten nur ein verringertes Gewicht zugestanden wird, wird eine Weiterverarbeitung der Daten regelmäßig zulässig sein. Das führt aber zu Konsequenzen, die mit dem Gedanken, der ursprünglich hinter der informationellen Selbstbestimmung stand, nicht vereinbar sind. Wer eigene persönliche Daten in sozialen Netzwerken einem unbestimmten Personenkreis preisgibt, verliert so nicht nur faktisch die Kontrolle darüber, wer was über ihn weiß. Auch rechtlich hat er kaum Sicherheit, vor unerwünschten Weiterverarbeitungen der Daten geschützt zu sein. Wer die Daten abruft und verwendet, kann sich nicht nur auf seine eigene Informationsfreiheit berufen, sondern auch auf die freie Entscheidung des Betroffenen, die Daten preiszugeben. Der Betroffene muss also nicht nur faktisch damit rechnen, dass seine Daten in allen möglichen Zusammenhängen abgerufen, gespeichert und weiterverarbeitet werden, häufig werden diese Weiterverarbeitungen auch zulässig sein. Ein anschauliches Beispiel stellt der Versuch von Facebook dar, die Eignung der gespeicherten Daten für die Überprüfung der Kreditwürdigkeit nutzbar zu machen. Das Projekt wurde nach öffentlicher Kritik gestoppt, wenige Tage nachdem es publik geworden war.65 Dabei wäre eine solche Verwendung jedenfalls der öffentlich zugänglichen Daten möglicherweise sogar rechtmäßig gewesen. Nach § 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BDSG 2009 dürfen Daten, die aus allgemein zugänglichen Quellen entnommen werden können, genutzt werden, es sei denn, dass das schutzwürdige Interesse des Betroffenen an dem Ausschluss der Erhebung, Speicherung oder Veränderung offensichtlich überwiegt. Ob hier von einem „offensichtlichen Überwiegen“ gesprochen werden kann, ist fraglich. Dass solche „Scoring-Verfahren“ zur Beurteilung der Kreditwürdigkeit in § 28b BDSG 2009 unter gewissen – nicht übermäßig strengen – Voraussetzungen ausdrücklich zugelassen werden, spricht eher dagegen. 65 Reißmann,
Spiegel Online, online veröffentlicht am: 08.06.2012.
B. Kritik an der informationellen Selbstbestimmung41
Wie bei der Veröffentlichung Dritte betreffender persönlicher Daten führt damit die Ungeeignetheit der Konzeption informationeller Selbstbestimmung zu einer Unsicherheit über die rechtlichen Folgen des Handelns. Dort stellte die verdatete Kommunikation über Dritte einen Eingriff in deren informationelle Selbstbestimmung dar, dessen Rechtfertigung von einer wenig konturierten Abwägung abhing. Hier kann die verdatete Kommunikation über eigene Angelegenheiten als eine Aufgabe der Privatsphäre gesehen werden, deren Reichweite kaum absehbar ist. Dabei ist schon fraglich, ob es sachgerecht ist, überhaupt eine solche Rechtsfolge an die Veröffentlichung eigener persönlicher Daten zu knüpfen. c) Die Fokussierung der informationellen Selbstbestimmung auf Daten als Grundproblem Die Idee informationeller Selbstbestimmung war eine Selbstbestimmung in zweifacher Hinsicht.66 Die allgemeine Handlungsfreiheit gewährt dem Einzelnen ein umfassendes Recht, prima facie zu tun und zu lassen, was er möchte. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gibt ihm zusätzlich die Befugnis, unabhängig davon darüber zu bestimmen, welche Daten über dieses Verhalten entstehen. Das soll den Einzelnen bei seinem Handlungsentschluss gerade davon entbinden, die entstehenden Daten berücksichtigen zu müssen.67 Diesen Zweischritt gibt es in sozialen Netzwerken nicht mehr. Vielmehr produziert die Handlung – das Einstellen von Informationen in soziale Netzwerke – von sich aus Daten. Das liegt gerade in der Natur digitaler Kommunikation. Das zwingt dazu, die Handlungsentscheidung zugleich auch als Entscheidung über Preisgabe und Verwendung der Daten zu deuten. Wie gesehen, ist das wenig zielführend. Der Grund des Problems ist die Fokussierung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung auf Daten. Eingangs wurde herausgearbeitet, dass das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht an Informationen anknüpft, die die Privatsphäre beeinträchtigen können, sondern den Schutz gegen Datenverarbeitungen verselbstständigt.68 Dadurch muss ein grundlegender Unterschied zwischen Verhalten im „analogen“ physisch-realen Raum und verdateter digitaler Kommunikation gemacht werden. Bei Verhalten in der physisch-realen Welt kann zwischen Handlung und Verdatung getrennt werden, Verhalten im Internet umfasst die Verdatung gleich mit. Dadurch wird das Verhalten im Internet aus Sicht der informationellen Selbstbestimmung nicht in erster Linie als Verhalten wahrgenommen, sondern der zweite 66 Vgl.
schon A. I. S. 87 f. 68 Siehe A. II. 67 Steinmüller,
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1. Kap.: Öffentliche Kommunikation
Schritt, die Entscheidung über Daten, wird in den Mittelpunkt gerückt. Schließlich sind durch die Fokussierung auf Daten an diese Entscheidung Rechtsfolgen geknüpft. Sich von der Fokussierung auf die Daten zu lösen heißt daher, in der Veröffentlichung eigener Daten mehr die kommunikative Handlung und weniger die Verfügung über die Daten zu sehen. Das ermöglicht einen differenzierteren Blick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen verdateter öffentlicher Kommunikation und Kommunikation im physisch-realen öffentlichen Raum. Zu Letzterer äußert sich das Bundesverfassungsgericht im Volkszählungsurteil explizit. Es begründet die Notwendigkeit von Datenschutz unter anderem damit, dass die Registrierung der Teilnehmer einer Veranstaltung von der Ausübung des Grundrechts aus Art. 8 Abs. 1 GG abhalten könnte.69 Die Teilnahme an einer öffentlichen Demonstration, die das Gericht vor allem vor Augen gehabt haben dürfte, ist geradezu die Definition öffentlichen Verhaltens. Sie dient dazu, gehört zu werden, einem Anliegen öffentliches Gehör zu verschaffen. Jeder Passant kann sehen, wer an der Veranstaltung teilnimmt; diese Information ist also prinzipiell jedem zugänglich. Trotzdem ist eine Verdatung dieser Information ein Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Denn sie würde die Information in unkontrollierbarer Weise weit über den Kreis der Versammlungsteilnehmer und Passanten heraus verfügbar und verwendbar machen. Daher soll das Recht auf informationelle Selbstbestimmung dem Einzelnen auch und gerade bei öffentlicher Kommunikation die Entscheidung lassen, inwieweit diese Informationen verdatet werden dürfen. Er soll bei seinem Handlungsentschluss gerade nicht darüber nachdenken müssen, welche Daten über diese Handlung entstehen könnten. Ein ähnlicher Gedanke kommt im Internet zum Tragen. Hier wird kommuniziert, hier werden Meinungen und Glaubensüberzeugungen geäußert, hier wird die Persönlichkeit entfaltet. Und auch hier kann die Gefahr einer unkontrollierten Speicherung, Weitergabe und Verknüpfung der Daten die Nutzer davon abschrecken. Daher müsste es auch hier ein Recht geben, nicht darüber nachdenken zu müssen, was mit den Daten weiter geschieht. Doch die Selbstbestimmung über die Daten bewirkt genau das Gegenteil: Selbst wenn der Nutzer nicht darüber nachgedacht hat, wird ihm per Auslegung ein solcher Gedanke unterstellt. Insofern ist die Frage nach dem Erklärungsgehalt der Veröffentlichung zwar konsequent, wenn man auf die Daten abstellt, erreicht aber das Gegenteil dessen, wofür das Recht auf informationelle Selbstbestimmung geschaffen wurde. Natürlich gibt es Unterschiede zum Handeln im physisch-realen öffentlichen Raum. Die Öffentlichkeit ist gerade nicht auf Passanten beschränkt, 69 BVerfGE
65, 1 (43).
B. Kritik an der informationellen Selbstbestimmung43
sondern theoretisch – aber wiederum nur theoretisch – findet das Handeln vor einer Weltöffentlichkeit statt. Zudem nimmt der Nutzer die Verdatung mit all ihren Gefahren von vornherein in Kauf. Dennoch ist es zu einfach, das Verhalten allein aus Sicht der Daten zu sehen. Es wird im Folgenden dogmatisch vertieft werden, warum aus Sicht des Art. 2 Abs. 1 GG die Handlungen im Vordergrund stehen müssen. Dazu muss man sich zunächst vom allein auf die Daten gerichteten Blickwinkel, zu dem das Recht auf informationelle Selbstbestimmung verleitet, entfernen.
III. Zusammenfassung Das Bundesverfassungsgericht hat sich im Volkszählungsurteil für den formalen Ansatz informationeller Selbstbestimmung entschieden. Danach wird die Selbstbestimmung des Betroffenen über „seine“ persönlichen Daten zum eigentlichen Inhalt des Rechts. Dieser soll mit Hilfe dieses Rechts seine Privatsphäreinteressen selbst wahrnehmen können. Von den materiellen Gesichtspunkten, die zur Begründung des Rechts angeführt werden, wird es abgekoppelt. Es soll den Schutz vor bestimmten Informationen durch die Selbstbestimmung über die persönlichen Daten ermöglichen. Im Zeitalter sozialer Netzwerke werden die von jeher geäußerten Kritikpunkte an der Konzeption informationeller Selbstbestimmung immer deutlicher. Das Recht geht zu weit, da es jede alltägliche Kommunikation Privater rechtfertigungsbedürftig macht und damit deren ungehemmte Kommunikation behindert. Zugleich greift es zu kurz, da eine der völlig alltäglich gewordenen Einwilligungen oder erst recht die Veröffentlichung von Daten durch den Betroffenen selbst das Tor zu allen möglichen Datenverarbeitungen öffnet, ohne dass der Betroffene eine wirkliche Kontrolle darüber hat. Daher ist das Recht auf das für den Schutz der freien Persönlichkeitsentfaltung Notwendige zu beschränken. Dazu ist schon auf Schutzbereichsebene zu prüfen, ob eine bestimmte Datenverarbeitung materiell die Persönlichkeit des Betroffenen beeinträchtigen kann. Dabei sind nicht die Daten als solche in den Mittelpunkt zu stellen, sondern die daraus generierbaren Informationen. Ausgangspunkt muss der Schutz ungehemmter Kommunikation sein. Dieser kann durch Datenverarbeitung gehemmt werden, Datenverarbeitung kann aber auch gerade ein Weg hierzu sein. Mit Hilfe solcher materiellen Erwägungen kann der Grundrechtsschutz der freien Entfaltung der Persönlichkeit dort gewährleistet werden, wo diese gefährdet ist.
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1. Kap.: Öffentliche Kommunikation
C. Zugrunde gelegtes Grundrechtsverständnis Die Kritik an der Konzeption informationeller Selbstbestimmung wird häufig mit einer Forderung nach einer objektiv-rechtlichen Fassung des grundrechtlichen Datenschutzes anstelle des subjektiven Abwehrrechts verbunden.70 Diese Forderung steht im Zusammenhang mit dem grundrechtsdogmatischen Ansatz, der anstelle des subjektiv-rechtlichen Schutzbereichs den objektiv-rechtlichen Gewährleistungsgehalt zum Ausgangspunkt der Grundrechtsprüfung machen will.71 Daher erfordert der Versuch einer Rekonzeption grundrechtlichen Datenschutzes eine Orientierung darüber, welches grundrechtsdogmatische Konzept dieser zugrunde gelegt werden soll.
I. Das traditionelle Grundrechtsverständnis, insbesondere die Schutzpflicht Die traditionelle Grundrechtsdogmatik unterscheidet zwischen subjektiven und objektiven Grundrechtsfunktionen. Grundrechte gewähren danach in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat; die „Idee einer objektiven Dimension“ findet demgegenüber „nahezu überall Anwendung […], wo der Rahmen einer bloß abwehrrechtlichen Grundrechtsinterpretation überschritten wurde“72. Die objektiven Funktionen sind nach und nach in der Schutzfunktion der Grundrechte aufgegangen.73 Im Zentrum der traditionellen Grundrechtsdogmatik steht die Funktion als individuelle subjektive Abwehrrechte. Ausgangspunkt ihrer Prüfung ist der auf das Individuum bezogene Schutzbereich. Die objektive Funktion wurzelt dem Bundesverfassungsgericht zufolge in der subjektiven Funktion und dient ihrer Verstärkung.74 Auch sie soll demnach dem Schutz des Individuums dienen. Dennoch werden die Grundrechte aus guten Gründen in ihrer Schutzfunktion primär als Normen des objektiven Rechts verstanden und nicht von ihrem individualschützenden Charakter aus. Denn erstens kann die Schutzpflicht den Einzelnen nicht im gleichen Maß wie das Abwehrrecht (grundsätzlich) vor jeglichen Beeinträchtigungen seiner subjektiven Interessen schützen. Denn die Grundrechte schützen nicht nur 70 Albers, S. 29 ff.; Bäcker, in: Linien des Rechtsprechung, S. 99 (122); Ladeur, DuD 2000, 12; Pitschas, DuD 1998, 139 (146 f.); Trute, in: Handbuch Datenschutzrecht, Kap. 2.5 Rn. 19. 71 Böckenförde, Der Staat 42 (2003), S. 165 ff.; Hoffmann-Riem, in: Haben wir wirklich Recht?, S. 53 ff. 72 Alexy, Der Staat 29 (1990), S. 49. 73 Kingreen/Poscher (32. Aufl.), Rn. 106. 74 BVerfGE 50, 290 (337).
C. Zugrunde gelegtes Grundrechtsverständnis45
einen Grundrechtsträger, sondern alle. Individualschutz zugunsten des einen Grundrechtsträgers geht regelmäßig zulasten des anderen. Das gilt insbesondere bei Grundrechten, die sich in Kooperation und Widerstreit zwischen Privaten entfalten. Die Berufsfreiheit etwa schützt u. a. die Freiheit des Wettbewerbs,75 die Koalitionsfreiheit die Freiheit des Arbeitskampfes76 und die Meinungsfreiheit soll den geistigen Kampf der Meinungen ermöglichen.77 Hier ist die Einwirkung auf die Interessen anderer Privater gerade Inhalt des Grundrechtsschutzes.78 Dementsprechend müssen diese solche Einwirkungen dulden, soweit sie ihnen nicht die Möglichkeit nehmen, ihrerseits ihre Interessen durchzusetzen. Hätte der Einzelne ein Recht, solche Einwirkungen Dritter zu unterbinden, wäre nicht nur die grundrechtlich geschützte Freiheit Dritter beeinträchtigt, der ganze Prozess der Grundrechtsentfaltung würde nicht mehr funktionieren. Deswegen löst nur dasjenige Handeln Privater eine Schutzpflicht aus, das der beschriebenen objektiven Freiheitsverbürgung des Grundrechts widerspricht, indem es Dritten die Freiheit nimmt, sich ebenfalls zu entfalten.79 Zweitens müssen bei der Bestimmung der Schutzpflicht auch die ebenfalls verfassungsrechtlich gewährleisteten Entscheidungsspielräume der mit der Wahrnehmung der Schutzpflicht beauftragten staatlichen Instanzen berücksichtigt werden. Die Wahrnehmung der Schutzpflicht setzt eine Gewichtung der verschiedenen Interessen voraus. Das Ergebnis dieser Gewichtung lässt sich den Grundrechten nicht verbindlich entnehmen. Es gibt zwar Versuche, mit Hilfe des Übermaß- und des Untermaßverbots einen Korridor festzulegen, innerhalb dessen die Entscheidung sich zu bewegen hat.80 Doch je komplexer die Entscheidung ist und je mehr öffentliche und private Interessen zu berücksichtigen sind, desto weniger präzise sind die Vorgaben der Grundrechte und desto weiter ist der Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers. Diese Erwägungen schließen nach herrschender Auffassung subjektive Schutzrechte nicht aus. Denn wenn die Grundrechte in erster Linie das Individuum schützen sollen, müssen sie ihm auch ein subjektives Recht auf Schutz gewähren und dürfen es nicht bei einer objektiven Anordnung belassen, die grundrechtliche Ordnung in einer bestimmten Weise zu gestalten.81 Wie der Staat seine Schutzpflicht wahrnimmt, ist ihm hingegen weitgehend 105, 252 (265); Kingreen/Poscher, Rn. 941. 92, 365 (939); Kingreen/Poscher, Rn. 858 f. 77 BVerfGE 25, 256 (265); Kingreen/Poscher, Rn. 657. 78 Isensee, in: HStR IX, § 191 Rn. 226. 79 Isensee, in: HStR IX, § 191 Rn. 231. 80 Isensee, in: HStR IX, § 191 Rn. 303. 81 Isensee, in: HStR IX, § 191 Rn. 322; Kingreen/Poscher (32. Aufl.), Rn. 105. 75 BVerfGE 76 BVerfGE
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1. Kap.: Öffentliche Kommunikation
selbst überlassen. Er kann das Verhalten des Störers etwa unter Strafe stellen oder dem Opfer einen zivilrechtlichen Unterlassungs- und / oder Schadenersatzanspruch gegen den Störer gewähren. Er kann dem Opfer aber auch Verfahrensrechte einräumen, mit denen es seine Interessen selbst wahrnehmen kann, sodass es nicht zu einem Übergriff kommt.82 Was im Verhältnis zwischen Staat und Opfer Wahrnehmung der Schutzpflicht ist, ist im Verhältnis zwischen Staat und Störer häufig ein Eingriff in die Grundrechte des Störers. Dieser Eingriff ist nach den allgemeinen Regeln für Grundrechtseingriffe zu beurteilen, muss also insbesondere dem Gesetzesvorbehalt und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen. Wenn die Wahrnehmung der Schutzpflicht einen Eingriff in die Grundrechte des Störers erfordert oder der allgemeine rechtsstaatliche Vorbehalt des Gesetzes greift, muss der „Schutzeingriff“ daher vom Gesetzgeber wahrgenommen werden.83 Dabei entscheidet dieser zugleich, wie er die Interessen der verschiedenen Grundrechtsträger gewichtet und welche Maßnahmen er in Ausübung der Schutzpflicht trifft. Damit konkretisiert er die Schutzpflicht.84 Die anderen Staatsgewalten haben die Schutzpflicht bei der Auslegung und Anwendung von Normen zu beachten. Die Exekutive hat die betroffenen Grundrechte etwa bei Genehmigungsverfahren zu berücksichtigen.85 Beim Schutz von Grundrechten im Zivilrecht spielt die Rechtsprechung eine entscheidende Rolle. Denn gerade hier kann der Gesetzgeber nicht alle möglichen Interessenkonflikte regeln. Daher hat die Rechtsprechung den Grundrechten mithilfe von Generalklauseln Wirkung zu verschaffen.86 Was im Verhältnis zwischen Privaten als mittelbare Drittwirkung der Grundrechte in Erscheinung tritt, ist insofern aus Sicht des Staates eine Art und Weise, seine Schutzpflicht wahrzunehmen.87
II. Die Lehre von den Gewährleistungsgehalten Die Lehre von den Gewährleistungsgehalten versteht die Grundrechte nicht nur in ihrer Schutzfunktion, sondern allgemein in erster Linie als objektiv-rechtliche Normen. Hoffmann-Riem als einer der Väter dieser Lehre kritisiert, die mit dem Begriff „Schutzbereich“ verbundene Vorstellung abgegrenzter Sphären sei irreführend. Es gehe beim grundrechtlichen Konzept nicht nur um „Schutz“ von Freiheit gegen den Staat, sondern umfassender 82 Kingreen/Poscher
(32. Aufl.), Rn. 121. in: HStR IX, § 191 Rn. 279. 84 Isensee, in: HStR IX, § 191 Rn. 284. 85 Kingreen/Poscher (32. Aufl.), Rn. 119. 86 BVerfGE 7, 198 (206). 87 Kingreen/Poscher (32. Aufl.), Rn. 205. 83 Isensee,
C. Zugrunde gelegtes Grundrechtsverständnis47
um die Gewährleistung von Freiheit in Staat und Gesellschaft.88 Dabei möchte er die sozialen Bedingungen realer Freiheit berücksichtigen. In komplexen Massengesellschaften gebe es fast keine Chance der Entfaltung des isolierten Subjekts. Die Ausübung von Kommunikationsfreiheit als deutlichstes Beispiel setze zu ihrer Ausübung Kommunikatoren und Rezipienten voraus.89 Daher müssten verschiedene Grundrechtspositionen einander im Sinne praktischer Konkordanz zugeordnet werden. Der Staat erscheine nicht mehr primär als eingreifende, sondern als moderierende, ausgleichende und so die Freiheit gewährleistende Instanz. Im Zentrum der neuen Dogmatik soll daher nicht mehr der Eingriff in subjektive Rechte stehen. Stattdessen sei im ersten Schritt der objektivrechtliche Gewährleistungsgehalt der jeweiligen Grundrechte als Vorgabe an die mit der Konkretisierung des Grundrechts befassten Staatsorgane herauszuarbeiten. So entfaltet die Grundrechtsnorm nicht nur im Falle einer Beeinträchtigung Wirkungen, sondern prägt sämtliches staatliches Handeln im Gewährleistungsbereich eines Grundrechts.90 Zugleich aber gerät der Individualschutz vollends in Abhängigkeit von den überindividuellen Zielen des Grundrechts. Ein Abwehrrecht kann dann ebenso wie ein Schutzrecht nur entstehen, wenn eine Maßnahme nicht nur den grundrechtlich geschützten Interessen des Einzelnen, sondern auch der objektiven Ordnung, die durch das Grundrecht vorgegeben wird, widerspricht. Denn die Prüfung des objektiven Gewährleistungsgehalts ist der Prüfung der subjektiven Grundrechtsverletzung vorgelagert.91 Wenn eine staatliche Maßnahme den überindividuellen Zielen des Grundrechts dient, entspricht sie nach diesem Verständnis gerade dessen normativen Vorgaben und kann daher nicht zugleich gegen dieses Grundrecht verstoßen und so ein subjektives Abwehrrecht auslösen. Letztlich werden die Grundrechte so als Leitlinie staatlichen Handelns gestärkt, gerade auch bei der Konfliktlösung im Privatrecht; zugleich werden subjektive Rechtspositionen geschwächt, wenn es der gesellschaftlichen Grundrechtsentfaltung auf Gegenseitigkeit dient. Der Bezug der Lehre zum grundrechtlichen Datenschutz ist offensichtlich. Gerade bei der verdateten personenbezogenen Kommunikation im Internet handelt es sich um eine multipolare Interessenlage zwischen dem oder den Kommunizierenden, dem oder den Betroffenen, dem Betreiber der Plattform oder von Suchmaschinen sowie deren Vertragspartnern und anderen Internetnutzern mit den unterschiedlichsten Interessen an den Daten. Sie wird aber nach der Kon88 Hoffmann-Riem,
in: Haben wir wirklich Recht?, S. 53 (57). in: Haben wir wirklich Recht?, S. 53 (57 f.); vgl. auch Suhr, Entfaltung der Menschen durch die Menschen. 90 Hoffmann-Riem, in: Haben wir wirklich Recht?, S. 53 (71 f.). 91 Hoffmann-Riem, in: Haben wir wirklich Recht?, S. 53 (71 f.). 89 Hoffmann-Riem,
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1. Kap.: Öffentliche Kommunikation
zeption informationeller Selbstbestimmung im Sinne eines „privatistischen“ Abwehrrechts gelöst, das den sozialen Charakter verdateter Kommunikation nur als Schranke, nicht als Ausgangspunkt sieht. Folge ist eine Überbewertung von Einzelinteressen, die aber auch, wie gesehen, ins Gegenteil kippen kann, sowie eine Verrechtlichung, die mehr zur Verunsicherung der Beteiligten als zur Rechtssicherheit beiträgt. Insofern treffen die Einwände Hoffmann-Riems gegen die traditionelle Grundrechtsdogmatik gerade auf den Bereich des Datenschutzes zu. Die Frage ist jedoch, ob seine Lösungen überzeugen können.
III. Kritik an der Lehre von den Gewährleistungsgehalten Aus Sicht der Normtheorie überzeugt es, den objektiven Gehalt der Grundrechte zum Ausgangspunkt zu nehmen. Denn auch in ihrer abwehrrechtlichen Funktion haben die Grundrechte einen objektiven Gehalt als „negative Kompetenznormen“,92 zugleich vermitteln „objektive“ Gehalte häufig auch subjektive Rechte.93 Insofern ist die Gegenüberstellung objektiver und subjektiver Gehalte als Gegensätze nicht ganz zutreffend, vielmehr sind Grundrechte objektivrechtliche Normen, die zugleich subjektive Rechte vermitteln können.94 Doch auch mit einer solchen Sichtweise kann man zu den Ergebnissen der herrschenden Meinung kommen. Denn die Frage bleibt, welche objektiven Verpflichtungen man den Grundrechten entnimmt. Die Lehre von den Gewährleistungsgehalten möchte die gerade dargelegten Grundsätze auf alle Grundrechtsfunktionen übertragen. Aus ihnen ergibt sich demnach für den Staat die Pflicht, reale Freiheit zu gewährleisten und dabei zu gestalten. Dazu kann gehören, dass der Staat sich „herauszuhalten“ hat, dann ergibt sich eine Unterlassungspflicht und ein korrespondierendes Abwehrrecht des Bürgers. Aber ob eine Handlungs- oder eine Unterlassungspflicht besteht und mit welchem Inhalt, ist davon abhängig, was der Freiheit im Sinne der Gewährleistungen der Grundrechte am besten dient. Man könnte im Gegensatz dazu den Grundrechten als objektive Normen in erster Linie diese Unterlassungspflicht des Staates entnehmen. Er hat damit in erster Linie gewisse Freiheitsbereiche der Grundrechtsträger zu achten. Wenn zugleich eine Pflicht besteht zu handeln, um die Freiheit eines anderen Grundrechtsträgers zu gewährleisten, müssen diese sich widersprechenden Pflichten zu einem Ausgleich gebracht werden. Prämisse der Lehre von den Gewährleistungsgehalten ist demnach das Verständnis von Freiheit als staatlich eingerichteter Freiheit im Gegensatz zu 92 Kingreen/Poscher 93 Kingreen/Poscher 94 Albers,
S. 41.
(32. Aufl.), Rn. 99. (32. Aufl.), Rn. 105.
C. Zugrunde gelegtes Grundrechtsverständnis49
einer staatsfreien Sphäre. Dass Freiheit staatlicher Einrichtung bedarf, ist von jeher für normgeprägte Schutzbereiche anerkannt, die im Gegensatz zu „natürlichen“ Freiheitsrechten zu ihrer Wirksamkeit einer Ausgestaltung durch einfaches Recht bedürfen.95 Die Abgrenzung zwischen natürlichen und normgeprägten Schutzbereichen ist allerdings nicht immer so trennscharf zu treffen. Das gilt namentlich in Bereichen, die zwar nicht aus rechtlichen, aber aus tatsächlichen, insbesondere sozialen, wirtschaftlichen oder technischen Gründen einer Ausgestaltung bedürfen, damit Freiheitsausübung dort wirksam möglich ist. Das Internet ist hierfür ein gutes Beispiel. Solange die Infrastruktur der Fernkommunikation in den Händen des Staates lag, war es notwendig, aber auch hinreichend, dass er Bürgern den Zugang gewährte und Eingriffe, insbesondere in die Privatheit der Kommunikation, unterließ. Diese Aufgabe wird in Zeiten, in denen Freiheitsausübung maßgeblich von Privaten abhängt, ungleich komplexer. Die technische Infrastruktur des Internet ist in der Hand großer Privatunternehmen, sodass die Entfaltungsfreiheit der Nutzer letztlich von diesen abhängt. Inhaltlich bietet das Internet zwar eine außerordentliche Vielfalt. Inwieweit die Inhalte aufgefunden werden, hängt allerdings zu einem großen Teil von den Algorithmen großer Suchmaschinen wie Google ab, die ebenfalls in den Händen großer Unternehmen sind. Zwar haben die Nutzer auf vielen Plattformen die Möglichkeit, selbst zu kommunizieren und Inhalte verschiedenster Art zu generieren. Aber auch dies ist nur im Rahmen der Vorgaben der Betreiber möglich, die eigene wirtschaftliche Interessen verfolgen. Gerade solche Machtstrukturen können die Freiheitsausübung gefährden.96 Doch auch die Interessen verschiedener Nutzer müssen einander zugeordnet werden, etwa die Meinungsfreiheit der Kommunizierenden im Verhältnis zum Persönlichkeitsrecht der Betroffenen bei ehrverletzenden Äußerungen.97 Würde sich der Staat hier so weit wie möglich heraushalten, wie es das Eingriffsabwehrverständnis der Grundrechte nahelegt, wäre das Internet zwar formal frei, faktisch würde sich aber das Recht des Stärkeren durchsetzen. Insofern tritt der Staat, wenn er dieses komplexe Interessengeflecht regelt, nicht in erster Linie als eingreifende, sondern als gestaltende, ausgleichende, die Freiheit wahrende Instanz auf. Die grundrechtliche geschützte Entfaltungsfreiheit steht allen Grundrechtsträgern gleichermaßen zu.98 Daher besteht ein grundrechtlicher Schutzbedarf, wenn sich aufgrund eines faktischen Ungleichgewichts zwischen zwei Grundrechtsträgern der eine auf Kosten der 95 Kingreen/Poscher,
Rn. 266. in: Haben wir wirklich Recht?, S. 53 (75). 97 Hoffmann-Riem, in: Haben wir wirklich Recht?, S. 53 (59). 98 Suhr, S. 106. 96 Hoffmann-Riem,
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1. Kap.: Öffentliche Kommunikation
Entfaltungsmöglichkeiten des anderen entfaltet.99 Dem möchte die Lehre von den Gewährleistungsgehalten dogmatisch Rechnung tragen. Doch so überzeugend dieser Ansatz auf den ersten Blick erscheint, so problematisch sind seine Konsequenzen bei der Beurteilung konkreter verfassungsrechtlicher Streitfragen. Das zeigt sich in zwei auf Kommunikation bezogenen Urteilen des Bundesverfassungsgerichts, in denen sich die Ideen der Lehre von den Gewährleistungsgehalten finden. Es handelt sich um die beiden Urteile zum staatlichen Informationshandeln BVerfGE 105, 252 ff. (Glykol) und BVerfGE 105, 279 ff. (Osho). Explizit heißt es in der Glykol-Entscheidung: „Marktbezogene Informationen des Staates beeinträchtigen den grundrechtlichen Gewährleistungsbereich der betroffenen Wettbewerber nicht, sofern der Einfluss auf wettbewerbserhebliche Faktoren ohne Verzerrung der Marktverhältnisse nach Maßgabe der rechtlichen Vorgaben für staatliches Informationshandeln erfolgt.“100 Art. 12 Abs. 1 GG sichere die Teilhabe am Wettbewerb nach Maßgabe seiner Funktionsbedingungen. Dazu zählt das Gericht ein möglichst hohes Maß an Informationen der Marktteilnehmer über marktrelevante Faktoren.101 Der Markt ist ein komplexes Interessengeflecht im oben beschriebenen Sinne, in dem Entfaltung auf Gegenseitigkeit beruht. Sein Funktionieren als Ganzes ist Bedingung dafür, dass sich der Einzelne in ihm entfalten kann. Daher sind die subjektiven Abwehransprüche dem Funktionieren des Marktes untergeordnet. Ebenso müssen es nach der Osho-Entscheidung Religionsgemeinschaften dulden, dass sich staatliche Organe mit Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften öffentlich – auch kritisch – auseinandersetzen.102 Wenn auch nicht ausgesprochen, dürfte dahinter der Gedanke stehen, dass es letztlich der Ausübung der Religionsfreiheit insgesamt dient, wenn die Grundrechtsträger unter Wahrung des Grundsatzes der Neutralität über Religionsgemeinschaften informiert werden.103 Richtig daran ist, dass Einwirkungen auf Interessen Einzelner ein integraler Bestandteil multipolarer Interessenlagen sind. Zum Wettbewerb gehört die Information über Leistungen und Produkte, die einen Wettbewerber in ein besseres und einen anderen in ein schlechteres Licht rückt. Zur Kommunikation gehört die Verbreitung nachteiliger Tatsachenmitteilungen und Meinungen im Bezug auf Personen oder auch Religionsgemeinschaften. Wäre das nicht möglich, wäre eine wettbewerbliche oder kommunikative Entfal99 BVerfGE
89, 214 (232). 105, 252 (268), Hervorhebung durch C.G. 101 BVerfGE 105, 252 (265 f.). 102 BVerfGE 105, 279 (294). 103 So auch die Deutung von Hoffmann-Riem, in: Haben wir wirklich Recht?, S. 53 (72). 100 BVerfGE
C. Zugrunde gelegtes Grundrechtsverständnis51
tung kaum möglich. Der Staat ist aber kein Subjekt dieser grundrechtlichen Entfaltungskonstellation. Er ist nicht Berechtigter der betroffenen Grundrechte, sondern nach Art. 1 Abs. 3 GG Verpflichteter. Diese Unterscheidung verschwimmt, wenn ihm eine Befugnis zugestanden wird, sich im „Diskurs in religiösen Angelegenheiten“104 zu Wort zu melden, ohne dass sich nachteilig betroffene Religionsgemeinschaften dagegen wehren können. Im Staat-Bürger-Verhältnis führt die Fokussierung auf den Diskurs als Ganzen so zu einer unangemessenen Verkürzung des subjektiven Rechtsschutzes.105 Für Grundrechtseingriffe hat sich mit dem Gesetzesvorbehalt ein so weit wie möglich rationales Prüfungsprogramm etabliert, das alle im Einzelfall relevanten Gesichtspunkte berücksichtigen kann. Durch die Vorprüfung des Gewährleistungsgehalts der Grundrechtsnorm werden Aspekte, die nach dem etablierten Prüfungsschema erst dort zu diskutieren gewesen wären, vorverlagert. Ist der Gewährleistungsgehalt nicht betroffen, wird der Grundrechtseingriff im Einzelfall gar nicht mehr geprüft. So wird die Vorstellung des Auslegenden von einer „guten“ grundrechtlichen Ordnung zur Prämisse der Prüfung. Obwohl möglicherweise bestreitbar, bedarf sie keiner weiteren Rechtfertigung und Abwägung mit den individuellen Interessen des einzelnen Grundrechtsträgers mehr. Der Wunsch nach einer transparenten Markt- oder Religionsordnung überlagert die Folgen für den Einzelnen. Das Problem stellt sich nicht nur, wenn es, wie bei den dargestellten Entscheidungen, um Maßnahmen der Exekutive geht. Hoffmann-Riem sieht in Fällen, in denen sich mehrere Grundrechtsträger auf das gleiche Grundrecht berufen, dies aber nur gemeinsam ausüben können, die Zuordnung von Begünstigungen und Belastungen als Ausgestaltung. Beispiel ist die „Kommunikationsfreiheit“, was zeigt, dass das „gleiche“ Grundrecht weit verstanden wird. Solche Ausgestaltungen bedürften eines Gesetzes, Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Überprüfung sei dann die gesamte Gemengelage von Vorschriften und nicht die einzelne Belastung.106 Mangels greifbarer Kriterien für diese Überprüfung kann das allzu leicht in zwei Richtungen ausschlagen. Soweit die Rechtsprechung konkrete Vorgaben für den Gesetzgeber formuliert, ist die Gefahr einer Kompetenzüberschreitung groß. Denn je weniger rational und methodisch exakt die Argumentation ist, desto mehr schafft die Rechtsprechung Recht anstatt es auszulegen. Umgekehrt kann die Schlussfolgerung, dem Gesetzgeber einen sehr weiten Spielraum bei der Gestaltung der Ordnung zu lassen, zu Lasten der Grundrechtsträger gehen. Denn mehr Spielraum für den Gesetzgeber bedeu104 Hoffmann-Riem,
in: Haben wir wirklich Recht?, S. 53 (72). S. 409. 106 Hoffmann-Riem, in: Haben wir wirklich Recht?, S. 53 (58). 105 Albers,
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1. Kap.: Öffentliche Kommunikation
tet weniger Abwehransprüche der betroffenen Bürger. Diese sind aber nötig, um den Staat zur Einhaltung seiner objektiven Pflichten anzuhalten. In einer idealen Welt verfolgt der Staat das Ziel, die Grundrechte optimal zur Entfaltung kommen zu lassen. In der Realität waren die subjektiven Abwehrrechte oft notwendiges Korrektiv, um den Gesetzgeber anzuhalten, den Spielraum, den die Grundrechte ihm lassen, nicht zu verlassen.
IV. Fazit Insofern erfordert wirksamer Grundrechtsschutz, dass er in erster Linie subjektiv verstanden wird. Es ist zwar richtig, dass der Staat immer weniger als eingreifende und immer mehr als steuernde, moderierende und so die Freiheit gewährleistende Instanz auftritt. Doch die Trennung der verschiedenen Perspektiven muss gewahrt bleiben. Die Grundrechte können den Staat im Verhältnis zum Opfer zu einer Maßnahme verpflichten, diese aber zugleich im Verhältnis zum Störer rechtfertigungsbedürftig machen. Das mutet paradox an, ist aber der Rationalität der Grundrechtsauslegung geschuldet. Nichts anderes gilt in multipolaren Konstellationen, wo das Dreieck zwischen Staat, Störer und Opfer sich zu einem Vieleck verwandelt. Dennoch hält die Lehre von den Gewährleistungsgehalten sowohl für die subjektive als auch für die objektive Funktion der Grundrechte wichtige Hinweise bereit. Im Hinblick auf die subjektive Funktion ist der Lehre von den Gewährleistungsgehalten darin zuzustimmen, dass die unbedachte Ausweitung von Schutzbereichen und Eingriffsbegriff letztendlich nicht zwangsläufig zur Freiheitsmaximierung führt, wenn damit zugleich die Erweiterung von Einschränkungsmöglichkeiten verbunden ist.107 Daraus folgt die Notwendigkeit, sorgfältiger bei der Bestimmung von Schutzbereich und Eingriff vorzugehen. Dazu braucht es keine grundlegend neue Dogmatik. Der Umfang der Schutzbereiche ist in erster Linie eine Frage der einzelnen Grundrechte. Gerade die Besonderheiten schrankenlos gewährter Grundrechte108 lassen sich am besten bei eben jenen berücksichtigen. Richtig ist, dass Grundrechte mehr sind als thematisch unterschiedliche Sphären individueller Willkür bis zu einer „allgemeinen Eingriffsfreiheit“ nach Art. 2 Abs. 1 GG. Daher muss präzise herausgearbeitet werden, welche Betätigungen, Rechtspositionen oder Sphären des Grundrechtsträgers durch das jeweilige Grundrecht geschützt werden sollen. Die sorgfältige Bestimmung des Schutzbereichs ist zugleich eine Vorentscheidung, welches staatliche Verhalten als Eingriff bewertet werden kann. 107 Hoffmann-Riem, 108 Vgl.
in: Haben wir wirklich Recht?, S. 53 (54). Böckenförde, Der Staat 42 (2003), S. 165 (168 ff.).
C. Zugrunde gelegtes Grundrechtsverständnis53
Die eigenständige Aufgabe des Eingriffsbegriffs ist es, Einschränkungen eines Grundrechts von bloß geringfügigen, insbesondere mittelbaren Beeinträchtigungen zu unterscheiden. Hier gilt ebenso wie beim Schutzbereich, dass weniger mehr sein kann. Gerade in komplexen Interessengeflechten kann staatliches Handeln allzu leicht mittelbar unerwünschte Folgen für einzelne Grundrechtsträger haben. Es würde staatliches Handeln, das zur Freiheitsausübung Einzelner nötig sein kann, lähmen, wenn jede dieser Folgen bedacht und gesetzlich legitimiert werden müsste. Doch ebenso wenig wie staatliches Handeln per se einen Eingriff darstellt, ist es per se freiheitsfördernde Grundrechtsausgestaltung ohne Eingriffscharakter. Bei der Prüfung des Eingriffs ist auf den im Schutzbereich herausgearbeiteten sozialen Realbereich109 Bezug zu nehmen. Ob die staatliche Warnung vor einer Religionsgemeinschaft ein Eingriff ist, muss unter Bezugnahme auf die Folgen in diesem Bereich untersucht werden. Wenn davon auszugehen ist, dass sie zu einer nicht unerheblichen Beeinträchtigung ihrer Tätigkeit führt, liegt ein Eingriff vor. Das setzt eine Auseinandersetzung mit den realen Bedingungen des gesellschaftlichen Diskurses über Religionsgemeinschaften voraus. Noch wichtiger ist die Berücksichtigung des sozialen Kontextes der Grundrechtsausübung in der Schutzpflichtperspektive. Der Einzelne ist zu seiner Freiheitsausübung vielfach nämlich nicht nur auf den Staat, sondern in erster Linie auf andere Private angewiesen.110 Man kann nicht mit sich selbst einen Vertrag schließen, mit sich selbst kommunizieren oder sich selbst heiraten. Das verdeutlicht, warum die Schutzpflicht nicht aus einer individualistischen Warte, sondern nur unter Berücksichtigung dieses sozialen Prozesses bestimmt werden kann. Zugleich lässt sich mithilfe dieser Erkenntnis die „objektive“ Funktion der Grundrechte mit Leben füllen. In der objektiven Ordnung, wie sie die Grundrechte verlangen, muss jeder Grundrechtsträger die Möglichkeit haben, seine individuelle Freiheit auszuüben. Insofern bedarf die Auslegung der Grundrechte auch in ihrer überindividuellen objektiven Funktion einer Rückkopplung an individuelle Freiheitsinteressen. Die gängige Dogmatik zur informationellen Selbstbestimmung leidet ebenso wie die Lehre von den Gewährleistungsgehalten darunter, dass sie nicht zwischen Eingriffsabwehr- und Schutzpflichtperspektive differenziert. Die beiden Ansätze tendieren nur zu entgegengesetzten Extremen: Während die Lehre von den Gewährleistungsgehalten den Individualschutz vernachlässigt, überbewertet die Theorie der informationellen Selbstbestimmung ihn zu Lasten der Freiheitsentfaltung Dritter. Dabei vermischt letztere die verschiedenen Grundrechtsfunktionen besonders stark: Im Volkszählungsurteil wird 109 Hoffmann-Riem, 110 Hoffmann-Riem,
in: Haben wir wirklich Recht?, S. 53 (55). in: Haben wir wirklich Recht?, S. 53 (57); Suhr, S. 84 ff.
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1. Kap.: Öffentliche Kommunikation
das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus den Folgen der automatischen Datenverarbeitung für die horizontale „Gesellschaftsordnung“ entwickelt, um daraus ein gegen den Staat gerichtetes Abwehrrecht zu entwickeln. Dieser Ansatz beruht auf der soeben hergeleiteten Notwendigkeit, bei der Bestimmung des Grundrechtsschutzes die gesellschaftlichen Folgen staatlichen Handelns zu berücksichtigen. Allerdings leidet die Begründung an der verfehlten Vorstellung, der Einzelne könnte und müsste die Kontrolle darüber bewahren, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über ihn weiß.111 Durch diese individualistische Sichtweise sozialer Kommunikation kann das Bundesverfassungsgericht die Grundlage und damit auch die Reichweite des Grundrechtsschutzes nicht richtig erfassen. Denn die Betrachtung der Folgen staatlicher Datenverarbeitung bleibt zu oberflächlich. So muss nach dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung zwar jede Datenverarbeitung dem Gesetzesvorbehalt genügen. Für die Beurteilung der Eingriffstiefe im konkreten Fall und damit der Verhältnismäßigkeit der Datenverarbeitung bräuchte es allerdings eine nähere Auseinandersetzung mit diesen sozialen Folgen. Insofern tendiert das Recht auf informationelle Selbstbestimmung in der abwehrrechtlichen Perspektive zu einer „Gleichmacherei“ aller Datenverarbeitungen, die zuvor schon anhand der Drittwirkung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung gezeigt wurde.112 Indes wurde aus gutem Grund der Schwerpunkt bei der Auseinandersetzung mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung auf dessen Folgen im Verhältnis zwischen Privaten gelegt. Denn während bei der Abwehrfunktion ohnehin das Individuum im Zentrum steht, ist bei der Schutzfunktion eine solche individualistische Sichtweise vollends verfehlt. Denn jedenfalls heutzutage findet Datenverarbeitung zu einem großen Teil in Zusammenhang mit Kommunikation statt. Gerade in einem solchen Feld, in dem die Kooperation mehrerer Grundrechtsträger erst die Grundrechtsausübung ermöglicht, müssen auch die überindividuellen Bezüge der Grundrechtsausübung berücksichtigt werden. Stattdessen aber wird der ohnehin nicht überzeugende Gedanke informationeller Selbstbestimmung unverändert auf das Verhältnis zwischen Privaten zurückübertragen. Hierin liegt die Wurzel der Schwächen der Konzeption informationeller Selbstbestimmung, wie sie im vorigen Abschnitt ausgeführt wurden. Der grundrechtliche Datenschutz muss daher auf ein solideres Fundament gestellt werden. Dazu braucht es ein Verständnis der Folgen der automatisierten Datenverarbeitung für die soziale Interaktion. Soweit diese der individuellen Freiheitsverbürgung des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit 111 Vgl.
BVerfGE 65, 1 (43). B. I. 2. und B. II. 1.
112 Siehe
C. Zugrunde gelegtes Grundrechtsverständnis55
widersprechen, lösen sie die abwehrrechtliche Funktion des Grundrechts aus. Diese kann aber nicht eins zu eins auf die Schutzfunktion übertragen werden. Vielmehr muss bei dieser schon im Tatbestand berücksichtigt werden, dass jeder das Recht hat, seine Persönlichkeit frei zu entfalten. Nur so kommt man vom individualistischen Verständnis einer parzellenhaften Kommunikation weg. Eine Grundrechtskollision liegt erst vor, wenn das Verhalten eines Privaten eine Schutzpflicht für das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit auslöst, aber in Ausübung eines anderen Grundrechts geschieht. Dann sind aus Gründen der Rationalität beide Interessen rechtlich präzise herauszustellen und miteinander abzuwägen.
2. Kapitel
Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit D. Die Persönlichkeit und ihre Entfaltung Nach der Bezeichnung „allgemeines Persönlichkeitsrecht“ scheint die Persönlichkeit im Zentrum dieses Rechts zu stehen und möglicherweise sein Schutzgut zu sein. Terminologisch wird die „Persönlichkeit“ aus der Bestimmung des Art. 2 Abs. 1 GG hervorgehoben. Es liegt daher nahe, den Begriff der Persönlichkeit zum Ausgangspunkt der Auslegung zu machen. Doch eine subsumtionsfähige Definition der „Persönlichkeit“ hat die Rechtswissenschaft noch nicht gefunden. Zumeist bleibt sie ein bloßes Schlagwort, das nicht weiter reflektiert wird. Das Bundesverfassungsgericht hat sich damit zufrieden gegeben, Fallgruppen festzulegen, die durch das Recht erfasst sein sollen. Eine generelle Aussage, was Inhalt dieses Rechts sein soll, von der gegebenenfalls neue Fallgruppen deduziert werden könnten, fehlt. Das Bundesverfassungsgericht möchte den Inhalt des geschützten Rechts vielmehr ausdrücklich nicht abschließend umschreiben.1 Diese Selbstbeschränkung trägt zur Entwicklungsoffenheit des allgemeinen Persönlichkeitsrechts bei. Doch fehlte es vollkommen an einer – sei es auch vagen – Richtschnur, was das allgemeine Persönlichkeitsrecht als Ganzes umfasst, so wäre es letztlich richterlicher Willkür ausgesetzt.2 Daher soll im Folgenden eine Annäherung an diesen Begriff versucht werden. Der bisher umfangreichsten Untersuchung zum Persönlichkeitsbegriff in der rechtswissenschaftlichen Literatur schickt Hubmann voraus, die Persönlichkeit umgebe „ein tiefes Dunkel, ihr Bild ist von einem Schleier verhüllt, den zu lüften, wie wir schon hier bekennen müssen, nicht vollständig gelingen kann“3. In den letzten Jahrzehnten wurde kaum auch nur versucht, den Persönlichkeitsbegriff zu definieren. Soweit versucht wird, den Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts abstrakt zu fassen, kreisen alle diese Definitionen letztlich um drei Begriffe: Identität4, Individualität5 und Auto1 BVerfGE
54, 148 (153). Hubmann, S. 10. 3 Hubmann, S. 10. 4 Britz, S. 27; Enders, in: HGR IV, § 89 Rn. 47; Horn, in: HStR VII, § 149 Rn. 10; MD – Di Fabio, Art. 2 Abs. 1 Rn. 147; Jarass, NJW 1989, 857 (859); Michael/Morlok, 2 Ähnlich
D. Die Persönlichkeit und ihre Entfaltung57
nomie bzw. Selbstbestimmung6. Der Schwerpunkt wird aber jeweils unterschiedlich gesetzt und es verbleibt die Frage, welcher dieser drei Begriffe das Schutzgut des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nun zutreffend beschreibt bzw. in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Daher sollen hier diese Begriffe und vor allem das Verhältnis der damit verbundenen Konzepte zueinander geklärt werden.
I. Der Begriff der Identität Im Zentrum dieser drei Begriffe steht das in den letzten Jahren in der sozialwissenschaftlichen Literatur viel diskutierte Konzept der Identität. Als das zentrale Problem der Identität wird die Kontinuität und Konsistenz eines Menschen über verschiedene biographische Zustände und Positionen im sozialen Raum gesehen.7 Die Frage, die sich durch all die Identitätsbegriffe zieht, ist, wie ein Mensch in jeder Situation derselbe – identisch – sein kann. Die Unterschiede in den Identitätsbegriffen liegen letztlich in der Perspektive, aus der der Mensch betrachtet wird. Die numerische Identität betrifft die „Identifizierung im kriminologischen, nicht im psychologischen Sinn“8, wie sie etwa im Begriff „Identitätsfeststellung“ auftaucht.9 Das Entscheidende daran ist die Unterscheidbarkeit eines Menschen von allen anderen Menschen, seine Unverwechselbarkeit. Dass ein Einzelner immer als er selbst identifizierbar und unterscheidbar ist, darf aus rechtlicher Sicht vorausgesetzt werden. Die numerische Identität bedarf – vielleicht abgesehen von der Frage des Klonens von Menschen – keines persönlichkeitsrechtlichen Schutzes. Hier geht es daher um die qualitative Identität, also nicht darum, „wer“ ein bestimmter Mensch ist, sondern „was für ein“ Mensch jemand ist, die Identifizierung „als etwas“.10 Sie lässt sich aus zwei Perspektiven betrachten, die im juristischen Diskurs teilweise mit der Unterscheidung zwischen „personaler“ § 10 Rn. 425; Trute, in: Handbuch Datenschutzrecht, Kap. 2.5 Rn. 14; Schmitt Glaeser, in: HStR VI, § 129 Rn. 32. 5 DR – Dreier, Art. 2 I Rn. 24; Horn, in: HStR VII, § 149 Rn. 10; Kube, in: HStR VII, § 148 Rn. 29; MD – Di Fabio, Art. 2 Abs. 1 Rn. 147; Trute, in: Handbuch Datenschutzrecht, Kap. 2.5 Rn. 14. 6 Britz, S. 27; DR – Dreier, Art. 2 I Rn. 22; Horn, in: HStR VII, § 149 Rn. 10, 27; Kube, in: HStR VII, § 148 Rn. 29; MD – Di Fabio, Art. 2 Abs. 1 Rn. 147. 7 Döbert/Habermas/Nunner-Winkler, in: Entwicklung des Ichs, S. 9; Keupp, in: Lexikon der Psychologie, S. 243. 8 Goffman, S. 67. 9 Angehrn, S. 236. 10 Angehrn, S. 236.
58
2. Kap.: Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit
oder „individueller“ Identität einerseits und „sozialer“ Identität andererseits begrifflich erfasst wird.11 Bei ersterer soll es um die „Selbstidentifikation“ gehen, letztere beziehe sich auf das Bild, das sich andere von einer Person machen.12 Im Grundsatz ist dieser Differenzierung zuzustimmen, allerdings können diese Begriffe leicht zu Konfusionen führen. Goffmans Begriff der „persönlichen Identität“ etwa ist ein numerischer Identitätsbegriff.13 Daher soll hier von „innerer“ und „äußerer“ Perspektive der Identität gesprochen werden.14
II. Die soziale Konstituierung von Identität Das Aufeinander-bezogen-Sein von Innen- und Außenperspektive der Identität wurde erstmals grundlegend von Mead herausgearbeitet. Identität ist nichts, das sich gleichsam im stillen Kämmerlein entwickelt. Sie entsteht vielmehr in einem Zusammenspiel zwischen dem Individuum und seiner Umgebung, „an den Schnittstellen von persönlichen Entwürfen und sozialen Zuschreibungen“15. Das Charakteristikum der Identität ist für Mead, dass sie sich ihrer selbst bewusst, „zu einem Objekt für sich selbst wird, genauso wie andere Individuen für ihn oder in seiner Erfahrung Objekte sind“16. Der einzige Weg dazu ist Kommunikation. Der Einzelne kommuniziert mit einem Anderen und dieser reagiert darauf. „Sinnvolle“ Sprache setzt aber voraus, dass man sich in sein Gegenüber hineinversetzt und dadurch in sich selbst die gleichen Reaktionen auslöst. Das kann auch fiktiv sein: Man merkt, dass das zu Sagende unfreundlich ist und sagt es daher nicht. Diesen Prozess einer gleichsam antizipierten Reaktion des Gegenübers setzt Mead mit dem „Denken“ gleich.17 Indem man nun die „Haltungen“ seines Gegenübers einnimmt, nimmt man sich selbst aus dessen Perspektive, als Objekt innerhalb eines gesellschaftlichen Kontextes wahr. Die Herausbildung eines „definitiven Charakters“ oder einer „definitiven Persönlichkeit“ setzt die Organisation der Haltungen Dritter voraus. Der Einzelne nimmt nun nicht mehr nur die Haltungen von Individuen ein, sondern die des „verallgemeinerten Anderen“, der organisierten Gemeinschaft oder 11 Horn, in: HStR VII, § 149 Rn. 10; Jarass, NJW 1989, 857 (859); Schmitt Glae ser, in: HStR VI, § 129 Rn. 32. 12 Schmitt Glaeser, in: HStR VI, § 129 Rn. 32, bei dessen Identitätsdefinition sich allerdings numerische und qualitative Identitätsbegriffe vermischen. 13 Jörissen, S. 22. 14 Vgl. Nunner-Winkler, Soziale Welt 36 (1985), S. 466. 15 Krappmann, in: Identitätsarbeit heute, S. 66 (67). 16 Mead, S. 180. 17 Mead, S. 183 f.
D. Die Persönlichkeit und ihre Entfaltung59
gesellschaftlichen Gruppe, zu der er gehört. Es geht dabei nicht nur um die Haltungen anderer gegenüber sich selbst und untereinander, sondern zu Fragen der Gesellschaft als Ganzer.18 Der Begriff der „Gruppe“ ist sehr weit gefasst, es können sowohl „konkrete“ Gruppen, etwa Klubs oder Parteien sein, aber auch „abstrakte“ wie Gläubiger und Schuldner.19 Der Einzelne versteht nun die Haltungen bestimmter anderer Individuen in dem gesellschaftlichen Kontext, dem sie entspringen. So internalisiert er das Verhalten und die Verhaltenserwartungen der Gesellschaft. Wenn er nun die Haltungen eines Anderen gegenüber sich selbst einnimmt, so heißt das auch, sich selbst im Lichte dieser gesellschaftlichen Haltungen zu sehen. Er wird „zu einer individuellen Spiegelung der allgemeinen, systematischen Muster des gesellschaftlichen oder Gruppenverhaltens“.20 Solche „organisierten Haltungen“ ermöglichen es erst, in der oben beschriebenen Weise auf sich selbst zu reagieren. Beruft sich jemand beispielsweise auf sein Eigentum, so nimmt er die Haltung der Gemeinschaft, des „verallgemeinerten Anderen“, ein, dass es als solches zu respektieren ist. Da eine diesbezügliche Übereinstimmung in der Gesellschaft besteht, kann hier ein gemeinsames Verständnis dieser Aussage erzielt werden, der Einzelne kann „in sich selbst die gleiche Reaktion wie bei den anderen“ auslösen.21 In ähnlicher Weise geht auch Erikson davon aus, dass der gesellschaftliche Kontext für die Identitätsbildung eine entscheidende Rolle spielt. Er sieht Identitätsbildung als ein Produkt des Heranwachsens, das in der Pubertät in die „Ich-Identität“ mündet. In dieser Phase versucht der Jugendliche, seine bisherigen Rollen und Fertigkeiten „mit den gerade modernen Idealen und Leitbildern“ zu verknüpfen. Er hat nun die Gesellschaft mit ihren vielfältigen Rollen und Anforderungen verstanden und sucht einen Weg, sich in die Gesellschaft zu integrieren und seine soziale Rolle zu festigen.22 Dazu muss er erkennen, dass „sein individueller Weg der Bewältigung von Erfahrungen eine erfolgreiche Variante der Wege ist, auf denen andere Leute um es herum Erfahrungen bewältigen und die Tatsache, daß man es tut, anerkennen“23. Die Anerkennung spielt für die Identität eine große Rolle. „Das Verlangen nach Anerkennung ist […] ein menschliches Grundbedürfnis“24, Identität ist daher „nachdrücklich“ auf sie angewiesen.25 Während es Mead in erster Li18 Mead,
S. 196. S. 199. 20 Mead, S. 200 f. 21 Mead, S. 204. 22 Erikson, S. 106 f. 23 Erikson, S. 107. 24 Taylor, in: Multikulturalismus, S. 11 (14). 25 Taylor, in: Multikulturalismus, S. 11 (23). 19 Mead,
60
2. Kap.: Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit
nie um eine in den Einzelnen „hereingenommene“ gesellschaftliche Interaktion geht, die etwa im Fall lebenslänglicher Einzelhaft auch auf Dauer hypothetisch ablaufen kann,26 geht es bei der Anerkennung um tatsächliche Reaktionen „derer, die Sinn für ihn zu haben beginnen“27. Wie eng für Erikson äußere und innere Identität zusammenhängen, wird deutlich, wenn er das Identitätsgefühl des jungen Erwachsenen beschreibt als „das sichere Gefühl innerer und sozialer Kontinuität, das die Brücke bildet zwischen dem, was er als Kind war, und dem, was er nunmehr im Begriff ist zu werden; eine Brücke, die zugleich das Bild, in dem er sich selbst wahrnimmt, mit dem Bilde verbindet, unter dem er von seiner Gruppe, seiner Sozietät erkannt wird“28. Es geht also bei der Identität um eine dreifache Kontinuität: um innere Kontinuität, soziale Kontinuität und eine Passung zwischen diesen beiden Perspektiven.
III. Identität und Individualität Mead unterscheidet zwischen zwei „Phasen“ der Identität, die gemeinsam die Persönlichkeit bilden, dem „ICH“ und dem „Ich“. Das „ICH“ ist die oben dargestellte „organisierte Gruppe von Haltungen anderer, die man selbst einnimmt“, also die gesellschaftlichen Erwartungen an das Individuum. Das „Ich“ reagiert darauf.29 Die beiden Aspekte gehören untrennbar zusammen. Das „ICH“ macht den Einzelnen zum Mitglied der Gemeinschaft mit entsprechenden Rechten, zugleich kann das „Ich“ die Haltungen der Gemeinschaft durch seine Reaktion verändern und fortentwickeln. Um eine „definitive Identität“ zu erlangen, muss der Einzelne sich entweder selbst behaupten oder der Gemeinschaft unterordnen. Entweder er entscheidet sich, sich nach einer bestimmten Mode zu kleiden oder er entscheidet sich bewusst dagegen. Beide Entscheidungen beziehen sich auf die Haltungen der Anderen und sind daher nur möglich, wenn man in einem ersten Schritt diese in das eigene Verhalten hereinnimmt.30 Während die Orientierung an den Haltungen der (verallgemeinerten) Anderen das „ICH“ zur konventionellen Seite der Identität macht,31 liefert das „Ich“ „das Gefühl der Freiheit, der Initiative“32. Es führt dazu, dass Handlun26 Mead,
S. 182. S. 138. 28 Erikson, S. 138. 29 Mead, S. 218. 30 Mead, S. 237. 31 Mead, S. 241. 32 Mead, S. 221. 27 Erikson,
D. Die Persönlichkeit und ihre Entfaltung61
gen sich nicht zwangsläufig aus den gesellschaftlichen Erwartungen ergeben, sondern immer noch – auch für den Handelnden – unberechenbar bleiben. Es wird erst in der Erinnerung erfahrbar, dann aber als Element des „ICH“, wird also Teil der internalisierten Erwartungen Dritter.33 Bei Personen mit einer starken Persönlichkeit ist das „Ich“ die wichtigere Phase, bei eher konventionellen Menschen das „ICH“.34 Man empfindet es als besonders befriedigend, wenn man „sich gehen lassen“, „selbständig handeln“, „seine eigenen Gedanken denken“, also sein „Ich“ zur Geltung bringen kann. Doch auch das hängt von den Konventionen ab, es braucht Situationen, „in denen gerade die Struktur des ‚ICH‘ dem ‚Ich‘ die Tür öffnet“. Das ist beispielsweise unter Freunden und Gleichgesinnten der Fall, da dann die Situation „impulsiven Ausdruck ermöglicht“.35 Eine ähnliche Zweiteilung findet sich in Luhmanns Untersuchung zu den grundgesetzlichen Begriffen von Freiheit und Würde. Diese seien „Grundbedingungen des Gelingens der Selbstdarstellung eines Menschen als individuelle Persönlichkeit“36. Nach Luhmann ist Freiheit das Recht auf eine „zurechenbare Handelnssphäre“37. Er meint damit die Möglichkeit, Handlungen vorzunehmen, die nicht dem gesellschaftlich vorgegebenen Rollenverhalten entsprechen. Gerade in diesen werde der Einzelne als Individuum wahrgenommen.38 „Würde“ ist für ihn die Konsistenz der Selbstdarstellung. Die Zurechnung von Handlungen wirkt gleichsam über die einzelne Situation hinaus, die Handlungen prägen auch für die Zukunft die Selbstdarstellung mit. Für soziales Handeln sei eine gewisse Verlässlichkeit und Erwartbarkeit des Verhaltens unabdingbar.39 Was für Luhmann Würde und Freiheit sind, sind für Mead „ICH“ und „Ich“. Das Erfordernis von Würde steht für das von außen an den Einzelnen herangetragene gesellschaftliche Bedürfnis nach Konsistenz und Kontinuität des Verhaltens. Doch das ist nur ein Aspekt erfolgreicher Identitätsbildung. „Würde fände kein Darstellungsmaterial, wenn es keine freien Handlungen oder Handlungsaspekte gäbe.“40 Der Einzelne muss also trotz der gesellschaftlichen Erwartungen eigene, zurechenbare Akzente setzen können. Wenn Luhmann die normative Folgerung zieht, dass dem Einzelnen Freiheit im Sinne eines Rechts auf eine ihm zurechenbare Handelnssphäre zu ge33 Mead,
S. 217 f. S. 243 f. 35 Mead, S. 257 f. 36 Luhmann, S. 61. 37 Luhmann, S. 79. 38 Luhmann, S. 65 f. 39 Luhmann, S. 61. 40 Luhmann, S. 70. 34 Mead,
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2. Kap.: Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit
währleisten sei,41 geht es um die oben beschriebenen Situationen, in denen das „ICH“ ein Hervortreten des „Ich“ ermöglicht. Man kann Meads Ich und Luhmanns Freiheit mit Individualität gleichsetzen. Für Mead ist Individualität „originelles, einzigartiges oder schöpferisches Denken oder Verhalten“42 – Eigenschaften, die er dem „Ich“ zuschreibt.43 Luhmann sieht die „Selbstdarstellung als individuelle Persön lichkeit“44 als übergeordnetes Ziel von Freiheit und Würde. Da für ihn der Mensch die Persönlichkeit wird, als die er sich darstellt,45 geht es bei der Selbstdarstellung um die Ausbildung der Persönlichkeit als solche. Insofern kann man seinen Begriff „Selbstdarstellung als individuelle Persönlichkeit“ mit Identität gleichsetzen.46 Dieses Verständnis von Identität geht jedoch über die bloße Konsistenz und Kontinuität des Verhaltens hinaus. Vielmehr braucht die Identität individuelles „Darstellungsmaterial“47. Zudem hebt er die Trennung zwischen einer Innen- und Außenperspektive der Identität völlig auf und sieht die Identität ausschließlich aus der Außenperspektive. Die Definition von Individualität ist fast ebenso umstritten wie der Identitätsbegriff. Letztlich lässt sich ebenso zwischen numerischen und qualitativen Individualitätsbegriffen unterscheiden. Nunner-Winkler etwa differenziert zwischen drei „Ebenen“ der Individualität, wobei diese auf den unteren Ebenen numerisch, auf der obersten qualitativ, aus der Außenperspektive durch die „Besonderheit bestimmter Verhaltensweisen, Orientierungen, Äuße rungen“48, definiert wird. Der Einzelne ist also in einem allgemeinsprachlichen Sinne „individuell“ im Gegensatz zu „konventionell“ oder „angepasst“. Die Individualität stellt sie der Identität gegenüber, die sich für sie ausschließlich über die Verhaltenskonsistenz im Sinne einer Zurechenbarkeit zu einem einheitlichen Muster definiert.49 Hier soll die Identität jedoch im Sinne Meads und Luhmanns nicht als Gegenstück zur Individualität verstanden werden, sondern als Oberbegriff, der sowohl Elemente der Konsistenz als auch der Individualität umfasst. Die Identität wird hiernach durch das Zusammenspiel gesellschaftlicher (Konsistenz-)Erwartungen an den Einzelnen und dessen individueller Reaktion auf diese Verhaltenserwartungen gebildet.
41 Luhmann,
S. 79. S. 265. 43 Mead, S. 258. 44 Luhmann, S. 70, Hervorhebung durch C.G. 45 Luhmann, S. 60. 46 Vgl. Luhmann, S. S. 60 f. Fn. 22. 47 Luhmann, S. 70. 48 Nunner-Winkler, Soziale Welt 36 (1985), S. 466 (467). 49 Nunner-Winkler, Soziale Welt 36 (1985), S. 466. 42 Mead,
D. Die Persönlichkeit und ihre Entfaltung63
IV. Kritik an den traditionellen Vorstellungen von Identität An den Identitätstheorien von Mead und Erikson ist zuletzt zunehmend Kritik geäußert worden. Mead zufolge lernt ein Mensch im Laufe seines Heranwachsens die Haltungen der Gruppe, des „verallgemeinerten Anderen“, kennen und bringt sich damit in die Lage, sie zu übernehmen und „auf sich selbst zu reagieren“. Das setzt aber entweder eine einheitliche Gesellschaft mit einheitlichen Haltungen voraus oder die Fähigkeit, verschiedene und möglicherweise widersprüchliche „ICH“s und damit Identitäten zu harmonisieren.50 Auch über Eriksons Theorie heißt es, es liege „ein nostalgischer Zug über seiner Rede von angebotenen Rollen und Laufbahnen und von der Einfügung der Heranwachsenden in eine kollektive Zukunft, in deren Rahmen sie auf Einheit und Kontinuität vertrauen können“51. Wenn die Gesellschaft Identitäten prägt, führen gesellschaftliche Diffusionen fast zwangsläufig zu Identitätsdiffusionen.52 Je einfacher die Gesellschaft strukturiert ist, je deutlicher die Rollen in ihr verteilt sind, desto leichter kann der Einzelne sich einen Platz in ihr sichern, über den er sich identifizieren kann. In den hierarchischen Gesellschaften früherer Zeiten mit festgelegten Ständen und Positionen waren die Erwartungen an jedermann klar und im Lichte dieses „verallgemeinerten Anderen“ konnte man sich selbst sehen.53 Mit dem Niedergang dieser Strukturen sind Identitäten zunehmend prekär geworden. Der Auszug aus dem „Gehäuse der Hörigkeit“54, so begrüßenswert er auch aus heutiger Sicht ist, macht die Herausbildung von Identitäten zum Problem. In modernen Gesellschaften sind die Rollennormen zu unklar und widersprüchlich, als dass sie Kontinuität stiften könnten.55 Widersprüchliche Erwartungen und der Verlust von klaren Rollen und Laufbahnen führen zu der lebenslangen Herausforderung, seine Identität immer wieder neu zu tarieren bzw. unterschiedliche Teilidentitäten zusammenzusetzen und dabei ein gewisses Mindestmaß an Konsistenz zu erhalten. Das macht es unmöglich, eine stabile Identität zu entwickeln, die das gesamte Erwachsenenleben konstant, identisch bleibt. Vielmehr wird die „Ich-Identität“ durch die „abstrakte Fähigkeit“ stabilisiert, „sich in beliebigen Situationen als derjenige zu repräsentieren, der auch angesichts inkompatibler Rollenerwartungen, und im Durchgang durch eine lebensgeschichtliche Folge widersprüchlicher Rollensysteme, den Forderungen nach Konsistenz noch 50 Jörissen,
S. 79 f. in: Identitätsarbeit heute, S. 66 (80). 52 Keupp, in: Identitätsarbeit heute, S. 11 (28). 53 Taylor, in: Multikulturalismus, S. 11 (19). 54 Keupp, in: Identitätsarbeit heute, S. 11 (26). 55 Nunner-Winkler, in: BeitrAB 77, S. 151 (157). 51 Krappmann,
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2. Kap.: Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit
genügen kann“56. Identität wird daher häufig nicht als etwas angesehen, das durch bestimmte Inhalte definiert ist, sondern als Kompetenz, eine Einheit zwischen widersprüchlichen Vorstellungen und Erwartungen zu schaffen.57 Teilweise wird selbst eine solche Konsistenz in der Inkonsistenz für unmöglich gehalten.58 Für Luhmann erfordert indes gerade dieser Umgang mit widersprüchlichen sozialen Anforderungen die oben erläuterten Bedingungen Freiheit und Würde. Sind diese erfüllt, so kann der Einzelne in der heutigen differenzierten Sozialordnung vielfältige Rollen übernehmen und situationsangemessen unterschiedlich, aber doch konsistent handeln. Wenn die Rollen hinreichend Darstellungsspielraum und damit Freiheit gewähren, kann er sich jeweils selbst mit darstellen, kann die Rolle auf seine ganz eigene, individuelle Weise gestalten. Die Würde bleibt gewahrt, wenn diese ‚Eigenanteile‘ an der Selbstdarstellung konsistent sind und „die Verschiedenheiten der Handlungen den Situationen, ihre innere Zusammengehörigkeit aber ihm selbst zugerechnet werden“59. Mit Mead könnte man sagen: Aufgrund der gesellschaftlichen Diffusion gibt es kein einheitliches ICH mehr. Daher gibt es viele, situationsabhängig unterschiedliche Ichs. Die Würde bleibt gewahrt, wenn der Einzelne es schafft, diese Ichs dennoch als konsistent erscheinen zu lassen. Zu Recht spricht Luhmann von „den beträchtlichen Anforderungen einer individuellen Würde-Regie“60.
V. Autonomie und Individualität Diese Verhaltenskonsistenz setzt voraus, dass es einen anderen handlungsanleitenden Maßstab gibt als gesellschaftliche Erwartungen. Diesen muss der Einzelne daher selbst entwerfen. Auf diese Orientierung an einem selbst entworfenen Maßstab zielt der Begriff der personalen Autonomie. Zu deren Definition wird häufig auf die Autonomiekonzeption von Dworkin Bezug genommen, die im Wesentlichen Frankfurts Begriff der Person. Dworkin definiert Autonomie als „a second-order capacity of persons to reflect critically upon their first-order preferences, desires, wishes, and so forth and the capacity to accept or attempt to change these in light of higher-order prefer ences and values“61. Jemand mag einen unmittelbaren Wunsch 1. Ordnung haben zu rauchen, aber den höherrangigen Wunsch 2. Ordnung, diesem nicht 56 Habermas,
in: Zwei Reden, S. 24 (30). in: Identitätsarbeit heute, S. 66 (81). 58 Vgl. Krappmann, in: Identitätsarbeit heute, S. 66 (86 ff.). 59 Luhmann, S. 71. 60 Luhmann, S. 70. 61 Dworkin, S. 20. 57 Krappmann,
D. Die Persönlichkeit und ihre Entfaltung65
nachzugeben und ihn am besten gar nicht zu entwickeln.62 Autonomie ist dann die Fähigkeit von Personen, den Wunsch zu rauchen reflektierend am Wunsch 2. Ordnung zu messen und letzteren handlungswirksam werden zu lassen oder es zumindest zu versuchen. Autonomie setzt voraus, dass man ein kritisches Verhältnis entwickelt, zu den gesellschaftlichen Haltungen, die einen geprägt haben, und damit auch zu sich selbst.63 Für Tugendhat setzt Selbstbestimmung voraus, dass die „praktische Frage“, mit der Absichten daraufhin überprüft werden, was zu tun am besten ist, in einem „grundsätzlichen Sinn“ gestellt wird.64 Das bedeutet, das Leben im Ganzen in Frage zu stellen und keine veränderlichen Umstände, etwa nicht hinterfragte Absichten oder soziale Normen, als gegeben vorauszusetzen.65 Sind die Präferenzen 2. Ordnung ihrerseits so stark von Dritten beeinflusst, dass man sie nicht als eigene sehen kann, spricht Dworkin von „fail ure of procedural independence“66. Autonomie bezeichnet also weniger ein Ergebnis als einen Prozess: Wer sich an gesellschaftlichen Konventionen orientiert, ist deswegen nicht zwangsläufig nicht autonom. Er muss sie aber kritisch reflektiert und bewusst als Handlungsmaßstäbe anerkannt haben. Wie genau der Zusammenhang zwischen Identität und Autonomie ist, ist umstritten, wobei die unterschiedlichen Begriffe von Identität und v. a. Autonomie für zusätzliche Unklarheit sorgen. Es besteht keine Einigkeit, ob nun Autonomie Identität ermöglicht67 oder vielmehr umgekehrt Identität Autonomie ermöglicht68 oder es sich um zwei unabhängige, aber verwandte Konzepte handelt69. Dass es einen Zusammenhang gibt, ist hingegen eindeutig. So ist es charakteristisch für die Wünsche 2. Ordnung, dass sie im Hinblick darauf formuliert werden, wer bzw. wie wir sein wollen,70 also auf unsere qualitative Identität. Sie bilden die Grundlage für Reflexionen im Sinne des Autonomiekonzepts, zugleich können sie die für eine gesicherte „Ich-Identität“ erforderliche Kontinuität stiften. Zwar wird Identität, wie dargestellt, häufig gerade nicht als eine inhaltliche Festlegung, sondern als formale Kompetenz gesehen. Das schließt eine inhaltliche Bestimmung der Identität nicht aus, diese findet allerdings auf einer abstrakteren Stufe statt. Das Individuum erkennt bestimmte handlungsanleitende Prinzipien für sich 62 Dworkin,
S. 15. Habermas, S. 104. 64 Tugendhat, S. 193, 295. 65 Tugendhat, S. 193 f. 66 Dworkin, in: inner citadel, S. 54 (61). 67 So wohl Dworkin, S. 20; Nunner-Winkler, in: BeitrAB 77, S. 151 (159). 68 Habermas, in: Zwei Reden, S. 24 (30). 69 Angehrn, S. 251; Tugendhat, S. 289. 70 Tugendhat, S. 219, 238. 63 Vgl.
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2. Kap.: Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit
als verbindlich an, mit deren Hilfe es Entscheidungen treffen kann, wenn verschiedene Rollennormen und Verhaltenserwartungen kollidieren.71 Auch zwischen Individualität und Autonomie gibt es einen Zusammenhang. So ist Individualität oben als ein Element des normativen Ideals gelungener Identitätsbildung herausgearbeitet worden. Individualität anzustreben, ist indes nicht zielführend. Wer es gerade darauf anlegt, einzigartig, anders als alle anderen zu sein, orientiert sich auf diese Weise gerade an ihnen und steigert damit nur das Gefühl von Austauschbarkeit.72 Man kann damit nicht in gleicher Weise für seine Individualität Verantwortung übernehmen wie für die Identität. Sie ist vielmehr ein Nebenprodukt erfolgreicher, und das heißt auch autonomer, Identitätsbildung.73 „Wer die qualitative Identitätsfrage ‚was für ein Mensch bin ich und was für ein Mensch will ich sein?‘ selbständig stellt, wird faktisch zu Ergebnissen kommen, die ihn als einzigartigen erscheinen lassen“74. Damit schaffen autonome Grundorientierungen sowohl Identität als auch Individualität.
VI. Zusammenfassung Gelegentlich wird „die Persönlichkeit“ als etwas Statisches verstanden, dessen Integrität durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht geschützt wird.75 Dem ist nun in aller Deutlichkeit zu widersprechen. Denn keiner der soeben erläuterten Begriffe Identität, Individualität und Autonomie bezeichnet ein statisches Gebilde, das mit der „Persönlichkeit“ gleichgesetzt werden könnte. Vielmehr haben all diese Konzepte etwas Prozesshaftes. Identität wird, zumindest im heutigen Verständnis, nicht mehr statisch gesehen, sondern als permanentes Streben nach Konsistenz und Kontinuität des Verhaltens. Das Verhalten ist individuell, soweit es den gesellschaftlichen Erwartungen eigene Akzente entgegensetzt. Autonomie bezeichnet das Finden eigener Handlungsmaßstäbe und die Orientierung daran. All dies äußert – man kann sehr treffend sagen „entfaltet“ – sich nur in den Handlungen der Einzelnen. Insofern kann nicht zwischen der Persönlichkeit und ihrer Entfaltung differenziert werden. Vielmehr konstituiert die Entfaltung im sozialen Kontext erst die Persönlichkeit. Schutzgut des Art. 2 Abs. 1 GG, sowohl der allgemeinen Handlungsfreiheit als auch des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, kann daher nur die Entfaltung der Persönlichkeit sein. 71 Nunner-Winkler, in: BeitrAB 77, S. 151 (157); gegen ein „entweder oder“ beider Aspekte auch Keupp, in: Identitätsarbeit heute, S. 11 (31). 72 Nunner-Winkler, Soziale Welt 36 (1985), S. 466 (470 f.). 73 Nunner-Winkler, Soziale Welt 36 (1985), S. 466 (480). 74 Tugendhat, S. 289 f., Hervorhebung im Original. 75 BK – Lorenz, Art. 2 Abs. 1 Rn. 31; Horn, in: HStR VII, § 149 Rn. 38.
E. Die Funktion des allgemeinen Persönlichkeitsrechts67
Was damit gemeint ist, lässt sich nicht in einem Satz ausdrücken. Persönlichkeitsentfaltung ist der gesamte gerade geschilderte Prozess, in dem die drei Elemente Identität, Individualität und Autonomie so verwoben sind, dass zwei nicht ohne das dritte denkbar wären. Nicht zuletzt dadurch, dass der Prozess nicht ohne die Beteiligung Dritter gedacht werden kann, können Pathologien entstehen, die einen rechtlichen Schutzbedarf erzeugen. Auf diese Pathologien und ihre Folgerungen wird ausführlich eingegangen werden. In jedem Fall dürfen sie nicht als Angriffe auf eine statisch definierte Persönlichkeit verstanden werden, sondern als Hindernisse für deren Entfaltung.
E. Die Funktion des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Abgrenzung zur allgemeinen Handlungsfreiheit Wenn, wie gerade herausgearbeitet, Art. 2 Abs. 1 GG ein einheitliches Schutzgut der Persönlichkeitsentfaltung hat, wirft das die Frage auf, welche Funktion das allgemeine Persönlichkeitsrecht im Verhältnis zur allgemeinen Handlungsfreiheit hat. Das Bundesverfassungsgericht versteht Art. 2 Abs. 1 GG bekanntlich seit der Elfes-Entscheidung in ständiger Rechtsprechung als allgemeine Handlungsfreiheit, ebenso wie die herrschende Lehre. Daneben hat das Gericht das ursprünglich von der Zivilrechtsprechung entwickelte allgemeine Persönlichkeitsrecht für das Verfassungsrecht adaptiert. Es leitet dieses Recht aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG her; dabei besteht aber Einigkeit, dass Art. 2 Abs. 1 GG der eigentliche Standort des Rechts ist und Art. 1 Abs. 1 GG nur eine Art Auslegungsrichtlinie darstellt.76 Das allgemeine Persönlichkeitsrecht wird erstmals in der Eppler-Entscheidung ausdrücklich so benannt und der Entscheidung zugrunde gelegt. Seine Aufgabe sei es, so das Bundesverfassungsgericht, im Sinne des obersten Konstitutionsprinzips der „Würde des Menschen“ (Art. 1 Abs. 1 GG) die engere persönliche Lebenssphäre und die Erhaltung ihrer Grundbedingungen zu gewährleisten, die sich durch die traditionellen konkreten Freiheitsgarantien nicht abschließend erfassen lassen. „Wie der Zusammenhang mit Art. 1 Abs. 1 GG zeigt, enthält das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG ein Element der ‚freien Entfaltung der Persönlichkeit‘, das sich als Recht auf Respektierung des geschützten Bereichs von dem ‚aktiven‘ Element dieser Entfaltung, der allgemeinen Handlungsfreiheit (vgl. BVerfGE 6, 32), abhebt.“77 76 BK – Lorenz, Art. 2 Abs. 1 Rn. 34; DR – Dreier, Art. 2 I Rn. 69; JP – Jarass, Art. 2 Rn. 36; MD – Di Fabio, Art. 2 Abs. 1 Rn. 128; MKS – Starck, Art. 2 Abs. 1 Rn. 15. 77 BVerfGE 54, 148 (153).
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2. Kap.: Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit
I. Die Abgrenzung nach der „Relevanz“ des Sachverhalts Wenn das allgemeine Persönlichkeitsrecht der „aktiven“ allgemeinen Handlungsfreiheit gegenübergestellt wird, muss es, so scheint es, die „passive“ Seite des Art. 2 Abs. 1 GG abdecken. Die Eppler-Entscheidung ist in dieser Abgrenzung aber nicht eindeutig. Erstens heißt es, das allgemeine Persönlichkeitsrecht „enthält“ ein solches passives Element. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass es mit diesem gleichzusetzen ist. Zweitens ist unter den benannten Freiheitsrechten, mit denen das Gericht das allgemeine Persönlichkeitsrecht vergleicht, da sie „ebenfalls konstituierende Elemente der Persönlichkeit schützen“78, mit der Meinungsfreiheit auch ein ausgesprochen aktives Grundrecht genannt. Drittens formuliert das Gericht in der Folge das Recht der Selbstdarstellung folgendermaßen: „Der Einzelne soll […] grundsätzlich selbst entscheiden können, wie er sich Dritten oder der Öffentlichkeit gegenüber darstellen will, ob und inwieweit von Dritten über seine Persönlichkeit verfügt werden kann; dazu gehört im besonderen auch die Entscheidung, ob und wie er mit einer eigenen Äußerung hervortreten will.“79 Auch wenn es im konkreten Fall um die Integrität der Selbstdarstellung gegenüber Angriffen von außen ging, wird hier das aktive „Entscheiden“, „Darstellen“ und „Hervortreten“ neben dem Schutz vor Verfügungen durch Dritte genannt.80 Einige Stimmen in der Literatur konzentrieren sich daher auf die Aussage, Zweck des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sei es, im Sinne der Menschenwürde die engere persönliche Lebenssphäre und die Erhaltung ihrer Grundbedingungen zu gewährleisten. Dementsprechend unterschieden sich allgemeine Handlungsfreiheit und allgemeines Persönlichkeitsrecht, die als zwei Ausprägungen eines Grundrechts gesehen werden, nicht prinzipiell, sondern lediglich graduell nach dem besonderen Persönlichkeitsbezug des Sachverhalts81 beziehungsweise nach dessen Nähe zur Menschenwürde82. Danach würden auch persönlichkeits- bzw. menschenwürderelevante Handlungen unter das allgemeine Persönlichkeitsrecht fallen. Die Verbindung mit der Menschenwürde verstärke den Schutz und verleihe dem Grundrecht in der Rechtfertigungsprüfung ein besonderes Gewicht. So wird es häufig etwa für „private“ Handlungen gesehen. 78 BVerfGE
54, 148 (153). 54, 148 (155). 80 Auch Albers, S. 223, versteht das Recht auf Selbstdarstellung in dieser Formulierung des Bundesverfassungsgerichts als „Entscheidungs- und Handlungsrecht“. 81 BK – Lorenz, Art. 2 Abs. 1 Rn. 32. 82 MD – Di Fabio, Art. 2 Abs. 1 Rn. 130. 79 BVerfGE
E. Die Funktion des allgemeinen Persönlichkeitsrechts69
Das allgemeine Persönlichkeitsrecht dient nach dieser Auffassung dazu, gleichsam die Lücke zwischen allgemeiner Handlungsfreiheit und Menschenwürde zu schließen. So kann erreicht werden, dass schwerwiegende Eingriffe, die knapp unterhalb der Menschenwürde liegen, nicht gemeinsam mit Reiten im Walde und Taubenfüttern im Park an der allgemeinen Handlungsfreiheit gemessen werden. Die Auffassung basiert auf der Erkenntnis der vom Bundesverfassungsgericht verworfenen Persönlichkeitskerntheorie, dass nicht jede Handlung für sich genommen Persönlichkeitsrelevanz besitzt. Sie liegt insofern zwischen der Theorie der allgemeinen Handlungsfreiheit und der Persönlichkeitskerntheorie, als zwar jede Handlung geschützt wird, bestimmte aber besonders herausgehoben werden. Wenn allerdings das allgemeine Persönlichkeitsrecht nur dazu dient, eine Differenzierung zwischen „bedeutsamen“ und „weniger bedeutsamen“ Sachverhalten herbeizuführen, schadet es mehr, als es nutzt. Um eine besondere Persönlichkeitsrelevanz oder gar nur eine besondere Eingriffstiefe83 zu kennzeichnen, ist es nicht nötig, bestimmte Fallgruppen mit dem Prädikat „i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG“ zu versehen und anders zu bezeichnen als die anderen.84 Da die Differenzierung nur graduell ist, ist letztlich beliebig, wo man die Grenze zieht. Bei allen Grundrechten kann der Schutzbereich stärker oder weniger stark betroffen, kann ein Eingriff schwerwiegender oder weniger schwerwiegend sein. Dies lässt sich am besten im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung berücksichtigen. Diese ist viel geeigneter, graduelle Differenzierungen vorzunehmen, als der Schutzbereich, da dort alle relevanten Gesichtspunkte berücksichtigt werden können: die Persönlichkeitsrelevanz des Sachverhalts oder seine Nähe zur Menschenwürde, die Eingriffstiefe und auf der anderen Seite das Gewicht der den Eingriff tragenden Gesichtspunkte. Teilt man anhand einer letztlich beliebigen Grenze die Sachverhalte schon auf Schutzbereichsebene in zwei Teile, besteht die Gefahr, diese Einteilung dann auf Ebene der Rechtfertigung überzubewerten. Wenn es nur um eine Schutzverstärkung innerhalb des gleichen Schutzbereichs geht, wäre es konsequent, den Begriff „allgemeines Persönlichkeitsrecht“ überhaupt nicht mehr zu verwenden. Es scheint ein Unbehagen zu geben, tiefe Eingriffe in die Privatsphäre begrifflich mit dem Reiten im Walde oder dem Taubenfüttern im Park auf eine Stufe zu stellen. Ein gefühltes Bedürfnis kann aber nicht genügen, um eine dogmatische Kategorie zu begründen. Etwa bei der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG ist anerkannt, dass alle Meinungsäußerungen erfasst sind, unabhängig davon, ob sie wertvoll oder wertlos sind.85 Damit wird auf Ebene des SchutzbeMD – Di Fabio, Art. 2 Abs. 1 Rn. 130. vMK – Kunig, Art. 2 Rn. 30. 85 BVerfGE 33, 1 (14 f.); Kingreen/Poscher, Rn. 650. 83 Vgl. 84 AA
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2. Kap.: Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit
reichs auch nicht danach differenziert, ob jemand ausgesprochen persönlichkeits- oder demokratierelevante Meinungen äußert oder lediglich seine Auffassung etwa über einen Fußballverein kundtut. Da eine solche Differenzierung auf Ebene der Verhältnismäßigkeitsprüfung folgt, ist das auch nicht notwendig.
II. Die Abgrenzung nach „Tun“ und „Sein“ Die herrschende Meinung versteht die oben angeführte Aussage des Bundesverfassungsgerichts trotz der genannten Zweifel so, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht das passive im Gegensatz zum aktiven Element des Art. 2 Abs. 1 GG darstellt,86 Integritäts- im Gegensatz zu Aktivitätsschutz gewährt,87 Zustände und Rechtspositionen („Sein“) im Gegensatz zu Handlungen („Tun“) schützt.88 Die allgemeine Handlungsfreiheit schützt in der Tat nur Handlungen, nicht aber Zustände und Rechtspositionen.89 Zwar hat das Bundesverfassungsgericht in Bezug auf Eingriffe in das Vermögen ohne Bezugnahme auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht formuliert, Art. 2 Abs. 1 GG umfasse den Anspruch, durch die Staatsgewalt nicht mit einem Nachteil belastet zu werden, der nicht in der verfassungsmäßigen Ordnung begründet ist.90 Das klingt geradezu nach einer „allgemeinen Eingriffsfreiheit“, die auch für Zustände und Rechtspositionen gilt.91 Jedoch können die Fälle, in denen das Bundesverfassungsgericht sich auf diese Formel berufen hat, auch als Auferlegung von Handlungspflichten und damit Eingriffe in eine „negative Handlungsfreiheit“ gesehen werden und werden von der herrschenden Lehre auch so eingeordnet.92 Insofern schützt die allgemeine Handlungsfreiheit nur die Freiheit von Handeln und Unterlassen, dies aber umfassend. Auf eine Persönlichkeitsbeeinträchtigung im Einzelfall kommt es nicht an; das Grundrecht schützt daher auch vor dem Verbot „banaler“ Handlungen. Denn die Entfaltungsfreiheit zeichnet sich gerade dadurch aus, selbst entscheiden zu dürfen, welche Handlungen „banal“ sind und welche 86 Alexy, S. 333; DR – Dreier, Art. 2 I Rn. 22; Schmitt Glaeser, in: HStR VI, § 129 Rn. 19. 87 DR – Dreier, Art. 2 I Rn. 22. 88 Alexy, S. 333; Horn, in: HStR VII, § 149 Rn. 27 f.; SA – Murswiek, Art. 2 Rn. 59; Schmitt Glaeser, in: HStR VI, § 129 Rn. 19. 89 Alexy, S. 311; Horn, in: HStR VII, § 149 Rn. 26. 90 BVerfGE 9, 83 (88). 91 Pieroth, AöR 115 (1990), S. 33. 92 Degenhart, JuS 1990, 161 (166); Kingreen/Poscher, Rn. 438; anders allerdings BVerfGE 9, 83 (88).
E. Die Funktion des allgemeinen Persönlichkeitsrechts71
nicht, und nicht in vermeintlich kleinen Dingen willkürlichen Schikanen ausgesetzt zu sein.93 Doch Persönlichkeitsentfaltung, das wurde unter A. deutlich, ist sehr viel mehr als die Freiheit zu tun und zu lassen, was man möchte. Die Freiheit zum Handeln wird „nicht um ihrer selbst willen geschützt […], sondern mit dem Ziel, dem Menschen die Entfaltung dessen zu ermöglichen, was in ihm angelegt ist“94. In diesen Prozess der Persönlichkeitsentfaltung können der Staat oder auch private Dritte auf sehr viel mehr Arten eingreifen als durch Handlungsge- und -verbote. Hier setzt das allgemeine Persönlichkeitsrecht an: Es schützt vor Eingriffen in diesen Prozess, die nicht die Freiheit des Handelns und Unterlassens betreffen. In manchen Fällen lassen sich diese Elemente des Art. 2 Abs. 1 GG als Integritätsschutz eines „Seins“ begreifen. Deutlichstes Beispiel ist die Privatsphäre. Hier ist der Schutz im Sinne eines „Bereichs“ typisiert, der sich gut – teilweise sogar in einem räumlichen Sinne – als Schutzbereich fassen lässt. Bei anderen Elementen fällt das schwerer. Die Selbstdarstellung, um die es in der Eppler-Entscheidung geht, ist beispielsweise, wie dargelegt, kein „Sein“, sondern ein Prozess. Geschützt ist nicht ein bestimmter „Zustand“, geschützt sind vielmehr die Funktionsbedingungen dieses Prozesses.95 Dasselbe gilt für die Persönlichkeitsentfaltung als Ganze. Es gibt nicht „die Persönlichkeit“, deren Integrität geschützt werden könnte.96 Daher lassen sich die Fallgruppen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts am besten als typisierte Eingriffe in die freie Entfaltung der Persönlichkeit fassen. Manche Ausprägungen sind recht stark im Sinne eines eigenen Schutzbereichs typisiert und verselbstständigt. Am deutlichsten wird das beim Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme, wo schon die Bezeichnung als „Grundrecht“ und nicht einfach als „Recht“ auf eine weitgehende Verselbstständigung von seinem Quellrecht hinweist. In anderen Fällen handelt es sich um Einzelfallentscheidungen, bei denen eine typisierende Bezeichnung wie das „Recht auf schuldenfreien Eintritt in die Volljährigkeit“97 eher künstlich erscheint. Auch bei dieser Definition des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist fraglich, ob eine Differenzierung zwischen allgemeiner Handlungsfreiheit und allgemeinem Persönlichkeitsrecht überhaupt notwendig ist. Man könnte der Prüfung des Art. 2 Abs. 1 GG stattdessen einen einheitlichen Schutzbe93 Alexy,
S. 324 f.; MD – Di Fabio, Art. 2 Abs. 1 Rn. 14. S. 255. 95 Ausführlich F. 96 Siehe D. 97 BVerfGE 72, 155 (173); Kingreen/Poscher, Rn. 443. 94 Stein/Frank,
72
2. Kap.: Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit
reich der freien Entfaltung der Persönlichkeit zugrunde legen und die allgemeine Handlungsfreiheit nur als eine Fallgruppe unter vielen sehen. Die Bezeichnung „allgemeines Persönlichkeitsrecht“ für die anderen Fallgruppen wäre dann überflüssig. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied: die angesprochene „Freiheitsvermutung“ zugunsten des einzelnen Grundrechtsträgers. Diese gilt nur im Bereich der allgemeinen Handlungsfreiheit. Darüber hinaus ist begründungsbedürftig, warum eine Maßnahme die freie Entfaltung der Persönlichkeit berührt. Insbesondere schützt Art. 2 Abs. 1 GG nicht alle möglichen „Zustände“ des Einzelnen. Das hat Möller am Beispiel eines Grundrechtsträgers gezeigt, der sich an einem Baum vor seinem Arbeitszimmerfenster erfreut. Diese Freude ist ein Zustand dieses Grundrechtsträgers; dennoch ist er nicht in Art. 2 Abs. 1 GG beeinträchtigt, wenn dieser Baum von einem Hoheitsträger gefällt wird. Ansonsten würde letztlich jegliches staatliche Handeln unter einen Rechtsfertigungszwang gestellt.98 Denkt man die Schutzwirkung der Grundrechte dazu, wären die Folgen noch gravierender: Der Staat müsste Grundrechtsträger vor allen möglichen Beeinträchtigungen durch private Dritte schützen und damit deren Freiheit beschneiden. Damit würde das Ziel des Art. 2 Abs. 1 GG, die freie Entfaltung jedes Grundrechtsträgers zu ermöglichen, ins Gegenteil verkehrt. Die Charakterisierung der Fallgruppen als typisierte Eingriffskonstellationen erklärt, warum diese nicht abschließend sein können.99 Denn auch Eingriffe in die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die sich nicht in die zuvor bestehenden Fallgruppen einordnen lassen, müssen angesichts der Auffangfunktion des allgemeinen Persönlichkeitsrechts davon erfasst sein. So können immer wieder neue Fallgruppen entstehen. Inwieweit es erforderlich ist, in jedem Einzelfall die Beeinträchtigung der Persönlichkeitsentfaltung zu prüfen, hängt vom Typisierungsgrad der jeweiligen Fallgruppe ab. Gerade Privatsphärerechte sind, um ihren Zweck zu erfüllen, auf eine hohe Verbindlichkeit und daher einen hohen Typisierungsgrad angewiesen; zudem erleichtert die Typisierung die praktische Rechtsanwendung. Andererseits ist bei der Auseinandersetzung mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung100 deutlich geworden, dass ein zu weit gehender Integritätsschutz der Persönlichkeitsentfaltung als Gesamtprozess mehr schadet als nützt.
98 Möller,
S. 57. 54, 148 (153 f.). 100 Siehe B. 99 BVerfGE
E. Die Funktion des allgemeinen Persönlichkeitsrechts73
III. Verstärkung der Schutzintensität durch die Einbeziehung der Menschenwürde? Ein wichtiger Kritikpunkt an der formellen Abgrenzung zwischen „Tun“ und „Sein“ ist, dass sie zu einer Überbewertung von „Zuständen“ gegenüber Handlungen führe.101 Denn auch Vertreter dieser Abgrenzung möchten Eingriffe in das allgemeine Persönlichkeitsrecht höheren Rechtfertigungsanforderungen unterstellen als Eingriffe in die allgemeine Handlungsfreiheit.102 Damit werden Handlungen pauschal weniger intensiv geschützt als andere Aspekte der freien Entfaltung der Persönlichkeit. Das widerspricht den Feststellungen zum Begriff der Persönlichkeitsentfaltung. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit ermöglicht es dem Einzelnen, Handlungsentscheidungen nach eigenen Maßstäben zu treffen und so in seiner individuellen Identität zu erscheinen.103 Damit behindern Handlungsge- und -verbote in besonderem Maße die Persönlichkeitsentfaltung. Die allgemeine Handlungsfreiheit schützt nicht „nur“ das Verhalten des Menschen,104 sie stellt den Kern des Schutzes von Identität, Individualität und Autonomie dar. Sie schützt, wie Suhr es ausdrückt, die „Freiheit, eine Melodie zu spielen, durch Garantie der Freiheit, Töne zu produzieren“105. Daher muss die Freiheit des Handelns und Unterlassens im Zentrum der Verbürgung des Art. 2 Abs. 1 GG stehen. Die Konsequenz kann allerdings aus den oben genannten Gründen nicht sein, gewisse Handlungen in den Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts einzubeziehen und materiell abzugrenzen. Vielmehr muss gleichsam an der anderen Schraube gedreht werden: Die Schutzintensität von allgemeiner Handlungsfreiheit und allgemeinem Persönlichkeitsrecht muss grundsätzlich gleich sein. Das gilt umso mehr, als das allgemeine Persönlichkeitsrecht ebenso wenig einen „Banalitätsvorbehalt“ kennt wie die allgemeine Handlungsfreiheit. Das zeigt sich schon in der Eppler-Entscheidung. Große Worte des Bundesverfassungsgerichts über die „engere persönliche Lebenssphäre“106 und vom „sozialen Geltungsanspruch“107 verdecken hier ein wenig den unbefangenen Blick auf den Fall. Der Beschwerdeführer wehrte sich dagegen, dass ihm eine Aussage untergeschoben worden sei, die er nie getätigt habe. 101 Möller,
S. 60. Di Fabio, Art. 2 Abs. 1 Rn. 131; MKS – Starck, Art. 2 Abs. 1 Rn. 15; SA – Murswiek, Art. 2 Rn. 62. 103 Ausführlich zu den sozialwissenschaftlichen Hintergründen unter A. 104 So aber SA – Murswiek, Art. 2 Rn. 62. 105 Suhr, S. 163. 106 BVerfGE 54, 148 (154). 107 BVerfGE 54, 148 (155). 102 MD –
74
2. Kap.: Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit
Es ging um eine politische Aussage eines Berufspolitikers, die unbestrittenerweise nicht einmal seinem Persönlichkeitsbild widersprach. Auch wenn das Unterschieben von Zitaten zu Recht als Verletzung des Persönlichkeitsrechts gesehen wird, ist eine Beeinträchtigung der Persönlichkeitsentfaltung in diesem Einzelfall kaum ersichtlich. Pointiert könnte man sagen: Wäre Eppler das Füttern von Tauben im Heilbronner Stadtpark verboten worden, wäre die Beeinträchtigung seiner Persönlichkeitsentfaltung auch nicht geringfügiger gewesen. Noch deutlicher wird das in der Rechtsprechung zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Bekanntlich heißt es im Volkszählungsurteil, unter den Bedingungen der automatischen Datenverarbeitung gebe es kein belangloses Datum mehr.108 Das führt dazu, dass die Erhebung, Verarbeitung, Speicherung oder Weitergabe eines persönlichen Datums das Recht auf informationelle Selbstbestimmung berührt, ohne dass es darauf ankommt, dass die Persönlichkeitsentfaltung allein dadurch betroffen wird. Später spricht das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich aus, dass selbst eine Persönlichkeitsgefährdung genügt.109 Der Grundrechtsschutz setzt also an einem Punkt an, wo noch nicht einmal eine geringfügige Freiheitsbeschränkung vorliegt. Das kann zum Zwecke der Typisierung sinnvoll sein. Dann ist aber nicht jeder Fall der Verarbeitung persönlicher Daten oder des Unterschiebens von Zitaten zugleich eine besonders schwerwiegende Beeinträchtigung des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Das Bundesverfassungsgericht prüft trotz der Einbeziehung der Menschenwürde auch bestenfalls geringfügige Eingriffe am allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Die Herleitung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG ist wohl auch nie als eine Schutzverstärkung gemeint gewesen. In älteren Entscheidungen wird die Bedeutung des Art. 1 Abs. 1 GG noch erläutert: Art. 2 Abs. 1 GG sei der Standort des Rechts auf Achtung der Intimsphäre, das später zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht ausgeweitet wurde. Art. 1 Abs. 1 GG sei bei der Bestimmung von Inhalt und Reichweite dieses Grundrechts zu beachten und setze Eingriffen gemeinsam mit Art. 19 Abs. 2 GG absolute Grenzen.110 Dass Art. 1 Abs. 1 GG die Auslegung der Grundrechte beeinflusst, ist indes kein Spezifikum des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Vielmehr gilt es für alle Grundrechte.111 So wird der Wertentscheidung des Art. 1 Abs. 1 GG Wirkung verschafft. Zwar ist Art. 1 Abs. 1 GG nach heute überwiegender 108 BVerfGE
65, 1 (45). 120, 274 (312). 110 Erstmals BVerfGE 27, 344 (350 f.). 111 BVerfGE 6, 32 (36). 109 BVerfGE
E. Die Funktion des allgemeinen Persönlichkeitsrechts75
Auffassung selbst ein subjektives Grundrecht.112 Als solches ist es allerdings restriktiv auszulegen, um die Menschenwürde nicht zur „kleinen Münze“ zu machen.113 Praktisch wichtiger ist daher die Funktion des Art. 1 Abs. 1 GG als „Grund- und Leitnorm für das Gesamtverständnis der Grundrechte“114. Je nach Menschenwürdekonzeption leiten sich aus ihr mehr oder weniger konkrete Vorgaben für die Grundrechtsordnung ab. Die einzelnen Grundrechte stellen sicher, dass der Bürger vor Maßnahmen geschützt wird, die dem Gedanken der Menschenwürde widersprechen, ohne gleich den absolut geschützten Bereich des Art. 1 Abs. 1 anzutasten. Dabei kommt Art. 2 Abs. 1 GG eine wichtige Auffangfunktion zu. Denn während andere Grundrechte Teilaspekte der Menschenwürde schützen, erlaubt es die weite Formulierung des Art. 2 Abs. 1 GG sehr weitgehend, Wertungen der Menschenwürde in die Auslegung einfließen zu lassen. Art. 1 Abs. 1 GG gibt dem Freiheitspostulat des Art. 2 Abs. 1 GG eine Richtung: „die eigengeartete (inbesondere geistige) Entfaltung der Persönlichkeit, die Möglichkeit zur Selbstverantwortung, zum Selbstdenken, zum Handeln aus eigener Einsicht und damit zur ‚Führung des Lebens in der Kontinuität des eigenen Wesens‘ “115. Anders ausgedrückt: Individualität, Autonomie und Identität. Auch für Luhmann ist die Würde unabdingbar, um die Freiheit zu erfolgreicher Selbstdarstellung nutzen zu können.116 Freie Entfaltung der Persönlichkeit setzt nach diesem Verständnis weit mehr voraus als die Freiheit vor Handlungsge- und -verboten. Dementsprechend können auch ganz andere staatliche Maßnahmen Pathologien in diesem Prozess erzeugen. Hier zeigt sich die Schwäche der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, Art. 2 Abs. 1 GG als allgemeine Handlungsfreiheit zu verstehen. Denn wie herausgearbeitet, schützt sie zwar jede Handlung und Unterlassung, versagt aber beim Schutz von Rechtspositionen und Zuständen. Diese Schwäche beheben die Fallgruppen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Sie tragen dem durch die Menschenwürde beeinflussten Freiheitsverständnis Rechnung, indem sie den Einzelnen vor Maßnahmen schützen, die nicht die äußere Handlungsfreiheit, sondern andere Aspekte der Persönlichkeitsentfaltung beeinträchtigen. Das ist letztlich der Gedanke hinter der Zitierung „Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG“.117 Sie dient dazu, die Auffangfunktion des allgemeinen Jarass, Art. 1 Rn. 3 m. w. N. AöR 81 (1956), S. 117 (124); vMK – Kunig, Art. 1 Rn. 8. 114 Stern, Bd. IV/1, S. 9. 115 Schmitt Glaeser, in: HStR VI, § 129 Rn. 23. 116 Luhmann, S. 69 f. 117 Vgl. auch Germann, Jura 2010, 734 (736); MKS – Starck, Art. 2 Abs. 1 Rn. 57. 112 JP –
113 Dürig,
76
2. Kap.: Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit
Persönlichkeitsrechts deutlich zu machen. Es dient dem Schutz vor Maßnahmen, die dem Freiheitsverständnis der Menschenwürde widersprechen, aber durch kein anderes Grundrecht, mangels Handlungscharakters nicht einmal durch die allgemeine Handlungsfreiheit, abgedeckt werden. So gesehen ist das allgemeine Persönlichkeitsrecht nicht der hervorgehobene Anteil des Art. 2 Abs. 1 GG, sondern das Auffanggrundrecht im Auffanggrundrecht. Daher ist das allgemeine Persönlichkeitsrecht nicht pauschal stärker geschützt als die allgemeine Handlungsfreiheit. Wie hoch das Gewicht des Grundrechtsschutzes in der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist, hängt davon ab, wie intensiv der Eingriff im Einzelfall die Persönlichkeitsentfaltung berührt. Sicherlich „ist dem Schutz der Integrität der menschlichen Person in geistigseelischer Beziehung ein besonders hoher Wert beizumessen“118. Dieser steht aber, wie gesehen, keineswegs in allen Fällen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Frage. Dementsprechend ist die Herleitung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG unnötig und verwirrend, da sie einen höheren Rang des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gegenüber der allgemeinen Handlungsfreiheit suggeriert, den es aber nicht hat. Auch die allgemeine Handlungsfreiheit ist Ausdruck der Menschenwürde.119 Wie bereits herausgearbeitet, stellt sie den Kern des Schutzes von Identität, Individualität und Autonomie dar. Insofern führt auch sie zur Verwirklichung des von der Menschenwürde geprägten Freiheitsverständnisses, genau wie alle anderen Grundrechte, und könnte ebenso „i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG“ zitiert werden. Beim allgemeinen Persönlichkeitsrecht tritt der Einfluss der Menschenwürde aufgrund seiner Auffangfunktion mehr in Erscheinung als bei anderen Grundrechten. Dennoch ist er kein Spezifikum dieses Grundrechts. Die missverständliche Zitierung der Menschenwürde sollte dementsprechend unterbleiben. Da der Einfluss der Menschenwürde bei der Grundrechtsauslegung ohnehin immer mitgedacht werden muss, genügt Art. 2 Abs. 1 GG als Rechtsgrundlage des allgemeinen Persönlichkeitsrechts.120
IV. Zwischenergebnis Die Eppler-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist nicht klar darin, wo der Bereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Abgrenzung zur allgemeinen Handlungsfreiheit ist. Einerseits spricht das Gericht von einem Schutz der engeren persönlichen Lebenssphäre. Wenn das allgemeine Per118 BVerfGE
27, 344 (351). 6, 32 (36); Alexy, S. 324 f.; Morlok, S. 288; Schmitt Glaeser, in: HStR VI, § 129 Rn. 23. 120 So auch BK – Lorenz, Art. 2 Abs. 1 Rn. 33; Britz, S. 26. 119 BVerfGE
E. Die Funktion des allgemeinen Persönlichkeitsrechts77
sönlichkeitsrecht aber nur aus den ohnehin geschützten Sachverhalten eine bestimmte „Sphäre“ herausheben würde, wäre es unnötig; solche Differenzierungen sind sinnvollerweise erst auf Rechtfertigungsebene zu treffen. Andererseits grenzt das Gericht das allgemeine Persönlichkeitsrecht von der „aktiven“ allgemeinen Handlungsfreiheit ab, das Recht scheint daher das „passive“ Element des Art. 2 Abs. 1 GG darzustellen. Zwar ist „die Persönlichkeit“, wie unter D. hergeleitet, nichts Passives, sondern ein Prozess. Dieser aber ist nicht nur durch Beeinträchtigungen der äußeren Handlungsfreiheit bedroht. Daher schützt das allgemeine Persönlichkeitsrecht vor Eingriffen in diesen Prozess, die nicht die Freiheit des Handelns und Unterlassens betreffen. Anders als bei der allgemeinen Handlungsfreiheit muss hier geprüft werden, ob der Eingriff in einen „Zustand“ die Persönlichkeitsentfaltung beeinträchtigt. Die Fallgruppen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sind typisierte Beschreibungen solcher Eingriffe. Die Typisierung führt dazu, dass nicht in jedem Fall, der dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht unterfällt, die Persönlichkeitsentfaltung erheblich beeinträchtigt ist. Die Zitierung des Art. 1 Abs. 1 GG neben Art. 2 Abs. 1 GG verleitet dazu, Eingriffen in das allgemeine Persönlichkeitsrecht ein besonderes Gewicht zuzumessen. Tatsächlich war das vom Bundesverfassungsgericht wohl nie so gemeint. Die Zitierung der Menschenwürde ist unnötig und verwirrend und sollte unterbleiben. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht hat eine wichtige Auffangfunktion, um dem Freiheitsverständnis der Menschenwürde Geltung zu verschaffen. Es ist aber, selbst im Verhältnis zur allgemeinen Handlungsfreiheit, „nur“ eine Auffangfunktion. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht kann in drei große Fallgruppen eingeteilt werden: das Recht der Privatsphäre oder Selbstbewahrung, das Recht der Selbstdarstellung und eine dritte Gruppe, die mit „Recht der Selbstbestimmung“ oder „Grundbedingungen freier Persönlichkeitsentfaltung“ bezeichnet wird.121 Diese dritte Gruppe erfasst alle Konstellationen, die sich nicht einer der beiden anderen Fallgruppen zuordnen lassen, und spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Im Folgenden sollen daher die ersten beiden Fallgruppen näher beschrieben werden. Sie erfassen Eingriffe in die Persönlichkeitsentfaltung durch die Erhebung und Verbreitung persönlicher Informationen. An ihnen können einige Thesen, die gerade allgemein für das allgemeine Persönlichkeitsrecht aufgestellt wurden, näher erläutert werden. Zugleich weist die Entwicklung dieser beiden Fallgruppen einen Weg, wie auch der grundrechtliche Datenschutz sinnvoll definiert werden kann.
121 JP – Jarass, Art. 2 Rn. 40 ff.; Kingreen/Poscher, Rn. 442 ff.; mit einer Zweiteilung in Privatsphäre und Selbstdarstellung Schmitt Glaeser, in: HStR VI, § 129 Rn. 30 f.
78
2. Kap.: Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit
F. Das Recht der Selbstdarstellung I. Der verfehlte Gedanke der Selbstbestimmung 1. Die Entwicklung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Das Recht der Selbstdarstellung stammt aus der schon mehrfach angeführten Eppler-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Dort heißt es, es bedeute „einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht, wenn jemandem Äußerungen in den Mund gelegt werden, die er nicht getan hat und die seinen von ihm selbst definierten sozialen Geltungsanspruch beeinträchtigen. Dies folgt aus dem Schutz des dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht zugrunde liegenden Gedanken der Selbstbestimmung: Der Einzelne soll ‒ ohne Beschränkung auf seine Privatsphäre ‒ grundsätzlich selbst entscheiden können, wie er sich Dritten oder der Öffentlichkeit gegenüber darstellen will, ob und inwieweit von Dritten über seine Persönlichkeit verfügt werden kann“122.
Die Aussage hat eines mit der zuvor123 analysierten Aussage zum Verhältnis von allgemeinem Persönlichkeitsrecht und allgemeiner Handlungsfreiheit aus demselben Urteil gemeinsam: Sie sorgt für mehr Verwirrung als Klarheit. So wird nicht klar, welches Recht die hier formulierte neue Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts umfassen soll. Der letzte Satz liest sich wie ein Entscheidungs- und Handlungsrecht, nämlich das Recht, selbst über die eigene Darstellung zu entscheiden. Dabei bedurfte es dieses Rechts gar nicht. Im konkreten Fall ging es darum, dass dem Beschwerdeführer möglicherweise eine Äußerung untergeschoben wurde. Hier steht nicht seine Möglichkeit, sich selbst darzustellen, in Frage, sondern das Recht, nicht (falsch) dargestellt zu werden.124 Das Gericht subsumiert dann auch nicht unter ein solches „Recht der Selbstdarstellung“, sondern das im ersten Satz des angeführten Zitats statuierte Recht, nicht fälschlicherweise Aussagen in den Mund gelegt zu bekommen, die den selbst definierten sozialen Geltungsanspruch beeinträchtigen. Namentlich setzt es sich mit der Beweislast dafür auseinander, ob die Aussage getan wurde oder nicht, und der gerichtlichen Definitionsbefugnis des sozialen Geltungsanspruchs. Der letzte Satz des Zitats soll demnach, auch wenn die in der Literatur etablierte Bezeichnung als Recht der Selbstdarstellung etwas anderes suggeriert, wohl gar nicht den Inhalt des hier zugrunde gelegten Rechts beschreiben, sondern le122 BVerfGE
54, 148 (155). E. I. 124 Albers, S. 223. 123 Siehe
F. Das Recht der Selbstdarstellung79
diglich den Gedanken hinter dem Schutz vor untergeschobenen Äußerungen erläutern. Das betont das Gericht ausdrücklich, wenn es in der 2. Caroline-von-Monaco-Entscheidung sagt: „Ein allgemeines und umfassendes Verfügungsrecht über die Darstellung der eigenen Person enthält Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin nicht. Soweit sie ein derartiges Recht aus früheren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts entnehmen möchte (vgl. BVerfGE 35, 202 [220]; 54, 148 [155 f.]; 63, 131 [142]), liegt darin eine unzutreffende Verallgemeinerung des in Ansehung der konkreten Fälle formulierten Schutzgehalts der grundrechtlichen Gewährleistung. […] Ein derart weiter Schutz würde nicht nur das Schutzziel, Gefährdungen der Persönlichkeitsentfaltung zu vermeiden, übersteigen, sondern auch weit in die Freiheitssphäre Dritter hineinreichen.“125
Den „Schutzgehalt“ formuliert das Gericht zuvor so: „Zwar verleiht [das grundrechtlich geschützte Persönlichkeitsrecht] seinem Träger keinen Anspruch, nur so in der Öffentlichkeit dargestellt zu werden, wie es seinem Selbstbild entspricht oder ihm genehm ist. Wohl aber schützt es ihn gegenüber entstellenden und verfälschenden Darstellungen sowie gegenüber Darstellungen, die die Persönlichkeitsentfaltung erheblich beeinträchtigen können“126.
In diesem richtiggestellten Verständnis ist das allgemeine Persönlichkeitsrecht kein Entscheidungsrecht, es ist ein Abwehrrecht gegen bestimmte Eingriffe. Dies belegt die These127, dass sich die Fallgruppen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts leichter als Eingriffe denn als Schutzbereiche erfassen lassen. Spätere Beschwerdeführer wollten das vermeintliche Entscheidungsrecht, wie in der Caroline-Entscheidung anklingt, gern als Schutzbereich verstanden wissen. Doch das Bundesverfassungsgericht weist das als das zurück, was es ist: eine unzutreffende Verallgemeinerung. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt vor bestimmten Eingriffen, die aber nicht ohne Weiteres zu einem geschützten Freiheitsbereich generalisiert werden dürfen. 2. Selbstdarstellung als multipolare grundrechtliche Entfaltungskonstellation Der „Gedanke der Selbstbestimmung“ ist indes nicht nur als Schutzbereich zu weit, er ist schon als Gedanke falsch. Bedeutet es, dass der Einzelne entscheiden können soll, wie er sich selbst darstellen will, ist das eine Selbstverständlichkeit, die bereits durch die allgemeine Handlungsfreiheit abgedeckt ist. Denn die Selbstdarstellung erfolgt durch einzelne Handlungen. Fast jedes 125 BVerfGE
101, 361 (380). 97, 391 (403). 127 Siehe E. II. 126 BVerfGE
80
2. Kap.: Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit
menschliche Verhalten kann auch unter dem Gesichtspunkt der Selbstdarstellung aufgefasst und interpretiert werden.128 Damit schützt das Recht, frei zu handeln, zugleich das Recht, sich selbstbestimmt darzustellen. Doch das Bundesverfassungsgericht geht weit darüber hinaus. Es legt dem Recht der Selbstdarstellung den Gedanken zugrunde, die Person könnte selbst über das bestimmen, „was ihren sozialen Geltungsanspruch ausmachen soll“129. Was mit diesem Begriff des sozialen Geltungsanspruchs gemeint ist, lässt sich aus dem Kontext des Urteils erschließen. Er steht in der Tradition des Rechts der Ehre. Allerdings lässt sich die Ehre objektiv, ohne Ansehen des betroffenen Grundrechtsträgers definieren. Was ehrenhaft und was ehrenrührig ist, ist gesellschaftlich festgelegt. Der Schutz des sozialen Geltungsanspruchs ist hingegen „maßgeblich durch das Selbstverständnis seines Trägers geprägt“130. Er ist das Bild, das andere von ihm haben und an dem sie ihn messen. Goffman bezeichnet dieses Bild als soziale Identität.131 Allerdings, das wurde zuvor132 herausgearbeitet, ist die Identität nichts, worüber der Einzelne selbst bestimmen kann, nicht in der Innen- und schon gar nicht in der Außenperspektive. Zwar kann der Einzelne durch seine Handlungen anstreben, in einer bestimmten Weise wahrgenommen zu werden. Doch das ist durch die allgemeine Handlungsfreiheit abgedeckt. Die Idee, der Einzelne könnte bestimmen, welches Bild andere sich von ihm machen, geht an der sozialen Realität der Selbstdarstellung vorbei.133 Denn Identitätsbildung ist, wie hergeleitet, keine Einbahnstraße, sondern ein Prozess der Interaktion des Einzelnen mit der Gesellschaft. Sie ist nur im Bezug auf die Gesellschaft denkbar und muss mit dieser ausgehandelt werden.134 Dieser Prozess lebt davon, dass der Einzelne sich mit den vorgefundenen gesellschaftlichen Identitätserwartungen auseinandersetzt und diese in einem Wechselspiel der Reaktionen modifiziert und fortentwickelt. Die Gesellschaft bildet Identitäten aus, formt und entwickelt sich aber ihrerseits daraus, dass jeder seine Identität in den Prozess einbringt. Insofern ist der Prozess der Persönlichkeitsentfaltung eine multipolare grundrechtliche Entfaltungskonstellation im zuvor135 erläuterten Sinne, in dem das freie Handeln einzelner Grundrechtsträger einen Prozess formt, der wiederum die Entfaltung erst ermöglicht. Damit das funktioniert, müssen, 128 Mummendey,
S. 14. 54, 148 (155 f.); BVerfGE 63, 131 (142). 130 BVerfGE 54, 148 (156). 131 Goffman, S. 10. 132 Siehe D. 133 Albers, S. 405; Britz, S. 45; Nettesheim, in: VVDStRL 70 (2011), S. 7 (34). 134 Siehe D. II. 135 Siehe C. I. 129 BVerfGE
F. Das Recht der Selbstdarstellung81
wie beim wirtschaftlichen Wettbewerb, auch Einwirkungen auf Dritte zulässig sein, auch wenn sie zunächst als Einschränkung der Möglichkeiten der Betroffenen erscheinen. Daher kann es keinen Schutz des Einzelnen vor den Herausforderungen und Risiken des Aushandelns seiner Identität geben. Dritte müssen die Möglichkeit haben, die Identitätsentwürfe des Einzelnen nach ihren Maßstäben zu interpretieren, zu bewerten und gegebenenfalls auch abzulehnen, auch wenn dem Einzelnen das als Ablehnung seiner „wahren“ Identität erscheint. Denn auf diese Art und Weise nehmen die anderen ihrerseits eine Position im gesellschaftlichen Aushandlungsprozess ein und entfalten so ihre Persönlichkeit. Insofern obliegt die Beurteilung von Identitäten allein der gesellschaftlichen Aushandlung.
II. Der Gedanke der Selbstverantwortung Dennoch ist es richtig, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht einen Schutz vor Falschdarstellungen und Darstellungen, die die Persönlichkeitsentfaltung erheblich beeinträchtigen können, umfasst. Die überzeugende Begründung dafür wird in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts angedeutet. Eine erhebliche Beeinträchtigung der Persönlichkeitsentfaltung liegt danach insbesondere vor, wenn die Darstellung in der Folge zu einer Stigmatisierung des Einzelnen führen kann. Stigmatisierungen könnten „aufgrund gesellschaftlicher, also nicht allein der Verantwortung des Betroffenen zuzuschreibender, Einschätzungs- und Verhaltensmechanismen einen Entzug der sozialen Anerkennung, eine soziale Isolierung und eine grundlegende Verunsicherung und Selbstentwertung des Betroffenen in zahlreichen Lebensbereichen zur Folge haben. Die freie Entfaltung der Persönlichkeit wird dadurch nachhaltig erschwert, ohne daß dies zu den üblichen Grenzen der Entfaltungschancen oder zu den nachteiligen Reaktionen anderer gezählt werden könnte, die man als Folge eigener Entscheidungen oder Verhaltensweisen hinzunehmen hat.“136
Daraus ergibt sich der wichtige Grundsatz: Dass die eigenen Verhaltensweisen von Dritten zur Kenntnis genommen werden und dadurch Informa tionen über den Einzelnen entstehen, ist grundsätzlich hinzunehmen.137 Der Einzelne stellt sich in seinen Handlungen und Äußerungen selbst dar. Erscheint dieses Verhalten nicht als unmittelbar umweltveranlasst, wird es ihm als Ausdruck seiner Individualität zugerechnet und wird zum Teil seiner Identität. Das stellt für den Einzelnen zugleich ein großes Risiko dar: Entstehen Informationen, die nicht zu seiner sonstigen Identität passen, die die gesellschaftlichen Erwartungen an Verhaltenskonsistenz verletzen, kann die 136 BVerfGE
97, 391 (404). in: FS Geiger, S. 23 (34); Britz, S. 49; Nettesheim, in: VVDStRL 70 (2011), S. 7 (34). 137 Benda,
82
2. Kap.: Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit
Selbstdarstellung als individuelle Persönlichkeit scheitern, bis hin zu einer weitgehenden sozialen Isolation. Der Einzelne muss daher seine eigene Balance finden zwischen Freiheit und Würde, zwischen Ich und ICH. Zu einer erfolgreichen Selbstdarstellung darf er sich einerseits nicht nur nach gesellschaftlichen Verhaltenserwartungen richten, muss aber dennoch konsistent handeln.138 Hierfür trägt er die Verantwortung. Das bedeutet zweierlei: Einerseits darf ihm diese Verantwortung nicht aus der Hand genommen werden, indem er etwa zu Darstellungen gezwungen wird, die ihm zugerechnet werden, ohne frei zu sein. Andererseits steckt in dem Begriff der Verantwortung auch, dass er die Selbstdarstellung selbst zu leisten hat und damit grundsätzlich auch das Risiko für ihr Scheitern trägt.139 Bei der Verbreitung falscher Tatsachen über eine Person ist dieses Verantwortungsprinzip verletzt. Denn dem Einzelnen wird eine Information zugerechnet, die er nicht verursacht hat, da er nicht in entsprechender Weise gehandelt hat.140 Deshalb greifen verfälschende oder entstellende Darstellungen einer Person in der Regel in ihr allgemeines Persönlichkeitsrecht ein. Zusätzlich verlangt das Bundesverfassungsgericht, dass diese von nicht ganz unerheblicher Bedeutung für die Persönlichkeitsentfaltung sind.141 Denn der Schutz des Rechts der Selbstdarstellung wurzelt im Schutz der Persönlichkeitsentfaltung. Wenn letztere nicht in nennenswerter Weise betroffen ist, bedarf es daher keines Schutzes. Das kann insbesondere der Fall sein, wenn die betreffende Information überhaupt nicht zu Inkonsistenzen in der Selbstdarstellung führt, sondern sich nahtlos in diese einfügt, wie in der EpplerEntscheidung.142 Das wird jedoch nur ausnahmsweise der Fall sein. Zudem möchte das Bundesverfassungsgericht vom Verantwortungsprinzip scheinbar Folgen ausnehmen, die zumindest auch auf gesellschaftlichen „Einschätzungs- und Verhaltensmechanismen“ beruhen. Das führt indes in die Irre: Informationen und damit auch Selbstdarstellungen143 entstehen immer erst dadurch, dass das Verhalten mit Hilfe gesellschaftlicher Einschätzungsmechanismen interpretiert wird, und lösen entsprechende Verhaltensmechanismen aus. Bei Stigmatisierungen indes verselbstständigen diese sich gleichsam. Ein Stigma ist eine Eigenschaft, deren Kenntnis das Bild, das sich Dritte zunächst vom Einzelnen machen (virtuale soziale Identität), erheblich zum 138 Näher
zu alledem D. III. S. S. 73 Fn. 54. 140 Albers, S. 225 f. 141 BVerfGE 99, 185 (194). 142 Dazu bereits E. III. 143 Insofern „korreliert“ der Selbstdarstellungs- mit dem Informationsbegriff, so Albers, S. 401 Fn. 194. 139 Luhmann,
F. Das Recht der Selbstdarstellung83
Negativen verändert (aktuale soziale Identität),144 also die gesellschaftlichen Konsistenzerwartungen bricht. Welche Eigenschaften in dieser Weise diskreditierend wirken, hängt dementsprechend von der jeweiligen virtualen Identität ab. Eine Depressionserkrankung widerspricht beispielsweise bei einem erfolgreichen Sportler oder Manager sehr viel radikaler der Selbstdarstellung als bei anderen. Einige Eigenschaften wirken jedoch fast immer diskreditierend.145 Sie führen dazu, dass der Einzelne keine Chance hat, mit seinen sonstigen Eigenschaften wahrgenommen und akzeptiert zu werden. Das Stigma überlagert seine individuellen Eigenschaften.146 Er wird nicht mit seiner selbst gesteuerten und verantworteten Selbstdarstellung wahrgenommen, sondern anhand des stereotyp erzeugten Persönlichkeitsbildes als der Behinderte, der Homosexuelle oder der Kriminelle.147 Dadurch ist ihm die Möglichkeit einer selbstverantworteten, individuellen Selbstdarstellung genommen. Da der Einzelne sich selbst im Spiegel der Gesellschaft wahrnimmt,148 führt das zudem zu einer schwerwiegenden Selbstentwertung.149 Diese Folgen „hat“ der Einzelne selbst dann nicht „hinzunehmen“, wenn er sie, wie der Straftäter, durch sein Verhalten selbst verursacht hat. Sie werden nicht ihm zugerechnet, sondern der Gesellschaft, die den Einzelnen aufgrund nur einer Eigenschaft ausschließt. „Zurechnung“ ist hier indes in einem normativen Sinne zu verstehen, nicht in Luhmanns empirischen Sinne.150 Empirisch wird eine stigmatisierende Information dem Einzelnen ebenso zugerechnet wie andere Informationen. Doch das Bundesverfassungsgericht möchte den Einzelnen davor schützen, wenn die Folgen so extrem sind, dass er die Möglichkeit einer individuellen Selbstdarstellung verliert, auch wenn er für die Ursache dieser Information – beispielsweise die Straftat – selbst verantwortlich ist. Insofern können auch wahre Informationen das Recht der Selbstdarstellung beeinträchtigen, wenn sie stigmatisierend wirken können. Dieser Schutz ist in gewisser Hinsicht der Ausgleich dafür, dass Private, wie dargelegt, in ihrer Beurteilung anderer Privater aus gutem Grund frei sind. Anders als staatliche Stellen haben sie grundsätzlich die Freiheit, Menschen wegen ihres Stigmas anders zu behandeln. Daher setzt der Schutz der Betroffenen eine Stufe eher, nämlich auf Informationsebene an: Sie werden davor geschützt, dass Dritte überhaupt von dem Stigma erfahren. 144 Goffman,
S. 10 f. S. 12. 146 Goffman, S. 24. 147 Britz, S. 55 f. 148 Vgl. D. II. 149 Goffman, S. 16. 150 Vgl. Luhmann, S. 65 f. 145 Goffman,
84
2. Kap.: Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit
Bei der Prüfung des stigmatisierenden Charakters einer Aussage ist nicht nur auf den Aussageinhalt abzustellen, sondern auf die Informationen, die sich bei den Äußerungsadressaten bilden, und die zu erwartenden sozialen Folgen dieser Informationen.151 Spätestens in der Abwägung muss die Schwere dieser Folgen im Einzelfall detailliert in Rechnung gestellt werden.152 Doch schon auf Schutzbereichsebene ist das Recht nur betroffen, wenn die geschilderten schweren Folgen zu erwarten sind. Welche Informationen stigmatisierend wirken, hängt, wie dargestellt, von der jeweiligen sozialen Identität ab. Vor Informationen, die nur in bestimmten Situationen schwerwiegende Auswirkungen auf die Selbstdarstellung haben, wird ein Schutz jedoch nur selten geboten sein. Denn sie werden regelmäßig zwar dazu führen, dass der Einzelne sich neu definieren und seine sozialen Bezugskreise verändern muss, nicht aber zu einer sozialen Isolation. Das muss der Einzelne hinnehmen. Das Recht der Selbstdarstellung ist eben kein Recht, eine bestimmte soziale Identität zu verteidigen, die sich nicht aufrechterhalten ließe, wenn Dritte die entsprechenden Informationen hätten. Es ist ein Recht, überhaupt eine soziale Identität zu konstituieren, die im sozialen Verkehr zur Anerkennung als Individuum führt. Zusammengefasst schützt das Recht der Selbstdarstellung vor der Verbreitung von Informationen, die die Selbstdarstellung beeinträchtigen, ohne dem Einzelnen zuzurechnen zu sein. Dabei sind an eine der beiden Voraussetzungen umso geringere Anforderungen zu stellen, je intensiver die andere erfüllt ist. Falsche Informationen sind dem Einzelnen in keiner Weise zuzurechnen, da er überhaupt keine Ursache für ihr Entstehen gesetzt hat. Dementsprechend genügt eine geringe Beeinträchtigung der Selbstdarstellung. Wenn anders herum die Folgen für die Selbstdarstellung sehr erheblich sind, kann darüber hinweggesehen werden, dass der Einzelne die Information durch sein Verhalten ursprünglich selbst verursacht hat.
III. Abwehrrecht und Schutzpflicht Der Grundrechtsschutz wurde aus dem Verhältnis zwischen Privaten hergeleitet. Das ist ungewöhnlich, da Grundrechte, wie oben noch einmal bestätigt, in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat sind und erst in zweiter Linie und mit Modifikationen eine Schutzpflicht in Hinblick auf private Eingriffe enthalten.153 Die Umkehrung der Argumentationsreihenfolge ist nicht zuletzt darin begründet, dass auch die zitierten Entscheidungen des Bun97, 391 (405), dazu Albers, S. 257 f. einer realitätsnahen Betrachtung aller im Einzelfall ersichtlichen Gesichtspunkte BVerfGE 97, 391 (405). 153 Siehe C. I. und IV. 151 BVerfGE 152 Mit
G. Das Recht auf Privatsphäre85
desverfassungsgerichts Streitigkeiten zwischen Privaten betrafen. Doch es gibt auch einen sachlichen Grund. Die beschriebenen Wirkmechanismen von Informationen auf die Selbstdarstellung finden im Verhältnis zwischen Privaten statt. Der Staat ist beim Prozess der Selbstdarstellung außen vor. Er ist kein Teil der oben beschriebenen multipolaren Entfaltungskonstellation. Doch auch der Staat kann das Recht der Selbstdarstellung beeinträchtigen, wenn er falsche oder stigmatisierende Informationen über einen Grundrechtsträger verbreitet.154 Je nach Einzelfall ist auf Rechtfertigungsebene die staatliche Verbreitung solcher Informationen wegen der damit verbundenen Richtigkeitsgewähr tendenziell als schwerwiegender einzustufen.
IV. Zusammenfassung Das Recht der Selbstdarstellung ist kein Selbstbestimmungsrecht über die eigene Selbstdarstellung und wird jedenfalls heute auch vom Bundesverfassungsgericht nicht mehr so verstanden. Selbstdarstellungen entstehen durch eine Interpretation des Verhaltens durch Dritte in einem Prozess des gesellschaftlichen Aushandelns. Die – auch unerwünschte – Interpretation und Bewertung von Selbstdarstellungen ist damit Teil des Prozesses, sodass es davor keinen Schutz geben kann. Statt der Selbstbestimmung ist die Selbstverantwortung der Selbstdarstellung geschützt. Diese nimmt der Einzelne grundsätzlich wahr, indem er durch Handlungen Informationen produziert. Das Risiko inkonsistenter Selbstdarstellung trägt er dabei selbst. Dieses Verantwortungsprinzip ist aber verletzt, wenn falsche Informationen über ihn verbreitet werden, sodass ein Bild von ihm entsteht, für das er keinen Anlass gegeben hat und das ihm daher nicht zuzurechnen ist. Auch wahre Informationen werden ihm nicht zugerechnet, wenn das daraus folgende Bild aufgrund gesellschaftlicher Interpretation die Möglichkeit erfolgreicher Selbstdarstellung in Zukunft erheblich beeinträchtigt, insbesondere wenn die Informationen stigmatisierende Wirkung haben.
G. Das Recht auf Privatsphäre Das Recht auf Privatsphäre ist die älteste Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. In der Mikrozensus-Entscheidung155 formuliert das Gericht, dem Einzelnen müsse „um der freien und selbstverantwortlichen Entfaltung seiner Persönlichkeit willen ein ‚Innenraum‘ verbleiben […], in dem er ‚sich selbst besitzt‘ 154 Vgl.
BVerfG NJW 2011, 511; Albers, S. 407. 27, 1 ff.
155 BVerfGE
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und ‚in den er sich zurückziehen kann, zu dem die Umwelt keinen Zutritt hat, in dem man in Ruhe gelassen wird und ein Recht auf Einsamkeit genießt‘ “156. „Privat“ bleibt lange Zeit ein wenig konturiertes Schlagwort, unter das mit teilweise etwas mühsamer Begründung auch Sachverhalte subsumiert wurden, die heute anderen Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zugeordnet würden. So betrifft die Mikrozensus-Entscheidung eher die informationelle Selbstbestimmung, die Soraya-Entscheidung157 legt den Grundstein für die Rechtsprechung zum Recht der Selbstdarstellung.158 In der 2. Caroline-von-Monaco-Entscheidung wird das Recht auf Privatsphäre näher beschrieben und ausdifferenziert. Der Schutz der Privatsphäre sei thematisch und räumlich bestimmt. Er umfasse „zum einen Angelegenheiten, die wegen ihres Informationsinhalts typischerweise als ‚privat‘ eingestuft werden“159. Zum anderen, heißt es mit Bezug auf die MikrozensusEntscheidung, erstrecke sich der Schutz auf „einen räumlichen Bereich, in dem der Einzelne zu sich kommen, sich entspannen oder auch gehen lassen kann“160. Dieser Differenzierung ist zuzustimmen, wenngleich sie keine abschließende Aufzählung der Ausprägungen des Rechts der Privatsphäre darstellt. Vielmehr soll hier das Recht auf räumliche Privatsphäre gemeinsam mit anderen Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu einem Recht auf situative Privatsphäre zusammengefasst werden. Zudem sind weitere Ausprägungen der Privatsphäre denkbar, die weder thematisch noch situativ erfasst werden können.
I. Das Recht auf thematische Privatsphäre Das Recht auf thematische Privatsphäre umfasst nach dem Bundesverfassungsgericht „Angelegenheiten, die wegen ihres Informationsinhalts typischerweise als ‚privat‘ eingestuft werden, weil ihre öffentliche Erörterung oder Zurschaustellung als unschicklich gilt, das Bekanntwerden als peinlich empfunden wird oder nachteilige Reaktionen der Umwelt auslöst […]. Fehlte es hier an einem Schutz vor der Kenntniserlangung anderer, wären die Auseinandersetzung mit sich selbst, die unbefangene Kommunikation unter Nahestehenden, die sexuelle Entfaltung oder die Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe beeinträchtigt oder unmöglich, obwohl es sich um grundrechtlich geschützte Verhaltensweisen handelt.“161 156 BVerfGE
27, 1 (6). 34, 269 ff. 158 Vgl. Albers, S. 218, 222. 159 BVerfGE 101, 361 (382). 160 BVerfGE 101, 361 (382 f.). 161 BVerfGE 101, 361 (382). 157 BVerfGE
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1. Zweck in Abgrenzung zum Recht der Selbstdarstellung Wie zum Recht der Selbstdarstellung dargelegt, trägt der Einzelne die Verantwortung dafür, Handlungen zu vermeiden, die der Selbstdarstellung zuwiderlaufende Informationen erzeugen. Über einen Menschen entsteht indes laufend eine unüberschaubare Menge von Informationen, die sich nicht alle in die Selbstdarstellung integrieren lassen. Daher hat die Gesellschaft Konventionen etabliert, die dazu dienen, bestimmte Informationen von der Selbstdarstellung fernzuhalten. Dazu gehören Wahrnehmungs- und Kommunikationsschranken, welche die Intimsphäre schützen, wobei intim nach Luhmann „jener Komplex von Informationen“ ist, „der nicht öffentlich zugänglich gemacht werden kann, ohne die öffentliche Selbstdarstellung zu diskreditieren“.162 Bei solchen Informationen stellt schon das ungewollte Herausdringen der Informationen aus der Privatsphäre einen Eingriff dar. Das Recht der Selbstdarstellung schützt vor einem Eindringen bestimmter Informationen in Kommunikationsbeziehungen, die dazu führen, dass ein falscher Eindruck vom Einzelnen entsteht oder er mit seiner Selbstdarstellung überhaupt nicht mehr durchdringen kann. Daher kann ein Eingriff in der Weitergabe der Informationen liegen, je nachdem, inwieweit die Information die Selbstdarstellung des Einzelnen im Verhältnis zu den Empfängern der Information beeinträchtigt. Das Recht der thematischen Privatsphäre schützt vor einem Herausdringen der Informationen aus geschützten Kommunikationsbeziehungen. Denn dadurch werden Informationen zum Teil der Selbstdarstellung gemacht, die zwar richtig sind, aber nach gesellschaftlicher Vorstellung nicht der Selbstdarstellung zugerechnet werden sollen und diese beeinträchtigen. Der Einzelne hat einen Anspruch darauf, dass private Sachverhalte bei der Betrachtung seiner Person durch den Staat oder Private grundsätzlich außer Acht bleiben. Insofern ist der Gedanke hinter dem Recht der thematischen Privatsphäre trotz der Gemeinsamkeiten ein anderer als beim Recht der Selbstdarstellung. Es dient nicht in erster Linie dem Schutz davor, dass bestimmte informationsbezogene Handlungen Dritter die Möglichkeit individueller Selbstdarstellung in Zukunft beeinträchtigen. Vielmehr dient es, so merkwürdig das zunächst klingen mag, der Freiheit vergangenen Handelns. Natürlich können informationsbezogene Handlungen, die erst in Zukunft liegen, als solche nicht die gegenwärtige Handlungsfreiheit beeinträchtigen. Die Sorge vor ihnen kann es aber. Das steht hinter der Aussage des Bundesverfassungsgerichts, das Recht auf thematische Privatsphäre diene dem Schutz bestimmter grundrechtlich ge162 Luhmann,
S. 67.
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schützter Verhaltensweisen. Insofern dient das allgemeine Persönlichkeitsrecht hier mittelbar dem Schutz freier Persönlichkeitsentfaltung durch Handlungen. Die Selbstdarstellung ist so empfindlich gegenüber privaten Informationen, dass ohne einen Schutz vor der Kenntniserlangung Dritter das Verhalten in manchen Bereichen entscheidend von der Sorge um die Selbstdarstellung mitgeprägt wäre. Daher braucht Handeln, das nicht nur äußerlich frei ist, nicht nur den Schutz der Handlungsfreiheit, sondern auch den Schutz der Privatsphäre. Hierauf muss sich der Einzelne verlassen können. Durch den rechtlichen Schutz wird eine solche Verbindlichkeit hergestellt, freilich (abgesehen von den faktischen Grenzen rechtlichen Schutzes) unter dem Vorbehalt der möglichen Rechtfertigung eines Eingriffs durch überwiegende Interessen. Da das Vertrauen in die „Unbeobachtetheit“ in manchen Lebensbereichen essenziell notwendig für die Grundrechtsentfaltung ist, können nur sehr gewichtige Interessen Eingriffe in die Privatsphäre rechtfertigen. 2. Schutzbereich Bei der Abgrenzung der thematischen Privatsphäre stellt das Bundesverfassungsgericht in der eingangs zitierten Definition ebenso wie Luhmann auf die Folgen der Information für die Selbstdarstellung ab, die den gesellschaftlichen Konventionen entsprechend zu erwarten sind. Die thematische Privatsphäre umfasst daher Themen, die des Schutzes der Selbstdarstellung halber mit einem Tabu belegt sind. Dazu gehören beispielsweise Informationen aus den Bereichen Sexualität und Gesundheit sowie über persönliche Gedanken und Gefühle und die inneren Verhältnisse intimer und familiärer Beziehungen. Solche Informationen „gehen“ andere im gesellschaftlichen Empfinden „nichts an“. Um die Selbstdarstellung zu entlasten, wird sie durch Konventionen auf das Nötigste beschränkt. Alles, was in Körper oder Gedankenwelt des Einzelnen oder in der Interaktion eines eng beschränkten Personenkreises vor sich geht und damit nicht schon automatisch Teil der Selbstdarstellung ist, wird der Privatsphäre zugerechnet und aus der Selbstdarstellung ferngehalten. Beim Schutz vor staatlichem Informationshandeln geht es begrifflich nicht um den Schutz der Selbstdarstellung im Sinne Luhmanns. Anders als bei Privaten sind die Verhaltensnormen, anhand derer der Staat einen Bürger beurteilen darf, normiert. Dementsprechend darf der Staat in seine Entscheidungen nur die persönlichen Informationen einfließen lassen, die für das durch diese Normen definierte Verhältnis zum Bürger vom Relevanz sind. „Private“ Lebensbereiche zeichnen sich, wie dargelegt, aber gerade dadurch aus, dass das Verhalten und die Gegebenheiten in diesen Bereichen nur den Einzelnen selbst und einzelne, ihm nahestehende Personen betreffen. Für den Staat, der öffentliche Interessen wahrnimmt, sind die Vorgänge in der
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Privatsphäre daher grundsätzlich nicht relevant. Daher hat der Grundrechtsträger ein Recht, darauf zu vertrauen, dass das Verhalten in diesen Bereichen auch und gerade vor staatlicher Einsichtnahme und Beurteilung geschützt ist. Sobald die „Persönlichkeitssphäre eines anderen Menschen“ berührt wird, ist die Handlung oder Information aber möglicherweise, unter Berücksichtigung der Besonderheiten des einzelnen Falls, „rechtlicher Regelung zugänglich“.163 Das Bundesverfassungsgericht geht in der 2. Caroline-von-Monaco-Entscheidung zu Recht von einem engeren Privatshärebegriff aus als noch in der Mikrozensus-Entscheidung, wo selbst Informationen über Urlaubsreisen der Privatsphäre zugeordnet wurden.164 Dass diese „an das Verhalten des Menschen in der Außenwelt“ anknüpfen, war dort nur ein Argument dafür, sie nicht als Teil der absolut geschützten Intimsphäre zu sehen; es sprach für das Bundesverfassungsgericht aber mitnichten gegen eine Subsumtion unter den Schutz der Privatsphäre.165 Ein Schutz von Informationen selbst über öffentliches Verhalten lässt sich indes aus der normativen Grundlage Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG nicht herleiten. Denn wenn die Persönlichkeitsentfaltung sich in erster Linie durch Handlungen vollzieht,166 so sind das insbesondere auch Handlungen, die mit Kommunikation und Interaktion mit Dritten verbunden sind. Dazu gehört im Rahmen des multipolaren Prozesses der Persönlichkeitsentfaltung167 grundsätzlich auch die Freiheit, über Dritte und deren Verhalten zu kommunizieren. Soll dieser Prozess funktionieren, müssen Privatsphärerechte Einzelner, die Kommunikation begrenzen, die Ausnahme sein.168 Etwas anderes gilt auch dann nicht, wenn es um eine staatliche Informationserhebung geht. Anders als bei einem Arztbesuch wird der Entschluss zu einer Urlaubsreise selten durch die Befürchtung beeinflusst werden, Dritte könnten davon erfahren. Nur so lässt sich aber ein Schutz thematischer Privatsphäre am oben hergeleiteten handlungszentrierten Persönlichkeitsbegriff169 erklären. Ein weiter Privatsphärebegriff, wie er der MikrozensusEntscheidung zugrunde liegt, kann auch nicht aus einem anderen, die „Substanz“ betonenden Persönlichkeits- und Menschenwürdebegriff hergeleitet 163 BVerfGE 80, 367 (374). Die Kritik von Alexy, S. 328, an solch einer relativen Konzeption der Intimsphäre wird mit diesem Abstellen auf den Einzelfall allenfalls äußerlich aufgegriffen. 164 BVerfGE 27, 1 (8). 165 BVerfGE 27, 1 (7). 166 Siehe E. I. 6. 167 Siehe F. I. 1. b). 168 Siehe B. I. 1. 169 Siehe D.
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werden. Dass die im Lichte der Menschenwürde als ein bestimmtes „Sein“ verstandene Persönlichkeit berührt ist, wenn eine Behörde erfährt, dass man den Sommerurlaub auf Mallorca verbracht hat, lässt sich nur vertreten, wenn man diese großen Begriffe zu geradezu lächerlich kleiner Münze macht. 3. Eingriff a) Notwendigkeit einer Differenzierung zwischen Staat und Privaten Ein Eingriff liegt vor, wenn staatliche Stellen in die Privatsphäre eindringen, indem sie sich Kenntnis von privaten Sachverhalten verschaffen. Das Recht der Privatsphäre schafft einen Handlungsraum, der grundsätzlich vor jeglicher Einsichtnahme geschützt ist. Ebenso stellt die staatliche Verwendung privater Informationen einen Eingriff dar. Denn durch diese wirkt sich die private Information konkret auf die Selbstdarstellung des Grundrechtsträgers und seine Handlungsoptionen in der jeweiligen Situation aus. Die Befürchtung dessen kann sein Verhalten in der Privatsphäre beeinflussen. Dasselbe gilt für die Weitergabe an Private, bei der wiederum der Gesichtspunkt der Selbstdarstellung greift. Bei der staatlichen Informationsverarbeitung ist daher ein umfassender Rechtfertigungsvorbehalt für den Umgang mit thematisch privaten Informationen anzunehmen. Bei Informationshandlungen Privater ist stärker zu differenzieren. Im Rahmen der Schutzfunktion des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist ein Schutz vor einem Eindringen in die Privatsphäre durch eine unbefugte Kenntnisnahme privater Sachverhalte geboten. Anders als beim Staat kann es aber keinen umfassenden Rechtfertigungsvorbehalt für jeden Umgang mit privaten Informationen geben. Die Freiheit Privater, die Selbstdarstellung Dritter zu beurteilen, beinhaltet selbstverständlich auch die „Verwendung“ privater Informationen, die ihnen zur Kenntnis gelangt sind. Anders als einem anonymen Gebilde wie der Verwaltung kann man ihnen keine selektive Kenntnis von Informationen vorschreiben. Selbst thematisch private Information „stellt ein Abbild sozialer Realität dar, das nicht ausschließlich dem Betroffenen allein zugeordnet werden kann“170. Das zeigt sich schon bei der „Entstehung“ der Informationen. Das Recht auf thematische Privatsphäre dient dazu, gewisse thematisch bestimmte Lebensbereiche aus der öffentlichen Selbstdarstellung fernzuhalten. Doch auch in diesen Bereichen lebt der Einzelne nicht als Einsiedler. Das Sexual-, Eheund Familienleben sind Lebensbereiche, die zweifellos im beschriebenen 170 BVerfGE
65, 1 (44) zu personenbezogener Information.
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Sinne als privat gelten. Dennoch betreffen diese Lebensbereiche und damit die Informationen darüber nicht nur den einzelnen Grundrechtsträger. Das Eheleben des einen ist auch das Eheleben des anderen Ehepartners. Dementsprechend kann der Umgang eines Ehepartners mit den Informationen über das Eheleben offensichtlich nicht mit Informationshandlungen privater Dritter oder gar des Staates gleichgesetzt werden. Doch auch im Verhältnis zu Personen, die nicht unmittelbar Teil einer solchen Nahbeziehung sind, bedeutet Privatsphäre nicht nur Isolation. Vielmehr ist die Selbstöffnung gegenüber gewählten Personen des Vertrauens ein ganz zentrales Element der Konstitution von Identität und Autonomie und damit der Persönlichkeitsentfaltung. Die zuvor171 bereits beschriebene dialogische Konstitution von Identität findet vor allem in Nahbeziehungen statt, in denen dem Einzelnen die Anerkennung für seine Identität und damit das erforderliche Selbstbewusstsein vermittelt wird.172 Erzählt der A seinem Freund B beim Schachspiel im Vertrauen Dinge aus seinem Privatleben, liegt selbstverständlich keine „Erhebung“ dieser Informationen durch B vor, die – auch nur prima facie – als Übergriff betrachtet werden müsste. b) Weitergabe privater Informationen als Übergriff Schwieriger wird es, wenn der B diese Informationen unter Bruch der Vertraulichkeit weiterträgt. In der Rechtsprechung hat die Verbreitung privater Informationen durch Medien eine große Rolle gespielt. Eine solche wird üblicherweise nach der „Sphärentheorie“ beurteilt. Informationen aus der Privatsphäre sind grundsätzlich geschützt, Informationen aus der Sozialsphäre grundsätzlich frei.173 Diese Abgrenzung ist brauchbar, wenn es um Veröffentlichungen durch die Medien geht. Denn privat ist, was nicht in die Öffentlichkeit gehört; eine solche Öffentlichkeit stellen die Medien aber offensichtlich her. Doch auch thematisch private Informationen „gehören“ nicht dem Grundrechtsträger in dem Sinne, dass ihre Weitergabe eine Art absolutes Recht verletzte. Öffnet sich der A gegenüber B, werden nach dem eingangs dargelegten Informationsbegriff174 Informationen nicht „übermittelt“, sondern sie entstehen erst, und zwar in der Person des B durch dessen Interpretation des Gesagten. Daher kann es keine „eigenen“ Informationen des A geben. Übermittelt der Dritte die Gedankeninhalte weiter und erzeugt dadurch neue In171 Siehe
D. II. S. 238 ff. 173 Vgl. etwa BVerfG NJW 2011, 47 (48). 174 Siehe A. II. 172 Rössler,
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formationen, so ist das zunächst einmal kein Umgang mit der fremden Privatsphäre, sondern mit den eigenen Informationen. Diese stehen zudem in Zusammenhang mit der Privatsphäre des B. Denn die Informationen werden ein Teil der – privaten – Vertrauensbeziehung zwischen A und B. Mit wem jemand seine Privatsphäre teilt, ist seine Entscheidung, für die er das Risiko trägt, wenn sein Vertrauen missbraucht wird, genauso wie jeder das Risiko für das Scheitern seiner Selbstdarstellung trägt.175 Sicherlich begibt er sich dadurch in eine Abhängigkeit von Dritten, die es in der Hand haben, seiner äußeren und inneren Identität erheblich zu schaden, indem sie sein Vertrauen missbrauchen und etwa die Informationen weitertragen. Doch würde man generell eine Schutzpflicht gegen das „Weitertratschen“ privater Informationen annehmen, würde man den Staat verpflichten, in diese private Beziehung einzugreifen. Da selbst Unterlassungsansprüche regelmäßig zu spät kämen, müsste man im Sinne eines effektiven Grundrechtsschutzes selbst über strafrechtliche Sanktionen oder zivilrechtliche Entschädigungsansprüche nachdenken. Können aber private Vertrauensbeziehungen ständig in Rechtsbeziehungen kippen, so würde eine solche Schutzpflicht das Gegenteil von dem erreichen, was sie erreichen soll, nämlich ungehemmte Kommunikation in solchen Beziehungen zu gewährleisten. Insofern muss hier, wie auch allgemein bei der Weitergabe persönlicher Informationen,176 die Schutzpflicht in Hinblick auf die Funktionsfähigkeit des Prozesses der Persönlichkeitsentfaltung reduziert werden. Die Frage ist, wo diese Freiheit zum Weitertragen privater Informationen durch Private ihre Grenzen hat. Denn wenn eine Boulevardzeitung private Details eines Prominenten veröffentlicht, kann sie sich offensichtlich nicht auf ihre Persönlichkeitsentfaltung in privaten Kommunikationsbeziehungen berufen. Zudem greift der Zweck des Rechts der thematischen Privatsphäre: Müssten insbesondere Prominente, die ohnehin mehr als andere im Lichte der Öffentlichkeit stehen, damit rechnen, dass jedes Detail ihres Verhaltens in jedem Lebensbereich Gegenstand der öffentlichen Erörterung wird, wäre die Unbefangenheit des Verhaltens nicht nur beeinträchtigt, sondern geradezu aufgehoben. Letztlich ist die Unterscheidung zwischen einer hinzunehmenden und einer nicht hinzunehmenden Verbreitung privater Informationen eine graduelle: erstens in Hinblick auf den Informationsgehalt der Mitteilung und die Intensität einer Beeinträchtigung der Selbstdarstellung, zweitens in Hinblick auf die Größe des Empfängerkreises und seine Beziehung zu dem, den die Informationen betreffen. Die beiden Gesichtspunkte hängen zusammen, da der 175 Siehe 176 Siehe
F. II. F. I. 2.
G. Das Recht auf Privatsphäre93
Informationsgehalt seinerseits vom Empfänger der Mitteilung und seinem Vorwissen abhängt.177 Entscheidend muss daher sein, wie intensiv die Folgen dieser Informationen bei diesem Empfängerkreis für die Selbstdarstellung des individuellen Grundrechtsträgers sind. Denn je größer die Folgen sind, desto mehr kann die Sorge davor einen Abschreckungseffekt auf das Verhalten haben. Damit aber stellt sich dieselbe Frage, die beim Recht der Selbstdarstellung unter dem Stichwort „erhebliche Beeinträchtigung der Selbstdarstellung“ zu prüfen ist.178 Der Unterschied besteht in den Vorzeichen dieser Prüfung: In dem Bereich, der zuvor beim Recht der Selbstdarstellung thematisiert wurde, braucht es eine ganz erhebliche Beeinträchtigung, um den Grundrechtsschutz zu begründen, da der Grundrechtsträger damit rechnen muss, dass sein öffentliches Verhalten sich auf seine Selbstdarstellung auswirkt, und ihm diese Informationen daher zuzurechnen sind. Private Informationen hingegen, das wurde eben angesprochen, sollen der Selbstdarstellung nach den dafür geltenden gesellschaftlichen Konventionen grundsätzlich nicht zugerechnet werden. Diese Konventionen geben auch auf Eingriffsebene einen starken Anhaltspunkt dafür, wo der Schutz einsetzen muss, insbesondere in Hinblick auf die Weitergabe von Informationen. Ein Schutz ist bei Informationshandlungen geboten, die in Hinblick auf die jeweilige Information nicht sozialadäquat sind. Denn die etablierten Konventionen beziehen sich nicht nur auf die „thematische“ Reichweite der Privatsphäre, sondern auch auf die „soziale“, also die Frage, wann eine private Information noch innerhalb eines privaten Rahmens weitergegeben wurde, und wann sie Teil der öffentlichen Selbstdarstellung geworden ist.
II. Das Recht auf situative Privatsphäre In der 2. Caroline-Entscheidung entwickelt das Bundesverfassungsgericht einen Schutz räumlicher Privatsphäre in der „Abgeschiedenheit einer natürlichen Umgebung“179 und begründet diesen folgendermaßen: „Zwar bietet auch dieser Bereich Gelegenheit, sich in einer Weise zu verhalten, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist und deren Beobachtung oder Darstellung durch Außenstehende für den Betroffenen peinlich oder nachteilig wäre. Im Kern geht es aber um einen Raum, in dem er die Möglichkeit hat, frei von öffentlicher Beobachtung und damit der von ihr erzwungenen Selbstkontrolle zu sein, auch ohne daß er sich dort notwendig anders verhielte als in der Öffentlichkeit.“180 177 Siehe
A. II. dazu F. II. 179 BVerfGE 101, 361 (383). 180 BVerfGE 101, 361 (383). 178 Vgl.
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2. Kap.: Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit
Ausschlaggebend für den Schutz sei, „ob der Einzelne eine Situation vorfindet oder schafft, in der er begründetermaßen und somit auch für Dritte erkennbar davon ausgehen darf, den Blicken der Öffentlichkeit nicht ausgesetzt zu sein.“181
Das lasse sich nur „situativ“ beurteilen. Der Einzelne könne sich an ein und demselben Ort zu Zeiten mit gutem Grund unbeobachtet fühlen, zu anderen Zeiten nicht.182 1. Zweck Die letzte Aussage untermauert die eingangs aufgestellte These, dass es sich nicht um eine räumliche, sondern um eine situative Privatsphäre handelt. Geschützt wird die begründete und erkennbare Erwartung, in einer Situation unbeobachtet zu sein. In der Öffentlichkeit muss der Einzelne ständig auf seine Selbstdarstellung bedacht sein. „Er kann nicht jede Körperbewegung vollziehen, nicht jedem Bedürfnis nachgeben. Er hat seine Worte abzuwägen und nicht zu viel von sich selbst preiszugeben.“183 Daher muss es Räume geben, in denen der Einzelne unbeobachtet ist. Für Luhmann lässt sich die Privatsphäre gleichsam als Gegensatz zur Selbstdarstellung durch diese erklären. Private Räume sind für ihn solche, „in denen Darstellungen vorbereitet oder aufgefrischt werden oder Nichtdarstellbares getan werden muß“184. Sie dienen also dem Schutz der Selbstdarstellung, indem Verhalten, das die Selbstdarstellung gefährden würde, in die Privatsphäre verlagert wird und der Einzelne einen Raum erhält, in dem er „die Waffen fallen lassen kann“, um in der Öffentlichkeit beherrscht sein zu können.185 Betrachtet man die Identität nicht, wie Luhmann, ausschließlich aus der Außenperspektive, sondern aus der Innenperspektive des Einzelnen selbst, dient die situative Privatsphäre der Ermöglichung von Autonomie. Autonom zu sein bedeutet, wie zuvor186 dargestellt, unter anderem, eine kritische Distanz zu gesellschaftlichen Verhaltenserwartungen, durch die man geprägt wurde, zu gewinnen. Das kann aber nicht gelingen, wenn man diesen Erwartungen durch Darstellungszwänge permanent ausgesetzt ist. Man ist dann lediglich ein Getriebener der widersprüchlichen Verhaltenserwartungen. Es fehlt die Möglichkeit, ungestört ein kritisches Verhältnis zu sich selbst einzunehmen, zu reflektieren und Verhaltensweisen auszuprobieren, um so zu er181 BVerfGE
101, 361 (384). 101, 361 (384). 183 Luhmann, S. 67. 184 Luhmann, S. 67. 185 Rössler, S. 267 f. 186 Siehe D. V. 182 BVerfGE
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kennen, wie man sich zu den jeweiligen Erwartungen stellen möchte. Privatheit wird so zur Bedingung der Selbstdefinition, der Selbsterfindung.187 Zu Recht möchte das Bundesverfassungsgericht jedoch nicht nur das Verhalten in der Privatsphäre schützen, das einen Bezug zu Selbstdarstellung und Autonomie aufweist, sondern das Unbeobachtetsein als solches. Dahinter steht die Erkenntnis, dass beobachtetes Verhalten etwas grundlegend anderes ist als unbeobachtetes. Rössler stellt das am Beispiel einer Erzählung der von der Stasi beobachteten Schriftstellerin Christa Wolf dar: „Nicht nur jedes Zähneputzen, jedes Tischdeckeglattstreichen, jedes Einkaufszettel schreiben, sondern umso mehr jedes Gespräch mit Freunden, jeder Gang auf die Straße ist nicht mehr autonom, authentisch, selbst bestimmt, sondern ist ein Zähneputzen, Tischdeckeglattstreichen, einkaufen gehen für andere, als Rolle gespielt, im (möglichen) Angesicht derer, die beobachten.“188
2. Schutzbereich a) Definition durch soziale Konventionen Dennoch ist der Schutz situativer Privatsphäre, ebenso wie der Schutz der Selbstdarstellung, begrenzt. Dass nämlich ein großer Teil des Verhaltens von Dritten wahrgenommen wird, gehört zur Realität des sozialen Miteinander. Es kann schon rein faktisch niemandem verboten werden, Verhalten anderer in der Öffentlichkeit wahrzunehmen. Zudem hat der dadurch bewirkte Druck zu sozialverträglichem Verhalten durchaus seinen sozialen Sinn. Daher muss der Einzelne damit leben, dass sein Verhalten in der Öffentlichkeit Teil der Selbstdarstellung wird, auch wenn es sich um „private“ Verhaltensweisen handelt.189 Um in den Genuss des Rechts der situativen Privatsphäre zu kommen, muss der Einzelne in sozial anerkannter Weise seinen Willen zum Ausdruck bringen, unbeobachtet zu sein. Auch beim Schutz vor einer unerwarteten Kommunikationsteilhabe Dritter stellt das Bundesverfassungsgericht darauf ab, „ob der Sprecher auf Grund der Rahmenbedingungen begründetermaßen erwarten darf, nicht von Dritten gehört zu werden“190. Das Gericht leitet das aus dem Recht am eigenen Wort ab, das es als Selbstbestimmungsrecht über die eigene Darstellung der Person in der Kommunikation mit anderen versteht.191 Wie an anderer Stelle dargelegt, kann eine solche Herleitung aber nicht überzeugen. Es ist weder 187 Rössler,
S. 265. in: Grenzen des Privaten, S. 41 (47). 189 BVerfGE 101, 361 (384 f.). 190 BVerfGE 106, 28 (40). 191 BVerfGE 106, 28 (39). 188 Rössler,
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2. Kap.: Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit
möglich noch normativ wünschenswert, dass der Einzelne über seine Selbstdarstellung bestimmt.192 Dennoch muss das allgemeine Persönlichkeitsrecht insoweit Schutz bieten – als Aspekt der situativen Privatsphäre. Privatheit ist nicht mit Rückzug gleichzusetzen. Privatheit ist vielmehr auch eine Form des Umgangs mit Dritten.193 Auch die geschützten privaten Räume innerhalb und außerhalb der eigenen vier Wände dienen nicht nur dem Alleinsein, sondern auch der unbeobachteten Interaktion mit ausgewählten Dritten. Diese Möglichkeit ist deswegen nötig, weil das Verhalten des Einzelnen je nachdem, von wem es wahrgenommen wird, unterschiedliche Informationen produziert.194 Sind diese Informationen indes einmal in der Welt, sind sie schon faktisch der Kontrolle des Einzelnen entzogen. Daher ist der einzige Punkt, an dem eine solche Informationskontrolle ansetzen kann, gleichsam die Wurzel der Informationen, nämlich das Verhalten des Einzelnen. Kann der Einzelne kontrollieren, wer das Verhalten wahrnimmt, wer das Gesagte zur Kenntnis nimmt, hat er daher zumindest eine gewisse Kontrolle darüber, welche Informationen das Verhalten produziert und wie sich diese auf seine Selbstdarstellung auswirken. Damit kann er nicht über seine Selbstdarstellung bestimmen, da er möglicherweise über das Vorwissen oder die Absichten des Gegenübers irrt oder sogar bewusst getäuscht wird, sodass letztlich doch ein ganz anderer als der erwartete Informationsgehalt entsteht und womöglich weitergetragen wird. Wenn er aber entscheiden kann, an wen sich eine Kommunikation richtet, ermöglicht ihm das die Selbstverantwortung seiner Selbstdarstellung. Es ist an ihm, Kommunikationspartner auszuwählen, bei denen er den Informationsgehalt seines Verhaltens absehen kann.195 Wenn allerdings eine vermeintlich an einen beschränkten Personenkreis gerichtete Kommunikation von Dritten belauscht wird, kann er die Verantwortung für den Informationsgehalt seines Verhaltens und damit seiner Selbstdarstellung nicht mehr wahrnehmen. Daher gewährt das allgemeine Persönlichkeitsrecht analog zum Schutz vor visueller Beobachtung auch einen Schutz vor dem unerwarteten, nicht sozialadäquaten „Belauschen“ Dritter, wenn der Grundrechtsträger eine Äußerung in sozial verständlicher Weise nur an bestimmte Dritte adressiert hat.
192 Siehe
F. I. in: Privacy Online, S. 47 (50); MKS – Gusy, Art. 10 Rn. 15; Rössler,
193 Debatin,
S. 234 ff. 194 Siehe A. II. 195 Zu Pathologien bei dieser Auswahl siehe G. III.
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b) Rechtlich konstituierte Privatsphärerechte Das Abstellen auf eine in sozialen Konventionen „vorgefundene“ Privatsphäre, die sich in diesen Elementen der situativen Privatsphäre gezeigt hat und die auch der EGMR unter dem Stichwort „reasonable expectation of privacy test“ praktiziert,196 hat zwei Nachteile. Erstens führt eine Veränderung dieser Konventionen zu einer Veränderung des rechtlichen Verständnisses von Privatsphäre. Das kann zu einem Schrumpfen der Privatsphäre führen, wenn Menschen innerhalb rechtlicher Grauzonen so an Beobachtung gewöhnt werden, dass sie in immer größerem Umfang als sozialadäquat gilt. Eine solche an sich sinnvolle Anpassung des Rechts an soziale Gegebenheiten wird zum Problem, wenn die verbleibenden privaten Situationen nicht mehr genügen, um Autonomie und erfolgreiche Selbstdarstellung zu sichern. Das Recht kann seine freiheitswahrende Funktion nicht mehr erfüllen, wenn es in dieser Weise einer normativen Kraft des Faktischen unterliegt. Zweitens ist sie in den Bereichen ungeeignet, die so neu sind, dass sich noch keine Konventionen etablieren konnten. Auch in virtuellen Räumen kann es einen Bedarf nach situativer Privatsphäre geben, weil diese Räume einerseits eine immer größere Bedeutung für die Persönlichkeitsentfaltung gewinnen und andererseits eine Beobachtung leichter und für den Betroffenen weniger erkennbar ist als im physisch-realen Raum. Welche Privatheitserwartungen der Einzelne in diesen Räumen begründeterweise haben kann, ist aber gerade die Frage, die es zu beantworten gilt. In diesen Bereichen bekommt zudem der zuerst genannte Nachteil eine besondere Bedeutung: Akteure, die ein Interesse an einer möglichst umfassenden Beobachtung haben, können dazu beitragen, dass sich erst gar keine Privatsphärekonventionen etablieren, indem sie die Nutzer von vornherein an die Beobachtung gewöhnen. Um den Zweck des situativen Privatsphäreschutzes zu erfüllen, genügt das Abstellen auf soziale Konventionen daher nicht. Aus dem Zweck selbst ergibt sich allerdings auch nicht, welche Situationen privat sind, sondern nur, dass es private Situationen geben muss. Daher muss das Recht selbst den Umfang der situativen Privatsphäre definieren. Damit kann es zugleich zu einer Gewissheit beitragen, welche Sphären privat sind und welche nicht. Einer solchen Verbindlichkeit bedarf die situative Privatsphäre ebenso wie die thematische. Schon wenn der Grundrechtsträger eine Einsichtnahme Dritter in seine Privatsphäre befürchten muss, ist sein Verhalten nicht mehr unbefangen. Solche rechtlich begründeten situativen Privatsphärerechte enthält 196 EGMR,
Urteil vom 26.07.2007 – No. 64209/01, Peev/Bulgarien, § 38 m. w. N.
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2. Kap.: Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit
das Grundgesetz in Art. 10 und 13 GG. Art. 13 GG schützt den „räumlichen“ Aspekt situativer Privatsphäre in einer gleichsam physisch nachvollziehbaren Weise. Art. 10 GG schafft einen rechtlichen Ausgleich dafür, dass Fernkommunikation faktisch nicht mehr privat ist, da ein Dritter in der Übermittlung der Kommunikation eingeschaltet ist.197 Hier ist ein Schutz also nötig, um die ansonsten prekäre vertrauliche Kommunikation auf Distanz überhaupt zu ermöglichen. Das einfache Recht enthält insbesondere in §§ 201 ff. StGB Vorschriften zum Schutz der Privatsphäre, nicht nur der situativen, die zugleich den Umfang der Privatsphäre verbindlich definieren. Beim Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme handelt es sich um ein richterrechtlich konstituiertes situatives Privatsphärerecht.198 Es definiert eigene informationstechnische Systeme als private Sphären. Zur Begründung führt das Bundesverfassungsgericht zweierlei an: einerseits die hohe Bedeutung der Nutzung informationstechnischer Systeme für die Persönlichkeitsentfaltung, andererseits die Gefährdungen, denen diese Systeme ausgesetzt sind und die der Nutzer nicht wirksam selbst bekämpfen kann.199 Diese beiden Voraussetzungen sind verallgemeinerungsfähig für die Schaffung neuer Privatsphärerechte. Wie eingangs dargelegt, haben thematische und situative Privatsphäre teilweise überschneidende Zwecke. Auch der situative Privatsphäreschutz dient unter anderem dem Schutz der Selbstdarstellung vor Informationen, die diese beeinträchtigen könnten, und ermöglicht daher Handlungen, vor denen der Einzelne ohne einen Schutz vor Beobachtung zurückschrecken würde. Dabei gewährt der situative Privatsphäreschutz dem Einzelnen noch mehr Freiheit als der thematische. Denn der thematische Schutz ist auf Sachbereiche beschränkt, die nach gesellschaftlicher Konvention „typischerweise“ als privat gelten. Für individuelle Privatheitsbedürfnisse ist kein Raum, soll das Recht nicht zu einem umfassenden Informationsbestimmungsrecht ausarten. Der situative Privatsphäreschutz gibt dem Einzelnen die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, welches Verhalten er unter den Augen der Öffentlichkeit ausüben möchte und welches er nur unter dem Schutz der Privatsphäre ausübt. 3. Eingriff und Schutzdimensionen Wurde das situative Privatsphärerecht rechtlich geschaffen, sei es durch Gesetz oder durch Richterrecht, lässt sich dieser rechtlichen Vorgabe auch entnehmen, wann ein Eingriff vorliegt. Für das Grundrecht auf GewährleisGusy, Art. 10 Rn. 18 f. in: Linien des Rechtsprechung, S. 99 (119). 199 BVerfGE 120, 274 (303 ff.). 197 MKS – 198 Bäcker,
G. Das Recht auf Privatsphäre99
tung der Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme etwa definiert das Bundesverfassungsgericht die Durchbrechung der Vertraulichkeit der Daten sowie das Antasten der Integrität des Systems als Eingriffe.200 Beim durch Konventionen definierten situativen Privatsphärerecht bestimmen diese Konventionen auch, wann ein Eingriff vorliegt. Eingriff ist dann eine nicht sozialadäquate Beobachtung. Wer sich auf eine einsame Waldlichtung zurückgezogen hat, genießt keinen Schutz vor den Blicken des zufällig vorbeikommenden Spaziergängers, wohl aber vor denen des durch ein Fernglas blickenden Klatschreporters. Im Unterschied zum Schutz der thematischen Privatsphäre geht es bei der situativen Privatsphäre nicht unmittelbar um den Schutz von bzw. vor Informationen, sondern um die Integrität vertraulicher Situationen. Allerdings wirkt der Schutz der situativen Privatsphäre gleichsam fort in Bezug auf die Informationen, die durch einen Eingriff in ein situatives Privatsphärerecht erlangt wurden. Das ist insbesondere für Art. 10 GG anerkannt,201 der insofern eine „datenschutzrechtliche Dimension“202 hat. Daher müssen Daten, die aus Eingriffen in Art. 10 GG stammen, als solche gekennzeichnet und einer grundsätzlichen Zweckbindung unterworfen werden.203 Ebenso wie der thematische Privatsphäreschutz gilt auch der situative sowohl dem Staat als auch, über die Schutzfunktion, Privaten gegenüber. Die Vorstellung von absolut geschützten „Bereichen“ fällt bei der situativen Privatsphäre noch leichter als bei der thematischen. Der Grundrechtsträger soll sich keinerlei Gedanken machen müssen, ob das Verhalten in den geschützten Situationen durch wen und mit welchen Verhaltenserwartungen beobachtet wird. Er soll sich vielmehr darauf verlassen können, dass nur diejenigen Personen Informationen erlangen, die er in seine Privatsphäre eingelassen hat.
III. Weitere Ausprägungen des Privatsphäreschutzes Das Recht der Privatsphäre ist über die räumliche und die situative Privatsphäre hinaus offen für weitere Ausprägungen. So wird beispielsweise die zielgerichtete und systematische Observation einer Person im öffentlichen Raum grundsätzlich nicht vom Schutz der situativen oder thematischen Privatsphäre erfasst, obwohl sie in ganz erheblicher Weise die Unbefangenheit des Verhaltens beeinträchtigen kann. Im Rahmen des Rechts auf Datenschutz 200 BVerfGE
120, 274 (314). 85, 386 (399); BVerfGE 100, 313 (359). 202 MKS – Gusy, Art. 10 Rn. 37. 203 BVerfGE 100, 313 (360 f.). 201 BVerfGE
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2. Kap.: Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit
gibt es einen Schutz vor Überwachung.204 Einen vergleichbaren Schutz muss es auch vor systematischen Informationserhebungen über eine bestimmte Person geben, die nicht mit einer Datenverarbeitung verbunden sind. Auch die Informationserhebung durch Verdeckte Ermittler und V-Leute berührt als solche weder die thematische noch die situative Privatsphäre. Sie beeinträchtigt die Privatsphäre vor allem in ihrer sozialen Komponente, da sie das Vertrauen in private Beziehungen untergräbt.205 Auch hier liegt regelmäßig eine systematische Informationserhebung vor, die Persönlichkeitsbeeinträchtigung geht aber noch über eine bloße Beobachtung hinaus. Das Bundesverfassungsgericht nimmt einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung an, wenn eine staatliche Stelle „ein schutzwürdiges Vertrauen des Betroffenen in die Identität und die Motivation seines Kommunikationspartners ausnutzt, um persönliche Daten zu erheben, die sie ansonsten nicht erhalten würde“206. Dieser Gedanke gilt, auch wenn die Aussage im Zusammenhang mit der Internetaufklärung fiel, auch in der „analogen“ Welt. Er kann Grundlage für ein Recht auf Privatheit von Beziehungen sein.207 Das Recht auf Privatsphäre schützt hingegen keine „privaten“ Handlungen, diese unterfallen ausschließlich der allgemeinen Handlungsfreiheit.208 Insofern ist das deutsche Recht auf Privatsphäre anders zu verstehen als das right to privacy in der Rechtsprechung des US Supreme Court.209 Denn alle Handlungen, private und andere, werden durch die allgemeine Handlungsfreiheit geschützt. Für einen Schutz durch das Recht auf Privatsphäre gibt es keinen Bedarf. Es ist sogar fraglich, ob die „Privatheit“ einer Handlung für eine stärkere Gewichtung des Schutzes in der Verhältnismäßigkeit spricht. Denn, wie dargelegt, gelten solche Bereiche als privat, die nicht schon gleichsam von Natur aus Berührung zur Öffentlichkeit aufweisen.210 Verhalten in solchen sachlich und / oder räumlich privaten Bereichen kollidiert dementsprechend seltener mit den Interessen Dritter. Auch das Bundesverfassungsgericht bestimmt in seiner traditionellen Sphärentheorie die Privatheit eines Sachverhalts nach seiner Berührung mit den Sphären Dritter. Intim ist, vereinfacht gesagt, was 204 Siehe
3 Abschnitt C. diesen bereits G. I. 3. b). 206 BVerfGE 120, 274 (345); zu den Folgerungen des Bundesverfassungsgerichts im konkreten Fall T. II. 3. 207 Mit interessanten Ansätzen hierzu Dencker, in: FS Dünnebier, S. 453 (455 f.). 208 Vgl. schon E. II. 209 Vgl. Roe v. Wade, 410 U.S. 113 (1973). 210 Siehe F. I. 2. 205 Zu
G. Das Recht auf Privatsphäre101
nicht mit überwiegenden Interessen Dritter kollidieren kann;211 je mehr die Abwägung zugunsten der Interessen Dritter oder der Allgemeinheit ausschlägt, desto mehr tendiert der Sachverhalt zur Öffentlichkeitssphäre.212 Insofern wird die Interessenabwägung in den Schutzbereich vorgezogen. Eine solche Methode ist brauchbar, wenn es darum geht zu bestimmen, wo überhaupt Integritätsschutz gewährt werden kann, ohne den öffentlichen Informationsfluss übermäßig zu belasten. Beim Aktivitätsschutz würde sie dazu führen, dass ein vermeintlicher, im konkreten Fall aber gerade nicht bestehender Mangel an kollidierenden Interessen berücksichtigt wird. Der Umgang mit dem eigenen Körper etwa berührt in der Regel keine Dritten und wird deswegen als privat empfunden. Wenn nun aber, wie etwa bei der Entscheidung über einen Schwangerschaftsabbruch, doch kollidierende Interessen Dritter, nämlich des ungeborenen Kindes, betroffen werden, liegt gerade eine Ausnahme vor. Dann kommt es doch zu einer Interessenabwägung. In dieser kann es der Schwangeren nicht zugute kommen, dass in der Regel Entscheidungen über den eigenen Körper keine Dritten betreffen. Regelmäßig darf der Staat nicht gegen Handlungen im Bereich der Privatsphäre vorgehen, weil es an überwiegenden öffentlichen oder privaten Interessen fehlt, die einen solchen Eingriff rechtfertigen. Dieser Grundsatz ist aber eher empirischer als normativer Natur. Ob er im konkreten Fall zutrifft, ist allein eine Frage der Verhältnismäßigkeitsprüfung.213
IV. Zusammenfassung Der Schutz der Privatsphäre hat eine thematische und eine situative Ausprägung, daneben besteht die Möglichkeit und Notwendigkeit, weitere Ausprägungen anzuerkennen. Das Recht der thematischen Privatsphäre schützt davor, dass schon die berechtigte Sorge davor, über das Verhalten entstehende Informationen könnten in Zukunft die Selbstdarstellung beeinträchtigen, dem Einzelnen seine faktische Handlungsfreiheit nimmt. Insofern schützt es vor einem Herausdringen von Informationen aus Kommunikationsbeziehungen, anders als das Recht der Selbstdarstellung, das vor einem Eindringen schützt. Privat in diesem Sinne ist, was nach gesellschaftlichen Konventionen mit einem Tabu belegt ist, sodass die Furcht vor einem Bekanntwerden der Information den Einzelnen in seiner Handlungsfreiheit beeinträchtigen kann. Das Grundrecht schützt vor jeder Form staatlichen Umgangs mit privaten Informationen. Eine Schutzpflicht bezüglich der Weitergabe privater Informatio211 Alexy,
S. 327 f.; MD – Di Fabio, Art. 2 Abs. 1 Rn. 162. in: HStR VII, § 149 Rn. 34. 213 Ähnlich Kube, in: HStR VII, § 148 Rn. 131. 212 Horn,
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2. Kap.: Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit
nen durch Private gibt es hingegen nur unter Berücksichtigung des Interaktionsprozesses, in dem solche Informationen entstehen und geteilt werden. Das Recht auf situative Privatsphäre soll dem Einzelnen Situationen schaffen, in denen er sich ohne Darstellungszwänge frei verhalten kann. Es greift, wenn der Einzelne in sozial anerkannter Weise seinen Willen zum Ausdruck bringt, unbeobachtet zu sein, beziehungsweise eine Kommunikation nur an bestimmte Dritte adressiert. Durch den Schutz der Privatsphäre kann er den Informationsgehalt seines Verhaltens absehen und so seine Selbstdarstellung selbst verantworten. Um einen rechtlichen Schutz auch zu gewährleisten, wo soziale Konventionen zum Schutz der Privatheit nicht genügen, werden zudem bestimmte Situationen durch das Recht als privat definiert.
3. Kapitel
Das Recht auf Datenschutz H. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht als „Wegweiser“ für eine Rekonzeption des grundrechtlichen Datenschutzes Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wird, wenn es nicht als eigene Kategorie behandelt wird, unter den beschriebenen Strängen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts dem Recht der Selbstdarstellung zugeordnet.1 Das ist indes nur bedingt richtig. Denn die Begründung, auf die das Bundesverfassungsgericht das Recht stützt, zeigt eher Parallelen zum Recht der Privatsphäre. So geht es um die Befürchtung, das Verhalten des Einzelnen könnte „durch den psychischen Druck öffentlicher Anteilnahme“2 beeinflusst werden. Beispiel ist die Möglichkeit, dass Grundrechtsträger von politischem Engagement Abstand nehmen, wenn dieses registriert wird. In ähnlicher Weise zielt auch der Schutz der Privatsphäre darauf ab zu verhindern, dass der Einzelne aus Sorge vor der Kenntniserlangung Dritter von grundrechtlich geschützten Verhaltensweisen Abstand nimmt. Zu diesem Zweck verhindert das Recht, dass private Informationen aus den Kommunikationsbeziehungen herausdringen, in denen sie entstehen.3 Das Recht der Selbstdarstellung schützt im Gegensatz dazu vor dem Eindringen von Informationen in Kommunikationsbeziehungen.4 Auch dieser Aspekt findet sich in der Begründung des Bundesverfassungsgerichts zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung, wenn es mit der Notwendigkeit argumentiert, das Wissen möglicher Kommunikationspartner abzuschätzen.5 Inwieweit eine diesbezügliche Unsicherheit einen Grundrechtsträger in seiner Freiheit hemmt, aus eigener Selbstbestimmung zu planen oder zu entscheiden,6 1 Britz, S. 66; MD – Di Fabio, Art. 2 Abs. 1 Rn. 166, 173 ff. (erkennbar an den Gliederungsebenen); Kingreen/Poscher, Rn. 449; Schmitt Glaeser, in: HStR VI, § 129 Rn. 31. 2 BVerfGE 65, 1 (42). 3 BVerfGE 101, 361 (382); dazu oben F. II. 1. a). 4 Siehe F. II. 1. a). 5 BVerfGE 65, 1 (43). 6 Vgl. BVerfGE 65, 1 (43).
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3. Kap.: Das Recht auf Datenschutz
wird indes nicht näher ausgeführt; es scheint, dass das Gericht das Beispiel der Verhaltensabschreckungen auf diese Aussage beziehen möchte. Dabei macht es durchaus einen Unterschied, welche Bedrohungen der Datenverarbeitung man als ausschlaggebend für den grundrechtlichen Schutz betrachtet. Die Verhaltensabschreckung entsteht dadurch, dass der Einzelne weiß – oder befürchtet –, dass sein gegenwärtiges Verhalten aufgezeichnet wird. Das Wissen über das Wissen der Kommunikationspartner geht durch einen bestimmten Umgang mit bereits verdateten Informationen verloren, wenn diese nämlich unkontrolliert weitergegeben werden und so auf zukünftige Kommunikationsbeziehungen Einfluss nehmen. Je nachdem, welche Bedrohungen durch den Grundrechtsschutz bekämpft werden sollen, muss daher an unterschiedlichen Stufen der Datenverarbeitung angesetzt werden. Das Bundesverfassungsgericht verhindert solche Differenzierungen durch seinen Rundumschlag: Die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen, umfasst jedes Stadium der Datenverarbeitung. Den Selbstbestimmungsgedanken entnimmt das Gericht der damaligen Dogmatik zum Recht der Selbstdarstellung, das es zu diesem Zeitpunkt noch im Sinne der EpplerEntscheidung als Recht des Einzelnen beschrieb, darüber zu entscheiden, wie er sich Dritten oder der Öffentlichkeit gegenüber darstellen will.7 Diese Dogmatik hat sich seitdem, wie dargestellt, weiterentwickelt. Das Recht der Selbstdarstellung wurde zwischenzeitlich auf einen Schutz vor bestimmten Informationshandlungen beschränkt, die das Prinzip der Selbstverantwortung der Selbstdarstellung berühren.8 Das Recht der Privatsphäre wurde darauf bezogen präzisiert.9 Das Recht der informationellen Selbstbestimmung ist hingegen in der Dogmatik von 1983 stehengeblieben. Dabei könnte die Entwicklung, die das allgemeine Persönlichkeitsrecht seitdem genommen hat, den Weg für die Fortentwicklung des grundrechtlichen Datenschutzes weisen. Zu Recht hat das Bundesverfassungsgericht diesen im allgemeinen Persönlichkeitsrecht verortet. Aus den dargelegten Begründungen für die Rechte auf Privatsphäre und Selbstdarstellung lässt sich – unter Berücksichtigung der notwendigen Modifikationen – auch erklären, warum die automatisierte Datenverarbeitung das allgemeine Persönlichkeitsrecht berührt. Daraus ergibt sich wiederum die Reichweite dieses Grundrechtsschutzes. Ebenso wie das Recht der Selbstdarstellung auf den Schutz vor Gefährdungen der freien Persönlichkeitsentfaltung beschränkt wurde, kann dies auch beim Datenschutz geschehen. 7 Vgl.
der Verweis in BVerfGE 65, 1 (42) auf BVerfGE 54, 148 (155). F. I. 1. a) und 2. 9 Siehe F. II. 1. b) und 2. b) aa). 8 Siehe
J. Selbstdarstellungskomponente: Der Schutz vor Profilbildung105
Daher soll nun aus der Rechtsprechung zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht ein Recht auf Datenschutz entwickelt werden. Da die Theorie der informationellen Selbstbestimmung nach hier vertretener Auffassung nicht überzeugen kann, soll auch nicht von einem Recht auf informationelle Selbstbestimmung gesprochen werden. Der Begriff „Datenschutz“ ist offen für eine andere Konzeption. Natürlich geht es nicht um einen Schutz von oder vor Daten, es geht – das ergibt sich aus der Herleitung aus Art. 2 Abs. 1 GG – um den Schutz der freien Persönlichkeitsentfaltung. Doch „Datenschutz“ ist der geläufige Begriff, um die mit der automatisierten Datenverarbeitung verbundenen Probleme zu bezeichnen. Daher soll er hier trotz dieser gewissen Missverständlichkeit Verwendung finden. Zunächst soll im Folgenden der Inhalt dieses Rechts dargestellt werden. Eine Trennung zwischen Schutzbereich und Eingriff erfolgt bewusst nicht. Wie die anderen Fallgruppen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts10 definiert sich das Recht auf Datenschutz letztlich durch die Eingriffe, vor denen es schützt. Dabei ist streng zwischen den beiden Gedankengängen zu differenzieren, die ein Recht auf Datenschutz, jeweils in einem unterschiedlichen Umfang, begründen. Begonnen wird, wie zuvor bei der Darstellung der traditionellen Elemente des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, mit der Selbstdarstellungskomponente, um dann zur Privatsphärekomponente überzugehen. Im Anschluss soll dargelegt werden, welches Gewicht das Recht auf Datenschutz im Einzelfall bei der Abwägung mit kollidierenden Interessen bei staatlichen und privaten Datenverarbeitungen hat. Oben wurde kritisiert, dass das Recht auf informationelle Selbstbestimmung keine Kriterien für eine solche Abwägung bereithält.11 Diese Kriterien sollen daher für die hier vorgeschlagene Konzeption aufgezeigt werden.
J. Selbstdarstellungskomponente: Der Schutz vor Profilbildung I. Der Grund des Schutzes 1. Die „Vergegenbildlichung“ des Alltags als Hemmnis für die Persönlichkeitsentfaltung Bereits an anderer Stelle wurde die Identitätstheorie von Mead vorgestellt.12 Die Informationen, die der Einzelne durch seine Handlungen produziert, hinterlassen bei Dritten auch für die Zukunft einen Eindruck und prägen 10 Siehe
E. II. 2. B. I. 2. 12 Siehe E. I. 2. und 3. 11 Siehe
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3. Kap.: Das Recht auf Datenschutz
so sein „ICH“, die gesellschaftlichen Haltungen ihm gegenüber. Als „Ich“ kann er auf diese Haltungen reagieren und so wiederum sein „ICH“ beeinflussen. Insofern beeinflussen vergangene Handlungen immer auch das gegenwärtige Bild, das sich Dritte vom Einzelnen machen, und damit auch seine Handlungsoptionen, will er nicht die daraus folgenden Erwartungen brechen. Diese Beschränkungen durch die „Gegenbilder“13 der eigenen Person, die einem entgegengehalten werden, sind also ein ganz natürliches Element der Identitätsbildung. Das Bild, das sich ein Dritter vom Einzelnen machen kann, ist natürlicherweise ‒ abhängig vom jeweiligen sozialen Kontext ‒ mehr oder weniger beschränkt. Wie zuvor schon anklang, ist in einer engen persönlichen Beziehung wie einer Freundschaft oder gar einer Ehe dieses Bild sehr umfassend. Es ist aber ohnehin so differenziert, dass es neue Informationen leicht integrieren kann. In anderen Beziehungen – Verkäufer und Kunde, Studierender und Dozent, Vorgesetzter und Mitarbeiter – sind diese Gegenbilder weniger ausgeprägt. Die Verhaltenserwartungen speisen sich hier vor allem aus den allgemeinen sozialen Konventionen, die der Einzelne in seiner individuellen Weise ausfüllen kann. Durch diese Abweichungen hat der Einzelne die Möglichkeit, seine individuelle Selbstdarstellung zu beeinflussen.14 In jedem Fall hat der Einzelne die Freiheit, sich zugleich situationsangemessen und individuell zu verhalten. Diese Möglichkeit, individuell auf Verhaltenserwartungen zu reagieren und so die eigene Selbstdarstellung weiterzuentwickeln, wird durch die Datenverarbeitung beeinträchtigt. Denn sie ermöglicht umfassende Gegenbilder auch in wenig persönlichen und normalerweise sehr formalisierten Beziehungen. Wer über Daten verfügt, die sein Gegenüber betreffen, kann sich anhand dieser Daten ein Bild von ihm machen. Dadurch kann der Einzelne ständig mit der persönlichen Identität konfrontiert werden, die sich durch sein bisheriges Verhalten entwickelt hat. Das ist besonders für stigmatisierbare Personen problematisch, die ständig damit rechnen müssen, nach ihrem Stigma beurteilt zu werden. Doch auch abgesehen davon sieht sich der Einzelne über Kontexte und Zeiträume hinweg immer wieder nach seinen vergangenen Handlungen betrachtet und behandelt. Verfügt die verarbeitende Stelle über sehr viele Daten, kann sie sich einen abgeschlossenen Eindruck machen, ohne den Betroffenen zu beteiligen und ohne dass er dagegen ankommt. Hat ein Interaktionspartner sich vermeintlich umfassend über ihn informiert, kommt der Einzelne kaum noch gegen das vorgefertigte Bild von seiner Person an.15 Das wirkt sich auch auf die 13 Nettesheim,
in: VVDStRL 70 (2011), S. 7 (34). S. 66. 15 Britz, S. 52. 14 Luhmann,
J. Selbstdarstellungskomponente: Der Schutz vor Profilbildung107
Identität in der „inneren“ Perspektive des Betroffenen selbst aus. Da jeder sich selbst in den Reaktionen der anderen wahrnimmt, prägt dieses festgeschriebene Bild auch sein Selbstbild. Die Identitätsbildung, die eigentlich ein nie abgeschlossener Prozess ist, wird so in ihrer Entwicklung gehemmt und auf einem Stand festgeschrieben.16 Das kann letztlich zu einer Resignation des Betroffenen im Hinblick auf seine Identität führen: Wenn er ständig mit vorgefertigten Erwartungen Dritter konfrontiert wird, verliert er die Hoffnung, einen eigenen Einfluss auf die Identitätserwartungen der Umwelt zu haben, und damit den Anreiz, sich mit neuen Identitätsoptionen auseinanderzusetzen.17 Damit kommt der Effekt der automatisierten Datenverarbeitung einer Stigmatisierung nahe. Bei dieser führt eine einzelne Information dazu, dass der Einzelne mit seinen individuellen Eigenschaften nicht mehr „durchdringen“ kann, da eine einzelne negativ konnotierte Eigenschaft aus Sicht der Umwelt alle anderen überlagert.18 Die archivierten Daten in ihrer Summe zeichnen zwar ein komplexeres Bild vom Einzelnen. Sie lassen aber ebenso wenig Raum für den Einzelnen, davon mit seiner individuellen Selbstdarstellung abzuweichen. Durch die automatisierte Datenverarbeitung können auch scheinbar „unproblematische“ Verwendungen von Daten Persönlichkeitsrelevanz entfalten, beispielsweise die personalisierte Gestaltung von Webseiten, einschließlich des Platzierens personalisierter Werbung. Denn wenn dieser ein möglichst vollständiges Profil des Einzelnen zugrunde liegt, ist sie zugleich eine Reaktion auf seine Selbstdarstellung. Damit kann auch solch eine recht banale Verwendung den Prozess der Entwicklung der eigenen Identität blockieren, hemmen und womöglich manipulieren. Denn die Identität definiert sich durch das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft, durch die Weise, wie er gesellschaftliche Verhaltenserwartungen erfüllt, dehnt oder bricht. Damit er sich zur Gesellschaft positionieren kann, muss er ein realistisches Bild von dieser Gesellschaft und der gesellschaftlichen Reaktion auf seine eigene Identitätsgestaltung entwickeln. Die Personalisierung von Webseiten führt aber dazu, dass der Nutzer die Welt so wahrnimmt, wie sie ihm genehm ist. Denn aus wirtschaftlichen Gründen wollen die Betreiber der Seiten die Besucher zufriedenstellen und vermitteln dem einzelnen Nutzer deswegen Informationen, die sich in sein Bild der Gesellschaft einfügen. Die gesellschaftlichen Folgen für den Meinungsdiskurs werden rege diskutiert.19 Zugleich ist die Personalisierung der Webseiten ein Teil der „Verge16 Britz,
S. 57 f.; Mallmann, S. 49 f.; vgl. auch D. IV. S. 39 f. 18 Siehe F. I. 2. 19 Grundlegend Pariser, Filter Bubble. 17 Britz,
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3. Kap.: Das Recht auf Datenschutz
genbildlichung des Alltags“. Personalisierte Webseiten sind, auch wenn sie so erscheinen mögen, keine Zeitung, die für jedermann gleich ist, vielmehr reagieren die Algorithmen auf das Verhalten des Einzelnen. Wer etwa aufgrund vorheriger Aufrufe von Internetseiten und eigener Beiträge vermehrt xenophobe Äußerungen Dritter präsentiert bekommt, wird fälschlicherweise den Eindruck bekommen, mit seiner Einstellung, die Teil seiner Identität ist, Teil einer gesellschaftlichen Mehrheit zu sein. Ohne dass der Betroffene es mitbekommt, „spiegelt“ sich sein Verhalten in der „Reaktion“ der Webseite. Auch eine solche permanente Bestätigung kann den Einzelnen daran hindern, andere Identitätsoptionen zu erwägen. 2. Die „Regie“ über die Entwicklung der Gegenbilder Nach Mallmann sind die Konsequenzen noch gravierender, wenn der Einzelne durch das Gegenbild falsch dargestellt wird.20 Das kann natürlich der Fall sein, wenn die Daten selbst falsche Tatsacheninformationen enthalten. Hiervor schützt allerdings schon das „herkömmliche“ Recht der Selbstdarstellung.21 Doch auch wenn die verfügbaren Daten keine falschen Tatsacheninformationen enthalten, können sie einen verzerrten Eindruck vom Betroffenen vermitteln. Je nachdem, welche Daten vorhanden sind und im konkreten Fall abgerufen werden, können einzelne Informationen überbetont und andere außer Acht gelassen werden. Das Bild, das dadurch vom Betroffenen entsteht, ist nicht „falsch“, da Selbstdarstellung immer eine Selektion von Informationen beinhaltet.22 Anders als es der Begriff der Selbstdarstellung suggeriert, findet dieser Prozess bei den Interaktionspartnern des Einzelnen durch Interpretation des Verhaltens mit Hilfe gesellschaftlicher Erwartungs- und Interpretationsstrukturen statt. Dadurch entsteht bei jedem Gegenüber ein anderes Bild, das jeweils für sich „richtig“ ist. Grundsätzlich muss der Einzelne daher nicht nur damit leben, dass er überhaupt Gegenbildern ausgesetzt ist, sondern auch damit, dass sie dem Bild widersprechen, das er von sich hat und das er vermitteln möchte.23 Sie sind dem Einzelnen selbst zuzurechnen, da er sie durch seine Handlungen selbst geprägt hat. Die Generierung eines Gesamtbildes vom Einzelnen mit Hilfe der automatisierten Datenverarbeitung folgt jedoch einer anderen Logik als der Prozess sozialer Identifikation zwischen Menschen. Letzterer ist ein allmählicher gegenseitiger Prozess aus Reaktion und Gegenreaktion, aus Erwartungen und Erfüllung bzw. Verletzung dieser Erwartungen, an dem der Einzelne selbst 20 Mallmann,
S. 51. F. I. 2. 22 Luhmann, S. 67. 23 BVerfGE 97, 125 (149); 101, 361 (380); dazu ausführlich F. I. 1. 21 Siehe
J. Selbstdarstellungskomponente: Der Schutz vor Profilbildung109
einen Anteil hat.24 Zudem prägen manche Informationen das Bild des Dritten nachhaltig, andere Verhaltensweisen entfalten überhaupt keinen Informationsgehalt oder geraten schnell in Vergessenheit. Inwieweit das Verhalten die Selbstdarstellung prägt, kann der Einzelne absehen und sein Verhalten entsprechend ausrichten. Im Wege der Datenverarbeitung kann dagegen eine große Zahl von Informationen festgeschrieben werden, die gleichwertig nebeneinanderstehen und nicht dem Vergessen unterliegen. Sie stehen zur Verfügung des Abrufenden, der sich mit Hilfe von Algorithmen nach seinem jeweiligen Informationsinteresse Verhaltensweisen „herauspicken“ lassen kann. Diese Form der Identitätsbildung kommt gänzlich ohne den Betroffenen aus. Die „Regie der Selbstdarstellung“25, die der Einzelne sonst durch seine Handlungen ausüben kann, geht dadurch auf den Abrufenden und seine Algorithmen über. Gerade weil der Einzelne von anderen und letztlich von sich selbst nach dem Bild beurteilt wird, das andere sich von ihm machen, braucht er einen eigenen Anteil am Prozess der Identitätsbildung, um seine Identität selbst verantworten zu können. Deswegen beeinträchtigt es das allgemeine Persönlichkeitsrecht, wenn ein Dritter sich mit Hilfe der automatisierten Datenverarbeitung ein Bild vom Einzelnen macht. 3. Die Möglichkeit der Anreicherung von Daten mit „Vorwissen“ Eine noch größere Gefahr für die freie Persönlichkeitsentfaltung des Betroffenen liegt in der Möglichkeit, durch Verknüpfung von persönlichen Daten miteinander oder mit nicht persönlichen Daten neue Informationen zu generieren. Denn die automatisierte Datenverarbeitung ermöglicht es, den Daten Informationen zu entnehmen, die durch menschliche Interpretation nicht ersichtlich werden. Das ist insbesondere ein Problem, wenn durch den Vergleich mit bestimmten oder unbestimmten Dritten eine Prognose über das zukünftige Verhalten des Betroffenen erstellt wird. Durch statistische Auswertungen persönlicher Daten kann nicht personenbezogenes „Vorwissen“ generiert werden, anhand dessen wiederum der Betroffene bewertet wird. Datenverarbeitungssysteme sind in der Lage, viel mehr solcher Informationen vorzuhalten und zu verarbeiten, als ein Mensch das könnte. Das kann genutzt werden, um aus scheinbar banalen Daten auf sein zukünftiges Verhalten zu schließen. Ein Beispiel dafür ist die Adresse des Einzelnen. Es handelt sich um ein personenbezogenes Datum, das aber scheinbar wenig Aussagegehalt hat. 24 Siehe
E. I. 3. und 4. S. 73 Fn. 54.
25 Luhmann,
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3. Kap.: Das Recht auf Datenschutz
Ohne Zusatzwissen ist die Adresse ein Datum ohne Informationswert über den Betroffenen. Ihre Speicherung und ihre Verwendung etwa durch Unternehmen stellen kein persönlichkeitsrechtliches Problem dar, sie sind vielmehr Selbstverständlichkeiten bei der Vertragsabwicklung, da die Adresse notwendig ist, um den Kunden zu kontaktieren. Das steht freilich im Widerspruch zur öffentlichen Wahrnehmung, in der die Verwendung der Adresse zur Zusendung von Werbematerial als ein gravierendes Datenschutzproblem betrachtet wird. Folgerichtig lässt es sich der europäische Gesetzgeber nicht nehmen, in Art. 19 Abs. 2 DSGVO ein spezielles Widerspruchsrecht hinsichtlich der Verwendung von Daten zu Direktmarketingzwecken vorzusehen. Das lässt sich nur mit solchen Verbraucherschutzgedanken erklären. Unter Datenschutzgesichtspunkten dürfte die Verarbeitung regelmäßig nach der Generalklausel des Art. 6 Abs. 1 lit. f DSGVO zulässig sein, da die Grundrechte und -freiheiten der Betroffenen dem selten entgegenstehen werden. Denn mit dem Schutz von Freiheit, Privatsphäre und Persönlichkeitsentfaltung hat das nichts zu tun. Werbepost, auch in Form des Direktmarketings, beeinträchtigt den Einzelnen nicht bei der freien Entfaltung seiner Persönlichkeit, sie stellt allenfalls eine Belästigung dar. Unter Umständen, namentlich bei besonders exponierten Personen, bedarf die Adresse aus Sicherheitsgründen besonderer Geheimhaltung. Auch das hat aber nichts mit Persönlichkeitsschutz im hier diskutierten Sinne zu tun. Persönlichkeitsrechtlich geschützte Interessen sind hingegen dann betroffen, wenn dieses Datum mit Hilfe entsprechenden „Vorwissens“ interpretiert wird. Mit der Zusatzinformation, dass es sich etwa um die Adresse einer Obdachlosenunterkunft, einer Justizvollzugsanstalt oder eines psychiatrischen Krankenhauses handelt, können diesem Datum sogar hochgradig stigmatisierende Informationen entnommen werden.26 In einem Datenverarbeitungssystem kann zudem für jeden Straßenzug gespeichert werden, ob es sich um eine „gute“ oder „schlechte“ Gegend handelt. Das System kann solche Rückschlüsse sogar selbst ziehen, indem es die Daten analysiert, die über andere Bewohner dieses Viertels gespeichert sind. Solche Verfahren werden etwa für die Beurteilung der Kreditwürdigkeit genutzt, also die Erstellung einer Prognose, ob ein Kunde seinen vertraglichen Pflichten nachkommen wird. Zeigen Statistiken, dass es im Wohnviertel eines Kunden überdurchschnittliche viele Kreditausfälle gegeben hat, so kann sich das negativ auf seinen „Score-Wert“ auswirken. Dieser wird anhand der über den Kunden verfügbaren Daten gebildet und soll den Sachbearbeiter bei der Entscheidung unterstützen, ob und zu welchen Konditionen ein Kredit gewährt wird. Wer in einem „schlechten“ Stadtviertel wohnt, muss die Bank für das vermeintlich höhere Risiko daher 26 Weichert,
in: Living by numbers, S. 133 (139).
J. Selbstdarstellungskomponente: Der Schutz vor Profilbildung111
durch höhere Zinsen entlohnen oder bekommt im schlimmsten Fall gar keinen Kredit.27 Die Verwendung persönlicher Daten in Verbindung mit statistischen Daten gerade im Zusammenhang mit der Entscheidung über Kreditvergabe weist auf ein weiteres Problem hin. Wenn letztlich aus den über die Nachbarn verfügbaren Daten auf den Einzelnen geschlossen wird, beziehen sich die Informationen eigentlich auf diese, genau genommen den „typischen“ Bewohner dieses Wohnviertels. Diese Information wird aber auf den Einzelnen übertragen und soll ihn beschreiben. Letztlich handelt es sich dabei nicht um ein individuelles Urteil, sondern um ein Vorurteil. Die Beurteilung von Menschen anhand von Vorurteilen ist kein Spezifikum der automatisierten Datenverarbeitung, sondern, im Gegenteil, eine höchst menschliche Weise der Beurteilung von Mitmenschen. Auch Menschen beurteilen andere anhand von „Kategorien“, die teils positiv, teils negativ bewertet sind. Diese Kategorienbildung ist geradezu der Inhalt der sozialen Identifikation.28 Datenverarbeitungssysteme sind in der Lage, durch statistische Auswertung eine Vielzahl solcher Vorurteile zu generieren und sie dann auch noch mit dem Nachdruck statistischer „Richtigkeit“ zu versehen. Je mehr Daten verwendet werden, desto eher wird ein menschlicher Entscheider dem Ergebnis der Datenverarbeitung bei der Beurteilung des Einzelnen oder der Prognose über sein Verhalten vertrauen. Zugleich ist dieses Ergebnis dann aber auch präziser und nachvollziehbarer als das menschliche Urteil, das allzu leicht von diffusen, unreflektierten Vorurteilen beeinflusst sein kann. Insofern unterstützt und versachlicht die automatisierte Datenverarbeitung einen Prozess der sozialen Identifikation, der auch sonst ablaufen würde, institutionalisiert auf diese Weise aber gleichsam die Beurteilung eines Kunden als Summe bestimmter „Kategorien“, die dem Individuum nicht gerecht werden muss. Eine solche statische, gruppenbezogene Bewertung, gegen die der Einzelne mit seinen individuellen Eigenschaften nicht ankommt, folgt derselben Struktur wie eine Diskriminierung. Was zuvor schon für die soziologische Kategorie der Stigmatisierung festgestellt wurde, gilt auch für konkrete rechtliche Benachteiligungen: Wer aufgrund eines datenbasierten „Persönlichkeitsbildes“ benachteiligt wird, wird ebenso wenig mit seiner individuellen Identität wahrgenommen wie derjenige, bei dem aus einem einzelnen Merkmal, wie seiner Religion oder seiner ethnischen Zugehörigkeit, Folgerungen gezogen werden.29 Das, was für den Betroffenen als eine Reaktion 27 Weichert,
in: Living by numbers, S. 133 (139). Goffman, S. 10. 29 Britz, S. 57. 28 Vgl.
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3. Kap.: Das Recht auf Datenschutz
auf seine Selbstdarstellung erscheint, ist in Wirklichkeit eine Reaktion auf das Verhalten anderer, aus statistischer Perspektive dem Betroffenen ähnlicher Personen. Durch die Möglichkeit, immer mehr Daten zu speichern und auszuwerten, entwickelt sich die Datenverarbeitungstechnik allmählich über dieses „Kategoriendenken“ hinaus und wird in Zukunft immer mehr in der Lage sein, Aussagen und Prognosen in Bezug auf einzelne Personen zu treffen.30 Das mindert die gerade beschriebene Problematik. Die Aussagen, beispielsweise über die Kreditwürdigkeit einer Person, werden „richtiger“ in dem Sinne, dass sie mehr auf diese bezogene Informationen berücksichtigen und damit präziser auf sie zugeschnitten sind. Dadurch erwachsen indes neue persönlichkeitsrechtliche Probleme. Je präziser die Prognosen sind, desto mehr wird sich der Abrufende darauf verlassen. Dabei lassen diese ein entscheidendes Element außer Acht: den freien Willen, die Autonomie des Betroffenen.31 Denn nicht Statistiken entscheiden über sein zukünftiges Verhalten, ob er etwa den Kredit bedient oder nicht, sondern er selbst. Durch die Auswertung großer Datenmengen wird der Betroffene daher mehr als Individuum betrachtet als bei der herkömmlichen Datenverarbeitung, dafür weniger als ein autonomes Wesen. Das Problem verschiebt sich von einem Aspekt der Persönlichkeitsentfaltung auf einen anderen. Gegen den „Eindruck“, den die Algorithmen durch ihre Prognose erwecken, kann der Betroffene kaum ankommen. Aus der Ex-ante-Perspektive lassen sich Prognosen nicht an Kategorien von „richtig“ und „falsch“ messen, insofern kann sich der Betroffene nicht dagegen wehren. Häufig wird er nicht einmal die Möglichkeit haben, im Nachhinein zu zeigen, dass die Prognose falsch war: Bekommt er aufgrund der Prognose gar nicht erst einen Kredit, kann er seine Zuverlässigkeit nicht unter Beweis stellen. So wird das Persönlichkeitsbild, das die Prognose-Algorithmen erzeugt haben, gleichsam endgültig. 4. Staatliche Profilbildung Diese Argumentation zum Schutz vor einer Profilbildung orientiert sich am Verhältnis zwischen den Betroffenen und privaten Datenverarbeitern. Die dabei angeführten Gesichtspunkte sollen nun zu den bei staatlicher Datenverarbeitung auftretenden Problemen abgegrenzt werden. Diese aus grundrechtsdogmatischer Sicht ungewöhnliche Argumentationsreihenfolge wurde aus gutem Grund auch beim allgemeinen Recht der Selbstdarstellung gewählt.32 30 Mayer-Schönberger/Cukier, 31 Mayer-Schönberger/Cukier, 32 Siehe
bereits F. I. 3.
S. 160 f. S. 161.
J. Selbstdarstellungskomponente: Der Schutz vor Profilbildung113
Selbstdarstellung im Luhmannschen Sinne von Identitätsbildung spielt beim Staat keine Rolle, sie findet ausschließlich zwischen Privaten statt. Der Staat hat nach Art. 3 GG gegenüber der individuellen Identität neutral zu sein, sodass Pathologien in der Selbstdarstellung sich nicht auf das staatliche Verhalten dem Einzelnen gegenüber auswirken können. Das ist beim Schutz vor Profilbildung weit differenzierter zu sehen. Denn die soeben beschriebenen Pathologien können in ähnlicher Weise auch das Verhältnis des Einzelnen zum Staat beeinträchtigen. Gegenüber dem Staat erfolgt zwar keine Selbstdarstellung im Sinne Luhmanns. Doch auch hier verlangt Art. 2 Abs. 1 GG unter dem Einfluss von Art. 1 Abs. 1 GG, dass der Einzelne dieses Verhältnis als Subjekt mitgestalten kann. Dafür ist nicht zuletzt die Art und Weise der Informationsgewinnung durch die Behörde entscheidend. Gerade bei staatlichen Ermittlungstätigkeiten werden Informationen nicht schwerpunktmäßig beim Betroffenen selbst erhoben werden. Doch ebenso wie er im Verhältnis zu privaten Interaktionspartnern Subjekt seiner Selbstdarstellung bleiben muss, muss er auch im Verhältnis zum Staat die Möglichkeit haben, sich mit seiner Darstellung in staatliche Verfahren, die ihn betreffen, einzubringen und anderweitigen Darstellungen entgegenzutreten.33 Dafür gibt es Anhörungs- und Beteiligungsrechte, etwa in Art. 103 Abs. 1 GG oder einfach-rechtlich in § 28 Abs. 1 VwVfG oder § 163a Abs. 1 StPO. Wenn aber viele vermeintlich besonders zuverlässige, weil aus eigenen Datenbanken entnommene, Informationen verfügbar sind, kann diese Beteiligung zu einer bloßen Formalie reduziert sein. Hält der Staat – vermeintlich – alle benötigten Informationen über einen Bürger vor, so braucht der Bürger an den ihn betreffenden Verwaltungsverfahren – ebenso vermeintlich – nicht beteiligt zu werden. Entscheidungen können „über seinen Kopf hinweg“ getroffen werden. Ebenso wie Private den persönlichen Eindruck vom Betroffenen durch den Abruf der Daten ersetzen können, können staatliche Stellen seine Beteiligung an Entscheidungen so weit ersetzen, dass dessen eigener Beitrag zur Informationsbildung faktisch kein Gehör mehr findet. Diese Beteiligung ist indes grundlegend dafür, dass der Einzelne als handelnde Persönlichkeit – als Subjekt – gegenüber dem Staat auftritt und nicht nur Objekt staatlicher Entscheidungen ist.34 Der Bezug auf die Subjektstellung macht deutlich, warum das Bundesverfassungsgericht bei der Erstellung von „Persönlichkeitsprofilen der Bürger“ sogar die Menschenwürde berührt sieht.35 Ein solches menschenwürdeverlet33 Martensen,
DÖV 1995, 538 (541). Kallerhoff/Mayen, § 28 Rn. 2; Kaltenborn, S. 239 f.; Martensen, DÖV 1995, 538 (539). 35 BVerfGE 65, 1 (53). 34 Stelkens/Bonk/Sachs –
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3. Kap.: Das Recht auf Datenschutz
zendes Persönlichkeitsprofil liegt aufgrund der restriktiven Interpretation der Menschenwürde nur in Extremfällen vor.36 Wenn im Zusammenhang dieser Untersuchung von einem Profil die Rede ist, ist grundsätzlich nicht dieser Extremfall gemeint. Vielmehr wird der Schutz vor Profilen für den „Normalfall“ der Datenverarbeitung durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht gewährt. Die Menschenwürde bildet eine absolute Grenze und beeinflusst zudem das Verständnis der „Persönlichkeitsentfaltung“ in Art. 2 Abs. 1 GG. Aufgrund dessen fallen Fälle außerhalb dieses Kernbereichs unter Art. 2 Abs. 1 GG. Wenn Persönlichkeitsentfaltung unter dem Regime der Menschenwürde den Prozess von Identität, Individualität und Autonomie meint, schützt Art. 2 Abs. 1 GG auch vor der „milderen Form“ von Eingriffen, die nur im Extremfall die Menschenwürde berühren.37
II. Die Reichweite des Schutzes 1. Der Abruf von Daten Eine im beschriebenen Sinne vom Betroffenen nicht verantwortete Selbstdarstellung wird dadurch erzeugt, dass sich ein Dritter zielgerichtet aufgrund gespeicherter Daten Informationen über einen Grundrechtsträger verschafft. Dieses Stadium der Datenverarbeitung soll hier als Abruf bezeichnet werden. Der Abruf stellt einen Eingriff in das Recht auf Datenschutz dar. Es gibt diverse Formen, wie dieser Abruf aussehen kann. Es kann das komplette Dossier abgerufen werden oder ausgewählte Teile davon. Die Daten können als „Rohdaten“ abgerufen werden, sodass der relevante Informationsgehalt durch menschliche Interpretation gewonnen werden muss, oder dieses Stadium der Informationsbildung kann durch Algorithmen erfolgen. Ein persönlichkeitsrechtlicher Unterschied ergibt sich nur insoweit, als durch Algorithmen, die Daten auswählen oder interpretieren, eine größere Menge von Daten handhabbar gemacht wird. Die Möglichkeit des Einzelnen, auf seine Selbstdarstellung Einfluss zu nehmen, hängt allerdings nicht davon ab, ob der Prozess der Auswahl und Interpretation von Informationen durch dritte Personen oder durch Algorithmen erfolgt. Eine Form des Abrufs bedarf indes aufgrund der mit ihr verbundenen Probleme besonderer Aufmerksamkeit: die algorithmenbasierte Erzeugung von Prognosen über bestimmte Personen und ihr Verhalten. Die persönlichkeitsrechtliche Problematik solcher Datenverarbeitungen wurde zuvor bereits erläutert. Sie geht über die bloße Möglichkeit, einen den Grundrechtsträger 36 Näher zur Reichweite der Menschenwürde hinsichtlich der Datenverarbeitung Q. II. 3. b). 37 Allgemein zum Verhältnis zwischen Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG E. II. 3.
J. Selbstdarstellungskomponente: Der Schutz vor Profilbildung115
betreffenden Datensatz isoliert abzurufen und zu betrachten, weit hinaus. Durch eine solche Verarbeitung werden nicht nur das vergangene Verhalten des Einzelnen und bestimmte Eigenschaften Gegenstand des Profils, sondern auch sein – vermeintliches – zukünftiges Verhalten, wie es sich bei anderen in statistisch vergleichbaren Situationen gezeigt hat. Die Erstellung algorithmenbasierter Prognosen greift insofern tiefer in das allgemeine Persönlichkeitsrecht ein als anderen Formen eines Abrufs. Insofern ist sie sowohl in Hinblick auf eine mögliche Einwilligung38 als auch auf Rechtfertigungsebene39 gesondert zu betrachten. 2. Die Erstellung von Persönlichkeitsprofilen Doch der Schutz muss weit früher ansetzen als bei Abruf und Verarbeitung von Daten, nämlich schon bei ihrer Speicherung. Diese begründet zwar in Hinblick auf die Beeinträchtigung der Selbstdarstellung in zukünftigen Kommunikationssituationen lediglich eine Gefahr. Aber das Bundesverfassungsgericht setzt den Schutz vor Datenverarbeitung zu Recht schon auf der Stufe der Grundrechtsgefährdung an.40 Denn die beschriebene „Festlegung“ der Selbstdarstellung erfolgt schon durch die Speicherung. Durch diese kann der Einzelne nicht mehr abschätzen, welche Informationen ihm eventuell völlig unbekannte Dritte verfügbar haben, um ihn danach zu bewerten. Die „innere“ Hemmung in Hinblick auf zukünftige Selbstdarstellungssituationen entsteht schon durch das Wissen darüber, dass Daten über die eigene Person in der Welt sind. Vor diesem Hintergrund kann schon durch die Speicherung von Daten die Persönlichkeitsentfaltung beeinträchtigt werden, unabhängig davon, ob überhaupt ein Abruf erfolgt. Das kann allerdings keinen Schutz vor jeglichen noch so abstrakten Gefahren der Datenverarbeitung bedeuten. Einen Schutz vor jeglichen Gefahren gewährt die Grundrechtsordnung nicht.41 Eingangs wurde gezeigt, dass ein zu weiter Datenschutz letztlich seinem grundrechtlichen Ziel, der Ermöglichung freier Entfaltung der Persönlichkeit, eher zuwiderläuft, als dass er es fördert.42 Daher erfasst das Grundrecht erst solche Datenverarbeitungen, die objektiv einen Abruf und damit ein Eindringen von Informationen in zukünftige Entfaltungssituationen vorbereiten. Art. 4 Nr. 1 DSGVO definiert personenbezogene Daten, ähnlich wie § 3 Abs. 1 BDSG, als Informationen, die sich auf eine identifizierte oder identi38 Siehe
T. I. 2. d). N. II. 1. b). 40 BVerfGE 118, 168 (184 f.); dazu Poscher, in: Resilienz, S. 167 (178 f.). 41 Hoffmann-Riem, AöR 123 (1998), S. 513 (528). 42 Siehe B. II. 1. 39 Siehe
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3. Kap.: Das Recht auf Datenschutz
fizierbare natürliche Person beziehen. Für eine rechtlich relevante Gefährdung der Selbstdarstellung im hier beschriebenen Sinne genügt die bloße Identifizierbarkeit aber nicht. Zur Erinnerung: Es geht um die Perspektive zukünftiger, nach der Speicherung liegender Kommunikationssituationen. Diese sind ohnehin und legitimerweise durch das Vorwissen des Interaktionspartners geprägt, das er, auf welchem Wege auch immer, zufällig oder zielgerichtet, erlangt hat. Das verändert sich durch die automatisierte Datenverarbeitung nur dann, wenn er sich gleichsam auf Knopfdruck zusätzliche Informationen verschaffen kann. Daher ist die Selbstdarstellungskomponente des Rechts auf Datenschutz erst betroffen, wenn die eine bestimmte, identifizierte Person betreffenden Daten zu einem Dossier zusammengestellt sind oder zumindest so indexiert sind, dass der Datenbestand nach bestimmten Personen durchsucht werden kann. Diese Datenverarbeitungsphase soll als „Profilbildung“ bezeichnet werden.
III. Verhältnis zu anderen Grundrechten Zuletzt stellt sich die Frage, ob noch andere Grundrechte aus Selbstdarstellungsgesichtspunkten vor Maßnahmen der Datenverarbeitung schützen. Wie ausgeführt, schützt der Selbstdarstellungsschutz vor einem Eindringen von Informationen in Kommunikationsbeziehungen, der Privatsphäreschutz vor einem Herausdringen. Entsprechend muss auch bei der Datenschutzkomponente speziellerer Grundrechte differenziert werden. Wenn etwa Daten über eine Versammlungsteilnahme für die Auswahl eines Arbeitnehmers verwendet werden, ist Art. 8 GG unter Privatsphäre-, Art. 12 GG hingegen unter Selbstdarstellungsgesichtspunkten zu prüfen. Art. 12 GG könnte demnach davor schützen, dass jemand aufgrund ihn betreffender Daten einen bestimmten Beruf nicht ergreifen kann. Da das allgemeine Persönlichkeitsrecht ein reines Auffanggrundrecht ist,43 wäre dieses Grundrecht dann gegenüber Art. 2 Abs. 1 GG vorrangig. Ob ein spezielleres Freiheitsrecht einschlägig ist, ist eine Frage der Auslegung des jeweiligen Grundrechts. Dem materiellen Freiheitsrecht müssen dafür Aussagen darüber zu entnehmen sein, auf welcher Informationsgrundlage solche Entscheidungen, die den Einzelnen in seiner Grundrechtsausübung hemmen, zu treffen sind. Dabei ist zwischen der eigentlichen Freiheitsbeschränkung, die das spezielle Freiheitsrecht betreffen kann, und dem vorhergehenden Verfahren der Informationssammlung zu unterscheiden. Der Datenschutz soll keinen zusätzlichen Schutz der materiellen Freiheit gewähren, sondern ein bestimmtes Bild vom Bürger als Subjekt und Akteur in staatlichen Verfahren sichern. Das ergibt sich zumeist nur aus Art. 2 Abs. 1 43 Siehe
E. II. 3.
J. Selbstdarstellungskomponente: Der Schutz vor Profilbildung117
GG, nicht aus den speziellen Freiheitsrechten. Eher können solche verfahrensmäßigen Regeln als Ausprägung der Schutzpflicht geboten sein. Diese ist ohnehin häufig auf den Aufbau von Verfahrenspositionen gerichtet.44 Die Schutzpflicht gewährt zwar keinen Anspruch darauf, von einem privaten Arbeitgeber eingestellt zu werden. Inwieweit der Einzelne im Verhältnis zu privaten Dritten seine Vertragsfreiheit oder seine Berufsfreiheit faktisch wahrnehmen kann, hängt aber nicht zuletzt von seiner Darstellungsfreiheit ab und diese, wie gesehen, von den Informationen, über die das Gegenüber verfügt. Parallelen zum Selbstdarstellungsschutz zeigen sich in Art. 3 Abs. 3 GG. Dieser betrifft eher das Verfahren der Entscheidungsbildung, indem er die Kategorien von Informationen, anhand derer ein Grundrechtsträger beurteilt werden darf, limitiert. Er stellt in besonderer Weise die Identitätsneutralität des Staates sicher, indem er eine Differenzierung nach besonders identitätsprägenden45 Merkmalen ausdrücklich verbietet. Dabei hat er indes einen anderen Anknüpfungspunkt als das Recht auf Datenschutz. Art. 3 Abs. 3 GG betrifft die Behandlung von Sachverhalten46 aufgrund bestimmter Informationen. Beim Datenschutz geht es weniger darum, welche Informationen eine Behörde erhebt, sondern auf welchem Wege sie das tut. Hierzu trifft Art. 3 Abs. 3 GG keine Aussagen. Dennoch wirken sich sowohl Art. 3 Abs. 3 GG als auch die betroffenen Freiheitsrechte bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung aus.47 Hingegen können Datenverarbeitungen das allgemeine Recht der Selbstdarstellung betreffen, wenn nämlich falsche oder stigmatisierende Informationen verarbeitet werden. Um den Schutz vor einer Beeinträchtigung der Selbstdarstellung durch falsche Daten zu gewährleisten, braucht es Auskunfts-, Löschungs- und Richtigstellungsansprüche des Betroffenen. Wie die Verbreitung berührt auch die Verdatung von Informationen, Tatsachen oder Werturteilen, die die Selbstdarstellung erheblich beeinträchtigen, das Recht der Selbstdarstellung. Denn auch insoweit wird eine Grundlage für die Verbreitung dieser Informationen gelegt. Die Frage ist, in welchem Verhältnis die beiden Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zueinander stehen. Das Bundesverfassungsgericht wendet, wenn mehrere dieser Rechte einschlägig sind, dasjenige an, das die jeweilige Persönlichkeitsgefährdung am besten erfasst.48 Daher geht die Selbstdarstellungskomponente des Rechts auf Datenschutz dem allgemeinen Recht der Selbstdarstellung nicht als spe44 Kingreen/Poscher
(32. Aufl.), Rn. 121. (6. Aufl.) – Starck, Art. 3 Abs. 3 Rn. 367. 46 JP – Jarass, Art. 3 Rn. 118. 47 Siehe N. I. 48 BVerfGE 101, 361 (380). 45 MKS
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3. Kap.: Das Recht auf Datenschutz
zielleres Recht vor. Bei falschen und stigmatisierenden Informationen entsteht die Selbstdarstellungsbeeinträchtigung nicht durch die Besonderheiten der Datenverarbeitung, sondern durch den Inhalt der Informationen. Das Recht der Selbstdarstellung passt daher in diesen Fällen besser.
IV. Zusammenfassung Die Verwendung von Daten als Informationsquelle über eine bestimmte Person bedroht in mehrerer Hinsicht die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Selbstverantwortung der Selbstdarstellung. Durch sie wird die Identität zeitund kontextübergreifend festgeschrieben, sodass der Betroffene keine Möglichkeit mehr hat, sich differenziert und neu darzustellen. Das ähnelt dem Effekt einer Stigmatisierung, entsteht aber nicht durch eine bestimmte Information, sondern durch die Menge an Informationen und an Situationen, in denen sie verwendet werden. Problematisch ist aber nicht nur, dass ein Profil vorhanden ist, sondern auch dessen Inhalt. Dieser hängt davon ab, welche Informationen der Abrufende sich nach seinem Informationsinteresse „herauspickt“. Ein Prozess aus Reaktion und Gegenreaktion, den der Betroffene mitverantworten kann, findet nicht statt. Ein besonders großes persönlichkeitsrechtliches Risiko besteht, wenn persönliche Informationen mit Hilfe zusätzlicher Daten durch Algorithmen interpretiert werden. Je nachdem, wie komplex die Algorithmen sind, beziehen sich die so generierten Ergebnisse häufig nicht auf das Individuum, sondern auf die Gruppe, der es zugerechnet wird. Werden auf dieser Basis Prognosen über das Verhalten des Betroffenen erstellt, ignoriert das seine Möglichkeit, sich anders zu entscheiden, sodass die statistische Prognose einen endgültigen Charakter bekommt. All das gilt auch bei staatlicher Profilbildung, wo zwar nicht die Selbstdarstellung im soziologischen Sinne, aber die Möglichkeit, das Verwaltungsverfahren mit eigenen Informationen mitzugestalten, und damit der Subjektcharakter des Einzelnen in Frage steht. In seiner Selbstdarstellungskomponente schützt das Recht auf Datenschutz daher vor einem Abruf von Daten, also davor, dass sich ein Dritter zielgerichtet aufgrund gespeicherter Daten Informationen über einen Grundrechtsträger verschafft. Zudem schützt es vor einer Profilbildung, also vor einer Speicherung persönlicher Daten, wenn diese zu einem Dossier zusammengestellt sind oder zumindest so indexiert sind, dass der Datenbestand nach bestimmten Personen durchsucht werden kann. Unter dieser Voraussetzung begründet das Vorhandensein der Daten das rechtlich relevante Risiko, dass ein Abruf erfolgt.
K. Privatsphärekomponente: Der Schutz vor Überwachung119
K. Privatsphärekomponente: Der Schutz vor Überwachung I. Der Grund des Schutzes 1. Die Wahrung des Verhaltenskontextes durch die Rechte am eigenen Bild und Wort In einem anderen Zusammenhang wurde bereits das vom Bundesverfassungsgericht so bezeichnete Recht am eigenen Wort erwähnt und dem Recht auf situative Privatsphäre zugeordnet, soweit es um das „Belauschen“ in vertraulichen Situationen geht. Danach bedeutet es einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht, wenn der Einzelne in einer vermeintlich vertraulichen Situation belauscht wird.49 Eine Aussage oder Handlung des Einzelnen entfaltet ihren Informationsgehalt nämlich im jeweiligen Kontext durch die Interpretation derer, die sie wahrnehmen. Um absehen zu können, welche Informationen sein Verhalten erzeugt und wie sich diese auf die Selbstdarstellung auswirken, muss er daher absehen können, von wem es wahrgenommen werden kann.50 Diese Möglichkeit ist erst recht durch eine Aufzeichnung des gesprochenen Worts gefährdet. Denn diese ist darauf gerichtet, es in einem anderen Kontext zu reproduzieren, ohne dass der Einzelne noch Kontrolle darüber hat. Dort kann es seine Selbstdarstellung beeinträchtigen, weil dort die Aussage möglicherweise von einem anderen Empfängerkreis mit anderem Vorwissen und anderen Verhaltenserwartungen beurteilt wird. Nach dem Bundesverfassungsgericht wäre die Unbefangenheit der menschlichen Kommunikation beeinträchtigt, müsste ein jeder mit dem Bewusstsein leben, dass jedes seiner Worte bei anderer Gelegenheit und in anderem Zusammenhang hervorgeholt werden könnte.51 Zu Recht sieht das Bundesverfassungsgericht das Recht am eigenen Wort im engen Zusammenhang mit dem Recht am eigenen Bild. Auch hier führt die Verdatung des Verhaltens durch eine Abbildung dazu, dass die Öffentlichkeit des Verhaltens nicht mehr relativ ist, sondern es in der Macht des Fotografierenden steht, darüber zu entscheiden, von wie vielen Menschen das Verhalten in welchen Kontexten visuell wahrgenommen werden kann. Mit dem Wechsel des Kontextes, in dem eine Abbildung reproduziert wird,
49 Siehe
F. II. 2. b) aa). 106, 28 (41 f.). 51 BVerfGE 34, 238 (246 f.). 50 BVerfGE
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3. Kap.: Das Recht auf Datenschutz
könne sich der Sinngehalt der Bildaussagen ändern oder sogar absichtlich ändern lassen.52 Vom Inhalt des Gesagten oder dem auf den Bildern dargestellten Verhalten ist der Schutz unabhängig. Insofern sind die Rechte am eigenen Bild und Wort parallel zum Recht auf situative Privatsphäre konstruiert. Dieses schützt vor jeglicher Beobachtung in bestimmten Situationen, die Rechte am eigenen Bild und Wort hingegen vor bestimmten Formen der Beobachtung in jeglichen Situationen. All diese Rechte haben einen formalen Anknüpfungspunkt. Ob in privaten Situationen Privates getan wird, ist irrelevant, der Schutz ergibt sich allein aus der Privatheit der Situation. Ebenso ist bei der Anfertigung von Bild-, Ton- oder Videoaufnahmen des Verhaltens irrelevant, ob die daraus zu entnehmenden Informationen tatsächlich in einem anderen Kontext zu einer Beeinträchtigung der Selbstdarstellung führen. Diese formale Anknüpfung ermöglicht es dem Grundrechtsträger, selbst zu bestimmen, was er inwieweit privat halten möchte.53 Der Schutzbedarf besteht bei den Rechten am eigenen Bild und Wort im Unterschied zum Recht der Privatsphäre auch für Verhalten, das außerhalb der Privatsphäre stattfindet.54 Ein und dasselbe Verhalten kann je nach Kontext und Vorwissen der wahrnehmenden Dritten ganz unterschiedliche Informationen und eine ganz unterschiedliche Bewertung dieser Informationen hervorrufen. Verhalten, das erkennbar den jeweiligen Rollenerwartungen geschuldet ist, entfaltet in diesem Kontext überhaupt keinen selbstdarstellungsrelevanten Informationsgehalt.55 Das gilt auch bei öffentlichem Verhalten. Befindet sich der Rechtsanwalt R auf einem Heavy-Metal-Festival,56 kann sein Verhalten von einer Vielzahl Dritter wahrgenommen werden. Eine Information über sein Verhalten werden sie nur bilden, wenn ihnen der R „auffällt“. Das kann R steuern: Dritte werden nämlich dann keine Informationen über ihn bilden, wenn er sich der jeweiligen Situation entsprechend sozialadäquat verhält. Verhaltensweisen, die in der Situation des Festivals sozialadäquat sind, würden indes von den Kollegen oder Mandanten ganz anders wahrgenommen werden und könnten dadurch einen Informationsgehalt entfalten, der die Selbstdarstellung des R beeinträchtigt. R kann sich auf dem Festival deswegen unbefangen verhalten, weil und sofern er absehen kann, welche Informationen er durch sein Verhalten produziert und wie diese sich auf seine Selbstdarstellung auswirken. 52 BVerfGE
101, 361 (381 f.). G II. 2. b). 54 Zum Recht am eigenen Bild BVerfGE 101, 361 (381); zum Recht am eigenen Wort BVerfGE 106, 28 (41). 55 Luhmann, S. 65. 56 Oder bei einem Paintball-Spiel, vgl. OLG München, K&R 2007, 531 ff. 53 Siehe
K. Privatsphärekomponente: Der Schutz vor Überwachung121
Wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, von einem Bekannten persönlich identifiziert zu werden und welche Information die betreffende Person aus seiner Anwesenheit und seinem Verhalten zieht, kann der Einzelne in etwa abschätzen; irrt er, gehört das zum allgemeinen Lebensrisiko. Wird er jedoch etwa auf Video aufgenommen, erweitert das den Kreis der Beobachter in einer für ihn nicht mehr absehbaren Weise. Das Verhalten kann in ganz anderen Kontexten betrachtet und interpretiert werden, in dem die Verhaltensweisen des Betroffenen möglicherweise nicht mehr als sozialadäquat wahrgenommen werden. Damit wird dem Einzelnen die Möglichkeit genommen, die informationellen Folgen seines Verhaltens zu kontrollieren, und damit seine Selbstdarstellung zu verantworten. Da öffentliches Verhalten ohnehin beobachtet ist, liegt das Problem nicht in der Tatsache der Beobachtung an sich, sondern in der Form der Beobachtung – der Aufzeichnung, also Verdatung des Verhaltens in Form von Bild-, Ton- oder Videoaufnahmen. Diese Erweiterung des Beobachterkreises durch die Aufzeichnung hat im Wesentlichen zwei Gründe. Erstens die Transferierbarkeit der Informationen: Selbst wenn Informationen über das Verhalten des R entstehen, werden die regelmäßig nicht bei seinen Kollegen „ankommen“ und wenn, dann werden es Informationen aus zweiter oder dritter Hand sein. Diese sind, was den Empfängern (idealerweise) auch bewusst ist, nicht so verbindlich wie unmittelbare Beobachtungen. Werden hingegen etwa Videoaufnahmen angefertigt, können diese ohne Probleme an jeden beliebigen Dritten weitergegeben werden und diesen zum unmittelbaren Beobachter der Situation machen. Zweitens die Identifizierbarkeit: Verhält sich der Einzelne unter Fremden in einer bestimmten Weise, können die entstehenden Informationen nicht an einer bestimmten Identität „festgemacht“ werden. Kann der Betrachter der Aufzeichnung hingegen den Betroffenen identifizieren, entstehen identitätsrelevante Informationen. Hierzu braucht der Betrachter das Vorwissen, um das Äußere des Betroffenen einer Identität zuzuordnen. Dieses Vorwissen hat er entweder, weil er den Betroffenen kennt, oder er greift auf „Vorwissen“ zurück, das seinerseits, etwa in Gesichtserkennungssoftware, verdatet ist. 2. Der Schutz des „Randbereichsverhaltens“ Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit schützt das Interesse daran, dass Informationen über das Verhalten des Einzelnen nicht aus dem jeweiligen Kontext herausdringen und dort einen weitergehenden Informationsgehalt erzeugen, der für ihn negative Folgen hat. Denn die Persönlichkeit konstituiert sich im freien, das heißt individuellen, autonomen und auf die Identität bezogenen Handeln.57 Kann der Einzelne nicht absehen, welche 57 Siehe
E.
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3. Kap.: Das Recht auf Datenschutz
Informationen sein Handeln erzeugt, ist die Unbefangenheit des Verhaltens, die Voraussetzung hierfür ist, gefährdet. Durch „den psychischen Druck öffentlicher Anteilnahme“58 kann der Einzelne dazu veranlasst werden, in einer Art vorauseilendem Gehorsam bestimmte Handlungen zu unterlassen.59 Das gilt insbesondere für Handlungen, die im „Randbereich“ der gesellschaftlichen Verhaltenserwartungen liegen. Das Heavy-Metal-Festival ist aus grundrechtlicher Sicht ein eher banales Beispiel, deutlicher wird das Problem am Beispiel des Bundesverfassungsgerichts von der Teilnahme an Versammlungen oder dem Engagement in Bürgerinitiativen.60 Die Möglichkeit hierzu ist nicht nur für die Persönlichkeitsentfaltung des Einzelnen, sondern auch für die Demokratie von hoher Bedeutung. Zugleich kann das politische Engagement in eine bestimmte Richtung bei Menschen mit einer anderen Ansicht zu Ablehnung führen. Es handelt sich insofern um einen „Randbereich“, als solches Engagement kaum allgemein konsensfähig sein wird, sondern vielmehr fast zwangsläufig in irgendeinem Kontext zu mehr oder weniger starker Ablehnung führen wird. Wenn sich der Einzelne aber aus Angst vor solchen Konsequenzen stets „konsensfähig“ verhält, ist die Demokratie gefährdet, die eben gerade auch darauf beruht, dass abweichende Meinungen geäußert werden. Zudem – das ist im Rahmen des Art. 2 Abs. 1 GG das entscheidendere Argument – ist auch die Konstituierung der individuellen Persönlichkeit gefährdet. Wer sich konsensfähig verhält, tritt nicht als Individuum in Erscheinung. Seine Selbstdarstellung funktioniert im gesellschaftlichen Kontext, aber sie ist inhaltsleer.61 Daher gehört zu einer erfolgreichen Persönlichkeitsentfaltung die realistische Möglichkeit, sich „ausprobieren“ zu können und dabei gesellschaftliche Verhaltenserwartungen auszureizen und eventuell herauszufordern. Nur so kann der Einzelne sich als Individuum identifizieren; letztlich ist auch nur so gesellschaftlicher Fortschritt im Sinne einer Fortentwicklung der Verhaltenserwartungen denkbar.62 3. Überwachung als rechtlich relevante Beeinträchtigung der Persönlichkeitsentfaltung Der Schutz von Randbereichsverhalten vor einer Verdatung ist durch die traditionellen Rechte auf Privatsphäre und Selbstdarstellung nicht geschützt. 58 BVerfGE
65, 1 (42). anschaulich zu diesem Punkt ist eine Studie aus der Zeit des McCarthyism in den USA, über die Mallmann, S. 60 f. berichtet. 60 BVerfGE 65, 1 (43). 61 Luhmann, S. 70. 62 Mallmann, S. 62 f.; Mead, S. 266. 59 Sehr
K. Privatsphärekomponente: Der Schutz vor Überwachung123
Verhalten in der Öffentlichkeit eines Festivalgeländes oder einer Demonstration unter freiem Himmel, um darauf zurückzukommen, ist nicht privat und das Recht der Selbstdarstellung gewährt kein Verfügungsrecht über wahre Informationen, es sei denn, sie gefährden generell die Möglichkeit zukünftiger erfolgreicher Selbstdarstellung.63 Der Einzelne trägt daher grundsätzlich selbst das Risiko, dass seine Kollegen oder staatliche Stellen von seinem Verhalten erfahren und daraus Informationen ableiten, die seine Selbstdarstellung beeinträchtigen oder zu konkreten Folgen für seine Persönlichkeitsentfaltung führen. Um aber zumindest den Kreis der unmittelbaren Beobachter zu beschränken, bedarf es eines Grundrechtsschutzes vor Verdatung. Wie soeben bereits anklang, verwendet das Bundesverfassungsgericht beim Recht auf informationelle Selbstbestimmung eine ähnliche Argumentation wie beim Recht am eigenen Wort. Das Volkszählungsurteil basiert entscheidend auf dem Gedanken, die Speicherung von Informationen über „abweichende Verhaltensweisen“ und die Verwendung und Weitergabe dieser Daten könnte zu einer Veränderung des Verhaltens führen. Beispiel ist die Registrierung von Teilnehmern an einer Versammlung oder einer Bürgerinitiative.64 Nun wurde zuvor schon herausgearbeitet, dass es eine Gesellschaftsordnung, in der Bürger wissen, „wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß“65 nicht geben kann und dass das auch im Interesse einer auf Interaktion basierenden Persönlichkeitsentfaltung gar nicht wünschenswert wäre.66 Das macht es erklärungsbedürftig, warum beispielsweise die Registrierung von Versammlungsteilnehmern ein rechtlich relevantes Problem darstellt. Denn hier wird, anders als etwa bei der Anfertigung von Videoaufzeichnung, nicht das gesamte Verhalten des Einzelnen in dieser Situation verdatet, sondern nur eine ganz begrenzte Information, nämlich die Tatsache seiner Teilnahme. Diese ist aber ohnehin für jeden Anwesenden ersichtlich, seien es nun andere Versammlungsteilnehmer oder zufällige und nicht zufällige Passanten. Auch Polizeibeamte als staatliche Organe müssen bei der Begleitung der Versammlung nicht die Augen schließen, sondern dürfen legitimerweise die Versammlungsteilnehmer wahrnehmen. Damit ist die Information öffentlich, sie ist Teil des gesellschaftlichen Informationsflusses und darf auch weitergetragen werden. Auch wenn es aus Sicht des Versammlungsteilnehmers unerwünscht sein mag, dass etwa sein Arbeitgeber mehr oder weniger zufällig von seiner Teilnahme erfährt, muss er mit diesem Risiko leben, wenn er an einer öffentlichen Versammlung teil63 Siehe
F. I. 2. 65, 1 (43). 65 BVerfGE 65, 1 (43). 66 Siehe B. I. 1. 64 BVerfGE
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3. Kap.: Das Recht auf Datenschutz
nimmt. Wenn nun aber die Kenntnisnahme und Weitergabe dieser Information auf „nicht verdatetem“ Wege zulässig ist, stellt sich die Frage, warum das bei einer Verdatung anders sein sollte. Denn wie herausgearbeitet ist die Verdatung nicht an sich das Problem, sondern wegen der Informationen, die die Daten produzieren.67 Diese sind aber aufgrund der Verdatung keine anderen als ohne sie. Der entscheidende Unterschied zwischen der menschlichen Wahrnehmung einer Versammlung und einer Registrierung ihrer Teilnehmer liegt im Umfang der Informationen, die sich die so agierende Stelle verschafft. Mit Hilfe der Datenverarbeitung können systematisch alle oder nach bestimmten Kriterien ausgewählte Versammlungsteilnehmer erfasst werden. Ein menschlicher Beobachter könnte sich nie ein so umfassendes Bild von den an der Situation beteiligten Personen machen. Einzelne Teilnehmer könnten gleichsam in der Masse untergehen und würden durch ihr Verhalten keine permanenten Informationen erzeugen. Das gilt nicht nur für Situationen, in denen viele Menschen an einem Ort sind. Kunden im Einzelhandel etwa geraten regelmäßig im Geschäftsalltag schnell in Vergessenheit, wenn sie sich sozialadäquat verhalten. Wenn ein Geschäftsmann seine Kunden nebst ihrer Einkäufe registriert, kann er auch solche Informationen, die sonst schlicht „untergehen“ würden, für sich verfügbar und verwendbar machen. Zudem fehlt es ohne die Datenverarbeitung oft an der Möglichkeit, einzelne Personen zu identifizieren. Denn die Zuordnung einer Information zur persönlichen Identität setzt jedenfalls einen „Identitätsaufhänger“ voraus, an dem die Information festgemacht werden kann. Das Gesicht einer dem Beobachter unbekannten Person genügt dafür nicht. In dieser relativen Anonymität liegt ein Stück Privatheit. Zwar kann der Einzelne, wie gesagt, nie darauf vertrauen, dass er nicht identifiziert, die Information seiner Selbstdarstellung zugeordnet und weitergegeben wird. Aber er kann sich berechtigte Hoffnungen machen, dass die Information nicht in soziale Kontexte dringt, in denen sie aufgrund der Verbindung mit weiteren Informationen oder aufgrund anderer Verhaltenserwartungen seine Selbstdarstellung beeinträchtigt. Die automatisierte Datenverarbeitung zerstört dagegen diese Hoffnung, in der Öffentlichkeit in Hinblick auf die eigene persönliche Identität „unsichtbar“ zu bleiben.68 Gerade die namentliche Registrierung von Versammlungsteilnehmern führt die Identifizierung systematisch herbei und nimmt den Betroffenen die Chance, gleichsam in der Masse zu verschwinden. Eine solche systematische Verhaltensbeobachtung kann als Überwachung bezeichnet werden.
67 Siehe
A. II.
68 Ausdrücklich
zum Schutz auch öffentlicher Informationen vor Verdatung BVerfGE 120, 378 (399).
K. Privatsphärekomponente: Der Schutz vor Überwachung125
II. Die Reichweite des Schutzes 1. Verdatung a) Permanenz der Verdatung: Die Archivierung aa) Die Abrufbarkeit von Daten als Voraussetzung eines Grundrechtseingriffs Es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen der „klassischen“ Beobachtung in privaten Situationen und der Verdatung. Bei ersterer interpretiert der Beobachter das, was er wahrnimmt, und zieht so Informationen daraus, die in seinem Gedächtnis gespeichert werden. Er wird sie zugrunde legen, wenn er mit dem Betroffenen in Kontakt tritt, oder bei der Interpretation weiterer Informationen über ihn; er kann den von ihm interpretierten Informationsgehalt auch wiederum weitervermitteln. Insofern sind schon durch die Beobachtung Informationen in der Welt, die für den Betroffenen nicht mehr zu kontrollieren sind. Bei der Verdatung geschieht dagegen zunächst nichts persönlichkeitsrechtlich Relevantes. Technisch betrachtet wird eine Aneinanderreihung von Nullen und Einsen auf einem Datenträger abgelegt. Das ist nicht das Problem, wie ohnehin die Daten nicht das eigentliche Problem des Datenschutzes sind. Das Problem liegt in der Interpretation dieser Daten zu Informationen, dem Abruf.69 Wenn hingegen die Daten überhaupt nicht für spätere Abrufe verfügbar gemacht werden, kann die Verdatung auch keine Beeinträchtigung schützenswerter Privatsphäreinteressen darstellen. Soweit gespeicherte Daten „unmittelbar nach der Erfassung technisch wieder spurenlos, anonym und ohne die Möglichkeit, einen Personenbezug herzustellen, ausgesondert werden“, nimmt das Bundesverfassungsgericht daher keine rechtlich relevante Persönlichkeitsgefährdung an.70 Diese Einschränkung erfolgt vollkommen zu Recht. Bei den „Nichttrefferfällen“ der Kennzeichenerfassung, um die es in der Entscheidung geht, werden zwar kurzfristig Daten erzeugt, aber automatisch gelöscht, wenn es keinen Anlass zu ihrer Speicherung gibt. Informationen werden in diesen Fällen nicht erzeugt. Dass sich die Polizei der automatisierten Datenverarbeitung bedient, kann für sich genommen keinen Grundrechtsschutz rechtfertigen, will man das Recht auf Datenschutz nicht als ein pauschales „Datenverhinderungsrecht“ verstehen.
69 Zu
diesem Begriff J. II. 1. 120, 378 (399).
70 BVerfGE
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3. Kap.: Das Recht auf Datenschutz
bb) Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen menschlicher Wahrnehmung und der Erzeugung von Daten Doch auch einige der „Trefferfälle“ rechtfertigen richtigerweise keinen Privatsphäreschutz. Die entsprechende Differenzierung nimmt das Bundesverfassungsgericht allerdings erst auf Rechtfertigungsebene vor. Diene die Kennzeichenerfassung allein dem Zweck, gestohlene Fahrzeuge ausfindig zu machen und deren Fahrer zu „stellen“, sei das Gewicht des Eingriffs geringer, als wenn sie dazu dienen soll, die gewonnenen Informationen für weitere Zwecke zu nutzen. Das Gericht begründet das erstens mit der geringen Persönlichkeitsrelevanz der Information im ersten Fall, zweitens mit dem öffentlichen Charakter des Verhaltens und drittens damit, dass die Informationserhebung ein bloßes Hilfsmittel für weitere Maßnahmen sei, die eigenständigen verfassungsrechtlichen Anforderungen unterliegen.71 Doch das Verhalten ist in beiden Fällen öffentlich und die „Persönlichkeitsrelevanz“ bleibt ein nicht näher erläutertes Schlagwort. Sieht man die Persönlichkeitsrelevanz aus Sicht der Persönlichkeitsentfaltung und der Intensität der Abschreckungseffekte für bestimmtes Verhalten, liegt angesichts der zu erwartenden Folgeeingriffe im ersten Fall, die auch das Bundesverfassungsgericht anspricht, sogar eine besonders hohe Persönlichkeits(entfaltungs)relevanz vor. Entscheidend ist dagegen der dritte vom Bundesverfassungsgericht angeführte Punkt, dass in der ersten Fallgruppe „ausschließlich nach einem prinzipiell bekannten Personenkreis mit bestimmten Verhaltensmerkmalen gesucht wird, deren Vorliegen einen konkreten Störerverdacht begründet.“ Bei einem auf solche Zwecke begrenzten Einsatz sei die Informationserhebung ein bloßes Hilfsmittel, um das gesuchte Fahrzeug zu finden, es so bald wie möglich anzuhalten und gegen seinen Fahrer oder gegen die Insassen sogleich weitere polizeiliche Maßnahmen ergreifen zu können. Die Anforderungen an solche Maßnahmen richten sich nach den allgemein dafür bestehenden Ermächtigungen, deren Rechtmäßigkeit eigenständigen verfassungsrechtlichen Anforderungen unterliegt.72 Anders gesagt: Auf die Art und Weise der Beobachtung und Generierung von Informationen bezogen geschieht nichts anderes, als wenn ein Polizeibeamter einzelne Kennzeichen ablesen, mit dem Fahndungsbestand abgleichen und ggf. die Verfolgung des Fahrzeugs einleiten würde. Es handelt sich gleichsam um den komplementären Fall zur sofortigen Löschung im Nichttrefferfall. Die Informationsfolgen sind in beiden Fällen dieselben wie bei der menschlichen Wahrnehmung. Die nach dem jeweiligen Informationsinteresse – ob ein bestimmtes Fahrzeug gestohlen ist oder nicht – interessanten 71 BVerfGE 72 BVerfGE
120, 378 (403 f.). 120, 378 (404).
K. Privatsphärekomponente: Der Schutz vor Überwachung127
Informationen führen zu konkreten Reaktionen, die anderen werden „vergessen“ und entfalten keinen dauerhaften Informationsgehalt. Ein Problem liegt hingegen vor, wenn Erkenntnisse, die scheinbar ohne relevanten Informationswert sind, mit Hilfe der automatisierten Datenverarbeitung dennoch gespeichert werden und dem Datenverarbeiter damit für die Zukunft zur Verfügung stehen für den Fall, dass er ihnen in Verbindung mit weiteren Informationen doch einen Informationswert entnehmen kann. So verhält es sich in der zweiten Gruppe von Trefferfällen, bei denen das Bundesverfassungsgericht eine hohe Grundrechtsrelevanz annimmt. Indem sich die Polizei die Möglichkeit verschafft, das Verhalten einzelner Grundrechtsträger gleichsam nachträglich unter Berücksichtigung später entstandener Informationen zu beobachten, nimmt sie dem Einzelnen die Möglichkeit, in der jeweiligen Situation den Informationswert seines Verhaltens abzusehen. Wer mit einem gestohlenen Fahrzeug unterwegs ist, kann absehen, dass ein Abgleich des Kennzeichens mit dem Fahndungsbestand weitere polizeiliche Maßnahmen zur Folge hat. Wer im eigenen Fahrzeug verkehrsgerecht fährt, muss hingegen nicht damit rechnen, dass die Polizei davon Notiz nimmt. Durch die automatisierte Kennzeichenerfassung kann die Polizei hingegen zunächst einzelne Informationen, etwa Standortinformationen, sammeln und aus der Summe dieser Informationen weitere Schlüsse ziehen. Diese Sammlung geht deutlich über Erhebung und Abgleich hinaus. Anders als wenn im Trefferfall unverzüglich gehandelt wird, kann so ein Informationsgehalt generiert werden, der über das unmittelbar wahrnehmbare „Fahrzeug X ist an Ort Y“ deutlich hinausgeht. Das meint das Bundesverfassungsgericht wohl auch mit dem missverständlichen Verweis auf den öffentlichen Charakter des Verhaltens: Die Informationen, die die Polizei durch Zusammenstellung einzelner „Informationsschnipsel“ gewinnen kann, sind, obwohl möglicherweise ausschließlich aus dem Verhalten des Betroffenen in der Öffentlichkeit gewonnen, einem unbefangenen Beobachter, der nicht über Zusatzwissen verfügt, nicht ersichtlich. Durch die Sammlung der Standortinformationen allein liegt noch keine Selbstdarstellungsbeeinträchtigung im zuvor73 beschriebenen Sinne vor. Dazu müssten die Informationen einer bestimmten Person schon so zugeordnet sein, dass sie zusammengestellt abgerufen werden können, wenn die Person etwa aufgegriffen wird. Das würde wiederum voraussetzen, dass die Standortinformationen überhaupt einer Person zugeordnet werden können. Denn zunächst beziehen sie sich lediglich auf ein Fahrzeug; die Insassen müssen separat und auf andere Weise ermittelt werden. Doch sind diese er73 J.
II. 2.
128
3. Kap.: Das Recht auf Datenschutz
mittelt, können mit Hilfe der Standortdaten möglicherweise vielfältige Schlussfolgerungen gezogen werden, die etwa im Rahmen eines Strafverfahrens gegen den Betroffenen verwendet werden können. Dieses gezielte Zusammentragen von Einzelinformationen zur Ermittlung weiterer Informationen geht deutlich über die Spuren hinaus, die der Einzelne gleichsam automatisch hinterlässt, wenn er sich im öffentlichen Raum bewegt. Eine solche Generierung persönlicher Informationen aus Daten wurde zuvor74 als Abruf bezeichnet. Hierdurch verwirklicht sich die gerade beschriebene Gefahr für den Einzelnen. Angelegt ist sie jedoch schon durch ein früheres Stadium, nämlich die Verdatung der einzelnen „Informationsschnipsel“, aus denen sich Folgerungen für das Verhalten ziehen lassen. Denn hierdurch verliert der einzelne Grundrechtsträger die Kontrolle darüber, welche Informationen er durch sein Verhalten generiert. Er kann nicht absehen, welche Informationen die Behörde zusätzlich erhoben hat und vor allem anschließend noch erheben wird und welche Schlussfolgerungen sie daraus zieht. cc) Schlussfolgerung: Flüchtige und permanente Daten Das gilt aber nur, wenn eine solche Verknüpfung mit weiteren Informationen überhaupt in der Verdatung angelegt ist. Hierfür ist die eben angesprochene Differenzierung notwendig. Werden Daten kurzfristig und für einen beschränkten Zweck gespeichert und lediglich diesem Zweck entsprechend verwendet, besteht gerade keine Gefahr, dass das Verhalten durch eine weite Aggregation von Daten nachträglich einen Informationsgehalt erzeugt, den der Betroffene nicht absehen konnte. Diese besteht nur, wenn die Daten darüber hinaus zur weiteren Verwendung, Verknüpfung und Interpretation vorgehalten werden. Eine solche Verdatung soll im Folgenden als Archivierung bezeichnet werden. Der Begriff der Archivierung soll an einem weiteren Beispiel vertieft werden, nämlich der Bestellung von Waren im Internet. Im Unterschied zur Kennzeichenerfassung wird hier die Datenerhebung zunächst durch den Betroffenen selbst veranlasst. Zudem ist das allgemeine Persönlichkeitsrecht in seiner Schutzfunktion betroffen, was aber für die Darstellung der Verarbeitungsphase keinen Unterschied macht. Wenn jemand ein Buch bestellt, entstehen bei dem Versandhändler Daten, die auf den Besteller bezogen sind. Dennoch wäre es künstlich, die Speicherung dieser Daten zum Zwecke der Abwicklung der Bestellung im Grundsatz als einen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Einzelnen zu sehen, der nur aufgrund einer konkludenten 74 J.
II. 1.
K. Privatsphärekomponente: Der Schutz vor Überwachung129
Einwilligung in Form der Bestellung zulässig ist. Denn das persönlichkeitsrechtliche Problem, das wurde an anderer Stelle herausgearbeitet,75 sind nicht Daten, sondern Informationen. Die Daten sind ein Werkzeug, um Informationen zu erzeugen. Im beschriebenen Fall erzeugt das Datum genau die Information, die der Kunde erzeugen wollte: Er möchte einen Kaufvertrag über das Buch abschließen und bittet um dessen Übersendung. Von einer Beeinträchtigung seiner Rechte kann daher keine Rede sein. Etwas anderes ist es, wenn dieses Datum zu anderen Zwecken verwendet wird. So kann der Versandhändler die Daten nicht nur zur Abwicklung der Bestellung nutzen, sondern beispielsweise auch, um dem Kunden ähnliche Bücher zu empfehlen. Hat der Kunde mehrfach Bücher bestellt, kann der Händler ein Kundenprofil erzeugen, das es ihm noch leichter macht, dem Kunden Angebote zu machen, die dessen Interessen entsprechen. Hier zielt die Datenverarbeitung darauf ab, dem Datum einen weitergehenden Informationsgehalt zu entnehmen, als der Kunde ihn vermitteln wollte. Aus dem Wunsch nach einem Kaufvertrag über ein bestimmtes Buch werden Informationen über den Kunden, seine Interessen und Vorlieben gezogen. Zum diesem Zweck werden die Daten aus dem operativen Datenbestand, der der Abwicklung der Bestellung dient, in ein sogenanntes data warehouse übertragen. Hier gibt es also auch technisch eine Zäsur zwischen der Verwendung eines Datums zu seinem ursprünglichen Zweck und in seinem ursprünglichen Zusammenhang einerseits und seiner Nutzbarmachung im Interesse des Verarbeitenden andererseits.76 b) Personenbezug Die Archivierung von Daten betrifft nur unter zwei Voraussetzungen das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Die erste Voraussetzung kennt auch die Theorie der informationellen Selbstbestimmung: Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung bezieht sich nur auf die Verarbeitung persönlicher Daten.77 Einfach-rechtlich wird der Schutz beispielsweise durch §§ 1 Abs. 1, 4 Abs. 1 BDSG 2009 auf personenbezogene Daten beschränkt. Das sind nach § 3 Abs. 1 BDSG 2009 „Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse einer bestimmten oder bestimmbaren natürlichen Person“. Bestimmt ist eine Person, wenn die Daten mit dem Namen des Betroffenen verbunden sind oder sich aus dem Inhalt bzw. dem Zusammenhang der Bezug unmittelbar herstellen lässt.78 Bestimmbar ist sie, wenn die Person ohne unverhältnis75 A.
II.
76 Scholz,
in: Handbuch Datenschutzrecht, Kap. 9.2 Rn. 18. 65, 1 (43). 78 Gola/Schomerus, § 3 Rn. 10. 77 BVerfGE
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3. Kap.: Das Recht auf Datenschutz
mäßigen Aufwand festgestellt werden kann.79 Nach § 4 Nr. 1 DSGVO sind personenbezogene Daten alle Informationen, die sich auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person beziehen. Es kommt für die Bestimmbarkeit nicht darauf an, ob eine Identifizierung von der verarbeitenden Stelle bezweckt wird.80 Erfordert die Identifizierung Zusatzwissen, ist umstritten, auf welche Perspektive abzustellen ist. Nach der herrschenden Meinung zum BDSG 2009 ist das Wissen der jeweiligen verarbeitenden Stelle maßgeblich (relativer Personenbezug). Das bedeutet, dass ein und dasselbe Datum für eine Stelle Personenbezug aufweisen kann, wenn sie über das entsprechende Zusatzwissen verfügt, für eine andere nicht.81 Nach der Gegenauffassung ist die Bestimmbarkeit objektiv, von der jeweiligen Stelle unabhängig zu bestimmen (absoluter Personenbezug).82 Allerdings nähern sich beide Positionen stark an, indem beide letztlich auf die Wahrscheinlichkeit abstellen, nach der die jeweils verarbeitende Stelle das Zusatzwissen erlangen kann. Ist aufgrund des unverhältnismäßigen Aufwands praktisch nicht mit einer Verknüpfung der Daten mit dem zur Identifizierung benötigten Zusatzwissen zu rechnen, fehlt es an einem Personenbezug,83 ist eine Verknüpfung hingegen nicht völlig unrealistisch, ist ein Personenbezug anzunehmen.84 Lässt sich der Personenbezug aufgrund allgemein zugänglicher Daten herstellen, liegt in jedem Fall Bestimmbarkeit im Sinne des § 3 Abs. 1 BDSG 2009 vor.85 Einen solchen Ansatz verfolgt nun auch der Europäische Gerichtshof. Er prüft, ob eine dynamische IP-Adresse für einen Anbieter von Online-Mediendiensten ein personenbezogenes Datum darstellt,86 geht also von einem relativen Verständnis aus. Es sei aber nicht erforderlich, dass sich alle zur Identifizierung der betreffenden Person erforderlichen Informationen in den Händen einer einzigen Person befinden.87 Maßgeblich ist, ob der Verantwortliche über Mittel verfügt, die vernünftigerweise eingesetzt werden könnten, um mit Hilfe Dritter die betreffende Person anhand der gespeicherten IPAdressen bestimmen zu lassen.88 Die Entscheidung erging zur Datenschutz79 Taeger/Gabel – Buchner, § 3 Rn. 11 f.; Gola/Schomerus, § 3 Rn. 10; DKWW – Weichert, § 3 Rn. 13. 80 Simitis – Dammann, § 3 Rn. 31; DKWW – Weichert, § 3 Rn. 15. 81 Gola/Schomerus, § 3 Rn. 10; Simitis – Dammann, § 3 Rn. 33. 82 DKWW – Weichert, § 3 Rn. 13. 83 Simitis – Dammann, § 3 Rn. 26, 33. 84 DKWW – Weichert, § 3 Rn. 13. 85 Simitis – Dammann, § 3 Rn. 27. 86 EuGH, Urteil vom 19.10.2016 – Rs. C‑582/14, Breyer/Deutschland, abrufbar im Internet: http://curia.europa.eu (Stand: 23.01.2017), Rn. 39. 87 EuGH, Rs. C-582/14, Breyer/Deutschland, Rn. 43. 88 EuGH, Rs. C-582/14, Breyer/Deutschland, Rn. 48.
K. Privatsphärekomponente: Der Schutz vor Überwachung131
richtlinie 95 / 46 / EG, es ist aber davon auszugehen, dass der Europäische Gerichtshof auch die Identifizierbarkeit nach Art. 4 Nr. 1 DSGVO so verstehen wird. Dem kann aus Sicht der persönlichkeitsrechtlichen Datenschutzkonzeption gefolgt werden. Maßgeblich ist danach, ob der Betroffene befürchten muss, dass bei einem Abruf Informationen entstehen, die ihm zugeordnet werden können. Der weit nach vorne verlagerte Schutz vor Archivierung greift auch, wenn nie ein Abruf persönlicher Informationen erfolgt, sei es, weil daran kein Interesse besteht, oder, weil die Daten keiner Person zugeordnet werden können. Denn schon dass zum Zeitpunkt der Archivierung die realistische Möglichkeit eines solchen Abrufs besteht, kann die Unbefangenheit des Verhaltens hemmen. Daher spielt es keine Rolle, ob der Inhaber des Archivs schon über den „Schlüssel“ zu einer Identifizierung verfügt oder ob er diesen erst beschaffen muss. Wenn diese Beschaffung aber realistischerweise nicht möglich ist, bleibt auch die Entstehung persönlicher Informationen eine theoretische Möglichkeit. Das Recht auf Datenschutz würde ebenso uferlos wie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, schützte es vor allen nur theoretischen oder befürchteten Persönlichkeitsbeeinträchtigungen, die aus einer Datenverarbeitung folgen können. Daher liegt ein Personenbezug vor, wenn der Archivinhaber das zur Identifizierung nötige Zusatzwissen unter normalen Umständen erlangen kann. c) Systematische Verdatung als Erweiterung der Verhaltensbeobachtung Doch nicht bei jeder Archivierung persönlicher Daten kann man von einer Überwachung im zuvor89 beschriebenen Sinne sprechen. Hält jemand seine Beobachtungen in einem digitalen Tagebuch oder auch einer E-Mail fest, überwacht er dadurch nicht denjenigen, den die Informationen betreffen. Auch der Journalist, der personenbezogene Beobachtungen in der Öffentlichkeit in einem Artikel festhält, beeinträchtigt keine Privatsphärerechte der Betroffenen, auch wenn der Artikel anschließend in einem digitalen Archiv abgelegt wird. Denn hier intensiviert die Verdatung nicht die Möglichkeiten einer Verhaltensbeobachtung. Vielmehr ist das Verhalten beobachtet, weil es öffentlich ist und weil es dem Beobachtenden „aufgefallen“ ist und somit Informationen produziert hat. Wie eingangs hergeleitet, „gehört“ eine Information nicht dem Betroffenen.90 Das Gegenüber interpretiert vielmehr das Verhalten des Betroffenen zu einer Information, die ab diesem Zeitpunkt ein „Abbild sozialer Realität 89 K.
I. 3. B. I. 1.
90 Siehe
132
3. Kap.: Das Recht auf Datenschutz
dar[stellt], das nicht ausschließlich dem Betroffenen allein zugeordnet werden kann“91. Wer durch Beobachtung in der Öffentlichkeit Informationen erlangt, darf auch frei damit umgehen. Dazu kann auch eine Verdatung dieser Informationen gehören. Die Grenze ist, wie bereits angeklungen ist, bei einer systematischen Verdatung verhaltensbezogener Informationen erreicht.92 Zwar ist die Beobachtung Dritter im öffentlichen Raum ihrerseits ein Element der Persönlichkeitsentfaltung, was bei der Bestimmung der Reichweite der Schutzpflicht berücksichtigt werden muss. Aber die systematische Archivierung verhaltensbezogener Informationen hebt den Archivierenden gerade aus dem „natürlichen“ Gleichgewicht von Erkennen und erkannt Werden, von Informationen Produzieren und anonym Bleiben hervor. Er verschafft sich Möglichkeiten der Informationsgewinnung, die Dritte nicht haben. Durch die systematische Archivierung kann er Verhalten einer nachträglichen systematischen Untersuchung zuführen und damit Schlussfolgerungen ziehen, die für den Betroffenen in der Situation nicht absehbar waren. Genau solche Ungleichgewichte in einem interaktiven Prozess, wie hier der Persönlichkeitsentfaltung mit Hilfe von Informationen, begründen die Notwendigkeit staatlicher Schutzpflichten.93 Auch die staatliche Archivierung persönlicher Daten führt nicht stets zu einem Überwachungseffekt. Dieser tritt auch hier erst bei einer systematischen Verdatung ein. Ein behördlicher E-Mail-Eingang ist ebenso wenig ein systematisches Archiv wie die digitale Sammlung von Pressemitteilungen einer staatlichen Stelle. Über solche Fälle hinaus sind indes beim Staat kaum „harmlose“ dauerhafte Verdatungen denkbar. Das liegt am Organisationsgrad, den abstrakte Einrichtungen wie Behörden aufweisen. Anders als Private, auf deren Festplatten sich verstreute persönliche Informationen finden werden, deren Speicherung aber keine Wirkung auf die Rechte der Betroffenen hat, erfolgen behördliche Archivierungen – zumindest idealtypischerweise – in strukturierter und systematischer Weise. Gerade die behördliche Beobachtungs- und Ermittlungstätigkeit ist darauf gerichtet, Informationen zu sammeln, zu aggregieren und daraus Schlüsse zu ziehen. Genau das begründet die hier beschriebene Gefährdung der Privatsphäre. Unberührt bleibt sowohl bei staatlicher als auch bei privater Archivierung der Schutz vor Profilbildung.94 Sobald die Daten zu einem Profil zusammengestellt oder so indexiert sind, dass ein zusammengestellter personenbezogener Abruf jederzeit möglich ist, ist die Verdatung aus Selbstdarstellungssicht rechtfertigungsbedürftig. 91 BVerfGE
65, 1 (44). K. I. 3. 93 Suhr, S. 112; siehe auch C. III. 94 Dazu J. 92 Vgl.
K. Privatsphärekomponente: Der Schutz vor Überwachung133
d) Verhältnis der vorstehenden Voraussetzungen Die genannten Voraussetzungen müssen kumulativ vorliegen. Sind Personen bei einer Videoaufzeichnung für den Aufzeichnenden nicht identifizierbar, liegt auch bei einer dauerhaften Speicherung keine Beeinträchtigung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts vor. Ein Versandhändler speichert selbstverständlich die Bestelldaten in seinem operativen Datenbestand in Verbindung mit Namen und Adresse des Bestellers. Ein Eingriff liegt aber nur vor, wenn sie anschließend ebenso mit Personenbezug archiviert werden. Werden sie anonymisiert oder pseudonymisiert archiviert, liegt zu keinem Zeitpunkt eine rechtfertigungsbedürftige personenbezogene Archivierung vor. Erst fehlt es an der Permanenz der Speicherung, dann am Personenbezug. Liegen die drei Voraussetzungen Archivierung, Personenbezug und Erweiterung der Verhaltensbeobachtung vor, liegt schon in der Verdatung eine rechtlich relevante Gefährdung der Persönlichkeitsentfaltung, die den Schutzbereich des Rechts auf Datenschutz berührt. Denn der Einschüchterungseffekt auf das Verhalten besteht schon dann und ist unabhängig davon, ob die Daten letztlich abgerufen werden. Der Schutz vor Überwachung setzt daher aus gutem Grund bereits „auf der Stufe der Persönlichkeitsgefährdung“95 an. 2. Abruf Das macht den Abruf keineswegs irrelevant. Immerhin verwirklicht, wie eingangs bereits ausgeführt,96 erst dieser die Beeinträchtigung der relativen Privatheit des Verhaltens, indem durch ihn in einem neuen Kontext Informationen gebildet werden. Ist kein Abruf persönlicher Informationen in einem neuen Kontext zu erwarten, liegt schon keine relevante Gefährdung vor;97 auch die Intensität der Gefährdung richtet sich entscheidend nach den anvisierten Abrufen.98 Auf Schutzbereichsebene muss der Abruf daher seinerseits auch unter Privatsphäregesichtspunkten99 als Beeinträchtigung des Rechts auf Datenschutz gesehen werden.
95 BVerfGE
118, 168 (184). K. II. 1. a) aa). 97 Siehe K. II. 1. a). 98 Siehe N. II. 99 Zur Selbstdarstellung bereits J. II. 1. 96 Siehe
134
3. Kap.: Das Recht auf Datenschutz
III. Verhältnis zu anderen Grundrechten Andere Grundrechte oder Komponenten des allgemeinen Persönlichkeitsrechts können weiter gehen als der Schutz vor Überwachung. Zunächst können Spezialgrundrechte ein thematisches Beobachtungs- und / oder Verdatungsverbot begründen. Ob und inwieweit ein solches vorliegt, ergibt sich aus deren Auslegung. Denn nur wenn man deren jeweilige Freiheitsverbürgung zugrunde legt, kann erschlossen werden, inwieweit Datenverarbeitungen mit dieser in Konflikt geraten.100 So kann beispielsweise die staatliche Beobachtung einer Versammlung und die Erstellung eines Berichts darüber in Art. 8 GG eingreifen oder die Pflicht, über die Mediennutzung Auskunft zu geben, in Art. 5 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. GG. Je nach Auslegung des Grundrechts ist dafür nicht unbedingt eine permanente Archivierung vonnöten. Bei einer Versammlung etwa kann schon deren Beobachtung einen Grundrechtseingriff darstellen.101 Zudem vertieft die Verdatung von Informationen, die unter Eingriff in situative Privatsphärerechte erlangt wurden, diesen Eingriff. Auch das Recht auf thematische Privatsphäre kann durch eine Verdatung betroffen werden, da diese die Informationen für den Abruf und die Weitergabe verfügbar macht. Wie im Verhältnis zum allgemeinen Recht der Selbstdarstellung102 ist auf diese Rechte abzustellen, soweit sie einschlägig sind, und nicht auf das Recht auf Datenschutz. Denn die Spezifika der automatisierten Datenverarbeitung, insbesondere die Verknüpfbarkeit, spielen in diesen Fällen keine Rolle. Die Eingriffswirkung wäre dieselbe, wenn die privaten Informationen auf Papier festgehalten oder mündlich weitergegeben würden. Daher ist der Grund für den Schutz hier nicht datenschutz-, sondern privatsphärespezifisch.
IV. Zusammenfassung Der Informationsgehalt des Verhaltens des Einzelnen hängt vom Kontext ab, in dem dieses Verhalten stattfindet. Häufig wird es gar keine Informationen produzieren, wenn der Handelnde unter Fremden ist und / oder sich dem jeweiligen Kontext entsprechend sozialadäquat verhält. Daher stellen die Rechte am eigenen Bild und Wort sicher, dass es nicht aus dem jeweiligen Kontext „herausgelöst“ und in einem anderen Kontext neu interpretiert wird. Das sichert die Unbefangenheit des Verhaltens, da der Einzelne den Informationsgehalt absehen kann. Das schützt insbesondere Verhalten im Randbe100 Albers,
in: GVwR II, § 22 Rn. 72; Bull, S. 57. Rn. 825. 102 Siehe J. III. 101 Kingreen/Poscher,
K. Privatsphärekomponente: Der Schutz vor Überwachung135
reich der Verhaltenserwartungen, das sich in manchen, aber nicht in allen Kontexten in die Selbstdarstellung integrieren lässt. Ähnlich argumentiert das Bundesverfassungsgericht beim Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Zwar muss der Einzelne grundsätzlich damit leben, dass Informationen wider Erwarten entstehen und in andere Kontexte transferiert werden. Wenn aber systematisch Informationen gesammelt und damit einer nachträglichen Interpretation zugänglich gemacht werden, geht die Möglichkeit des Einzelnen verloren, „unsichtbar“ zu bleiben und gar keine Informationen zu produzieren. Eine solche systematische Verhaltensbeobachtung kann als Überwachung bezeichnet werden. Ein solcher Überwachungseffekt entsteht durch eine Verdatung unter drei Voraussetzungen: Die Verdatung muss permanent, personenbezogen und systematisch sein. Permanenz bedeutet, dass die Daten über ihren eigentlichen, unmittelbaren Zweck hinaus verfügbar gehalten und dafür archiviert werden. Die Verdatung als solche ist kein Problem, wenn die Daten nur zu einem begrenzten Zweck, etwa zu einer Vertragsabwicklung oder im staatlichen Bereich zum einem Abgleich mit dem Fahndungsbestand, verwendet und unmittelbar danach gelöscht werden. Soweit die Daten in diesem Sinne flüchtig bleiben, sind sie lediglich ein Werkzeug, das eine ansonsten anders ablaufende Abwicklung erleichtern soll. Erst wenn sie vorgehalten werden, um durch Aggregation und Interpretation weitere Schlüsse daraus zu ziehen, kann das Recht auf Datenschutz betroffen sein. Der Personenbezug ist hier als relative Personenbeziehbarkeit im Sinne der Dogmatik zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung zu verstehen. Die Voraussetzung der systematischen Verdatung dient, ähnlich der Permanenz, dazu, datenspezifische Persönlichkeitsgefährdungen zu identifizieren. Wer einen anderen beobachtet, kann über diese Beobachtung in einem persönlichen Gespräch oder einer E-Mail berichten. In beiden Fällen ist beim Beobachter eine Information entstanden, an der derjenige, den sie betrifft, kein Ausschließlichkeitsrecht hat. Auch wenn die E-Mail anschließend im Postausgang des Senders oder dem Posteingang des Empfängers verbleibt, wird der Betroffene dadurch nicht überwacht. Erst durch eine systematische Aufzeichnung verschafft sich der Aufzeichnende eine Informationsquelle, die über die Selbstverständlichkeiten des sozialen Miteinander hinausgeht. Werden Informationen aus einem solchen Archiv abgerufen, ist ebenfalls das Recht auf Datenschutz betroffen.
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3. Kap.: Das Recht auf Datenschutz
L. Zwischenfazit: Die Phasen der Datenverarbeitung und ihre rechtliche Relevanz Das hier vorgeschlagene Recht auf Datenschutz unterscheidet sich vom Recht auf informationelle Selbstbestimmung weniger darin, was es erfasst, als in dem, was es nicht erfasst. Weder die bloße Erhebung (§ 3 Abs. 3 BDSG 2009) noch jede Speicherung (§ 3 Abs. 4 Nr. 1 BDSG 2009) personenbezogener Daten berühren das Recht auf Datenschutz, da hierdurch allein keine rechtlich relevante Gefahr geschaffen wird. Diese liegt nur bei einer Archivierung, also einer dauerhaften Speicherung persönlicher Daten vor, und auch das nur unter der Voraussetzung, dass damit die Möglichkeiten der Verhaltensbeobachtung erweitert werden. Von der Archivierung ist die Bildung eines Persönlichkeitsprofils zu unterscheiden, die anders als die Archivierung nicht die Privatsphäre-, sondern die Selbstdarstellungskomponente des Rechts auf Datenschutz berührt. Sie setzt daher nicht die Erweiterung der Verhaltensbeobachtung voraus, dafür müssen die Daten einer Person zugeordnet und zusammengestellt in Hinblick auf diese Person abrufbar sein. Das Gegenstück zu Archivierung und Profilbildung ist der Abruf, die Bildung persönlicher Informationen mit Hilfe der automatisierten Datenverarbeitung, der der Nutzung i. S. v. § 3 Abs. 5 BDSG 2009 nahekommt. Dieser berührt sowohl Privatsphäre- als auch Selbstdarstellungskomponente. Gleichsam dazwischen liegen zwei besondere Formen der Generierung von Informationen mit Hilfe der automatisierten Datenverarbeitung, die faktisch häufig mit dem Abruf zusammenfallen werden, die aber besondere Persönlichkeitsbeeinträchtigungen darstellen und daher separat zu behandeln sind. Die eine ist die Identifizierung von Personen als Beeinträchtigung der Privatsphärekomponente, die andere die Erstellung personenbezogener Prognosen als Beeinträchtigung der Selbstdarstellungskomponente. Dafür kommen die eher technisch definierten Verarbeitungsphasen der Veränderung (§ 3 Abs. 4 Nr. 2 BDSG 2009) und Übermittlung (§ 3 Abs. 4 Nr. 3 BDSG 2009) in der hier vorgeschlagenen Konzeption nicht als eigene Kategorien vor. Eine Veränderung ist eine Archivierung der veränderten Daten. Eine Übermittlung ist im Falle der Weitergabe der Daten (§ 3 Abs. 4 Nr. 3 lit. a BDSG 2009) eine Archivierung durch den Empfänger, sofern sie dort permanent, personenbezogen und systematisch gespeichert werden. Im Falle einer Übermittlung durch Einsichtnahme oder Abruf (§ 3 Abs. 4 Nr. 3 lit. b BDSG 2009) – hier taucht die hier verwendete Begrifflichkeit auch im BDSG 2009 auf – handelt es sich um einen Abruf durch einen Dritten.
M. Folgerungen für die Rechte am eigenen Bild und Wort137
M. Folgerungen für die Rechte am eigenen Bild und Wort Die parallele Zielsetzung der Rechte am eigenen Bild und Wort einerseits und der Privatsphärekomponente des Datenschutzes andererseits wurde bereits zur Herleitung der Letzteren genutzt.103 Andersherum können die Erkenntnisse zur Reichweite des Schutzes vor einer Überwachung durch die automatisierte Datenverarbeitung nun genutzt werden, um die Reichweite der Rechte am eigenen Bild und Wort zu präzisieren. Denn bei diesen handelt es sich letztlich um eine besondere Form des Schutzes vor Verdatung, nämlich vor der visuellen Verdatung des Verhaltens durch Foto- und Videoaufnahmen, und vor der akustischen Verdatung des gesprochenen Wortes. Gleichwohl gibt es, wie sogleich zu zeigen ist, Unterschiede in der Schwerpunktsetzung. Insofern behalten diese Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts eine eigenständige Bedeutung neben dem Recht auf Datenschutz.
I. Archivierung Auch diese Rechte betreffen verschiedene Stadien der Datenverarbeitung, und auch hier beginnt der Schutz mit der Archivierung, nicht früher und nicht später. Das muss gerade beim Recht am eigenen Bild betont werden. Der einfach-rechtliche Schutz nach §§ 22, 23 KUG setzt hier erst bei der Verbreitung und öffentlichen Zurschaustellung an. Für diese Verarbeitungsformen dürften sie die Schutzpflicht abschließend konkretisieren; die Ausnahmetatbestände des § 23 Abs. 1 und die Rückausnahme nach § 23 Abs. 2 KUG ermöglichen für alle Einzelfälle sachgerechte Abwägungen. In Hinblick auf die Eingriffshandlungen sind sie aber nicht abschließend.104 Insbesondere muss es, wie gesehen, aus dem Gedanken der Privatsphäre heraus schon einen Schutz vor der Erstellung von Aufnahmen geben.105 Um diesen zu gewährleisten, braucht es in Hinblick auf Bildaufnahmen aber ebenso wenig ein pauschales Verdatungsverbot wie bei anderen Daten. Das wird etwa bei der Videoüberwachung des öffentlichen Raums relevant. Diese stellt jedenfalls dann keinen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht dar, wenn das Bild nur auf einen Bildschirm übertragen wird und keine Aufzeichnung erfolgt.106 Hier fehlt es schon an einer Verdatung. Ver103 Siehe
K. I. 1. Dreier, Art. 2 I Rn. 73; Wandtke/Bullinger – Fricke, § 22 KUG Rn. 9. 105 Siehe K. I. 1. 106 Enders, in: HGR IV, § 89 Rn. 50; Ipsen, Rn. 496; Wohlfarth, RDV 2000, 101 (102); aA Dolderer, NVwZ 2001, 130 (131); Roggan, NVwZ 2001, 134 (135). 104 DR –
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3. Kap.: Das Recht auf Datenschutz
halten im öffentlichen Raum ist ohnehin beobachtet und unterliegt dementsprechenden Darstellungszwängen.107 Es macht keinen Unterschied, ob man sich auf eine Beobachtung lediglich von der nächsten Straßenecke oder auch von einem Bildschirm aus einstellen muss. Dass der Bürger denkt, registriert zu werden, kann allein keinen Eingriff begründen.108 Der Schutz vor Überwachung, nicht zuletzt durch Bildaufnahmen, soll verhindern, dass der Bürger rechtmäßiges Verhalten aus Angst vor Konsequenzen in vorauseilendem Gehorsam unterlässt. Er darf aber nicht so weit gehen, dass umgekehrt der Staat Überwachungsmaßnahmen, die objektiv die Selbstdarstellung nicht beeinträchtigen können, aus Angst, Grundrechtsträger könnten sie als Eingriffe empfinden, in vorauseilendem Gehorsam unterlassen muss. Doch auch eine Aufzeichnung führt nicht zwangsläufig zu einer unabsehbaren Beobachtung durch Dritte. Regelmäßig werden die Videos nämlich zwar aufgezeichnet, aber niemals zur Kenntnis genommen werden, wenn nicht etwa eine zu dieser Zeit an diesem Ort begangene Straftat Anlass dazu gibt. Daher ist zu differenzieren. Bleiben die Aufzeichnungen für spätere Verwendungen gespeichert, besteht eine grundrechtlich relevante Gefährdungslage, dass zu einem späteren Zeitpunkt persönliche Informationen gebildet werden, die der Einzelne bei seiner Handlung nicht absehen konnte. Werden aber die Aufzeichnungen gelöscht, sofern sich nicht innerhalb kurzer Zeit ein Anlass ergibt, sie aufzubewahren, handelt es sich um flüchtige Daten, wie beim Nichttrefferfall der Kennzeichenerfassung.109 Der Zeitraum muss aber auf ein absolutes Minimum beschränkt werden. Werden Daten bei Anlass längerfristig gesichert, ist dies am allgemeinen Persönlichkeitsrecht zu messen. Das Bundesverfassungsgericht sieht in seiner einstweiligen Anordnung zum Bayerischen Versammlungsgesetz – jedenfalls bei Versammlungen – bereits die Anfertigung von Videoaufzeichnungen als Grundrechtseingriff.110 Ob eine bloße Übermittlung ohne Aufzeichnung ebenfalls ein Eingriff ist, musste das Gericht nicht entscheiden. Die besonders intensive Eingriffswirkung leitet es aber erst aus der Möglichkeit des Verfügbarhaltens von Daten ab, aufgrund dessen nachträglich „eine zunächst unauffällige Teilnahme an einer Versammlung aufgegriffen, neu interpretiert und zum Anknüpfungspunkt weiterer Maßnahmen gemacht werden“111 kann. Als Konsequenz ordnet es an, dass eine Auswertung der Daten unverzüglich zu erfolgen hat und die Daten, soweit sie nicht benötigt werden, spätestens innerhalb von zwei Enders, in: HGR IV, § 89 Rn. 49; Ipsen, Rn. 496. in: HGR IV, § 89 Rn. 50; Keller, Kriminalistik 2000, 187 (188); aA Roggan, NVwZ 2001, 134 (135). 109 Dazu K. II. 1. a) aa). 110 BVerfGE 122, 342 (368). 111 BVerfGE 122, 342 (370). 107 Vgl.
108 Enders,
M. Folgerungen für die Rechte am eigenen Bild und Wort139
Monaten gelöscht oder irreversibel anonymisiert werden.112 In Herleitung wie Ergebnis erinnert das an die hier vorgeschlagene Differenzierung zwischen vorübergehender, flüchtiger Verdatung einerseits und Archivierung andererseits. Erstere gar nicht mehr als Eingriff zu sehen, wäre ein konsequenter nächster Schritt. Im konkreten Fall ist dem Bundesverfassungsgericht aber zuzustimmen, wenn man Art. 8 GG einen im Vergleich zu Art. 2 Abs. 1 GG erweiterten, auch die flüchtige Verdatung betreffenden Schutz entnehmen kann, was im Zusammenhang dieser Arbeit nicht zu entscheiden ist. Für den Personenbezug gilt ebenfalls dasselbe wie beim allgemeinen Schutz vor Überwachung. Der Schutz der Rechte am eigenen Bild und Wort setzt voraus, dass der Archivierende in der Lage ist, bestimmte Personen mit ihm verfügbaren Zusatzinformationen zu identifizieren. Das hängt bei Bildern nicht zuletzt von den technischen Möglichkeiten und der Verfügbarkeit von Gesichtserkennungstechnologie ab. Angesichts der Entwicklungen in diesem Bereich dürfte daher auch die beeinträchtigende Wirkung visueller Überwachung in den nächsten Jahren steigen. Anders als der allgemeine Schutz vor Verdatung greifen die Rechte am eigenen Bild und Wort nicht erst bei einer systematischen Aufzeichnung. Denn schon eine einzelne Bild- und / oder Tonaufzeichnung beeinträchtigt die Unbefangenheit des Verhaltens. Das hängt mit der Fülle an Informationen zusammen, die ein Foto, ein Video oder eine Tonaufnahme generieren kann. Fotografiert jemand eine Situation, so ermöglicht er sich oder einem dritten Betrachter des Fotos gleichsam eine immer neue unmittelbare Beobachtung und Interpretation der Situation. Der Abrufende ist nicht auf die Informationen beschränkt, die der Archivierende unmittelbar wahrnehmen konnte, sondern kann mit Hilfe der Fotografie und eventuellen technischen Hilfsmitteln Personen und Orte identifizieren, Körpersprache, Kleidung, Anzeichen von Krankheiten und vieles mehr analysieren. Dasselbe gilt für die Analyse von Stimme, Intonation, Akzent und Ähnlichem beim Abruf des aufgezeichneten gesprochenen Wortes.
II. Verbreitung und Abruf Beim Recht auf Datenschutz kann sich die beeinträchtigende Wirkung des Abrufs sowohl aus Privatsphäre- als auch aus Selbstdarstellungsgesichtspunkten ergeben. Beide Gesichtspunkte finden sich auch beim Recht am eigenen Bild. Das Bundesverfassungsgericht begründet dieses, wie gesehen, mit Privatsphäreaspekten.113 Die einfach-rechtliche Ausgestaltung dieses 112 BVerfGE 113 Siehe
122, 342 (372). K. I. 1.
140
3. Kap.: Das Recht auf Datenschutz
Rechts in §§ 22, 23 KUG, die bereits aus dem Jahre 1907 stammt,114 stellt hingegen nicht auf eine mögliche Privatsphärebeeinträchtigung durch die Aufnahme von Bildern ab, sondern auf ihre Verbreitung und öffentliche Zurschaustellung, insbesondere in den Medien. Es geht also um das öffentliche Ansehen, die Selbstdarstellung des Einzelnen. Daher läge es nahe, dass sich auch hier eine Eingriffswirkung aus Archivierung und Abruf ergeben kann. Die Rechte am eigenen Bild und Wort haben jedoch einen anderen Schwerpunkt als das Recht auf Datenschutz. Bei Letzterem geht es um die Erstellung ganzer Datenbanken, die, in Form systematischer Verdatung, einzelnen Daten einen höheren und unabsehbaren Informationswert vermitteln und, sofern die Daten einzelnen Personen zugeordnet sind, einen umfassenden Überblick über diese Personen geben. Bei den Rechten am eigenen Bild und Wort geht es hingegen um die beeinträchtigende Wirkung einzelner Verdatungen durch Bild- oder Tonaufnahmen. Daher können diese Rechte, ebenso wie das allgemeine Recht der Selbstdarstellung, beim Verbreitenden ansetzen. Auch in den von diesem Recht erfassten Fällen ist die Selbstdarstellung materiell nicht beeinträchtigt, wenn die verbreitete falsche oder stigmatisierende Information – aus welchen Gründen auch immer – von niemandem zur Kenntnis genommen wird. Der Verbreitende gibt aber die Kontrolle über die Information aus der Hand; hierdurch ist die Beeinträchtigung der Selbstdarstellung gleichsam schon angelegt. So verhält es sich auch bei der Verbreitung von Bild- und Tonaufnahmen. Daher stellt es sich als eine zulässige und sachgerechte Konkretisierung der Selbstdarstellungskomponente des Rechts am eigenen Bild dar, wenn § 22, S. 1 KUG die Verbreitung und öffentliche Zurschaustellung zum Anknüpfungspunkt des Schutzes macht. Lediglich die Archivierung muss, wie gesehen, aus Privatsphäregründen darüber hinaus vom Schutzbereich dieses Rechts erfasst sein. Der Abruf dieser einzelnen Bilder hat demgegenüber keine eigenständige Bedeutung. Beim Recht auf Datenschutz kann es sich umgekehrt verhalten: Die Archivierung eines einzelnen Standortdatums hat in der Regel keine nennenswerte persönlichkeitsrechtliche Bedeutung, sie erhält diese Bedeutung gleichsam erst im Nachhinein, wenn das Datum gemeinsam mit einer Vielzahl von anderen Daten abgerufen wird. Bei den Rechten am eigenen Bild und Wort lässt sich bereits bei der Verbreitung anhand des Inhalts und des Verbreitungszusammenhangs im Wesentlichen absehen, welche Wirkung die Verbreitung hat. Dass die Aufnahme dann tatsächlich zur Kenntnis genommen wird und Informationen gebildet werden, vollzieht nur das, was in der Verbreitung bereits angelegt war.
114 Wandtke/Bullinger –
Fricke, § 22 KUG Rn. 1.
N. Die Gewichtung des Schutzes141
Natürlich kann auch eine Bild- oder Tonaufnahme Teil eines Persönlichkeitsprofils im Sinne des Rechts auf Datenschutz werden. Im Rahmen eines Persönlichkeitsprofils ist es jedoch sekundär, um was für Daten es sich handelt, ob Bilder, sprachliche Äußerungen, Standortdaten etc. Daher sollte die Generierung persönlicher Informationen mit Hilfe umfassender Datenbanken auch einheitlich am Recht auf Datenschutz überprüft werden. Im Folgenden sollen die das Recht am eigenen Bild betreffenden Fragestellungen separat vom Recht auf Datenschutz behandelt werden. Das ist durch die gerade aufgezeigten Unterschiede zwischen den Rechten bedingt. Zudem kann so geprüft werden, inwiefern zum Recht am eigenen Bild gefundene Ergebnisse auch in Hinblick auf Verzicht und Veröffentlichung auf das allgemeinere Recht auf Datenschutz übertragen werden können. Immerhin gibt es vergleichsweise reichhaltige Rechtsprechung und Literatur zu § 22 KUG, die genau solche Fragen betrifft.115
N. Die Gewichtung des Schutzes An der Konzeption informationeller Selbstdarstellung wurde kritisiert, dass sie keine materiellen Abwägungsgesichtspunkte bereithält.116 Daher stellt sich nun die Frage, was die Kriterien für die Gewichtung des Datenschutzes in der Abwägung mit kolllidierenden Interessen aus Sicht der hier vertretenen persönlichkeitsrechtlichen Datenschutzkonzeption sind.
I. Die Persönlichkeitsrelevanz der Daten? Ein naheliegendes, bei näherer Betrachtung aber schwaches Kriterium ist die inhaltliche „Persönlichkeitsrelevanz“ der erhobenen und durch die Datenverarbeitung generierbaren Informationen. Eine solche kommt nach dem Bundesverfassungsgericht vor allem Informationen zu, die sich auf anderweitig, etwa in Art. 3 Abs. 3 GG oder Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 3 WRV, verfassungsrechtlich geschützte Bereiche beziehen.117 Durch dieses Kriterium konterkariert das Bundesverfassungsgericht die Vorteile, die der individualistische Ansatz der informationellen Selbstbestimmung mit sich bringt. Dieser soll es gerade dem Einzelnen überlassen zu bestimmen, welche Informationen für ihn inwieweit Schutz verdienen, und es nicht, wie bei der thematischen Privatsphäre,118 „von außen“ bestimmen.119 Das führt auf bei Wanckel, Rn. 128 ff. B. I. 2. 117 BVerfGE 115, 320 (348). 118 Zu dieser F. II. 1. b). 119 Siehe A. I. 115 Überblick 116 Siehe
142
3. Kap.: Das Recht auf Datenschutz
Schutzbereichsebene zu einem ausufernden Schutz und sorgt dafür, dass die entscheidende Weichenstellung zwischen zulässigen und unzulässigen Datenverarbeitungen erst auf Abwägungsebene stattfindet.120 Wenn an diesem entscheidenden Prüfungspunkt nun aber eine überindividuelle, anhand allgemein geltender Grundrechte bestimmte „Persönlichkeitsrelevanz“ zum zentralen Kriterium gemacht wird, hilft der umfassende Schutz auf Schutzbereichsebene dem Grundrechtsträger wenig weiter. Denn dann wird die Entscheidung über die Zulässigkeit einer einzelnen Datenverarbeitung letztlich in vielen Fällen auf Rechtfertigungsebene ungeachtet seines individuellen Privatsphärebedürfnisses gefällt. Richtig ist indes die Anknüpfung an weitere Grundrechte und andere Normen des Grundgesetzes. Das hat aber nichts mit Persönlichkeitsrelevanz zu tun, sondern mit dem Schutz, den diese Grundrechte selbst gewähren. Art. 3 Abs. 3 GG wurde bereits erwähnt:121 Er schützt nicht unmittelbar vor der Datenverarbeitung, sondern vor Ungleichbehandlungen aufgrund bestimmter Merkmale. Es geht folglich nicht um die Schaffung der Informationsgrundlage für eine Entscheidung, sondern um die Entscheidung selbst. Wenn nun aber diese wegen Art. 3 Abs. 3 GG ohnehin nicht auf ein bestimmtes Merkmal gestützt werden darf, ist seine Speicherung zu dem Zweck, die Informationsgrundlage für diese Entscheidung zu schaffen, nicht geeignet. Soweit Grundrechte die Privatheit von Daten und Informationen schützen, können sie auch durch einen Abruf betroffen sein. Das gilt sowohl für Art. 10 und 13 GG und das aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht abgeleitete Recht auf Privatsphäre als auch für die Freiheitsrechte, die vor der abschreckenden Wirkung einer Beobachtung des geschützten Verhaltens schützen.122 Diese Grundrechte sind mitzuberücksichtigen, wenn die Speicherung oder der Abruf eines kompletten Dossiers mit Daten unterschiedlicher grundrechtlicher Bedeutung in Rede steht. Das kann dem Grundrechtsschutz ein stärkeres Gewicht verleihen, als wenn nur der allgemeine Art. 2 Abs. 1 GG betroffen ist. Das folgt aber nicht aus der Persönlichkeitsrelevanz dieser Informationen, sondern unmittelbar aus dem Schutzgehalt der mitbetroffenen Grundrechte.
120 Siehe
B. I. 2. J. III. 122 Vgl. K. III. 121 Siehe
N. Die Gewichtung des Schutzes143
II. Der Zweck der Datenverarbeitung 1. Differenzierung nach den Folgen eines Abrufs a) Bedeutung der Folgen für die persönlichkeitsrechtliche Bewertung Beim allgemeinen Recht der Selbstdarstellung wurden zwei Gesichtspunkte dafür herausgearbeitet, wann der Schutz vor Informationen einsetzen muss, die die Person betreffen: die Intensität der nachteiligen Konsequenzen der Information und die Zurechenbarkeit an den betroffenen Grundrechtsträger.123 Das kann als Vorlage auch für das Recht auf Datenschutz dienen. Die Zurechnung wird durch die automatisierte Datenverarbeitung durchbrochen. Sofern die gespeicherten Informationen als solche nicht falsch sind, basieren sie zwar auf dem Verhalten des Einzelnen. Das Gesamtbild, das sie ergeben, kann der Einzelne jedoch nicht durch situationsangemessenes und ggf. -differenziertes Verhalten steuern. Vielmehr kann die datenverarbeitende Stelle sich die Informationen aus den verschiedensten Lebensbereichen und -phasen nach ihrem jeweiligen Informationsinteresse zusammenstellen, ohne dass der Betroffene auf diesen Prozess einen Einfluss hat. Da dieser Effekt bei jedem Abruf persönlicher Daten eintritt, greift der Datenschutz, anders als das Recht der Selbstdarstellung, nicht erst bei erheblichen nachteiligen Folgen der Information für die Selbstdarstellung ein.124 Wenn solche aber vorliegen, intensivieren diese den Eingriff. Häufig werden die Folgen einer einzelnen Datenverarbeitung kaum zu spüren sein. Die Konfrontation des Einzelnen mit einem vorgefertigten Bild Dritter wird oft erst dann zum Problem, wenn sie immer wieder auftritt. Dann kann er sich allmählich auf dieses Bild festgelegt fühlen. Deswegen muss es diesbezüglich Grenzen geben; solange der Eingriff kaum spürbar ist, brauchen die Hürden für eine Rechtfertigung aber nicht allzu hoch angesetzt werden. Das ändert sich, wenn der Einzelne aufgrund einer Datenverarbeitung einer konkreten Beeinträchtigung seiner Persönlichkeitsentfaltung ausgesetzt ist, wenn er etwa festgenommen wird. Dann ist seine Persönlichkeitsentfaltung schon aufgrund einer einmaligen Datenverarbeitung erheblich betroffen. Ob die Festnahme selbst gerechtfertigt ist, bestimmt sich an Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG mit seinen Schranken.125 Hier geht es um die vorgelagerte Ebene, um die Steuerung der Informationen, die die staatliche Stelle zu dem Eingriff veranlassen. Wird die Festnahme auf bestimmte Verdachtsmomente gestützt, die 123 Siehe
F. I. 2. J. I. 1. 125 BVerfGE 120, 378 (404). 124 Siehe
144
3. Kap.: Das Recht auf Datenschutz
sich aus dem Verhalten des Grundrechtsträgers ergeben, so soll das allgemeine Persönlichkeitsrecht sicherstellen, dass die diesbezüglichen Informationen ihm zumindest zugerechnet werden können. Diese Zurechnung ist nicht gegeben, wenn aufgrund der Datenverarbeitung ein verzerrtes Bild des Betroffenen entsteht. Das ist umso problematischer, je negativer der Eindruck ist, den die Informationen generieren. b) Zusammenhang zwischen Informationsprofilen und Eingriffen Von einer Beeinträchtigung der Selbstdarstellung kann man beim Staat nicht sprechen, da die Selbstdarstellung im Staat-Bürger-Verhältnis keine Rolle spielt. Der Staat hat der Selbstdarstellung gegenüber neutral zu bleiben. Das wird gesichert, indem sein Handeln an vom Individuum unabhängige normierte Merkmale geknüpft wird.126 Geht es etwa um die Entscheidung über die Anordnung einer Untersuchungshaft, so werden der Beurteilung der Fluchtgefahr nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO zahlreiche persönliche Informationen über die Lebenssituation des Beschuldigten zugrunde gelegt. Anknüpfungspunkt ist aber nicht die Identität – ob er ein guter oder schlechter, zuverlässiger oder unzuverlässiger, gefährlicher oder ungefährlicher Mensch ist –, sondern eine Prognose über ein ganz bestimmtes Verhalten. Insofern sind nur die Informationen für die Entscheidung relevant, die Aussagekraft bezüglich der die Fluchtgefahr haben. Staatliche Verhaltenserwartungen müssen gleichsam in Rechtsnormen gegossen und dadurch für den Bürger transparent und nachvollziehbar sein. Das geschieht namentlich durch das materielle Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht. Dasselbe muss für das Verfahren gelten, in dem Verstöße festgestellt und sanktioniert werden. Dieses Verfahren dient dazu, die Zurechenbarkeit der Sanktionen an die Handlungen zu sichern. Sind sowohl die Verhaltenserwartungen als auch das Verfahren normiert, sollte ein „schlechter Eindruck“ überhaupt keine Auswirkungen haben. Der Staat hat gegenüber dem jeweiligen Persönlichkeitsentwurf des Einzelnen neutral zu sein.127 Allerdings erfolgen auch in staatlichen Verfahren, die der Informationsermittlung dienen, bereits Grundrechtseingriffe, für die ein solcher Eindruck sehr wohl eine Rolle spielen kann. Deutlichstes Beispiel sind staatliche Ermittlungsmaßnahmen, insbesondere im Strafverfahren. Ermittlungsmaßnahmen setzen aus gutem Grund, nämlich um den Zweck der Maßnahme nicht zu gefährden, in der Regel keine vorherige Anhörung voraus. Zudem muss naturgemäß noch kein Fehlverhalten nachgewiesen sein, es genügt ein bestimmter Verdachts126 Siehe
F. I. 3. S. 197.
127 Schlink,
N. Die Gewichtung des Schutzes145
grad, um einen Eingriff zu rechtfertigen. Dieser kann sich beispielsweise aus einzelnen Wahrnehmungen staatlicher oder privater Beobachter ergeben, aber auch aus der Analyse persönlicher Daten. Die Problematik einer Kombination aus einer umfangreichen Datenauswertung und tiefgreifenden Grundrechtseingriffen, die zudem aufgrund eines Verdachts und ohne vorherige Beteiligung des Betroffenen zulässig sind, sei an einem Beispiel erläutert. Wer gelegentlich islamistische Internetseiten aufruft, sich als gläubiger Moslem präsentiert, einen Vollbart trägt und seinen letzten Urlaub in Syrien verbracht hat, erzeugt durch die Summe dieser Informationen einen Verdacht, der zu weiteren staatlichen Ermittlungen führen kann, die mit Grundrechtseingriffen verbunden sind. Für sich genommen handelt es sich um legale Verhaltensweisen, problematisch ist aber das Muster, das sie ergeben und das sich im Wege automatisierte Datenverarbeitung leicht ermitteln lässt. Hier können auch die erwähnten unterschwelligen Verhaltenserwartungen einfließen. Das Äußern auch sehr grundlegender, „radikaler“ politischer Kritik ist grundsätzlich eine nicht zu beanstandende Ausübung der Meinungsfreiheit. Als solche ist sie durch Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG besonders geschützt, gerade um den Bürger vor den Folgen unterschwelliger Verhaltenserwartungen zu schützen. Treten zu dem gerade beschriebenen Profil aber auch noch „radikale“ Ansichten hinzu, komplettieren sie den Anschein einer Person, von der möglicherweise schwerwiegende Straftaten zu erwarten sind. Letztlich in ähnlicher Weise wie ein Privater bei der Bestimmung der Identität ziehen staatliche Stellen als Grundlage für ihren Verdacht eine bestimmte, kongruente Kombination von Verhaltensmerkmalen heran. Ein solches kongruentes Verhaltensmuster stellt sich für den Betroffenen und sein Umfeld als seine Identität dar, die im Beispielsfall wesentlich über den islamischen Glauben definiert wird. Der Einzelne kann sich in jedem Lebensbereich sozialadäquat dargestellt haben und muss dennoch damit rechnen, dass die Informationen, zusammengeführt und zu Ermittlungszwecken genutzt, zu Beeinträchtigungen seiner Selbstdarstellung führen. Besteht der Verdacht zu Unrecht, hat die Datenverarbeitung hier einen „falschen“ Gesamteindruck des Einzelnen generiert. Noch gravierender ist das, wenn aufgrund von Algorithmen das zukünftige Verhalten von Personen prognostiziert wird und auf diese Weise vermeintliche Gefahren und Gefährder identifiziert werden. Solche Datenverarbeitungen sind nicht schlechthin ausgeschlossen, die Hürden dürfen aber nicht zu niedrig angesetzt werden. Denn solche Datenverarbeitungen geraten in Konflikt mit dem Gedanken der Autonomie. Wie sich der Betroffene in Zukunft verhält, unterliegt seinem freien Willen. Eine Gefahrenprognose und die damit womöglich verbundene Stigmatisierung trifft ihn aber unabhängig von
146
3. Kap.: Das Recht auf Datenschutz
seiner Entscheidung über sein Verhalten und greift dieser sozusagen vor. Dabei basieren solche Prognosen letztlich auf Vorurteilen, nämlich auf dem Verhalten statistisch vergleichbarer Personen.128 2. Der Grundsatz der Zweckbindung Der Informationsgehalt, der durch die Verknüpfung einer Mehrzahl von Daten über den Betroffenen generiert werden kann, wirkt gleichsam auf die einzelnen Daten zurück. Sie erhalten durch die Zusammenschau mit anderen Daten eine Bedeutung, die ohne diese „Interpretationshilfe“ nicht ersichtlich wäre. Die Information, dass Person X sich zu Zeitpunkt Y an Ort Z aufgehalten hat, sagt isoliert wenig über X aus. Unter Hinzuziehung anderer Daten lassen sich aber beispielsweise Vermutungen darüber anstellen, was die Person an diesem Ort getan hat, oder Verhaltensmuster ermitteln. Hierin liegt die oben bereits beschriebene Privatsphärebedrohung: Einzelne Informationen über das Verhalten eines Grundrechtsträgers werden verdatet und in einen neuen Kontext gestellt, etwa in ein mehr oder weniger umfassendes Dossier über den Betroffenen, um so einen Informationsgehalt zu generieren, der ohne diesen Kontext nicht ersichtlich wäre. Die Sorge vor der Entstehung solcher Informationen und ihren Folgen für Selbstdarstellung und Persönlichkeitsentfaltung kann das Verhalten des Einzelnen beeinflussen.129 Insofern ist die Archivierung bereits im Lichte der anvisierten und zu erwarteten weiteren Datenverarbeitungen zu sehen. Denn wie beim Abruf bleiben die Folgen der Datenverarbeitung für die Persönlichkeitsentfaltung, hier der Abschreckungseffekt auf das Verhalten, abstrakt, solange das auch für die Folgen eines Abrufs gilt. Je mehr der Einzelne aber befürchten muss, aufgrund seines gegenwärtigen Verhaltens spürbaren Einschränkungen seiner Persönlichkeitsentfaltung ausgesetzt zu sein, desto mehr wird er sein Verhalten daran ausrichten. Begeht jemand eine Straftat oder verhält sich verdächtig, muss er damit rechnen, dass er aufgrund des Verhaltens in dieser Situation Beeinträchtigungen seiner Persönlichkeitsentfaltung ausgesetzt sein wird. Das kann er durch sein Verhalten kontrollieren und vermeiden, indem er sich im Rahmen der Verhaltenserwartungen, im Falle des Staates also im Rahmen der Gesetze, bewegt und sich auch nicht in einer Situation so auffällig verhält, dass ein falscher Verdacht entsteht. Das genügt aber nicht, wenn man befürchten muss, dass eine Behörde aus der Summe „richtigen“, legalen Verhaltens einen „falschen“ Eindruck gewinnt. Der gerade beschriebene stark gläubige Moslem mag legal handeln 128 Siehe 129 Siehe
J. I. 3. K. I. 3.
N. Die Gewichtung des Schutzes147
und würde, wenn man nur einen einzelnen Aspekt betrachtet, dadurch allein noch nicht verdächtig erscheinen. Die Möglichkeiten der automatisierten Datenverarbeitung erlauben es aber, die Informationen aus mehreren Lebensbereichen zu verknüpfen und ihn so als „Gesamtperson“ zu beobachten. Das Wissen darüber kann dazu führen, dass er den Rahmen, den die Gesetze ihm für sein Verhalten lassen, nicht mehr bis zum Ende ausnutzt, sondern gleichsam in vorauseilendem Gehorsam Verhalten unterlässt, das zwar legal ist, aber einen „schlechten Eindruck“ hinterlassen könnte.130 Hierbei zeigt sich ein Problem im Verhältnis von Archivierung und Abruf. Denn die Privatsphärebeeinträchtigung, der Einschüchterungseffekt, erfolgt bereits durch die Archivierung, die Folgen der Datenverarbeitung treten indes erst durch den Abruf und den darauf folgenden Umgang mit den Informationen und die Reaktion darauf ein. Diese Beziehung, die beide Verarbeitungsphasen zueinander haben, muss daher auch für die Beurteilung der jeweiligen Datenverarbeitungen berücksichtigt werden. Dieser Bezug erfolgt durch die Bestimmung des Verwendungszwecks. Denn von diesem ist abhängig, welche Information sich aus einem bestimmten Datum ergibt und inwieweit diese die Persönlichkeitsentfaltung beeinträchtigen kann. Damit der Zweck aber schon den Eingriff, der in der Archivierung liegt, absehbar machen und zugleich begrenzen kann, muss er schon zu diesem Zeitpunkt feststehen. Hierher rührt der Grundsatz der Zweckbindung bei der Datenverarbeitung. Nach diesem muss schon bei der Archivierung festgelegt werden, zu welchem Zweck die Daten abgerufen werden dürfen. Das bindet den Archivierenden dann auch in Hinblick auf die Abrufe.131 Eine Archivierung „auf Vorrat“ zu unbestimmten oder noch nicht bestimmbaren Zwecken wäre nicht nur eine punktuelle Einschränkung der relativen Privatheit, sondern wäre darauf gerichtet, das Regel-Ausnahme-Verhältnis von relativer Privatheit und Beobachtung umzukehren. Sie ist daher nicht zulässig.132 Könnten die zu einem bestimmten Zweck gespeicherten Daten aber – Verhältnismäßigkeit vorausgesetzt – auch für jeden anderen Zweck abgerufen werden, würde es sich im Ergebnis doch um eine Archivierung auf Vorrat handeln. Die Zweckbindung beim Abruf stellt insofern sicher, dass die Bedrohung für die Privatsphäre durch die Archivierung begrenzt bleibt. Bei staatlicher Datenverarbeitung muss der Zweck des Gesamtkomplexes Archivierung und Abruf vom Gesetzgeber festgelegt werden. Das ergibt sich aus dem rechtsstaatlichen Gebot der Klarheit und Bestimmtheit von Rechts130 Poscher,
in: Resilienz, S. 167 (177). BVerfGE 65, 1 (46); Simitis – Simitis, § 28 Rn. 40. 132 BVerfGE 65, 1 (46). 131 Vgl.
148
3. Kap.: Das Recht auf Datenschutz
normen, das beim Datenschutz eine eigene Bedeutung hat. „Der Bürger muß aus der gesetzlichen Regelung klar erkennen können, […] für welche konkreten Zwecke des Verwaltungsvollzugs seine personenbezogenen Daten bestimmt und erforderlich sind und daß ihre Verwendung unter Schutz gegen Selbstbezichtigungen auf diesen Zweck begrenzt bleibt.“133 Ob die Archivierung die Verhältnismäßigkeit wahrt, hängt maßgeblich von der Weite des Verwendungszwecks ab. Je weiter dieser formuliert ist, je vielfältigere Abrufe er also ermöglicht, desto mehr verliert der Betroffene die Kontrolle über den Informationsgehalt seines Verhaltens und die möglichen Folgen. Auch Verfahrensregelungen auf Abrufebene spielen eine Rolle. Unterliegt der Abruf etwa einem Richtervorbehalt, stellt das eine zusätzliche Sicherung vor einer allzu weiten Auslegung der Voraussetzungen durch die Behörden dar. Insofern sind Archivierung und Abruf als Gesamtkonzept zu bewerten. Je enger die Voraussetzungen für den Abruf sind, desto eher ist eine Archivierung zulässig. Eine Zweckänderung ist durch den Grundsatz der Zweckbindung zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, sie bedarf allerdings einer gesetzlichen Grundlage.134 Sie unterliegt einem hohen Rechtfertigungsbedarf, da sie gewissermaßen den letzten Rest an Absehbarkeit über den Informationsgehalt des Verhaltens bei Verdatungen durchbricht. Art. 6 Abs. 4 DSGVO stellt Kriterien für die Zulässigkeit einer Zweckänderung auf, unter anderem die Verbindung zwischen dem ursprünglichen und dem neuen Zweck (lit. a), den Erhebungskontext (lit. b) und die möglichen Folgen der beabsichtigen Weiterverarbeitung für den Betroffenen (lit. d). Die Festlegung des Verwendungszwecks ist nur sinnvoll, wenn auch sichergestellt ist, dass er eingehalten wird. Hier steht der Archivierende in der Pflicht. Er muss sicherstellen, dass die Daten auch von Dritten nicht zu anderen als den festgelegten Zwecken verwendet werden. Dazu muss er wirksame Maßnahmen treffen, um unautorisierte Zugriffe zu verhindern. Das betrifft sowohl Zugriffe von außen als auch Zugriffe der Mitarbeiter der Behörde, die anderen Zwecken dienen, wie zum Beispiel der Befriedigung privater Neugierde. Rein faktisch werden sich die Details des Abrufs kaum spürbar auf den Abschreckungseffekt auswirken. Denn dieser entsteht durch eine diffuse Unsicherheit. Nimmt ein Grundrechtsträger wahr, dass sein Verhalten verdatet wird, wird er nicht reflektieren, wofür die Daten verwendet werden dürfen und ob ein Richtervorbehalt besteht, und je nachdem sein Verhalten entsprechend anpassen oder nicht. Doch wie in anderem Zusammenhang schon 133 BVerfGE 134 BVerfGE
65, 1 (62 f.). 100, 313 (360).
N. Die Gewichtung des Schutzes149
betont:135 Die Grundrechte schützen vor berechtigten Befürchtungen, indem der Anlass für die Befürchtungen möglichst aus der Welt geräumt werden muss. Diffuse Ängste, die bei näherer Betrachtung keine Grundlage haben, führen nicht dazu, dass eine Datenverarbeitung unterbleiben muss. Denn wo keine rechtlich relevanten Gefahren für den Einzelnen sind, können auch keine beseitigt werden. Daher muss es auch auf Rechtfertigungsebene um die Intensität der berechtigten Befürchtungen gehen.
III. Die Größe des Profils Aus dem Gedanken der selbst verantworteten Selbstdarstellung ergibt sich ein weiteres Abwägungskriterium. Durch die Zusammenstellung von Daten wird die Selbstdarstellung durch den Datenverarbeiter festgeschrieben und damit verengt und zugleich dem Einfluss des Betroffenen entzogen. Werden die Daten später abgerufen, hat er keine Chance, mit einer eigenen, situationsabhängigen und selbst verantworteten Selbstdarstellung hiergegen anzukommen.136 Die Intensität dieses Effekts variiert mit den „Lücken“, die dieses Profil lässt und die der Einzelne mit seiner Darstellung füllen kann. Je mehr Informationen die verarbeitende Stelle aus den Daten ziehen kann, desto mehr entsteht der Eindruck, bereits alles zu wissen. Damit steigt im Verhältnis zu staatlichen Stellen die Gefahr, dass eine Beteiligung des Betroffenen selbst nur noch pro forma erfolgt, während sich der Entscheidungsträger faktisch bereits ein abschließendes Bild vom Betroffenen und der für die jeweilige Entscheidung relevanten Sachlage gebildet hat. Zu Recht sieht das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung zur Rasterfahndung daher die Vielfältigkeit und den Umfang der erfassten Daten als Kriterium für das Gewicht des Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht.137 Je mehr eine Datenverarbeitung zu einer Registrierung und Katalogisierung der Persönlichkeit führt, desto intensiver muss der Schutz sein. Dabei ist nicht nur die bloße Menge der Daten entscheidend, sondern der Aussagegehalt, den sie einzeln und in ihrer Kombination haben. Auch die Vielfalt der Kontexte, aus denen die Daten stammen, spielt eine Rolle. Je mehr es sind, desto mehr erweckt das Dossier beim Rezipienten der Informationen den Eindruck, nicht nur das Verhalten des Betroffenen in einem bestimmten Bereich, sondern seine ganze Persönlichkeit zu beschreiben. Im Stadium der Profilbildung entscheidet sich, wie umfassend der Eindruck ist, den ein Abrufender erlangen kann. Selbst wenn später nur ein Teil der 135 M.
I.
136 Siehe
J. I. 1. 115, 320 (349).
137 BVerfGE
150
3. Kap.: Das Recht auf Datenschutz
Daten abgerufen wird, mindert das die Schwere des Eingriffs nicht unbedingt, sondern diese Beschränkung ist ihrerseits ein Weg, das Bild vom Betroffenen entsprechend den Zielen des Abrufenden zu steuern. Diese Form der Verfügung über die Darstellung des Einzelnen wird durch ein umfangreiches Profil begünstigt. Insbesondere wenn auf der Ebene der Profilbildung Daten aus mehreren Quellen zusammengeführt werden, muss die Zusammenführung durch das Kriterium der Angemessenheit beschränkt werden. Die Zusammenstellung einer großen Zahl von Daten, die jeweils nur eine geringe Aussagekraft für den jeweiligen Zweck haben, ist danach schwieriger zu rechtfertigen. Die verarbeitende Stelle soll nicht in die Lage versetzt werden, sich gleichsam bei Gelegenheit eines zweckgebundenen Abrufs ein weitgehend vollständiges Bild vom Betroffenen zu machen. Wann ein Profil danach „zu umfangreich“ ist, hängt vom Einzelfall ab. Dabei ist auch der Zweck der Profilbildung zu berücksichtigen. Je gewichtiger dieser ist und je mehr Informationen dafür benötigt werden, desto umfangreicher kann auch das Profil sein. Durch den Abruf verwirklicht der Abrufende die im Profil angelegte Möglichkeit, sich nach seinen Kriterien ein Bild vom Betroffenen zu machen, das dieser nicht beeinflussen kann. Je nach Auswahl der Daten können bestimmte Elemente der Persönlichkeit übermäßig betont oder unterschlagen werden. Das ist besonders problematisch, wenn die verwendeten Daten aus einem anderen Kontext stammen als dem Verwendungskontext. Dient der Abruf etwa der Bestimmung der gewerberechtlichen Zuverlässigkeit, ist es in besonderem Maße rechtfertigungsbedürftig, Daten über das soziale und familiäre Leben einzubeziehen. Denn hier besteht erstens ein Risiko von Fehlschlüssen, wenn von dem Verhalten in einem Lebensbereich auf das in einem anderen geschlossen wird. Zweitens liegt darin letztlich der Versuch, sich ein Bild von der Persönlichkeit zu machen. Denn letztlich können Informationen aus dem Privatleben für die Zuverlässigkeit nur insoweit relevant sein, als dass man ein Eindruck vom Charakter der Person bekommt. Darin gerade liegt aber eine besonders intensive Bewertung der Selbstdarstellung, die gleichsam in einem Zwischenschritt für den Verwendungszweck herangezogen wird.
IV. Unterschiede zwischen staatlicher und privater Datenverarbeitung Bei der Darstellung des Schutzbereichs hat sich gezeigt, dass staatliche und private Eingriffe ähnliche Wirkungen für den Betroffenen haben und daher das Grundrecht auf Datenschutz ebenso vor staatlichen wie – über die Schutzfunktion – vor privaten Eingriffen schützen muss.138 Auf Rechtferti138 Siehe
J. I. 4. und C. I. 3.
N. Die Gewichtung des Schutzes151
gungsebene zeigen sich allerdings Unterschiede. Sieht man sich die Konsequenzen der Datenverarbeitung für die Grundrechtsentfaltung an, ist diese durch Private weniger gefährdet als durch den Staat. Private haben grundsätzlich weniger rechtliche und faktische Möglichkeiten als der Staat, andere Private in ihrer Grundrechtsentfaltung zu beeinträchtigen. Doch von dieser Regel gibt es gewichtige Ausnahmen. Eine solche liegt immer dann vor, wenn der Grundrechtsträger zu seiner Grundrechtsausübung auf andere Private angewiesen ist. Wie Suhr herausgearbeitet hat, ist Freiheitsentfaltung nur in Kooperation von Grundrechtsträgern denkbar. Sein Beispiel dafür ist das Schließen von Verträgen und der Austausch von Leistungen. Hierdurch können beide Beteiligten ihre Freiheit entfalten.139 Im Umkehrschluss kann ein Grundrechtsträger in seiner Freiheitsentfaltung erheblich beeinträchtigt sein, wenn Private einen Vertragsschluss mit ihm verweigern. So hängt die Ausübung der Berufsfreiheit in den meisten Bereichen davon ab, ob ein Privater bereit ist, einen Arbeitsvertrag abzuschließen. Auch auf andere Leistungen Privater ist der Grundrechtsträger zu seiner Lebensgestaltung entscheidend angewiesen, wie es das Bundesverfassungsgericht für Berufsunfähigkeitsversicherungen deutlich gemacht hat.140 Die Verweigerung eines solchen Vertragsschlusses kann den Einzelnen empfindlicher treffen als eine staatliche Sanktion. Freilich lassen sich solche „Sanktionen“ durch Private aus grundrechtlicher Sicht nicht mit staatlichen Grundrechtseingriffen vergleichen. Denn erstens handelt es sich bei der Verweigerung eines Vertragsschlusses nicht um eine Grundrechtsbeeinträchtigung, da die Grundrechte keinen Anspruch auf Vertragsschluss mit anderen Privaten vermitteln. Zweitens sind Private bei der Bestimmung ihrer Verhaltenserwartungen nicht so gebunden wie der Staat. Der Staat muss seine „Verhaltenserwartungen“ unter Beachtung der formellen und materiellen Vorgaben des Grundgesetzes in Rechtsnormen festlegen und muss vermeiden, dass Datenverarbeitungen von Verhalten abschrecken, das legal ist, also diese Erwartungen nicht verletzt. Private können zur Beurteilung Anderer die Verhaltenserwartungen zugrunde legen, die sie möchten. Ein Privater ist frei, einen anderen Privaten als Person abzulehnen, weil er islamistische Websites aufgerufen hat.141 Doch für die Wirkung dieser „Sanktion“ auf die Privatsphäre sind beide Unterschiede irrelevant. Sowohl die Angst vor der Verweigerung eines Vertragsschlusses als auch die Angst vor der Festnahme kann von einem be stimmten Verhalten abschrecken. Bei der Verweigerung eines Vertragsschlus139 Suhr,
S. 90. DVBl 2007, 111 (113). 141 Vgl. das Beispiel von oben N. II. 1. b). 140 BVerfG
152
3. Kap.: Das Recht auf Datenschutz
ses handelt es sich mangels Grundrechtsbindung des Privaten zwar nicht um einen Grundrechtseingriff. Dennoch ist aus Sicht des Betroffenen auch hier seine auf Gegenseitigkeit basierende Grundrechtsentfaltung beeinträchtigt. Dabei bedeutet gerade die beschriebene Freiheit Privater bei der Beurteilung Dritter eine besondere Gefahr für die Persönlichkeitsentfaltung des Betroffenen. Die Macht des Staates, die Freiheit zu beeinträchtigen, ist durch die Grundrechte beschränkt. Vor der Festnahme selbst schützt Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG; der Schutz vor Datenverarbeitung führt hier also sogar zu einem doppelten Schutz. Bei Privaten fällt eine solche, jedenfalls unmittelbare, Beschränkung durch die Grundrechte weg. Daher muss die Macht Privater zumindest auf informationeller Ebene beschränkt werden. Ansonsten hätten diejenigen Privaten, die ohnehin aufgrund ihrer – insbesondere wirtschaftlichen – Macht einen Einfluss auf die Persönlichkeitsentfaltung Dritter haben, die Möglichkeit, jegliches Verhalten anhand ihrer Maßstäbe zu bewerten und zu sanktionieren. Zudem kann ein Abruf durch Private den Einzelnen auch in seiner Selbstdarstellung beeinträchtigen. Diese spielt beim Staat keine Rolle. Die Beurteilung eines Grundrechtsträgers nach seinem „Persönlichkeitsprofil“ beeinträchtigt ihn dort in seiner Subjektstellung dem Staat gegenüber, nicht aber in seiner Selbstdarstellung. Denn diese entsteht im Verhältnis zwischen Privaten. Der Staat darf die Selbstdarstellung, die Identität, ohnehin nicht als Grundlage für seine Entscheidungen nehmen.142 Bei Privaten ist das anders. Das zeigt sich insbesondere, wenn sich dem Profil stigmatisierende Informationen entnehmen lassen. Gelangen diese einer staatlichen Stelle zur Kenntnis, können sie – zumindest theoretisch – nicht zu Beeinträchtigungen für den jeweiligen Grundrechtsträger führen, weil der Staat ihn nicht anhand dieses Stigmas beurteilen darf. Bei Privaten hingegen kann das ganz erhebliche Folgen für seine Persönlichkeitsentfaltung haben, ihn im Extremfall so isolieren, dass er kaum noch Möglichkeiten hat, sich überhaupt zu entfalten.143 Daher liegt bei Privaten nicht nur dann ein besonders tiefgreifender Eingriff vor, wenn eine konkrete Beeinträchtigung der Persönlichkeitsentfaltung möglich ist, sondern auch, wenn eine Beeinträchtigung der Selbstdarstellung naheliegt. Letzteres gilt insbesondere, wenn durch die Daten ein (vermeintliches) Stigma zutage treten kann. Die Selbstdarstellung ist jedoch in manchen Kontexten auch durch Datenverarbeitung gefährdet, wenn kein Stigma zu Tage treten kann. Denn je komplexer der soziale Kontext, in dem die Informationen abgerufen werden, mit desto mehr Verhaltenserwartungen ist der Einzelne konfrontiert 142 Siehe
3. Abschnitt B I. 4. 97, 391 (404); Luhmann, S. 69.
143 BVerfGE
N. Die Gewichtung des Schutzes153
und desto eher können diese demnach verletzt werden. Mallmann differenziert zwischen Kommunikationsbeziehungen auf der Mikroebene und der Makroebene. Die Mikroebene ist der Kontakt zu öffentlichen und privatwirtschaftlichen Institutionen, die Mikroebene die Alltagsinteraktion im privaten Bereich.144 Auf der Mikroebene sind die Erwartungen an die Selbstdarstellung begrenzt und daher unempfindlicher gegenüber „störenden“ Daten. Möchte der Einzelne einen Kaufvertrag schließen, interessiert den potenziellen Verkäufer regelmäßig nur dessen Zahlungsfähigkeit, weitere Informationen über den Einzelnen spielen keine Rolle und können daher auch kein Problem darstellen. Auf der Mikroebene sind die Verhaltenserwartungen und daher auch die Risiken komplexer und vielfältiger. Eine Weitergabe von Daten von der Makro- auf die Mikroebene, etwa an potenzielle Partner oder Schwiegereltern, oder eine Speicherung zu diesem Zwecke wird sich daher in der Abwägung der grundrechtlich geschützten Interessen kaum je rechtfertigen lassen.
V. Zusammenfassung Bei der Gewichtung des Rechts auf Datenschutz in der Abwägung mit anderen Interessen ist maßgeblich auf den Zweck der Datenverarbeitung und die daraus folgenden Konsequenzen der Datenverarbeitung für den Grundrechtsträger abzustellen. Aufgrund der Verknüpfung von Daten kann ein negativer Eindruck des Betroffenen und seines Verhaltens entstehen, der eine staatliche Stelle zu Maßnahmen, insbesondere Ermittlungsmaßnahmen, veranlasst, die wiederum die Grundrechte des Betroffenen beeinträchtigen. Dann hat die durch die Datenverarbeitung entstehende Information unmittelbar nachteilige Konsequenzen für den Betroffenen. Je konkreter die Befürchtung solcher Konsequenzen ist, desto eher wird er von vornherein von einem Verhalten Abstand nehmen, das einen solchen Eindruck erwecken kann. Dann beeinträchtigt schon die Archivierung in erheblichem Maße die freie Persönlichkeitsentfaltung. Daher muss schon bei der Archivierung feststehen, ob ein Abruf solche Folgen haben kann. Hierzu dient der Grundsatz der Zweckbindung. Insbesondere die Profilbildung ist zudem anhand des Informationsgehalts des Profils zu bestimmen, der von der Menge, der Vielfältigkeit und der Aussagekraft der Daten abhängt. Bei der Abwägung des Rechts auf Datenschutz mit kollidierenden Interessen Privater gelten im Grundsatz die gleichen Kriterien. Bei der Beurteilung der Konsequenzen der Datenverarbeitung ist dabei aber in Rechnung zu stellen, in welcher Weise Private die Persönlichkeitsentfaltung anderer Priva144 Mallmann,
S. 39.
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3. Kap.: Das Recht auf Datenschutz
ter beeinträchtigen können. Insbesondere Private mit wirtschaftlicher Macht haben die Möglichkeit, andere kraft ihrer Privatautonomie vom Zivilrechtsverkehr und damit von Elementen der Persönlichkeitsentfaltung auszuschließen. Im privaten (hier nun im Gegensatz zum wirtschaftlichen) Bereich spielt die Gefahr von Beeinträchtigungen der Selbstdarstellung eine besondere Rolle, die insbesondere, aber nicht nur, durch stigmatisierende Informationen entstehen können.
4. Kapitel
Dispositionen im allgemeinen Persönlichkeitsrecht Bei der Veröffentlichung eigener persönlicher Daten könnte es sich um einen Verzicht auf den Grundrechtsschutz handeln, den das allgemeine Persönlichkeitsrecht in Bezug auf Veröffentlichung und Abruf von Informationen und Daten gewährt. Um das untersuchen zu können, sind zunächst der Begriff des Grundrechtsverzichts sowie einige dogmatische Vorfragen zu klären (A.). Anschließend wird darzulegen sein, inwieweit sich Handlungen des betroffenen Grundrechtsträgers auf den Schutz durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht auswirken und inwieweit das als Grundrechtsverzicht eingeordnet werden kann. Das wird separat für die traditionellen Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (B.) und das Grundrecht auf Datenschutz (C.) untersucht werden.
O. Der Grundrechtsverzicht I. Begriff Der Begriff „Grundrechtsverzicht“ ist irreführend. Denn er erweckt den Eindruck, es ginge um einen Totalverzicht auf ein oder mehrere Grundrechte, mit der Folge, dass der Grundrechtsträger sich danach nicht mehr auf diese berufen kann. Ein solcher Totalverzicht ist indes schon faktisch kaum vorstellbar und nach einhelliger Auffassung unzulässig.1 Vielmehr handelt es sich bei den Fallkonstellationen, die unter dem Begriff des Grundrechtsverzichts diskutiert werden, um Einwilligungen in konkrete Beeinträchtigungen grundrechtlicher Freiheit.2 Nicht auf das Grundrecht als solches wird verzichtet, sondern auf bestimmte Rechte, die sich aus einem Grundrecht ergeben. Beispielsweise kann in eine Wohnungsdurchsuchung (Art. 13 GG), eine medizinische Behandlung (Art. 2 Abs. 2 S. 1, 2. Alt. GG) oder die Auflösung einer Versammlung (Art. 8 GG) eingewilligt werden. Insofern kann der Grundrechtsverzicht als eine Willensäußerung des Grundrechtsberechtigten 1 Fischinger, JuS 2007, 808; Pietzcker, Der Staat 17 (1978), S. 527 (531); Spieß, S. 44 ff. 2 Fischinger, JuS 2007, 808.
156
4. Kap.: Dispositionen im allgemeinen Persönlichkeitsrecht
definiert werden, deren Rechtsfolge zu einer Schmälerung grundrechtlich geschützter Rechtspositionen führt.3 Durch das Merkmal der Willensäußerung ist der Grundrechtsverzicht von der tatsächlichen Nichtausübung von Grundrechten (z. B. dem Unterlassen einer Versammlungsteilnahme) abzugrenzen.4 Ein solches Verhalten vermindert nicht den Grundrechtsschutz. Bei vielen Grundrechten genießt es im Rahmen der „negativen“ Seite der Freiheitsrechte vielmehr seinerseits Grundrechtsschutz.5 Im Gegensatz dazu hat der Grundrechtsverzicht eine rechtliche Wirkung. Er bewirkt, dass der Betroffene sich, soweit der Verzicht reicht, nicht mehr auf sein Grundrecht berufen kann. Wer wirksam in die Auflösung einer Versammlung eingewilligt hat, kann nicht gegen diese staatliche Maßnahme vorgehen, auch wenn die Voraussetzungen dafür nicht vorlagen.6 Ebenso handelt es sich um einen Grundrechtsverzicht, wenn ein Grundrechtsträger sich – beispielsweise vertraglich – rechtlich bindend dazu verpflichtet, nicht an einer Versammlung teilzunehmen.7 Die „Schmälerung grundrechtlich geschützter Rechtspositionen“ setzt voraus, dass solche Rechtspositionen in einem ersten Schritt vorlagen. Ein Grundrechtsverzicht liegt also nur dann vor, wenn eine staatliche Maßnahme an sich den Schutzbereich eines Grundrechts berührt, der Grundrechtsträger aber in diese Handlung eingewilligt hat. Im Gegensatz dazu kann Verhalten des Grundrechtsträgers dazu führen, dass schon der Schutzbereich nicht eröffnet ist. Wer bewaffnet zu einer Versammlung geht, begibt sich des Schutzes durch Art. 8 Abs. 1 GG. Dennoch handelt es sich nicht um einen Grundrechtsverzicht, vielmehr ist bereits der Schutzbereich entsprechend begrenzt.8 Im Unterschied zum Grundrechtsverzicht ist diese Wirkung vom Willen des Grundrechtsträgers unabhängig. Die Frage eines Grundrechtsverzichts stellt sich bei der Grundrechtsprüfung auf der Stufe des Eingriffs.9 Ein staatliches Handeln mit Einwilligung des Grundrechtsträgers kann zwar den Schutzbereich eines Grundrechts betreffen, es stellt aber schon begrifflich keinen Eingriff in dieses Grundrecht dar, vielmehr werden Elemente des Schutzbereichs vom Grundrechtsträger selbst preisgegeben. Die Gegenauffassung, die die Frage nach dem Grund3 Pietzcker, Der Staat 17 (1978), S. 527 (531); Spieß, S. 51; Stern, Bd. III/2, S. 906. 4 Kingreen/Poscher, Rn. 195. 5 Vgl. Stern, Bd. III/2, S. 904 f. 6 Fischinger, JuS 2007, 808. 7 Kingreen/Poscher, Rn. 195. 8 Kingreen/Poscher, Rn. 814. 9 Kingreen/Poscher, Rn. 203.
O. Der Grundrechtsverzicht157
rechtsverzicht erst bei der Rechtfertigung stellen möchte,10 kann nicht überzeugen. Gelangt man auf diese Stufe, muss man erst mühsam begründen, warum die für die Rechtfertigung zentralen Gesetzesvorbehalte sowie der allgemeine Vorbehalt des Gesetzes beim Grundrechtsverzicht nicht gelten sollen. Würden sie gelten, wäre der Grundrechtsverzicht letztlich jeder Wirkung beraubt, da die Eingriffsvoraussetzungen die gleichen wären wie ohne Grundrechtsverzicht. Darüber besteht auch im Wesentlichen Einigkeit.11 Dieses Ergebnis lässt sich dogmatisch aber nur überzeugend erklären, indem man die Grundrechtsverletzung schon auf der Ebene des Grundrechtseingriffs scheitern lässt.
II. Zulässigkeit und normative Grundlage Die Zulässigkeit eines Grundrechtsverzichts hängt davon ab, worin man die Funktion der Grundrechte sieht. Sind sie subjektive Entfaltungsrechte, die dem einzelnen Grundrechtsträger zustehen, gehört zu seiner Freiheit auch die Möglichkeit, über Freiheiten, die sie gewähren, zu disponieren. Sieht man ihre Funktion primär in der Wahrung überindividueller Ziele wie Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, stehen sie nicht zur Disposition des Einzelnen. Nach heute herrschender Auffassung lässt sich diese Frage nicht pauschal für alle Grundrechte beantworten. Vielmehr haben die einzelnen Grundrechte in jeweils unterschiedlichem Maße beide Funktionen. Soweit ein Grundrecht der persönlichen Entfaltungsfreiheit dient, spricht eine Vermutung für die Zulässigkeit des Verzichts. Dient es in erster Linie dem Allgemeininteresse, kann der einzelne Grundrechtsträger dagegen nicht darüber verfügen. Ob der Verzicht im Einzelfall von der Grundrechtsordnung anerkannt wird, ist anhand einer Abwägung im Einzelfall zwischen den durch den Verzicht berührten Allgemeininteressen und der im Verzicht ausgeübten Autonomie des Grundrechtsträgers zu bestimmen.12 Normativ lässt sich die Möglichkeit eines Grundrechtsverzichts aus dem Gedanken der Autonomie ableiten, der ein Element sowohl der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG13 als auch des Persönlichkeitsbegriffs des Art. 2 Abs. 1 GG14 ist. Autonomie wurde oben als eine Art „höherrangige“ Freiheit identifiziert, handlungsleitende „Wünsche 2. Ordnung“ festzulegen
10 Fischinger,
JuS 2007, 808 (813); Stern, Bd. III/2, S. 918. Stern, Bd. III/2, S. 919 ff. 12 Fischinger, JuS 2007, 808 (811); Merten, in: FS Schmitt Glaeser, S. 53 (63 ff.); Kingreen/Poscher, Rn. 199. 13 Morlok, S. 282; Stern, Bd. IV/1, S. 93. 14 Siehe E. I. 5. 11 Vgl.
158
4. Kap.: Dispositionen im allgemeinen Persönlichkeitsrecht
und sich an diesen zu orientieren.15 Eine solche Festlegung impliziert den Verlust momentaner Freiheit: Wer seinen Entschluss, nicht zu rauchen, durchhält, handelt autonom, verliert aber die Freiheit, dem momentanen Bedürfnis nach einer Zigarette nachzugeben. Insofern ist der Freiheitsverlust, der mit einem Grundrechtsverzicht einhergeht, aus grundrechtlicher Sicht nicht per se etwas Nachteiliges, er kann vielmehr Ausdruck einer höherrangigen autonomen Entscheidung sein.16 Angesichts der zentralen Stellung der Grundrechte auf Menschenwürde und freie Entfaltung der Persönlichkeit ist einer solchen Entscheidung eine hohe Bedeutung zuzumessen. Da alle Grundrechte im Lichte der Menschenwürde und damit auch des Autonomieprinzips auszulegen sind,17 kann jedes Grundrecht auch ein Recht auf Grundrechtsverzicht enthalten. Das hängt von der Auslegung des Grundrechts ab. Wer sich beispielsweise freiwillig durch ein Gelübde lebenslang an einen Orden oder eine Religionsgemeinschaft bindet, verzichtet für die Zukunft auf das Recht, aus der Religionsgemeinschaft aus- und möglicherweise in eine andere einzutreten. Zugleich übt er durch diese autonome Entscheidung Art. 4 GG aus. Diese Kollision zwischen Autonomie und gegenwärtiger Freiheit ist innerhalb des Art. 4 GG zu lösen. So dürfte eine Unwiderruflichkeit der Entscheidung die Grenzen eines zulässigen Grundrechtsverzichts überschreiten.18 Etwas anderes kann gelten, wenn der Verzicht nicht religiös motiviert ist. Verzichtet man etwa in einem Arbeitsvertrag darauf, eine Religionsgemeinschaft zu verlassen, ist dieser Verzicht seinerseits eher wirtschaftlich als religiös motiviert.19 Hier lässt sich gut vertreten, dass er nicht durch Art. 4 GG erfasst wird. In Fällen, in denen kein Spezialgrundrecht einschlägig ist, steht Art. 2 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als allgemeine Handlungsfreiheit als Auffanggrundrecht zur Verfügung. Teilweise wird das Recht zum Grundrechtsverzicht als Ausdruck einer autonomen Entscheidung aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht hergeleitet.20 Das widerspricht aber der zuvor21 hergeleiteten Abgrenzung zwischen allgemeiner Handlungsfreiheit und allgemeinem Persönlichkeitsrecht. Denn diese hat nichts mit dem Autonomiebezug des Handelns zu tun. Ob eine Handlung autonom ist oder nicht, ist keine Frage der Handlung als solcher, sondern der Motivation. So kann das Reiten 15 Siehe
E. I. 5. er das ist oder vielmehr ein Ausdruck äußerer Zwänge, ist die Frage bei der Voraussetzung der Freiwilligkeit, dazu unter III. 17 Morlok, S. 287. 18 Sachs, VerwArch 76 (1985), S. 398 (424); näher O. V. 19 Anders könnte man das wiederum bei Arbeitsverträgen von Geistlichen sehen. 20 Seifert, Jura 2007, 99 (102); Spieß, S. 88. 21 Siehe E. II. 16 Ob
O. Der Grundrechtsverzicht159
im Walde Ausdruck der Wünsche 2. Ordnung sein, der Verzicht auf eine Grundrechtsposition aber aus einer Laune heraus entstehen. Daher ist das Maß an verwirklichter Autonomie ein untaugliches Kriterium zur Abgrenzung der beiden Ausprägungen des Grundrechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Vielmehr schützen beide gleichermaßen die Autonomie, nur unter unterschiedlichen Gesichtspunkten. Während das allgemeine Persönlichkeitsrecht „Zustände“ schützt, die für die Ausbildung von und Orientierung an Wünschen 2. Ordnung erforderlich sind, schützt die allgemeine Handlungsfreiheit vor Eingriffen in das äußere Handeln, mit dem (freilich nicht nur) autonomen Entscheidungen Ausdruck verliehen wird.22 Die Abgabe einer auf Grundrechtsverzicht gerichteten Willenserklärung ist eine Handlung. Wird dieser Erklärung durch den Staat die Wirksamkeit versagt, so ist das Handeln des Grundrechtsträgers zwar äußerlich möglich, es geht aber gleichsam ins Leere. Eine solche Maßnahme betrifft daher das äußere Handeln und damit die allgemeine Handlungsfreiheit.
III. Voraussetzungen Ein wirksamer Grundrechtsverzicht hat drei Voraussetzungen. Erstens muss er gegenüber der Behörde erklärt werden. Die Erklärung kann ausdrücklich oder konkludent erfolgen; aus ihr muss sich der Wille, auf den Grundrechtsschutz zu verzichten, unzweideutig entnehmen lassen.23 Der Erklärende muss einwilligungsfähig sein, also die nötige Reife und Einsichtsfähigkeit hinsichtlich der Folgen der Erklärung haben, was nicht für alle Grundrechte gleichbedeutend mit Geschäftsfähigkeit ist.24 Der Verzicht muss zweitens freiwillig sein. Daran fehlt es, wenn die Erklärung durch Täuschung, Drohung oder Zwang erwirkt wurde.25 Drittens muss der Grundrechtsträger nach der gängigen Terminologie dispositionsbefugt sein. Nur in wenigen Fällen trifft das Grundgesetz dazu selbst Aussagen. Ansonsten erfordert die Prüfung an dieser Stelle, wie zuvor bereits ausgeführt, eine Abwägung im Einzelfall, bei der der Zweck des jeweiligen Grundrechts Ausgangspunkt ist. Kriterium ist auf der einen Seite, welches Gewicht die Autonomie und Persönlichkeitsentfaltung des individuellen Grundrechtsträgers hat. Je mehr 22 Siehe
E. II. 2. JuS 2007, 808 (809); Merten, in: FS Schmitt Glaeser, S. 53 (68); Seifert, Jura 2007, 99 (102); Stern, Bd. III/2, S. 914. 24 Merten, in: FS Schmitt Glaeser, S. 53 (67 Fn. 93); Seifert, Jura 2007, 99 (102). 25 Fischinger, JuS 2007, 808 (809); Merten, in: FS Schmitt Glaeser, S. 53 (68 f.); Seifert, Jura 2007, 99 (103); Stern, Bd. III/2, S. 913 f. 23 Fischinger,
160
4. Kap.: Dispositionen im allgemeinen Persönlichkeitsrecht
die Entscheidung die individuelle Lebensgestaltung betrifft, desto eher ist sie anzuerkennen. Je weniger sie hingegen als Ausdruck einer autonomen Grundorientierung des Einzelnen erscheint, desto weniger kann ihre Missachtung die Autonomie berühren. Befindet sich der Verzichtende etwa in einer Not- oder Zwangslage, kann sich dies auf die Wirksamkeit des Verzichts auswirken, selbst wenn dadurch nicht die Freiwilligkeit im soeben beschriebenen Sinne entfällt.26 Auf der anderen Seite ist zu berücksichtigen, wie intensiv der Verzicht objektive Verfassungsgüter berührt. Als objektives Verfassungsgut kommt etwa das Demokratieprinzip in Frage, das beispielsweise den Wahlgrundsätzen des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG, aber auch den Kommunikationsgrundrechten des Art. 5 Abs. 1 GG zugrunde liegt, wobei insbesondere die Meinungsfreiheit daneben auch der individuellen Persönlichkeitsentfaltung dient.27 Daneben muss der Verzicht auch bei den Grundrechten, die in erster Linie der Persönlichkeitsentfaltung dienen, eine Grenze in Hinblick auf Schwere und Dauer der Eingriffe haben.28 Die Menschenwürde wird vielfach als absolute Grenze der Dispositionsbefugnis gesehen. Das ist im Prinzip auch richtig: Die Menschenwürde ist nach herrschender Auffassung unverzichtbar, das muss entsprechend auch für den Menschenwürdekern der einzelnen Grundrechte gelten.29 Allerdings kann gerade in Fällen, in denen ein Verzicht in Rede steht, der Umfang des Schutzes durch die Menschenwürde seinerseits nicht absolut bestimmt werden. Denn auch diese schützt nicht zuletzt die Autonomie des Einzelnen und damit auch seine Freiheit, für sich zu entscheiden, was er als „würdig“ empfindet und was nicht. Das bedeutet auch, selbst zu entscheiden, welchen Eingriffen man sich aussetzen möchte. Damit ist innerhalb der Menschenwürde eine ähnliche Abwägung nötig wie innerhalb der einzelnen Grundrechte. Aufgrund des Stellenwerts der personalen Autonomie gerade im Rahmen der Menschenwürde greift die Unverzichtbarkeit letztlich nur bei „extremen Auswüchsen der Selbstbestimmung“.30 Wegen dieser Notwendigkeit einer Bestimmung im Einzelfall erscheint auch der Begriff der Dispositionsbefugnis irreführend. Er erweckt den Eindruck, als würde die Grundrechtsordnung dem Einzelnen Rechte „aufdrängen“ und ihm die Befugnis nehmen, sich dieser zu „entledigen“, wenn er möchte. Der Begriff passte, solange sich im rechtswissenschaftlichen Diskurs Kingreen/Poscher, Rn. 201. Degenhart, Art. 5 Abs. 1 und 2 Rn. 58; MD – Grabenwarter, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 6. 28 Kingreen/Poscher, Rn. 201. 29 Fischinger, JuS 2007, 808 (810 f.); Kingreen/Poscher, Rn. 199; Stern, Bd. III/2, S. 923 f.; aA Merten, in: FS Schmitt Glaeser, S. 53 (64). 30 BK – Zippelius, Art. 1 Abs. 1 u. 2 Rn. 39 f.; Stern, Bd. IV/1, S. 93. 26 Vgl.
27 BK –
O. Der Grundrechtsverzicht161
die Frage stellte, ob ein Grundrechtsverzicht allgemein zulässig ist, der Einzelne also generell über seine Grundrechte disponieren kann oder nicht. Nach der heute herrschenden differenzierten Auffassung liegen der rechtlichen Anerkennung eines Verzichts nicht mehr solche generellen Erwägungen zugrunde, sondern die Umstände des Einzelfalls. Wenn medizinische Versuche an Strafgefangenen auch mit Einwilligung des Betroffenen als unzulässig betrachtet werden,31 dann nicht, weil der Gefangene nicht befugt wäre, über seine eigene Gesundheit zu disponieren, sondern weil unter den Bedingungen des Strafvollzugs eine autonome Entscheidung über diese Frage allzu zweifelhaft erscheint. Deswegen soll im Folgenden anstelle des Begriffs der Dispositionsbefugnis allgemeiner von der materiellen Anerkennung des Verzichts gesprochen werden. Denn darum geht es letztlich an dieser Stelle.
IV. Verzicht auf die Schutzwirkung? Fraglich ist, ob ein Grundrechtsverzicht auch im Verhältnis zwischen Privaten denkbar ist. Daran können Zweifel bestehen, da Grundrechte unmittelbar nur dem Staat gegenüber gelten.32 Wenn der Grundrechtsträger sich gegenüber einem dritten Privaten aber überhaupt nicht auf seine Grundrechte berufen kann, fehlt es an einem Objekt für den Verzicht. Allerdings ist in Erinnerung zu rufen, dass „Grundrechtsverzicht“ auch dem Staat gegenüber keine Disposition über den Grundrechtsschutz als solchen bedeutet. Vielmehr handelt es sich um den Verzicht auf einzelne Rechtspositionen, die der Grundrechtsträger aus den Grundrechten ableiten kann.33 Das können nicht nur Abwehrpositionen sein. Aufgrund ihrer Schutzfunktion räumen Grundrechte mittelbar – vermittelt durch einfach-rechtliche Vorschriften – auch Privaten gegenüber Rechtspositionen ein. Wird auf eine solche verzichtet, kann man daher auch hier von einem Grundrechtsverzicht sprechen. Der Begriff ist hier aus den genannten Gründen noch ungenauer als bei Einwilligungen staatlichen Stellen gegenüber, aber behält man dies im Auge, ist es durchaus zweckmäßig, solche Dispositionen ebenfalls unter dem Stichwort des Grundrechtsverzichts zu behandeln. Denn die Fragen, die mit solchen Verzichtshandlungen verbunden sind, sind die gleichen wie beim Verzicht staatlichen Stellen gegenüber. Insbesondere 31 Kingreen/Poscher,
Rn. 202. Rn. 239. Etwas anderes gilt nach hM für die Menschenwürde, vgl. BK – Zippelius, Art. 1 Abs. 1 u. 2 Rn. 35; vMK – Kunig, Art. 1 Rn. 27. Deshalb konnte die Frage, ob die Darstellerinnen bei der „Peep Show“ gegenüber den privaten Voyeuren auf ihre Menschenwürde verzichten, diskutiert werden, ohne dass das hier aufgeworfene Problem auftrat. 33 Siehe O. I. 32 Kingreen/Poscher,
162
4. Kap.: Dispositionen im allgemeinen Persönlichkeitsrecht
stellen sich auch hier die Fragen nach der materiellen Anerkennungsfähigkeit der Disposition und der Freiwilligkeit der Disposition. Fraglich ist nur, inwieweit sich im Verhältnis zu Privaten die Maßstäbe, die bei diesen Voraussetzungen anzulegen sind, verschieben.34 Indes ist bei weitem nicht jede Disposition über eigene Rechtsgüter gegenüber privaten Dritten ein Grundrechtsverzicht. Ob das der Fall ist, hängt davon ab, was bei dem jeweiligen Grundrecht Inhalt der Schutzpflicht ist. Insofern ist es noch wichtiger als bei der abwehrrechtlichen Perspektive, festzustellen, welche Handlungen Privater an sich eine Schutzpflicht auslösen und dem Grundrechtsträger so eine Rechtsposition einräumen. Nur in diesen Fällen ist ein Grundrechtsverzicht denkbar. Wie zuvor dargelegt, bemisst sich die Reichweite der Schutzpflicht an dem Ziel, die Grundrechtsausübung aller zu ermöglichen. Daher löst nicht jede Einwirkung Privater auf die Rechte anderer eine Schutzpflicht aus, wenn ein Element der Grundrechtsausübung gerade eine solche Einwirkung ist.35 Dasselbe gilt für Dispositionen. Die Ausübung mancher Grundrechte basiert gerade auf der Disposition der Grundrechtsträger über gewisse Positionen. In diesen Fällen soll die Schutzpflicht einen Schutz von und nicht vor diesen Dispositionen gewährleisten. Deutlichstes Beispiel ist natürlich die Privatautonomie, die aus Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitet wird.36 Wer einen Vertrag schließt, verpflichtet sich damit zu etwas und gibt so zumindest ein Stück seiner allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) auf oder verfügt etwa über sein Eigentum (Art. 14 GG). Doch obwohl grundrechtlich geschützte Positionen durch Handlungen des Grundrechtsträgers selbst „verloren gehen“, handelt es sich nicht um einen Grundrechtsverzicht, sondern um Grundrechtsausübung. Denn die Grundrechte schützen diese Positionen nicht als Selbstzweck, sondern sie schützen sie gerade mit dem Zweck, die selbstbestimmte Disposition darüber zu gewährleisten. Kommt es zu einer solchen Disposition, so läuft diese der Schutzwirkung des Grundrechts nicht entgegen, sondern entspricht dieser. Es besteht also schon an sich kein Schutz vor einem solchen Verlust der Rechtsposition, auf den verzichtet werden könnte. Auch die Ausübung anderer Grundrechte führt zum Verlust von Freiheiten, ohne dass das einen Grundrechtsverzicht darstellt. Wer sich für einen Beruf entscheidet und einen Arbeitsvertrag abschließt, übt damit sein Grundrecht aus Art. 12 GG aus. Damit schränkt er zugleich seine Freiheit ein. Er kann nicht ohne weiteres parallel einen weiteren Beruf ausüben und er ist bis zum Ablauf der Vertragsdauer bzw. der Kündigungsfrist an diesen Arbeitgeber Fischinger, JuS 2007, 808 (812). D. III. 36 BVerfGE 8, 274 (328); 89, 214 (231). 34 Vgl.
35 Siehe
O. Der Grundrechtsverzicht163
gebunden. Trotzdem handelt es sich nicht um einen Grundrechtsverzicht, sondern um eine selbstverständliche Folge der Grundrechtsausübung. Die gesetzliche Regelung von Kündigungsfristen (vgl. § 622 Abs. 1 BGB) und -beschränkungen (etwa § 15 Abs. 3 TzBfG) als Ausgestaltung der Rechtsordnung ist ein Indiz hierfür. Auch hier gewährt Art. 12 GG schon an sich keinen Schutz vor derartigen Beschränkungen des Berufswechsels, sodass kein Grundrechtsverzicht vorliegt. Etwas anderes ist das, wenn darüber hinausgehende Beschränkungen vereinbart werden, etwa nachvertragliche Wettbewerbsverbote.37 Hierfür gelten die Grundsätze über den Grundrechtsverzicht. Im Bereich der Privatautonomie wird die Schutzpflicht ausgelöst, wenn bei einer Disposition die Voraussetzungen selbstbestimmten Handelns nicht gegeben waren. Dann verlangt der Grundrechtsschutz eine Korrektur des Ergebnisses.38 In diesen Fällen besteht an sich eine Schutzpflicht. Ein Verzicht wäre daher dogmatisch möglich; da sich die Fälle aber gerade dadurch definieren, dass es an der Freiwilligkeit der Disposition fehlt, kann auch nicht wirksam auf den Grundrechtsschutz verzichtet werden. Ein wirksamer Grundrechtsverzicht im Bereich der Privatautonomie ist allenfalls denkbar, wenn ein Grundrechtsträger freiwillig Elemente seiner Dispositionsfreiheit als solcher preisgibt, was einen Verzicht auf die Schutzwirkung darstellt.
V. Bindungswirkung des Verzichts Eine Beeinträchtigung eines Grundrechts, die mit wirksamer Einwilligung des betroffenen Grundrechtsträger stattfindet, ist kein Eingriff. Sie ist rechtmäßig; der Einzelne kann sich daher selbstverständlich nicht im Nachhinein gegen den Eingriff wehren, auch wenn er seine Zustimmung bereut. Fraglich ist aber, was die Rechtsfolge ist, wenn der Grundrechtsträger zunächst auf sein Grundrecht verzichtet, diesen Verzicht aber vor dem Eingriff widerruft. Das hängt davon ab, ob ein einmal erklärter Verzicht bindend ist. Eine solche Bindungswirkung wird jedenfalls für den Verzicht dem Staat gegenüber häufig verneint. Die Staatsgewalt habe stets den aktuellen Willen des Grundrechtsträgers zu berücksichtigen.39 Das ist indes nur begrenzt richtig. Denn wenn der Grundrechtsträger ausdrücklich einen bindenden Verzicht erklärt, ist davon zunächst auszugehen. Die Bindungswirkung zu übergehen, würde bedeuten, einem Teil der ursprünglichen Erklärung die Wirksamkeit zu versagen. Die Frage ist also, ob die Unwiderruflichkeit materiell anzuerkennen 37 BVerfGE
81, 242 (253). 81, 242 (254 f.); 89, 214 (234). 39 Fischinger, JuS 2007, 808 (809); Seifert, Jura 2007, 99 (102); Stern, Bd. III/2, S. 916. 38 BVerfGE
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4. Kap.: Dispositionen im allgemeinen Persönlichkeitsrecht
ist. Das ist, wie der Verzicht als solcher, anhand einer Abwägung zwischen Individual- und Allgemeininteressen zu bestimmen. Die individuellen Freiheitsinteressen sprechen hier nicht mehr so klar für die Zulässigkeit eines Verzichts. Zwar ist die Erklärung eines bindenden Verzichts ebenfalls durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Freiheitsausübung, sie nimmt dem Grundrechtsträger aber zugleich für die Zukunft bei einem eventuellen Sinneswandel die Freiheit. Zwar ist eine solche Bindung für die Zukunft gerade ein Element der Autonomie,40 aber bei so einem weitgehenden Verzicht ist besonders kritisch zu prüfen, ob der Grundrechtsträger wirklich eine autonome Entscheidung trifft oder ob seine Autonomie ohnehin durch „eine mehr oder weniger große Not- oder Zwangslage“41 beeinträchtigt ist. Aus Sicht der betroffenen Grundrechte und der dadurch geschützten auch überindividuellen Interessen ist ein unwiderruflicher Verzicht noch problematischer als ein widerruflicher. Die Grundrechte sind zum Ausüben da und nicht zum Verzichten, sie sollen dem Einzelnen Freiheitsausübung in allen möglichen Lebensbereichen ermöglichen und nicht Verhandlungsmasse für Absprachen mit dem Staat oder Privaten sein. Gerade im Rahmen solcher – insbesondere vertraglicher – Absprachen dürfte der unwiderrufliche Grundrechtsverzicht in besonderem Maße praktisch relevant sein. Verzichtet jemand in einem Vertrag für eine Gegenleistung auf eine grundrechtlich geschützte Rechtsposition, muss sich der Vertragspartner darauf verlassen können, dass dieser Verzicht bindend ist und nicht jederzeit rückgängig gemacht werden kann. Damit spricht auch ein überindividueller Gesichtspunkt für den Grundrechtsverzicht: Die Funktionsfähigkeit der durch Art. 2 Abs. 1 GG gewährleisteten Privatautonomie ist auf die Verlässlichkeit von Verträgen angewiesen. Aus diesem Grund ist ein im Rahmen eines Vertrags erklärter Verzicht eher zulässig als ein Verzicht ohne Gegenleistung. Das gilt allerdings nur bei einem Verzicht auf eine grundrechtlich determinierte Rechtsposition einem Privaten gegenüber. Eine „Privatautonomie“ zwischen Staat und Bürger ist nicht grundrechtlich geschützt. Zwar erklärt § 54 VwVfG öffentlich-rechtliche Verträge grundsätzlich für zulässig. Dieser begründet indes nicht die Verzichtsmöglichkeit, sondern setzt sie voraus.42 Zu den „vertragsnahen“ Grundrechten Art. 12 und 14 GG gehört auch die Bindung an einen Beruf und die endgültige Disposition über das Eigentum. Hier ist daher ein bindender Verzicht nicht nur unproblematisch, sondern geradezu notwendig.43 Doch auch hier muss es Grenzen geben, etwa bei 40 Dworkin,
in: inner citadel, S. 54 (60). Rn. 201. 42 Sachs, VerwArch 76 (1985), S. 398 (423). 43 Sachs, VerwArch 76 (1985), S. 398 (424); Pietzcker, Der Staat 17 (1978), S. 527 (544). 41 Kingreen/Poscher,
P. Die Folgen eigenen Handelns im allgemeinen Persönlichkeitsrecht165
überlangen unkündbaren Verpflichtungen.44 Gegenüber Privaten kann die Privatautonomie dort kein Argument mehr sein, wo ihre Voraussetzungen nicht gegeben waren, wo also aufgrund der strukturellen Unterlegenheit des einen Vertragsteils die vermeintliche Selbstbestimmung in Fremdbestimmung umgeschlagen ist.45
P. Die Folgen eigenen Handelns im allgemeinen Persönlichkeitsrecht I. Das Recht auf Privatsphäre 1. Art. 13 GG Die mit Dispositionen über die Privatsphäre verbundenen dogmatischen Probleme lassen sich am leichtesten an dem Grundrecht verdeutlichen, bei dem die Privatsphäre gleichsam räumlich greifbar wird: Art. 13 GG. Daher sollen zunächst Überlegungen zu diesem Grundrecht angestellt werden, um dann zum Privatsphäreschutz durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht überzugehen. Zunächst ist die Beeinflussung des Schutzbereichs durch Verhalten des Grundrechtsträgers vom Grundrechtsverzicht abzugrenzen.46 Betriebs- und Geschäftsräume gehören nach herrschender Auffassung grundsätzlich zum Schutzbereich.47 Öffnet der Grundrechtsträger aber seine Geschäftsräume für den Publikumsverkehr, schließt das den Schutzbereich aus. Der Zweck der Privatsphäre, in Ruhe gelassen zu werden, kann in diesem Fall nicht mehr erfüllt werden.48 Dementsprechend berührt das Betreten von Betriebs- und Geschäftsräumen durch staatliche Organe nicht einmal den Schutzbereich, soweit sie für den unkontrollierten öffentlichen Zutritt geöffnet sind.49 Weil und soweit das Gebäude nicht mehr der Privatheit dient, die Art. 13 GG schützen will, ist der Schutzbereich nicht eröffnet. Diese Wirkung stellt keinen Verzicht dar; sie tritt unabhängig vom Willen des betroffenen Grundrechtsträgers ein.50 Auch wenn er das Betreten seiner öffentlichen Geschäftsräume durch staatliche Organe nicht wünscht, betrifft es nicht den Schutzbereich. 44 Pietzcker,
Der Staat 17 (1978), S. 527 (544 f.). 89, 214 (232). 46 Siehe O. I. 47 BVerfGE 32, 54 (68 f.); Kingreen/Poscher, Rn. 1008. 48 Vgl. BVerfGE 32, 54 (75 f.). 49 Kingreen/Poscher, Rn. 1009. 50 Vgl. O. I. 45 BVerfGE
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4. Kap.: Dispositionen im allgemeinen Persönlichkeitsrecht
Anders sind Fälle einzuordnen, in denen der Grundrechtsträger einem staatlichen Organ gestattet, seine Wohn- oder nicht öffentlichen Geschäftsräume zu betreten. Dann liegt an sich ein Eingriff vor, der aber durch das Einverständnis des Grundrechtsträgers gedeckt ist – die Konstellation des Grundrechtsverzichts.51 Das Einlassen privater Dritter in die geschützten vier Wände stellt einen Verzicht auf die Schutzwirkung des Grundrechts dar. Art. 13 GG verpflichtet nämlich an sich den Staat, Grundrechtsträger vor dem Zugriff privater Dritter auf die Wohnung zu schützen.52 Eine Einwilligung des Grundrechtsträgers lässt diesen Schutz, der etwa durch § 123 StGB verwirklicht wird, entfallen. Strafrechtsdogmatisch schließt zwar das Einverständnis bereits den Tatbestand des § 123 StGB aus.53 Verfassungsdogmatisch muss man es jedoch als Grundrechtsverzicht sehen. Denn die Wohnung i. S. d. Art. 13 GG ist mit ihrer klaren physischen Abgrenzung und zivilrechtlichen Zuordnung ein Raum zum individuellen Rückzug und auch zur individuellen Willkür bei der Entscheidung, wer sich wie lange und unter welchen Bedingungen dort aufhalten kann. Das beschränkte Einlassen Dritter lässt den Schutzbereich unberührt. Es ist systematisch die Ausnahme, die vom Willen des Berechtigten abhängt und den Zweck des Grundrechts unberührt lässt. Erst eine generelle Zweckbestimmung als nicht privater Raum lässt, wie dargelegt, den Schutzzweck entfallen. Der Grundrechtsverzicht lässt die Eingriffswirkung nur entfallen, wenn die zuvor54 dargestellten Voraussetzungen vorliegen. Der Grundrechtsträger muss den Verzicht ausdrücklich oder konkludent erklärt haben. Mit dieser Erklärung kann er zudem die Reichweite des Verzichts bestimmen. Durch das Erfordernis der Freiwilligkeit bleibt der Grundrechtsträger vor abgenötigten oder durch Täuschung erwirkten Einwilligungen geschützt, wobei problematisch ist, ob etwa die Identitätstäuschung durch einen Verdeckten Ermittler die Freiwilligkeit entfallen lässt.55 An der materiellen Anerkennung werden selten Zweifel bestehen. Art. 13 GG schützt das individuelle Interesse des Grundrechtsträgers, einen Rückzugsraum zu haben, über den er selbstbestimmt verfügen kann. Zu dieser Verfügung gehört eben auch das Einlassen Dritter. Liegt eine wirksame Einwilligung vor, stellt die Verwendung und Weitergabe von Informationen über das, was der Betretende in der Wohnung wahrgenommen hat, keinen Eingriff dar. Art. 13 GG schützt die Privatheit der Wohnung gegen Einsichtnahme. Betritt oder überwacht eine staatliche 51 Fischinger,
JuS 2007, 808 (808 f.); Seifert, Jura 2007, 99 (102). Gornig, Art. 13 Abs. 1 Rn. 12. 53 Fischer, § 123 Rn. 23. 54 Siehe O. III. 55 Vgl. Fischer, § 123 Rn. 24; MKS – Gornig, Art. 13 Abs. 1 Rn. 46. 52 MKS –
P. Die Folgen eigenen Handelns im allgemeinen Persönlichkeitsrecht167
Stelle ohne Zustimmung des Berechtigten eine Wohnung, so wird dieser Bruch der Privatsphäre durch die Weitergabe der so erlangten Informationen noch weiter vertieft.56 Als solche stellt die Erhebung von Informationen über die Wohnung jedoch keinen Eingriff dar.57 Art. 13 GG als Ausprägung der situativen Privatsphäre beschränkt die Einsichtnahme in eine Situation, nicht aber den freien Fluss von Informationen. Ist die Einsichtnahme aufgrund eines Verzichts kein Eingriff, entfällt daher auch der Eingriffswirkung der Weitergabe der Informationen. Ein aufschlussreicher Sonderfall der Disposition über Art. 13 GG ist das Einräumen von Mitbesitz an der Wohnung an Dritte, etwa durch eine Untervermietung. Dadurch verändert sich der persönliche Schutzbereich: Der Dritte wird Mitberechtigter,58 der ursprünglich allein Berechtigte kann sich diesem gegenüber fortan nicht mehr auf die Schutzwirkung des Art. 13 GG berufen, auch wenn er es möchte. Zugleich handelt es sich aber, anders als der bloß faktischen Öffnung von Geschäftsräumen, bei der es an einem konkreten Erklärungsempfänger fehlt, um eine Willenserklärung dem Dritten gegenüber, was für eine Charakterisierung als Verzicht spricht. Auch die Folgen der Einordnung als Schutzbereichsbestimmung oder Verzicht sprechen für Letzteres: Der Verzichtende bleibt durch die Anforderungen an einen Grundrechtsverzicht geschützt, insbesondere durch das Erfordernis der Freiwilligkeit. Es würde dem Schutz des Grundrechts nicht gerecht werden, würde man dieses Erfordernis für das Einlassen von Gästen verlangen, nicht aber für die viel folgenschwerere Einräumung von Mitbesitz. Denn durch seine Willenserklärung überlässt der Berechtigte einem Dritten jedenfalls faktisch die Kontrolle über den geschützten Raum an sich. Anders als bei der Öffnung von Geschäftsräumen besteht hier durch die Beteiligung eines konkreten, von der Erklärung profitierenden Dritten die Gefahr, dass die Zustimmung nicht freiwillig war, sondern vielmehr durch den Dritten etwa durch Täuschung oder Drohung erwirkt wurde. Dann handelt es sich in Wahrheit um einen Eingriff, der im Kostüm einer Disposition daherkommt. Der Schutz des Art. 13 GG wirkt daher in den Anforderungen an den Grundrechtsverzicht fort. Durch diese wird sichergestellt, dass der Grundrechtsträger gleichsam die Kontrolle über die Übergabe der Kontrolle hat. Daher bleibt in diesen Fällen der Schutzbereich zunächst eröffnet. Der Eingriff entfällt, wenn die Voraussetzungen des Grundrechtsverzichts vorlagen. Ist die Disposition danach aber wirksam, so entfällt für die Zukunft der 56 BVerfGE
109, 279 (374). 65, 1 (40). 58 MKS – Gornig, Art. 13 Abs. 1 Rn. 27. 57 BVerfGE
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4. Kap.: Dispositionen im allgemeinen Persönlichkeitsrecht
Schutzbereich. Im Verhältnis zu dem Dritten ist die Wohnung dann kein privater Rückzugsraum mehr, auch wenn es sich der Berechtigte einmal wünschen sollte. Insofern hat die Einräumung von Mitbesitz eine doppelte Wirkung. Damit ergeben sich drei verschiedene Möglichkeiten, Dispositionen eines Grundrechtsträgers dogmatisch zu erfassen. Es gibt Handlungen, die das Schutzbedürfnis und damit bereits den Schutzbereich entfallen lassen. Diese Folge ist unabhängig vom Willen des Grundrechtsträgers und auch ansonsten an keine weiteren Voraussetzungen gebunden. Ist der Schutzbereich aber eröffnet, entfällt der Schutz nur, wenn die Wirksamkeitsvoraussetzungen eines Grundrechtsverzichts vorliegen. In der dritten Konstellation übergibt der Grundrechtsträger die Kontrolle über den Schutzbereich in einem bestimmten Umfang an einen Dritten, sodass das Schutzbedürfnis in diesem Umfang entfällt. Hier liegt ein Grundrechtsverzicht vor, sodass dessen Voraussetzungen erfüllt sein müssen. Zugleich entfällt für die Zukunft unabhängig vom Willen des Betroffenen der Schutzbereich. 2. Das allgemeine Recht auf Privatsphäre a) Beschränkung des Schutzbereichs Diese Konstellationen zeigen sich auch beim allgemeinen Recht auf Privatsphäre nach Art. 2 Abs. 1 GG, werden aber in anderem Maße praktisch relevant. Bei Art. 13 GG ist sowohl die geschützte Sphäre als auch der Eingriff, das körperliche oder unkörperliche Eindringen und Verweilen in der Wohnung, stark typisiert. Beim allgemeinen Recht auf situative Privatsphäre hängt schon der Schutz an sich von diversen Faktoren ab, so auch entscheidend vom eigenen Verhalten des Grundrechtsträgers. Daher entfällt in vielen Fällen der Schutz schon auf Schutzbereichsebene, ohne dass auf die Figur des Grundrechtsverzichts zurückgegriffen werden muss. Trifft sich ein Grundrechtsträger mit einem staatlichen Organ zu einem vertraulichen Vier-AugenGespräch, so wird das Gegenüber selbst Teil dieser vertraulichen Situation. Ob ein solches Gespräch „privat“ ist und damit durch Art. 2 Abs. 1 GG gegenüber der Beobachtung und dem Belauschen durch Dritte geschützt, sei dahingestellt. In jedem Fall gilt der Schutz nur gegenüber „Eindringlingen“, und ein solcher ist der Interaktionspartner selbst nicht. Noch deutlicher wird das anhand von Art. 10 GG: Telefoniert ein Grundrechtsverpflichteter mit einem Grundrechtsträger, so berührt das selbstverständlich nicht den Schutzbereich, daher handelt es sich ebenso selbstverständlich nicht um einen Grundrechtsverzicht, wenn der Grundrechtsträger der Behörde auf diesem Wege Informationen zukommen lässt. Dasselbe gilt, wenn ein staatliches Organ selbst Teil einer Situation mit begründeter Vertraulichkeitserwartung wird.
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Erst recht gilt das gegenüber privaten Dritten. Denn das Recht auf Privatsphäre ist nicht nur ein Recht des Rückzugs. Wie gerade an Art. 10 erkennbar ist, versteht das Grundgesetz Privatheit auch als eine Art und Weise des Umgangs mit Dritten.59 Art. 13 GG, der in erster Linie die Möglichkeit des Rückzugs schützt, ist insofern fast ein Sonderfall. Denn auch die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten privaten Situationen sind nicht nur solche des Alleinseins, sondern gerade auch solche der Interaktion mit ausgewählten Dritten.60 Damit berührt deren Anwesenheit in der privaten Situation schon nicht den Schutzbereich. Vielmehr wird dieser durch die Entscheidung der Grundrechtsträger, gemeinsam eine vertrauliche Situation zu suchen, erst konstituiert. Auch das Recht auf thematische Privatsphäre ist, wie bereits herausgearbeitet wurde, kein „absolutes“ Abschottungsrecht in Hinblick auf Informationen. Vielmehr macht das Teilen der geschützten Lebensbereiche sowie der Informationen über diese Bereiche gerade die Privatsphäre aus. Wer private Situationen oder Informationen mit Dritten teilt, macht die beim Dritten entstehenden Informationen gleichsam zum Teil der gemeinsamen Privatsphäre. Damit definiert er, dass die Informationen in dem sozialen Rahmen, in dem er sie geteilt hat, nicht privat sein sollen. Gibt der Dritte Informationen seinerseits in diesem Rahmen weiter, beeinträchtigt das daher von vornherein nicht das Recht der Privatsphäre. Die Grenzen der Weitergabe sind durch soziale Konventionen definiert.61 Der Schutzbereich kann auch durch unbeabsichtigtes Verhalten des Grundrechtsträgers entfallen. Zur situativen Privatsphäre nennt das Bundesverfassungsgericht das Beispiel, dass jemand beim Sprechen von ihm unerwünschte Hörer in seiner Nähe übersieht oder die Lautstärke seiner Äußerung falsch einschätzt.62 Dann ist ihm das Mithören Dritter von vornherein zuzurechnen; wenn er eine Vertraulichkeitserwartung hat, ist diese nicht berechtigt. Der Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist nicht eröffnet, ohne dass es auf den Willen des Grundrechtsträgers ankäme, das Gesagte privat zu halten. „Rutschen“ ihm private Informationen „heraus“ oder lässt er Schriftstücke, aus denen sich private Informationen ergeben, offen liegen, kann er sich im gleichen Umfang nicht auf die thematische Privatsphäre berufen. Das Bundesverfassungsgericht wendet die Schutzbereichsvoraussetzung der berechtigten Vertraulichkeitserwartung allerdings nicht konsequent an. Es macht zwar die Zulässigkeit des Mithörens mit Hilfe einer Mithörvorrichtung Gusy, Art. 10 Rn. 15. nur die Situationen, anhand derer das Bundesverfassungsgericht die „räumliche“ Privatsphäre dogmatisch ausgearbeitet hat, in BVerfGE 101, 361 (362 ff.). 61 Siehe F. II. 1. c) bb). 62 BVerfGE 106, 28 (40). 59 MKS – 60 Vgl.
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am Telefon davon abhängig, ob „eine technisch mögliche Nutzung zum Mithören unter den gegebenen Bedingungen des sozialen, geschäftlichen oder privaten Kommunikationsverhaltens so verstanden wird, dass einem Dritten ohne Zustimmung sämtlicher Gesprächspartner das heimliche Zuhören des Gesprächs ermöglicht werden darf, sofern nicht vorsorglich von allen widersprochen wird“63. Sind solche Konventionen festzustellen, fehlt es korrekterweise an einer berechtigten Vertraulichkeitserwartung. Das Gericht lässt für diese aber „die Adressierung des Gesprächs“64 genügen und wirft die Frage nach den Konventionen (und damit der „Berechtigung“ der damit verbundenen Vertraulichkeitserwartung) erst bei der Prüfung des (konkludenten) Verzichts auf. Richtigerweise wäre das schon auf Schutzbereichsebene zu prüfen gewesen. b) Grundrechtsverzicht Damit sind das eigene Verhalten des Grundrechtsträgers und die Deutung dieses Verhaltens anhand sozialer Konventionen schon auf Schutzbereichsebene zu berücksichtigen. Folglich verbleibt im Bereich der allgemeinen situativen Privatsphäre für einen „reinen“ Grundrechtsverzicht (wie beim Einlassen von Gästen im Rahmen des Art. 13 GG) kaum noch Raum. Dass jemand eine an sich vertrauliche Situation schafft, aber einem außerhalb der Situation stehenden Dritten die Beobachtung dieser Situation gestattet, ist eine eher theoretische Konstellation. Bei der thematischen Privatsphäre liegt ein Verzicht etwa vor, wenn einer staatlichen Stelle die Erhebung und Verwendung privater Informationen gestattet wird. Auch bei der Überlassung von Unterlagen, aus denen private Informationen zu entnehmen sind, an eine außerhalb der Privatsphäre stehende staatliche oder private Stelle handelt es sich um einen Verzicht, da der Grundrechtsträger die Kontrolle über die Informationsgewinnung aus der Hand gibt. c) Grundrechtsverzicht mit Folgen für den Schutzbereich aa) Das Beispiel der konsentierten medialen Veröffentlichung Bedeutsamer, gerade im Verkehr zwischen Privaten, ist die dritte Konstellation, der Grundrechtsverzicht, der zugleich Einfluss auf den Schutzbereich hat. Diese kommt in der 2. Caroline-von-Monaco-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Tragen. 63 BVerfGE 64 BVerfGE
106, 28 (47). 106, 28 (44).
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Zunächst heißt es dort, der Einzelne hebe das Schutzbedürfnis für Verhaltensweisen, die an sich die Öffentlichkeit nichts angehen, selbst auf, wenn er sich an Orten, die nicht die Merkmale der Abgeschiedenheit aufweisen, so verhalte, als stünde er nicht unter Beobachtung.65 Der Bundesgerichtshof hatte eine schützenswerte Privatsphäre angenommen, „wenn sich jemand in eine örtliche Abgeschiedenheit zurückgezogen hat, in der er objektiv erkennbar für sich allein sein will und in der er sich in der konkreten Situation im Vertrauen auf die Abgeschiedenheit so verhält, wie er es in der breiten Öffentlichkeit nicht tun würde“66. Diese Definition ließ sich in den Augen des Bundesverfassungsgerichts offenbar so interpretieren, dass ein Grundrechtsträger einen öffentlichen Ort durch sein Verhalten zu einem privaten „umdefinieren“ könnte. Daher betont es, nicht sein Verhalten konstituiere die Privatsphäre, sondern die „objektive Gegebenheit der Örtlichkeit zur fraglichen Zeit“67. Damit präzisiert es den Schutzbereich der situativen Privatsphäre. Zugleich trifft es eine Aussage über den Schutz öffentlichen Verhaltens durch das Recht der thematischen Privatsphäre. Auch insoweit besteht kein rechtlich relevantes Schutzbedürfnis mehr, wenn der Grundrechtsträger private Sachverhalte öffentlich zur Schau stellt. Wer mit seinem Partner in der Öffentlichkeit Zärtlichkeiten austauscht, kann sich in Hinblick auf die daraus folgenden Informationen nicht auf das Recht auf thematische Privatsphäre berufen. Dogmatisch handelt es sich um eine Beschränkung des Schutzbereichs. Während der Betroffene den Schutz also nicht durch sein Verhalten begründen kann, kann er ihn auf diesem Wege durchaus aufheben, wie das Gericht im folgenden Absatz ausführt. „Der Schutz der Privatsphäre vor öffentlicher Kenntnisnahme entfällt ferner, wenn sich jemand selbst damit einverstanden zeigt, daß bestimmte, gewöhnlich als privat geltende Angelegenheiten öffentlich gemacht werden, etwa indem er Exklusivverträge über die Berichterstattung aus seiner Privatsphäre abschließt. Der verfassungsrechtliche Privatsphärenschutz aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG ist nicht im Interesse einer Kommerzialisierung der eigenen Person gewährleistet. Zwar ist niemand an einer solchen Öffnung privater Bereiche gehindert. Er kann sich dann aber nicht gleichzeitig auf den öffentlichkeitsabgewandten Privatsphärenschutz berufen. Die Erwartung, daß die Umwelt die Angelegenheiten oder Verhaltensweisen in einem Bereich mit Rückzugsfunktion nur begrenzt oder nicht zur Kenntnis nimmt, muß daher situationsübergreifend und konsistent zum Ausdruck gebracht werden.“68
Willigt der Grundrechtsträger in die Veröffentlichung privater Sachverhalte ein, das ist der Kern der Aussage des Bundesverfassungsgerichts, begibt er 65 BVerfGE
101, 361 (385). 131, 332 (339). 67 BVerfGE 101, 361 (385). 68 BVerfGE 101, 361 (385). 66 BGHZ
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sich insoweit seines Privatsphäreschutzes, nicht nur gegenüber ausgewählten Dritten, sondern absolut. Durch diese Auslegung möchte das Gericht wohl vor allem der im Zitat erwähnten Kommerzialisierung des Grundrechtsschutzes einen Riegel vorschieben. Der Grundrechtsträger soll nicht über den „Umweg“ des Rechts auf Privatsphäre ein Verfügungsrecht über seine persönlichen Informationen bekommen, das das Gericht gerade zuvor in aller Deutlichkeit abgelehnt hatte.69 Er soll nicht für eine finanzielle Vergütung der Illustrierten A gestatten, private Situationen zu beobachten und private Informationen zu veröffentlichen, es der Illustrierten B aber unter Berufung auf das Recht auf Privatsphäre verwehren. Hintergrund ist der Zweck des Rechts auf Privatsphäre. Der Schutz der Verhaltensfreiheit kann nicht mehr erreicht werden, wenn das Verhalten in der Privatsphäre ohnehin beobachtet ist oder private Informationen öffentlich gemacht wurden. Ein Schutzbedarf besteht dann nur noch unter kommerziellen, nicht unter persönlichkeitsrechtlichen Gesichtspunkten. Das Recht auf Privatsphäre kann also seinen Zweck nicht mehr erfüllen, sodass, wie bei Art. 13 GG, der Schutzbereich entfällt. Dennoch gibt es zumindest in den Fällen, die bisher in der Rechtsprechung relevant wurden, einen Unterschied zur Öffnung von Geschäftsräumen. Denn die Privatsphäre wurde in diesen Fällen nicht vom Grundrechtsträger selbst „geöffnet“, stattdessen wurde ein dritter Mittler, nämlich ein Medienunternehmen, dafür eingesetzt. Ihm gestattete der Grundrechtsträger, etwa durch einen Exklusivvertrag, Privates öffentlich zu machen. Damit entspricht die Konstellation der Einräumung von Mitbesitz im Rahmen des Art. 13 GG. Erstens handelt es sich um einen Grundrechtsverzicht. Auch beim allgemeinen Recht der Privatsphäre hat diese Einordnung die wichtige Funktion, über das Merkmal der Freiwilligkeit die echte Einwilligung von einem versteckten Eingriff abzugrenzen. Der Grundrechtsträger gestaltet seine Privatsphäre nicht mehr selbst, indem er entscheidet, welche Informationen er auf welche Weise mit wem teilt, sondern er überlässt den Umgang mit den privaten Informationen einem Dritten. Anders als bei rein faktischem Kommunikationsverhalten, mit dem er den Bereich seiner Privatsphäre gestaltet, überlässt er die Kontrolle über seine Privatsphäre im Wege der Willenserklärung in gewissem Umfang einem Dritten. Das macht einen Grundrechtsverzicht aus.70 Zweitens beschränkt die Disposition den Schutzbereich des Rechts auf Privatsphäre. Hat der Grundrechtsträger wirksam eingewilligt, private Angelegenheiten öffentlich zu machen, sind sie öffentlich. Selbst wenn er es dann noch wünscht, kann er sich gegenüber niemandem mehr auf den Privatheitsschutz berufen. Das gilt dann auch staatlichen 69 BVerfGE 70 Siehe
101, 361 (380). O. I.
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Stellen gegenüber: Wenn schon der Schutzbereich entfällt, kann eine entsprechende staatliche Informationserhebung keinen Eingriff mehr darstellen. bb) Voraussetzungen und Folgen des Verzichts Zweifel an der Einordnung (auch) als Grundrechtsverzicht weckt der letzte Satz des Zitats, nach dem der Einzelne seine Privatsphäreerwartung situationsübergreifend und konsistent zum Ausdruck bringen müsse. Das erweckt den Eindruck, der Betroffene könne nicht nur durch eine ausdrückliche Einverständniserklärung den Grundrechtsschutz aufgeben, sondern durch bloßes Unterlassen; er müsse mit anderen Worten selbst aktiv werden und permanent deutlich machen, dass er auf den Privatsphäreschutz Wert legt, um diesen zu erhalten. Eine solche Auslegung würde indes den Grundrechtsschutz des Art. 2 Abs. 1 GG unangemessen verkürzen. Der Schutz der Privatsphäre soll dem Einzelnen gerade einen Raum gewähren, in dem er sich frei entfalten und dabei grundsätzlich vor einer Einsichtnahme Dritter sicher sein kann. Zu diesem Zweck hebt Art. 2 Abs. 1 GG die gesellschaftlichen Konventionen auf eine rechtliche Ebene. Dieser Schutz würde aber erheblich reduziert, wenn der Einzelne seine Privatsphäre im Falle eines Eindringens Dritter dennoch aktiv verteidigen müsste. Niemand ist verpflichtet, morgens die einschlägigen Tageszeitungen zu lesen und im Falle von Privatsphäreverletzungen rechtliche Schritte einzuleiten. Ein bloßes Unterlassen kann daher auch nicht zur Folge haben, dass er den Privatsphäreschutz verliert. Er darf allerdings auch nicht durch sein aktives Verhalten zeigen, dass er auf den an sich vorhandenen Privatsphäreschutz keinen Wert legt. Die Einordnung als Grundrechtsverzicht und damit Willenserklärung führt gerade zu einem Abstellen auf den Willen und damit auf den Erklärungswert des Verhaltens. Teilt jemand einem Dritten beispielsweise private Informationen mit, ist dieses Verhalten daraufhin auszulegen, ob er diese nur im Vertrauen mitteilt oder ob er mit ihrer Weitergabe und Verbreitung einverstanden ist. Zeigt er durch sein Verhalten, dass er beispielsweise eine Medienberichterstattung duldet, kann darin ein konkludenter Verzicht liegen. Die Freiwilligkeit der Einwilligung fehlt nach allgemeinen Regeln, wenn sie unter dem Einfluss von Zwang, Täuschung oder Drohung erteilt wurde. Zur materiellen Anerkennung äußert sich das Bundesverfassungsgericht mit der zitierten Aussage, niemand sei an einer Öffnung privater Bereiche gehindert.71 Dem ist zuzustimmen: Das Recht auf Privatsphäre als reines Individualrecht ist in sehr großem Umfang disponibel. Die Grenzen der materiellen 71 BVerfGE
101, 361 (385).
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4. Kap.: Dispositionen im allgemeinen Persönlichkeitsrecht
Anerkennung wurden nach überwiegender Auffassung selbst durch die Totalüberwachung im Rahmen der Fernsehsendung „Big Brother“ nicht überschritten, allerdings nur angesichts der umfassenden Aufklärung und der Möglichkeit, den „Container“ jederzeit zu verlassen.72 Wurden Informationen aufgrund einer wirksamen Einwilligung des Grundrechtsträgers öffentlich gemacht, dürfen sie auch von Dritten weitergegeben werden; eine solche Weitergabe berührt dann nicht mehr den Schutzbereich. Bei der situativen Privatsphäre ist das fast selbstverständlich: Diese schützt ohnehin nicht die Privatheit der Informationen, sondern der Situation, und diese Privatheit war nun einmal durch den Verzicht aufgehoben.73 Bei der thematischen Privatsphäre lässt es sich mit zwei Erwägungen begründen. Erstens mit den Besonderheiten des Gutes Information: Informationen lassen sich, einmal öffentlich gemacht, schon faktisch nicht mehr sinnvoll kontrollieren. Zweitens mit dem Sinn und Zweck des Privatsphäreschutzes: Dieser ist nicht mehr zu erreichen, wenn die Informationen einmal öffentlich sind. Die thematische Privatsphäre soll davor schützen, dass ein Grundrechtsträger durch die Sorge, Informationen könnten aus der Privatsphäre herausdringen und die Selbstdarstellung beeinträchtigen, in seinem Handeln eingeschränkt wird.74 Wenn er diese Informationen aber selbst zum Teil seiner Selbstdarstellung gemacht hat, bedarf es dieses weit vorgelagerten Selbstdarstellungsschutzes nicht mehr. Dann hat er nicht trotz der möglichen Wirkung der Handlung auf seine Selbstdarstellung gehandelt, sondern gerade wegen oder zumindest ungeachtet dieser Wirkung. Ein Schutz kann dann aber noch durch das Recht der Selbstdarstellung gegeben sein.75 Denn dieses folgt, wie sogleich zu sehen sein wird, einer anderen Logik und kann daher auch in Fällen Anwendung finden, in denen der Schutz der Privatsphäre aufgrund eines Verzichts entfällt.
II. Das Recht der Selbstdarstellung Anders als es der vom Bundesverfassungsgericht früher zugrunde gelegte „Gedanke der Selbstbestimmung“ über die eigene Darstellung Dritten oder der Öffentlichkeit gegenüber suggeriert, obliegt es Dritten, dem Verhalten eines Grundrechtsträgers Informationen zu entnehmen, die dessen Identität oder Selbstdarstellung bilden. Darin liegt ebenso wenig ein Eingriff wie grundsätzlich in der Weitergabe dieser Informationen, die dem freien gesell72 Dörr, S. 74 f., 85 f.; Frotscher, ZUM 2001, 555 (560); Huster, NJW 2000, 3477 f.; aA Schmitt Glaeser, ZRP 2000, 395 (400 f.). 73 So bereits zu Art. 13 GG P. I. 1. 74 Siehe F. II. 1. a). 75 Mit dieser Differenzierung auch BGH NJW 2012, 767 (768 f.).
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schaftlichen Informationstransfer unterliegen. Ein Eingriff liegt nur dann vor, wenn die Informationen dem Betroffenen nicht zuzurechnen sind, weil sie entweder falsch sind oder seine Selbstdarstellung erheblich beeinträchtigen. So entsteht die Selbstdarstellung in einem Zusammenspiel zwischen dem Verhalten des Grundrechtsträgers und gesellschaftlichen Deutungs- und Bewertungsmustern. Das Produkt, die individuelle Selbstdarstellung, ist Ausgangspunkt bei der Beurteilung, welche Informationen davon so divergieren, dass ihre Verbreitung einen Eingriff darstellt.76 1. Dogmatische Einordnung von Dispositionen Das führt dazu, dass schon der Schutzbereich in noch größerem Maße als bei der Privatsphäre durch das eigene Verhalten des Grundrechtsträgers bestimmt wird. Welche Handlungen Dritter die Selbstdarstellung erheblich beeinträchtigen, hängt entscheidend davon ab, wie diese Selbstdarstellung beschaffen ist. Diese gestaltet der Betroffene durch die Informationen, die er selbst über sich preisgibt. Deren Weiterverbreitung unterfällt damit schon nicht dem Schutzbereich. Wenn ein Grundrechtsträger eine an sich stigmatisierende Information zum Teil seiner Selbstdarstellung macht, kann die Weitergabe dieser Information nicht zugleich eine Beeinträchtigung dieser Selbstdarstellung sein. Homosexualität etwa kann ‒ je nach den Kreisen, in denen der Grundrechtsträger sich bewegt und über die er sich definiert ‒ durchaus noch77 ein Stigma darstellen. Wer aber offen als Homosexueller lebt, ist nicht in seiner Selbstdarstellung beeinträchtigt, wenn die Homosexualität von Dritten thematisiert wird. Ein „reiner“, auf eine konkrete Situation beschränkter Verzicht ist vor diesem Hintergrund kaum vorstellbar. Denn wer in die Verbreitung bestimmter Informationen einwilligt, macht diese zum Teil seiner Selbstdarstellung und definiert damit zugleich den Schutzbereich neu. Denkbar ist aber auch hier die Konstellation, dass der Verzicht und die Neudefinition des Schutzbereichs zusammenfallen. Dafür muss in die Verbreitung einer Information eingewilligt werden, die noch nicht Teil der Selbstdarstellung, also noch nicht öffentlich bekannt war, und die erhebliche negative Konsequenzen für den Betroffenen hat. Hier wird es häufig Überschneidungen zum Verzicht auf die thematische Privatsphäre geben. In einigen Fällen ist diese aber von vornherein nicht einschlägig, sodass nur auf das Recht der Selbstdarstellung verzichtet wird. Wichtigstes Beispiel ist die konsentierte Verbreitung von Informationen über Straftaten. Eine solche kann eine erhebliche Stigmatisierung mit sich 76 Siehe
ausführlich F. I. des Wandels der gesellschaftlichen Anschauungen zum Thema Homosexualität ist das möglicherweise in wenigen Jahren schon anders zu beurteilen. 77 Angesichts
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bringen und betrifft daher das allgemeine Persönlichkeitsrecht.78 Wer aber zuvor in den Medien Stellung zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen bezogen hat und damit „zum Ausdruck gebracht hat, sich den erhobenen Vorwürfen in der Öffentlichkeit stellen zu wollen“, kann sich „möglicherweise dann nicht mehr mit Gewicht auf sein allgemeines Persönlichkeitsrecht berufen“.79 2. Kein „Alles oder nichts“ bei den Folgen für den Schutzbereich Die Formulierung „mit Gewicht“ weist dabei auf einen Unterschied zum Recht auf Privatsphäre hin. Anders als das Recht auf Privatsphäre betrifft das Recht der Selbstdarstellung nicht den Schutz vergangener, sondern den Schutz zukünftiger Entfaltungssituationen.80 Die Selbstdarstellung ist nicht für alle Zeiten und Situationen festgelegt, sondern definiert sich in jeder Situation neu.81 Daher muss auch der Schutz durch das Recht der Selbstdarstellung für jede Situation neu bestimmt werden. Mit größerem zeitlichen Abstand verliert die Information allmählich gleichsam den Zurechnungszusammenhang zu der Handlung, die sie verursacht hat. „Gräbt“ jemand Jahre später eine an sich schon in Vergessenheit geratene Information „aus“, ist das mehr diesem „Ausgraben“ als der ursprünglichen Handlung zuzurechnen. Zugleich können die negativen Folgen der Information gleich bleiben oder – etwa zum Zeitpunkt der Entlassung aus dem Strafvollzug – sogar steigen.82 Wenn also beim Recht der Selbstdarstellung jede Situation neu beurteilt werden muss, gilt das auch für die Folgen eines Grundrechtsverzichts oder einer Handlung, die die Selbstdarstellung und damit den Inhalt des Schutzbereichs beeinflusst. Ebenso wie eine Handlung nicht zwangsläufig dazu führt, dass die Information in alle Ewigkeit und in jeder Weise weitergegeben werden darf, gilt auch ein Verzicht, anders als bei der Privatsphäre, nicht absolut. Hat ein Straftäter die Preisgabe von Informationen im Zusammenhang mit dem Strafverfahren gestattet, bedeutet das nicht automatisch, dass sie auch zur Zeit seiner Haftentlassung verbreitet werden dürfen. Anders als beim Recht der Privatsphäre bedeutet nämlich jede neuerliche Weitergabe eine neuerliche Beeinträchtigung weiterer Interaktionssituationen. Daher kann der Zweck des Schutzes noch erreicht werden, wenn neuerliche Weitergaben unterbunden werden. Der Verzicht auf das Recht der Selbstdarstellung muss also daraufhin ausgelegt werden, wie weit er gilt. Das kann auch bedeuten, 78 BVerfGE
35, 202 (226). NJW 2009, 350 (352), Hervorhebung durch C.G. 80 Siehe F. II. 1. a). 81 Siehe E. 4. 82 Vgl. BVerfGE 35, 202 (237); BGH NJW 2009, 3576 (3578). 79 BVerfG
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dass die Weitergabe einer Information zwar wegen eines Verzichts nicht das Recht der Privatsphäre beeinträchtigt, aber, weil eine Weitergabe in dieser Form oder zu diesem Zeitpunkt vom Verzicht nicht erfasst ist, das Recht der Selbstdarstellung. Dennoch kann durch einen früheren Verzicht das Gewicht des Rechts der Selbstdarstellung in der Abwägung mit kollidierenden Interessen Dritter geschwächt werden. Entscheidend für den Schutz durch das Recht der Selbstdarstellung ist, ob eine Information den Handlungen des Grundrechtsträgers zuzurechnen ist. Diese Zurechnung ist aber graduell und hängt von allen möglichen Faktoren ab. Hat sich ein Straftäter etwa zur Zeit des Strafverfahrens öffentlich mit der Straftat gebrüstet, ist das nicht zwangsläufig ein Grund, ihm als möglicherweise geläutertem Menschen zum Zeitpunkt seiner Entlassung den Schutz durch das Recht der Selbstdarstellung völlig zu verweigern. Dennoch ist ihm die neuerliche Verbreitung der Informationen eher zuzurechnen, als wenn er zuvor alles getan hat, um die Information aus seiner Selbstdarstellung herauszuhalten. Zudem ist in solchen Fällen zu berücksichtigen, inwieweit die neuerliche Verbreitung überhaupt noch neue oder zusätzliche nachteilige Folgen für den Grundrechtsträger hat.83 Diese graduelle Differenzierung unterscheidet die Folgen der Disposition beim Recht der Selbstdarstellung vom „Alles oder nichts“ des Rechts auf Privatsphäre.
III. Das Recht am eigenen Bild 1. Dogmatische Einordnung von Dispositionen Beim Recht am eigenen Bild sind der Verzicht und die Beeinflussung des Schutzbereichs durch eigenes Verhalten recht klar abzugrenzen. Das Recht schützt die Kontrolle über das äußere Erscheinungsbild gegenüber der Archivierung von Bildaufnahmen eines Grundrechtsträgers sowie – einfach-rechtlich konkretisiert in §§ 22, 23 KUG – vor ihrer Verbreitung und öffentlichen Zurschaustellung.84 Das Problem liegt gerade darin, dass ein Dritter bestimmen kann, in welchem Moment er „abdrückt“ und wie er später mit den Bildern umgeht, sprich wem er sie in welchem Zusammenhang und mit welcher Reichweite zur Kenntnis bringt. Hat ein Dritter die Kontrolle über Elemente von Privatsphäre und Selbstdarstellung, ist der Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts betroffen und der Eingriff entfällt nur unter den Voraussetzungen des Grundrechtsverzichts.85 Nur wenn der Einzelne 83 BGH
NJW 2009, 3576 (3579). M. 85 Siehe P. I. 1. 84 Siehe
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selbst die Kontrolle über die Bilder ausübt, ist daher schon der Schutzbereich nicht betroffen. Das ist etwa der Fall, wenn er ein „Selfie“ anfertigt oder wenn er Bilder selbst herumzeigt. Dass man in diesen Fällen nicht gegenüber sich selbst auf den Grundrechtsschutz verzichtet, versteht sich von selbst. Sobald aber jemand anders die Kontrolle über den Vorgang des Aufnehmens oder das Bildmaterial hat, ist der Schutzbereich betroffen, der Einzelne muss auf den Schutz verzichten. Die Einwilligung i. S. d. § 22 KUG ist demnach verfassungsrechtlich ein Grundrechtsverzicht. Die Frage ist, ob auch hier der Grundrechtsverzicht zugleich für die Zukunft zu einer Beschränkung des Schutzbereichs führt. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist in dieser Frage nicht ganz klar. Die oben86 angeführte Passage aus der 2. Caroline-von-Monaco-Entscheidung bezieht sich zwar auf das Recht der Privatsphäre, im Fall ging es aber um Bilder, in der Literatur wird die Aussage auch zum Teil bei der Auslegung des Rechts am eigenen Bild berücksichtigt.87 Nach einer späteren Kammerentscheidung, bei der das Gericht ebenfalls nicht klarmacht, welche der beiden Ausprägungen es letztendlich prüft, soll ein Einverständnis eventuell nur das Gewicht des Rechts in der Abwägung schwächen.88 In der Entscheidung zur Kurzberichterstattung äußert sich das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich zum Recht am eigenen Bild. Das Recht sei durch die Einwilligung in eine Aufzeichnung, Übertragung und Weiterverwertung gegenüber einem Fernsehveranstalter nicht „verbraucht“, sondern könne anderen gegenüber weiterhin geltend gemacht werden.89 Soweit nicht der persönlichkeitsrechtliche, sondern der finanzielle Aspekt des Rechts am eigenen Bild im Vordergrund steht, sei allerdings nicht das allgemeine Persönlichkeitsrecht, sondern Art. 12 Abs. 1 GG einschlägig.90 Das Recht am eigenen Bild beruht, ebenso wie das Recht auf Datenschutz, sowohl auf Privatsphäre- als auch auf Selbstdarstellungserwägungen.91 Differenziert man entsprechend, kann man auch Klarheit in die Frage der Reichweite des Schutzbereichs nach einem Verzicht bringen. Hat ein Prominenter Journalisten der Illustrierten A gestattet, ihn zu fotografieren, ist er nicht in seinem Recht am eigenen Bild betroffen, wenn ein Journalist der Illustrierten B die gleiche Situation fotografiert. Die Privatsphäregesichtspunkte, die den Schutz rechtfertigen, entfallen dann.92 86 P.
I. 2. c) aa). Dreyer/Kotthoff/Meckel – Dreyer, § 22 KUG Rn. 19. 88 BVerfG NJW 2006, 3406 (3408). 89 BVerfGE 97, 228 (269). 90 BVerfGE 97, 228 (270). 91 Siehe M. II. 92 Siehe P. I. 2. c) aa). 87 Vgl.
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Anders ist das bei den Selbstdarstellungsgesichtspunkten, die den Grundrechtsträger vor Verbreitung und öffentlicher Zurschaustellung von Bildern schützen.93 Da jede Veröffentlichung in einem anderen Zusammenhang und mit einer anderen Reichweite erfolgt, muss hier, wie beim Recht der Selbstdarstellung, auch auf Verzichtsebene differenziert werden zwischen jener Veröffentlichung, in die der Betroffene eingewilligt hat, und anderen Veröffentlichungen. Die Reichweite des Schutzes richtet sich danach, inwieweit vor dem Hintergrund der erteilten Einwilligung die neuerliche Verbreitung oder Zurschaustellung der Bilder noch schutzwürdige Selbstdarstellungsinteressen beeinträchtigen kann. Entspricht sie in Zusammenhang und Reichweite dem konsentierten Umgang mit den Bildern, kann der Schutz vollständig entfallen. Führt die neue Verbreitung oder Zurschaustellung hingegen zu einer eigenständigen Selbstdarstellungsbeeinträchtigung, etwa zur Verfälschung des Aussagegehalts durch eine Kontextveränderung,94 bleibt der Schutz erhalten. Die Einwilligung kann den Schutz auch bei einer Abwägung schwächen. 2. Differenzierung zwischen verfassungsrechtlichem und einfach-rechtlichem Recht am eigenen Bild Dadurch geht der Schutz der §§ 22, 23 KUG in manchen Fällen weiter als das grundrechtliche Recht am eigenen Bild. Denn im einfachen Recht ist außer § 23 Abs. 1 KUG und der Einwilligung keine Möglichkeit vorgesehen, eine Verbreitung oder öffentliche Zurschaustellung eines Bildes zu legitimieren. Ist keiner der Ausnahmetatbestände des § 23 Abs. 1 KUG einschlägig, insbesondere bei privaten Fotos, die nicht unter Nr. 1 fallen, kommt es nicht einmal zu einer Interessenabwägung zwischen Verbreitendem und Abgebildetem, bei der eine in anderem Zusammenhang erteilte Einwilligung berücksichtigt werden könnte. Die Möglichkeit der Verbreitung oder Zurschaustellung hängt dann ausschließlich von der für genau diese Verbreitung erteilten Einwilligung des Abgebildeten ab. Diese kann er nach seiner Willkür erteilen oder verweigern. Damit hat der Gesetzgeber, soweit es um Bilder geht, gewissermaßen das Verfügungsrecht geschaffen, das Art. 2 Abs. 1 GG nicht gewährt. Nach hM kann der Abgebildete der Illustrierten B auch zivilrechtlich nach seinem Belieben die Veröffentlichung von Fotos verbieten, obwohl er sie A gestattet hat und keine zusätzliche Beeinträchtigung der Selbstdarstellung ersichtlich ist.95 Verfassungsrechtlich ist diese Regelung nicht zu beanstanden: § 23 Abs. 1 KUG statuiert hinreichend flexible Ausnahmen für die Fälle, in denen die 93 Siehe
M. II. BVerfGE 101, 361 (382). 95 Dreyer/Kotthoff/Meckel – Dreyer, § 22 KUG Rn. 19 m. w. N. 94 Vgl.
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Grundrechte Dritter unverhältnismäßig beeinträchtigt würden. In den anderen Fällen ist die Beschränkung der Grundrechte, die für eine Verbreitung und Zurschaustellung streiten, nicht unverhältnismäßig. Es bleibt daher ein Unterschied zwischen dem verfassungsrechtlichen und dem zivilrechtlichen allgemeinen Persönlichkeitsrecht.96 Ohne Einwilligung Abgebildete können sich in manchen Fällen auf § 22 KUG, nicht aber auf Art. 2 Abs. 1 GG berufen. Prozessual führt das dazu, dass sie ihre Interessen nicht erfolgreich mit der Verfassungsbeschwerde geltend machen können.
IV. Zusammenfassung Bei der dogmatischen Einordnung von Dispositionen im Bereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist zwischen drei Konstellationen zu unterscheiden: Erstens kann das tatsächliche Verhalten des Grundrechtsträgers zur Folge haben, dass unabhängig von seinem diesbezüglichen Willen schon der Schutzbereich nicht eröffnet ist, beispielsweise bei der Öffnung von Geschäftsräumen für den Publikumsverkehr. Zweitens kann er durch Erklärung über den an sich geschützten Bereich disponieren, indem er etwa jemanden in seine Privatwohnung einlässt. Eine solche Erklärung ist nur unter den Voraussetzungen des Grundrechtsverzichts wirksam. Drittens kann eine Kombination aus beidem vorliegen, wenn ein Grundrechtsträger durch Erklärung einem Dritten gegenüber Elemente des Schutzbereichs preisgibt, was aber zur Folge hat, dass anschließend der Grundrechtsschutz in einem gewissen Umfang entfällt. Das ist etwa der Fall, wenn ein Grundrechtsträger einem Dritten Mitbesitz an seiner Wohnung einräumt. Beim Recht auf situative Privatsphäre ergibt sich daraus, dass kein Grundrechtsschutz gegenüber einem Interaktionspartner besteht, den der Grundrechtsträger selbst in seine Privatsphäre eingelassen hat. Die Wahl der Interaktionspartner in der Privatsphäre definiert erst den Schutzbereich. Ebenso schützt das Recht auf thematische Privatsphäre denjenigen, der einem Dritten private Informationen eröffnet, nicht davor, dass dieser sie im privaten Rahmen weiterträgt. Auch eine versehentliche Öffnung der Privatsphäre kann die Berechtigung der Vertraulichkeitserwartung entfallen lassen. „Öffnet“ jemand seine Privatsphäre mit Hilfe der Medien, liegt hingegen ein „Verzicht mit Folgen“ vor. Zwar handelt es sich bei der Gestattung einer Veröffentlichung um eine Erklärung gegenüber einem Dritten, bei der der Grundrechtsträger durch die Wirksamkeitsvoraussetzungen des Verzichts geschützt bleiben muss. Allerdings kann in der Folge der Schutz der Privatsphäre seinen persönlichkeitsrechtlichen Zweck nicht mehr erreichen, sodass die private Situ96 Allgemein
dazu Jarass, NJW 1989, 857 (858).
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ation oder die privaten Informationen nicht mehr geschützt sind. Das setzt aber eine zumindest konkludente Gestattung der Veröffentlichung voraus. Diese beiden dogmatischen Konstellationen spielen auch beim Recht der Selbstdarstellung eine Rolle, bei dem die geschützte Selbstdarstellung entscheidend durch das tatsächliche Verhalten des Grundrechtsträgers gestaltet und definiert wird. Allerdings geht der Schutz hinsichtlich einer stigmatisierenden Information nicht ein für alle mal verloren. Vielmehr ist bei jeder Weiterverbreitung zu berücksichtigen, wann und in welchem Zusammenhang sie preisgegeben oder ihre Preisgabe gestattet wurde. Entsprechend ist auch beim Recht am eigenen Bild zu differenzieren. Wird jemandem das Fotografieren einer Situation gestattet, besteht kein Schutz mehr vor dem Fotografieren der gleichen Situation durch einen Dritten. Der Schutz vor einer Veröffentlichung oder Verbreitung der Fotos ist nicht schlechthin ausgeschlossen, kann jedoch zumindest in der Abwägung mit kollidierenden Interessen geschwächt sein. Dennoch kann der einfach-rechtliche Schutz der §§ 22, 23 KUG gelten.
Q. Dispositionen im Recht auf Datenschutz Der Einordnung und den Voraussetzungen einer Disposition des Einzelnen über sein Recht auf Datenschutz soll im Folgenden besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Die Folgen einer Veröffentlichung für den weiteren Schutz der Daten werden unter T. ausführlich untersucht werden. Zunächst soll es aber um den „Normalfall“ der Disposition gehen, die Einwilligung in Datenverarbeitungen. Einfach-rechtlich ist sie beispielsweise in § 4a BDSG 2009 geregelt. Die Einwilligung kann neben gesetzlichen Erlaubnistatbeständen Datenverarbeitungen legitimieren (§ 4 Abs. 1 BDSG 2009 a. E.). Die DSGVO regelt die Einwilligung in Art. 6 Abs. 1 lit. a, Art. 7, 8. Sie ist gerade im Rechtsverkehr zwischen Privaten von hoher praktischer Relevanz.
I. Dogmatische Einordnung Auf Grundlage der Theorie informationeller Selbstbestimmung gibt es einen Streit darüber, wie die datenschutzrechtliche Einwilligung dogmatisch einzuordnen ist. Eine Ansicht sieht sie als Grundrechtsverzicht.97 Ausgangspunkt dieser Auffassung ist der Schutz, den das Recht auf informationelle Selbstbestimmung vor Kenntnisnahme von und Umgang mit personenbezogenen Daten durch den Staat oder private Dritte gewährt. Auf diesen könne 97 DR – Dreier, Vorb. Rn. 132; Robbers, JuS 1985, 925 (928); Singer, in: GS Jeand’Heur, S. 171 (173); Stern, Bd. III/2, S. 898 f.
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der Betroffene verzichten, da das Grundrecht lediglich individuell-persönliche und nicht öffentliche Interessen schütze.98 Nach hM handelt es sich dagegen um eine Ausübung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung.99 Zentrales Element der „Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen“100 ist demnach eine positive Gewährleistung dieser Selbstbestimmung, nicht das Recht, Eingriffe durch Dritte abzuwehren. Wer bewusst bestimmte Daten offenlegt, bestimme damit in diesem Sinne selbst.101 Nach der hier vertretenen Konzeption des allgemeinen Persönlichkeitsrechts handelt es sich bei der Einwilligung nicht um eine Ausübung dieses Grundrechts, sondern vielmehr um eine Ausübung der allgemeinen Handlungsfreiheit. Die Abgabe einer Einwilligungserklärung ist eine Handlung, und Handlungen werden von der allgemeinen Handlungsfreiheit erfasst.102 Das allgemeine Persönlichkeitsrecht im Allgemeinen und das Recht auf Datenschutz im Speziellen bieten demgegenüber einen reinen Integritätsschutz. Sie dienen der Abwehr bestimmter Eingriffe in die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die nicht die Freiheit des äußeren Handelns betreffen.103 Man kann das Recht auf Datenschutz daher ebenso wenig „ausüben“ wie man die körperliche Unversehrtheit oder das Briefgeheimnis „ausüben“ kann. Damit ist aber noch nicht gesagt, dass es sich um einen Grundrechtsverzicht handelt. Wie bei Privatsphäre und Selbstdarstellung muss auch hier differenziert werden zwischen dem Grundrechtsverzicht und Handlungen des Grundrechtsträgers, die schon den Schutzbereich entfallen lassen. Dabei zeigen sich jedoch grundlegende Unterschiede zwischen diesen klassischen Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und dem Recht auf Datenschutz. Bei den klassischen Ausprägungen sind schon auf Ebene des Schutzbereichs die individuelle Identität und damit gewisse Dispositionen im Bereich dieser unbenannten Freiheitsrechte zu berücksichtigen. Zur Idee der Privatsphäre gehört gerade auch ihre Öffnung, zur Selbstdarstellung auch die Integration von potenziell stigmatisierenden Informationen in die Identität. Die Rechte dienen dazu, dass die Entscheidung darüber, wie die Selbstdarstellung gestaltet wird und gegenüber wem man sich öffnet, beachtet wird. Es wäre 98 Robbers,
JuS 1985, 925 (928). S. 140; Brossette, S. 244; Geiger, NVwZ 1989, 35 (37); Petri, RDV 2007, 153 (154); Podlech/Pfeifer, RDV 1998, 139 (151 f.); Roßnagel/Pfitzmann/ Garstka, S. 72; Schulz, Verwaltung 1999, 137 (161); Simitis – Simitis, § 4a Rn. 2. 100 BVerfGE 65, 1 (43). 101 Geiger, NVwZ 1989, 35 (36). 102 Siehe O. II. 103 Siehe E. II. 2. 99 Bizer,
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daher sinnwidrig, durch die Folgen dieser mittelbar ihrerseits geschützten Entscheidung den Schutzbereich berührt zu sehen. Je nachdem, wie der einzelne Grundrechtsträger Privatsphäre und Selbstdarstellung gestaltet, sind ihm auch Informationshandlungen Dritter zuzurechnen. Daher werden Fälle, in denen der Grundrechtsträger seine Privatsphäre bzw. Selbstdarstellung in dieser Weise individuell gestaltet hat, schon nicht vom Schutzbereich des jeweiligen unbenannten Freiheitsrechts erfasst.104 Das Recht auf Datenschutz hingegen setzt nicht bei den Elementen der Persönlichkeit und des Verhaltens an, die mittels Informationen die Identität in der Perspektive Dritter ausmachen. Vielmehr bezieht es sich mit seiner Anknüpfung an Archivierung, Profilbildung und Abruf auf den Prozess der Bildung von Informationen in der Sphäre Dritter. Dieses Stadium der Identitätsentwicklung kann durch die klassischen Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nicht erfasst werden, weil die Informationsbildung grundsätzlich „im Kopf“ der Interaktionspartner stattfindet. Damit ist sie erstens rechtlich schon gar nicht zu erfassen, zweitens ist die Freiheit Dritter bei der Informationsbildung gerade ein zentraler Bestandteil der Identitätsentwicklung.105 Daher kann bei diesen Rechten nur bei den Informationsgrundlagen angesetzt werden. Ausgangspunkt des Grundrechtsschutzes ist beim Recht auf Datenschutz nicht der betroffene Grundrechtsträger mit seinem jeweiligen Privatsphärebedürfnis und seiner individuellen Selbstdarstellung. Ausgangspunkt ist der formale Prozess des Umgangs mit den Informationen, unabhängig davon, was für Informationen materiell gebildet werden können. Daher ist es nicht nötig, den Inhalt des Grundrechtsschutzes auf Schutzbereichsebene dem jeweiligen Grundrechtsträger anzupassen. Er ist, wie auch das Recht am eigenen Bild, unabhängig vom einzelnen Grundrechtsträger typisiert und an sich gegeben. Dessen Verhalten – namentlich eben die Erteilung einer Einwilligung – wirkt sich dementsprechend erst auf Eingriffsebene aus. Damit liegt nach der zuvor hergeleiteten Differenzierung106 ein Grundrechtsverzicht vor, sodass für die Wirksamkeit der Disposition die Voraussetzungen eines solchen gegeben sein müssen. Das erweist sich im Falle des Datenschutzes auch als sachgerecht. Durch das Erfordernis der Freiwilligkeit wird der Grundrechtsträger, wie auch bei der Einwilligung in mediale Berichterstattung, vor „abgenötigten“ Einwilligungen geschützt.107
104 Siehe
P. I. 2. a) und II. 1. F. I. 2. 106 Siehe O. I. 107 So auf Grundlage der Konzeption informationeller Selbstbestimmung auch BVerfG DVBl 2007, 111 (112). 105 Siehe
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II. Wirksamkeitsvoraussetzungen 1. Erklärung Wie allgemein beim Grundrechtsverzicht ist eine bestimmte Form der Erklärung verfassungsrechtlich nicht vorgeschrieben. Sie kann danach auch mündlich oder sogar konkludent erklärt werden, solange sie als Verzichtserklärung ausgelegt werden kann.108 Dass das einfache Recht in § 4a Abs. 1 S. 3 BDSG 2009 grundsätzlich Schriftform vorsieht, ist indes zur Wahrung der Rechtssicherheit und Klarheit über die Reichweite der Einwilligung sowie aufgrund der Warnfunktion der Schriftform zweckmäßig. Eine wichtige Ausnahme von diesem Grundsatz enthält § 13 Abs. 2 TMG, der bei Telemediendiensten unter bestimmten Voraussetzungen die elektronische Form genügen lässt. Die DSGVO sieht grundsätzlich keine bestimmte Form vor (vgl. Art. 4 Nr. 11 DSGVO). Für die nötige Einsichtsfähigkeit gibt es nach dem bisherigen Recht keinen verbindlichen Maßstab. Geschäftsfähigkeit im Sinne der §§ 104 ff. BGB ist für die Erteilung einer Einwilligung nicht erforderlich, das ist unabhängig von deren strittiger zivilrechtlicher Einordnung anerkannt.109 Entscheidend ist vielmehr die Fähigkeit, die Tragweite der zu treffenden Entscheidung abzuschätzen.110 Je nach Verwendungszusammenhang der Verarbeitung können einfach-rechtliche Normen zur Mündigkeit etwa in arbeits- oder sozialrechtlicher Hinsicht Hinweise geben.111 Für die Nutzung von Diensten der Informationsgesellschaft sieht Art. 8 Abs. 1 DSGVO nunmehr ein Mindestalter von 16 Jahren vor, das von einem Mitgliedsstaat bis auf 13 Jahre abgesenkt werden kann. Bei einem geringeren Alter bedarf es der Einwilligung der Erziehungsberechtigten. Das sorgt zumindest in diesem Bereich für Klarheit. Aus der Einwilligung muss hervorgehen, mit welchen Datenverarbeitungen der Betroffene sich einverstanden erklärt. Es muss klar sein, auf welche Informationen sich die Einwilligung bezieht und welche Verarbeitungsformen umfasst sind, ob die Daten etwa zu einem dem Betroffenen zugeordneten Profil zusammengestellt werden. Der Betroffene muss außerdem erklären, durch wen, zu welchem Zweck und unter welchen Voraussetzungen der Abruf und die Erstellung von Prognosen gestattet werden. Die Bildung von Informationen mit Hilfe persönlicher Daten erfolgt durch die Kombination aus Archivierung, gegebenenfalls Profilbildung und Abruf. Entsprechend können 108 Dazu
P. I. 2. c) aa). Däubler, § 4a Rn. 5; Simitis – Simitis, § 4a Rn. 20; Taeger/Gabel – Taeger, § 4a Rn. 29. 110 Taeger/Gabel – Taeger, § 4a Rn. 29. 111 Simitis – Simitis, § 4a Rn. 21 ff. 109 DKWW –
Q. Dispositionen im Recht auf Datenschutz185
auch die persönlichkeitsrechtlichen Folgen nur aus dem gesamten Verarbeitungsvorgang heraus verstanden werden. Daher muss sich der Erklärung zu allen geplanten Verarbeitungsphasen die Reichweite des Verzichts entnehmen lassen. Dabei ist es weder notwendig noch möglich, jede verwendete Information, jeden Verarbeitungsschritt und jeden Übermittlungsempfänger genau zu benennen. Um wirksam über den Grundrechtsschutz disponieren zu können, muss der Betroffene jedoch in wesentlichen Zügen absehen können, worauf er sich einlässt. 2. Freiwilligkeit Das Kriterium der Freiwilligkeit soll sicherstellen, dass die Einwilligung frei von Drohung, Täuschung oder Zwang erfolgt, und so den Verzicht von einem De-facto-Eingriff abgrenzen.112 Während sich bei der materiellen Anerkennung die Frage stellt, ob der Verzicht von der Rechtsordnung zurückgewiesen werden muss, auch wenn der Betroffene daran festhält, wird die Freiwilligkeit dann praktisch relevant, wenn der Grundrechtsträger sich im Nachhinein darauf beruft, die Einwilligung sei unfreiwillig gewesen. Die Schwierigkeit dieses Kriteriums liegt darin, dass Freiwilligkeit nur graduell bestimmt werden kann. Jede Entscheidung ist von Bedürfnissen, Interessen und Notwendigkeiten gesteuert, die der Einzelne nicht vollständig selbst in der Hand hat. Die Frage ist, welche Zwänge man als hinreichend gewichtig betrachtet, um die Freiwilligkeit entfallen zu lassen. Jedenfalls ist eine durch Täuschung, Drohung oder Zwang erwirkte Einwilligung unfreiwillig.113 Gerade im Bereich des Datenschutzes fragt sich aber, inwieweit auch faktische Zwangssituationen die Freiwilligkeit ausschließen. Dieses Problem stellt sich vor allem bei einem Ungleichgewicht zwischen Einwilligendem und Empfänger. Im Verhältnis zum Staat ist eine Einwilligung aufgrund des Über- / Unterordnungsverhältnisses stets prekär. Aber auch bei Privaten kann der Einwilligende erheblichen faktischen Zwängen ausgesetzt sein, insbesondere bei einer wirtschaftlichen Unterlegenheit. Im Verhältnis zwischen dem Träger einer Berufsunfähigkeitsversicherung und einer Versicherungsnehmerin lehnte das Bundesverfassungsgericht die Freiwilligkeit der Disposition ab. Im konkreten Fall beinhalteten die Vertragsbedingungen eine Obliegenheit des Versicherungsnehmers, im Falle der Geltendmachung von Leistungen umfassende Schweigepflichtentbindungen zugunsten der Versicherung zu erteilen. Bei Abschluss des Versicherungsvertrags habe es ein Verhandlungsungleichgewicht gegeben, das es der Versicherungsnehmerin nicht ermöglicht habe, ihren informationellen Selbstschutz 112 Vgl.
P. I. 1. O. III.
113 Siehe
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eigenverantwortlich und selbständig sicherzustellen. Die Versicherungsbedingungen seien praktisch nicht verhandelbar und Berufstätige vielfach darauf angewiesen, für den Fall der Berufsunfähigkeit durch Abschluss eines entsprechenden Versicherungsvertrags vorzusorgen, um ihren Lebensstandard zu sichern. Daher müssten die Gerichte prüfen, wie das Interesse der Versicherten an wirkungsvollem informationellem Selbstschutz und das Offenbarungsinteresse des Versicherungsunternehmens in einen angemessenen Ausgleich gebracht werden können.114 Das Gericht bezieht sich dabei zwar auf seine Rechtsprechung zur Privatautonomie, geht aber deutlich über diese hinaus. Eine vermeintlich privatautonome Bindung muss nach dem Bundesverfassungsgericht durch die Rechtsordnung korrigiert werden, wenn es sich um eine typisierbare Fallgestaltung handelt, die eine strukturelle Unterlegenheit des einen Vertragsteils erkennen lässt, und die Folgen des Vertrages für den unterlegenen Vertragsteil ungewöhnlich belastend sind.115 In der gerade angeführten Entscheidung ist die erste Voraussetzung erheblich abgemildert, die zweite fehlt völlig. Die allgemeine Bedeutung von Berufsunfähigkeitsversicherungen für den Einzelnen wird zum Anlass genommen, den Gerichten für jeden Fall eine umfassende Kontrolle der Datenschutzbedingungen aufzugeben. Damit wird sichergestellt, dass ein unfreiwilliger Verzicht auf den Datenschutz im Ernstfall folgenlos bleibt. Das Gericht hat den subjektiven Grundrechtsschutz des Rechts auf Datenschutz in Fällen unter Druck erteilter Einwilligungen gestärkt. Zugleich aber kann sich ein Anbieter von Berufsunfähigkeitsversicherungen danach faktisch keine Datenverarbeitungen mehr durch eine Einwilligung legitimieren lassen. Vielmehr wird der vom Bundesverfassungsgericht geforderte angemessene Ausgleich zwischen den betroffenen Grundrechtspositionen bei Verträgen, die solche „lebenswichtigen“ Leistungen zum Gegenstand haben, letztlich den Gerichten überlassen. Sobald die Vertragsparteien zum Nachteil des wirtschaftlich Unterlegenen davon abweichen, muss der Einwilligungsempfänger damit rechnen, dass der Einwilligende sich auf die Unfreiwilligkeit beruft. Damit schwächt das Gericht die Dispositionsfreiheit, die, wie es selbst zu Recht feststellt, grundrechtlich geschützt ist;116 zwar nicht durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht, aber durch die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG.117 Diese Erhöhung der Freiwilligkeitsanforderungen ist nicht unproblematisch. Zur Wahrung der grundrechtlich geschützten Interessen der Betroffenen hätte es genügt, die zur Privatautonomie entwickelten Kriterien zur Anwen114 BVerfG
DVBl 2007, 111 (112 f.). 89, 214 (232). 116 BVerfG DVBl 2007, 111 (112). 117 Siehe O. II. 115 BVerfGE
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dung zu bringen. Dabei kommt es neben der strukturellen Unterlegenheit auch auf den materiellen Freiheitsverlust an, der sich am Inhalt des Vertrags bzw. ‒ im Zusammenhang mit dem Recht auf Datenschutz ‒ der Einwilligung bestimmt. Die äußersten materiellen Grenzen für eine Einwilligung werden sogleich darzustellen sein. Je näher eine Einwilligung diesen kommt, desto strenger müssen zugleich die Anforderungen an die Freiwilligkeit sein. Hier fließen die Frage der Freiwilligkeit und die der materiellen Anerkennung des Verzichts ineinander. Das ist aber sachgerecht. Denn der Kern des Verzichts ist die Autonomie des Einzelnen. Je mehr grundrechtlich geschützte Freiheit aufgrund der Einwilligung verloren geht, desto wichtiger ist es, dass der Betroffene zumindest bei der Entscheidung darüber frei von äußeren Einflüssen war, die die Autonomie in Frage stellen.118 Der absolute Ausschluss der Einwilligung sollte auf Situationen von Täuschung, Drohung oder Zwang beschränkt bleiben. Die DSGVO verfolgt einen anderen Ansatz. Sie geht noch weiter als das Bundesverfassungsgericht und sorgt zudem durch ihre vage Formulierung für Rechtsunsicherheit. Die Freiwilligkeit der Einwilligung wird durch Art. 4 Nr. 11 DSGVO zum Definitionsmerkmal der Einwilligung. Nach Art. 7 Abs. 4 DSGVO muss bei der Beurteilung der Freiwilligkeit dem Umstand in größtmöglichem Umfang Rechnung getragen werden, ob unter anderem die Erfüllung eines Vertrags von der Einwilligung zu einer Verarbeitung von personenbezogenen Daten abhängig ist, die für die Erfüllung des Vertrags nicht erforderlich sind. Die Regelung geht einerseits in die Richtung eines generellen Koppelungsverbots, das nicht nur, wie nach dem ursprünglichen Entwurf der DSGVO, für Fälle eines erheblichen Ungleichgewichts, sondern für alle Verträge gilt. Andererseits gilt es nicht absolut, sondern dem Umstand ist nur „in größtmöglichem Umfang Rechnung zu tragen“. Wie sich das in der Praxis auswirken wird, wird sich zeigen. 3. Materielle Anerkennung a) Schutz der Demokratie vor einer Totalüberwachung Die materielle Anerkennung des Verzichts richtet sich im Ausgangspunkt danach, inwieweit das einschlägige Grundrecht der persönlichen Entfaltungsfreiheit und inwieweit der Wahrung überindividueller Interessen dient.119 Beim Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit scheint es, als müsste man diese Frage nicht ernsthaft stellen. Ganz so einfach ist es jedoch nicht. Der Schwerpunkt liegt zwar ganz klar bei Ersterem, daher geht die 118 Siehe
O. III.
119 Kingreen/Poscher,
Rn. 199; siehe auch O. II.
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4. Kap.: Dispositionen im allgemeinen Persönlichkeitsrecht
Freiheit der Disposition über das allgemeine Persönlichkeitsrecht, wie bei den anderen Ausprägungen zu sehen war, sehr weit. Gerade beim Datenschutz aber ist das etwas differenzierter zu sehen. Das Bundesverfassungsgericht sagt ausdrücklich, ein durch Überwachung bedingter Verzicht gerade auf demokratierelevante Grundrechte wie Art. 8 und 9 GG „würde nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl“120. Zwar ist die Registrierung von Teilnehmern einer Versammlung oder Bürgerinitiative nicht am allgemeinen Persönlichkeitsrecht, sondern an Art. 8 oder 9 als lex specialis zu messen.121 Hier ist bei einem Verzicht zu berücksichtigen, dass gerade Art. 8 GG nicht zuletzt der Einflussnahme der Bürger auf den politischen Prozess dient.122 In vielen Fällen wird die Differenzierung zwischen verschiedenen Grundrechten beim Verzicht aber nicht funktionieren. Willigt etwa jemand ein, dass der Staat oder ein Privater jederzeit, etwa durch Ortung des Mobiltelefons, seinen Standort erfasst, kann der Überwacher auch Informationen darüber erlangen, ob der Überwachte eine Kirche, eine Versammlung oder das Treffen eines Vereins aufgesucht hat. Damit werden auch Überwachungen legitimiert, die sonst Art. 4, 8 oder 9 GG berühren würden, ohne dass man die Einwilligung „vorsorglich“ als Verzicht auf sämtliche Grundrechte, die vor Überwachung schützen, sehen würde. Die möglichen Folgen auf die Ausübung dieser Grundrechte sind bei der Prüfung der Einwilligung in die Überwachung zu berücksichtigen. Die Auswirkungen können auch äußerst subtil und im Einzelfall kaum noch fassbar sein. Das Gefühl des Überwachtseins kann sich nämlich so verfestigen, dass der Betroffene weniger Initiative entwickelt, sowohl im privaten als auch im politischen Bereich.123 Diese allgemeine Abstumpfung, die auch Folgen für die Demokratie haben kann, ist daher auch im Rahmen des Art. 2 Abs. 1 GG zu berücksichtigen. Um dieses Gefühl des Überwachtseins zu verhindern, braucht es neben einem Schutz vor Überwachungsmaßnahmen auch Transparenz über diese. Hier bleibt Art. 2 Abs. 1 GG ebenfalls relevant. Der Grundrechtsträger muss so weit wie möglich wissen, wann er überwacht wird, und sich darauf verlassen können, im Übrigen unbeobachtet zu sein. Besteht diesbezüglich eine permanente Unsicherheit, braucht es letztlich gar keine Überwachung, um die beschriebenen negativen Effekte zu erzeugen. Umgekehrt ausgedrückt schützt der Schutz vor einzelnen Überwachungsmaßnahmen dann nicht mehr effektiv die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Daher braucht es Hinweis120 BVerfGE
65, 1 (43). J. III. 122 BVerfGE 69, 315 (346 f.). 123 Mallmann, S. 62. 121 Siehe
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und Aufklärungspflichten sowie Informations- und Auskunftsansprüche des Grundrechtsträgers. Diese objektiv-rechtlichen Komponenten eines wirksamen Schutzes freier Entfaltung der Persönlichkeit ergeben sich aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Sie treten neben die Abwehransprüche und Schutzpflichten in Hinblick auf einzelne Datenverarbeitungen, die sich aus allen möglichen Grundrechten ergeben können.124 Diese den Schutz flankierenden Ansprüche sind dementsprechend nicht disponibel. Der Betroffene kann nicht auf seine Beteiligungsrechte verzichten, wie sie etwa in §§ 19 ff. und 33 ff. BDSG 2009 festgelegt sind. Hinsichtlich einzelner Datenverarbeitungen ist die Grenze der materiellen Anerkennbarkeit der Einwilligung dann erreicht, wenn der Grundrechtsträger jederzeit damit rechnen muss, überwacht zu werden. Im räumlichen Sinn sichern Art. 13 GG und der Schutz der situativen Privatsphäre die Möglichkeit, sich gelegentlich zurückzuziehen und sich frei von Darstellungszwängen zu entfalten. Die Privatheit muss dabei nicht der „Normalzustand“ sein. Bei der Arbeit, auf der Straße, bei der Freizeitgestaltung steht der Einzelne regelmäßig unter potenzieller Beobachtung. Wichtig ist aber, dass es Rückzugsräume gibt, die der Einzelne aufsuchen kann und „in denen Darstellungen vorbereitet oder aufgefrischt werden oder Nichtdarstellbares getan werden muß“125. Ähnliches gilt für die Überwachung im Wege der Archivierung von Daten. Auch insoweit muss der Einzelne die Möglichkeit haben, sich „zurückzuziehen“, die Überwachung für einen Moment „abzuschalten“ und in diesem auch die Gewissheit haben, nicht überwacht zu werden. Diese Sorge vor einer Totalüberwachung ist keine bloße Theorie. Smartphones ermöglichen die Erfassung aller Bewegungen. Durch sogenannte Cookies, kleine Dateien, die beim Besuch von Internetseiten auf dem Rechner von Nutzern platziert werden, können die „Bewegungen“ im Internet nachverfolgt werden – zumindest ist schwer nachvollziehbar, welcher Seitenaufruf von wem beobachtet werden kann. Dadurch kann das Gefühl des Beobachtetseins zur Normalität, zur Gewohnheit werden. Eine solche Einwilligung in eine „pausenlose“ Beobachtung überschreitet daher die Grenzen des Grundrechtsverzichts, insbesondere wenn sie praktisch automatisch durch die Nutzung eines Browsers oder den Aufruf einer Internetseite geschieht. Dem Nutzer müssen auch im Internet Freiräume verbleiben, in denen er unbeobachtet ist. Eine konsequente Lösung wäre etwa eine Art „Verstecken“-Funktion in den Einstellungen des Smartphones oder des Browsers, mit Hilfe derer der Nutzer trotz seiner Einwilligung zuverlässig und vollständig für eine gewisse Zeit unbeobachtet ist.
124 Albers,
in: GVwR II, § 22 Rn. 83. S. 67.
125 Luhmann,
190
4. Kap.: Dispositionen im allgemeinen Persönlichkeitsrecht
b) Schutz der Menschenwürde vor einem Persönlichkeitsprofil Die Selbstdarstellungskomponente dient noch klarer als die Privatsphärekomponente in allererster Linie dem Schutz der individuellen Persönlichkeitsentfaltung und steht daher in großem Umfang zur Disposition des einzelnen Grundrechtsträgers. Dennoch gibt es auch hier eine Grenze: den Menschenwürdegehalt des Schutzes. Die vom Bundesverfassungsgericht126 als Menschenwürdeverletzung gesehene Erstellung von Persönlichkeitsprofilen der Bürger ist Kern der Selbstdarstellungskomponente des Rechts auf Datenschutz.127 Doch auch die ganz überwiegend postulierte Unabdingbarkeit der Menschenwürde ist, wie gesehen, zu relativieren: Zwar kann der Einzelne über die Menschenwürde nicht disponieren, aber bei der Frage, ob sie im Einzelfall betroffen ist, ist seine Autonomie entscheidend zu berücksichtigen, sie schützt daher nur vor „extremen Auswüchsen der Selbstbestim mung“.128 Daher muss bei der Prüfung in zwei Schritten vorgegangen werden. Erstens ist zu fragen, wann grundsätzlich die Menschenwürde durch eine Profilbildung verletzt ist, zweitens ist zu untersuchen, inwieweit ein Einverständnis des Betroffenen daran etwas ändert. Ein die Menschenwürde verletzendes Persönlichkeitsprofil wird in der Literatur etwa angenommen bei einer „Totalerhebung“ der persönlichkeitsrelevanten Daten129 oder der Erstellung eines „allumfassenden Bildes menschlichen Verhaltens“130, die den Einzelnen zum „gläsernen Menschen“131 macht. Ein Aspekt muss dieser Definition hinzugefügt werden. Es geht beim Schutz der Menschenwürde nicht allein um den Umfang des Persönlichkeitsprofils, sondern auch darum, wie diese Daten verwendet werden. Denn nicht die bloße Betrachtung des Einzelnen verletzt seine Menschenwürde, sondern der Verlust der Möglichkeit, auf die ihn betreffenden Informationen und die daraus gezogenen Konsequenzen Einfluss zu nehmen.132 Eine Menschenwürdeverletzung liegt daher nur vor, wenn eine staatliche Stelle sich mit Hilfe der automatisierten Datenverarbeitung ein äußerst umfassendes Bild von der Persönlichkeit eines Bürgers macht und aus diesem Bild Konsequenzen zieht, die den Einzelnen spürbar beeinträchtigen, ohne dass er die Möglichkeit hat, dieses Bild zu beeinflussen. Wegen der Unantastbarkeit der Menschenwürde ist für beide Kriterien die Schwelle sehr hoch anzusetzen. Auch Menschen126 BVerfGE
65, 1 (53). J. I. 4. 128 Siehe O. III. 129 MKS – Starck, Art. 1 Abs. 1 Rn. 87; BK – Zippelius, Art. 1 Abs. 1 u. 2 Rn. 98. 130 Schulz, S. 481. 131 Stern, Bd. IV/1, S. 54. 132 Siehe J. I. 4. 127 Siehe
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würdeverletzungen durch Private sind denkbar, etwa wenn der Betroffene einwilligt, zum Beispiel bei der Entscheidung über eine Kreditvergabe abschließend anhand einer großen Menge ihn betreffender Daten beurteilt zu werden. Insofern hat das grundsätzliche Verbot des Profiling nach § 6a BDSG 2009 bzw. Art. 20 DSGVO, das genau davor schützt, Menschenwürderelevanz.133 Ob es sich auch im Falle einer Zustimmung zu einer solchen Behandlung um einen die Menschenwürde verletzenden „Auswuchs“ freiwilliger Disposition handelt, kommt letztlich auf den Zusammenhang an, in dem der Einzelne so beurteilt wird. Wird er beispielsweise aufgrund einer statistischen Prognose für eine Straftat, die er mit hoher Wahrscheinlichkeit begehen wird, von staatlicher Seite sanktioniert,134 rührt das an dem Grundsatz einer Beurteilung und Bestrafung des Einzelnen aufgrund des ihm zurechenbaren Verhaltens und damit an den Grundlagen eines menschenwürdigen Rechtssystems an sich. Die Erstellung einer solchen Prognose wäre daher auch mit Einwilligung des Betroffenen nicht zulässig, zumal unter dem Druck der möglicherweise ohnehin stattfindenden Strafverfolgung die Freiwilligkeit sehr in Frage steht. Im Verhältnis zu Privaten, beispielsweise eben bei der Kreditvergabe, ist das aber wohl anders zu sehen. Ist der Einzelne selbst damit einverstanden, dass seine Kreditwürdigkeit anhand der „verdateten“ Elemente seiner Persönlichkeit beurteilt wird, macht ihn diese Beurteilung nicht zum Objekt. Eine Einwilligung in eine Beurteilung der Kreditwürdigkeit aufgrund eines Persönlichkeitsprofils dürfte daher noch keinen Auswuchs freiwilliger Disposition darstellen und damit nicht gegen den Gedanken der Menschenwürde verstoßen. Anders kann das sein, wenn der Betroffene keine andere Wahl hat als zuzustimmen. Der Grundrechtsträger kann kraft seiner ebenfalls durch die Menschenwürde geschützten Subjektstellung in Handlungen einwilligen, die ansonsten die Menschenwürde berühren würden. Diese Subjektstellung bei der Einwilligung muss dann aber auch tatsächlich vorliegen, sie darf nicht nur bloße Theorie sein. Daher braucht es im Bereich der Menschenwürde mehr als die Freiheit von Täuschung, Drohung oder Zwang. Der Grundrechtsträger darf sich bei seiner Entscheidung nicht faktisch zum Objekt degradiert fühlen. Insofern muss man hier in Situationen, in denen die Freiwilligkeit prekär ist, besonders kritisch sein.
133 Vgl. Simitis – Scholz, § 6a Rn. 3: „Der Einzelne darf nicht zum bloßen Objekt einer technikgestützten Verarbeitung zur Bewertung von Persönlichkeitsmerkmalen werden.“ 134 Zu diesem als Horrorvision zu bezeichnenden Szenario Mayer-Schönberger/ Cukier, S. 161.
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4. Wirkungsdauer der Einwilligung Fraglich ist, ob die Einwilligung widerruflich sein muss. Eine unbefristete und unwiderrufliche Einwilligung würde dazu führen, dass der Betroffene bis an sein Lebensende damit rechnen müsste, mit den Informationen, auf die sich die Einwilligung bezog, konfrontiert zu werden. Aufgrund des Selbstdarstellungsgedankens beschränken sich die Folgen der Einwilligung in das Recht auf Datenschutz nicht auf den Moment. Eine unwiderrufliche Einwilligung würde potenziell eine unüberschaubare Zahl von Eingriffen durch Abrufe erlauben. Der Betroffene würde also in Hinblick auf diese Informationen die Möglichkeit zu einer Fortentwicklung seiner Selbstdarstellung im Sinne einer „Unbelastetheit“ endgültig abgeben. Diese Möglichkeit zur Fortentwicklung ist indes gerade der zentrale Inhalt der Selbstdarstellungskomponente des Rechts auf Datenschutz.135 Daher muss der Grundsatz die Widerruflichkeit der Einwilligung sein. Unwiderrufliche Einwilligungen werden regelmäßig nicht materiell anzuerkennen sein.136 Etwas anderes ist das auch hier bei einem Verzicht im Rahmen vertraglicher Absprachen. Hier würde die freie Widerruflichkeit des Verzichts die Funktionsfähigkeit der nach Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Privatautonomie beeinträchtigen. Daher ist auch bei der Einwilligung in Datenverarbeitungen der im Vertragsrecht zentrale Grundsatz von Treu und Glauben zu beachten.137 Gerade bei Internetangeboten ist die Einwilligung häufig eine Gegenleistung für die Möglichkeit zur kostenlosen Nutzung des Angebots. Es widerspräche daher dem Grundsatz von Treu und Glauben, wenn der Nutzer ohne Weiteres seine Einwilligung in Abrufe seiner Daten widerrufen und gleichzeitig das Angebot weiter nutzen wollte. Er kann daher die Einwilligung nur widerrufen, wenn sich die der Einwilligung zugrunde liegenden Umstände geändert haben, insbesondere nach einer Kündigung des Nutzungsvertrags.138 Auch hier verfolgt die DSGVO ein grundlegend anderes Konzept. Nach deren Art. 7 Abs. 3 ist die Einwilligung frei widerruflich. Das ist konsequent angesichts des in Art. 7 Abs. 4 DSGVO niedergelegten Kopplungsverbots.139 Vertrag und datenschutzrechtliche Einwilligung sollen nicht voneinander abhängig sein, weder bei Abschluss des Vertrags noch im weiteren Verlauf. Fehlt die gültige Einwilligung, dürfen keine Eingriffe mehr erfolgen, die Daten dürfen insbesondere nicht mehr abgerufen werden. Damit fehlt auch 135 Siehe
J. I. 1. siehe O. V. 137 Gola/Schomerus, § 4a Rn. 38. 138 Simitis – Simitis, § 4a Rn. 100; enger DKWW – Däubler, § 4a Rn. 38. 139 Dazu Q. II. 2. 136 Allgemein
Q. Dispositionen im Recht auf Datenschutz193
die Grundlage dafür, sie weiterhin archiviert zu halten.140 Die DSGVO regelt das ausdrücklich im Rahmen des Rechts auf Vergessenwerden in Art. 17 Abs. 1 lit. b. Sind die Daten noch für eine gewisse Zeit flüchtig, z. B. in Protokolldateien, gespeichert, liegt darin kein Eingriff, aus den Archiven sind sie aber unverzüglich zu löschen. Bei der Widerruflichkeit einer Einwilligung stellt sich jedoch ein praktisches Problem: Angesichts der Alltäglichkeit von Einwilligungen in Datenverarbeitungen ist es faktisch unmöglich, einen Überblick darüber zu haben, wem man welche Datenverarbeitungen gestattet hat. Auch ein zulässiger Widerruf wird daher selten stattfinden, vielmehr bleibt es regelmäßig bei der Dauerbelastung der Selbstdarstellung durch die Abrufbarkeit persönlicher Daten. Dem könnte de lege ferenda eine gesetzlich vorgesehene Befristung datenschutzrechtlicher Einwilligungen entgegenwirken. Nach Ablauf der Frist müsste die Einwilligung ausdrücklich erneuert werden, sofern keine gesetzliche Erlaubnis vorliegt, die Daten gespeichert zu halten. Art. 2 Abs. 1 GG verpflichtet den Staat, das Persönlichkeitsrecht der Bürger effektiv zu schützen. Der Gesetzgeber hat indes ein weites Ermessen, wie er dieser Schutzpflicht nachkommt, konkrete Maßnahmen lassen sich daher nicht aus dem Grundgesetz entnehmen. Rechtspolitisch wäre eine solche Vorschrift allerdings bedenkenswert. Sie könnte ein Element einer „Pflicht zum Vergessen“ werden, die darüber hinaus bei Datenverarbeitungen gilt, die aufgrund gesetzlicher Ermächtigung zulässig sind.141
III. Zusammenfassung Anders als die traditionellen Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist das Recht auf Datenschutz unabhängig vom jeweiligen Grundrechtsträger durch bestimmte Verarbeitungsschritte definiert. Gestattet er einem Dritten solche Verarbeitungen, gibt er den an sich bestehenden Grundrechtsschutz preis und verzichtet damit darauf. Das setzt bezüglich aller Verarbeitungsschritte eine hinreichend präzise Erklärung voraus. Die Freiwilligkeit und damit die Einwilligung sind nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts schon ausgeschlossen, wenn ein Ungleichgewicht zwischen den Beteiligten die faktische Verhandlungsmöglichkeit ausschließt. Um auch in solchen Konstellationen die Möglichkeit von Dispositionen zu erhalten, sollte aber eher auf materieller Ebene darauf abgestellt werden, wie weit die Disposition geht und ob das durch ein entsprechendes Maß an Autonomie bei der Disposition ausgeglichen ist. Däubler, § 4a Rn. 36; Simitis – Simitis, § 4a Rn. 103. W. III.
140 DKWW – 141 Dazu
194
4. Kap.: Dispositionen im allgemeinen Persönlichkeitsrecht
Im Übrigen ergeben sich materielle Grenzen für Einwilligungen aus dem Demokratieprinzip und der Menschenwürde. Die Demokratie ist bei einer Totalüberwachung gefährdet, die dem Grundrechtsträger keine Möglichkeit gibt, ohne Überwachungsdruck Grundrechte wie Art. 8 und 9 GG auszuüben. Um ein permanentes Gefühl des Überwachtseins zu verhindern, braucht es Transparenz über durchgeführte Datenverarbeitungen. Einwilligungen in eine Überwachung der Bewegungen im physischen oder virtuellen Raum, der sich der Grundrechtsträger keinen Moment mehr entziehen kann, verletzen das Demokratieprinzip. Die Menschenwürde kann durch eine Profilbildung verletzt sein. Das setzt aber neben einem erheblichen Umfang des Profils voraus, dass der Grundrechtsträger durch die Verwendung der Daten in seiner Persönlichkeitsentfaltung beeinträchtigt wird, ohne dass er auf die ihn betreffenden Informationen und die Konsequenzen noch Einfluss nehmen kann.
5. Kapitel
Folgerungen für die Informations- und Datenverarbeitung auf sozialen Netzwerkplattformen In diesem Kapitel sollen die bisher gewonnenen Ergebnisse auf die mit sozialen Netzwerken verbundenen Fragestellungen zurückbezogen werden. Dabei kann nicht auf alle denkbaren Konstellationen eingegangen werden. Diverse staatliche und private Akteure mit ganz unterschiedlichen Interessen und Herangehensweisen können Daten völlig unterschiedlichen Inhalts in sozialen Netzwerken veröffentlichen, dort abrufen und in verschiedener Weise anderweitig verwenden. Der Betroffene kann dabei in ganz unterschiedlicher Weise beteiligt sein. Es kann sich um Daten handeln, die er (ursprünglich) selbst erstellt hat oder die zumindest mit seiner generellen oder auf den Einzelfall bezogenen Einwilligung veröffentlicht werden. Daten können im sozialen Netzwerk nur für bestimmte Nutzer, für eine Vielzahl von Nutzern oder für sämtliche Nutzer abrufbar sein, sie können darüber hinaus auch außerhalb des Netzwerks sichtbar sein. Sie können als Profil zusammengestellt oder über das Netzwerk verstreut sein. Sie können mit dem Namen des Betroffenen verbunden sein, wobei er diesen freiwillig oder aufgrund der Vertragsbedingungen des Betreibers eingegeben haben kann, oder sie können anonym oder unter Pseudonym veröffentlicht sein. Diese Differenzierungen lassen sich fast beliebig kombinieren, sodass eine schier unüberschaubare Vielzahl an Konstellationen entsteht. Dieses Kapitel hat nicht den Anspruch, alle denkbaren Formen der Datenverarbeitung in sozialen Netzwerken abzudecken. Es geht vielmehr darum, die groben Linien aufzuzeigen und dabei die Formen der Datenverarbeitung in sozialen Netzwerken zu erfassen, bei denen sich die spezifischen Fragen in Hinblick auf öffentliche Daten stellen. Dabei sollen drei Phasen unterschieden werden. Die erste Phase ist die Veröffentlichung von Daten über den Betroffenen im sozialen Netzwerk. Hier muss zwischen den Folgerungen aus dem Recht auf Datenschutz (R.) und aus den anderen Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (S.) unterschieden werden. Anschließend geht es um den bloßen Abruf von Informationen, also die Kenntnisnahme der Inhalte in sozialen Netzwerken und die Ziehung von Informationen hieraus (T.). In einem dritten Schritt soll das Speichern und Zusammenstellen der Informationen durch Dritte untersucht werden (U.). Der letzte Abschnitt ist einem Ausblick gewidmet (W.).
196
5. Kap.: Folgerungen
R. Relevanz der Veröffentlichung von Daten aus Sicht des Rechts auf Datenschutz I. Archivierung Eine Archivierung, die das Recht auf Datenschutz betrifft, liegt vor, wenn persönliche Informationen dauerhaft, personenbezogen und systematisch in Datenform gespeichert werden.1 In der Regel gibt es in sozialen Netzwerken zwei grundlegend unterschiedliche Funktionen, die der Veröffentlichung von Daten dienen. Zum einen gibt es die Möglichkeit, ein Nutzerprofil mit allgemeinen Informationen über sich anzulegen. Diese stehen auf Dauer anderen Nutzern zur Verfügung, um sich über den Inhaber des Profils zu informieren. Zum anderen kann das soziale Netzwerk für die momentane Kommunikation an eine bestimmte oder unbestimmte Zahl von Personen genutzt werden. Im „Status“ bei Facebook ist der Nutzer etwa aufgerufen, auf die Frage „Was machst du gerade?“ zu antworten. Nutzer können mit dieser Funktion Nachrichten veröffentlichen, die ihren „Freunden“ auf deren Startseite angezeigt werden, dort aber allmählich von aktuelleren Nachrichten verdrängt werden. Doch flüchtig sind auch diese Nachrichten nicht. Die Statusmeldungen werden anschließend auf der „Chronik“ des Nutzers auf dessen Profilseite angezeigt und damit archiviert. Interessanterweise war das nicht immer so. Die Chronik wurde erst nachträglich gegen den Widerstand vieler Nutzer eingeführt.2 Nun aber werden auf Facebook auch scheinbar flüchtige Informationen auf Dauer sichtbar gespeichert. Auf anderen Netzwerkplattformen gibt es die Möglichkeit, Daten einzugeben, die nur für eine begrenzte Zeit gespeichert und sichtbar sind. Dann liegt keine Archivierung vor. Häufig bleiben aber sämtliche Informationen dauerhaft gespeichert, sodass die erste Voraussetzung der Archivierung erfüllt ist. Daten, die der Nutzer selbst veröffentlicht hat, kann er aber in der Regel wieder löschen.3 Eine Netzwerkplattform, die den Nutzern keine Möglichkeit einräumt, unbedachte Beiträge zu löschen, ist praktisch kaum vorstellbar. Die Frage ist, ob man in diesen Fällen dennoch eine dauerhafte Speicherung im Sinne des Rechts auf Datenschutz annimmt, weil ein Nutzer jedes Mal aktiv werden muss, wenn die Daten nicht dauerhaft sichtbar bleiben sollen. Sicherlich dient etwa die Facebook-Chronik aus Sicht des Betreibers dazu, 1 Siehe
K. II. 1. Handelsblatt, online veröffentlicht am: 27.01.2012. 3 Die Frage ist allerdings, ob die „Löschung“ wirklich eine Löschung ist. Dazu siehe U. III. 2 Dörner,
R. Relevanz der Veröffentlichung von Daten197
mehr persönliche Daten zu sammeln und den Nutzern zur Verfügung zu stellen. Zu Recht spekuliert dieser darauf, dass Daten in der Regel nicht gelöscht werden. Insofern werden Nutzer an die dauerhafte Abrufbarkeit ihrer verdateten Kommunikation gewöhnt. Solche Gewöhnungseffekte sind aus kulturkritischer Sicht nicht unproblematisch, da hierdurch die dauerhafte Abrufbarkeit und damit das Beobachtetsein jeglichen Verhaltens im Netz zum Normalfall wird. Ein subjektiv-rechtliches Grundrechtsproblem entsteht dadurch aber nicht. Denn ein Nutzer muss, um die Archivierung zu verhindern, nicht auf die Kommunikation verzichten. Ist es ihm wichtig zu kommunizieren, ohne dass das dauerhaft Daten produziert, kann er die Daten nach einer gewissen Zeit löschen, wie es ihm beliebt. Insofern ist er in seiner Freiheit nicht beeinträchtigt. Von Dritten veröffentlichte persönliche Informationen kann der Betroffene aber nicht löschen. Hier liegt daher, wenn sie im Netzwerk verbleiben, die Voraussetzung der Permanenz vor. Für einen hinreichenden Personenbezug der Archivierung genügt schon die realistische Möglichkeit einer Identifizierung. Ist eine Person namentlich genannt, liegt der Personenbezug vor, ebenso wie bei der Nennung von Pseudonymen, sofern nicht eine Identifizierung faktisch ausgeschlossen ist. Aber auch wenn die Person, über die sich jemand äußert, nicht mit vollem Namen genannt wird, wird der Personenbezug häufig vorliegen. Angesichts der anderswo, insbesondere anderswo im Internet, verfügbaren Informationen und der immer besseren Möglichkeiten, Daten auszuwerten, werden häufig Rückschlüsse möglich sein. Es bleibt indes eine Frage des Einzelfalls. Als dritte Voraussetzung für eine rechtfertigungsbedürftige Überwachung müssen persönliche Informationen systematisch archiviert werden. Die Archivierung muss den Archivierenden in die Lage versetzen, mehr Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten, als das ohne die Möglichkeiten der automatisierten Datenverarbeitung möglich wäre. Nur dann beeinträchtigt die Archivierung die Kontrolle des Einzelnen über den Informationsgehalt seines Verhaltens.4 Nutzer veröffentlichen in sozialen Netzwerken Informationen, die bereits zuvor durch ihre Wahrnehmung gefiltert wurden. Sie erlangen Informationen über Dritte, auf welchem Wege auch immer, und veröffentlichen das, was ihnen hinreichend wichtig erscheint. Anders als etwa beim systematischen Aufzeichnen von Standortinformationen, Besuchen von Webseiten oder Einkäufen kann der Nutzer, der etwas veröffentlicht und damit archiviert, durch die Archivierung nicht mehr Informationen aufnehmen. Berichtet A in einer Statusmeldung, die auf der Chronik archiviert wird, dass er abends zuvor mit 4 Siehe
K. II. 1. c).
198
5. Kap.: Folgerungen
B Schach gespielt hat,5 wird dieses Spiel dadurch nicht Gegenstand einer Überwachung. Zwar lassen sich aus dem Inhalt der Veröffentlichung Informationen über A und B ziehen. Offensichtlich kennen sie sich, beherrschen das Schachspiel und gehen diesem Hobby gemeinsam nach. Diese Informationen werden abrufbar, weil A diese weitergibt. So können Dritte – aufgrund der Archivierung dauerhaft – etwas über A und B erfahren. Das ist aber eine Folge des gesellschaftlichen Informationsflusses, mit dem B leben muss, wenn er sich in eine Interaktion mit A begibt. Ein Überwachungseffekt würde nur eintreten, wenn sämtliche Schachspiele unabhängig von ihrer Bedeutung für die Betroffenen systematisch durch Dritte in einer Datenbank erfasst würden. Eine solche Information in einer Statusmeldung, auch wenn diese archiviert wird, bleibt punktuell und kann so nicht die Möglichkeiten der Verhaltensbeobachtung erweitern. Die Konstellation erinnert eher an die eines Journalisten, der über seine Wahrnehmungen berichtet. B kann bei der Handlung – beim Schachspiel – abschätzen und sich darauf einstellen, welche Informationen A über sein Verhalten aufnehmen wird, welche Relevanz diese für ihn haben werden und ob diese Informationen eventuell weiterverbreitet werden. Nur hierauf bezieht sich der Schutz der Privatsphäre, einschließlich der Privatsphärekomponente des Rechts auf Datenschutz. Damit besteht hinsichtlich der Archivierung als solcher noch kein persönlichkeitsrechtlicher Schutzbedarf. Ein solcher Schutzbedarf aber ist Voraussetzung für die Einschlägigkeit des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Das pauschale „Datenverbot“ der Konzeption informationeller Selbstbestimmung gilt nach der hier vorgeschlagenen Konzeption gerade nicht.6 Selbstverständlich kann die Speicherung von Daten andere Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts berühren, von denen aber eine klare Abgrenzung erforderlich ist. Betreffen Beeinträchtigungen den Inhalt der Informationen, weil Privates offenbart oder der Betroffene in ein schlechtes Licht gerückt wird, sind die traditionellen Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts einschlägig (dazu unter S.). Betreffen sie nicht die Dauerhaftigkeit, sondern die Öffentlichkeit der Informationen, ist das eine Frage der Selbstdarstellungskomponente des Rechts auf Datenschutz. Denn diese kommt zur Anwendung, wenn sich die Datenverarbeitung auf die zukünftigen Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen auswirkt, wenn nämlich Dritte sich mit wenigen „Klicks“ über den Betroffenen informieren können.7 Sie ist allerdings nicht schon bei der Archivierung von Daten einschlägig, 5 Siehe
das Beispiel von oben B. I. 2. B. I. 2. 7 Vgl. J. I. 1. 6 Siehe
R. Relevanz der Veröffentlichung von Daten199
sondern erst bei ihrer Zusammenstellung zu einem Profil. Zu der dauerhaften Verfügbarkeit muss eine erleichterte Abrufbarkeit hinzukommen.8
II. Profilbildung 1. Profile in sozialen Netzwerken und ihre Entstehung Die Selbstdarstellungskomponente des Rechts auf Datenschutz ist einerseits weiter, andererseits enger als die Privatsphärekomponente. Einerseits setzt sie nicht voraus, dass die Verdatung die Möglichkeiten der Verhaltensbeobachtung erweitert. Anderseits stellt sie höhere Anforderungen an den Personenbezug. Der Privatsphäreaspekt des Grundrechts auf Datenschutz ist schon bei Personenbeziehbarkeit der gespeicherten Daten berührt. Eine Selbstdarstellungsproblematik tritt erst ein, wenn die Daten zu einem Profil zusammengestellt oder zumindest so indexiert sind, dass auf Wunsch die über eine bestimmte Person verfügbaren Daten zusammengestellt abgerufen werden können.9 Es braucht dazu also zweierlei: eine Zusammenstellung von Daten und ein Identifikationsmerkmal, anhand dessen die Daten einem Betroffenen zugeordnet werden können. a) Zusammenstellung von Daten Auf Facebook, wie auch in ähnlicher Form auf anderen Netzwerkplattformen, gibt es ein Nutzerprofil, auf dem Informationen zu einem Nutzer zusammengestellt sind. Es kann von Dritten aufgefunden werden, wenn sie seinen Namen in ein Suchfeld eingeben. Somit kann man etwa über neue Bekannte ohne Weiteres Informationen einholen, wenn sie auf Facebook sind und man ihren vollen Namen kennt. In seinem Profil kann der Nutzer einige Rahmeninformationen wie Geburtsdatum, Arbeitgeber oder Wohnort angeben, dazu finden sich dort seine Vorlieben hinsichtlich Musik, Filmen etc. anhand der entsprechenden Facebook-Unterseiten, die er mit „Gefällt mir“ markiert, neudeutsch „gelikt“, hat. Hierbei handelt es sich zugleich um ein Profil im Sinne des Rechts auf Datenschutz. Nicht immer sind die Daten aber in sozialen Netzwerken ohne Weiteres so zusammengestellt, dass sie Teil eines Persönlichkeitsprofils werden. Im Social Web werden zwar, wie hergeleitet, persönliche Daten archiviert. Dennoch handelt es sich nicht um eine „typische“ Datenbank, die dem Zweck dient, persönliche Informationen für die Zukunft abrufbar und nutzbar zu machen. 8 Siehe 9 Siehe
J. II. 2. J. II. 2., C. II. 1. und D.
200
5. Kap.: Folgerungen
Vielmehr ist das Archiv eher eine Folge der momentanen Kommunikation, die aus Nutzerperspektive der primäre Zweck sozialer Netzwerke ist.10 Daraus ergibt sich eine besondere Struktur dieses Archivs – genauer gesagt ein Mangel an Struktur. Denn dadurch, dass jeder Nutzer Daten in diesem Archiv speichern kann, dies aber nicht in Hinblick auf ihre dauerhafte Verfügbarkeit tut, sind die über eine Person gespeicherten Daten grundsätzlich über die gesamte Plattform verteilt. Auf Facebook können Informationen nicht nur auf dem eigenen Profil, sondern auch etwa auf anderen Nutzerprofilen, in Gruppen oder auf Unterseiten von Stars, Firmen etc. veröffentlicht werden. Wer nach Informationen über eine bestimmte Person sucht, wird in der Regel nicht all diese Informationen finden. Doch diese Nutzung des Internet zu einer gleichsam verstreuten Kommunikation, die rein faktisch in der Regel nur von denjenigen aufgefunden wird, für die sie bestimmt ist, ist nur die eine Seite. Das Auffinden von Informationen über Sachverhalte und eben Personen ist eine weitere Nutzungsmöglichkeit, die von den Anbietern von sozialen Netzwerkplattformen, Suchmaschinen und anderen Seiten geschaffen wird. Zugleich sind diese selbst Nutzer der Daten und haben daher ein Interesse daran, Daten, auch solche über Personen, in strukturierter Form verfügbar zu haben. Daher gestalten die Betreiber die Plattformen häufig so, dass ein Profil entsteht. Sind dadurch die Daten über eine identifizierte Person zusammengestellt abrufbar, liegt eine Profilbildung im Sinne des Rechts auf Datenschutz vor. So werden etwa die „Status“-Mitteilungen bei Facebook gleichzeitig zum Teil der Chronik und damit des Nutzerprofils.11 Außerdem können Dritte den Nutzer in eigenen Textbeiträgen oder in eigenen oder fremden Fotos „markieren“. Das Markieren ist nicht mehr und nicht weniger als das Hinzufügen von Informationen zu einem Persönlichkeitsprofil. Markiert der A den B in einem Beitrag, in dem er schreibt „Ich habe gestern mit B Schach gespielt“, verknüpft er den Beitrag mit dem Profil des B und B wird darüber informiert, dass er erwähnt wurde. Der Beitrag erscheint auf der Chronik des B, je nach dessen Einstellungen entweder sofort oder nach seiner Zustimmung im Einzelfall. Auf Twitter ist es üblich, bei Tweets über eine bestimmte Person, die selbst auf Twitter angemeldet ist, diese mit ihrem Benutzernamen und dem Zeichen @ davor zu bezeichnen, was durch ein entsprechendes Fenster erleichtert wird. Auch hier erscheinen die Benutzernamen dann bei anderen Nutzern als Link zum Profil des Bezeichneten. Der bezeichnete Nutzer kann seine „Erwähnungen“ gesammelt abrufen; andere Nutzer können sie über die Suchfunktion auffinden. 10 Schmidt/Gutjahr, 11 Siehe
R. I.
in: Heranwachsen, S. 207 (221).
R. Relevanz der Veröffentlichung von Daten201
Auf Facebook können auf Fotos abgebildete Personen nachträglich markiert werden, nicht nur von demjenigen, der das Foto veröffentlicht hat, sondern auch von anderen Nutzern. Das ist kein Problem des Rechts am eigenen Bild, weil dieses Persönlichkeitsbeeinträchtigungen durch Erstellung, Verbreitung und Zurschaustellung einzelner Bilder betrifft. Für die „datenbezogenen“ Eingriffe, die darauf beruhen, dass auch digitalisierte Bilder Daten sind, aus denen, wie aus anderen Daten auch, Informationen über bestimmte Personen gezogen werden können, passt das Recht auf Datenschutz besser.12 Vor dem Hintergrund des Schutzes vor Profilbildung erklärt sich auch die Kritik von Datenschützern an der Gesichtserkennungsfunktion von Facebook. Hierdurch können die vielfältigen einem Bild entnehmbaren Informationen einer bestimmten Person zugeordnet werden. Derzeit setzt Facebook in Europa aufgrund dieser Kritik keine Gesichtserkennungsfunktion ein.13 Solche „Mention“- und „Tagging“-Funktionen bieten allen Beteiligten Vorteile. Der Kommunizierende kann sich durch einen Mausklick Schreibarbeit sparen, der Empfänger kann sich durch einen Klick auf den Namen näher über den bezeichneten Nutzer informieren und der Bezeichnete erfährt, welche Kommunikationen über ihn stattfinden. Zugleich aber werden so aber die ansonsten verstreuten Informationen indexiert. Dadurch werden Informationen über einen bestimmten Nutzer leichter abrufbar, sie komplettieren das über ihn verfügbare Profil und nehmen ihm eventuell – je nach Plattform und individuellen Einstellungen unterschiedlich – die Kontrolle darüber aus der Hand. b) Identifizierbarkeit: Klarnamen- und Identifizierungspflichten Der Schutz vor Profilbildung ist indes nur betroffen, wenn die Person identifiziert ist und ein Dritter in der Lage ist, die über eine Person verfügbaren Informationen mit Hilfe eines Identifizierungsmerkmals tatsächlich aufzufinden. Diese Verknüpfung zwischen der Person und ihren Daten erfolgt über den Namen. Darin liegt die Bedeutung der sogenannten Klarnamenpflichten. Traditionell agierte man im Internet, etwa in Foren oder Chat-Clients, zumeist unter einem Pseudonym, einem so genannten Nickname. Das ist in sozialen Netzwerken zumeist anders. Diese dienen gerade dazu, jemanden, den man aus der physisch-realen Welt kennt, im Internet aufzufinden und sich auch dort mit ihm zu vernetzen. Dazu ist die Angabe des Klarnamens (z. B. Christoph Gieseler) erforderlich. Viele soziale Netzwerke verpflichten die Nutzer daher dazu, die Plattform unter ihrem „wirklichen“ Namen zu nutzen. Diesbezüglich gibt es im We12 Siehe 13 Kühl,
M. II. Zeit Online, online veröffentlicht am: 18.06.2015.
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5. Kap.: Folgerungen
sentlichen drei Varianten: Entweder ein Netzwerk verpflichtet einen Nutzer in den Nutzungsbedingungen, gegenüber anderen Nutzern unter seinem Klarnamen aufzutreten, damit er unter diesem aufgefunden werden kann. Das soll hier als Klarnamenpflicht bezeichnet werden. Im Unterschied dazu erlaubt der Betreiber dem Nutzer in einer zweiten Variante, mit anderen Nutzern unter einem Pseudonym zu interagieren, er muss sich aber dem Betreiber gegenüber mit seinem Klarnamen identifizieren. In einer dritten Variante, die allerdings in der Praxis eher selten ist, darf der Nutzer sich anonym anmelden. Die sich aus Art. 8 DSGVO ergebende Pflicht zur Alterskontrolle wird die anonyme Anmeldung zusätzlich erschweren. Eine anonyme Nutzung kann dann nur noch erfolgen, indem die Informationen über die Identität im Anschluss an die Alterskontrolle zuverlässig gelöscht werden. Unterschiede zwischen verschiedenen Netzwerkplattformen bestehen darüber hinaus hinsichtlich der Durchsetzung von Klarnamenpflichten, ob also Profile, die unerlaubterweise unter einem Pseudonym geführt werden, gelöscht bzw. gesperrt werden, oder ob die Pseudonyme faktisch geduldet werden. Muss der Nutzer seinen Klarnamen angeben, liegt eine Profilbildung vor. Dabei spielt keine Rolle, ob der Nutzer gegenüber anderen Nutzern unter seinem Klarnamen auftreten muss oder ob er ihn nur dem Betreiber gegenüber angeben muss. Aus persönlichkeitsrechtlicher Sicht ist Letzteres womöglich sogar noch „problematischer“. Denn bei einer Klarnamenpflicht wird dem Nutzer direkt vor Augen geführt, dass die eingegebenen Informationen mit seinem Namen verknüpft sind und er mit diesen identifiziert wird. Durch das Verbergen des Klarnamens im Verhältnis zu anderen Nutzern entsteht eine Illusion von Anonymität, die dazu führen kann, dass ein Nutzer die Folgen der Preisgabe von Informationen für seine Identität nicht hinreichend bedenkt. 2. Die Zurechnung der Profilbildung Am Nutzerprofil zeigt sich erstmals die grundlegende Schwierigkeit bei der rechtlichen Würdigung der Datenverarbeitungsvorgänge im Social Web, nämlich die Vielzahl der Beteiligten und die Verwobenheit ihrer Rollen bei der Datenverarbeitung. Im „Mitmachweb“ kann anders als bei der traditionellen Datenverarbeitung nicht ohne weiteres eine bestimmte verantwortliche Stelle abgegrenzt werden, die, wie es § 3 Abs. 7 BDSG 2009 formuliert, personenbezogene Daten für sich selbst erhebt, verarbeitet oder nutzt oder dies durch andere im Auftrag vornehmen lässt. Schon bei der Erstellung des Profils sind zwei beteiligt: Einer – der Betreiber – entscheidet, dass ein Profil entsteht, und ein zweiter – das kann der betroffene Nutzer selbst oder ein Dritter sein – steuert die Informationen bei.
R. Relevanz der Veröffentlichung von Daten203
Die Frage ist daher, wem die Profilbildung zuzurechnen ist. Der Schutz vor Profilbildung soll dem Grundrechtsträger die „Regie“ über seine Selbstdarstellung erhalten.14 Beim allgemeinen Recht der Selbstdarstellung liegt keine Schutzpflicht auslösende Stigmatisierung durch einen Dritten vor, wenn der Betroffene die an sich stigmatisierende Information selbst zum Teil seiner Selbstdarstellung gemacht hat.15 In ähnlicher Weise könnte der Schutz durch das Recht auf Datenschutz entfallen, wenn der Betroffene in „Eigenregie“ ein datenmäßiges Profil über sich erstellt hat, das seine Selbstdarstellung mitgestaltet. a) Profilerstellung durch den Betreiber Schon dadurch, dass in sozialen Netzwerken Profile entstehen, erfolgt eine Festlegung des Nutzers auf ein bestimmtes Bild, der er sich nicht mehr entziehen kann. Denn selbst wenn das Profil keine oder nur wenige Daten enthält, entfaltet es einen Informationsgehalt. Dann bekommen die wenigen Daten ein ganz besonderes Gewicht bei der Informationsbildung. Zudem können allein aus der Tatsache, dass nur so wenige Daten vorhanden sind, Schlüsse gezogen werden. Inwieweit Daten in sozialen Netzwerken nicht nur flüchtig veröffentlicht werden, sondern dauerhaft archiviert und als Profil abrufbar gemacht werden, hängt maßgeblich von der Struktur des Netzwerks ab. Hierzu ist die bereits angesprochene Debatte über die „Chronik“ bei Facebook aufschlussreich.16 Die nachträgliche Einführung der Chronik führt dazu, dass nunmehr praktisch alle Daten auf Facebook grundsätzlich profilbezogen archiviert werden. Kommunikation, die gar nicht datenschutzrechtlich relevant wäre, wenn sie flüchtig bliebe, führt nun zu einer Erweiterung des für Facebook, seine Nutzer und seine Geschäftspartner verfügbaren Profils. Die Einführung der Chronik löste zunächst Kritik aus, die aber recht schnell verebbte, als sich die Nutzer an den neuen Aufbau gewöhnten. Diese Episode macht deutlich, dass es letztlich vom Betreiber abhängt, ob datenschutzrechtlich relevante Datenverarbeitungen stattfinden oder nicht. Die Nutzer können sich zwar darauf einstellen, hängen aber vom Rahmen ab, den der Betreiber vorgibt. Die Profilbildung liegt im Interesse des Betreibers, da die Verfügbarkeit einer Vielzahl von Daten angesichts der menschlichen Neugierde zu einer verstärkten Nutzung der Plattform führt, die wiederum seine Werbeeinnah14 Siehe
J. I. 2. P. II. 1. 16 Siehe R. I. 15 Siehe
204
5. Kap.: Folgerungen
men erhöht. Zudem eröffnet sie ihm die Möglichkeit, sein eigenes Profil des Nutzers zu erweitern und ihm noch zielgerichtetere Werbung anzubieten. Die Debatte über die Facebook-Chronik zeigt, dass man nicht argumentieren kann, der Nutzer habe sich ja freiwillig eine Kommunikationsform gesucht, die zu einer Profilbildung führt, und könne daher nicht gleichzeitig Schutz vor den Konsequenzen dieser Entscheidung verlangen. Denn wie die Plattform aufgebaut ist, einschließlich des Umfangs der Profilbildung, entscheidet der Betreiber und zwar nach seinen Interessen, zu denen ein möglichst umfassendes Profil gehört. Das ist ebenso wenig zwangsläufig wie die Registrierung von Versammlungsteilnehmern zwangsläufig ist, bloß weil diese sich erkennbar und ganz ausdrücklich in der Öffentlichkeit zeigen. Erst recht gilt das für die Klarnamenpflichten. Auch Klarnamenpflichten liegen im Interesse des Betreibers. Denn die Möglichkeit, über nähere und entferntere, langjährige und neue Bekannte Informationen einzuholen, befriedigt die menschliche Neugierde und führt so zu einer verstärkten Nutzung des Netzwerks. Zudem öffnen sie Möglichkeiten zu einer wirtschaftlichen Nutzung dieser Daten. So können auch nicht öffentliche Daten individualisiert etwa potenziellen Vertragspartnern, Arbeitgebern und Ehepartnern angeboten werden. Die Möglichkeit hierfür wird durch Klarnamenpflichten eröffnet. Zudem können diese Daten leichter mit persönlichen Daten aus anderen Quellen verknüpft werden. Die Klarnamenpflicht führt daher dazu, dass die Daten zu einem abrufbaren und verwertbaren Profil werden. Auch insoweit führt also eine Entscheidung des Betreibers zu der Profilbildung. Der Grundrechtsschutz vor der Profilbildung bedingt daher auch und gerade einen Schutz im Verhältnis zum Betreiber des sozialen Netzwerks. Zwar fördert der Betreiber in gewisser Hinsicht die Persönlichkeitsentfaltung. Dass er das soziale Netzwerk betreibt, ermöglicht es den Nutzern überhaupt erst, dort zu kommunizieren und sich zu vernetzen. Er stellt dafür gleichsam die Infrastruktur zur Verfügung. Dadurch entsteht aber eine strukturelle Ungleichheit zwischen Betreiber und Nutzern, die einen Schutz der Grundrechtsinteressen der Nutzer in diesem Verhältnis erforderlich macht. Denn der Nutzer ist auf bestimmte private Betreiber angewiesen, um an einem wesentlichen Aspekt der Kommunikation teilzunehmen. Möchte er „Nebeneffekte“ wie die Profilbildung und die Klarnamenpflicht nicht hinnehmen, muss er auf dieses Kommunikationsmedium verzichten. Das bringt den Betreiber in eine dem Nutzer überlegene Situation, die er unter Beeinträchtigung der grundrechtlich geschützten Interessen der Nutzer zu seinem wirtschaftlichen Vorteil ausnutzen kann. So ermöglichen auch und gerade ihm die Profilbildung und die Kenntnis des Klarnamens eine wesentlich bessere wirtschaftliche Nutzung der Daten. Prima facie ist daher durchaus eine Schutzpflicht geboten.
R. Relevanz der Veröffentlichung von Daten205
Der Betreiber mag andererseits ein berechtigtes Interesse haben, die Identität seiner Vertragspartner zu kennen. Doch das ist, sofern nicht schon eine wirksame Einwilligung angenommen werden kann (dazu sogleich), eine Frage des Ausgleichs der kollidierenden Interessen. Auf Schutzbereichsebene ist das Recht auf Datenschutz betroffen, wenn der Nutzer durch den Betreiber verpflichtet wird, seinen Klarnamen anzugeben, ein Profil zu erstellen und so sämtliche Daten einem profilmäßigen Abruf zugänglich zu machen. b) Hinzufügen von Daten durch andere Nutzer Auch im Tagging durch andere Nutzer liegt prima facie eine Beeinträchtigung grundrechtlich geschützter Interessen. Das Tagging geht über die übliche personenbezogene Kommunikation weit hinaus. Denn dadurch werden die Daten Teil eines Persönlichkeitsbildes, das auch derjenige, der das Tagging vornimmt, nicht unter Kontrolle hat. Das Tagging komplettiert das verdatete Bild und trägt so dazu bei, dem Einzelnen die Kontrolle über seine Selbstdarstellung grundlegend zu entziehen. Es kann auch nicht als Element der Persönlichkeitsentfaltung des „Taggenden“ behandelt werden, das der „Getaggte“ hinnehmen muss. Durch das Tagging erweitert ein Nutzer eventuell den Empfängerkreis seiner Äußerungen, wenn es im Rahmen eines eigenen Beitrags erfolgt. Doch um Rückmeldungen in seinem eigenen sozialen Umfeld zu erhalten und so am Prozess der Persönlichkeitsentfaltung teilzunehmen, wäre das Tagging nicht nötig. Deutlich wird das am Beispiel des Lehrerbewertungsportals „Spickmich“, das Gegenstand eines BGH-Urteils aus dem Jahre 2009 war.17 Die Kommunikation von Kindern und Jugendlichen über ihre Lehrer, die Diskussion über deren Persönlichkeit und Verhalten, auch die gegenseitige Bestätigung in der jeweiligen Wahrnehmung sind sicherlich ein wichtiges und legitimes Element der Persönlichkeitsentfaltung der Schüler und zweifellos hinzunehmen, solange all das auf dem Schulhof stattfindet. Für die Persönlichkeitsentfaltung der Schüler ist es aber nicht notwendig, dass auch die Nachbarn, Freunde und Verwandten der Lehrer durch Eingabe von deren Namen Informationen darüber abrufen können, wie der Lehrer von seinen Schülern wahrgenommen wird. Das geht über den selbstverständlichen und geschützten Prozess interaktiver Persönlichkeitsentfaltung,18 zu dem jeder einen Beitrag leisten kann, hinaus. Das Hinzufügen zum Profil führt zu eventuell gravierenden Konsequenzen für die Persönlichkeitsentfaltung der Lehrer, ohne einen entscheidenden Beitrag zum Gesamtprozess der Persönlichkeitsentfaltung zu leisten. 17 BGHZ 18 Siehe
181, 328 ff. F. I. 1. b).
206
5. Kap.: Folgerungen
Daher löst auch das Hinzufügen persönlicher Informationen zu einem Profil durch Private grundsätzlich eine Schutzpflicht aus. 3. Einwilligung des Betroffenen Der Schutzbedarf entfällt aber dann, wenn der Betroffene wirksam eingewilligt hat. Vor allem im Verhältnis zwischen Nutzer und Betreiber wird häufig eine Einwilligung vorliegen, die der Nutzer bei seiner Registrierung abgibt und in der er dem Betreiber bestimmte Datenverarbeitungen gestattet. Soweit sich diese auf Verarbeitungen beziehen, die nach dem vorher Gesagten das Recht auf Datenschutz beeinträchtigen, handelt es sich dabei um einen Grundrechtsverzicht in Gestalt des Verzichts auf die Schutzwirkungen dieses Rechts.19 Die Einwilligung betrifft zunächst das Anlegen des Profils als solches. Dazu gehört vor allem die Klarnamenpflicht. Denn sie führt dazu, dass die Daten einer bestimmten Person zugeordnet werden können und dadurch ein Profil im Sinne des Rechts auf Datenschutz entsteht. Wenn sich der Nutzer aber freiwillig dieser Klarnamenpflicht unterwirft, verzichtet er auf den Schutz durch das Recht auf Datenschutz. Eine solche Verpflichtung, den Klarnamen anzugeben, wird regelmäßig in den Nutzungsbedingungen enthalten sein, denen der Nutzer bei seiner Anmeldung zustimmt. Der Betreiber ist auch der richtige Adressat für Einwilligungen in das Tagging durch dritte Nutzer. Denn er ist derjenige, der das Profil anlegt und die Bedingungen dafür schafft, dass Dritte Informationen zu dem Profil hinzufügen können. Dieser komplette Prozess kann durch eine Einwilligung des betroffenen Nutzers legitimiert werden. Problematisch ist jedoch, dass Nutzer regelmäßig gezwungen sind, diese Bedingungen zu akzeptieren, wenn sie die Netzwerkplattform nutzen möchten. Weigern sie sich, so sind sie von der Nutzung der Plattform und damit bei großen Plattformen von einem erheblichen Teil der sozialen Kommunikation ausgeschlossen. Das macht die Freiwilligkeit von Einwilligungen prekär. Nach den zuvor entwickelten Grundsätzen ist eine Einwilligung nur dann wegen Unfreiwilligkeit schlechthin ausgeschlossen, wenn es sich um eine Situation von Täuschung, Drohung oder Zwang handelt. Allerdings gebietet das Grundrecht auf Datenschutz, parallel zum Schutz der Privatautonomie, eine Korrektur, wenn es sich um eine typisierbare Fallgestaltung handelt, die eine strukturelle Unterlegenheit des einen Vertragsteils erkennen lässt, und die Folgen des Vertrages für den unterlegenen Vertragsteil ungewöhnlich belastend sind.20 Kontrolliert ein Privater eine Infrastruktur, die der andere zu seiner Persönlichkeitsentfaltung benötigt, handelt es sich durchaus um 19 Zu
diesem dogmatischen Konstrukt O. IV. 89, 214 (232), siehe auch Q. II. 2.
20 BVerfGE
R. Relevanz der Veröffentlichung von Daten207
eine typisierbare Fallgestaltung, die eine strukturelle Unterlegenheit des einen Vertragsteils erkennen lässt. Ob die Folgen für den Betroffenen „ungewöhnlich belastend“21 sind, hängt vom Inhalt der Einwilligung ab. An dem hier entstehenden Profil behält der Betroffene einen entscheidenden Anteil. Auch soweit Dritte Informationen zum Profil hinzufügen, sind diese letztlich Ausdruck der Kommunikation Dritter mit dem Profilinhaber. Sofern Fremddarstellungen wegen ihres Inhalts seine Persönlichkeitsentfaltung beeinträchtigen, ohne dass sie ihm zuzurechnen sind, greifen die allgemeinen Rechte der Privatsphäre und Selbstdarstellung. Das kann etwa der Fall sein, wenn das Profil zu einem sogenannten „Shitstorm“ gegen den Betroffenen genutzt wird. Dann kann der Betroffene gegen diese Informationen vorgehen; seine Einwilligung in die Profilbildung erstreckt sich nicht darauf.22 Insofern machen ihn die Verfügbarkeit und der Abruf dieses Profils, auch unter Berücksichtigung der prekären Freiwilligkeit, nicht zum Objekt. Er ist dem fremden Profil nicht „ausgeliefert“, er kann durch sein eigenes Kommunikationsverhalten und gegebenenfalls durch Schritte gegen Fremddarstellungen, die das Persönlichkeitsrecht verletzen, das Profil beeinflussen. Der Schutz der DSGVO geht hier grundsätzlich weiter. Nach dem Koppelungsverbot des Art. 7 Abs. 4 DSGVO ist bei der Beurteilung der Freiwilligkeit der Einwilligung dem Umstand in größtmöglichem Umfang Rechnung zu tragen, ob die Erfüllung eines Vertrages von der Einwilligung in die Verarbeitung von Daten abhängig gemacht wird, die für die Erfüllung des Vertrags nicht erforderlich sind. Diese Vorschrift ist etwa im Versandhandel zweckmäßig, wo etwa die Adresse oder Daten über offene Rechnungen offensichtlich für die Vertragsabwicklung erforderlich, Daten über vergangene und vollständig abgewickelte Käufe aber (relativ) offensichtlich nicht erforderlich sind. Bei Verträgen, deren Inhalt gerade die Speicherung, Verarbeitung und Veröffentlichung von Daten ist, zeigt sich aber die Schwäche dieser Norm. Denn welche Daten zur Vertragserfüllung erforderlich sind, hängt maßgeblich davon ab, welche Datenverarbeitungen als Vertragsinhalt definiert sind. Die Prüfung führt also letztlich zu einem Zirkelschluss. Soll die Netzwerkplattform unter anderem dem Auffinden alter Bekannter dienen, ist dafür eine Klarnamenpflicht erforderlich. Soll die Plattform dann möglichst umfassende Informationen über diese Personen liefern, braucht es eine möglichst umfassende Profilbildung, an der im Wege des Tagging auch andere Nutzer beteiligt werden. Letztlich definiert der Betreiber, was der Zweck der Plattform sein soll. Je „datenintensiver“ diese Konzeption ist, 21 BVerfGE 22 Siehe
89, 214 (232). S. I. 1.
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5. Kap.: Folgerungen
desto mehr Daten sind dafür erforderlich. Insofern relativiert sich gerade für Verträge, in deren Rahmen viele Daten verarbeitet werden, der gut gemeinte Schutz des Art. 7 Abs. 4 DSGVO. Berücksichtigt man dann noch, dass die Koppelung die Freiwilligkeit nicht ausschließt, sondern nur „in größtmöglichem Umfang“ zu berücksichtigen ist, dürften sich die praktischen Auswirkungen dieser Vorschrift für soziale Netzwerke in Grenzen halten.
III. Zusammenfassung Die Speicherung von Daten in sozialen Netzwerken als solche betrifft nicht das Recht auf Datenschutz. Vom Betroffenen selbst veröffentlichte Daten sind, jedenfalls in aller Regel, aus seiner Sicht nicht permanent im sozialen Netzwerk gespeichert, vielmehr kann er sie selbst löschen. Bei von Dritten veröffentlichen Daten gilt das zwar nicht. Allerdings wird sein Verhalten durch diese nicht systematisch überwacht, vielmehr verbreiten die Dritten Informationen, die bei ihnen durch Interaktion mit dem Betroffenen entstanden sind. Jedoch wird ein großer Teil der Daten in sozialen Netzwerken profilmäßig zusammengestellt, sodass das Recht auf Datenschutz in seiner Selbstdarstellungskomponente betroffen ist. Dazu leisten andere Nutzer einen Beitrag, wenn sie Informationen, die sonst verstreut und nicht Teil des Profils des Betroffenen wären, durch die vom Betreiber vorgesehenen Mention- oder Tagging-Funktionen mit diesem verknüpfen. Voraussetzung ist, dass der Nutzer namentlich identifiziert ist, was regelmäßig der Fall ist, wenn der Nutzer pflichtgemäß unter seinem Klarnamen auftritt oder diesen zumindest dem Betreiber mitteilt. Sowohl die Zusammenstellung von Informationen über einen Nutzer als auch dessen Identifizierbarkeit ist Folge der Gestaltung der Plattform durch den Betreiber, der sich so die Möglichkeit zu einer wirtschaftlichen Verwertung der Daten eröffnet. Auch wenn (oder gerade weil) die Plattform als solche die Möglichkeiten der Persönlichkeitsentfaltung des Betroffenen erweitert, ist der Betroffene hinsichtlich der Daten von den Bedingungen des Betreibers abhängig, sodass eine staatliche Schutzpflicht für seine Persönlichkeitsentfaltung besteht. Auch das Tagging durch andere Nutzer ist nicht mehr vom Prozess der interaktiven Persönlichkeitsentfaltung erfasst und begründet eine Schutzpflicht. Jedoch ist eine Einwilligung gegenüber dem Betreiber möglich und regelmäßig trotz der prekären Freiwilligkeit zu akzeptieren.
S. Schutz vor öffentlicher personenbezogener Kommunikation209
S. Schutz vor öffentlicher personenbezogener Kommunikation durch das traditionelle allgemeine Persönlichkeitsrecht I. Das Recht auf Privatsphäre 1. Die Veröffentlichung von Informationen über Dritte Nach der Definition des Bundesverfassungsgerichts sind private Informationen solche über „Angelegenheiten, die wegen ihres Informationsinhalts typischerweise als ‚privat‘ eingestuft werden, weil ihre öffentliche Erörterung oder Zurschaustellung als unschicklich gilt, das Bekanntwerden als peinlich empfunden wird oder nachteilige Reaktionen der Umwelt auslöst“23. Zu Recht bezieht sich das Bundesverfassungsgericht auf gesellschaftliche Konventionen, aus denen sich relativ klar ergibt, welche Informationen als „privat“ eingestuft werden. Die Veröffentlichung und Weitergabe in diesem Sinne privater Informationen auf sozialen Netzwerken, sei es durch Hoheitsträger oder Private, ist ein Eingriff in die Privatsphäre, wenn sie keinen sozialadäquaten Umgang mit privaten Informationen darstellt.24 Das ist bei einer Veröffentlichung der Fall. Denn anders als bei einem „Tratsch“ im sozialen Umfeld werden die Informationen dadurch einem großen Kreis von Personen bekannt und können von diesen leicht weitergetragen werden. Theoretisch ist eine Einwilligung in die Veröffentlichung privater Informationen in sozialen Netzwerken durch Dritte denkbar. Diese muss aber hinreichend konkret sein. Eine allgemeine Einwilligung in die Veröffentlichung jeglicher solcher Informationen käme einem Totalverzicht auf den Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nahe und ist auch praktisch kaum vorstellbar. Allenfalls kann ein Nutzer einem anderen Nutzer gestatten, bestimmte geschützte Informationen über ihn preiszugeben. Dementsprechend ist diese Einwilligung von der dem Betreiber gegenüber erteilten Einwilligung in die Profilbildung und das Hinzufügen von Daten zum Profil25 zu unterscheiden. Diese lässt den Eingriff in das Recht auf Datenschutz entfallen, nicht aber in den Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Dementsprechend ist eine Veröffentlichung privater Informationen, auch und insbesondere wenn die Daten zu einem Profil hinzugefügt werden, nicht von dieser Einwilligung gedeckt. In der Abwägung mit den Grundrechten Dritter muss das allgemeine Persönlichkeitsrecht vor allem bei Personen des öffentlichen Lebens häufig ge23 BVerfGE
101, 361 (382). F. II. 1. 25 Zu dieser R. II 1. c). 24 Ausführlich
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5. Kap.: Folgerungen
genüber der Meinungs- und Pressefreiheit zurückstehen. Maßgeblich ist für die Abwägung unter anderem der Beitrag, den das Erscheinen von Fotos oder Artikeln in der Presse zu einer Debatte von allgemeinem Interesse leistet, und ob es sich um eine Privatperson oder eine Person des öffentlichen Lebens handelt.26 Folglich verschieben sich die Gewichte bei der Abwägung zwischen den Interessen zweier privater Nutzer sozialer Netzwerke erheblich. Eine der Öffentlichkeit unbekannte Privatperson kann einen besonderen Schutz ihres Rechts auf Privatleben verlangen.27 Zugleich leistet die Veröffentlichung von Informationen über eine solche Person, selbst wenn sie im Einzelfall von der Meinungsfreiheit und nicht nur von der allgemeinen Handlungsfreiheit gedeckt ist, regelmäßig keinen nennenswerten Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem Interesse. Damit stellt sich die Veröffentlichung privater Informationen über Dritte in der Regel als die Persönlichkeitsentfaltung des einen auf Kosten des anderen dar, die sich selten rechtfertigen lassen wird. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht verlangt einen effektiven Schutz der thematischen Privatsphäre vor einer solchen nicht gerechtfertigten Veröffentlichung privater Informationen in sozialen Netzwerken. Wie im Allgemeinen28 hat der Staat einen weiten Spielraum bei der Frage, wie er diese Schutzpflicht ausübt. Ein möglicher und sinnvoller Ansatz ist es, bei der Regelung der Kommunikation im Internet verstärkt auf Vereinbarungen der Beteiligten, namentlich zwischen Betreibern und Nutzern, zu setzen. Was den Schutz der Privatsphäre angeht, werden ganz andere Schutzmechanismen benötigt als etwa im Verhältnis zwischen Prominenten und Medien. Nutzer sozialer Netzwerke können sinnvollerweise nicht darauf verwiesen werden, ihre Rechte gegenüber anderen Nutzern etwa im Wege einer einstweiligen Verfügung geltend zu machen. Um die Privatsphäre effektiv zu schützen, braucht es die Möglichkeit, schnell und unkompliziert die Löschung der rechtswidrigen Informationen zu erreichen. Beispielsweise könnten Betreiber sozialer Netzwerke sich verpflichten, eine Funktion auf der Plattform zu integrieren, mit Hilfe derer vermeintlich rechtsverletzende Informationen unkompliziert dem Betreiber gemeldet werden können. Dieser kann die Informationen dann nach Prüfung löschen und möglicherweise Konsequenzen in Hinblick auf den veröffentlichenden Nutzer ziehen, bis hin zur Kündigung des Nutzungsvertrages. Der Staat kann seinen Schutzauftrag so gleichsam auf Private delegieren und wird damit seiner Verantwortung gerecht, soweit diese Selbstverpflichtungen einen effektiven Schutz gewährleisten. 26 EGMR, Urteil vom 07.02.2012 – No. 40660/08 und 60641/08, H./Deutschland (Nr. 2), abrufbar im Internet: http://hudoc.echr.coe.int (Stand: 23.01.2017), §§ 109 f. 27 EGMR, No. 40660/08 und 60641/08, H./Deutschland (Nr. 2). 28 Kingreen/Poscher (32. Aufl.), Rn. 119.
S. Schutz vor öffentlicher personenbezogener Kommunikation211
Eine Weiterverbreitung rechtswidrig veröffentlichter Informationen vertieft diesen Eingriff weiter und verletzt daher ihrerseits das Recht der Privatsphäre. Anders ist das aber nach einer gerechtfertigten Veröffentlichung. War es im Einzelfall gerechtfertigt, die Privatsphäre des Betroffenen zu „öffnen“ und Informationen daraus zu verbreiten, sind die Informationen fortan nicht mehr privat und unterstehen nicht mehr den Schutz des Rechts der Privatsphäre. 2. Die Veröffentlichung den Veröffentlichenden selbst betreffender Informationen Die Veröffentlichung den Veröffentlichenden selbst betreffender Informationen in sozialen Netzwerken ist von der Einwilligung in eine mediale Veröffentlichung29 zu unterscheiden. Denn im letzteren Fall gibt der Betroffene die Kontrolle aus der Hand, wie in der journalistischen Darstellung mit der privaten Information umgegangen wird. „Eigene Veröffentlichung“ in sozialen Netzwerken bedeutet zwar ebenfalls, einen Dritten, nämlich den Betreiber, mit der Veröffentlichung zu beauftragen. Auf die inhaltliche Darstellung nimmt dieser aber keinen Einfluss, er vollzieht die Veröffentlichung lediglich technisch. Über den Informationsinhalt behält der Betroffene die Kontrolle. Daher handelt es sich nicht um einen Grundrechtsverzicht. Denn für diesen ist gerade charakteristisch, dass die Kontrolle über den Informationsvorgang Dritten überlassen wird.30 Die Veröffentlichung eigener privater Informationen ist eine Neudefinition des – hier thematisch bestimmten – privaten Raums, ähnlich der Öffnung von Betriebs- und Geschäftsräumen für den Publikumsverkehr.31 Sie entfaltet Rechtsfolgen, ohne dass dafür die Voraussetzungen für den Grundrechtsverzicht vorliegen müssen. Denn wer Informationen selbst öffentlich gemacht hat, verliert das grundrechtlich schutzwürdige Interesse an ihrer Geheimhaltung. Die Frage ist aber, welcher Art diese Folgen sind, namentlich für den späteren Schutz der veröffentlichten Informationen. Die Veröffentlichung von Informationen aus der thematischen Privatsphäre des Veröffentlichenden selbst unterscheidet sich vom Teilen der Informationen in bestimmten privaten Beziehungen. Es macht einen grundlegenden Unterschied, ob man einzelnen Freunden oder Familienmitgliedern etwas Privates von sich anvertraut oder ob man die Information in einem sozialen Netzwerk veröffentlicht. Denn durch die Veröffentlichung verliert der Betroffene völlig die Kontrolle darüber, wer die Information zur Kenntnis nimmt und inwieweit er sie Drit29 Dazu
P. I. 2. c) aa). P. I. 2. c) aa). 31 Dazu P. I. 1. 30 Siehe
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5. Kap.: Folgerungen
ten zeigt oder weitergibt. Hinsichtlich der Folgen ist Ausgangspunkt daher trotz der unterschiedlichen dogmatischen Einordnung die Aussage des Bundesverfassungsgerichts zu medial veröffentlichten Informationen: Wer etwas öffentlich gemacht hat, kann sich anschließend nicht mehr auf den Schutz der Privatsphäre berufen.32 Ebenso wie bei der gerechtfertigten Veröffentlichung von Informationen über Dritte bleiben Informationen öffentlich, wenn die Privatsphäre einmal geöffnet wurde.
II. Das Recht der Selbstdarstellung 1. Die Veröffentlichung von Informationen über Dritte Das Recht der Selbstdarstellung ist berührt, wenn in Bezug auf natürliche Personen falsche Informationen verbreitet werden oder solche, die ihre Selbstdarstellung erheblich beeinträchtigen können.33 Auch hier kommt eine Verbreitung durch den Staat oder Private in Betracht. Beim Staat ist hier etwa an die Veröffentlichung von Fahndungsbildern zu denken, die die Information vermitteln, dass der Betreffende wegen einer Straftat gesucht wird, und damit seine Selbstdarstellung erheblich beeinträchtigen können. Falsche Informationen sind zu löschen. Zwar kann im Falle einer Veröffentlichung durch Private die Meinungsfreiheit auch die Verbreitung falscher Informationen rechtfertigen, wenn der Fehler trotz angemessen sorgfältiger Recherche entstand.34 Wenn sich die Unwahrheit der Behauptung herausgestellt hat, gibt es indes keinen rechtfertigenden Grund für ihre Aufrechterhaltung. Die Information ist daher richtigzustellen oder zu löschen. Die zu befürchtende Beeinträchtigung der Selbstdarstellung durch wahre Informationen muss erheblich sein, um dennoch einen Schutz durch das Recht der Selbstdarstellung zu begründen. Im Grundsatz muss der Einzelne damit leben, dass seine Handlungen Informationen erzeugen, auch wenn diese aus seiner Sicht unerwünscht sein können. Denn die Bildung von Informationen über den Betroffenen und ihre Zusammenfügung zu einer Identität geschieht im Prozess der Persönlichkeitsentfaltung durch Dritte. Dem Einzelnen ein Verfügungsrecht darüber zuzugestehen, würde dem Gedanken der notwendigerweise auf Gegenseitigkeit basierenden Persönlichkeitsentfaltung widersprechen.35 Gerade etwa in sozialen Netzwerken wäre die personenbezogene Kommunikation erheblich beeinträchtigt, wenn sie als ein rechtferti32 BVerfGE
101, 361 (385); dazu P. I. 2. c) aa). F. I. 2. 34 BVerfGE 99, 185 (197 f.). 35 Siehe F. I. 1. b). 33 Siehe
S. Schutz vor öffentlicher personenbezogener Kommunikation213
gungsbedürftiger Eingriff betrachtet würde, sobald sie aus Sicht eines Betroffenen unerwünscht ist. Daher berührt die Verbreitung wahrer Informationen von vornherein nur dann das allgemeine Persönlichkeitsrecht, wenn sie die Möglichkeiten des Betroffenen beeinträchtigt, sich in Zukunft überhaupt selbst darstellen zu können. Dazu müssen die Informationen in der Lage sein, den Betroffenen zu stigmatisieren.36 Bei der Abwägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts mit gegenläufigen Interessen ist zu berücksichtigen, wie intensiv diese Wirkung im konkreten Fall ist. Maßgeblich dafür ist nicht isoliert der Aussageinhalt, sondern die Information, die Empfänger aus der Aussage ziehen können.37 Daher gilt der Schutz grundsätzlich auch dann, wenn der Name des Betroffenen nicht genannt wird, sofern die Empfänger diesen aufgrund anderer Angaben identifizieren können. Allerdings hängt die Intensität des Eingriffs von der „Breitenwirkung“ der Folgen ab. Je mehr Personen in der Lage sind, die stigmatisierenden Informationen zu bilden, desto gravierender sind die Folgen für die Persönlichkeitsentfaltung des Betroffenen. Daher ist im Einzelfall zu berücksichtigen, wie viele Empfänger realistischerweise in der Lage sind, den Betroffenen zu identifizieren.38 Dafür ist ganz entscheidend, über welches Medium die Informationen verbreitet werden. Eine Fernsehsendung etwa hat sehr viele Zuschauer, von denen aber wenige den Betroffenen kennen werden und in der Lage sein werden, ihn zu identifizieren. Wenn eine Information öffentlich in ein soziales Netzwerk eingestellt wurde, steht sie theoretisch einer Weltöffentlichkeit zur Verfügung. Realistischerweise wird sie jedoch, anders als eine Fernsehsendung, nur von einer begrenzen Zahl von Personen zur Kenntnis genommen werden. Von diesen werden allerdings in der Regel viele dem sozialen Umfeld des Betroffenen angehören, was erstens seine Identifizierung erleichtert, sofern er nicht namentlich genannt ist, und zweitens dazu führt, dass sich die Information unmittelbar auf seine sozialen Beziehungen auswirken kann. Entscheidend für die Beurteilung von Eingriffen in das Recht der Selbstdarstellung ist in jedem Fall nicht die theoretische Öffentlichkeit, die Fernsehen oder Internet kreieren, sondern die praktisch zu erwartenden Folgen für den Betroffenen. Für eine effektive Durchsetzung des Persönlichkeitsschutzes bieten sich auch hier39 Selbstverpflichtungen der Betreiber an, Informationen, die das Recht der Selbstdarstellung verletzen, schnell und unkompliziert zu löschen. 36 Siehe
F. I. 2. 97, 391 (405); dazu Albers, S. 258. 38 BVerfGE 97, 391 (405). 39 Vgl. zur thematischen Privatsphäre R. I. 37 BVerfGE
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5. Kap.: Folgerungen
Ein Unterschied zum Recht der Privatsphäre besteht bei den Folgen einer – sei es rechtmäßigen, sei es rechtswidrigen – Veröffentlichung für die Weiterverbreitung der veröffentlichten Informationen. Wenn die Privatsphäre einmal rechtmäßig geöffnet wurde, ist sie offen; der Schutz könnte dann seinen Zweck, die Unbefangenheit „vergangenen“ Verhalten zu schützen, nicht mehr erreichen.40 Der Schutz der Selbstdarstellung hingegen bezieht sich auf zukünftige Entfaltungssituationen.41 Jede Veröffentlichung kann aufs Neue die Persönlichkeitsentfaltung beeinträchtigen und ist daher separat zu bewerten. Es ist möglich, dass die Weiterverbreitung rechtmäßig veröffentlichter Informationen das Recht der Selbstdarstellung verletzt, beispielsweise aufgrund einer größeren Reichweite. Ebenso kann die Weiterverbreitung rechtswidrig veröffentlichter stigmatisierender Informationen unter Umständen gerechtfertigt sein, wenn die zu erwartenden Folgen der Weiterverbreitung nicht so gravierend sind und dadurch die Abwägung anders ausfällt. 2. Die Veröffentlichung den Veröffentlichenden selbst betreffender Informationen Auch bei der Veröffentlichung falscher oder stigmatisierender Informationen über den Veröffentlichenden selbst liegen die Unterschiede zum Recht der Privatsphäre in der Rechtsfolge. Kein Unterschied besteht bei der dogmatischen Einordnung: Da der Grundrechtsträger die Kontrolle über den Informationsvorgang hat, handelt es sich nicht um einen Grundrechtsverzicht, sondern um eine Disposition auf Ebene des Schutzbereichs. Hinsichtlich der Folgen ist aber, wie beim Verzicht,42 zwischen Selbstdarstellung und Privatsphäre zu unterscheiden. Denn auch hier bedeutet eine Veröffentlichung, anders als bei der Privatsphäre, keine endgültige „Öffnung“. Zwar prägt der Einzelne durch die Veröffentlichung stigmatisierender Informationen seine Selbstdarstellung mit. Werden die gleichen Informationen weiterverbreitet, gehen diese gerade konform mit der so generierten Selbstdarstellung und können sie nicht beeinträchtigen. Dabei muss der Einzelne aber die Möglichkeit behalten, seine Selbstdarstellung zu differenzieren. Eine möglicherweise in ihrer Reichweite beschränkte und lange zurückliegende Veröffentlichung stigmatisierender Informationen gibt die Informationen nicht für jedwede Weiterverbreitung frei. Kriterium ist, inwieweit die Informationen ohnehin im sozialen Umfeld des Betroffenen bekannt und damit Teil seiner Selbstdarstellung sind.
40 Siehe
P. I. 2. c) aa). F. II. 1. a). 42 Siehe P. II. 2. 41 Siehe
S. Schutz vor öffentlicher personenbezogener Kommunikation215
III. Das Recht am eigenen Bild 1. Die Veröffentlichung fremder Bilder Die Veröffentlichung von Bildaufnahmen Dritter betrifft das Recht am eigenen Bild.43 Durch diese verwirklicht sich die Gefahr einer Veränderung der „Formen der Öffentlichkeit“44, in denen der Einzelne erscheint. Anders als bei der Veröffentlichung von Informationen in Textform werden die Abrufenden dadurch gleichsam zu Beobachtern der ursprünglichen Situation und können sie in einer Weise interpretieren, die der Abgebildete nicht absehen oder steuern konnte. Für die Verbreitung und öffentliche Zurschaustellung von Bildern verlangt § 22 KUG die Einwilligung des Abgebildeten. § 23 Abs. 1 KUG statuiert vier Ausnahmen von dieser Pflicht, eine Einwilligung einzuholen. Der praktisch wichtigste Ausnahmetatbestand ist § 23 Abs. 1 Nr. 1 KUG für Bildnisse aus dem Bereich der Zeitgeschichte.45 Das sind alle Geschehnisse von gesellschaftlicher Relevanz.46 Diese wird in sozialen Netzwerken nur in Ausnahmefällen gegeben sein.47 Private Fotos fallen nicht unter diesen Ausnahmetatbestand. Eher können Nr. 2 (Personen nur als Beiwerk) oder Nr. 3 (Bilder von Versammlungen, Aufzügen oder ähnlichen Vorgängen), in Einzelfällen auch Nr. 4 (Bilder, an denen ein höheres Interesse der Kunst besteht), einschlägig sein. Ansonsten braucht es immer eine Einwilligung, was dieser bei der Veröffentlichung von Fotos in sozialen Netzwerken eine sehr hohe Bedeutung zukommen lässt. Die DSGVO ist insoweit flexibler. Sofern Personen auf Bildern erkennbar sind, handelt es sich um personenbezogene Daten i. S. d. Art. 4 Nr. 1 DSGVO, sodass Bilder künftig unter die DSGVO fallen. Dann kann ihre Veröffentlichung außer durch eine Einwilligung auch durch die sehr allgemein gehaltene Generalklausel des Art. 6 Abs. 1 lit. f DSGVO legitimiert werden. Die Einwilligung kann nach beiden Regelungswerken ausdrücklich oder konkludent erklärt werden.48 Ob in der Einwilligung in die Erstellung eines Fotos auch die Einwilligung in die Veröffentlichung in einem sozialen Netzwerk liegt, ist eine Frage des Einzelfalls. Ist dem Abgebildeten bekannt, dass 43 BVerfGE
101, 361 (382). 101, 361 (381). 45 Wandtke/Bullinger – Fricke, § 23 KUG Rn. 3. 46 Dreyer/Kotthoff/Meckel – Dreyer, § 23 KUG Rn. 13; Dreier/Schulze – Specht, § 23 KUG Rn. 11. 47 Spindler, S. F 54. 48 Für das KUG Wandtke/Bullinger – Fricke, § 22 KUG Rn. 13; Dreier/Schulze – Specht, § 22 KUG Rn. 17. 44 BVerfGE
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5. Kap.: Folgerungen
der Ersteller des Fotos Bilder normalerweise in einem sozialen Netzwerk einstellt, kann es durchaus als eine konkludente Einwilligung in die Veröffentlichung ausgelegt werden, wenn er sich fotografieren lässt. Solche Anhaltspunkte braucht es aber. Das bloße Wissen darum, dass Bilder häufig in sozialen Netzwerken veröffentlicht werden, genügt nicht, um eine Zustimmung zu konstruieren.49 Dann würde der Schutz vor einer Veröffentlichung in sozialen Netzwerken letztlich nie greifen; er ist aber, wie gesehen, als Element des Schutzes relativer Privatheit notwendig. 2. Die Veröffentlichung von Bildern durch den Abgebildeten selbst Fraglich ist auch hier, inwieweit der Schutz des Rechts am eigenen Bild vor einer Weiterverbreitung entfällt, wenn der Abgebildete das Bild selbst veröffentlicht hat. Wie die Veröffentlichung eigener privater oder stigmatisierender Informationen ist auch die Veröffentlichung von Bildern, auf denen (nur) der Veröffentlichende abgebildet ist, kein Grundrechtsverzicht. Der Veröffentlichende begibt sich hinsichtlich der Veröffentlichung nicht in die Hände Dritter. Er hat die Kontrolle darüber, was wo veröffentlicht und in welchem Zusammenhang es angezeigt wird. Daher müssen nicht die Voraussetzungen für einen Grundrechtsverzicht erfüllt sein, vielmehr besteht schon von vornherein kein Schutz vor Veröffentlichungen durch den Abgebildeten selbst. Die Frage ist, inwieweit in der Folge der Schutzbereich beschränkt wird. Problematisch ist die Weiterverbreitung des Bildes im sozialen Netzwerk etwa durch das „Teilen“ bei Facebook oder den „Retweet“ bei Twitter. Einerseits ist das eine vielen sozialen Netzwerken immanente Funktion, mit deren Nutzung durch Dritte man zu rechnen hat, wenn man die Veröffentlichung eines Bildes in einem sozialen Netzwerk gestattet. Andererseits erhöht es zumindest die faktische Sichtbarkeit des Bildes. Denn in der Regel wird ein Bild in erster Linie von den Kontakten des Veröffentlichenden wahrgenommen werden, selbst wenn das Bild theoretisch öffentlich sichtbar ist. Hier liegt der entscheidende Unterschied zur Einwilligung in eine mediale Veröffentlichung, aufgrund derer das Bild in der Regel an einen so großen Adressatenkreis verbreitet wird, dass erneute Verbreitungen wie die Weitergabe einer Zeitschrift, in der sich das Bild befindet, nicht mehr ins Gewicht fallen.50 Wird ein öffentlich zugängliches Bild in einem sozialen Netzwerk von einem anderen Nutzer weiterverbreitet, erscheint es immer (Twitter) bzw. 49 Vgl.
Dreier/Schulze – Specht, § 22 KUG Rn. 17. P. III. 2.
50 Dazu
S. Schutz vor öffentlicher personenbezogener Kommunikation217
nach „Entscheidung“ des Algorithmus teilweise (Facebook) auf der Startseite von dessen Kontakten und kann auf dem Profil des Weiterverbreitenden abgerufen werden. Wer ein Bild von sich veröffentlicht, der möchte mit diesem Bild wahrgenommen werden. Es gibt daher noch mehr Anlass, den Schutz zu reduzieren, als bei einer – womöglich nur widerwillig oder notgedrungen – konsentierten Veröffentlichung durch Dritte. Der veröffentlichende Nutzer nimmt die Vorteile der Öffentlichkeit wahr: Er wird mit seinem Äußeren in der Art, wie er sich darstellen möchte, von Dritten wahrgenommen. Wer das Bild einem unbestimmten Personenkreis zugänglich macht, definiert das, was auf dem Bild zu sehen ist, als öffentlich, er kann sich dann nicht zugleich auf den öffentlichkeitsabgewandten Privatsphäreschutz berufen.51 Auch wenn das Bild nur einem begrenzten Personenkreis wie den „Freunden“ zugänglich gemacht wurde, ist die auf dem Bild dargestellte Situation nicht mehr privat, vielmehr wird eine Vielzahl von Personen zu Quasi-Beobachtern dieser. Mehr als die anderen informationsbezogenen Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts schützt das Recht am eigenen Bild indes die Möglichkeit, die Reichweite der Selbstdarstellung zu bestimmen. Zwar ist das (Grund-)Recht am eigenen Bild (anders die einfach-rechtliche Ausgestaltung) ebenso wenig wie das Recht der Selbstdarstellung ein Verfügungsrecht, das dem Grundrechtsträger ermöglicht, punktgenau zu bestimmen, wer welche Situation wahrnimmt.52 Er soll aber zumindest in groben Zügen abschätzen und bestimmen können, wer und wie viele Personen sein Verhalten wahrnehmen.53 Erlaubt er sogar nur einem personell genau bestimmten und ausgewählten Personenkreis den Zugriff auf seine Bilder, so hat er die Reichweite sehr exakt bestimmt. Durch die Weiterverbreitung wird diese Bestimmung durchbrochen. Das kann persönlichkeitsrechtlich mehr oder weniger problematisch sein. Ist der Kreis der neuerlichen Empfänger seinerseits eng beschränkt, sind materiell Selbstdarstellungsinteressen allenfalls am Rande berührt. Wird hingegen ein im begrenzten Rahmen geteiltes Foto der Weltöffentlichkeit zugänglich gemacht, liegt darin, zumindest theoretisch, eine erhebliche Erweiterung des Empfängerkreises. Wird das Bild bei der Weiterverbreitung etwa mit negativen, kritischen oder ironischen Kommentaren versehen, kann das zwar Selbstdarstellungsinteressen berühren. Dass der Betroffene sich selbst mit seinem Bild in die Öffentlichkeit begeben hat, spricht allerdings in der Abwägung mit den Interessen des Verbreitenden entscheidend für dessen Inter51 BVerfGE
101, 361 (385). P. III. 53 Vgl. BVerfGE 101, 361 (381). 52 Siehe
218
5. Kap.: Folgerungen
essen. Erst wenn das Bild gezielt genutzt wird, um den Abgebildeten etwa zu mobben oder lächerlich zu machen, kann sich sein Recht am eigenen Bild durchsetzen, obwohl er das Bild selbst veröffentlicht hat. Eine Einwilligung in die Veröffentlichung im sozialen Netzwerk erstreckt sich erst recht nicht auf die Verbreitung oder öffentliche Zurschaustellung des Bildes außerhalb der Plattform. Hier unterscheiden sich Öffentlichkeitswirkung und Kontext grundlegend von der ursprünglichen Veröffentlichung. Auch eine Veröffentlichung eigener Bilder ist kein Freibrief, sie zum Teil einer medialen Berichterstattung zu machen, am wenigsten, wenn der Betroffene durch ein tragisches Ereignis in den Fokus der Öffentlichkeit geraten ist. Das Bild darf beispielsweise nicht ohne neuerliche Einwilligung auf einer Webseite eingebettet oder im Rahmen von Werbung oder Presseberichterstattung verwendet werden. Hier kommt freilich eine Rechtfertigung nach § 23 Abs. 1 KUG in Betracht, etwa durch Nr. 1, wenn die abgebildete Person zeithistorische Bedeutung erlangt hat. Im Rahmen des § 23 Abs. 1 Nr. 1 KUG sind die Interessen des Verbreitenden und des Abgebildeten abzuwägen.54 Dabei ist es zulasten des Grundrechtsträgers in Rechnung zu stellen, wenn er das Bild selbst veröffentlicht hat. Dasselbe gilt nach Art. 6 Abs. 1 lit. f DSGVO. Bei Opfern von Unfällen, Anschlägen oder Straftaten etwa wird der (womöglich postmortale) Persönlichkeitsschutz jedoch in der Regel gegenüber dem Interesse an der Weiterverbreitung der Bilder überwiegen.
IV. Zusammenfassung Die Verbreitung privater Informationen über Dritte ist in sozialen Netzwerken in der Regel unzulässig. Eine Einwilligung ist denkbar, muss aber eindeutig erklärt werden, überwiegende Interessen des Veröffentlichenden werden selten vorliegen. Wurden die Informationen durch den Betroffenen selbst veröffentlicht, werden sie hingegen in der Folge nicht mehr als privat behandelt. Das Recht der Selbstdarstellung ist durch eine Verbreitung falscher oder stigmatisierender Informationen berührt. Die Verbreitung stigmatisierender Informationen kann aufgrund kollidierender Interessen zulässig sein; insofern kommt es auf die tatsächlich zu erwartenden Wirkungen der Verbreitung an. Ebenso ist jede Weiterverbreitung neu zu bewerten, insbesondere lässt eine Veröffentlichung der Information durch den Betroffenen selbst den Schutz nicht zwingend für alle Zeiten und Zusammenhänge entfallen. Die Veröffentlichung von Bildern Dritter ist schon einfach-rechtlich regelmäßig nur mit Einwilligung des Betroffenen zulässig. Die Weiterverbreitung eines vom 54 Wandtke/Bullinger – Fricke, § 23 KUG Rn. 6; Dreier/Schulze – Specht, § 23 KUG Rn. 10.
T. Der Abruf von Daten im sozialen Netzwerk219
Abgebildeten selbst veröffentlichten Bildes ist unter Privatsphäregesichtspunkten zulässig, kann aber geschützte Selbstdarstellungsinteressen verletzen, wenn es etwa für Mobbing genutzt oder in einem anderen Kontext mit erheblich größerem Empfängerkreis verbreitet wird.
T. Der Abruf von Daten im sozialen Netzwerk Beim Umgang Dritter mit den einmal veröffentlichten Informationen zeigt sich ein grundlegender Unterschied zwischen dem Recht auf Datenschutz und den anderen informationsbezogenen Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Letztere werden durch den bloßen Empfang von Mitteilungen und die Bildung von Informationen daraus nicht berührt. Vielmehr setzt der Schutz ausschließlich beim Sender an, bei demjenigen, der Bilder oder falsche, stigmatisierende oder private Informationen verbreitet. Lediglich im Bereich der Privatsphäre kann das Erlangen von Informationen das allgemeine Persönlichkeitsrecht berühren, allerdings nur dann, wenn das durch eine Form des Eindringens geschieht, nicht, wenn man private Informationen einfach erhält.55 Beim Recht auf Datenschutz ist das anders. Dieses wird durch den Abruf berührt, also die Bildung persönlicher Informationen anhand von Daten.56
I. Der Abruf öffentlicher Daten In der Entscheidung zur Online-Durchsuchung äußert sich das Bundesverfassungsgericht obiter dictum dazu, inwieweit Maßnahmen der Internetaufklärung in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingreifen. Es differenziert dabei zwischen einer Kenntnisnahme öffentlich zugänglicher Informationen und dem Eingehen einer Kommunikationsbeziehung zu einem Grundrechtsträger durch staatliche Stellen.57 Der Abruf öffentlicher Informationen im Internet soll nicht in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingreifen: „Eine Kenntnisnahme öffentlich zugänglicher Informationen ist dem Staat grundsätzlich nicht verwehrt. Dies gilt auch dann, wenn auf diese Weise im Einzelfall personenbezogene Informationen erhoben werden können […]. Daher liegt kein Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht vor, wenn eine staatliche Stelle im Internet verfügbare Kommunikationsinhalte erhebt, die sich an jedermann oder zumindest an einen nicht weiter abgegrenzten Personenkreis richten. So liegt es 55 Siehe
F. II. 2. c). J. II. 1. und C. II. 2. 57 BVerfGE 120, 274 (344 f.). 56 Siehe
220
5. Kap.: Folgerungen
etwa, wenn die Behörde eine allgemein zugängliche Webseite im World Wide Web aufruft, eine jedem Interessierten offen stehende Mailingliste abonniert oder einen offenen Chat beobachtet.“58
Ein typisches soziales Netzwerk wird dabei wie eine jedermann offen stehende Mailingliste zu sehen sein. In der Regel gibt es keinerlei Zugangskontrollen, es genügt eine E-Mail-Adresse zur Anmeldung. Damit ist, folgt man dem Bundesverfassungsgericht, der bloße Abruf von Informationen in sozialen Netzwerken ohne Weiteres zulässig. Das gilt selbst für staatliche Stellen. Erst recht löst es dann keine Schutzpflicht aus, wenn ein Privater Informationen in einem sozialen Netzwerk abruft. Anders soll es nach dem Bundesverfassungsgericht nur sein, wenn die so gewonnenen Informationen gezielt zusammengetragen, gespeichert und gegebenenfalls unter Hinzuziehung weiterer Daten ausgewertet werden und sich daraus eine besondere Gefahrenlage für die Persönlichkeit des Betroffenen ergibt.59 Solche Verarbeitungen werden unter U. näher untersucht. Zunächst soll der erste Teil der Aussage auf Basis der entwickelten Gesichtspunkte des Rechts auf Datenschutz einer kritischen Überprüfung unterzogen werden. 1. Eingriffswirkung unter Privatsphäregesichtspunkten Durch den Abruf von Informationen, die ein Dritter veröffentlicht hat, erfolgt keine Überwachung des Betroffenen. Berichtet A über sein Schachspiel mit B, ist der Abrufende auf die Informationen angewiesen, die A ihm liefert. Der Abruf liefert ihm keine Möglichkeit, B selbst zu beobachten.60 B muss damit leben, dass einzelne Informationen Dritten zur Kenntnis gelangen, auch wenn damit ein Kontextwechsel der Informationen verbunden ist. Auch ohne die elektronische Datenverarbeitung lässt sich ein solcher nie ausschließen. Der bloße Wunsch, dass der Arbeitgeber nicht vom abendlichen Schachspiel erfährt, ist rechtlich nicht geschützt. Die Grundrechte gebieten grundsätzlich keinen Schutz davor, dass andere etwas über das eigene Verhalten erfahren.61 Eine Grenze ist nur bei Informationen erreicht, die der thematischen Privatsphäre zuzuordnen sind oder allgemein stigmatisierend wirken; das ergibt sich dann aber aus den jeweiligen Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (dazu unter S.). Der Schutz vor Überwachung ist hingegen durch die nicht systematische Veröffentlichung personenbeziehbarer Informationen nicht betroffen. Da somit die Kommunikation insoweit frei ist, 58 BVerfGE
120, 274 (344 f.). 120, 274 (345). 60 Vgl. schon zur Archivierung R. I. 61 Siehe F. II. 1. b). 59 BVerfGE
T. Der Abruf von Daten im sozialen Netzwerk221
muss das auch für den Empfang der Informationen gelten, um diese Freiheit nicht leerlaufen zu lassen. Daher berührt der Abruf von Dritten veröffentlichter Informationen nicht die Privatsphärekomponente des Rechts auf Datenschutz. Der Möglichkeit eines Abrufs von Daten, die der Betroffene selbst veröffentlicht hat, kann hingegen einen Einschüchterungseffekt auf das Verhalten des Betroffenen haben. Dabei geht es nicht um das Verhalten in der physischrealen Welt. Wer sich davor sorgt, sein Arbeitgeber könne erfahren, dass er Schach gespielt hat, muss dafür nicht das Schachspielen unterlassen, er kann es schlichtweg unterlassen, dies in sozialen Netzwerken kundzutun. Ein rechtlich relevanter Einschüchterungseffekt auf dieses Verhalten entsteht daher durch den Abruf nicht. Jedoch ist diese Kundgabe, das kommunikative Handeln in sozialen Netzwerken selbst ein Verhalten des Betroffenen, das durch das Wissen um einen möglichen unkontrollierten Kontextwechsel beeinflusst werden kann. Wer damit rechnen muss, dass seine Äußerungen von jedem, auch von staatlichen Stellen, potenziellen Arbeitgebern, ScoringAgenturen etc. beobachtet werden können und dürfen, wird entsprechend potenziell kontroverse Äußerungen unterlassen. Es entsteht genau die zuvor beschriebene Beschränkung des „Randbereichsverhaltens“.62 Der Betroffene wird sich angewöhnen, nur noch solche Dinge zu kommunizieren, die unter keinen Umständen zu „Schwierigkeiten“ führen können. Das kann den Meinungsdiskurs und die Persönlichkeitsentfaltung verengen und verflachen. Die Frage ist aber, ob dieser Einschüchterungseffekt rechtlich relevant ist, wenn jemand Informationen selbst veröffentlicht hat. Man kann seine Meinungen auch nicht auf dem Marktplatz herausschreien und gleichzeitig verlangen, dass nur ausgewählte Personen sie zur Kenntnis nehmen. Da der Privatsphärekomponente des Rechts auf Datenschutz die gleichen Gesichtspunkte zugrunde liegen wie dem allgemeinen Recht auf Privatsphäre, können auch die dazu entwickelten Grundsätze übertragen werden: Wer seine Daten für einen nicht individuell beschränkten Personenkreis freigibt, setzt sich der Betrachtung durch Dritte anhand des verfügbaren Profils aus, sodass er sich nicht zugleich auf einen Privatsphäreschutz berufen kann.63 Hier tut der Betroffene mehr, als jemandem Zugriff auf seine Daten zu gewähren. Er gestaltet gleichzeitig seine öffentliche Selbstdarstellung neu. Dieses Phänomen ist eine Veränderung der Kommunikationskultur durch soziale Netzwerke. Daten sind kein Nebeneffekt des Handelns, sie sind selbst ein Weg der Selbstdarstellung. Die Veröffentlichung von Daten lässt sich insofern nicht als ein typischer Verzicht im Rahmen des Datenschutzes fassen. Der Betroffene gibt nicht in erster Linie etwas auf, sondern er schafft eine Selbstdarstellung, wie 62 Siehe 63 Siehe
K. I. 2. S. I. 2.
222
5. Kap.: Folgerungen
er auch durch eine selbstbestimmte mediale Veröffentlichung persönlicher Informationen seine Selbstdarstellung gestaltet.64 Ebenso wie bei dieser kann er nicht verlangen, dass die Informationen niemandem zur Kenntnis gelangen. Der Abruf selbst veröffentlichter Daten stellt daher keine rechtfertigungsbedürftige Überwachung im Sinne des Rechts auf Datenschutz dar. Das gilt in allen Fällen, in denen sich Kommunikationsinhalte „an einen nicht weiter abgegrenzten Personenkreis richten“65. Auch in den eingangs genannten Fällen einer abstrakten Beschränkung, etwa auf Freunde und deren Freunde, ist der Nutzer nicht schutzwürdig, da er die Kontrolle darüber aufgibt, wem er diese Daten konkret zur Verfügung stellt. Sind die Daten in diesem Sinne öffentlich, greift ein staatlicher Abruf der Informationen daher unter Privatsphäregesichtspunkten nicht in das Recht auf Datenschutz ein. Das gilt im Ergebnis – wie dargestellt mit jeweils unterschiedlicher Begründung – unabhängig davon, ob der Betroffene selbst die Daten veröffentlicht hat. Erst recht sind verfassungsrechtlich keine Schutzmaßnahmen vor einem privaten Abruf geboten. 2. Eingriffswirkung unter Selbstdarstellungsgesichtspunkten Soziale Netzwerke ermöglichen aber nicht nur den Abruf einzelner, verstreuter persönlicher Informationen, die „zufällig“ in andere soziale Kontexte geraten können. Durch Aufsuchen des Nutzerprofils kann ein Nutzer ein ganzes Datenprofil eines anderen Nutzers erhalten.66 In seiner Selbstdarstellungskomponente soll das Recht auf Datenschutz den Einzelnen davor bewahren, dass sich ein Dritter von ihm ein Bild machen kann, ohne dass der Betroffene dieses durch eine situativ differenzierte Selbstdarstellung beeinflussen kann.67 Genau das geschieht, wenn ein Dritter ein Profil in einem sozialen Netzwerk abruft. Hier, und nicht in einem „Verlust an Privatsphäre“, liegt die entscheidende Veränderung der Informations- und Kommunikationskultur durch die sozialen Netzwerke. Wer etwas über einen anderen erfahren möchte, muss ihn nicht mehr fragen. Er kann persönliche Informationen ebenso abrufen, wie er sich bei Wikipedia über historische Ereignisse, in Hilfeforen über handwerkliche Ratschläge oder auf der Seite des Kinobetreibers über das Kinoprogramm informieren kann. Dabei muss er selbst nicht kommunizieren oder irgendwie gegenüber seinem „Informationsobjekt“ in Erscheinung treten.
64 Siehe
P. I. 2. c) bb). 120, 274 (344 f.). 66 Siehe R. II. 1. a). 67 Siehe J. I. 65 BVerfGE
T. Der Abruf von Daten im sozialen Netzwerk223
a) Festlegung eines Bildes vom Betroffenen Durch einen solchen Abruf wird eine Selbstdarstellung produziert, die der Betroffene nicht mehr situationsangemessen variieren kann, die ihn vielmehr in einzelnen kommunikativen Situationen festlegt. Das geschieht jedes Mal, wenn ein Abruf erfolgt, aufs Neue für das jeweilige Kommunikationsverhältnis. Insofern betrifft dieser Gesichtspunkt den auf die Zukunft gerichteten Schutz der Selbstdarstellung. Das Bundesverfassungsgericht bezieht sich mit seinem Verweis auf die grundsätzliche Zulässigkeit der „Kenntnisnahme öffentlich zugänglicher Informationen“68 nur auf den Privatsphäreaspekt des Rechts auf Datenschutz. Ein Polizeibeamter muss nicht mit verschlossenen Augen Streife fahren, auch wenn er dabei etwas über einen Grundrechtsträger erfährt. Das soll auch im Internet gelten. Aber die Erhebung von Informationen in sozialen Netzwerken kann über die bloße „Kenntnisnahme“ deutlich hinausgehen. Im Internet kann ein ganzes umfassendes Profil von Informationen gezielt abgerufen werden. Das entspricht vom Umfang der zu erlangenden Informationen her eher einer umfassenden und eventuell längerfristigen Observation. Sobald nicht nur „Streife gesurft“ wird, sondern ein Profil im Sinne des Rechts auf Datenschutz abgerufen wird, wird dieser Aspekt relevant. Allerdings gibt es bei Profilen, die der Betroffene selbst gestaltet hat, niemanden, vor dem der veröffentlichende Nutzer geschützt werden müsste. Speichert eine staatliche Stelle oder ein privater Dritter persönliche Informationen, so löst dies grundsätzlich ein grundrechtliches Abwehrrecht bzw. eine Schutzpflicht aus. Auch die Zusammenstellung von Daten in sozialen Netzwerken löst, wie ausgeführt, wegen der überlegenen Position des Betreibers als Gestalter der Plattform prima facie eine Schutzpflicht aus.69 Der Abrufende hingegen ist dem Betroffenen nicht in vergleichbarer Weise überlegen, sondern ist davon abhängig, welche Informationen im sozialen Netzwerk preisgegeben werden. Zwar hängt vom Vorwissen und der Zwecksetzung des Abrufenden ab, welche Informationen aus den Daten gebildet werden. Das ist aber gerade eine Selbstverständlichkeit der Informationsbildung. Die Grundlagen für diese Informationen kann der Betroffene selbst mitbestimmen, besser womöglich als im physisch-realen Leben. Das gilt insbesondere für das selbst gestaltete „Nutzerprofil“. Das gilt auch, wenn der Betroffene der Architektur des Netzwerks entsprechend Dritten gestattet hat, Beiträge dem Nutzerprofil hinzuzufügen.70 Problematisch ist in diesen Fällen die mangelnde Kontrolle über den Inhalt des 68 BVerfGE
120, 274 (344). R. II. 2. a). 70 Vgl. R. II. 1. a) und 2. b). 69 Siehe
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5. Kap.: Folgerungen
Profils. Diesen Kontrollverlust hat der Betroffene aber regelmäßig schon auf der Ebene der Profilbildung konsentiert.71 Indem der Betroffene die Veröffentlichung dieses Profils gestattet, macht er die Beiträge Dritter zum Teil der eigenen Selbstdarstellung. So kann er sich etwa als sozial besonders aktive, kommunikative Person darstellen, mit der viele andere (öffentlich) kommunizieren. Anders ist das nur, wenn – etwa durch Suchfunktionen – Daten über einen bestimmten Nutzer profilmäßig zusammengestellt werden können, ohne dass er dieses Profil „redigieren“ kann. Dann stellt letztlich der Betreiber des Netzwerks ein Profil zusammen. Dieses ist dann zu behandeln wie ein von einem sonstigen Dritten zusammengestelltes Profil, sodass auf die Ausführungen hierzu verwiesen werden kann.72 b) Mangelnde Kontrolle über den sozialen Kontext des Abrufs Der Abruf eines Profils berührt grundsätzlich das Recht auf Datenschutz, da der Abrufende dem Betroffenen die „Regie“ über seine Selbstdarstellung nimmt.73 Das ist aber anders, wenn das Profil gleichsam ein Weg ist, mit dem der Betroffene diese Regie ausübt. Wer sich umfänglich in sozialen Netzwerken darstellt, legt damit seine Selbstdarstellung situationsübergreifend fest. Er muss jederzeit damit rechnen, dass ein Interaktionspartner die veröffentlichten Informationen kennt, auch wenn er ihm diese sonst nicht preisgegeben hätte. Andererseits kann er sein Nutzerprofil im sozialen Netzwerk bewusst gestalten und besser steuern als etwa seine Körpersprache und Ausdrucksweise in einer bestimmten Situation. Es obliegt jedem selbst, wie viele und welche Informationen er einem unsichtbaren Empfängerkreis preisgeben möchte. Genau in dieser Entscheidung liegt aber eine Form, die Regie über die Selbstdarstellung auszuüben. Die Kommunikation an einen breiten, unsichtbaren Empfängerkreis ist nicht ohne Risiko ‒ das ist Selbstdarstellung aber niemals. Hat der Betroffene die Veröffentlichung eines ihn betreffenden Profils konsentiert, gibt es keinen Schutz vor Abrufen aus sozialen Kontexten oder zu Zwecken, die er nicht bedacht bzw. gewünscht hat.74 Der Abruf ist dieser Kommunikationsform immanent, er ist letztlich das Ziel der öffentlichen Kommunikation. Die Zwecke des Abrufs können vielfältig und häufig diffus sein, sie müssen nicht immer im Interesse des Nutzers stehen. Selbst die Betrachtung der Profile von „Freunden“ im sozialen Netzwerk mag manch71 Siehe
R. II. 3. U. I. 73 Siehe J. I. 2. 74 So aber Eifert, in: Soziale Netze, S. 253 (259); Roßnagel, in: Soziale Netze, S. 271 (282). 72 Siehe
T. Der Abruf von Daten im sozialen Netzwerk225
mal der eigenen Belustigung dienen und damit eine Selbstdarstellung produzieren, die vom Veröffentlichenden nicht gewünscht ist. Das liegt aber in der Natur der Kommunikation an Unsichtbare: Man hat keine Möglichkeit, die Reaktion Dritter wahrzunehmen und sich darauf einzustellen. Wer dies vermeiden möchte, darf sich nicht oder nur zurückhaltend in sozialen Netzwerken betätigen. Wer sich aber bewusst für den persönlichkeitsrechtlich „riskanten“ Weg der Kommunikation entscheidet, bei dem verdatete Informationen entstehen, muss auch mit den Konsequenzen leben. Hier gilt wiederum nichts anderes als bei der Zustimmung zu einer medialen Veröffentlichung. Auch hier hat der Betroffene kein Recht darauf zu kontrollieren, zu welchen Zwecken Andere diese Informationen zur Kenntnis nehmen und gegebenenfalls recherchieren. In vergleichbarer Weise verliert der selbst Veröffentlichende seinen Schutz vor dem Abruf der persönlichen Informationen, unabhängig davon, welchem Zweck dieser dient. c) Erstellung algorithmenbasierter Prognosen Auch wenn der Nutzer selbst die im Profil enthaltenen Inhalte steuern kann, ist das Recht auf Datenschutz durch einen Abruf berührt, wenn durch die Art des Abrufs eine besondere Gefährdung für die informationelle Eigenregie entsteht. Grundsätzlich kann der Betroffene, wie gesehen, den Informationsgehalt der abrufbaren Inhalte absehen und steuern. Dies lässt sich aber nur gleichsam nach menschlichem Ermessen absehen. Wie ein Algorithmus die vorhandenen Informationen interpretiert, entzieht sich dem menschlichen Vorstellungsvermögen. Zuvor75 wurde als Sonderform des Abrufs die Erstellung algorithmenbasierter Prognosen hervorgehoben. Diese Algorithmen suchen Korrelationen zwischen dem früheren und späteren Verhalten von Personen in der Vergangenheit und nehmen diese als Anknüpfungspunkt für ihre Prognosen. Ein Nutzer kann bei der Veröffentlichung zwar absehen, wie ein Mensch die Informationen aufnehmen und welche Schlüsse er daraus ziehen wird. In ein Computerprogramm, das nicht nach menschlichen Maßstäben, sondern aufgrund der Auswertung einer Vielzahl von Daten auf zukünftiges menschliches Verhalten schlussfolgert, kann er sich aber nicht „hineinversetzen“ und sein Verhalten darauf ausrichten. Ein Profil in einem sozialen Netzwerk enthält häufig eine Vielzahl von Informationen, die nach menschlichem Ermessen gar nicht alle verarbeitet werden können. Insbesondere die Auswertung der Kontakte des Betroffenen birgt Erkenntnisse darüber, mit wem er sich „umgibt“, und lässt so Rückschlüsse über ihn selbst zu. Dabei können die Erkenntnisse über die Kontakte 75 Siehe
J. II. 1.
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5. Kap.: Folgerungen
ihrerseits aus einer Auswertung der Kontakte der Kontakte folgen. So entsteht eine ganze „Kette“ von Informationsquellen, die für einen menschlichen Abrufenden gar nicht zu überschauen ist. Ein Algorithmus kann hingegen all diese Daten auswerten und Schlussfolgerungen über das zu erwartende Verhalten des Betroffenen ziehen. So entsteht ein völlig anderes Profil, als der Betroffene selbst und menschliche Beobachter es wahrnehmen. Damit durchbricht diese Form der Auswertung der Profildaten die Kontrolle des Betroffenen über den Informationswert seines Verhaltens. Ein solcher Abruf beeinträchtigt aufgrund seiner besonderen technischen Ausgestaltung daher auch bei einem vollständig selbst kontrollierten Profil das Recht auf Datenschutz. d) Einwilligung in die Selbstdarstellungsbeeinträchtigung Damit betrifft der Abruf im Falle der Erstellung algorithmenbasierter Prognosen das Recht auf Datenschutz. Eine Einwilligung in eine solche Datenverarbeitung ist grundsätzlich möglich, aber problematisch. Nicht nur Inhalte, sondern auch Informationen über Kommunikationspartner, -häufigkeit, -zeiten etc. können statistisch ausgewertet werden. Auch das Verhalten der Kontakte des Betroffenen im sozialen Netzwerk kann herangezogen werden, um aus den Personen, mit denen er sich „umgibt“, Rückschlüsse auf seine Persönlichkeit zu ziehen. So entsteht aus Daten, die zwar vorhanden sind, aber keinen Informationswert entfalten, ein riesiges Profil, das auch der Betroffene nicht abschätzen kann und dessen Informationswert vollkommen außerhalb seiner Kontrolle liegt. Das kann, je nach Verwendung dieser Daten, den Menschenwürdekern des Rechts auf Datenschutz berühren. Eine Menschenwürdeverletzung durch eine Datenverarbeitung hat drei Voraussetzungen.76 Es muss a) eine große Zahl aussagekräftiger Daten zu einem sehr umfassenden Profil verknüpft worden sein. Das kann in sozialen Netzwerken durchaus der Fall sein. Insbesondere wenn die Daten der Kontakte des Betroffenen verwendet werden, um Schlüsse über sein soziales Umfeld und damit über seine Persönlichkeit zu ziehen, ist das so entstehende Profil unüberschaubar. Die Daten müssen b) verwendet werden, um die Persönlichkeitsentfaltung des Betroffenen einzuschränken. Eine Menschenwürdeverletzung entfällt also, wenn keine nennenswerte Persönlichkeitsbeeinträchtigung vorliegt, wenn etwa nur eine Kaufentscheidung prognostiziert wird, um zielgerichtete Werbung anzubieten. Der Betroffene darf c) keinen weiteren Einfluss auf das Bild seiner Persönlichkeit haben, das der Entscheidung zugrunde liegt. Daher entfällt der Eingriff auch, wenn der Betroffene die Möglichkeit hat, dem entstandenen Bild entgegenzuwirken. Willigt der 76 Siehe
Q. II. 3. b).
T. Der Abruf von Daten im sozialen Netzwerk227
Betroffene in so eine Behandlung ein, ist in einem weiteren Schritt streng zu prüfen, ob die durch die Einwilligung verwirklichte Autonomie den Verlust an Selbstbestimmtheit der Selbstdarstellung und Persönlichkeitsentfaltung ausgleicht.77
II. Die Schaffung und der Schutz privater Räume in sozialen Netzwerken In der Regel bieten die Netzwerkplattformen Nutzern in einem gewissen Rahmen die Möglichkeit, den Grad der Öffentlichkeit der Daten selbst einzustellen. Informationen können für sämtliche Nutzer eines sozialen Netzwerks oder sogar für Internetnutzer darüber hinaus sichtbar sein. Häufig bieten die Plattformen aber die Möglichkeit, Informationen nur einem vom Nutzer kontrollierten Kreis an Empfängern preiszugeben, etwa den „Freunden“ bei Facebook. Dazwischen steht die Möglichkeit, die Informationen für nach abstrakten Kriterien bestimmte Nutzer sichtbar zu machen, ohne dass der veröffentlichende Nutzer selbst die Kontrolle über die Empfänger hat. Informationen können etwa für Freunde und deren Freunde sichtbar sein oder für Nutzer mit einem bestimmten Wohnort oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Universität oder Firma. Die genaue Ausgestaltung der Möglichkeit, eine entsprechende Restriktion gegenüber einer unbeschränkten Öffentlichkeit vorzunehmen, unterscheidet sich erheblich. Ein Netzwerk kann entweder die Beschränkung oder die Öffentlichkeit als Standard vorsehen; im letzteren Fall muss der Nutzer die Einstellung dann selbst ändern, wenn er das wünscht. Die Einstellungsmöglichkeit kann sich auf sämtliche Informationen, bestimmte Kategorien oder nur auf eine einzelne Veröffentlichung beziehen. Der Kreis der Empfänger kann pauschal bestimmt sein, etwa alle Freunde, oder es kann die Möglichkeit geben, eine Information nur für eine Gruppe von Freunden sichtbar zu machen und einzelne Freunde auszuschließen. 1. Einordnung und Voraussetzungen der Bestimmung des Empfängerkreises Nutzt jemand ein Fernkommunikationsmittel, um an einen individuell bestimmten Empfängerkreis und nicht an die Allgemeinheit zu kommunizieren, so greift der Schutz des Art. 10 Abs. 1 GG.78 Das muss entsprechend auch dann gelten, wenn ein Nutzer eines sozialen Netzwerks nur an ausgewählte 77 Siehe 78 JP –
Q. II. 3. b). Jarass, Art. 10 Rn. 6; MKS – Gusy, Art. 10 Rn. 59.
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5. Kap.: Folgerungen
Empfänger kommuniziert, auch wenn dieser „Freundeskreis“ mehrere hundert Personen umfasst.79 Die Auswahl zwischen Individual- und Massenkommunikation ist ein klassisches Beispiel für ein eigenes Verhalten, das bestimmt, ob der Schutzbereich eines Grundrechts eröffnet ist.80 Wer nicht zu einer Versammlung geht, wird nicht durch die Versammlungsfreiheit geschützt. Ledige Personen genießen nicht den Schutz der Ehe. Und Kommunikation an die Allgemeinheit unterfällt nicht dem Fernmeldegeheimnis. Mit einem Grundrechtsverzicht hat das nicht zu tun. Aus Art. 10 Abs. 1 GG ergibt sich nicht, dass Kommunikation grundsätzlich vertraulich zu sein hat. Folglich ist die Entscheidung für eine öffentliche oder für eine individuelle Kommunikation an keinerlei Voraussetzungen geknüpft. Die DSGVO verfolgt einen grundlegend anderen Ansatz, indem sie den Grundsatz der privacy by default statuiert. Nach Art. 25 Abs. 2 S. 1 DSGVO sollen durch Voreinstellung grundsätzlich nur solche personenbezogenen Daten verarbeitet werden, deren Verarbeitung für den jeweiligen bestimmten Verarbeitungszweck erforderlich ist, was nach S. 2 auch deren Zugänglichkeit umfasst. Nach S. 3 muss insbesondere sichergestellt werden, dass personenbezogene Daten durch Voreinstellungen nicht ohne Eingreifen der Person einer unbestimmten Zahl von natürlichen Personen zugänglich gemacht werden. Das bedeutet, dass die von neu angemeldeten Nutzern eingegebenen Informationen zunächst nur begrenzt zugänglich gemacht werden („privacy by default“) und der Nutzer selbst diese Einstellungen ändern muss, wenn er die Daten weiter öffentlich machen will („opt-in“). Offenkundig geht der europäische Gesetzgeber davon aus, dass die unbeschränkte Zugänglichmachung niemals „für den jeweiligen bestimmten Verarbeitungszweck erforderlich ist“. Sonst würde er den Ausschluss der Zugänglichmachung by default nicht als Unterfall der Beschränkung auf erforderliche Datenverarbeitungen by default auffassen. Das bleibt nicht ohne paternalistische Note. Denn dass jemand einen Zweck verfolgen könnte, für den die unbeschränkte Zugänglichmachung gerade benötigt wird, ist nicht vorgesehen. Die DSGVO hängt noch im Jahre 2016 der Vorstellung des Volkszählungsurteils an, Datenverarbeitungen würden stets nur als notwendiges Übel hingenommen, soweit sie für einen anderen Zweck benötigt werden. In solchen Fällen ergibt der Grundsatz der Datensparsamkeit Sinn. Dient die Datenverarbeitung etwa der Abwicklung eines Vertrags, so lässt sich an diesem Zweck bestimmen, welche Daten dafür benötigt werden und welche nicht. Dass die Datenverarbeitung nebst Zugänglichmachung aus Sicht des Nutzers aber selbst Zweck sein kann und nicht nur als notwendiges Übel so 79 Englerth/Hermstrüwer, RW 2013, 326 (350 f.); Martini, VerwArch 107 (2016), S. 307 (323); differenzierter Brenneisen/Staack, Kriminalistik 2012, 627 (629). 80 Siehe O. I.
T. Der Abruf von Daten im sozialen Netzwerk229
weit wie unbedingt nötig hingenommen wird, ist dieser Konzeption fremd. Die DSGVO geht davon aus, dass die Betroffenen grundsätzlich ihre Daten allenfalls beschränkt veröffentlichen möchten und sieht daher eine zusätzliches „Eingreifen“ im Verfahren der Datenverarbeitung vor, das über die Einwilligung hinausgeht. Um den Nutzern klarzumachen, dass die Daten öffentlich sind, ist ein ausdrückliches opt-in nicht notwendig. Denn die Veröffentlichung von Daten wird dem Betroffenen ohnehin viel präsenter gemacht als andere Formen der Datenverarbeitung. Er wird sich automatisch fragen, welchem Personenkreis die Daten zur Kenntnis gelangen, und dementsprechend seine Selbstdarstellung ausrichten. Er wird auch gegebenenfalls entsprechende Rückmeldungen bekommen. Es handelt sich um eine der wenigen Datenverarbeitungen, die nicht in einer „black box“ stattfindet. Solange die Struktur des sozialen Netzwerks den Nutzer nicht über die Reichweite der Veröffentlichungen in die Irre führt, kann er hier auch ohne privacy by default seine Interessen wahrnehmen. Dazu gehört auch die Entscheidung, sich bei einem sozialen Netzwerk wie Twitter anzumelden, das seine Struktur nach auf die unbeschränkte Zugänglichkeit der Daten ausgerichtet ist. Der Nutzer muss dann eben die Öffentlichkeit seiner Beiträge berücksichtigen oder, wenn ihm dies missfällt, die Nutzung unterlassen und ein soziales Netzwerk nutzen, bei dem er den Empfängerkreis beschränken kann. Aus Sicht eines wirksamen Datenschutzes wäre ein Opt-in-Verfahren eher bei den Datenverarbeitungen geboten, die dem Nutzer sonst nicht transparent werden, wie der algorithmenbasierten Auswertung der Daten oder der Auswertung von Nutzungsdaten. Eine solche Regelung wäre, wie es die Überschrift des Art. 25 DSGVO in der deutschen Fassung ausdrückt, „datenschutzfreundlich“. Die dort getroffene Regelung der privacy by default gerade in Hinblick auf die Veröffentlichung von Informationen ist hingegen in erster Linie „öffentlichkeitsfeindlich“. 2. Der Schutz vor Zugriffen Dritter Der Schutz der Privatheit ist kein Recht auf Schaffung privater Situationen, sondern auf die Vertraulichkeit geschaffener privater Situationen. Wenn ein Grundrechtsträger einen vertraulichen Kommunikationsweg gewählt hat, muss die Privatheit der Kommunikation geschützt sein. Art. 10 Abs. 1 GG begründet ein Abwehrrecht sowie eine Schutzpflicht in Bezug auf die Übergriffe Privater, insbesondere der privaten Kommunikationsmittler, nicht aber der Kommunikationspartner.81 Die Schutzpflicht bezieht sich folglich auch 81 BVerfGE
106, 28 (37); JP – Jarass, Art. 10 Rn. 11, 14.
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5. Kap.: Folgerungen
auf den Bruch der Vertraulichkeit durch den Betreiber des sozialen Netzwerks. Ein Zugriff auf nur beschränkt öffentliche Daten durch den Betreiber des Netzwerks berührt das Recht auf Datenschutz ebenso wie unbefugter Zugriff Dritter. Faktisch gibt der Nutzer dem Betreiber zwar Zugriff auf die Daten – schließlich werden sie auf dessen Servern gespeichert. Der Betreiber ist aber ebenso wenig Empfänger der Daten, wie ein Telefonanbieter Gesprächspartner eines Telefonats ist. Um diese Daten selbst nutzen zu können, braucht der Betreiber daher eine Einwilligung. Erst recht gilt das für die Geschäftspartner des Betreibers, insbesondere externe Betreiber von „Apps“, die über das Netzwerk genutzt werden können. Eine Einwilligung in den Abruf muss durch den betroffenen Nutzer selbst erteilt werden. Das ist in der Praxis nicht so selbstverständlich, wie es klingt. So hieß es in den Datenverarbeitungsrichtlinien von Facebook früher82: „Deine Freunde und die anderen Personen, mit denen du Informationen teilst, möchten deine Informationen vielfach mit Anwendungen teilen, um ihre Nutzererfahrungen innerhalb dieser Anwendungen persönlicher und sozialer zu gestalten. […] Falls du deine ‚Gefällt mir‘-Angaben […] nur für deine Freunde sichtbar gemacht hast, kann die Anwendung deinen Freund um die Erlaubnis bitten, auf diese Informationen zugreifen zu können.“
Der Nutzer konnte das nur vollständig unterbinden, wenn er die Möglichkeit, selbst Anwendungen zu nutzen, vollständig abschaltete. Eine solche Formulierung findet sich in den heutigen AGB nicht mehr. Das ist ein Fortschritt, denn diese Pauschaleinwilligung dürfte mit den Anforderungen an die grundlegende Transparenz von Einwilligungen83 nicht vereinbar gewesen sein. Die vermeintliche Privatheit des Empfängerkreises ist eine Täuschung, wenn die Empfänger diese Privatheit nach Belieben und ohne Beschränkungen aufbrechen können – und in der Regel sogar müssen, wenn sie selbst eine Anwendung nutzen wollen. Das lässt sich auch nicht damit begründen, dass es gegenüber den Empfängern selbst keinen Vertraulichkeitsschutz gibt. Denn der Bruch der Privatheit war bei der damaligen Konstruktion dem Betreiber zuzurechnen, da dieser ihn veranlasste.84 Dieser hatte die Plattform so konstruiert, dass das Vertrauen in die Beschränkung des Empfängerkreises praktisch zwangsläufig enttäuscht werden musste. Grundsätzlich ist aber eine Einwilligung in die wirtschaftliche Nutzung der Daten durch den Betreiber möglich und regelmäßig auch in irgendeiner Weise in den AGB enthalten. Die Betreiber verschaffen sich so die Möglichkeit, die Daten, insbesondere durch das Platzieren personalisierter Werbung, wirtschaftlich zu nutzen. Da das Recht auf Datenschutz berührt ist, müssen 82 Hier:
Stand Oktober 2011. Q. II. 1. 84 Vgl. Bäcker, in: Linien des Rechtsprechung, S. 99 (135). 83 Siehe
T. Der Abruf von Daten im sozialen Netzwerk231
hierfür die Voraussetzungen eines Grundrechtsverzichts, hier gegenüber einem Privaten,85 vorliegen. Die Einwilligung muss ausdrücklich und klar etwa durch Zustimmung zu den Nutzungsbedingungen erteilt werden. Dabei muss, anders als in der gerade zitierten Formulierung, in groben Zügen deutlich werden, wofür die Daten verwendet und an wen ggf. weitergegeben werden können. Angesichts der strukturellen Unterlegenheit der Nutzer im Verhältnis zum Betreiber kann die Einwilligung nicht von der Rechtsordnung anerkannt werden, wenn die Folgen für den Betroffenen ungewöhnlich belastend sind.86 Das ist aber bei einer Einwilligung in die Auswertung und Nutzung nicht öffentlicher Daten durch den Betreiber nicht der Fall. Zwar wird regelmäßig die komplette Selbstdarstellung im sozialen Netzwerk der Beobachtung durch den Betreiber ausgesetzt. Es geht dabei aber um Informationen, die ohnehin regelmäßig dem kompletten Freundeskreis zur Kenntnis gelangen, der in großen Netzwerken häufig eine dreistellige Anzahl von Personen umfasst. Schon deswegen ist diese Kommunikation zwar privat im Sinne von zugangsbeschränkt, gleichwohl handelt es sich nicht um eine Form ungehemmter privater Kommunikation, die erst durch die Einwilligung der Beobachtung ausgesetzt würde. 3. Der Schutz vor einem „Erschleichen“ der Zugriffsmöglichkeit Da Art. 10 GG nicht das personengebundene Vertrauen in die Kommunikationspartner schützt, schützt es auch nicht vor ungewollter Fernkommunikation mit dem Staat. In Betracht kommt insoweit aber ein Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht, nach herkömmlicher Dogmatik in Gestalt des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung.87 Nach dem Bundesverfassungsgericht liegt ein Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht schon dann vor, wenn eine staatliche Stelle sich unter einer Legende in eine Kommunikationsbeziehung zu einem Grundrechtsträger begibt, wohl aber, wenn sie dabei ein schutzwürdiges Vertrauen des Betroffenen in die Identität und die Motivation seines Kommunikationspartners ausnutzt, um persönliche Daten zu erheben, die sie ansonsten nicht erhalten würde.88 Die Aufnahme einer Kommunikationsbeziehung kann in sozialen Netzwerken darin bestehen, dass die staatliche Stelle dem Betroffenen eine „Freundschaftsanfrage“ stellt, eventuell nach vorheriger Kontaktaufnahme, die dazu dient, das Vertrauen des Betroffenen zu gewinnen. 85 Zu
dieser Konstruktion siehe O. IV. R. II. 3. 87 Bäcker, in: Linien des Rechtsprechung, S. 99 (107). 88 BVerfGE 120, 274 (345). 86 Siehe
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5. Kap.: Folgerungen
Mit dem Abstellen auf das schutzwürdige Vertrauen stellt das Gericht die richtige Frage. Denn der entscheidende Unterschied zu der vollständigen Öffnung der Zugriffsmöglichkeit liegt im Privatsphäreaspekt des Rechts auf Datenschutz. Hat der Betroffene sich vorbehalten, Daten nur von ihm individuell ausgewählten Personen zugänglich zu machen, geht er davon aus, dass auch nur diese darauf zugreifen. Er hat sich einen virtuellen Raum geschaffen, in dem er die Erwartung zeigt, den „Zugang“ zu den dort archivierten und als Profil abrufbaren Daten kontrollieren zu können. Das Profil ist zwar vorhanden, soll aber grundsätzlich nicht abzurufen sein. Der Abruf muss jedem Berechtigten individuell gestattet werden, etwa durch die Annahme einer „Freundschaftsanfrage“. Das ist dieselbe Konstellation wie die der situativen Privatsphäre. Deren Schutz greift, wenn der Betroffene eine Situation vorfindet oder schafft, in der er begründetermaßen und somit auch für Dritte erkennbar davon ausgehen darf, den Blicken der Öffentlichkeit nicht ausgesetzt zu sein.89 Das Recht auf Privatsphäre gewährt (abgesehen von Art. 13 GG) kein Recht darauf, bestimmte Räume als private nutzen zu können und dort stets von den Blicken Dritter verschont zu sein. Wenn man aber eine private Situation geschaffen hat, ist man in seinem Vertrauen auf diese Privatheit geschützt.90 Ein schutzwürdiges Vertrauen soll im Internet jedoch „in aller Regel“ nicht gegeben sein. „Die Kommunikationsdienste des Internet ermöglichen in weitem Umfang den Aufbau von Kommunikationsbeziehungen, in deren Rahmen das Vertrauen eines Kommunikationsteilnehmers in die Identität und Wahrhaftigkeit seiner Kommunikationspartner nicht schutzwürdig ist, da hierfür keinerlei Überprüfungsmechanismen bereitstehen.“91 Selbst bei längerfristigen und engeren Kommunikationsbeziehungen sei jedem Teilnehmer bewusst, dass er die Identität seiner Partner nicht kennt oder deren Angaben über sich jedenfalls nicht überprüfen kann. Sein Vertrauen darauf, dass er nicht mit einer staatlichen Stelle kommuniziert, sei in der Folge nicht schutzwürdig.92 Damit soll es private „Räume“ im Internet praktisch nicht geben. Das Gericht zieht hier aus faktischen Gegebenheiten unzulässigerweise normative Schlüsse. In dieser Logik hätte es auch 1983 argumentieren können, Datenverarbeitung sei verfassungsrechtlich kein Problem, da der Bürger sie ohnehin nicht verhindern könne. Im Grundsatz muss die Argumentation eher umgekehrt sein: Gerade weil im Internet eine faktische Unsicherheit 89 BVerfGE
101, 361 (384). F. II. 2. b) aa). 91 BVerfGE 101, 361 (384). 92 BVerfGE 120, 274 (345 f.). 90 Siehe
T. Der Abruf von Daten im sozialen Netzwerk233
über die Identität der Kommunikationspartner besteht, bedarf es eines rechtlichen Schutzes, um ungehemmte Kommunikation zu ermöglichen.93 Der Schutz erfolgt durch das Recht, nicht dadurch, dass der Nutzer selbst die Identität überprüft. Auch im physisch-realen Leben ist man nicht verpflichtet, Nachforschungen anzustellen, ob der Interaktionspartner womöglich ein Verdeckter Ermittler ist, jeden Raum auf Wanzen zu durchsuchen und Paparazzi notfalls mit physischer Gewalt aus der Umgebung zu vertreiben, um in den Genuss des situativen Privatsphäreschutzes zu kommen. Das soll das allgemeine Persönlichkeitsrecht gerade sicherstellen. Ein solcher Schutz von Vertraulichkeitserwartungen durch Recht ist auch in sozialen Netzwerken geboten. Verschafft sich ein staatliches Organ daher mit Hilfe einer Identitätstäuschung Zugang zu nicht öffentlichen persönlicher Daten, greift es in das Recht auf Datenschutz ein.94 Problematischer ist die Frage, ob auch der durch eine Täuschung erwirkte Zugriff auf die Daten durch Private eine Schutzpflicht auslösen kann, sodass etwa die weitere Verwendung dieser Daten unterbunden werden muss. Hier kann auf das Kriterium der Sozialadäquanz abgestellt werden, mit dem auch im Recht der situativen Privatsphäre zwischen einem akzeptablen und einem nicht akzeptablen Eindringen in die Privatsphäre unterschieden wird.95 Kriterium für die Auswahl der Kontakte im sozialen Netzwerk ist die Identität der Betroffenen. Wer durch die Beschränkung des Empfängerkreises auf einzeln ausgewählte Personen gerade deutlich gemacht hat, dass es ihm auf die Identität der Abrufenden ankommt, muss auf die Identität vertrauen können. Eine Täuschung nur über den Namen des Abrufenden genügt nicht, wenn dieser keine Rolle für die Entscheidung über die Zugriffsgewährung spielt. Auch eine Täuschung über die Motive des Abrufenden ist nicht rechtlich relevant, da der Betroffene die Motive eines Interaktionspartners nie abschließend kennt und die Entscheidung über den Zugriff nur nach der (vermeintlichen) Identität trifft. Bloße Neugierde durch vorgespielte Sympathie zu überspielen, ist beispielsweise zwar kein besonders aufrichtiges, aber ein durchaus sozial übliches Verhalten. Eine rechtlich relevante Täuschung liegt aber vor, wenn der Abrufende über Merkmale seiner Identität getäuscht hat, die für den Betroffenen von Relevanz sind. Offensichtlich ist das der Fall, wenn der Täuschende unter dem Namen eines Bekannten des Getäuschten auch Biemann, S. 144. in: Linien des Rechtsprechung, S. 99 (134); Biemann, S. 146 f.; Brenneisen/Staack, Kriminalistik 2012, 627 (629); Martini, VerwArch 107 (2016), S. 307 (323); Rosengarten/Römer, NJW 2012, 1764 (1766); aA Henrichs, Kriminalistik 2012, 632 (634). 95 Siehe F. II. 2. c). 93 So
94 Bäcker,
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5. Kap.: Folgerungen
auftritt. Nicht sozialadäquat ist es auch, wenn der Handelnde grundlegend über seine soziale Beziehung zum Betroffenen täuscht, wenn etwa jemand mit geschäftlichem oder beruflichem Interesse an den Daten online das Vertrauen des Betroffenen erwirkt, indem er ein rein privates Interesse vortäuscht.
III. Zusammenfassung Unter Privatsphäregesichtspunkten ist kein Schutz vor dem Abruf persönlicher Daten geboten. Der Abruf von Dritten veröffentlichter Daten kann den Betroffenen genauso wenig überwachen wie ihre Archivierung. Der Abruf vom Betroffenen selbst veröffentlichter Daten kann grundsätzlich einen Einschüchterungseffekt dahingehend haben, dass er nur Dinge preisgibt, die in keinem Kontext die Selbstdarstellung bedrohen können. Jedoch definiert er dadurch gerade seine öffentliche Selbstdarstellung. Er kann nicht zugleich einen Schutz vor der Kenntnisnahme der Daten verlangen. Entsprechendes gilt grundsätzlich unter Selbstdarstellungsgesichtspunkten. Zwar legt das entstehende Profil den Betroffen situationsübergreifend fest. Ein Schutz vor dem Abrufenden ist jedoch nicht geboten, da der Betroffene selbst entscheiden kann, ob, in welchem Umfang und mit welchem Inhalt er sich darstellt. Da er die Chancen der öffentlichen Selbstdarstellung nutzt, muss er auch die Risiken einer Kommunikation to whom it may concern tragen. Etwas anderes gilt nur, wenn aufgrund der Daten durch Algorithmen Prognosen gebildet werden. Die dadurch entstehenden Informationen kann der Betroffene weder absehen noch kontrollieren. Selbst eine Einwilligung in eine solche Auswertung ist nicht in allen Fällen möglich. Hat der Nutzer den Empfängerkreis auf von ihm ausgewählte Personen beschränkt, gilt hingegen der Schutz des Art. 10 GG. Welches Netzwerk mit welchem Öffentlichkeitsgrad jemand nutzt, kann und wird er selbst entscheiden. Daher muss diese Beschränkung aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht als default vorgesehen sein. Art. 25 Abs. 2 S. 3 DSGVO neigt demgegenüber zum Paternalismus. Wenn der Nutzer aber im privaten Rahmen kommuniziert, ist er vor Zugriffen nicht vom Empfängerkreis erfasster Personen geschützt, auch und insbesondere vor dem Betreiber, sofern er nicht in die Nutzung dieser Daten eingewilligt hat. Zudem umfasst das Recht auf Datenschutz einen Schutz vor einem durch Identitätstäuschung erschlichenen Zugriff auf die Daten. Anders als das Bundesverfassungsgericht es meint, ist das Vertrauen in die Identität eines Kommunikationspartners auch im Internet schutzwürdig.
U. Speicherung und Zusammenführung veröffentlichter Daten235
U. Speicherung und Zusammenführung veröffentlichter Daten Dritte können persönliche Daten nicht nur im Browser betrachten, sie können sie auch ihrerseits speichern. Das kann automatisiert oder von Hand erfolgen, es kann beliebige oder bestimmte Nutzer erfassen, es kann sich auf öffentliche Informationen beschränken oder auch nicht öffentliche erfassen, die der Speichernde vom Nutzer (als „Freund“) oder vom Betreiber (als dessen Kunde bzw. Geschäftspartner) erhalten hat. Die Datenbank kann ihrerseits öffentlich abrufbar oder nur für den Speichernden zugänglich sein. Die Speicherung kann von staatlichen Stellen oder von Privaten ausgehen.
I. Schutz vor Profilbildung Wenn Daten zu einem Profil einer bestimmten Person zusammengestellt und gespeichert werden, ist die Selbstdarstellungskomponente des Rechts auf Datenschutz betroffen.96 Voraussetzung ist, wie allgemein beim Schutz vor Profilbildung, dass Daten zu einer bestimmten Person als Dossier zusammengeführt sind oder dass die gespeicherten Daten so indexiert sind, dass bei der Eingabe des Namens einer bestimmten Person die über sie enthaltenen Daten zusammengestellt abrufbar werden.97 Daran fehlt es etwa, wenn die Informationen unter einem Pseudonym veröffentlicht wurden und noch mit einer realen Person verknüpft werden müssen. Ebenso kann es daran fehlen, wenn Informationen zu einem bestimmten Sachverhalt heruntergeladen werden, etwa zu einer Veranstaltung, zu der im sozialen Netzwerk eingeladen wird, oder die Beiträge in einer bestimmten Untergruppe oder zu einem bestimmten Thema gespeichert werden. Sofern dadurch nicht zugleich, etwa durch Verknüpfung mit weiteren Daten, Profile bestimmter Personen entstehen, ist der Schutz vor Profilbildung nicht betroffen. Eine Beeinträchtigung liegt allerdings vor, wenn solche an sich personenbeziehbaren Daten, die aber entweder pseudonymisiert oder verstreut sind, einem Profil zugeordnet werden. Viele Nutzer sozialer Netzwerke geben – sei es von den AGB erlaubt oder nicht – ein Pseudonym an, um ihre Auffindbarkeit zu erschweren. In der Regel bleiben sie aber durch die Bilder oder andere Informationen, die sie hochladen, oder aufgrund ihrer Freundesliste identifizierbar. Das wird in der Regel Informationen aus anderen Quellen erfordern und im Einzelfall mehr oder weniger aufwändig, aber selten ausge96 So zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung auch BVerfGE 120, 274 (345). 97 Siehe J. II. 2.
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5. Kap.: Folgerungen
schlossen sein. Durch eine solche Datenverarbeitung werden Daten, die zuvor zwar personenbeziehbar, aber noch nicht Teil eines Profils waren, einem solchen zugeordnet und können so auf die Selbstdarstellung des Betroffenen Einfluss nehmen. Dasselbe gilt für Daten, die an sich im Netzwerk verstreut sind und so nur auf die Selbstdarstellung Einfluss nehmen, wenn jemand mehr oder weniger zufällig auf sie trifft. Werden diese zu einem Dossier zusammengestellt oder indexiert, so werden sie ebenfalls für einen erleichterten Abruf nutzbar gemacht, sodass die Gefahr für die Selbstdarstellung besteht, der der Schutz vor Profilbildung entgegenwirken soll.
II. Schutz vor Überwachung Beim Herunterladen personenbeziehbarer Daten kann zudem der Schutz vor Überwachung im Rahmen des Rechts auf Datenschutz einschlägig sein. Da hier eine Personenbeziehbarkeit genügt,98 greift dieser Schutz auch, wenn die Daten noch nicht zusammengestellt und deanonymisiert sind, sofern das ohne unverhältnismäßigen Aufwand möglich ist. Die Frage ist jedoch, inwieweit eine Person durch die erneute Speicherung von Daten, die ja im sozialen Netzwerk bereits einmal öffentlich gespeichert sind, überwacht werden kann. In sozialen Netzwerken wird es in aller Regel die Möglichkeit des Nutzers geben, die Daten nach Belieben wieder zu löschen. Kein Betreiber wird seinen Nutzern zumuten, einmal unbedacht gespeicherte Daten nicht mehr „loswerden“ zu können – das gilt jedenfalls für die im Netzwerk sichtbaren Daten. Diese Kontrolle hat der Nutzer nicht mehr, wenn die Daten von Dritten gespeichert wurden. Die Frage, ob daraus eine persönlichkeitsrechtlich relevante Beeinträchtigung folgt, richtet sich nach den allgemeinen Regeln. Speichert der Dritte die Daten permanent, personenbezogenen und systematisch, so ist die Priatsphärekomponente des Rechts auf Datenschutz betroffen.99 1. Permanenz Damit die Speicherung eine Archivierung im Sinne des Rechts auf Datenschutz darstellt, muss sie also zunächst permanent sein. Eine technisch bedingte Zwischenspeicherung, die lediglich der Anzeige der Seite im Browser dient, ist danach keine Archivierung. Auch wenn die Seite eine begrenzte Zeit beim abrufenden Nutzer gespeichert bleibt und dann automatisch wieder gelöscht wird, fehlt es an der Permanenz der Speicherung. Entsprechend 98 Siehe 99 Siehe
K. II. 1. b). K. II. 1.
U. Speicherung und Zusammenführung veröffentlichter Daten237
dürften Fälle zu behandeln sein, in denen lediglich die ursprüngliche Speicherung nachgebildet werden soll. Dabei ist an Seiten wie Favstar100 zu denken, wo Beiträge aus Twitter („Tweets“) nach bestimmten Kriterien, insbesondere der Zahl ihrer Favorisierungen und Weiterleitungen („Retweets“) sortiert abrufbar sind. Sofern Tweets, die bei Twitter gelöscht wurden, auch innerhalb eines eng begrenzten Zeitraums automatisch bei Favstar verschwinden, ergibt sich die Speicherung schon aus der ursprünglichen Veröffentlichung. Sofern durch die Löschung im sozialen Netzwerk durch den betroffenen Nutzer auch automatisch eine Löschung beim Speichernden erfolgt, liegt keine Archivierung vor. Werden Daten hingegen durch Dritte unabhängig vom Bestand der Daten im sozialen Netzwerk permanent archiviert, ist eine Grundrechtsbeeinträchtigung denkbar. Der Betroffene kann grundsätzlich davon ausgehen, Informationen wieder löschen zu können, wenn er einen Beitrag bereut oder ihn als nicht mehr zu seiner Identität passend empfindet. Denn da die sozialen Netzwerke diese Möglichkeit in der Regel bieten werden, vertraut der Nutzer bei seiner Veröffentlichung auf diese Flüchtigkeit. Diese Möglichkeit entfällt, wenn die Daten dauerhaft gespeichert wurden. Das Wissen über die mögliche dauerhafte Verfügbarkeit der Informationen kann das Kommunikationsverhalten verändern und beeinträchtigen. Zwar hat der Betroffene selbst eine öffentliche Form der Kommunikation gewählt. Aber das ist beim Recht auf Datenschutz gerade kein Gesichtspunkt, an dem sich der Schutz bestimmt. So wie die Information über die Versammlungsteilnahme öffentlich, aber flüchtig ist, kann es auch das Handeln im sozialen Netzwerk sein. Auch dass der Betroffene die Informationen selbst verdatet hat und damit einer problemlosen Archivierung zugänglich gemacht hat, ist kein Grund, den Schutz entfallen zu lassen. Denn sich auf diese Weise einer Öffentlichkeit zu präsentieren, ist eine Form der Persönlichkeitsentfaltung. Deren Schutz würde entfallen, wenn die Archivierung eine zwangsläufige Folge des Handelns wäre. Man kann zwar keine öffentlichen Informationen produzieren und zugleich verlangen, dass sie nicht zur Kenntnis genommen werden.101 Ebenso wenig kann man permanente Daten produzieren und verlangen, dass sie nicht permanent gespeichert werden.102 Aber aus Sicht des Nutzers ist die Speicherung, wie dargelegt, nicht zwingend permanent. Erst dadurch, dass ein Dritter die Daten so archiviert, dass der Betroffene sie nicht mehr löschen kann, werden sie der Kontrolle des Betroffenen entzogen. Diese Archivierung ermöglicht erst die Beobachtung jenseits der Kontrolle des Betroffenen, 100 http://de.favstar.fm. 101 Siehe 102 Siehe
P. I. 2. c) aa). T. I. 1.
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5. Kap.: Folgerungen
vor der die Privatsphärekomponente des Rechts auf Datenschutz schützt. Ein Dritter kann so über einen längeren Zeitraum beobachten, welche Daten veröffentlicht sind, aus Veränderungen Schlüsse ziehen und längst gelöschte Informationen nach Belieben wieder „ausgraben“. 2. Personenbezug Ob der Betroffene bestimmbar ist, ist eine Frage des Einzelfalls. Angesichts der Möglichkeiten, ihn anhand weiterer öffentlicher Informationen aus dem Netzwerk oder andere Zusatzinformationen zu identifizieren, ist regelmäßig von einem hinreichenden Personenbezug auszugehen.103 3. Systematik Nach den allgemeinen Regeln setzt die Grundrechtsbeeinträchtigung weiterhin voraus, dass die Archivierung systematisch erfolgt und damit das Verhalten des Betroffenen einer Beobachtung zugänglich macht.104 Dabei ist wiederum klarzustellen, um welches Verhalten es geht. Informationen über das Verhalten eines Nutzers im physisch-realen Leben sind ohnehin nicht systematisch in sozialen Netzwerken verfügbar. Vielmehr veröffentlichen der Betroffene selbst oder Dritte punktuelle Informationen, die zwar Aufschluss über das Verhalten des Betroffenen geben können, aber nicht die Möglichkeiten der Beobachtung des Verhaltens selbst erweitern. Spielt A mit B Schach, so wird dieses Schachspiel nicht Gegenstand einer Überwachung, wenn B davon im sozialen Netzwerk berichtet. B ist kein „Überwacher“, sondern selbst Interaktionspartner. Wer mit Dritten interagiert, ist selbst dafür verantwortlich, welche Informationen sein Verhalten produziert. Was der Dritte mit den so gewonnenen Informationen macht, obliegt grundsätzlich seiner Entfaltungsfreiheit. Auch die Speicherung dieser Informationen in sozialen Netzwerken ist Teil des freien Informationsdiskurses. Sofern Informationen nicht private Themen betreffen, falsche Tatsachenangaben enthalten oder die Selbstdarstellung des Betroffenen beeinträchtigen, muss der Betroffene mit ihrer Speicherung leben.105 Dasselbe gilt, wenn C den Beitrag des B „herunterlädt“. Das Verhalten des A – das Schachspiel – wird hierdurch auch und erst recht nicht überwacht. Anders ist es aber, wenn A selbst im sozialen Netzwerk über das Schachspiel berichtet. Speichert C diesen Beitrag, kann er aus dem Inhalt des Bei103 Vgl.
schon R. I. K. II. 1. c). 105 Siehe R. I. 104 Siehe
U. Speicherung und Zusammenführung veröffentlichter Daten239
trags – dem Bericht über das Schachspiel – keine Informationen ziehen, die A nicht erwarten konnte. Was aber durch eine erneute Speicherung überwacht wird, ist das Verhalten eines Nutzers im sozialen Netzwerk selbst. Die Auswahl der Themen seiner Beiträge lässt in ihrer Gesamtschau Rückschlüsse auf die Identität zu, die der Veröffentlichende gern entwickeln möchte. Aus der sprachlichen Formulierung lassen sich Schlüsse über seine Persönlichkeit und seinen Bildungsstand ziehen. Selbst die Uhrzeit der Veröffentlichungen kann von seinem Tagesrhythmus zeugen. Es handelt sich um Metainformationen, die nicht das Verhalten in der physisch-realen Welt, sondern das Verhalten im sozialen Netzwerk betreffen. Sie werden dem Nutzer beim Veröffentlichen kaum vollständig bewusst sein, ein Abrufender kann sie aber gleichwohl als unmittelbarer Beobachter dieses Verhaltens erlangen. Ein einmaliges oder gelegentliches Herunterladen einzelner Daten führt dabei nicht zu einer Verhaltensbeobachtung; eine solche liegt vielmehr erst dann vor, wenn nach einem bestimmten System ausgewählte Daten generell gespeichert werden. Bei einer automatisierten Archivierung wird diese Voraussetzung immer vorliegen, da das automatisch speichernde Programm abstrakt vorgegebenen Kriterien folgen muss. Aber auch bei einer händischen Speicherung ist das denkbar, wenn etwa die von einem bestimmten Personenkreis veröffentlichten Daten regelmäßig heruntergeladen werden, um sie trotz späterer Löschung im sozialen Netzwerk selbst verfügbar zu halten.
III. Einwilligung des Betroffenen Die größte praktische Bedeutung hat das Thema einer fortdauernden Speicherung vom Nutzer „gelöschter“ Daten im Verhältnis zwischen dem Nutzer und dem Betreiber der Plattform. Letzterer verfügt ohnehin über die im sozialen Netzwerk veröffentlichten Daten. Er kann sie ohne Weiteres archivieren, indem er sie trotz „Löschung“ aus dem sichtbaren Netzwerk weiter gespeichert hält. Je nach genauer Ausgestaltung kann eine Einwilligung in eine solche dauerhafte Speicherung eine ganz erhebliche Reichweite haben. Für einige Menschen spielt sich ein Großteil der Kommunikation in sozialen Netzwerken ab. Dazu gehört auch grundrechtlich besonders geschützte Kommunikation wie Meinungsäußerungen und religiöse Bekenntnisse. Das Wissen darüber, dass solche Kommunikation dauerhaft gespeichert bleibt, ohne dass man noch die Kontrolle darüber hat, kann auf Dauer zu einem internalisierten Einschüchterungseffekt führen, aufgrund dessen nur noch Informa tionen veröffentlicht werden, die nicht nur über soziale Zusammenhänge, sondern auch über Zeiträume hinweg als „allgemeinverträglich“ angesehen werden. Unter Selbstdarstellungsgesichtspunkten ist zu beachten, dass hier-
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5. Kap.: Folgerungen
durch ein unüberschaubares Profil entstehen kann. Selbst die Information darüber, dass, wann und welche Informationen gelöscht wurden, hat eine erhebliche Aussagekraft über die (gewünschte) Identität des Betroffenen. Daneben ist die prekäre Freiwilligkeit einer solchen Einwilligung zu berücksichtigen. Muss der Betroffene die Einwilligung erteilen, um sich beim sozialen Netzwerk anmelden zu können, entsteht ein Druck auf seine Entscheidungsfreiheit, die sein Handeln nicht vollständig autonom entscheiden lässt. Nach den oben dargelegten Grundsätzen kann die Kombination aus erheblicher Reichweite einer Einwilligung und einer systematischen Unterlegenheit dazu führen, dass der Verzicht nicht von der Rechtsordnung anerkannt werden kann.106 Auf Grundlage der DSGVO kann schon die Koppelung zwischen Vertragsschluss und Einwilligung Letztere nach Art. 7 Abs. 4 DSGVO unzulässig machen. Anders als bei der Nutzung nicht öffentlicher Daten107 wird es sich auch kaum vertreten lassen, dass die weitere Speicherung der Daten nach ihrer „Löschung“ durch den Nutzer für die Erfüllung des Vertrages erforderlich ist. Die Einwilligung muss daher auf ein Maß beschränkt werden, das den Schutz vor einer Totalüberwachung und vor einem menschenwürderelevanten Persönlichkeitsprofil berücksichtigt.108 Eine Pauschaleinwilligung in die dauerhafte Speicherung aller oder nicht näher definierter Daten überschreitet, jedenfalls wenn sie zur Bedingung für den Vertragsschluss gemacht wird, die materiellen Grenzen eines Grundrechtsverzichts. Muss der Betroffene damit rechnen, dass alle Daten, die er eingibt, trotz augenscheinlicher Löschung dauerhaft verfügbar bleiben können, kann er vernünftigerweise nur Äußerungen tätigen, die sich auch auf Dauer in seine Selbstdarstellung integrieren lassen. Kontroverse Äußerungen im Grenzbereich der Verhaltenserwartungen werden so in einem Maße ausgeschlossen, das sich nicht mit der Bedeutung der sozialen Medien für den Meinungsdiskurs vereinbaren lässt.
IV. Zusammenfassung Ob die erneute Speicherung und Zusammenführung bereits im sozialen Netzwerk gespeicherter Daten das Recht auf Datenschutz berührt, richtet sich nach den allgemeinen Regeln. Sobald persönliche Daten als ein zusammengestelltes oder indexiertes Profil einer identifizierten Person gespeichert werden, ist die Selbstdarstellungskomponente betroffen. Auch ohne das kann die Privatsphärekomponente betroffen sein, wenn Daten, die der Betroffene 106 Siehe
Q. II. 2. R. II. 3. 108 Siehe Q. II. 3. 107 Dazu
W. Ausblick: Die Folgen der Google-Entscheidung des EuGH241
veröffentlicht hat, permanent, also unabhängig von der Verfügbarkeit im sozialen Netzwerk, personenbezogen im Sinne einer Bestimmbarkeit und systematisch gespeichert werden. Denn damit kann sein Verhalten im sozialen Netzwerk beobachtet werden und es können Schlüsse gezogen werden, die sich allein aus den gegenwärtig vorhandenen Daten nicht ergeben. Eine Einwilligung in eine solche dauerhafte Speicherung kann angesichts der großen Reichweite und der prekären Freiwilligkeit nicht wirksam im Sinne einer Generaleinwilligung erteilt werden, sondern muss in angemessener Weise beschränkt sein.
W. Ausblick: Die Folgen der Google-Entscheidung des EuGH Die „Google-Entscheidung“ des Europäischen Gerichtshofs vom 13.05.2014109 hat zu Recht große Wellen geschlagen. Sie betrifft mit den Suchmaschinen ein grundlegendes Element des Internet. Sie deutet an, wie der Europäische Gerichtshof auch die DSGVO auslegen wird. Nicht zuletzt enthält sie ein „Recht auf Vergessen“, das das Datenschutzrecht der Zukunft mehr prägen dürfte als das entsprechende Recht aus der DSGVO. Was die Aussagen der Entscheidung für konkrete datenschutzrechtliche Fragen bedeuten, müssen der rechtswissenschaftliche Diskurs und die weitere Rechtsprechung zeigen. Die möglichen Folgen für das Datenschutzrecht im Allgemeinen ‒ vor allem, aber nicht nur im Internet ‒ sollen jedoch im Folgenden ausblicksweise skizziert werden.
I. Die Zukunft der Suchmaschinen 1. Die besondere persönlichkeitsrechtliche Problematik der Suchmaschinen Der Europäische Gerichtshof hat die Fragen, ob die Tätigkeit von Suchmaschinen, sofern die Informationen personenbezogene Daten enthalten, als „Verarbeitung personenbezogener Daten“ im Sinne der Richtlinie 95 / 46 / EG einzustufen ist, und ob der Betreiber dafür verantwortlich ist, mit allem Nachdruck bejaht. Zu Recht geht der Gerichtshof davon aus, dass die Indexierung einer Seite mit persönlichen Informationen durch eine Suchmaschine einen stärkeren Eingriff in das Grundrecht auf Achtung des Privatlebens der 109 EuGH, Urteil vom 13.05.2014 – Rs. C‑131/12, Google Spain und Google/ AEPD und Costeja González, abrufbar im Internet: http://curia.europa.eu (Stand: 23.01.2017).
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5. Kap.: Folgerungen
betroffenen Person darstellen kann als die Veröffentlichung durch den Herausgeber der Internetseite.110 Denn erstens wird die Seite dadurch jedem Internetnutzer zugänglich, der eine Suche anhand des Namens der betreffenden Person durchführt, und zwar auch denjenigen, die die Internetseite, auf der diese Daten veröffentlicht sind, sonst nicht gefunden hätten. Das beeinflusst die Reichweite einer Veröffentlichung und damit die Folgen der Verarbeitung für das Privatleben.111 Hier handelt es sich um eine Problematik, die nicht aus der Verdatung, sondern aus der Öffentlichkeit der Informationen entsteht. Je mehr Personen die Information zur Kenntnis nehmen, desto größer ist der Einfluss auf die Selbstdarstellung. Das hängt aber nicht mit der dauerhaften Verfügbarkeit oder der Aggregation zusammen, sondern mit ihrer Reichweite. Rechtlich gehört diese Problematik daher nicht zum Recht auf Datenschutz, sondern zum klassischen Recht der Selbstdarstellung. Hier sind bei der Abwägung zwischen dem Recht der Selbstdarstellung und den für eine Veröffentlichung streitenden Interessen die voraussichtlichen Folgen für die Selbstdarstellung zu berücksichtigen. Dabei spielen auch ganz praktische Erwägungen wie der realistischerweise zu erwartende Empfängerkreis der Informationen eine Rolle.112 Daher ist der Suchmaschinen-Anbieter für den Eingriff mitverantwortlich. Scheinbar ist dieser der falsche Adressat für Maßnahmen zum Schutz der Selbstdarstellung. Denn die Veröffentlichung wird durch den Betreiber der Seite, auf der sich die Informationen befinden, und nicht durch den Suchmaschinen-Anbieter herbeigeführt. Die Indexierung und die damit bewirkte erleichterte Zugänglichkeit der Daten verstärkt aber die Wirkungen der Veröffentlichung auf die Selbstdarstellung erheblich. Daher kann es sein, dass zwar die Veröffentlichung einer Information nach der Abwägung widerstreitender Interessen hinzunehmen ist, aber nicht ihre Indexierung durch eine Suchmaschine. Zweitens kann die Aggregation der Informationen dazu führen, dass ein strukturierter Überblick über die zu der betreffenden Personen im Internet zu findenden Informationen entsteht, anhand derer die Nutzer der Suchmaschine ein mehr oder weniger detailliertes Profil der Person erstellen können.113 Die Eingabe eines Namens in das Suchfeld wirft alle indexierten Seiten aus, auf 110 EuGH, Rs. C‑131/12, Google Spain und Google/AEPD und Costeja González, Rn. 87. 111 EuGH, Rs. C‑131/12, Google Spain und Google/AEPD und Costeja González, Rn. 86 f. 112 Siehe S. I. 1. 113 EuGH, Rs. C‑131/12, Google Spain und Google/AEPD und Costeja González, Rn. 36 f.
W. Ausblick: Die Folgen der Google-Entscheidung des EuGH243
denen der Name erscheint. Der Suchmaschinenanbieter speichert damit zwar nicht die Informationen, er sorgt aber dafür, dass die verstreuten Informationen in Form eines strukturierten Profils abrufbar werden. Zwar muss der Nutzer der Suchmaschine etwa bei Namensgleichheiten weiter sortieren, um Informationen über eine bestimmte Person zu bekommen, aber es wird ihm erheblich erleichtert und in vielen Fällen erst möglich gemacht, die Informationen zu bekommen. Das steigert nicht nur die Öffentlichkeit der einzelnen Informationen, sondern führt auch zu einem unüberschaubaren Profil aus selbst und von Dritten veröffentlichten, alten und neuen sowie richtigen und falschen bzw. irreführenden Informationen. Das ist die typische Problematik des Schutzes vor Profilbildung im Rahmen des Rechts auf Datenschutz. Gerade in Suchmaschinen kann das entstehende Persönlichkeitsbild stark verzerrend sein. Algorithmen entscheiden, in welcher Reihenfolge die Ergebnisse aufgelistet werden. Bei Google etwa werden dabei auch die vorhergehenden Suchen des Abrufenden berücksichtigt. Damit entsteht ein Profil, dass den (vermeintlichen) Interessen und Erwartungen des Abrufenden gerecht wird. Dieser kann auch ganz gezielt bestimmte Aspekte des Profils abrufen, indem er den Namen durch weitere Suchbegriffe ergänzt. Damit kann er gezielt stigmatisierende Informationen herausfiltern, indem er den Namen in Verbindung mit Wörtern wie „Insolvenz“, „Prostitution“ oder „Drogen“ sucht. Auf das so entstehende Profil hat der Betroffene keinerlei Einfluss mehr. Die Tendenz der Suchmaschinen dazu, ihren Nutzern die gewünschten Informationen zu bieten, führt vielmehr dazu, dass sich das Profil immer weiter „verselbstständigen“ kann. Durch die Autocomplete-Funktion von Google werden dem Nutzer bei der Eingabe ähnliche Suchen anderer Nutzer angeboten. So können Wörter wie „Betrug“ oder „Prostitution“ etwa schon bei der Eingabe eines bestimmten Namens als Ergänzung vorgeschlagen werden.114 Was also Nutzer typischerweise suchen, aufrufen und verlinken, wird wesentlicher Teil des Profils. Aspekte der Selbstdarstellung werden nicht deswegen in das Zentrum gerückt, weil sie eine zentrale Rolle in Persönlichkeit und Verhalten des Betroffenen spielen, sondern weil Dritte das so wahrgenommen haben. Diese Tendenz gibt es freilich auch in der „nicht-verdateten“ Welt, auch hier kann die Kommunikation über eine bestimmte Person sich immer weiter von deren Verhalten entfernen. Die Algorithmen der Suchmaschinen verfestigen diese Tendenzen aber noch weiter und machen das abrufbare Profil vollkommen unkontrollierbar für den Betroffenen.
114 Dazu
BGHZ 197, 213 ff.
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5. Kap.: Folgerungen
2. Die Abwägung des EuGH Bemerkenswerter als die Entscheidung, dass die Tätigkeit von Suchmaschinenanbietern anhand der Datenschutzrichtlinie zu messen ist, ist die Interessenabwägung, die der Europäische Gerichtshof dabei vornimmt. Er setzt das wirtschaftliche Interesse der Suchmaschinenanbieter und das Informationsinteresse ihrer Nutzer einerseits ins Verhältnis zu den Privatsphäreinteressen des Betroffenen andererseits. Danach „überwiegen die durch diese Artikel“, gemeint sind Art. 7 und 8 der Grundrechtecharta, „geschützten Rechte der betroffenen Person im Allgemeinen gegenüber dem Interesse der Internetnutzer“; „in besonders gelagerten Fällen“ könne der Ausgleich aber von der Art der betreffenden Information, von deren Sensibilität für das Privatleben der betroffenen Person und vom Interesse der Öffentlichkeit am Zugang zu der Information abhängen.115 Zu Ende gedacht bedeutet das Urteil des Europäischen Gerichtshofs faktisch das Ende einer Suche nach Privatpersonen über Suchmaschinen. Praktisch spürbare Folge ist bisher nur, dass Suchmaschinenanbieter bestimmte Einträge auf Verlangen der betroffenen Person unauffindbar machen. Das liegt aber nur am datenschutztypischen Durchsetzungsdefizit. Denn die Position des Europäischen Gerichtshofs ist nicht auf besondere Situationen eines Betroffenen nach Art. 14 lit. a der Richtlinie 95 / 46 / EG beschränkt, sondern stellt ein Abwägungsergebnis für alle Fälle der Indexierung dar. Das bedeutet, dass die Indexierung regelmäßig nicht aufgrund der Abwägungsgeneralklausel des Art. 7 lit. f der Richtlinie 95 / 46 / EG, anhand derer der Gerichtshof die Verarbeitung prüft,116 zulässig ist. Weitere Erlaubnistatbestände kommen nicht in Betracht, sodass die Verarbeitung regelmäßig unzulässig ist. Die Position des Europäischen Gerichtshofs ist weitgehend ‒ um den Begriff „radikal“ zu vermeiden ‒, aber sie ist richtig. Denn erst die Suchmaschinen machen den Kommunikationsraum Internet zu einer Datenbank, die Profile persönlicher Daten enthält. Sind Daten in einem großen Netzwerk wie Facebook zusammengestellt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie dort gesucht und gefunden werden, vergleichsweise groß. Daten etwa in einem kleinen, themenspezifischen sozialen Netzwerk würden aber regelmäßig rein praktisch nicht gefunden werden, auch wenn sie dort über den Namen des Betroffenen abrufbar sind. Durch die Suchmaschinenindexierung aber werden sie nicht nur ganz praktisch für jedermann auffindbar, sie werden auch Teil eines riesigen Profils. Dieses Profil enthält eine unter Umständen riesige, 115 EuGH, Rs. C‑131/12, Google Spain und Google/AEPD und Costeja González, Rn. 81. 116 EuGH, Rs. C‑131/12, Google Spain und Google/AEPD und Costeja González, Rn. 74.
W. Ausblick: Die Folgen der Google-Entscheidung des EuGH245
von niemandem kontrollierte und frei zugängliche Ansammlung von Informationen. Die Selbstdarstellung kann durch eine Google-Anfrage ersetzt werden. Da weder das Profil noch seine Verwendung begrenzt und gesteuert werden, können nicht einmal Datenverarbeitungen verhindert werden, die den Menschenwürdekern des Rechts auf Datenschutz117 berühren. Die Informationsfreiheit der Internetnutzer bleibt trotz der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ebenso berücksichtigt wie die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit der Suchmaschinenanbieter. Denn es geht nicht um das Ende des Suchmaschinenwesens schlechthin. Das Internet bleibt eine Datenbank für nützliche und weniger nützliche Informationen, die natürlich mit Hilfe von Suchmaschinen aufbereitet werden können. Auch die gezielte Suche nach persönlichen Informationen ermöglicht der Europäische Gerichtshof, insbesondere nach dem Grad des Interesses der Öffentlichkeit am Informationszugang. Insofern bleibt die Beschränkung der Informationsfreiheit immer noch in einem sehr begrenzten Rahmen, insbesondere wenn es um die Information über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse geht. Ein durchgreifendes berechtigtes Interesse daran, sich über jedermann über Suchmaschinen informieren zu können, gibt es angesichts des Rechts auf Datenschutz allerdings nicht.
II. Die Regelung multipolarer Datenverarbeitungskonstellationen Ein zentrales Problem bei der Beurteilung der Datenverarbeitung im Social Web ist, dass es keine einfache Dualität zwischen Datenverarbeiter und Betroffenem gibt, sondern das verschiedene Akteure, einschließlich des Betroffenen selbst, bei der Steuerung der Datenverarbeitung beteiligt sind. Ein Nutzer veröffentlicht Informationen in einem sozialen Netzwerk, ein weiterer ruft sie ab und gleichsam dazwischen steht der Betreiber, der beides technisch ermöglicht und die Rahmenbedingungen dafür vorgibt. Zugleich kann die Addition der einzelnen Beiträge, jedenfalls wenn ein Profil des Betroffenen abrufbar wird, zu einer Persönlichkeitsbeeinträchtigung des Betroffenen führen. Beim Abruf von Informationen über Suchmaschinen kommt der Betreiber der Suchmaschine als vierter Akteur ins Spiel. Das wirft mit noch viel größerem Nachdruck die Frage der jeweiligen Verantwortlichkeiten auf. Wer persönliche Informationen im Internet veröffentlicht, kann und muss wissen, dass sie von Suchmaschinen indexiert und so Teil eines umfassenden Profils des Betroffenen werden können. Daher könnte die Möglichkeit der Profilbildung schon bei der Beurteilung der Veröffentlichung berücksichtigt 117 Dazu
Q. II. 3. b).
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5. Kap.: Folgerungen
werden. Andererseits kann der Veröffentlichende die Indexierung je nach den Vorgaben des Webseitenbetreibers gar nicht steuern. Erst recht hat er keinen Einfluss darauf, mit welchen anderen Informationen zusammen sein Beitrag abrufbar wird, wie der Suchmaschinenbetreiber die Bedingungen für den Abruf gestaltet und wer die Informationen mit welcher Zwecksetzung abruft. Die Persönlichkeitsentfaltung durch Kommunikation im Internet wäre erheblich beeinträchtigt, wenn dem Kommunizierenden faktisch ein Profil zugerechnet würde, das er nicht in der Hand hat und zu dem er eventuell nur einen kleinen Beitrag leistet. Auch einer Veröffentlichung durch den Betroffenen selbst bereits die Einwilligung in die Suchmaschinenindexierung zu entnehmen, scheitert an der fehlenden Steuerbarkeit dieser Indexierung. Der Betreiber einer Internetseite kann aber in den Quellcode in einer „robots.txt“-Datei einen Befehl für die „Crawler“, die Programme, die Webseiten für Suchmaschinenanbieter durchsuchen, aufnehmen, die Indexierung zu unterlassen. Dieser Befehl ist nicht verbindlich, wird aber von den großen Suchmaschinenanbietern anerkannt.118 Hierdurch kann der Betreiber der Seite praktisch Einfluss auf die Indexierung nehmen. Dafür, ihn auch rechtlich in die Verantwortung zu nehmen, spricht, dass er im Gegensatz zum automatisierten „Crawler“ der Suchmaschinen beurteilen kann, ob die Informationen durch den Betroffenen, mit seiner Einwilligung oder gerechtfertigterweise durch einen Dritten veröffentlicht wurden. Andererseits hat er keinen Einfluss, ob der Suchmaschinenbetreiber die ausgeschlossene Seite tatsächlich außen vor lässt und was für eine Suche er ermöglicht. Der Abruf eines Persönlichkeitsprofils ist nur möglich, wenn ein Nutzer einen Namen eingeben und die diese Person betreffenden Informationen erhalten kann. Ob das möglich ist oder ob Namen als Suchbegriffe ausgeschlossen werden, kann allein der Suchmaschinenbetreiber steuern. Der Suchmaschinenanbieter schafft die Bedingungen für den Abruf und hat die Profilbildung vollständig in seiner Hand. Allerdings kann er nicht die Richtigkeit der Informationen und die Rechtmäßigkeit der Veröffentlichung beurteilen. Auch kennt er nicht die Motive seiner Nutzer, die einen Einfluss auf den Informationsgehalt der auffindbaren Daten haben. Der Nutzer wiederum kann nicht gleichsam im Nachhinein „aussortieren“, welche Informationen er nie hätte erhalten dürfen, denn in diesem Stadium ist er bereits informiert. Er muss sich auf den Betreiber verlassen können, dass dieser ihm ein rechtmäßiges Profil zur Verfügung stellt. Andererseits ist er es, der letztlich durch seine Suchanfrage aktiv dafür sorgt, dass aus den nicht zusammengestellten, aber indexierten Daten ein Profil dieser Person sichtbar wird, das den Informationsinteressen des Abrufenden vermeintlich am nächsten kommt. 118 Vgl. die Informationen bei Google, abrufbar im Internet: https://support.google. com/webmasters/answer/6062608?hl=de (abgerufen am: 01.05.2018).
W. Ausblick: Die Folgen der Google-Entscheidung des EuGH247
In diesem Prozess aus Veröffentlichung, Indexierung und Abruf ergänzen sich alle Beteiligten. Ohne Veröffentlichung gäbe es nichts zu indexieren und abzurufen, ohne Indexierung und Abruf hätte die Veröffentlichung einen viel geringeren Wirkungsgrad. Es handelt sich um eine multipolare Entfaltungskonstellation, bei denen das Zusammenwirken allen Beteiligten in verschiedener Weise persönliche oder wirtschaftliche Entfaltung ermöglicht.119 Zugleich kann am Ende des Prozesses eine womöglich erhebliche Persönlichkeitsbeeinträchtigung des Betroffenen stehen. Nicht jede Profilbildung verletzt die Menschenwürde.120 Je nach Inhalt und Umfang des Profils und der Verwendung der abgerufenen Informationen kann die Datenverarbeitung in sozialen Netzwerken aber im Einzelfall diese Grenze der absoluten Unzulässigkeit überschreiten oder ihr nahekommen. Was des einen gemeinschaftliche Entfaltung ist, ist des anderen gemeinschaftliche Beeinträchtigung. Bei der Beurteilung der einzelnen Beiträge zu diesem Prozess gilt es daher einen Weg zu finden, der allen Beteiligten ihre Entfaltung ermöglicht und zugleich sicherstellt, dass der Betroffene nicht in einer Weise in seiner Selbstdarstellung beeinträchtigt wird, die nicht durch überwiegende Interessen der anderen Beteiligten zu rechtfertigen ist. Man kann dabei weder jeden Beitrag isoliert beurteilen, da das die Beeinträchtigung, die aus dem Prozess als Ganzem folgt, außer Acht ließe. Man kann auch nicht jedem Beteiligten den gesamten Prozess zurechnen, da das die jeweilige Entfaltungsmöglichkeit aufgrund von Gesichtspunkten, die der Akteur nicht in der Hand hat, ganz erheblich beeinträchtigen würde. Diesen Weg zu finden, ist Aufgabe des (ggf. europäischen) Gesetzgebers. Der Gesetzgeber hat eine Schutzpflicht für das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Betroffenen. Wie er sie ausübt, liegt in seinem Ermessen.121 In einer multipolaren Konstellation wie dieser gehört dazu auch, die Verantwortlichkeiten der Betroffenen zu bestimmen. Derzeit liegt die Verantwortung aufgrund der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs faktisch bei den Suchmaschinenbetreibern und den Betroffenen, die zur Löschung von Einträgen selbst aktiv werden müssen. Damit sind derjenige, um dessen Schutz es geht, und derjenige, der die Datenverarbeitung technisch in der Hand hat, beteiligt. Das ist sicherlich eine plausible Lösung für die persönlichkeitsrechtlichen Herausforderungen, die durch Suchmaschinen entstehen. Inwieweit insbesondere die Datenverarbeitungen der Veröffentlichenden auf der einen Seite und der Suchmaschinennutzer auf der anderen Seite vor diesem Hintergrund noch rechtfertigungsbedürftig sind, ist damit aber nicht geklärt. Wenn der Europäische Gerichtshof aber demnächst über eine solche Verarbeitung zu entschei119 Vgl.
D. III. J. I. 4. 121 Isensee, in: HStR IX, § 191 Rn. 293. 120 Siehe
248
5. Kap.: Folgerungen
den hat, kann sich die Sichtweise auf den Prozess auch wieder verändern. Hier wäre es am Gesetzgeber, Rechtsklarheit zu schaffen, damit alle Beteiligten wissen, an welchen Maßstäben sie sich zu orientieren haben.
III. Die Pflicht zum Vergessen Insbesondere in der medialen Rezeption des Urteils stand das „Recht auf Vergessen“ im Vordergrund, das dem Urteil entnommen wurde.122 Tatsächlich statuierte der Gerichtshof kein neues Recht, sondern wandte nur die bestehenden Normen präzise auf den Sachverhalt an. Dennoch kann die Entscheidung weit über Suchmaschinen hinaus wegweisend sein, wenn es um die konkrete rechtliche Beurteilung von Profilen bestimmter Personen geht. Gerade bei der Beurteilung einer Profilbildung sind die grundrechtlichen Vorgaben sehr vage. Weder ergeben sich daraus konkrete Anhaltspunkte, wann ein Profil zu umfassend wird und welche Daten dann zu löschen sind, noch lässt sich die beschriebene Gefahr eines Zerrbildes der Persönlichkeit in konkrete Vorgaben für Datenverarbeitungen ummünzen. Hier zeigt das Google-Urteil des Europäischen Gerichtshofs einen interessanten Ansatz auf. Es greift den Gedanken auf, dass die dauerhafte Speicherung von Daten dauerhaft gerechtfertigt werden muss.123 Dies hat interessante Folgen, wenn die Rechtfertigung auf einer Abwägung kollidierender Rechte beruht. Denn die Gewichte können sich mit der Zeit verschieben. Je älter eine Information ist, desto weniger lässt sie sich der gegenwärtigen Selbstdarstellung des Betroffenen zuordnen, desto höher ist damit die Gefahr, ihn falsch darzustellen. Daher ist die Selbstdarstellung mit der Zeit immer intensiver beeinträchtigt, wenn der Datenverarbeiter diese Information aus einer Datenbank zieht, wo sie gleichberechtigt neben anderen, aktuelleren Informationen steht. Diese Erkenntnis hilft bei der Beantwortung der Frage, welche Informationen nicht mehr vorgehalten und abgerufen werden sollten, weil sie zu einem unverhältnismäßig umfangreichen oder einem verzerrenden Profil führen: Es sind insbesondere alte Informationen über lange zurück liegende Handlungen. Das ist sicherlich nicht die einzige Antwort auf die Frage, aber es ist ein wichtiger Anhaltspunkt. Theoretisch könnte dem mit Hilfe einer ständig neuen Abwägung zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Betroffenen und den gegenläufigen Interessen Rechnung getragen werden, bei der das Pendel irgendwann 122 Vgl. etwa Armbruster/Neuscheler, Frankfurter Allgemeine, online veröffentlicht am: 13.05.2014. 123 EuGH, Urteil vom 13.05.2014 – Rs. C‑131/12, Google Spain und Google/ AEPD und Costeja González, abrufbar im Internet: http://curia.europa.eu (Stand: 23.01.2017), Rn. 95.
W. Ausblick: Die Folgen der Google-Entscheidung des EuGH249
zugunsten des Betroffenen ausschlägt. Es wäre allerdings offensichtlich nicht praktikabel, wenn Datenverarbeiter für jedes gespeicherte Datum ständig eine neue Abwägung anstellen müssten. Zu bedenken ist daher eine objektive Pflicht des Archivierenden, die Daten nach einer festgelegten Zeit zu löschen, wenn nicht besondere Gründe ihre weitere Aufbewahrung erforderlich machen, ohne dass der Betroffene dies geltend machen muss. So gibt es bei der Speicherung zum Zwecke der Übermittlung nach § 35 Abs. 2 S. 2 Nr. 4 BDSG 2009 eine Pflicht, nach drei bzw. vier Jahren die Löschung zu prüfen, die dann allerdings nur geboten ist, wenn eine längerwährende Speicherung nicht erforderlich ist. Auch dies greift zu kurz. Geht es etwa um personalisierte Werbung, kann grundsätzlich jedes Datum erforderlich sein. Es muss darum gehen, die Angemessenheit zu wahren, indem Daten grundsätzlich nach einer gewissen Zeit dem Vergessen anheim gegeben werden und so die Profile begrenzt werden. Diese Funktion erfüllt das „Recht auf Vergessenwerden“ nach Art. 17 Abs. 1 DSGVO nicht. Das Recht gilt neben dem Fortfall des Zwecks oder der Einwilligung (lit. a, b) und dem selbstverständlichen Recht auf Löschung unerlaubt gespeicherter Daten (lit. d, e) nur für Löschungen auf Initiative des Betroffenen bei besonderen Gründen (Art. 17 Abs. 1 lit. c, 1. Alt. i. V. m. Art. 21 Abs. 1 DSGVO), bei der – anscheinend besonders privatsphärebedrohenden124 – Direktwerbung (Art. 17 Abs. 1 lit. c, 2. Alt. i. V. m. Art. 21 Abs. 2 DSGVO) und bei an Kindern gerichteten Diensten der Informationsgesellschaft (Art. 17 Abs. 1 lit. f i. V. m. Art. 8 Abs. 1 DSGVO). Sofern nicht die Rechtsgrundlage für die Speicherung weggefallen ist, wird der Betroffene nicht einfach vergessen, er hat dem Datenverarbeiter gleichsam das Erinnern zu verbieten. In der Regel kann der Betroffene aber selbst gar nicht den Überblick haben, wo Daten über ihn gespeichert sind, um selbst den in Art. 21 DSGVO vorgesehenen Widerspruch gegen die Datenverarbeitung einzulegen. Liegt der Datenschutz daher nur in seinen Händen, greift diese Form informationeller Selbstbestimmung zum Schutz der freien Persönlichkeitsentfaltung wiederum zu kurz.125 Die Lösung wäre, die Löschung von einem Tätigwerden des Betroffenen abzukoppeln und statt eines Rechts auf Löschen eine objektiv-rechtliche Pflicht zu statuieren. De lege ferenda könnte der (europäische) Gesetzgeber ähnlich wie in § 35 Abs. 2 S. 2 Nr. 4 BDSG 2009 eine Frist definieren, nach der Daten dann aber grundsätzlich zu löschen sind, es sei denn, ihre Speicherung ist weiter erforderlich und auch unter Berücksichtigung des Alters der Information noch von einem hinreichend gewichtigen berechtigten Interesse gedeckt. 124 Zur
Kritik an dieser Sichtweise bereits J. I. 3. bereits B. II. 1.
125 Siehe
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5. Kap.: Folgerungen
Zugleich könnte so eine zeitliche Begrenzung auch den Einschüchterungseffekt auf das Verhalten und damit das Gewicht des Eingriffs in die Privatsphärekomponente des Rechts auf Datenschutz reduzieren. Der Betroffene müsste dann nicht mehr damit rechnen, noch nach langer Zeit mit seinen jetzigen Handlungen konfrontiert zu werden. Ebenso wie die Festlegung eines Verwendungszwecks den sozialen Kontextwechsel der Informationen beschränkt, könnte ein Recht auf Vergessen in der beschriebenen Form gleichsam den zeitlichen Kontextwechsel eindämmen. Identitätsbildung ist ein ständig laufender Prozess. Sie setzt nicht nur die Möglichkeit voraus, sich kontextbedingt unterschiedlich darzustellen, sie erfordert auch in zeitlicher Hinsicht eine Anpassung an veränderte Lebensumstände, gemachte Lebenserfahrungen und neue Darstellungsziele. Verhaltensweisen, über die man sich zunächst definiert hat, können einige Jahre später im selben Kontext als „Jugendsünden“ empfunden werden. Daher lässt sich eine solche Regelung auch auf Privatsphäregedanken stützen. Wie bereits an anderer Stelle angedeutet,126 ist eine solche Begrenzung der Speicherung auch für Speicherungen aufgrund einer Einwilligung zweckmäßig. Aufgrund der Alltäglichkeit von Einwilligungen verlieren Betroffene schnell den Überblick, welche Einwilligungen sie wo erteilt haben. Auch die durch Art. 7 Abs. 3 DSGVO eingeräumte Möglichkeit, die Einwilligung zu widerrufen, wird so in der Praxis oft ins Leere laufen. Ist die Einwilligung zeitlich unbegrenzt, gibt der Betroffene daher de facto dauerhaft die Kontrolle über die betroffenen Daten und die daraus folgende Selbstdarstellung aus der Hand. Auch hier würde sich eine Regelung anbieten, nach der eine Einwilligung nach einer festgelegten Frist zu erneuern ist oder anderenfalls die Daten zu löschen sind, sofern nicht ihre weitere Speicherung gesetzlich erlaubt ist.
126 Siehe
Q. II. 4.
Zusammenfassende Thesen 1. Kapitel: Öffentliche Kommunikation und die Konzeption informationeller Selbstbestimmung A. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung
1. Da die persönlichkeitsrechtliche Bedeutung eines Datums nicht nur vom Inhalt, sondern auch vom Verwendungszusammenhang abhängt, hat das Bundesverfassungsgericht im Volkszählungsurteil auf eine materielle Definition der Privatsphäre verzichtet. 2. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist parallel zur allgemeinen Handlungsfreiheit konzipiert, indem es ein im Grundsatz umfassendes formales Bestimmungsrecht des Grundrechtsträgers vorsieht. 3. Persönlichkeitsrechtliche Probleme entstehen nicht nur durch Daten, also auf einem Datenträger festgehaltene Zeichen, sondern durch Informationen, also Sinngehalte, die als Inhalt einer Mitteilung verstanden werden. 4. Gleichwohl setzt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eine „Verdatung“ der persönlichen Informationen voraus, da ein Bestimmungsrecht über Informationen undenkbar ist und auch vom Bundesverfassungsgericht abgelehnt wird. B. Kritik an der Konzeption der informationellen Selbstbestimmung
1. Die ungehemmte Kommunikation, der das Recht auf informationelle Selbstbestimmung dienen soll, wird durch die „Privatisierung“ in Form eines individuellen Bestimmungsrechts eher behindert als befördert. 2. Nach der Konzeption informationeller Selbstbestimmung ist selbst alltägliche öffentliche Kommunikation in sozialen Netzwerken nur aufgrund einer Interessenabwägung zulässig. 3. Um überhaupt einen Abwägungsmaßstab zu haben, ist es unvermeidbar, die formelle Konzeption informationeller Selbstbestimmung mit materiellen Gesichtspunkten „anzureichern“. 4. Der grundrechtliche Datenschutz sollte auf die Fälle beschränkt bleiben, in denen materiell persönlichkeitsrechtlich schützenswerte Interessen
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Zusammenfassende Thesen
des Grundrechtsträgers betroffen sind, um eine Beurteilung von Einzelfällen anhand wenig konturierter Abwägungen so weit wie möglich zu vermeiden. 5. Die Einwilligung als zentrales Element der informationellen Selbstbestimmung ist mangels Freiwilligkeit und Nachvollziehbarkeit der Verarbeitungsvorgänge praktisch wenig wirksam für den Schutz der Privatsphäre. 6. Die Reichweite des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung führt zu alltäglich verlangten und ausufernden Einwilligungserklärungen, die die wirklich „problematischen“ Datenverarbeitungen im „Kleingedruckten“ verschwinden lassen. 7. Die Konzeption informationeller Selbstbestimmung verleitet dazu, die Veröffentlichung eigener persönlicher Daten als Einwilligung zu verstehen. Welche Verwendungen von dieser Einwilligung umfasst wären, ist jedoch kaum bestimmbar, erst recht nicht individuell auf den jeweiligen Grundrechtsträger bezogen. 8. Ein Abstellen auf den (mutmaßlichen) Willen der Nutzer wirft zudem das Problem der Freiwilligkeit und Informiertheit der konkludenten Einwilligung auf. 9. Auf Grundlage der Konzeption informationeller Selbstbestimmung wäre die Veröffentlichung durch den Betroffenen selbst zumindest als Abwägungsgesichtspunkt zu berücksichtigen, der regelmäßig zu einer Zulässigkeit sämtlicher Verwendungen führen würde. 10. Durch diese konsequente Anwendung der individualistischen Konzeption informationeller Selbstbestimmung wird diese ihrem Ziel einer Kontrolle des Einzelnen darüber, wer was über ihn weiß, nicht gerecht. 11. Im „verdateten“ Raum sozialer Netzwerke lassen sich die Entscheidung zum Kommunizieren und zur Verdatung der Kommunikation nicht mehr trennen. Der Fokus auf einen „Schutz vor Daten“ verleitet dazu, nur die Entscheidung über die Daten in den Blick zu nehmen. 12. Stattdessen muss der Fokus auf die kommunikative Handlung und ihren Schutz gelegt werden. 13. Im physisch-realen Raum gibt es gerade auch einen Schutz vor einer dauerhaften Verdatung öffentlichen Handelns. Im Ausgangspunkt muss es einen solchen Schutz auch für die Kommunikation in sozialen Netzwerken geben. C. Zugrunde gelegtes Grundrechtsverständnis
1. Die Lehre von den Gewährleistungsgehalten stellt die überindividuellen Ziele von Grundrechten in den Vordergrund und kann daher ein Gegengewicht zum „privatistischen“ Ansatz informationeller Selbstbestimmung bieten.
Zusammenfassende Thesen253
2. Der Ansatz kann gerade angesichts der multipolaren Interessenlage und der Machtstrukturen im Internet Lösungen für die grundrechtlichen Herausforderungen der Datenverarbeitung bieten. 3. Allerdings fehlt es diesem Ansatz im Verhältnis zwischen Staat und Bürger an der notwendigen Rationalität und den Möglichkeiten des subjektiven Rechtsschutzes, um effektiven Grundrechtsschutz zu gewährleisten. 4. Eine Präzisierung und eventuell Beschränkung der Grundrechte auf Schutzbereich- und Eingriffsebene kann letztlich der Freiheitsentfaltung dienen, sollte aber bei den einzelnen Grundrechten vorgenommen werden. 5. Grundlegend ist dabei die Untersuchung der sozialen Realitäten der Kommunikation, die nicht nach dem Prinzip individueller Bestimmungsrechte, sondern durch eine Kooperation von Grundrechtsträgern funktioniert. 2. Kapitel: Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit D. Die Persönlichkeit und ihre Entfaltung
1. Damit das allgemeine Persönlichkeitsrecht nicht richterlicher Willkür ausgesetzt ist, braucht es über den kasuistischen Zugang hinaus eine Richtschnur, was davon umfasst ist. 2. Die Identität des Einzelnen ist nur im Verhältnis zur Gesellschaft zu verstehen und kann dabei sowohl aus der Perspektive des Einzelnen als auch aus der Perspektive Dritter verstanden werden. 3. Die Identität entsteht durch die gesellschaftlichen Erwartungen an den Einzelnen und seine Reaktion auf diese Erwartungen, die seine Individualität darstellt. Das eine ist nicht ohne das jeweils andere zu denken. 4. Die Identität kann heute nicht mehr als etwas Feststehendes verstanden werden, sondern zeichnet sich durch immer neue und differenzierte, aber dennoch konsistente Reaktionen auf widersprüchliche Erwartungen aus. 5. Identität, Individualität und Autonomie, die häufig mit „Persönlichkeit“ in Verbindung gebracht werden, bezeichnen daher keine statischen Konzepte, sondern Formen des Handelns. Folglich kann der Schutz „der Persönlichkeit“ nur durch den Schutz ihrer Entfaltung verwirklicht werden. E. Die Funktion des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Abgrenzung zur allgemeinen Handlungsfreiheit
1. Die Eppler-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die das allgemeine Persönlichkeitsrecht für das Verfassungsrecht adaptiert, klärt nicht
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Zusammenfassende Thesen
eindeutig die Frage nach dem Verhältnis von allgemeiner Handlungsfreiheit und allgemeinem Persönlichkeitsrecht. 2. Eine Unterscheidung nach der „Bedeutung“ des Sachverhalts überzeugt nicht, da dieses Kriterium besser graduell auf Ebene der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen ist. 3. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt vor Eingriffen in den Prozess der Persönlichkeitsentfaltung, die nicht die Freiheit des Handelns und Unterlassens betreffen und damit nicht unter die allgemeine Handlungsfreiheit fallen. 4. Die Fälle des allgemeinen Persönlichkeitsrechts lassen sich am besten als Eingriffe in die Persönlichkeitsentfaltung begreifen, die mehr oder weniger intensiv zu Schutzbereichen typisiert wurden. 5. Anders als bei der allgemeinen Handlungsfreiheit, die eine Freiheitsvermutung aufstellt, muss der Integritätsschutz grundsätzlich im Einzelfall mit dem Schutz der Persönlichkeitsentfaltung begründbar sein. 6. Beide Ausprägungen umfassen persönlichkeitsrelevantere und banalere Sachverhalte. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht hat daher in der Abwägung nicht grundsätzlich mehr Gewicht als die allgemeine Handlungsfreiheit. 7. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht nimmt im Interesse der Menschenwürde eine Auffangfunktion für Sachverhalte wahr, in denen Identität, Individualität und Autonomie betroffen sind, die aber weder von der allgemeinen Handlungsfreiheit noch von einem Spezialgrundrecht umfasst sind. 8. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist folglich ein „Auffanggrundrecht im Auffanggrundrecht“. Um den falschen Anschein einer besonderen Bedeutung zu vermeiden, sollte als Rechtsgrundlage lediglich Art. 2 Abs. 1 GG zitiert werden. 9. Soweit hier von Interesse, können die Fallkonstellationen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Selbstdarstellungs- und Privatsphärerechte unterteilt werden. F. Das Recht der Selbstdarstellung
1. Das Recht der Selbstdarstellung ist schon nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht als Entscheidungsrecht zu verstehen, sondern ist durch bestimmte Eingriffe definiert, deren Abwehr es dient. 2. Die Selbstdarstellung kann nicht der Bestimmung des Einzelnen unterliegen, sie ist eine multipolare grundrechtliche Entfaltungskonstellation, die auf die Freiheit Dritter angewiesen ist, die Darstellungen des Einzelnen zu interpretieren und ggf. abzulehnen.
Zusammenfassende Thesen255
3. Der Einzelne trägt selbst die Verantwortung für seine Selbstdarstellung und damit das Risiko ihres Scheiterns. Der Schutz muss da ansetzen, wo die Verantwortung des Einzelnen für seine Selbstdarstellung durchbrochen wird. 4. Nach der zutreffenden neueren Rechtsprechung schützt das Recht der Selbstdarstellung vor falschen Fremddarstellungen und Darstellungen, die die Persönlichkeitsentfaltung erheblich beeinträchtigen. 5. Eine erhebliche Beeinträchtigung der Persönlichkeitsentfaltung liegt insbesondere dann vor, wenn die Informationen zu einer Stigmatisierung führen können, da diese dem Einzelnen die Möglichkeit zu einer erfolgreichen, selbst verantworteten Selbstdarstellung nimmt. 6. Die Reichweite des Schutzes ist unabhängig davon, ob Informationen von staatlichen Stellen oder von Privaten verbreitet bzw. zur Kenntnis genommen werden. G. Das Recht auf Privatsphäre
1. Das Recht auf Privatsphäre lässt sich in einen thematisch und einen situativ bestimmten Schutz unterteilen. 2. Das Recht der Selbstdarstellung schützt vor einem Eindringen in, das Recht auf thematische Privatsphäre hingegen vor einem Herausdringen aus Kommunikationsbeziehungen. 3. Das Recht auf thematische Privatsphäre schützt das Vertrauen darin, in manchen Lebensbereichen unbeobachtet zu sein, als Voraussetzung faktischer Handlungsfreiheit in diesen Bereichen. 4. Welche Bereiche als „privat“ eingestuft werden, richtet sich im Wesentlichen nach gesellschaftlichen Konventionen. 5. Die staatliche Erhebung und Verwendung privater Informationen steht unter einem umfassenden Rechtfertigungsvorbehalt. 6. Im Verhältnis zwischen Privaten unterliegen auch thematisch private Informationen nicht einem Verfügungsrecht des Einzelnen, sondern sie sind Element der gemeinschaftlichen Persönlichkeitsentfaltung in Nahbeziehungen und des gesellschaftlichen Informationsflusses. 7. Nicht jedes „Weitertratschen“ privater Informationen ist ein Eingriff, sondern nur eine Weitergabe privater Informationen, die nicht sozialadäquat ist und daher eine Beeinträchtigung der Selbstdarstellung darstellt. 8. Das Recht der situativen Privatsphäre soll Situationen schaffen, in denen der Einzelne ohne Rücksicht auf Darstellungszwänge „er selbst sein“ kann.
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9. Hat der Einzelne in sozial akzeptierter Weise deutlich gemacht, dass er eine Kommunikation nur an einen begrenzten Personenkreis richtet, um so den Informationsgehalt seines Verhaltens zu steuern, schützt das Recht der situativen Privatsphäre vor einer Kenntnisnahme durch Dritte. 10. Ein solches Abstellen auf vorgefundene soziale Konventionen birgt die Gefahr, dass das Recht seine freiheitswahrende Funktion nicht erfüllen kann, insbesondere in Bereichen, in denen sich noch keine Konventionen etablieren konnten. 11. Geschützte private Situationen werden teilweise durch Recht konstituiert, etwa durch Art. 10, 13 GG, §§ 201 ff. StGB und richterrechtlich durch das „Computer-Grundrecht“. 12. Das Recht auf Privatsphäre ist offen für weitere Ausprägungen, insbesondere einen Schutz vor einer systematischen Überwachung und vor einer Verletzung der Vertraulichkeit von Beziehungen. 13. Handlungen im Bereich der Privatsphäre werden lediglich durch die allgemeine Handlungsfreiheit geschützt. Ihre „Privatheit“ ist nur insoweit von Bedeutung, als private Handlungen regelmäßig wenig Berührung mit den Sphären Dritter aufweisen. 3. Kapitel Das Recht auf Datenschutz H. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht als „Wegweiser“ für eine Rekonzeption des grundrechtlichen Datenschutzes
1. Die automatisierte Verarbeitung persönlicher Daten berührt, je nach Verarbeitungsform, sowohl Privatsphäre- als auch Selbstdarstellungsinteressen. 2. Die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht beschränkt den Schutz auf Situationen, wo die freie Entfaltung der Persönlichkeit gefährdet ist. 3. Diese Fortentwicklung sollte auf den Datenschutz übertragen werden. Dabei kann an die Rechtsprechung zu anderen Elementen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts angeknüpft werden. 4. Dieses neue Recht sollte als Recht auf Datenschutz bezeichnet werden und besteht aus einer Selbstdarstellungs- und einer Privatsphärekomponente.
Zusammenfassende Thesen257 J. Selbstdarstellungskomponente: Der Schutz vor Profilbildung
1. Die automatisierte Datenverarbeitung führt dazu, dass der Einzelne öfter mit vorgefertigten Bildern seiner Persönlichkeit konfrontiert ist, gegen die er, ähnlich einem Stigma, nicht ankommen kann, was letztendlich zu einer Resignation in Hinblick auf seine Identitätsentwicklung führen kann. 2. Durch die automatisierte Datenverarbeitung verschiebt sich die „Regie“ über die Informationen, die in die Selbstdarstellung einfließen, vom Einzelnen selbst auf den Datenverarbeiter. 3. Durch die statistische Auswertung einer Vielzahl persönlicher Daten können „Vorurteile“ generiert und auf den Einzelnen angewandt werden. Das widerspricht den durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht geschützten Gedanken von Individualität und Autonomie. 4. Staatliche Profilbildung ist zwar nicht für die Selbstdarstellung im soziologischen Sinne relevant, aber auch hier muss der Bürger einen Einfluss auf die Informationen haben, anhand derer er beurteilt wird, und auch hier wird dieser Einfluss geschmälert, wenn sich eine Stelle aufgrund von Daten ein Bild machen kann. 5. Vor einer Profilbildung schützt die Menschenwürde nur in Extremfällen, im Normalfall greift hier das von der Menschenwürde beeinflusste allgemeine Persönlichkeitsrecht. 6. Die Beeinträchtigung der geschützten Selbstdarstellungsinteressen erfolgt durch den Abruf, das zielgerichtete Verschaffen von Informationen über einen Grundrechtsträger aufgrund gespeicherter Daten. 7. Die algorithmenbasierte Erzeugung von Prognosen über Personen stellt eine besondere und besonders erheblich beeinträchtigende Form des Abrufs dar. 8. Die Erstellung eines Persönlichkeitsprofils bereitet den Abruf vor und beeinträchtigt damit ebenfalls das Recht auf Datenschutz. Eine solche Profilbildung liegt nur vor, wenn die eine Person betreffenden Daten so zusammengestellt sind, dass sie „auf Knopfdruck“ abgerufen werden können. K. Privatsphärekomponente: Der Schutz vor Überwachung
1. Die Rechte am eigenen Bild und Wort ähneln mit ihrem formalen Anknüpfungspunkt dem Schutz der situativen Privatsphäre, gelten aber dabei auch für öffentliches Verhalten, da die Aufzeichnung die Beobachtung des Verhaltens in einem anderen Kontext und die Identifizierung von Personen ermöglicht und so dem Einzelnen die Möglichkeit nimmt, die informationellen Folgen seines Handelns abzusehen.
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2. Die Möglichkeit, den Beobachtungskontext abzusehen, ist grundlegend für die Möglichkeit, sich in einer Weise zu verhalten, die nicht dem gesellschaftlichen Konsens entspricht und in diesem Sinne Ausdruck der durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Individualität ist. 3. Werden, anders als bei einer Bild- oder Tonaufzeichnung, nur punktuelle Beobachtungen verdatet, erweitert dies im Vergleich zur menschlichen Wahrnehmung nur dann die Möglichkeit, das Verhalten Einzelner zu beobachten, wenn diese Verdatung systematisch erfolgt. 4. Eine Verdatung berührt nicht das allgemeine Persönlichkeitsrecht, wenn Daten unmittelbar nach ihrer Erfassung wieder gelöscht werden. 5. Auch wenn Daten nur kurzfristig und für einen beschränkten Zweck gespeichert werden, fehlt es an der „Archivierung“, die Voraussetzung für eine Beeinträchtigung des Rechts auf Datenschutz ist. Denn dann erweitert die Verdatung nicht den Informationswert des Verhaltens. 6. Eine Archivierung liegt insbesondere dann vor, wenn Daten aus dem operativen Datenbestand zur weiteren Auswertung in ein „data warehouse“ übertragen werden. 7. Ein hinreichender Personenbezug archivierter Daten liegt entsprechend der herrschenden Auslegung des § 3 Abs. 1 BDSG 2009 vor, wenn Daten ohne unverhältnismäßigen Aufwand einer Person zugeordnet werden können. 8. Der Schutz vor Archivierung greift entsprechend seinem Schutzzweck nur, wenn Informationen, die Schlüsse über das Verhalten des Einzelnen ermöglichen, systematisch archiviert werden. 9. Der Abruf stellt sowohl unter Selbstdarstellungs- als auch unter Privatsphäregesichtspunkten einen Eingriff in das Recht auf Datenschutz dar. 10. Spezielle Freiheitsrechte oder andere Komponenten des allgemeinen Persönlichkeitsrechts können vor bestimmten Datenverarbeitungen schützen und dabei über das Recht auf Datenschutz hinausgehen. Diese Regeln sind gegenüber dem Recht auf Datenschutz vorrangig. L. Zwischenfazit: Die Phasen der Datenverarbeitung und ihre rechtliche Relevanz
1. Weder die Erhebung von Daten noch die Speicherung als solche berührt das Recht auf Datenschutz, sondern erst die Archivierung unter Privatsphärebeziehungsweise die Profilbildung unter Selbstdarstellungsgesichtspunkten.
Zusammenfassende Thesen259 M. Folgerungen für die Rechte am eigenen Bild und Wort
1. Auch die Rechte am eigenen Bild und Wort schützen ab der Archivierung, sodass etwa eine Videoüberwachung nur dann das allgemeine Persönlichkeitsrecht betrifft, wenn die Bilder aufgezeichnet und nicht grundsätzlich nach kurzer Zeit wieder gelöscht werden. 2. Der Schutz der Rechte am eigenen Bild und Wort setzt Personenbezug voraus, nicht aber die systematische Archivierung, da sich bereits aus einzelnen Bildern oder Tonaufnahmen eine unabsehbare Menge von Informationen entnehmen lässt. 3. Die Verbreitung von Bildern oder Tonaufnahmen betrifft das allgemeine Persönlichkeitsrecht, bei ersteren im durch §§ 22, 23 KUG konkretisierten Umfang, nicht aber deren Abruf. N. Die Gewichtung des Schutzes
1. In einer Abwägung ist die „Persönlichkeitsrelevanz“ kein sinnvolles Kriterium zur Gewichtung des Rechts auf Datenschutz, aber der Schutzgehalt anderer, durch eine Datenverarbeitung mitbetroffener Grundrechte. 2. Ein Kriterium sind hingegen die konkreten Folgen, die der Grundrechtsträger aufgrund der Datenverarbeitung zu erwarten hat. 3. Besonders problematisch ist es, wenn solche Folgen, insbesondere staatliche Grundrechtseingriffe, auf einem „Muster“ von Informationen basieren, die als einzelne wenig Aussagekraft hätten. 4. Auch die Archivierung ist bereits anhand der Folgen des zu erwartenden Abrufs zu beurteilen, da davon der Einschüchterungseffekt der Datenverarbeitung abhängt. 5. Um die Archivierung überhaupt bewerten und ihre persönlichkeitsrechtlichen Folgen in Grenzen halten zu können, müssen die Verwendungszwecke schon bei der Archivierung grundsätzlich bindend festgelegt werden. 6. Die beeinträchtigende Wirkung insbesondere der Profilbildung hängt von der Vielfältigkeit und dem Umfang der erfassten Daten ab, wobei es besonders problematisch ist, wenn Daten aus verschiedenen Kontexten kombiniert oder in anderen Kontexten verwendet werden. 7. Die Konsequenzen der Datenverarbeitung und damit der Einschüchterungseffekt hängen von der Macht des Verarbeitenden über die Grundrechts entfaltung des Betroffenen ab, wobei Private mangels Grundrechtsbindung freier darin sind als der Staat, den Betroffenen zu „sanktionieren“.
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Zusammenfassende Thesen
8. Bei der Datenverarbeitung durch Private sind auch die Folgen für die Selbstdarstellung im jeweiligen Kontext zu berücksichtigen, insbesondere wenn stigmatisierende Informationen zu Tage treten können. 4. Kapitel: Dispositionen im allgemeinen Persönlichkeitsrecht O. Der Grundrechtsverzicht
1. Ein Grundrechtsverzicht ist von Verhalten des Betroffenen abzugrenzen, das sich auf die Reichweite des Schutzbereichs auswirkt. Ersterer setzt eine Willenserklärung des Grundrechtsträgers voraus und lässt den Eingriff entfallen, die Wirkungen des Letzteren treten unabhängig vom Willen des Grundrechtsträgers ein. 2. Jedes Grundrecht kann ein Recht auf Grundrechtsverzicht enthalten; als Auffanggrundrecht steht Art. 2 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als allgemeine Handlungsfreiheit zur Verfügung. 3. Ein „Grundrechtsverzicht“ ist auch in Hinblick auf die Schutzwirkung von Grundrechten begrifflich möglich. Da die Schutzwirkung jedoch bei einigen Grundrechten gerade die Freiheit zur Disposition erfasst, sind Dispositionen zwischen Privaten häufig kein Grundrechtsverzicht, sondern Grundrechtsausübung. 4. Ob ein Grundrechtsverzicht widerruflich ist, hängt vom Inhalt der Verzichtserklärung ab. Bei einem nicht oder beschränkt widerruflichen Verzicht sind aber strenge Anforderungen an die Dispositionsbefugnis zu stellen; er ist insbesondere bei vertraglichen Absprachen zwischen Privaten denkbar. P. Die Folgen eigenen Handelns im allgemeinen Persönlichkeitsrecht
1. Neben dem Grundrechtsverzicht und dem Verhalten des Grundrechtsträgers, das den Schutzbereich entfallen lässt, gibt es als dritte Konstellation einen Grundrechtsverzicht in Form der Übergabe der Kontrolle über den Schutzbereich an einen Dritten, die den Schutzbereich für die Zukunft entfallen lässt. 2. Beim allgemeinen Recht der Privatsphäre hängt schon der Schutzbereich wesentlich vom Verhalten des Grundrechtsträgers ab, da er die Privatsphäre selbst durch die Entscheidung konstituiert, mit wem er private Themen und Situationen teilt und im Verhältnis zu diesen Dritten kein Privatheitsschutz besteht.
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3. Bei der Einwilligung in die mediale Berichterstattung über private Sachverhalte handelt es sich, wie der 2. Caroline-von-Monaco-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu entnehmen ist, um einen Grundrechtsverzicht, der für die Zukunft zugleich den Schutzbereich entfallen lässt. 4. Die Einwilligung in Beeinträchtigungen der Privatsphäre muss ausdrücklich oder konkludent erklärt werden, ein bloßes Unterlassen genügt nicht. Sie führt dazu, dass die öffentlich gemachten Informationen ungehindert weiterverbreitet werden dürfen. 5. Beim Recht der Selbstdarstellung hängt schon der Schutzbereich sehr weitgehend davon ab, wie der Einzelne seine Selbstdarstellung gestaltet, sodass ein Verzicht kaum denkbar ist. 6. Während die „Öffnung“ der Privatsphäre durch die Preisgabe privater Informationen in der Regel endgültig ist, ist der Schutzbereich des Rechts der Selbstdarstellung für jede Weitergabe neu zu prüfen, sodass die Wirkung einer einmal erteilten Einwilligung auf den Schutzbereich nachlassen kann. 7. Beim Recht am eigenen Bild ist der Schutzbereich sehr fest definiert, sodass sich Handlungen des Einzelnen in der Regel erst auf Eingriffsebene, als Grundrechtsverzicht, auswirken können. Ob sich der Verzicht zugleich für die Zukunft auf den Schutzbereich auswirkt, hängt davon ab, ob durch die neuerlichen Aufnahmen oder Verbreitungen dennoch Privatsphäre- oder Selbstdarstellungsinteressen betroffen sind. 8. §§ 22, 23 KUG statuieren im Gegensatz dazu ein Verfügungs- und damit Willkürrecht hinsichtlich Abbildungen der eigenen Person, was verfassungsrechtlich aber unbedenklich ist. Q. Dispositionen im Recht auf Datenschutz
1. Eine Einwilligung in eine Datenverarbeitung kann keine Ausübung des Rechts auf Datenschutz sein, sie ist auch keine individuelle Definition des Schutzbereichs, sondern sie stellt einen Grundrechtsverzicht dar. 2. Die Einwilligung kann aus grundrechtlicher Perspektive formfrei erteilt werden und setzt Einsichtsfähigkeit voraus; ihre Reichweite muss für alle Verarbeitungsphasen in wesentlichen Zügen erkennbar sein. 3. Ein Verhandlungsungleichgewicht zwischen dem Verarbeiter und dem Betroffenen stellt noch nicht die Freiwilligkeit der Disposition in Frage. Vielmehr gebietet es der Schutz der Dispositionsfreiheit, wie bei der Privatautonomie eine Einwilligung nur zu korrigieren, wenn eine strukturelle Unterlegenheit vorliegt und die Folgen ungewöhnlich belastend sind.
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Zusammenfassende Thesen
4. Aus den durch eine Überwachung mitbetroffenen demokratierelevanten Grundrechten folgen Grenzen der materiellen Anerkennungsfähigkeit einer Einwilligung. 5. Die Grenze ist bei einer Totalüberwachung erreicht, der sich der Grundrechtsträger nicht einmal temporär entziehen kann. Zudem sind die Informations- und Auskunftsansprüche des Betroffenen nicht disponibel, um die Transparenz der Datenverarbeitung zu erhalten. 6. Absolute Grenze der Profilbildung ist die Menschenwürde. Diese ist nur in Extremfällen verletzt, wenn der Grundrechtsträger abschließend und ausschließlich anhand eines sehr umfangreichen Profils beurteilt wird. 7. Willigt der Grundrechtsträger in eine solche Profilbildung ein, so ist zudem seine Autonomie zu berücksichtigen. Bei der Beurteilung einer konsentierten Profilbildung kommt es auf den Verwendungszusammenhang sowie auf die faktische Möglichkeit einer autonomen Entscheidung an. 8. Wegen der andauernden Wirkungen auf die Selbstdarstellung müssen Einwilligungen grundsätzlich widerruflich sein. Etwas anderes gilt jedoch im Interesse der Funktionsfähigkeit der Privatautonomie bei Einwilligungen im Rahmen vertraglicher Absprachen. 9. De lege ferenda ist eine gesetzlich vorgeschriebene Befristung von Einwilligungen als Element einer „Pflicht zum Vergessen“ erwägenswert. 5. Kapitel: Folgerungen für die Informations- und Datenverarbeitung auf sozialen Netzwerkplattformen R. Relevanz der Veröffentlichung von Daten aus Sicht des Rechts auf Datenschutz
1. Vom Nutzer eines sozialen Netzwerks selbst veröffentlichte Daten bleiben zwar regelmäßig grundsätzlich dauerhaft sichtbar, können aber vom Nutzer wieder gelöscht werden. In diesem Fall liegt keine permanente Archivierung im Sinne des Rechts auf Datenschutz vor. 2. Veröffentlicht jemand Informationen über einen anderen Nutzer, erfüllen die entstehenden Daten regelmäßig die Voraussetzungen der Permanenz und des Personenbezugs. 3. Regelmäßig handelt es sich jedoch um punktuelle Berichte und nicht um systematische Verhaltensaufzeichnungen. Hierdurch wird der Betroffene nicht überwacht, er muss vielmehr mit der verdateten Weitergabe der Informationen als Folge des gesellschaftlichen Informationsflusses leben.
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4. Aus Sicht des Schutzes vor Profilbildung sind die Daten relevant, die etwa auf dem Nutzerprofil zusammengestellt sind, nicht aber diejenigen, die über das Netzwerk verstreut sind. 5. Regelmäßig sehen Plattformen „Mention“- und „Tagging“-Funktionen vor, mit Hilfe derer ansonsten verstreute Daten indexiert und so dem Profil eines Nutzers hinzugefügt werden. 6. Der Schutz vor Profilbildung ist nur betroffen, wenn der Nutzer identifizierbar ist. Das ist der Fall, wenn er unter seinem Klarnamen auftreten oder diesen dem Betreiber gegenüber angeben muss. 7. Dass in sozialen Netzwerken ein Profil unter einem Klarnamen entsteht, ist dem Betreiber zuzurechnen, der aus wirtschaftlichen Interessen heraus die Plattform so gestaltet. 8. Die überlegene Situation des Betreibers, der die Plattform gestalten kann, während die Nutzer die Bedingungen hinnehmen müssen, um die Kommunikationsinfrastruktur zu nutzen, macht prima facie einen Schutz der Nutzer gegenüber dem Betreiber erforderlich. 9. Das „Tagging“ durch andere Nutzer ist keine notwendige Bedingung für das Funktionieren der interaktiven Persönlichkeitsentfaltung und muss vom Betroffenen grundsätzlich nicht hingenommen werden. 10. Der Betroffene willigt regelmäßig dem Betreiber gegenüber in die Erstellung eines Profils unter Klarnamen ein, gegebenenfalls auch in die Möglichkeit Dritter, zum Profil beizutragen. 11. Der Nutzer ist zwar dem Betreiber strukturell unterlegen, allerdings führt die Einwilligung nicht zu ungewöhnlich belastenden Folgen, die eine Schutzpflicht bestehen ließen. 12. Das Koppelungsverbot des Art. 7 Abs. 4 DSGVO dürfte wenig Auswirkungen für soziale Netzwerke haben, da die konsentierten Datenverarbeitungen für den Vertragszweck erforderlich sind, nämlich die datenbasierte Kommunikation im – vom Betreiber konzipierten – sozialen Netzwerk. S. Schutz vor öffentlicher personenbezogener Kommunikation durch das traditionelle allgemeine Persönlichkeitsrecht
1. Die Veröffentlichung thematisch privater Information über einen Dritten in sozialen Netzwerken beeinträchtigt dessen geschützte Privatsphäre. 2. Eine Einwilligung in die Verbreitung privater Informationen durch Dritte muss ausdrücklich erteilt werden und liegt nicht schon in der Einwilligung in das Hinzufügen von Informationen zum eigenen Profil.
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Zusammenfassende Thesen
3. Im Verhältnis zwischen Nutzern sozialer Netzwerke überwiegt der Schutz der Privatsphäre anders als im Verhältnis zwischen Prominenten und Presse in der Regel die berechtigten Interessen des Veröffentlichenden. 4. Für einen effektiven Schutz der Privatsphäre bietet sich eine Einbeziehung der Betreiber sozialer Netzwerke an, indem diese sich etwa verpflichten, beeinträchtigende Inhalte zu entfernen. 5. Die Veröffentlichung von Informationen aus der eigenen Privatsphäre ist kein Grundrechtsverzicht, sondern eine Neudefinition des privaten Raums. Dadurch geht der Privatsphäreschutz für diese Informationen verloren. 6. Die Verbreitung falscher Informationen über einen Dritten beeinträchtigt geschützte Selbstdarstellungsinteressen und ist jedenfalls dann nicht zu rechtfertigen, wenn die Fehlerhaftigkeit feststeht. 7. Werden Informationen verbreitet, die einen anderen stigmatisieren können, ist eine Abwägung mit den berechtigten Interessen des Veröffentlichenden erforderlich. Maßgeblich für das Gewicht des Selbstdarstellungsschutzes sind die im Einzelfall realistisch zu erwartenden informationellen Folgen für den Betroffenen. 8. Die Veröffentlichung von Informationen, die den Veröffentlichenden selbst stigmatisieren können, gestaltet seine Selbstdarstellung. Dennoch kann eine Weiterverbreitung schutzwürdige Selbstdarstellungsinteressen berühren, wenn die Veröffentlichung etwa in der Reichweite beschränkt war oder lange zurückliegt. 9. Die Veröffentlichung von Bildern Dritter bedarf angesichts der §§ 22, 23 KUG regelmäßig einer Einwilligung. Diese kann auch konkludent erteilt werden, wobei es nicht allein ausreicht, dass der Betroffene der Anfertigung der Aufnahme zustimmt. 10. Auch die Veröffentlichung von Bildern durch den Abgebildeten selbst gestaltet den Schutzbereich neu und lässt berechtigte Privatsphäreinteressen hinsichtlich der abgebildeten Sachverhalte entfallen. 11. Eine Weiterverbreitung selbst veröffentlichter Bilder kann jedoch berechtigte Selbstdarstellungsinteressen verletzen, wenn der Empfängerkreis erweitert, der Kontext geändert oder die Abbildung zur Herabwürdigung des Abgebildeten genutzt wird. 12. Die ursprüngliche Veröffentlichung durch den Betroffenen ist bei der Abwägung insbesondere im Rahmen des § 23 Abs. 1 Nr. 1 KUG in Rechnung zu stellen, legitimiert aber nicht alle Weiterverbreitungen.
Zusammenfassende Thesen265 T. Der Abruf von Daten im sozialen Netzwerk
1. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wäre der Abruf öffentlicher Daten in sozialen Netzwerken selbst durch staatliche Stellen unbeschränkt zulässig. 2. Der Abruf von Dritten veröffentlichter persönlicher Informationen betrifft nicht den Schutz vor Überwachung, da diese Informationen nicht systematisch archiviert sind und somit auch durch den Abruf kein Überwachungseffekt eintritt. 3. Der Abruf vom Betroffenen selbst veröffentlichter persönlicher Informationen kann hingegen zwar einen Einschüchterungseffekt bezüglich des Verhaltens im Internet selbst haben. Aber insoweit steht die Gestaltung der eigenen Selbstdarstellung im Vordergrund, sodass der Betroffene nicht zugleich verlangen kann, dass diese unbeachtet bleibt. 4. Die Abrufbarkeit eines Profils legt den Betroffenen zwar in seiner Selbstdarstellung fest. Wenn er aber die Profilbildung selbst gesteuert oder konsentiert hat, gibt es keinen Bedarf nach einem Schutz gegenüber dem Abrufenden. 5. Es gibt keinen Schutz vor einem Abruf des Profils aus unerwünschten Kontexten. Das mit der Kommunikation an Unsichtbare verbundene Risiko muss der Betroffene, der sich die Möglichkeiten der öffentlichen Kommunikation zunutze macht, selbst tragen. 6. Eine Beeinträchtigung des Rechts auf Datenschutz liegt aber vor, wenn Algorithmen anhand der Daten das zukünftige Verhalten des Betroffenen prognostizieren. 7. Eine Einwilligung ist mangels Absehbarkeit der entstehenden Informationen problematisch und muss im Einzelfall den Menschenwürdekern des Rechts auf Datenschutz unangetastet lassen. 8. Wenn ein Nutzer an ausgewählte Empfänger kommuniziert, ist der Schutzbereich von Art. 10 GG eröffnet. Die Entscheidung des Nutzers zwischen Individual- und Massenkommunikation definiert den Schutzbereich. 9. Die DSGVO geht in paternalistischer Weise davon aus, dass Nutzer ihre persönlichen Informationen grundsätzlich nicht unbegrenzt veröffentlichen möchten und regelt daher die privacy by default als Unterfall des Grundsatzes der Datensparsamkeit. 10. Verbindliche Opt-in-Verfahren ausgerechnet bei der dem Nutzer ohnehin transparenten Veröffentlichung von Daten sind nicht datenschutzfreundlich, sondern öffentlichkeitsfeindlich. 11. Art. 10 GG schützt vor dem Zugriff auf beschränkt öffentliche Informationen durch Dritte, insbesondere den Betreiber des sozialen Netzwerks.
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12. Eine Einwilligung in die Nutzung dieser Daten ist unter den Voraussetzungen des Grundrechtsverzichts möglich, was insbesondere eine entsprechende Gestattung durch den Betroffenen selbst voraussetzt. 13. Eröffnet ein Nutzer einer staatlichen Stelle täuschungsbedingt den Zugang zu den Informationen, betrifft das nicht Art. 10 GG, sondern den Privatsphäreaspekt des Rechts auf Datenschutz. 14. Anders als das Bundesverfassungsgericht es meint, ist das Vertrauen auf die Privatheit der Informationen schutzwürdig. Gerade die Schwierigkeiten, die Identität der Interaktionspartner zu überprüfen, gebieten einen rechtlichen Schutz des Vertrauens. 15. Die Schutzpflicht gebietet einen Schutz vor einem nicht sozialadäquaten „Einschleichen“ Privater in den Empfängerkreis, namentlich bei grundlegender Täuschung über die Identität des Interaktionspartners oder die soziale Beziehung zum Nutzer. U. Speicherung und Zusammenführung veröffentlichter Daten
1. Die Speicherung der veröffentlichten Daten durch Dritte betrifft nur dann den Schutz vor Profilbildung, wenn die Daten personenbezogen zusammengestellt oder indexiert sind oder – etwa durch Identifizierung der Person – einem solchen Profil hinzugefügt werden. 2. Eine permanente Archivierung der Daten aus sozialen Netzwerken durch Dritte liegt vor, wenn die Daten unabhängig von ihrem Bestand im sozialen Netzwerk dauerhaft gespeichert werden. Hierdurch werden sie der Kontrolle des Betroffenen entzogen, was die Verhaltensfreiheit bei der Kommunikation im Internet hemmen kann. 3. Werden nach bestimmten Kriterien ausgewählte Daten aus sozialen Netzwerken systematisch gespeichert, so erweitert das die Möglichkeiten, das Verhalten von Nutzern im sozialen Netzwerk zu beobachten und daraus Folgerungen über die Persönlichkeit zu ziehen. 4. Eine Einwilligung in die dauerhafte Speicherung veröffentlichter Daten trotz vermeintlicher Löschung, insbesondere durch den Betreiber, hat sowohl unter Überwachungs- als auch unter Profilbildungsgesichtspunkten eine erhebliche Reichweite. 5. Muss der Nutzer als Bedingung für den Vertragsschluss der dauerhaften Speicherung aller oder nicht näher definierter Daten zustimmen, ist eine solche Einwilligung sowohl nach Art. 7 Abs. 4 DSGVO als auch nach den Grundsätzen über den Grundrechtsverzicht unwirksam.
Zusammenfassende Thesen267 W. Ausblick: Die Folgen der Google-Entscheidung des EuGH
1. Die Erhöhung der Zugänglichkeit persönlicher Informationen durch die Suchmaschinenindexierung ist eine Problematik des Rechts der Selbstdarstellung. Der Suchmaschinen-Anbieter ist für die informationellen Folgen zumindest mitverantwortlich. 2. Die durch die Indexierung bewirkte Profilbildung betrifft die Selbstdarstellungskomponente des Rechts auf Datenschutz. Die Suchalgorithmen führen dazu, dass das entstehende Profil sich gegenüber dem eigentlichen Verhalten des Betroffenen verselbstständigt. 3. Folgt man der Auffassung des Europäischen Gerichtshofs, ist die Möglichkeit, in Suchmaschinen nach Personen zu suchen, in der Regel rechtswidrig, nicht nur wenn der Betroffene der Indexierung widersprochen hat. 4. Der Auffassung des Europäischen Gerichtshofs ist zuzustimmen, da sie das Internet als Kommunikationsraum und als Informationsquelle erhält, ohne dass es zugleich eine unkontrollierbare Datenbank für persönliche Daten ist. 5. An der Datenverarbeitung durch Suchmaschinen sind Veröffentlichender, Webseitenbetreiber, Suchmaschinenbetreiber und Suchmaschinennutzer beteiligt, die sich jeder auf seine Weise entfalten und dabei ergänzen, sowohl in ihrer Persönlichkeitsentfaltung als auch in der Persönlichkeitsbeeinträchtigung des Betroffenen. 6. Es ist am Gesetzgeber, das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen vor den Gefahren der Datenverarbeitung durch Suchmaschinen zu schützen. Dafür ist es zulässig und notwendig, die jeweiligen Verantwortlichkeiten der Beteiligten am Informations- und Datenverarbeitungsprozess zu bestimmen. 7. Das vom Europäischen Gerichtshof angenommene „Recht auf Vergessen“ basiert letztlich darauf, dass sich die Gewichte in der Abwägung immer mehr zugunsten des Betroffenen verschieben, je älter die gespeicherte Information ist. 8. Weder eine Pflicht des Datenverarbeiters zu einer immer neuen Abwägung noch eine Obliegenheit des Betroffenen, selbst eine Löschung zu verlangen, ist praktikabel, um den Betroffenen vor verfälschenden oder zumindest irrelevanten älteren Informationen zu schützen. 9. De lege ferenda ist eine objektiv-rechtliche Pflicht zu erwägen, Daten nach einer festgelegten Frist grundsätzlich zu löschen. Diese würde sowohl eine Verfälschung der Selbstdarstellung durch veraltete Informationen als auch einen den durch die Datenverarbeitung bewirkten Einschüchterungseffekt mindern. 10. Diese „Pflicht zum Vergessen“ könnte für Datenverarbeitungen aufgrund einer Einwilligung durch ein verbindliches „Verfallsdatum“ für Einwilligungen ergänzt werden.
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Sachwortverzeichnis Abruf – Begriff 114 Abschreckung 42, 93, 98, 104, 126, 142, 146, 148, 151 siehe auch Einschüchterung Algorithmen 13, 34, 37 f., 49, 108 f., 112, 114 f., 118, 145, 217, 225 f., 229, 234, 243, 257, 265, 267 Anonymität 124 f., 132 f., 139, 195, 202, 236 Archivierung – Begriff 128 Autonomie – Begriff 64 Beobachtung 88, 93 ff., 120 f., 123 ff., 131 ff., 138 f., 142, 147, 168, 170 f., 189, 198 f., 231, 237 ff., 257 f. Betreiber 16, 19, 38, 47, 49, 107, 195 f., 200, 202 ff., 223 f., 230 f., 234 ff., 239, 245 f., 263 ff. Bilder 14 f., 119 ff., 137 ff., 177 ff., 201, 212, 215 ff., 235, 258 f., 261, 264 siehe auch Fotos Caroline-von-Monaco-Entscheidung 79, 86, 89, 93, 170 ff., 178, 261 Daten – Begriff 25 Demokratieprinzip 122, 157, 160, 187 ff., 194, 262 Drittwirkung 30, 46, 54 DSGVO 17 ff., 25, 30, 36, 40, 110, 115, 130, 148, 181, 184, 187, 191 ff., 202, 207 f., 215, 218, 228 f., 234, 240 f., 249 f., 263, 265 f. Einschüchterung 23, 28 siehe auch Abschreckung
Einwilligung 19, 21, 28, 33 ff., 43, 115, 129, 155 f., 159, 161, 163, 166, 172 ff., 178 ff., 205 ff., 211, 215 f., 218, 226 ff., 239 ff., 246, 249 f., 252, 261 ff. Entfaltungskonstellation, multipolare 29, 47, 50 ff., 80, 89, 245 ff., 253 f. Eppler-Entscheidung 67 f., 71, 73, 76, 78, 82, 104, 253 f. Ermittlungstätigkeit 17, 113, 132, 144 f., 153 Facebook 15, 37, 40, 196, 199 ff., 216 f., 227, 230, 244 Fernmeldegeheimnis 98 f., 142, 168 f., 227 ff., 231, 234, 256, 265 f. Fotos 15, 137, 139, 178 f., 181, 200 f., 210, 215 ff. siehe auch Bilder Freiwilligkeit 33 f., 158 ff., 166 f., 172 f., 183, 185 ff., 191, 193, 195, 204, 206 ff., 240 f., 252, 261 Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme 71, 98 f. Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung 98, 165 ff., 172, 180, 189, 232 Grundrechtsverzicht 21, 36, 41, 141, 155 ff., 192 f., 206, 209, 211, 214, 216, 221, 228, 231, 240, 260 f., 264, 266 Handlungsfreiheit, allgemeine 23 f., 31 f., 41, 66 ff., 78, 80, 88, 100, 158 f., 162, 182, 186, 210, 251, 253 f., 256, 260 Identifizierung 57, 115 f., 121, 124, 130 f., 133, 136, 139, 197, 199 ff., 208, 213, 235, 238, 240, 257, 263, 266
Sachwortverzeichnis279 Identität – Begriff 57 Indexierung 116, 118, 132, 199, 201, 235 f., 240 ff., 263, 266 f. Individualität – Begriff 62 Information – Begriff 25 Informationsfreiheit 17 f., 39 f., 134, 245 Infrastruktur 15, 49, 204, 206, 263 Klarnamenpflicht 201 f., 204 ff., 263 Kontext, sozialer 23, 58 f., 66, 106, 118 ff., 124, 133 ff., 146, 149 f., 152, 179, 218 ff., 224 f., 234, 250, 257 ff., 264 f. KUG 137, 140 f., 177 ff., 215, 218, 259, 261, 264 Medien 91, 140, 172 f., 176, 180, 210 Meinungsfreiheit 17 f., 31, 44, 49, 68 f., 145, 160, 210, 212, 239 Menschenwürde 61 f., 64, 67 ff., 73 ff., 82, 89 f., 113 f., 157 f., 160 f., 190 f., 194, 226, 240, 245, 247, 254, 257, 262, 265 Nutzerprofil 14, 196, 200, 202, 207, 217, 221 ff., 263 Paternalismus 228, 234, 265 Permanenz 124 f., 128 f., 133 ff., 197, 208, 236 ff., 241, 262, 266 Personalisierung 38, 107 f., 230, 249 Personenbezug 14, 23, 129 ff., 132 f., 135 f., 139, 197, 199, 238, 258 f., 262 Persönlichkeit(sentfaltung) – Begriff 66 f. Persönlichkeitsprofil 107, 113 ff., 118, 132, 136, 141, 149 f., 152 f., 184, 190 f., 194, 199 ff., 222 ff., 232, 235 f., 240, 242 ff., 257, 262 f., 265 ff. Privatautonomie 33 ff., 154, 162 ff., 186, 192, 206, 261 f. Privatsphäre – Begriff 86
Profil siehe Persönlichkeitsprofil Profilbildung – Begriff 116 Prognosen 34, 109 ff., 114 f., 118, 136, 144 ff., 184, 191, 225 f., 234, 257, 265 Recht am eigenen Bild 20 f., 119 f., 134, 137 ff., 177 ff., 183, 201, 215 ff., 257, 259, 261 Recht am eigenen Wort 20, 95, 119 f., 123, 134, 137 ff., 257, 259 Recht auf Datenschutz – Grundlagen 103 ff., 140 ff., 178, 181 ff., 219 f., 242, 256, 258 f., 261 – Privatsphärekomponente 99 f., 119 ff., 139, 187 ff., 196 ff., 208, 220 ff., 230, 232 ff., 236 ff., 250, 257 f., 262, 266, – Selbstdarstellungskomponente 105 ff., 136, 139, 190 ff., 198 ff., 209, 222 ff., 235 f., 240, 243, 245, 257 f., 263, 265, 267 Recht auf informationelle Selbstbestimmung 16, 19 f., 22 ff., 41 ff., 54, 72, 74, 86, 100, 103 ff., 123, 129, 131, 135 f., 181 f., 219, 231, 251 f. siehe auch Selbstbestimmung, informationelle Recht auf Privatsphäre 20 f., 27, 72, 77, 85 ff., 103 f., 119 f., 122, 134, 142, 165 ff., 180, 182, 189, 198, 207, 209 ff., 219, 221, 232 f., 255 ff., 260 f., 263 f. Recht der Selbstdarstellung 20 f., 27, 68, 77 ff., 86 ff., 93, 101, 103 f., 108, 112, 117, 122 f., 134, 140, 143, 174 ff., 179, 181 f., 207, 212 ff., 217 f., 223, 242, 254 f., 261, 264, 267 Schutzfunktion 44, 46, 54 f., 90, 99, 128, 150, 161 Schutzpflicht 16, 24, 29, 32, 44 ff., 53, 55, 72, 84 f., 92, 101, 117, 132, 137, 162 f., 189, 193, 203 f., 206, 208, 210, 220, 223, 229, 233, 247, 263, 266
280 Sachwortverzeichnis Selbstbestimmung, informationelle 13, 20, 22 f., 27 ff., 47, 53 f., 104, 129, 141, 181, 198, 249, 251 f. siehe auch Recht auf informationelle Selbst bestimmung Selbstdarstellung – Begriff 62 Selbstverantwortung 75, 81 ff., 96, 104, 114, 118, 121, 149, 238, 255 Sphärentheorie 91, 100 Staatliche Informations- und Datenverarbeitung 16 f., 29, 32, 50 f., 54, 84 f., 87 ff., 99 ff., 105, 112 ff., 123, 132, 134 f., 138, 143 ff., 168, 170, 172 f., 181, 185, 188, 190 f., 195, 212, 219 ff., 231 ff., 255, 257, 259, 265 f. Stigmatisierung 81 ff., 106, 110 f., 117 f., 140, 145, 152, 154, 175, 181 f., 203, 213 f., 216, 218 ff., 243, 255, 257, 260, 264 Suchmaschinen 21, 47, 49, 200, 241 ff. Systematik (der Speicherung) 124, 131 f., 135 f., 139 f., 196 ff., 208, 220, 236, 238 f., 241, 258 f., 262, 265 f. Tagging 201, 205 ff., 263 Twitter 15, 200, 216, 229, 237
Unbefangenheit 86, 92, 97, 99, 119, 121, 131, 134, 139, 214 Verdatung – Begriff 25 Vergessen, Recht auf / Pflicht zum 193, 241, 248 ff., 262, 267 Verhaltenserwartungen 25 f., 59 ff., 66, 80 ff., 94 f., 99, 106 ff., 119, 122, 124, 135, 144 ff., 151 ff., 240, 253 Vertraulichkeit 27, 91 f., 98 f., 119, 168 ff., 180, 228 ff., 256 Verwendungszweck 22, 34, 37, 99, 110, 126, 128 f., 135, 143 ff., 150, 153, 184, 199 f., 223 ff., 228, 246, 250, 258 f. Verwendungszusammenhang 22 f., 25, 31, 36 f., 184, 251, 262 Verzicht siehe Grundrechtsverzicht Volkszählungsurteil 13, 16, 20, 22 ff., 33, 35, 42, 53, 74, 123, 228, 251 Vorwissen 26, 93, 96, 109 f., 116, 119 ff., 223 Zurechnung 61 f., 81 ff., 87, 93, 108, 143 f., 169, 175 ff., 183, 202 ff., 207, 230, 247, 263 Zweck siehe Verwendungszweck