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German Pages 886 [888] Year 1984
Festschrift zum 125jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin
Festschrift zum 125jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin
Herausgegeben von
Dieter Wilke
w DE
G 1984 Walter de Gruyter · Berlin · N e w York
CIP-Kurztitelaufnahme
der Deutschen Bibliothek
Festschrift zum 125jährigen [hundertfünfundzwanzigjährigen] Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin / hrsg. von Dieter Wilke. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1984. I S B N 3-11-009716-8 N E : Wilke, Dieter [Hrsg.]; Juristische Gesellschaft (Berlin, West)
© Copyright 1984 by Walter de Gruyter & Co., 1000 Berlin 30. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Ubersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Printed in Germany Satz und Druck: Saladruck, 1000 Berlin 36 Buchbindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Buchgewerbe G m b H , 1000 Berlin 61
Geleitwort Neben der stattlichen Zahl der Jahre des Bestehens der Juristischen Gesellschaft zu Berlin verdient gleichermaßen auch die Tatsache gewürdigt zu werden, daß eine Juristische Gesellschaft in Deutschland über unterschiedliche Staatsformen - vom Königreich Preußen über das kaiserliche Deutschland und die Weimarer Republik bis zur Bundesrepublik Deutschland - Bestand gehabt hat, auch wenn sie während des „Dritten Reiches" zur Untätigkeit gezwungen war. Ihr Wirken ist damit ein Spiegelbild staatlicher Entwicklung Berlins und Deutschlands insgesamt. Die Zeit der Gründung der Juristischen Gesellschaft fällt nicht nur zusammen mit großen Veränderungen der sozialen Struktur unseres Volkes, sondern auch mit erheblichen Wandlungen des Denkens. Liberale Ideen begannen, den Obrigkeitsstaat zu verändern. Es ist das Verdienst der Gründer und ersten Mitglieder der Gesellschaft, an der Ausgestaltung und Bewahrung des liberalen Rechtsstaates an entscheidender Stelle mitgewirkt und zur Rechtsfortbildung in Deutschland beigetragen zu haben. Besondere Anerkennung verdient hierbei das Bemühen des späteren Ehrenmitgliedes der Gesellschaft, Franz von Holtzendorffs, dem es zu verdanken ist, daß bereits ein Jahr nach ihrer Gründung der erste Deutsche Juristentag nach Berlin einberufen wurde. Hiermit hat die Berliner Juristische Gesellschaft zur Gründung einer Institution beigetragen, die bis zum heutigen Tag das Rechtsleben in Deutschland in entscheidender Weise mitgeprägt hat. Ein weiteres herausragendes Verdienst hat die Gesellschaft durch die Herausgabe ihrer Schriftenreihe erworben. Unter den Autoren finden sich viele klangvolle Namen, die durch ihre Beiträge richtungweisende Anregungen für das Rechtsleben in Deutschland gegeben haben, wobei die Themen nicht auf das eigentliche Gebiet der Jurisprudenz beschränkt wurden. Es gibt kaum einen namhaften Rechtsgelehrten in Deutschland, der nicht vor dem Forum der Juristischen Gesellschaft aufgetreten wäre oder für sie geschrieben hätte. Den Erfolg ihrer Tätigkeit verdankt die Gesellschaft ihrer Offenheit gegenüber Wissenschaftlern wie Praktikern, Rechtsanwälten, Richtern und Beamten. Der ständige Austausch von Erkenntnissen und Meinungen gewährleistet die Fähigkeit einer Institution, Probleme unserer Gesellschaft, an deren Gestaltung wir Juristen großen Anteil haben und für die wir Verantwortung tragen, Lösungen näher zu bringen.
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Geleitwort
Als staatsfreie Institution ist die Berliner Juristische Gesellschaft aufgerufen, Vordenker für die Bewältigung der großen Probleme unseres Landes zu sein, so wie sie in ihrem Beschluß zur Gründung des Deutschen Juristentages im April 1860 bereits formulierte: „Beseelt von dem Wunsche, die Einheit Deutschlands auf dem Gebiet des Rechts nach Kräften fördern zu helfen..." Berlin, im Januar 1984
Hermann Oxfort Senator für Justiz
Vorwort Mit der Pflege der Tradition, die sich sonst wohl jedwede Nation angelegen sein läßt, tun wir Deutschen uns besonders schwer. Das mag von mancherlei Schönheitsfehlern und Dunkelfeldern herrühren, die unsere Geschichte aufweist. Kann man indessen das Gegenwärtige verstehen, ohne das Vergangene zu kennen? Müssen wir nicht sogar noch einen Schritt weitergehen und mit Joseph Joubert (1724-1824) sagen: Man muß die Vergangenheit mit Ehrfurcht aufnehmen, die Gegenwart mit Mißtrauen, wenn man für die Zukunft sorgen will? Die Juristische Gesellschaft zu Berlin kann ohne Scheu einen Blick in ihre Vergangenheit tun; während der 12 dunkelsten Jahre deutscher Geschichte von 1933 bis 1945 war sie zum Schweigen verurteilt und durch den Machtspruch der Gewalthaber scheinbar ausgelöscht. Indessen: Ist das nun die einzige, die ganze Antwort? Man wird mit Friedrich Scholz (Berliner Anwaltsblatt, 1983, 207 ff.) freimütig antworten müssen: „Eine irgendwie geartete Plattform für den Widerstand gegen das NS-Regime hätte sie (die Gesellschaft) nach ihrer Anlage wohl auch nicht werden können." Was in der Tat hätte eine allein der Wissenschaft verpflichtete Gemeinschaft den rüden Methoden eines Polizeistaates entgegensetzen können? Vor 125 Jahren, am 7. Mai 1859, ist die Gesellschaft aus kleinen Anfängen entstanden. 13 Juristen - Richter, Rechtsanwälte und Rechtsgelehrte - hatten sich um den Gedanken zusammengeschlossen, durch Vorträge und Diskussionen die Rechtswissenschaft zu fördern. Einen erschöpfenden und systematischen Rückblick auf die Geschichte will ich mir an dieser Stelle versagen. Sie kann nachgelesen werden in dem Beitrag des Rechtsanwalts beim Kammergericht Dr. Hugo Neumann in der Festgabe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin zum 50jährigen Dienstjubiläum ihres damaligen Vorsitzenden, des Präsidenten des Reichsbank-Direktoriums, Geh. Rat Dr. Richard Koch (Verlag Otto Liebmann Berlin 1903, S. 1 ff.) ferner in den Aufsätzen des Senatspräsidenten beim Bundesverwaltungsgericht Dr. Martin Baring (Juristische Rundschau 1978, S. 133 ff.), des damaligen Kammergerichtsrats und jetzigen Präsidenten des Oberlandesgerichts Braunschweig Rudolf Wassermann (Juristische Rundschau 1964, S. 97 ff.) und des Vorsitzenden Richters am Kammergericht Friedrich Scholz (a.a.O. S.207ff.). Zwei weitere Merkposten verdienen es indessen an dieser Stelle in aller Kürze erwähnt zu werden, weil sie den Grund dafür bilden, daß die
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Vorwort
Juristische Gesellschaft zu Berlin im Jahre 1984 ihres 125. Geburtstages überhaupt gedenken kann. Es sind dies einmal die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zur Unwirksamkeit nationalsozialistischer Unrechtsmaßnahmen gegenüber bürgerlich-rechtlichen Vereinen (vgl. dazu B G H bei Lindenmaier-Möhring, N r . 2 zu §21 BGB und N r . 3 zu §33 BGB), zum anderen die Tatkraft zweier Berliner Juristen, des damaligen Landgerichtsdirektors Dr. Willi Seidel und des damaligen Richters am Bundesverwaltungsgericht Dr. Martin Baring, die im November 1958 über den Weg der Neugründung eines eingetragenen Vereins der in ihren Aktivitäten zum Erliegen gekommenen oder totgeglaubten Altkorporation das juristische Leben erhalten haben. Diese Grundlage ermöglichte es dem im Juli 1982 vom Amtsgericht Charlottenburg bestellten Notvorstand, den Rechtsirrtum zu korrigieren, die Altkorporation sei nicht mehr vorhanden. Eine außerordentliche Generalversammlung hat inzwischen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin durch Verabschiedung eines der Entwicklung angepaßten Statuts die Grundlagen für einen Zukunft verheißenden Bestand gegeben. Die auf so außergewöhnliche Art und Weise wiederbelebte Gesellschaft hat nach dem Stand der Drucklegung dieser Festschrift wieder 250 Mitglieder, darunter 7 juristische Personen. Den Gründungsmitgliedern vor 125 Jahren schwebte, wie berichtet wird, ein höheres Ziel vor Augen als dasjenige, welches die Worte des ersten Aufrufs und des Statuts in seiner ursprünglichen Fassung von 1859 erkennen ließen. Es ging damals um die Beseitigung der Rechtszersplitterung, um die Kodifikation eines gemeinsamen, den modernen Verkehrserfordernissen entsprechenden Deutschen Rechts. Dies war die Triebkraft, die damals die Juristen zusammenführte. Sie ist erkennbar in den Vorträgen und Diskussionen bis zur Jahrhundertwende. Aus diesem Bewußtsein heraus faßte die damals noch junge Gesellschaft 1860 den Plan, den Deutschen Juristentag ins Leben zu rufen. Eine allgemeine, periodisch wiederkehrende Juristenversammlung, so heißt es in einem der Protokolle, würde befähigt sein, neben den positiven Leistungen und Vorarbeiten für gewisse Rechtszweige das Gefühl der Rechtsgemeinschaft zu beleben, eine Wechselwirkung zwischen Theorie und Praxis herbeizuführen, einem einseitigen Rechtsdogmatismus entgegenzutreten und fern von allem blinden Zentralisationseifer denjenigen Besonderheiten in den Landesrechten Geltung zu verschaffen, welche in den Eigentümlichkeiten und Verhältnissen ihre objektive Grundlage finden. Es besteht kein Zweifel, daß der Deutsche Juristentag diesem hohen Anspruch gerecht geworden ist. Die Juristische Gesellschaft zu Berlin hat damit gleichwohl - weder damals noch heute - ihre Existenzberechtigung verloren. Ihr Ziel geht weiter, als es das Statut mit den schlichten Worten „die Rechtswissen-
Vorwort
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schaft durch wissenschaftliche Vorträge und deren Veröffentlichung zu fördern" zu beschreiben vermag. Der Gesellschaft kommt unverändert die Aufgabe zu, aussagefähige und durch hohe Sachkompetenz ausgewiesene Juristen zusammenzuführen und ihnen ein Forum zu bieten, auf dem sie in Vorträgen und Diskussionen zu aktuellen Fragen der Gesetzgebung und Rechtsprechung, die der wissenschaftlichen Durchdringung bedürfen, Stellung nehmen können, um sie so einem Klärungs- und Reifungsprozeß zuzuführen. Die Jahresberichte der Altkorporation und die Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft, deren Herausgabe während der letzten 25 Jahre dem Mäzenatentum des Verlagshauses Walter de Gruyter zu danken ist, legen für die Vergangenheit ein eindrucksvolles Zeugnis ab. Auch die vorliegende, aus Anlaß des 125jährigen Jubiläums herausgegebene Festschrift, deren Herausgeber und Autoren herzlicher Dank gebührt, mag zeigen, daß die Juristische Gesellschaft zu Berlin sich gleichermaßen auch in Zukunft einem hohen, an Qualität und Aufgabenstellung gemessenem Anspruch verpflichtet weiß. Nicht zuletzt soll den Juristen dieser Stadt die Gelegenheit gegeben werden, über das eigene Fachgebiet hinauszuschauen und Fragestellungen und Themen kennenzulernen, mit denen sie in der eigenen Praxis nicht ohne weiteres in Berührung kommen. Es geht nicht - wie beim Deutschen Juristentag - darum, alle zwei Jahre einen nach Teilnehmerzahl bundesweiten Kongreß deutscher Juristen unter ausgewählten Leitthemen zu versammeln. Die Juristische Gesellschaft zu Berlin will vielmehr - in der Stille des Alltags wirkend - solchem vorangehen und - Einsichten und Erfahrungen von Forschung und Praxis nutzend — Richtern und Staatsanwälten, Rechtsanwälten und Wirtschafts- und Verwaltungsjuristen und nicht zuletzt den Rechtsgelehrten der Berliner und auswärtiger Universitäten den Rahmen für die wissenschaftliche Erörterung und Vertiefung aktueller und praxisbezogener Themen, aber auch die Gelegenheit zu Fachgesprächen und zu persönlicher Begegnung vermitteln. Die Vereinigung hat in der Vergangenheit Hervorragendes geleistet. Es wäre müßig, hier zu wiederholen, was an anderer Stelle bereits hinreichend gewürdigt worden ist. Die Impulse und Anregungen, welche die Gesellschaft in den Jahren von 1859 bis 1933 und später von 1958 bis 1983 für alle Rechtsbereiche gegeben haben, sind Ansporn und Anreiz für die Zukunft. Der Blick zurück in die Vergangenheit hat deshalb stets zugleich einen Zukunftsaspekt; denn sehr kurz und voller Sorgen ist das Leben derer, die das Vergangene vergessen, das Gegenwärtige vernachlässigen, vor der Zukunft Angst haben (Seneca, 4 v. Chr.-65 η. Chr.). So war es guter Brauch der alten Korporation, hervorragender Rechtsgelehrter oder bedeutender rechtsgeschichtlicher Ereignisse in festlichen Vortragsveranstaltungen zu gedenken. Hier hat sich in den
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Vorwort
letzten Jahren - gewissermaßen stellvertretend - das Kammergericht bereitgehalten, so in den Gedenkveranstaltungen für den preußischen Justizreformer Samuel von Cocceji am 19. Oktober 1979, für den Völkerrechtslehrer Samuel von Pufendorf am 2. Dezember 1982 und zuvor schon und aus Anlaß der Eröffnung der Preußen-Ausstellung in Berlin - in einer festlich umrahmten Vortragsveranstaltung zum Thema „Die Justiz in den politischen Testamenten des Großen Kurfürsten und seiner Nachfolger" am 25. September 1981. Die Juristische Gesellschaft zu Berlin sollte diese bis 1933 gepflegte Tradition wieder aufnehmen und sich etwa des Begründers der historischen Rechtsschule Friedrich Carl von Savigny erinnern, dessen Todestag sich 1986 zum 125. Mal jährt. Gleiches sollte - um nur wenige Namen zu nennen - für den Romanisten Rudolf von Ihering gelten, dessen Einfluß bis in unsere Zeit reicht, und für Rudolf von Gneist, den Vorkämpfer für eine eigenständige Verwaltungsgerichtsbarkeit. An dieser Stelle darf erlaubt sein, das zu zitieren, was Justinian im Jahre 553 der Bestätigung seiner Digesten angefügt hat: „Tanta autem nobis antiquitati habita est reverentia, ut nomina prudentium taciturnitati tradere nullo patiamur modo". Aber auch die von der Juristischen Gesellschaft ins Leben gerufenen Einrichtungen geben Anlaß, den Bogen von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft zu ziehen. So ist an die am 29. November 1861 ins Leben gerufene Savigny-Stiftung zu erinnern, deren Ziel es war, Arbeiten auf dem Gebiet der vergleichenden Rechtswissenschaft zu fördern. Die Anlagen der Jahresberichte der Juristischen Gesellschaft geben über die weitreichenden, Länder und Kontinente umspannenden Aktivitäten dieser Stiftung beeindruckenden Aufschluß. Die Einberufung des 1. Deutschen Juristentages in der Sitzung der Gesellschaft vom 14. April 1860 sollte als Ereignis betrachtet werden, dessen man sich 1985 in besonderer Weise erinnert. Für 1987 rüstet sich Berlin zur 750Jahrfeier. Fraglos ist dies ein Anlaß für die Juristische Gesellschaft, die Entwicklung Berlins aus der Sicht des Juristen mit einer Vortragsreihe zu begleiten, beginnend mit der Stadtrechtsentwicklung von ihren Anfängen bis zur derzeitigen staats-, verfassungs- und völkerrechtlichen Stellung unserer Stadt. Ein 8 Vorträge umfassendes Konzept hierfür ist dem Senator für Justiz bereits zugegangen. Um ein möglichst umfassendes Bild von der 125 Jahre langen Entwicklung der Gesellschaft zu gewinnen, bemüht sich derzeit der Vorstand mit Unterstützung westdeutscher und ausländischer Universitäten, Akademien und Bibliotheken das durch Kriegseinwirkung verlorengegangene Archiv zu rekonstruieren. O b die Herausgabe der Jahresberichte wiederaufgenommen wird, kann erst in einiger Zeit entschieden werden. Diese Jahresberichte zeichneten sich dadurch aus, daß sie nicht nur - wie jetzt - eine begrenzte Auswahl von Vorträgen der Öffentlich-
Vorwort
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keit zugänglich gemacht haben. Sie hielten vielmehr in lebendig und vorzüglich formulierten Protokollen nicht nur sämtliche Vorträge, sondern auch die geschliffenen, prägnanten und die Diskussion befruchtenden Beiträge erstklassiger Juristen für die Nachwelt fest. Als Anlage waren ihnen die Arbeitsberichte des Deutschen Juristentages und der Savigny-Stiftung beigefügt. Die Juristische Gesellschaft zu Berlin von 1859 sprach und handelte wie es Neumann (a. a. O.) seinerzeit formuliert hat - als hauptstädtische Vereinigung „stillschweigend in Vertretung der preußischen, der deutschen Juristen, wo eine Unterlassung eine Lücke bedeutet hätte". Mehr und Besseres kann man für die Juristische Gesellschaft zu Berlin auch heute nicht sagen. Berlin hat durch die hybriden Untaten des NSRegimes in schicksalhafter Weise seine Hauptstadtfunktion eingebüßt. Die Neuordnung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg hat dazu geführt, daß sich die Zentren des politischen, geistigen und des wirtschaftlichen Lebens zum Teil neu und anderwärts orientiert haben, wie das in unserer Geschichte von jeher zu sein pflegte, wenn und solange ein alle Kräfte an sich bindendes Machtzentrum - gleichviel ob monarchischer oder republikanischer Prägung - zerfiel oder durch föderale Strukturen ab- und aufgelöst worden ist. Weiterhin kann nicht vergessen werden, daß einem Teil der Deutschen die Auseinandersetzung in Freiheit versagt ist. Wenn wir heute von Berlin sprechen, meinen wir meist nicht mehr die ganze Stadt, sondern nur noch ihre Westsektoren. Die expansive und aggressive Funktion der Mauer, die Berlin gespalten und die Teilung Deutschlands vertieft hat, zeigt ihre Wirkungen. So sucht Berlin in unserer Zeit nach seiner Identität oder besser: nach seiner Aufgabe in einer unklaren Zukunft. Von den unterschiedlichsten Modellen ist gesprochen worden: „Drehscheibe", „Treffpunkt", „Brücke". Man wird einräumen müssen, daß dies zuwenig ist. Die Identität Berlins kann nur in einer großen nationalen Anstrengung wiedergewonnen werden, die sich nicht in herkömmlichen Pflichtübungen und halbherzigen Demonstrationen erschöpfen darf. Berlin liegt geographisch, politisch und geistig mitten in Deutschland. Von ausschlaggebender Bedeutung für die Zukunft Berlins ist sein geistiger Rang. Trotz aller Nachkriegsveränderung haben Kunst und Wissenschaft in Berlin eine Verdichtung erfahren, wie sie anderswo im deutschen Kultur- und Sprachbereich nicht zu erfahren ist. Berlin kann damit, wie es Richard von Weizsäcker als Regierender Bürgermeister von Berlin formuliert hat, „als geistiges und kulturelles Zentrum weit in die Welt hineinwirken und anziehen". Die Juristische Gesellschaft zu Berlin ist gewiß kein politisches Forum, aber als Platz geistig-wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit der kulturellen Dimension „Recht" hat sie auch eine zukunftsweisende,
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Vorwort
im wohlverstandenen Sinne politische Aufgabe. Sie will mit ihren Veranstaltungen Signale für die Entwicklung des Rechts setzen und über die engen Grenzen unserer Mauern hinausweisen. Hervorragende Rechtsgelehrte aus dem gesamten deutschsprachigen Raum sollen Gelegenheit erhalten, von Berlin aus die geistige Auseinandersetzung zu suchen und zu eröffnen und auf diese Weise dazu beizutragen, daß Berlin geistiger Mittelpunkt unseres Vaterlandes bleibt. Die Juristische Gesellschaft sollte dem Anspruch gerecht werden, von Berlin aus Antworten auf die Fragen zu geben, die das Recht uns in unserer Zeit in Berlin, in Deutschland, in Europa stellt. Tut sie das, so ist das Fortbestehen der Vereinigung als Teil einer geistig lebendigen Stadt auf viele Jahre hinaus gesichert. Berlin, im Januar 1984
Diether Dehnicke Präsident der Juristischen Gesellschaft zu Berlin
Inhalt HERMANN OXFORT, Senator für Justiz, Berlin Geleitwort
V
DIETHER DEHNICKE, Dr. iur., Präsident des Kammergerichts, Berlin Vorwort
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PETER BADURA, Dr. iur., Professor an der Universität München Der Eigentumsschutz des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebes gegenüber der staatlichen Intervention im Bereich der Wirtschaft . . .
1
GÜNTHER BARBEY, Dr. iur., Richter am Bundesverwaltungsgericht, Berlin, apl. Professor an der Freien Universität Berlin Amtshilfe durch Informationshilfe und „Gesetzesvorbehalt"
25
ERNST BENDA, Dr. iur. h. c., Professor an der Universität Freiburg, Präsident des Bundesverfassungsgerichts a. D. Berliner Rechtsprechung zum Grundgesetz JOACHIM BURMEISTER, Dr. iur., Professor an der Universität Saarbrücken Uber die Notwendigkeit einer neuen „Theorie des Staatseigentums" im demokratischen Verfassungsstaat
47
61
UWE DIEDERICHSEN, Dr. iur., Professor an der Universität Göttingen Der logische Dissens
81
FRIEDRICH EBEL, Dr. iur., Professor an der Freien Universität Berlin Die Savigny-Stiftung
101
HANS-UWE ERICHSEN, Dr. iur., Professor an der Universität Münster Schule und Parlamentsvorbehalt
113
KLAUS FINKELNBURG, Dr. iur., Rechtsanwalt und Notar, Honorarprofessor an der Freien Universität Berlin Zum Schutz von Baudenkmalen in Berlin
129
KLAUS GEPPERT, Dr. iur., Professor an der Freien Universität Berlin, Richter am Kammergericht Zum Einsichtsrecht des Strafgefangenen in die anstaltsärztlichen Krankenunterlagen 149
XIV
Inhalt
DIETER GIESEN, Dr. iur., Professor an der Freien Universität Berlin Kolonialpolitik zwischen Irritation und Illusion. Prolegomena zu einer Rechts- und Sozialgeschichte deutscher Kolonialbestrebungen im Pazifik am Beispiel Samoas (1857-89) 177 PETER HANAU, Dr. iur., Professor an der Universität zu Köln Arbeitsrecht in der sozialen Marktwirtschaft
227
DIETER HECKELMANN, Dr. iur., Professor an der Freien Universität, Präsident der Freien Universität Berlin Konkurrenzschutz privater Makler gegenüber den öffentlich-rechtlichen Sparkassen im Bereich der Immobilienvermittlung 245 HANS PETER IPSEN, D r . i u r . , e m . P r o f e s s o r an d e r U n i v e r s i t ä t H a m b u r g
Der Stadtstaat als Unternehmer und Träger der Fachaufsicht. Lehren aus dem Hamburger „Fall Brokdorf" 265 HANS D. JARASS, Dr. iur., Professor an der Ruhr-Universität Bochum Beschränkungen des Anlagenbetriebs und des Kraftfahrzeugverkehrs bei austauscharmen Wetterlagen 283 GÜNTHER KAISER, Dr. iur., Professor an der Universität Freiburg, Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht, Freiburg i. Br. Die gesetzliche Regelung über den Vollzug der Untersuchungshaft und ihre Reform 299 MICHAEL KLOEPFER, Dr. iur., Professor an der Universität Trier Zur Zulässigkeit der Bescheidlösung im Abwasserabgabengesetz
313
WERNER KNOPP, Dr. iur., Professor, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Berlin Juristische Aspekte von Gründung und Arbeit der Stiftung Preußischer Kulturbesitz 329 HORST KONZEN, Dr. iur., Professor an der Universität Mainz Gesetzentwurf und Revisionsurteil
347
PETER LERCHE, Dr. iur., Professor an der Universität München Aspekte verfassungsgerichtlicher Osterreich
Subsidiarität
in Deutschland
und 369
ULRICH VON LÜBTOW, Dr. iur., em. Professor an der Freien Universität Berlin Savigny und die Historische Schule 381 BERND BARON VON MAYDELL, D r . i u r . , P r o f e s s o r an d e r U n i v e r s i t ä t B o n n
Zum Stil sozialpolitischer Gesetzgebung
407
XV
Inhalt
T H E O M A Y E R - M A L Y , D r . i u r . , o . U n i v e r s i t ä t s p r o f e s s o r an d e r U n i v e r s i t ä t
Salzburg Gesetzesflut und Gesetzesqualität heute
423
D E T L E F MERTEN, D r . i u r . , D r . r e r . p o l . , P r o f e s s o r a n d e r H o c h s c h u l e f ü r
Verwaltungswissenschaften Speyer, Mitglied des Verfassungsgerichtshofs, Rheinland-Pfalz Landesgesetzgebungspflichten kraft Bundesrahmenrechts?
431
HEINZ MÜLLER-DIETZ, D r . iur., P r o f e s s o r an der Universität S a a r b r ü c k e n
Recht und Aphoristik
457
REINHARD MUSSGNUG, D r . i u r . , o . P r o f e s s o r an d e r U n i v e r s i t ä t
Heidel-
berg, Richter am Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Öffentlich-rechtliche Vorfragen im Zivilprozeß
479
W E R N E R OGRIS, D r . i u r . , o . U n i v e r s i t ä t s p r o f e s s o r a n d e r U n i v e r s i t ä t W i e n
Verbietet mir keine Zensur! Goethe und die Preßfreiheit
509
HANS-JÜRGEN PAPIER, D r . i u r . , P r o f e s s o r an d e r U n i v e r s i t ä t B i e l e f e l d
Staatliche Einwirkungen auf die Energiewirtschaft CHRISTIAN PESTALOZZA,
Dr.
iur.,
Professor
an
529 der Freien
Universität
Berlin Berlin unter Europäischem Rechtsschutz
549
GÜNTER PÜTTNER, D r . i u r . , P r o f e s s o r a n d e r U n i v e r s i t ä t T ü b i n g e n
Der schwierige Weg der Verfassungsgerichtsbarkeit ALBRECHT RANDELZHOFER, D r . i u r . , P r o f e s s o r a n d e r F r e i e n
573 Universität
Berlin Kriegsrecht und westliches Verteidigungskonzept. Ein sicherheitspolitischer Preis für das Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte? 587 REINHARD RICHARDI, D r . i u r . , P r o f e s s o r an d e r U n i v e r s i t ä t R e g e n s b u r g
Arbeitnehmerbegriff und Arbeitsvertrag GERD
ROELLECKE,
Dr.
iur.,
Professor
607 an
der
Universität
Mannheim,
Rektor der Universität Mannheim Recht und Prüfungen
625
H E R B E R T SCHAMBECK, D r . i u r . , o . P r o f e s s o r a n d e r U n i v e r s i t ä t L i n z , Stellv.
Vorsitzender des Bundesrates der Republik Österreich Entwicklungstendenzen der Demokratie
641
KARSTEN SCHMIDT, D r . i u r . , P r o f e s s o r a n d e r U n i v e r s i t ä t H a m b u r g
Die Rechtspflicht des Staates zur Stabilitätspolitik und der privatrechtliche Nominalismus. Ein Versuch über Reaktions- und Legitimationszusammenhänge zwischen öffentlichem und privatem Recht 665
XVI
Inhalt
Dr. iur., Professor an der Universität München, Senator für Bundesangelegenheiten, Berlin Technik und Recht 691
RUPERT SCHOLZ,
Dr. iur., Professor an der Freien Universität Berlin Verbrauchslenkung durch Information. Die Transparenzkommission beim Bundesgesundheitsamt 715
GUNTHER SCHWERDTFEGER,
Dr. iur., Professor an der Freien Universität Berlin Der Verhandlungsanspruch der Tarifvertragsparteien
H U G O SEITER,
729
SENDLER, Dr. iur., Präsident des Bundesverwaltungsgerichts, Berlin, Honorarprofessor an der Freien Universität Berlin Zur Makulaturproduktion des Gesetzgebers. Zum Wahrheitsgehalt der Kirchmannschen These von den drei berichtigenden Worten des Gesetzgebers 753
HORST
Dr. iur., em. Professor an der Universität Freiburg i. Br. Einmischung oder nicht? Zur Durchlässigkeit der europäischen Staatsgrenzen 775
WERNER VON SIMSON,
Dr. iur., Professor an der Universität München Konzentrationskontrolle und Niederlassungsfreiheit. Ein Beitrag zur Konsultationspflicht der Staaten nach Art.5 EWGV 789
ERNST STEINDORFF,
Dr. iur., em. Professor an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Uber das Wirken des Präsidenten des Preußischen Oberverwaltungsgerichts Prof. Dr. Dr. h. c. B. Drews in der Zeit nach 1933 803
CARL H E R M A N N U L E ,
Dr. iur., em. Professor an der Universität Kiel, Richter am Oberverwaltungsgericht a. D. Die Deutsche Verwaltungsgeschichte 821
G E O R G - C H R I S T O P H VON U N R U H ,
Dr. iur., Professor an der Universität Gießen Auslieferung und Asylrecht
T H E O VOGLER,
829
Dr. iur., Professor an der Freien Universität Berlin, Richter am Oberverwaltungsgericht Wiederaufgreifen oder Wiederaufnahme von Verwaltungsverfahren? §51 Verwaltungsverfahrensgesetz im Lichte der Zivilprozeßordnung 847
DIETER
WILKE,
Der Eigentumsschutz des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebes gegenüber der staatlichen Intervention im Bereich der Wirtschaft PETER BADURA
I. Strukturpolitische Wirtschaftsbeeinflussung durch Subventionen In den Anfangsjahren jener Epoche, die dann als „Wirtschaftswunder" bezeichnet wurde, behandelte die Staatsrechtslehrervereinigung auf ihrer Marburger Tagung im Jahre 1952 „Die staatliche Intervention im Bereich der Wirtschaft"1. Scheuner ordnete den staatlichen Interventionismus einem System begrenzter Wirtschaftslenkung zu und definierte ihn als eine Gestaltung der staatlichen Wirtschaftspolitik, die sich nicht mit einer polizeilich-überwachenden Funktion begnügt, sondern unter bestimmten politisch-sozialen Zielen der Förderung oder auch der Umgestaltung in Erzeugung und Verteilung wie auch in die rechtlichen und sozialen Grundlagen der Wirtschaft eingreift, ohne eine Aufhebung der freien wirtschaftlichen Bewegung zugunsten eines geschlossenen Systems zentraler Planung und Anordnung im wirtschaftlichen Leben zu erreichen oder auch nur anzustreben. Die Interventionen werden unterschieden in unmittelbar eingreifende Maßnahmen, worunter auch die Schaffung von Monopolen und sonstigen öffentlich-rechtlichen Vorrangstellungen und ein „gestaltender wirtschaftlicher Ausgleich" gezählt werden, und in indirekte Mittel staatlicher Lenkung oder Beeinflussung des Wirtschaftslebens, darunter Subventionen, Vergünstigungen, Förderung des Außenhandels und Investitionsplanung. Ubereinstimmend sieht Schule in den Subventionen ein bedeutendes Instrument der Wirtschaftslenkung. Schiile betont außerdem, daß die wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand „Mitgestaltung der Wirtschaft durch den Staat" bedeute. In ausführlicher Auseinandersetzung mit den verfassungsrechtlichen Bindungen der Wirtschaftspolitik und der Wirtschaftsverwaltung legt Scheuner dar, daß für das System begrenzter Wirtschaftslenkung angesichts der tiefgehenden Auswirkungen staatlicher Interventionen im Wirtschaftsleben die wirksame Begrenzung und ein nachhaltiger Schutz der Grundlagen persönlicher und wirtschaftlicher Freiheit sowie der 1
Berichte von U. Scheuner und Adolf Schule, W D S t R L 11, 1954, S. 1, 75.
2
Peter Badura
rechtsstaatlichen Prinzipien Voraussetzung seien. Jede wirtschaftliche Ordnung werde getragen und maßgebend geformt durch die rechtliche Ordnung der Verfassung, der grundlegenden Institutionen des Privatrechts (Eigentum, Vertragsfreiheit, Erbrecht) und der Verwaltung sowie ihre Handhabung. Die Bedeutung der Eigentumsgarantie des Art. 14 G G erkennt Scheuner in der Betonung einer privatrechtlichen Eigentumsordnung als gewährleisteter Lebensordnung und der über das bisherige Recht hinaus erfolgten Sicherung der Eigentumssubstanz durch die in jedem Fall bei Enteignung erforderte Entschädigung. Als Grenzen der Garantie erscheinen die starke Betonung der Sozialpflichtigkeit und die Zulassung der gemeinwirtschaftlichen Ordnung begrenzter Gebiete. In der Aussprache zu den beiden Berichten unterbreitete Η. P. Ipsen einen Gedanken2, der sogleich lebhaftes Echo fand. Planende Wirtschaftsintervention führe zur Annahme einer Pflicht des Staates, der von der Planung betroffenen und zu bestimmten Risiken veranlaßten Wirtschaft gegenüber für eine Innehaltung, Durchführung und ordnungsgemäße Abwicklung des Planes einzustehen. „Man mag diese Pflicht als eine Art ,Plangewährleistung' bezeichnen." Aus ihr folge, daß bei Widerruf, Änderung oder unvorhergesehener Beendigung der Planung „Planungsschäden" zu ersetzen seien. Diese Plangewährleistung entspringe der Erkenntnis, daß jede Lenkung und Planung ein zweiseitiges Rechtsverhältnis entstehen lasse, dem auf beiden Seiten Rechte und Pflichten entwüchsen. Der Ausdruck „Intervention", dessen abwehrender Gestus der Wertwelt des Liberalismus entstammt, ist heute etwas aus der Mode gekommen. In einer eigentlich nur pragmatischen Zusammenfassung wird von der „staatlichen Einwirkung auf die Wirtschaft" 3 gesprochen. Mit dem Wort „Wirtschaftslenkung" kann sich die gleiche allgemeine Bedeutung, aber auch eine beabsichtigte Unterscheidung gegenüber gewerbepolizeilicher Gefahrenabwehr und rein begünstigender Leistungsverwaltung verbinden4. Die „Intervention", „Wirtschaftslenkung" oder „Steuerung" der Wirtschaft genannte, sehr komplexe Erscheinung der staatlichen Wirtschaftsbeeinflussung hat eine ordnungs- oder gesellschaftspolitisch faßbare institutionelle Seite, die gemeinhin in der Frage nach der „ Wirtschaftsverfassung" ans Licht gehoben wird, und eine Auswirkung auf die A . a . O . S. 129. U. Scheuner (Hrsg.), Die staatliche Einwirkung auf die Wirtschaft 1971; H. D. Jarass, Wirtschaftsverwaltungsrecht, 1980, S.31 ff. - Mit ähnlicher Begrifflichkeit wird, trotz des weniger blassen Wortsinns, der Ausdruck „Global-" und „Einzelsteuerung" verwendet; siehe W. Fikentscher, Wirtschaftsrecht, Bd. II, 1983, S. 434 ff. 4 E.R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, 2. Aufl., II. Bd., 1954, S. 197 ff.; R. Stober, Wirtschaftsverwaltungsrecht, 2.Aufl., 1980, S. 102ff.; R.Weimar/P.Schimikowski, 1983, S. 154 ff. 2
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3
Eigentumsschutz des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebes
konkreten Rechtspositionen individueller Wirtschaftssubjekte, die als Beeinträchtigung subjektiver Rechte und - in der überkommenen Spra-
che des Verfassungsrechts - als „Eingriff" in Grundrechte
der Wirt-
schaftsfreiheit in Betracht gezogen werden muß. Die Wirtschaftsbeeinflussung durch Subventionen soll hier als ein exemplarischer Fall der möglichen Beeinträchtigung subjektiver Rechte, speziell des Eigentumsschutzes des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebes erörtert werden. Trotz dieser Einschränkung der Fragestellung ist nicht außer acht zu lassen, daß die Wirtschaftsförderung durch Subventionen und durch Steuervergünstigungen ein zentrales Thema der Wirtschaftsverfassung ist. Nicht von der Seite des individuellen Rechtsschutzes, sondern nur auf dem Boden wirtschaftsverfassungsrechtlicher Kritik könnte das ständig neu auf die Tagesordnung gesetzte Problem eines Subventionsabbaus und einer Lichtung des „Subventionsdschungels" gelöst werden, von dessen Vielschichtigkeit und Ambivalenz sich der Haushaltsausschuß und der Finanzausschuß des Bundestages am 3. und 4.Juni 1982 bei einer öffentlichen Anhörung zum 8. Subventionsbericht der Bundesregierung erneut überzeugen konnten 5 . Der institutionelle Blickwinkel der Wirtschaftsverfassung zeigt auch, daß die Subventionen als Werkzeug der Beeinflussung und Förderung der Wirtschaft unter gewissen Bedingungen austauschbar sind mit der
Wirtschaftstätigkeit
der öffentlichen Hand und mit der Vergabe
öffentli-
cher Aufträge1". Hier wie dort wird die privatwirtschaftliche Initiative und Verantwortung beschränkt oder verdrängt. J e nach Sachlage kann das verfolgte öffentliche Interesse, z . B . Entwicklungsförderung oder Beschäftigungspolitik, durch Subventionierung, durch Vergabe öffentlicher Aufträge oder schließlich durch öffentliche Wirtschaftstätigkeit wahrgenommen werden. Hier wie dort stellt sich für den Konkurrenten des Subventionierten, des Auftragsempfängers oder des öffentlichen Unternehmens die Frage, ob eine Beeinträchtigung in der Wettbewerbsposition oder im Unternehmensbestand als „Eingriff" in seine allgemeine Wirtschaftsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 G G ) , seine Unternehmensfreiheit (Art. 12 Abs. 1 G G ) oder seinen eigentumsrechtlich geschützten Gewerbebetrieb (Art. 14 G G ) vorliegt. Anschauliche Beispiele für die beiden wesentlichen Fallgruppen des Eigentumsschutzes des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebes angesichts von Subventionierungsmaßnahmen konnten an ein und demselben Tage der Zeitung entnommen werden 7 : Das erste Beispiel 5 6 7
BTag Drucks. 9/986. - Zu der Anhörung siehe woche im bundestag 11/82, S.9f. P.Badura, ZHR 146, 1982, S. 448/459. F.A.Z., 18.8.1983.
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betrifft die Entscheidung über die Fortdauer der Werftenhilfe am Standort Bremen. Bei Verallgemeinerung könnte die Betrachtung hier auf die Frage treffen, ob und unter welchen Voraussetzungen durch die Gewährung von Subventionen zugunsten des geförderten Unternehmens ein Vertrauenstatbestand entstehen würde, dem sich ein Anspruch auf Fortsetzung der Förderung abgewinnen ließe. Der Zeitungsbericht schildert die Zurückhaltung des Bundes gegenüber dem Wunsch der Küstenländer nach einer stärkeren Hilfe für die bedrängten Werften, die Möglichkeit einer Hilfe im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe Regionale Wirtschaftsförderung, die von dem Bundeswirtschaftsminister aufgestellte Bedingung eines „tragfähigen Unternehmenskonzepts" und die Forderung der Industriegewerkschaft Metall, zur Uberwindung der Werftenkrise ein nationales Schiffbau- und Schiffahrtsprogramm aufzustellen und ein beschäftigungswirksames Küstenstrukturprogramm mit einem Volumen von mindestens 20 Mrd. DM pro Jahr in Angriff zu nehmen. Es findet sich weiter die aufschlußreiche Nachricht, daß die von den SPD-Regierungen in Hamburg und Bremen immer wieder ins Gespräch gebrachte gesellschaftsrechtliche Beteiligung des Bundes an einigen großen Werften nach Meinung der Bundesregierung generell nicht in Frage komme. In einem anderen Artikel derselben Ausgabe wird unter der Uberschrift „Krise im Weltschiffbau spitzt sich zu" über eine Sachverständigenprognose berichtet, wonach vor der zweiten Hälfte der achtziger Jahre mit einer Besserung der Lage nicht zu rechnen sei. Wegen weiterer Rationalisierung und Schrumpfung würden die westeuropäischen Werften höchstwahrscheinlich noch mehr Marktanteil einbüßen. Ein redaktioneller Kommentar schließlich meint, „Bremen braucht Wahrheit". Weder Bonn noch das Land Bremen hätten Geld genug, um Kapazitäten am Leben zu erhalten, die der Markt für lange Zeit nicht mehr brauche. „Wer könnte außerdem verantworten, daß mit hohen Dauersubventionen für große Unternehmen den flexibleren mittelständischen Werftunternehmen - die immerhin auch Leute beschäftigen noch zusätzlich das Wasser abgegraben wird"8. In dem letzten Satz klingt das Thema der Wettbewerbsverzerrung durch Subventionen an, daß der Hintergrund des zweiten Beispiels ist. Es handelt sich dabei um den Bericht über die von der Badischen Stahlwerke AG (BSW), Kehl, beim Verwaltungsgericht Köln gegen die Bundesrepublik Deutschland erhobenen Klage wegen der erneuten Subventionierung der A R B E D Saarstahl GmbH, des wichtigsten Konkurrenten der BSW, durch die Bundesregierung. Für die in der Vergangenheit an A R B E D Saarstahl gezahlten Subventionen wird ein angemesse® Zu den Hilfen des Bundes für die Werftindustrie vgl. die Angaben im Neunten Subventionsbericht, BTag Drucks. 10/352 ( 6 . 9 . 1 9 8 3 ) , S.40, 132 f.
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ner „Ausgleichsbetrag" gefordert. Die in der Subventionierung liegende Diskriminierung habe wesentlich dazu beigetragen, daß die BSW bzw. die Korf-Gruppe Anfang des Jahres insolvent geworden sei. Die Klägerin beruft sich auf einen Eingriff in die grundgesetzlich geschützte Wettbewerbsfreiheit und auf eine Verletzung des grundsätzlichen Subventionsverbots des EGKS-Vertrages. Nicht anders wie bei der Werftindustrie treffen in der Stahlkrise regionale und internationale Ursachen zusammen'. Auch hier findet sich die Forderung, finanzielle Beihilfen, die der Stahlindustrie von der öffentlichen Hand zur Umstrukturierung gewährt werden, in direkte Beteiligungen umzuwandeln10. Der Bund hat wegen der großen strukturpolitischen Bedeutung der Stahlindustrie und den arbeitsmarktpolitischen Auswirkungen der Stahlkrise im Ruhrgebiet und im Saarland verschiedene Förderungsmaßnahmen ergriffen". Soziale Maßnahmen im Rahmen der Umstrukturierung der Eisen- und Stahlindustrie sind außerdem Gegenstand gemeinschaftsrechtlichen Vorgehens12. Die Beihilfen an A R B E D Saarstahl gehören, ungeachtet der besonderen regionalpolitischen Bedeutung dieses Unternehmens, in den größeren Zusammenhang der staatlich geförderten Umstrukturierung der deutschen Stahlindustrie. Zur jüngsten Stützung des Unternehmens wird erläutert, ein nochmaliger Preisverfall und Absatzeinbußen vor allem im zweiten Halbjahr 1982 hätten zur Folge gehabt, daß sich die Finanzlage des Unternehmens aufs äußerste verschärfte. U m die bereits erreichten Rationalisierungsfortschritte zu erhalten und den schließlich drohenden Zusammenbruch des Unternehmens abzuwenden, hätten die von Bund und Saarland gewährten Zuschüsse noch einmal aufgestockt werden müssen. Die staatliche Wirtschaftsförderung und -beeinflussung im Bereich der Werftindustrie und der Stahlindustrie kann für den Einblick in die
' W. Bredemeier, Stahl - geordneter Rückzug in der Dauerkrise oder rechtzeitige Gegenstrategien? Die Mitbestimmung 1983, S.251. 10 Brief der IG Metall an den Bundeskanzler vom 14.3.1983. Die Mitbestimmung 1983, S. 259. " Wegen der regionalen Strukturpolitik im Bereich des Saarlandes siehe die Darstellung im Zwölften Rahmenplan der Gemeinschaftsausgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" über das Regionale Aktionsprogramm „Saarland-Westpfalz" und das Sonderprogramm zur Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen außerhalb der Eisen- und Stahlindustrie - Stahlstandorteprogramm BTag Drucks. 10/303 (15.8.1983), S. 104 ff., 150 f. sowie die Darstellung im Neunten Subventionsbericht über Maßnahmen im Stahlbereich und Zuschüsse für Investitionen der saarländischen Stahlindustrie, BTag Drucks. 10/352, S . 4 0 f . , 134 ff. und in der Antwort der BReg auf eine Kleine Anfrage, BTag Drucks. 10/ 523 (25.10.1983). Siehe weiter die Beurteilungen im Jahresgutachten 1983/84 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, „Stahlindustrie: Subventionswettlauf beenden" (BTag Drucks. 10/669, S. 229 ff.). 12
Siehe ζ. B. die Unterrichtung durch die Bundesregierung mit BTag Drucks. 8/2979.
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Komplexität und Gestaltungswirkung der im Subventionswesen zu treffenden wirtschafts- und sozialpolitischen Entscheidungen durchaus als repräsentativ gelten. Ziele und Wirkungen des Subventionswesens treten erst dann deutlicher über den Horizont, die verfassungsrechtlichen Grundfragen des Subventionswesens können erst dann hinreichend und vollständig gestellt werden, wenn die Wirtschaftsförderung durch Subventionen als ein Instrument der Wirtschaftslenkung und Strukturpolitik und als ein Vorgang der wirtschafts- und sozialpolitischen Umverteilung durchdacht wird. Durch die Steuerung der landwirtschaftlichen Produktion und Vermarktung, durch die Förderung und Umstrukturierung der Montanindustrie und durch die regionalen Strukturmaßnahmen werden wesentliche Wirtschaftsbereiche in Produktions- und Wettbewerbsbedingungen, in Struktur und Wachstum öffentlich-rechtlich gelenkt und von politischen Entscheidungen abhängig. Die Verknüpfung sektoraler und regionaler Strukturpolitik zeigt sich in der gesetzlichen Anerkennung der Förderungswürdigkeit solcher Gebiete, in denen Wirtschaftszweige vorherrschen, die vom Strukturwandel in einer Weise betroffen oder bedroht sind, daß negative Rückwirkungen auf das Gebiet in erheblichem Umfang eingetreten oder absehbar sind". Die strukturpolitische Zielsetzung der Subventionierung hat regelmäßig zur Folge, daß die Unternehmen nicht als Einzelfall, sondern als Angehörige eines förderungsbedürftigen Wirtschaftszweiges oder im Hinblick auf den Standort gefördert werden. Strukturpolitik ist der Kern der Wirtschaftsförderung durch Subventionen. Sie zielt ab auf die Verbesserung der sozialen und technischen Infrastruktur, die Begünstigung von Innovationen mit einer besonderen volkswirtschaftlichen Bedeutung und die Umstrukturierung ländlicher Gebiete oder solcher Gebiete, die eine unausgewogene Wirtschaftsstruktur aufweisen. Dennoch ist es nicht ausgeschlossen, daß die Existenz oder die Entwicklung eines einzelnen Unternehmens für ein bestimmtes Gebiet oder für einen bestimmten Wirtschaftszweig von so herausragender Bedeutung sind, daß die Förderung dieses Unternehmens für sich allein durch das öffentliche Interesse gerechtfertigt erscheint14. Besonders auffällig bei einer solchen „Einzelfall-Subvention", aber mehr oder minder deutlich bei jeder Förderungsmaßnahme bewirkt die Subventionierung eine Veränderung der Wettbewerbslage und damit je nach den Gegebenheiten auch eine Veränderung der Chancengleichheit im Wettbewerb. Deshalb bedarf sie nach dem
13 § 1 Abs. 2 N r . 2 Gesetz über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur"; §3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 lit. b Investitionszulagengesetz. 14 P. Badura, in: I. von Münch (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 6. Aufl., 1982, S. 327.
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Maß der Betroffenheit von Rechten und geschützten Interessen Dritter einer sachlichen Rechtfertigung durch ein hinreichend gewichtiges öffentliches Interesse, d. h. ein definiertes strukturpolitisches Ziel. Die in Förderungseffekten und Wettbewerbsveränderungen hervortretende Ambivalenz des Subventionswesens wird in der politischen Beurteilung und Auseinandersetzung nicht übersehen. In der A n t w o r t zu einer Großen Anfrage zur Subventionspolitik der Bundesregierung im N o v e m b e r 197915 bestätigt die Bundesregierung unter Bezugnahme auf ein Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesminister f ü r Wirtschaft über „Staatliche Interventionen in einer Marktwirtschaft" die Gefahr, daß die Gewährung von Subventionen an einzelne Wirtschaftszweige oder Unternehmen die Übertragung von Beteiligungsund damit Mitentscheidungsrechten an den Staat nach sich ziehen könnte. Dadurch könnten wesentliche Elemente der Marktwirtschaft außer Kraft gesetzt werden. Die Bundesregierung weist darauf hin, daß eine solche Konsequenz durch klare Regelungen der Subventionsvoraussetzungen und Auflagen sowie durch wirksame administrative Kontrollen ihrer Einhaltung vermieden werden kann. Sie gibt Wachstums- und produktivitätsfördernden Subventionen klar den Vorrang gegenüber Erhaltungs- und Anpassungssubventionen. „Staatliche Garantien bestimmter Arbeitsplätze gibt es nicht. Die Sanierung von Unternehmen ist in unserer Wirtschaftsordnung grundsätzlich nicht Aufgabe des Staates; prinzipiell m u ß der Markt entscheiden, welche Unternehmen fortbestehen. N u r in besonders gelagerten Ausnahmefällen werden staatliche Hilfen gewährt, die jedoch an das Vorliegen enger Voraussetzungen gebunden sind. Werden in solchen Fällen staatliche Hilfen an große Unternehmen gewährt, so ist dabei zu berücksichtigen, daß ein Zusammenbruch dieser Unternehmen in vielen Fällen auch Zulieferbetriebe erfaßt, die in der Regel kleine und mittlere Unternehmen sind." Die Bundesregierung gibt ihrer Auffassung Nachdruck, daß sich durch Strukturveränderungen bedingte Beschäftigungsprobleme nicht auf Dauer mit Hilfe von Erhaltungssubventionen lösen lassen. Subventionsgewährung k o m m t im besonderen dann in Betracht, wenn es gelte, Arbeitsplätze zu sichern und neue zu schaffen. Dazu wird weiter gesagt: „Grundsätzlich tragen Subventionen, die den Produktivitätsfortschritt und das Wachstum von Betrieben oder Wirtschaftszweigen fördern bzw. deren Anpassung an neue Bedingungen erleichtern, auf mittlere und längere Sicht zur Sicherung von Arbeitsplätzen bei, während Erhaltungssubventionen oft nur eine kurzfristige Sicherung von Arbeitsplätzen bewirken."
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Die Ziele und Grundsätze der Subventionspolitik sind, soweit ersichtlich, unter der neuen Bundesregierung keine anderen16. Die grundsätzlich subsidiäre und auf Ausnahmefälle beschränkte Subventionierung muß nach Art, Ausmaß und Zeitdauer durch ein unverzichtbares öffentliches Interesse gerechtfertigt sein. Sie darf keine Wettbewerbsverzerrung zu Lasten anderer Unternehmen oder Wirtschaftszweige oder dem Ausland schaffen. Das Kriterium der Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen ist im übrigen auch in der Vorschrift des §2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 lit. b Investitionszulagengesetz anerkannt, wonach ein Investitionsvorhaben nur förderungswürdig ist, wenn nicht zu besorgen ist, daß die Gewährung der Investitionszulage zu unangemessenen Wettbewerbsvorteilen gegenüber anderen in dem jeweiligen Wirtschaftsraum ansässigen Unternehmen führt17. Grundsätze bei der Gewährung von Finanzhilfen, Steuervergünstigungen und Gewährleistungen an die Unternehmen der gewerblichen Wirtschaft enthält jetzt der „Subventionskodex der Länder" vom 7.Juli 1982, der als solcher eine rechtlich unverbindliche „Selbstverpflichtung" der Wirtschaftsminister der Länder ist, ebenso wie der „Subventionskodex Einzelunternehmen" vom 30. Mai 1983, der Mindestanforderungen für staatliche Hilfen zur Sanierung von Einzelunternehmen in Ausnahmefällen aufstellt18. Der Subventionskodex der Länder gibt die Vermeidung unerwünschter Rückwirkungen einer direkten Förderung einzelner Unternehmen auf Marktund Konkurrenzverhältnisse als ein Ziel sachgemäßer Subventionspolitik an und fordert die Umgestaltung einer bestehenden Subvention, wenn sie die Konkurrenzsituation in unerwünschter Weise beeinflußt (Abschn. V und VIII). Der Subventionskodex Einzelunternehmen stellt den Grundsatz voran, daß die Rettung von existenzbedrohten Unternehmen durch öffentliche Finanzierungshilfen prinzipiell nicht Aufgabe des Staates sei. „Solche Hilfen stoßen in der Marktwirtschaft auf erhebliche Bedenken, da sie den Wettbewerb zu Lasten konkurrierender Vgl. den Neunten Subventionsbericht a. a. O. S. 7 f. " Soweit das Vorliegen dieser Voraussetzung von einer Würdigung der gesamtwirtschaftlichen oder regionalwirtschaftlichen Lage oder Entwicklung abhängt, ist diese Würdigung nach pflichtgemäßem Ermessen vorzunehmen (§ 2 Abs. 2 Satz 2 InvZulG). 18 Neunter Subventionsbericht a . a . O . , S.8, 310f., 312. Zu dem Vorhaben eines „Subventionskodex" siehe die Große Anfrage der C D U / C S U zur Subventionspolitik der Bundesregierung (BTag Drucks. 8/3102) und die Antwort der Bundesregierung (BTag Drucks. 8/3429, S. 11) sowie die „Grundsätzlichen Überlegungen zur Gewährung von Finanzhilfen und Steuervergünstigungen (Subventionen)" im Siebten Subventionsbericht (BTag Drucks. 8/3097, S. 41 f.). - Anders als die oben genannten beiden Subventionskodices der Wirtschaftsminister der Länder ist von rechtsverbindlichem Charakter der Subventionskodex Stahl, der in der Entscheidung Nr. 2320/81/EGKS der Kommission vom 7. August 1981 zur Einführung gemeinschaftlicher Regeln für Beihilfen zugunsten der Eisen- und Stahlindustrie enthalten ist (Neunter Subventionsbericht a. a. O., S. 8, 313 ff.). 16
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Unternehmen und deren Arbeitnehmer verfälschen, den Strukturwandel behindern und die Bemühungen zum Abbau von Wettbewerbsverzerrungen in der EG und der O E C D beeinträchtigen können." Dementsprechend findet sich als eine der „Mindestanforderungen" für staatliche Finanzierungshilfen zur Rettung existenzbedrohter, sanierungsfähiger Unternehmen die Forderung, daß die für andere Unternehmen und Bereiche entstehenden Folgen einer etwaigen staatlichen Hilfe besonders zu berücksichtigen sind und daß die Hilfe auch im Ausnahmefall nicht zu einer direkten oder indirekten Gefährdung von sonst am Markt konkurrenzfähig gebliebenen Unternehmen führen und die dortigen Arbeitsplätze in Mitleidenschaft ziehen soll (Abschn. 4). Die stets erneuerten und verfeinerten Grundsätze der Subventionspolitik, über deren Wirksamkeit hier nicht zu handeln ist, stellen in Entstehung und Geltung politische Maximen dar. Sie spiegeln jedoch in einigen Punkten verfassungsrechtliche Bindungen der Subventionspolitik und der verwaltungsrechtlichen Subventionsvergabe wider. Soweit die Vermeidung unerwünschter Wettbewerbsverzerrungen oder unangemessener Wettbewerbsvorteile als erstrebenswert bezeichnet wird, kommt das objektive Prinzip des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs zum Ausdruck, wird aber auch vor Augen gestellt, daß aus den Grundrechten der Wirtschaftsfreiheit im Einzelfall eine verteidigungsfähige Rechtsposition des Benachteiligten gewonnen werden kann. Der Ausgangspunkt für die verfassungsrechtliche Betrachtung der Wirtschaftsförderung und -beeinflussung durch Subventionen ist im Sozialstaat allerdings nicht die Wirtschaftsfreiheit, sondern die politische Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers. Diesen Schlüsselpunkt hat das Bundesverfassungsgericht unermüdlich betont. Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers im Rahmen der Verfassung ist danach bei der Regelung von Ansprüchen im Bereich der darreichenden Verwaltung nach der Natur der Sache weiter gespannt als bei der gesetzlichen Regelung staatlicher Eingriffe". Das muß besonders dann gelten, wenn der Staat nicht deshalb Leistungen gewährt, um einer dringenden sozialen N o t lage zu steuern oder eine - mindestens moralische - Verpflichtung der Gemeinschaft zu erfüllen, wie etwa beim Lastenausgleich, sondern aus freier Entschließung durch finanzielle Zuwendungen („Subventionen") ein bestimmtes Verhalten der Bürger fördert, das ihm aus wirtschafts-, sozial- oder gesellschaftspolitischen Gründen erwünscht ist. Solange die Regelung sich auf eine der Lebenserfahrung nicht geradezu widersprechende Würdigung der jeweiligen Lebensverhältnisse stützt, insbes. der Kreis der von der Maßnahme Begünstigten sachgerecht abgegrenzt ist,
" BVerfGE 11, 50/60; 49, 280/283.
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kann sie von der Verfassung her nicht beanstandet werden20. O b und wie viele Mittel der Staat im Bereich der subventionierenden Staatstätigkeit zur Verfügung stellt, ist Gegenstand seiner freien politischen Entscheidung, die der verfassungsgerichtlichen Kontrolle entzogen bleibt21. Die Bedeutung der politischen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers auch angesichts seiner Bindung an den allgemeinen Gleichheitssatz zeigt sich darin, daß auch die „Sachlichkeit" eines eine Ungleichbehandlung rechtfertigenden Grundes nicht etwas sozusagen Vorgegebenes ist, sondern grundsätzlich der Disposition des Gesetzgebers unterliegt, und darin, daß das Bundesverfassungsgericht nur prüfen darf, ob der Gesetzgeber die äußersten Grenzen seines Ermessensbereichs überschritten hat, nicht aber, ob er im einzelnen die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung gefunden hat22. Die Gestaltungsfreiheit, die Art. 3 Abs. 1 G G dem Gesetzgeber beläßt, erstreckt sich auch darauf, aus der Vielzahl der Lebenssachverhalte die Tatbestandsmerkmale auszuwählen, die für die Gleich- oder Ungleichbehandlung maßgebend sein sollen23. Dem Gesetzgeber gebührt im Bereich der gewährenden Staatstätigkeit deshalb auch „weitgehende Freiheit in der Abgrenzung des zu begünstigenden Personenkreises". Die Abgrenzung ist nicht zu beanstanden, wenn vernünftige Gründe dafür bestehen und der Gesetzgeber willkürliche Privilegierungen und Diskriminierungen vermeidet24. Die Größe der von einer gesetzlichen Regelung betroffenen Gruppe spielt für die Zulässigkeit dieser Regelung unter dem Gesichtspunkt des Einzelfallgesetzes keine Rolle, solange die Gruppe sachgerecht abgegrenzt und in sich gleichartigen Regeln unterworfen ist25. Soweit die Bindung durch den allgemeinen Gleichheitssatz reicht, kann er bei bestimmten Fallkonstellationen auch zur Grundlage von Gleichstellungsansprüchen der von einer Subventionierungsmaßnahme willkürlich Ausgeschlossenen werden. Das Bundesverfassungsgericht hat im Hinblick auf einen anderen Sachbereich, den versorgungsrechtlichen Härteausgleich nach § 89 Bundesversorgungsgesetz, aber doch mit einer grundsätzlichen Blickwendung die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers selbst gegenüber Besitzständen im Rahmen gegebener Zuteilungsordnungen, besonders bei sachlichen Neugestaltungen und bei Gesetzen zur Sanierung des Staatshaushalts bekräftigt, zugleich aber die Beachtung der dem Gleichheits-
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BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE
17, 210/216. 22, 100/103. 3, 162/182; 9, 201/206; 12, 326/333; 33, 171/189f. 17, 381/388; 25, 371/400. 29, 337/339; 44, 70/91; 51, 295/301. 8, 332/361.
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satz entspringenden Willkürgrenze gerade bei der „Verwaltung von Mangel" eingeschärft 26 . Die Grundsätze der willkürfreien Sachgerechtigkeit bilden den hervorstechenden Maßstab des Verfassungsrechts für die Regelungen und Entscheidungen der gestaltenden und leistenden Verwaltung und im besonderen für die Ausgestaltung einer Subventionsmaßnahme. Die politische Beurteilung, Regelung und Entscheidung kann jedoch außerdem auf den Schutz der Wirtschaftsfreiheiten stoßen, wenn sie durch Inhalt oder Auswirkung als „Eingriff" in grundrechtliche Rechtspositionen erscheinen würde, vor allem als ein Eingriff in die Rechte eines durch eine Subventionierung nachteilig betroffenen Konkurrenten. Eine der dabei zu bedenkenden Rechtspositionen des Dritten ist der verfassungsrechtliche Eigentumsschutz des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebes. II. Eigentumsschutz des Gewerbebetriebes und unternehmerisches Wagnis Der Satz aus dem Naßauskiesungs-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, der eigentumsrechtliche Schutz des Gewerbebetriebes könne nicht weiter gehen als der Schutz, den seine „wirtschaftliche Grundlage" genieße27, ist vielleicht schon eine Frucht des in dem Beschluß zum Weingesetz gehegten Zweifels28, ob die Auffassung, die Eigentumsgarantie erstrecke sich auch auf den Gewerbebetrieb mit all seinen Ausstrahlungen, auf Betriebsgrundstücke, Geschäftsverbindungen, den Kundenstamm und alles, was in seiner Gesamtheit den wirtschaftlichen Wert des Betriebes ausmache, einer eingehenden verfassungsrechtlichen Prüfung standhalten würde 2 '. Es sei die Frage, ob der Gewerbebetrieb als solcher die konstitutiven Merkmale des verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriffs aufweise. Eigentumsrechtlich gesehen sei das Unternehmen die tatsächliche - nicht aber die rechtliche - Zusammenfassung der zu seinem Vermögen gehörenden Sachen und Rechte, die an sich schon vor verfassungswidrigen Eingriffen geschützt seien. Nach allgemeiner Auffassung würden dagegen bloße Chancen und tatsächliche Gegebenheiten nicht dem geschützten Bestand zugerechnet. O b gleichwohl ein zusätzli-
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BVerfGE 60, 16/42 f. BVerfGE 58, 300/353. 28 BVerfGE 51, 193/221 f. 29 Wegen eines Uberblicks über die Auffassungen und die Praxis zum Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb und zum verfassungsrechtlichen Eigentumsschutz dieses Rechts siehe P. Badura, AöR 98, 1973, S. 153; ders., in: I. von Münch (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 6. Aufl., 1982, S. 314f.; ders., in: E . B e n d a / W. Maihofer/ H.-J. Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 1983, S. 653/692 f. 27
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eher verfassungsrechtlicher Schutz des Gewerbebetriebes als solcher geboten sei, bedürfe jedoch im Streitfall keiner abschließenden Entscheidung. Diese Zweifel und weiter die Annahme, beim Unternehmen, also beim eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb, habe man es nur mit einer „tatsächlichen" Zusammenfassung von Vermögensbestandteilen des Unternehmensträgers zu tun und der Eigentumsschutz des Gewerbebetriebs könnte deshalb in Wahrheit ein ungerechtfertigter „zusätzlicher" Schutz bloßer Chancen und tatsächlicher Gegebenheiten sein, stehen im Widerspruch zu der bis in die Zeit des Reichsgerichts zurückreichenden Praxis der Zivilgerichte und lassen sich auch mit einer Reihe von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts selbst nicht in Einklang bringen. Das Bundesverfassungsgericht hat die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zum negatorischen und deliktischen Schutz des Gewerbebetriebes wie auch zum eigentumsrechtlichen Schutz des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern auch seinerseits eine entsprechende Rechtsposition als Bestandteil der Eigentumsgarantie zugrunde gelegt und beachtet. Dabei war mehrfach auch auf die schon in der zivilgerichtlichen Praxis gültige Unterscheidung abgehoben worden, daß zum wirtschaftlichen Unternehmen mit seinen personellen und gegenständlichen Grundlagen als dem Schutzgegenstand der Eigentumsgarantie nicht die Gegebenheiten, Chancen und Verdienstmöglichkeiten gehören, innerhalb derer der Unternehmer mit dem ihm zufallenden Risiko seine Tätigkeit entfaltet. Diese Abgrenzung der geschützten Sach- und Rechtsgesamtheit des Gewerbebetriebs folgt der Grundlinie der Eigentumsgarantie, wonach vor allem der durch eigene Arbeit und Leistung erworbene Bestand an Vermögenswerten Gütern des einzelnen als schutzbedürftig anerkannt wird, aber eben nicht die gewerbliche oder unternehmerische Betätigung an und für sich, sondern nur bestehende und gegenständlich verkörperte Rechtspositionen, deren Innehabung und Verwendung Schutz genießt. Beeinträchtigungen des Bestandswertes des einzelnen Unternehmens und mehr als nur geringfügige Minderungen der Rentabilität des Unternehmens müssen demnach als Eingriffe in das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb eigentumsrechtlich beurteilt werden30. Die verfassungsrechtliche Frage nach dem Schutzgegenstand der Eigentumsgarantie stößt im Falle des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb nicht auf normativ abschließend vorgeformte Rechtspositionen. Das Zivilrecht gibt nur den in der Rechtsprechung herausgebildeten „Auffangtatbestand" der rechtswidrigen Beein30
Vgl. BVerfGE 1, 264/277f.; 13, 225/229f.; 22, 380/386; 30, 292/334f.; 45, 142/173.
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trächtigung der in einer Betriebsorganisation vergegenständlichten gewerblichen Tätigkeit. Dieser Auffangtatbestand ist subsidiär bereitgestellt, um eine sonst bleibende Lücke im Rechtsschutz zu schließen, und unterscheidet sich von anderen Rechten im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB dadurch, daß bei einer Schädigung des Gewerbebetriebs die Rechtswidrigkeit nicht ohne weiteres dem Eingriffstatbestand entspringt, sondern aufgrund einer Güter- und Pflichtenabwägung in jedem Einzelfall unter Heranziehung aller Umstände zu prüfen ist. Der Umfang und Inhalt des Schutzgutes des hier dem Unternehmen gewährten Interessenschutzes ist von Fall zu Fall aufgrund der jeweils betroffenen Spannungslage zu ermitteln, in der die Interessen des Unternehmens in Konflikt mit den Interessen anderer stehen 31 . Die im Wege der A b w ä g u n g zu ermittelnde Rechtswidrigkeit der Unternehmensbeeinträchtigung hängt damit von den Gründen des zu beurteilenden Eingriffs ab, beispielsweise von der Koalitionsfreiheit als Grundlage eines Streiks oder von der Pressefreiheit als der Grundlage kritischer Berichterstattung. Schon von dieser zivilrechtlichen Ausgangslage des „offenen" Unrechtstatbestandes, des weiteren und besonders aber von der Eigenart des verfassungsrechtlichen Grundrechtsschutzes her tritt zutage, daß der Eigentumsschutz des Gewerbebetriebes nicht einfach ein vorgegebenes Recht „Eigentum" gegen die öffentliche Gewalt verteidigt 32 . Die Eigentumsgarantie schützt bestimmte anderweitig begründete Rechte, das durch die (verfassungsmäßigen) Gesetze ausgeformte „Eigentum" 33 . Wie weit dieser Schutz reicht, ist jedoch nach verfassungsrechtlichen Maßstäben zu entscheiden. Welche Rechte oder schützenswerte Interessen in den Anwendungsbereich der Eigentumsgarantie fallen, unter welchen Voraussetzungen Nachteile oder Beeinträchtigungen als „Eingriffe" anzusehen sind und nach welchen Kriterien die Beeinträchtigung eines Gewerbebetriebes durch die öffentliche Gewalt das Abfordern eines Sonderopfers darstellt, m u ß demnach durch Auslegung des Art. 14 GG gewonnen werden. Durchaus vergleichbar ist die Abmessung des verfassungsrechtlich geschützten Grundeigentums mit Hilfe des nicht zivilrechtlichen, sondern eigentumsrechtlichen Gedankens der „Situationsgebundenheit". Die Suche nach den „eigentumsrechtlichen Schutzgrenzen des Gewerbebetriebes" 34 findet einen festen Anhalt in dem - auch der zivilrechtlichen Rechtsbildung zugrunde liegenden - Gesichtspunkt, daß die pro31 BGHZ 45, 296/307; 59, 30/34; 65, 325/328, 331; 69, 128/138f.; BGH NJW 1981, 1089/1089 f.; BGH JZ 1983, 497/498. - M. Löwisch/ W. Meier-Rudolph, JuS 1982, 237/ 239. 12 Dazu P.Badura, AöR 98, 1973, S. 153/155ff., 162f.; F.Kreft, WiVerw 1978, 193/ 200. 33 BVerfGE 37, 132/141. 34 F.Kreft, WM 1977, 382.
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duktive Zusammenfassung und Arbeitsweise der Rechte und Mittel in einem Unternehmen einen selbständig schutzwürdigen Wert hervorbringt. Dieser Wert verkörpert sich in alledem, was in seiner Gesamtheit, als „Sach- und Rechtsgesamtheit", den Gewerbebetrieb zur Entfaltung und Betätigung in der Wirtschaft befähigt35. Dieses auf die von dem Inhaber geschaffene produktive Organisation persönlicher und sachlicher Mittel blickende Schutzgut erfaßt den Bestand und die Wirksamkeit des Gewerbebetriebes sowie die Fortsetzung des Betriebes aufgrund schon getroffener betrieblicher Veranstaltungen36, immer aber nur vorhandene und organisatorisch verkörperte Werte, die ins Werk gesetzte Unternehmenstätigkeit in ihrer konkreten Vergegenständlichung, nicht die freie Erwerbstätigkeit als solche37. Der sich im Umsatz und im entsprechenden Gewinn ausdrückende Marktanteil ist kein wesentlicher konkreter Vermögenswert des Betriebes38; denn der durch marktwirtschaftlichen Wettbewerb erzielbare Erfolg wirtschaftlichen Handelns beruht auf dem unternehmerischen Wagnis. Die den Gewerbebetrieb als in einer Sach- und Rechtsgesamtheit verkörperte Wirtschaftstätigkeit schützende Rechtsposition ist zu unterscheiden von öffentlich-rechtlichen Genehmigungen oder sonstigen begünstigenden Regelungen, auf denen der allein als „Eigentum" in Betracht kommende privatwirtschaftliche Einsatz von Kapital und Arbeitsleistung beruht. Soweit ein gewerblicher Vermögensbestand aufgrund einer öffentlich-rechtlichen Gestattung oder sonstigen Begünstigung ins Werk gesetzt worden ist, ist dieser Bestand im Fall einer nachträglichen Aufhebung oder Einschränkung der Gestattung die eigentumsrechtlich erhebliche Vermögensposition. Die ein subjektiv öffentliches Recht gewährende Gestattung oder sonstige Begünstigung schließt den Eigentumsschutz nicht aus, vorausgesetzt daß der einzelne durch sie eine Rechtsstellung erlangt hat, „die der des Eigentümers entspricht"39. Diese Erwägung führt auch zu dem Lösungsweg für die Behandlung der Unterbrechung oder Beendigung einer bisher gewährten Subventionierung unter dem Blickwinkel einer eigentumsrechtlichen Plangewährleistung. Die der Förderung zugrunde liegende Entscheidung orientiert sich an bestimmten, in der Regel zeitabhängigen Gegebenheiten der Haushaltslage und der strukturpolitischen Belange, die der Veränderung unterliegen. Diese Zeitbestimmung ist der Subventionierung wesenseigentüm35 36 37 38 39
B G H Z 23, 157/162f.; 25, 266; 29, 65/70; 78, 41/44, 46. B G H N J W 1972, 1574; B G H N J W 1976, 1312/1313. F. Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 3. Aufl., 1983, S.107. B G H N J W 1972, 1574/1575. B G H Z 81, 21/33 - Praxis des zugelassenen Kassenarztes.
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lieh und wird typischerweise auch durch ausdrückliche Maßgaben bei der Subventionsbewilligung festgelegt werden. Der Subventionsinteressent wird deshalb grundsätzlich nicht mit dem Fortbestehen bisher gewährter Förderung rechnen dürfen 10 . Ein Anspruch auf Gewährung und auf Weitergewährung kann sich durch normative Rechtsbegründung und kraft des Gleichheitssatzes und eigentumsrechtlich nur kraft eines besonderen Vertrauenstatbestandes ergeben, durch den der Interessent zu eigenen Vermögenswerten Dispositionen veranlaßt worden ist. Eine Subventionsgewährung, auch im Falle der wiederholten oder länger andauernden Förderung, ist für sich allein kein zu schutzwürdigem Vertrauen führender Tatbestand. Sie beschränkt nicht die planende und fördernde Staatstätigkeit durch eine „Plangewährleistung", sei es durch eine Rechtsposition, die auf Beibehaltung und Fortdauer der Begünstigung gerichtet wäre, sei es durch Hervorrufen eines Entschädigungsanspruches bei einer nicht abwendbaren Planänderung. Bei der Suche nach den Voraussetzungen einer Plangewährleistung, insbes. nach den Kriterien eines Vertrauenstatbestandes, geht es im Kern um die Erfassung der Schwelle, von der an das Risiko der Planänderung nicht dem disponierenden Privaten, sondern der planenden öffentlichen Gewalt aufzubürden ist41. Der im Hinblick auf das planhafte Verhalten der öffentlichen Gewalt disponierende Begünstigte muß eine in der Planung verkörperte Disposition aufgenommen haben, aufgrund deren er sich auf das unveränderte Fortbestehen der bisherigen Rechtslage verlassen und einrichten durfte 42 . Eine derartige Konkretisierung im Rahmen der einzelnen Betriebsorganisation, der Begründung eines Vertrauenstatbestandes, auf dem der Betrieb strukturell aufbaut, ist seitens des Subventionsbegünstigten und -Interessenten nachzuweisen, um ausnahmsweise einen eigentumsrechtlichen Anspruch auf weitere Förderung geltend machen zu können. Die öffentlich-rechtliche Grundlage der privaten Disposition kann im Inhalt der Subventionsrichtlinien zu finden oder im Einzelfall durch eine Zusicherung oder vergleichbare Äußerungen der subventionsgewährenden Stelle begründet worden sein43. Das Problem der Plangewährleistung führt somit wieder zu dem allgemeinen Abgrenzungskriterium zurück, daß vorteilhafte Umstände gewerblicher Betätigung überhaupt nur garantiert sein können, wenn und soweit der Betriebsinhaber sich darauf verlassen darf, daß sie auf Dauer erhalten
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B G H DB 1975, 1551. Hierzu und zum folgenden P.Badura, Handbuch des Verfassungsrechts a . a . O . S. 681 f. 42 B G H Z 78, 41/45. 43 B G H N J W 1968, 293/294; O V G Lüneburg N J W 1977, 773; R. Breuer, Grundrechte als Anspruchsnormen, in: Festgabe für das Bundesverwaltungsgericht, 1978, S. 89/102. 41
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bleiben. Die allgemeine rechtliche, wirtschaftliche und politische Lage und Beschaffenheit des Marktes und der auf dieser Grundlage erworbene oder erwartete Marktanteil gehören zu der dem Unternehmen vorgegebenen „Situation", die seiner wirtschaftlichen Tätigkeit Chance und Risiko bieten, deren Fortdauer aber eigentumsrechtlich nicht gesichert ist. Dies ist das Feld des allgemeinen unternehmerischen Wagnisses 44 , der Bereich der vorgefundenen „Gegebenheiten und Chancen", die der Unternehmer nach ihrer jeweiligen Beschaffenheit ausnutzt, deren Wegfall oder Änderung indessen in den Bereich seines Wagnisses und Risikos gehören 45 . Die Risiken der wirtschaftlichen Tätigkeit, die sich etwa bei der Änderung der rechtlichen oder tatsächlichen „Situation" des Gewerbebetriebes realisieren, sind die Kehrseite der Chancen des unternehmerischen Handelns; sie können nicht zum Gegenstand einer Rechtsposition des Unternehmers auf Abwehr der Änderung oder auf Entschädigung von Nachteilen oder Verlusten werden, die als realisiertes Risiko aus der Ausnutzung der Chancen entstehen46. In der Schwäche des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb gegenüber einer Änderung der Gegebenheiten wird erneut sichtbar, daß - wie es auch der zivilistische Ausdruck „Rahmenrecht" andeutet 47 - die Kennzeichnung als „Recht" hier zu fehlerhafter Gleichstellung mit den auf inhaltlich bestimmter Rechtszuweisung beruhenden subjektiven Rechten verleiten kann. Es handelt sich um bestimmte unternehmensschützende Verhaltensregeln, aus denen sich im Einzelfall durch eine Güter- und Pflichtenabwägung zu findende Verhaltenspflichten Dritter ergeben können. Diese Verhaltenspflichten lassen sich als generalklauselartiges Recht gegenüber den Dritten beschreiben, da die Pflichtverletzung negatorische und deliktische Ansprüche des Geschädigten begründen kann48. Im Bereich des Zivilrechts zeigt die Entgegensetzung von unternehmerischem Wagnis und geschützter Sachund Rechtsgesamtheit, daß die Bemessung der Schutzpflichten nicht nur von der Realität, sondern von dem Prinzip des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs abhängig ist 4 '. Für die eigentumsrechtliche Betrachtung nach dem Maßstab des Art. 14 G G und damit für den Schutz gegen die öffentliche Gewalt ist die Bemessung der Bindungen von einer BetrachB G H Z 76, 387/395. B G H N J W 1968, 293; B G H Z 78, 41/47. 44 F.Kreft, W M 1977, 382/384; den., WiVerw 1978, 193/207. 47 W. Fikentscher, in: Festgabe für Heinrich Kronstein, 1967, S.261. 48 H. Buchner, Die Bedeutung des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb für den deliktischen Unternehmensschutz, 1971; P. Badura, A ö R 98, 1973, S. 153/ 155 ff. 45 D. Medicus, Allgemeiner Teil des B G B , 1982, Rdn. 71 und 127. - D. Medicus bin ich für ermunternde und kritische Anregung sehr dankbar. 44
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tung der Aufgaben und notwendigen Gestaltungsräume abhängig, die für die Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums und dann für die Sozialgebundenheit des konkreten Eigentums-Rechtes von Bedeutung sind. Die Frage läßt sich auf das Kriterium konzentrieren, daß es auf die Eigenart des „Eingriffs" ankommt. Von daher bleibt ein Pfad offen, um einer Betrachtung des Eigentumsschutzes des Gewerbebetriebes angesichts wettbewerbsverzerrender Begünstigung eines konkurrierenden Unternehmens durch Subventionierung oder anderweite Begünstigung nachzugehen. III. Eigentumsrechtliche Abwehr- und Entschädigungsansprüche des interventionsbetroffenen Dritten, der mit dem Interventionsbegünstigten im Wettbewerb steht Die Eigentumsgarantie, die das Eigentum verfassungsrechtlich schützt, ist rechtliche Grundlage von Ansprüchen „aus Eigentum". Zu diesen Ansprüchen gehören Ansprüche auf Abwehr eines Eingriffs in das Eigentum. Sie bilden eine Fallgruppe der öffentlich-rechtlichen Abwehr- und Beseitigungsansprüche, die in dem jeweils angegriffenen Rechtsgut und seinem öffentlich-rechtlichen Schutz ihre Grundlage finden. Der negatorische Eigentumsschutz kann in einer gesetzlichen Schutznorm näher ausgestaltet sein, wie z.B. in den drittschützenden Vorschriften der Regelung eines Genehmigungs- oder Planfeststellungsvorbehalts50. Genügt diese anspruchsbegründende Schutznorm den verfassungsrechtlichen Anforderungen, stellt sie die Anspruchsgrundlage dar. Wenn eine gesetzliche Schutznorm fehlt oder nicht ausreicht, kommt das Grundrecht selbst als Anspruchsgrundlage in Betracht. Das gilt nicht nur für „unmittelbare" Eingriffe, sondern auch dann, wenn der hoheitliche Eingriff das Eigentum lediglich mittelbar erreicht, wie beim Eigentum des Nachbarn oder sonstigen Drittbetroffenen im Falle eines öffentlich-rechtlich zugelassenen Vorhabens. Soweit nicht gesetzlich etwas anderes bestimmt ist, können derartige mittelbare Eingriffe nur abgewehrt werden, wenn sie enteignend wirken. Ein gegen die erst durch eine Situationsveränderung vermittelten Auswirkungen gerichteter Abwehranspruch ist nur gegeben, wenn als Folge der beeinträchtigenden Situationsveränderung das Eigentum des Dritten „schwer und unerträglich" getroffen wird. Die Eigentumsgarantie gewährleistet also ein Abwehrrecht gegen rechtswidrige Einwirkungen von hoher Hand auf das Eigentumsobjekt, d. h. gegen Einwirkungen, die über das rechts-
50
Siehe B V e r f G E 61, 8 2 ; B V e r w G E 60, 2 9 7 ; dazu die Anm.
P. Badura,
J Z 1984, 14.
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staatlich Erforderliche hinausgehen und den Eigentümer unzumutbar belasten51. Stellt man zwischen der Anerkennung eines negatorischen Eigentumsschutzes bei „unmittelbaren" und „mittelbaren" Eingriffen und den Ansprüchen auf Entschädigung nach Enteignungsgrundsätzen den notwendigen Zusammenhang her, fällt sogleich auf, daß hier stets gefordert wird, daß der Eingriff das Eigentum „unmittelbar" beeinträchtigen muß, um Rechtsgrund einer Entschädigungspflicht sein zu können. Für den Deliktsschutz wie für den Eigentumsschutz des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb wird demnach vorausgesetzt, daß dieses Recht durch einen unmittelbaren Eingriff in den gewerblichen Tätigkeitskreis beeinträchtigt wird, daß der Eingriff „betriebsbezogen", d. h. „irgendwie gegen den Betrieb als solchen gerichtet" ist oder auf die geschützte Sach- und Rechtsgesamtheit des Gewerbebetriebes unmittelbar einwirkt. Als „betriebsbezogen" kommen nur solche Beeinträchtigungen in Betracht, die die Grundlagen des Betriebes bedrohen oder gerade den Funktionszusammenhang der Betriebsmittel auf längere Zeit aufheben oder seine Tätigkeit als solche in Frage stellen. Der vorausgesetzte „unmittelbare" Zusammenhang zwischen Maßnahme und Eingriffsfolge wird auch so umschrieben, daß das dem einzelnen auferlegte Sonderopfer eine „notwendige, aus der Eigenart der hoheitlichen Maßnahme sich ergebende Folge darstellen muß" 52 . Für Eingriffe der öffentlichen Gewalt scheidet das Merkmal der „Unmittelbarkeit" des Eingriffs solche kraft öffentlichen Rechts verursachte Rechtsbeeinträchtigungen aus der Verantwortlichkeit der öffentlichen Hand aus, die nicht allein dem Risikobereich der schadenstiftenden Tätigkeit oder Veranstaltung der öffentlichen Hand entstammen53. Die Folgerichtigkeit des Rechtsgedankens zwingt dazu, hier einen Unterschied nur in der Terminologie, nicht in der Sache anzunehmen; denn sonst könnte eine enteignende Wirkung der „mittelbaren" Eingriffe im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht vorausgesetzt werden. Es kann also das Eigentum eines Drittbetroffenen - des Nachbarn oder des Konkurrenten54 - durch einen „mittelbaren" Eingriff gegenüber dem Bauherrn, dem Mit-Wettbewerber etc. in einer eigentumsrechtlich erheblichen 51 Zum ganzen vgl. BVerwGE 44, 235/242 f.; BVerwG DÖV 1976, 563/564; BVerwG NJW 1983, 2459; BGHZ 69, 129/141; 76, 387/394; 78, 41/46. 52 BGHZ 29, 65/69, 74; 59, 30/35; 69, 129/139; 76, 387/392, 395; BGH JZ 1983, 497/ 498. 53 P. Badura, J U R A 1980, 503. 54 Zum Schutz des Konkurrenten, bes. zum grundrechtlichen Abwehranspruch des Konkurrenten eines Subventionsempfängers: R.Scholz, WiR 1972, S. 35; R.Breuer, Grundrechte a.a.O., S. 103, 111; H.D.Jarass, Wirtschaftsverwaltungsrecht, 1980, S. 130, 134 f., 229; P. Badura, ZHR 146, 1982, S. 448/460 ff.
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Weise beeinträchtigt werden, sofern die Auswirkungen dem Kriterium der „Unmittelbarkeit" genügen und der eingreifenden öffentlichen Gewalt in diesem Sinne zugerechnet werden können. Eine wirtschaftslenkende Maßnahme insbes., die unmittelbar auf die Funktions- oder Ertragsfähigkeit des Unternehmens einwirkt, bedarf eigentumsrechtlicher Rechtfertigung 55 und könnte bei entsprechender Intensität der Wirkung enteignenden Charakter haben. Es fragt sich, ob und unter welchen Voraussetzungen diese Konstellation eintreten kann, wenn die öffentliche Hand die Wettbewerbsverhältnisse durch Subventionierung, durch öffentliche Wirtschaftstätigkeit oder durch differenzierende Vergabe öffentlicher Aufträge derart verändert, daß eine enteignungsähnliche Beeinträchtigung eines mit dem Subventionierten, dem öffentlichen Unternehmen oder dem Auftragnehmer in Wettbewerbsbeziehungen stehenden Unternehmens eintritt. Naheliegende und oben auch schon berührte Parallelfälle sind die genehmigungs- oder planungsrechtlichen Nachbarklagen und Entschädigungsklagen von Anliegern bei dauernden oder vorübergehenden Beeinträchtigungen ihres „Kontaktes nach außen" über die öffentliche Straße. Hier geben die Nachbarschafts- und die Anliegerbeziehung die hinreichende Individualisierung für die notwendige „Unmittelbarkeit" der Auswirkungen des in der Genehmigungserteilung, dem U-Bahn-Bau usw. liegenden „mittelbaren" Eingriffs. Das Urteil des Bundesgerichtshofes vom 5.3.1981 zu der Frage, ob ein enteignender Eingriff vorliegt, wenn zur Verbesserung des Hochwasserschutzes Seedeiche erhöht und dadurch die im Vordeichgelände gelegenen Grundstücke bei Sturmfluten in verstärktem Ausmaße überschwemmt werden 56 , kann als Beispiel dafür dienen, daß die Schwelle der Unmittelbarkeitsbeziehung zwischen Eingriff und eingriffsbedingter Beeinträchtigung des Eigentums auch in anderen Fällen der Gruppenbetroffenheit erreicht werden kann. In jenem Streitfall war tatrichterlich festgestellt, daß die von der Beklagten seit 1962 getroffenen Maßnahmen des Hochwasserschutzes zu Lasten der Klägerin, der Eigentümerin eines im Vordeichgelände des Hamburger Hafens gelegenen Betriebsgrundstücks, bewirkt hätten, daß sich der Wasserstand im Vordeichgelände bei der schadensursächlichen Sturmflut des Jahres 1973 um 70 bis 100 cm erhöht habe. Der Bundesgerichtshof hatte keine Bedenken dagegen, die von der Klägerin behaupteten Schäden an ihrem Grundstück und an ihren Holzvorräten als unmittelbare Auswirkungen der hoheitlichen Hochwasserschutzmaßnahmen der Beklagten auf das Eigentum der Klägerin anzusehen. Das Gericht meint weiter, der Klägerin sei mit der erhöhten Gefahrbelastung ihres 55
BVerfGE 30, 292/334 f. * B G H DVB1. 1981, 924.
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Betriebsgrundstücks ein besonderes Opfer zugunsten der Allgemeinheit auferlegt worden, gegen das sie sich durch Mittel des negatorischen Rechtsschutzes nicht hätte mit Erfolg zur Wehr setzen können. Dadurch daß zum Schutze der Allgemeinheit das Eigentum der Vordeichbewohner erhöhten Überschwemmungsgefahren ausgesetzt worden sei, habe sich der Schutz der Allgemeinheit einseitig zu Lasten der Klägerin und der anderen im Vordeichgebiet ansässigen Gewerbebetriebe ausgewirkt, sei also deren Eigentum für andere, nunmehr besser geschützte Grundeigentümer gleichsam „aufgeopfert" worden. Der Gesichtspunkt der Situationsgebundenheit stehe nicht entgegen. Vielmehr sei durch die Hochwasserschutzmaßnahmen die vorgegebene Situation des der Klägerin gehörenden Grundstücks nachhaltig verändert und dadurch deren Eigentum schwer und unerträglich getroffen worden. Es bleibt zu beachten, daß in den hier interessierenden Fällen, in denen der Eingriffsakt der öffentlichen Gewalt durch eine Wettbewerbslage vermittelt wird, ein Unterschied zu den Fällen bestehen bleibt, in denen Begünstigter und Beeinträchtigter mit ihrem Grundeigentum zu einer situationsverbundenen Gruppe gehören. Dieser Unterschied besteht nicht darin, daß jede Teilnahme am Wettbewerb und jede Auswirkung der Wettbewerbsverhältnisse auf die am Wettbewerb Teilnehmenden immer nur eine Chance oder bloße Erwerbsaussicht darstellte. Entscheidend ist vielmehr, daß der marktwirtschaftliche Wettbewerb als ordnungspolitisches Prinzip der Allokation und Leistungsbewertung die Sphäre des unternehmerischen Wagnisses definiert. Wettbewerbserfolg und Marktanteil und ebenso die Auswirkungen dieser Größen auf Umsatz, Gewinn und Rentabilität eines Unternehmens scheiden deshalb als Gegenstand von eigentumsrechtlichen Rechtspositionen aus. Vielmehr geht insoweit der Anspruch des Teilnehmers am Wettbewerb auf Wahrung des freien und gleichen Wettbewerbs durch die öffentliche Gewalt, also auf Abwehr einer Störung der Wettbewerbsverhältnisse, die das Grundrecht der „Wettbewerbsfreiheit" ungerechtfertigt einschränkt57. Der Schutz des Wettbewerbs ist sonach individualisierbar, aber die hier möglichen Ansprüche betreffen die ungestörte Teilnahme am Wettbewerb, nicht den Schutz von im Wettbewerb erlangten Vorteilen. Es gibt keinen eigentumsrechtlichen Schutz gegen die Zulassung oder das Auftreten neuer Konkurrenten, auch nicht dagegen, daß die öffentliche Hand als Konkurrent auftritt. Das Erfordernis, daß eine wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand einem öffentlichen Interesse dienen muß, ist eine objektivrechtliche Ableitung aus den Staats aufgaben und den verfassungsrechtlichen Staatszielbestimmungen. Aus ihm allein ergeben sich keine subjektiven Rechte dahingehend, daß 57
BVerwGE 30, 191; 60, 154.
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Art und Maß der öffentlichen Wirtschaftstätigkeit durchgehend den Grundsätzen der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit genügen müssen. Die notwendigerweise und zu Recht bestehende Schutzlosigkeit des unternehmerischen Wagnisses unter dem Blickwinkel der Eigentumsgarantie hat den funktionsfähigen Wettbewerb als Voraussetzung. Die Kehrseite dieser Annahme ist, daß ein über Wettbewerbsbeziehungen vermittelter Eingriff der öffentlichen Gewalt in Betracht gezogen werden muß, wenn die öffentliche Hand den Boden des Privatrechtsverkehrs und der marktwirtschaftlichen Gleichordnung verläßt und ihr Verhalten sich in Ziel oder Wirkung als eine interventionistische Wirtschaftstätigkeit darstellt, wie im Falle einer „wettbewerbslenkenden Subventionsgewährung" 58 oder bei einem auf öffentliche Wirtschaftstätigkeit zurückgehenden „Eingriff durch Konkurrenz" 59 . Als Eingriffstatbestand käme in Betracht, daß das Gesetz der öffentlichen Hand Vorrechte, z.B. ein Verwaltungsmonopol 60 , einräumt" oder daß im Wege der Subventionierung, der öffentlichen Wirtschaftstätigkeit oder der Vergabe öffentlicher Aufträge wirtschaftslenkend in die Wettbewerbsbeziehungen eingegriffen wird. Der Eingriff muß, um als unmittelbare Auswirkung eines Aktes öffentlicher Gewalt angesehen werden zu können, durch eine konkrete Wettbewerbsbeziehung zwischen dem lenkungsbetroffenen Wettbewerbsteilnehmer, also etwa dem subventionierten Unternehmen, und dem beeinträchtigten Konkurrenten vermittelt werden. Schließlich muß die Maßnahme eine eigentumsrechtlich erhebliche Beeinträchtigung zur Folge haben, etwa derart, daß ein Betrieb ganz oder teilweise stillgelegt oder seine Fortführung unmöglich gemacht oder gefährdet wird62. Wenn nicht der Wettbewerb, sondern die aus öffentlichem Interesse bewirkte Veränderung des Wettbewerbs die Erwerbschancen eines Unternehmens in der Weise unterbindet, daß die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens selbst in Frage gestellt wird, wird der Bestandsschutz des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbe5
« R. Scholz, WiR 1972, S. 35/46. ' R.Scholz, AöR 97, 1972, S.301/305f.; ders., in: Festschrift für Karl Sieg, 1976, S. 507/518 f. 60 P. BaJura, Der Paketdienst der Deutschen Bundespost, in: Jahrbuch der Dt. Bundespost 1977, 1978, S. 76/143 ff. " Eine allgemeine „Pflichtigkeit" privatwirtschaftlich konkurrierender Unternehmen gegenüber der öffentlichen Subventionstätigkeit oder allgemein gegenüber der staatlichen Wirtschaftslenkung nach dem (angreifbaren) Muster des kommunalen Benutzungszwangs (siehe u.a. BVerwG DVB1. 1981, 983 und andererseits F. Ossenbühl, Staatshaftungsrecht a . a . O . , S. 127ff.) kann nicht in Erwägung gezogen werden. 62 Vgl. B G H LM Art. 14 G r u n d G N r . 49; B G H M D R 1968, 126 (Aufteilung des Anfallbezirks einer Abdeckerei entzieht dem Gewerbebetrieb die Grundlage); BVerwGE 60, 154/158. 5
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betrieb berührt; diese Wirkung kann auch durch selektive Subventionierung eintreten". Könnte im Einzelfall der in seinem Unternehmen betroffene Konkurrent des Subventionsbegünstigten nach den genannten Kriterien dartun, daß er enteignend in seinem Eigentum beeinträchtigt ist, würde er den öffentlich-rechtlichen Abwehranspruch „aus Eigentum" zur Verfügung haben, wenn der Eingriff den verfassungsrechtlichen Voraussetzungen der Enteignung nicht genügte. Dieser Anspruch wäre durch Anfechtungsklage gegen den die Subvention bewilligenden Verwaltungsakt geltend zu machen. Eine solche Anfechtungsklage dürfte allerdings in aller Regel mit geringerem Aufwand unter Berufung auf einen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1, 3 Abs. 1 G G zum Ziele führen. Schwieriger dürfte die Frage zu beantworten sein, ob der enteignend betroffene Dritte wegen Eingriffs in sein Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb einen Anspruch auf Entschädigung nach Enteignungsgrundsätzen gegen den subventionierenden Staat oder sonstigen Verwaltungsträger haben kann. Nimmt man nämlich an, daß die Subventionierung wegen ihrer enteignenden Wirkung nur aufgrund eines den Anforderungen des Art. 14 Abs. 3 G G genügenden Gesetzes erfolgen dürfte, wäre sie mangels eines solchen Gesetzes rechtswidrig. Sie könnte dementsprechend, weil ein Sonderopfer abfordernd, an sich einen Entschädigungsanspruch aus enteignungsgleichem Eingriff begründen 64 . Wegen des Naßauskiesungs-Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts ist jedoch zweifelhaft geworden, ob der Beeinträchtigte in dieser Lage nicht gezwungen ist, den Abwehranspruch geltend zu machen, so daß er nicht statt dessen oder wahlweise über den Entschädigungsanspruch sein Recht suchen darf. Folgt man der Auffassung, daß die Bedeutung der genannten Entscheidung sich auf gesetzliche oder gesetzlich zugelassene Eingriffe in das Eigentum beschränkt 65 , bliebe es bei der Möglichkeit der Entschädigung nach Enteignungsgrundsätzen. O b die Lösung der Entschädigungsfrage auf dem Boden des Gesetzesvorbehalts für die Subvention mit enteignender Nebenwirkung66 gangbar ist, wird Zweifeln begegnen. Sie wird am ehesten noch dort überzeugen, wo die Situation so beschaffen ist, daß die Förderung des Begünstigten in einem notwendigen Zusammenhang mit der Belastung des Drittbetroffenen steht. Dies nachzuweisen, wird nur ausnahmsweise möglich
6J
R.Scholz, WiR 1972, S.35/61. BGH MDR 1964, 656; Β GHZ 76, 375/384; Β GHZ 76, 387/393; BGHZ 78, 41/43. 65 So F. Ossenbühl, Staatshaftungsrecht a. a. Ο., S. 113 f., 150 ff. in Auseinandersetzung mit weitergehenden Deutungen. Anders J. Ipsen, DVB1. 1983, 1029. 64 Für diesen Gesetzesvorbehalt W.-R. Schenke, GewArch. 1977, 313/316. Noch weitergehend OVG Münster, NVwZ 1982, 381. M
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sein. Sonst aber wird voraussichtlich der Grundgedanke nach wie vor ausschlaggebend sein, daß die Subventionierung einer besonderen gesetzlichen Grundlage nicht bedarf67. Sofern die Subventionierung sonst keine rechtlichen Mängel aufwiese, insbes. einen notwendigen und verhältnismäßigen Akt der Strukturpolitik darstellte, würde sie nicht wegen einer im Einzelfall eintretenden enteignenden Nebenwirkung rechtswidrig sein; der enteignend Betroffene hätte sogar - wie der Anlieger der während des U-Bahn-Baus aufgerissenen Straße oder der Eigentümer des Grundstücks im Vordeichgelände - eine Duldungspflicht. Folgt man dieser Betrachtung, erweist sich der enteignende Eingriff als eine nicht vorhersehbare Sonderopferläge, die einen Entschädigungsanspruch auslöst68. Auf diesen Anspruch ist der in seinem Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb beeinträchtigte Konkurrent des Subventionsbegünstigten um so mehr angewiesen, als er bei den genannten Prämissen einer sachgerecht differenzierenden Subventionierung einen Anspruch auf Gleichstellung oder Gleichbehandlung nicht haben kann.
67 Das Haushaltsgesetz kann wegen § 3 H G r G dem etwa zu fordernden Gesetzesvorbehalt nicht genügen. ω Siehe F. Ossenbühl, Staatshaftungsrecht a. a. O., S. 149.
Amtshilfe durch Informationshilfe und „Gesetzesvorbehalt" G Ü N T H E R BARBEY
I. Ausgangsüberlegungen 1. Der behördliche Zugriff auf Informationen, die von einer anderen Behörde bereits in Wahrnehmung eigener Kompetenzen rechtmäßig erhoben worden sind und zur sachgerechten Erfüllung ihrer Aufgaben rechtmäßig vorrätig gehalten werden 1 , wird - sofern die erbetene Informationsübermittlung nicht gerade eine spezifische („eigene") Aufgabe der übermittelnden Behörde darstellt oder innerhalb eines bestehenden Weisungsverhältnisses erfolgt 2 - dem „Bereich der traditionellen Amtshilfe" 3 zugerechnet und deshalb herkömmlich als auf Grund und nach Maßgabe der allgemeinen Amtshilfevorschriften gerechtfertigt angesehen. Die Rechtsprechung hat hierbei einerseits die „formelle Grundlage" 4 einer solchen Informationsübermittlung in der durch „Art. 35 Abs. 1 G G allen Behörden auferlegten Pflicht zur gegenseitigen Amtshilfe" 5 gefunden. Sie hat andererseits anerkannt, daß der in Art. 35 Abs. 1 G G normierte „Problem- und Verweisbegriff" 6 der „Rechts- und Amtshilfe" unmittelbar nichts über Voraussetzungen, Inhalt und Umfang der jeweils zulässigen Amtshilfe aussagt, sondern lediglich eine handlungsleitende Verweisung auf den Inbegriff derjenigen Normen ist, die die Tätigkeit der an dem jeweiligen Amtshilfevorgang beteiligten Behörden regeln und damit auch die rechtlichen Möglichkeiten, Voraussetzungen und Grenzen zulässiger Amtshilfe im jeweiligen konkreten Fall rechtlich
1 Die Übermittlung von Informationen, die von der ersuchten Behörde nicht rechtmäßig erhoben worden sind oder nicht (mehr) rechtmäßig vorrätig gehalten werden, wird im folgenden ebensowenig erörtert wie die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die Erhebung von Informationen als Amtshilfe rechtmäßig sein kann. 2 Vgl. § 4 Abs. 2 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vom 25.5.1976 (BGBl. I S. 1253), geändert durch Gesetz vom 2.7.1976 (BGBl. I S. 1749) - VwVfG. 3 Bull, D Ö V 1979, 689 (693). 4 BVerfGE 27, 344 (352) - Scheidungsakten I - . 5 BVerfGE 31, 43 (46); vgl. ferner BVerfGE 7, 183 (190); 27, 344 (352); 42, 91 (95). 6 Schlink, Die Amtshilfe, Ein Beitrag zu einer Lehre von der Gewaltenteilung in der Verwaltung, 1982, S.56.
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Günther Barbey
determinieren 7 . Die Verpflichtung zur Amtshilfe stellt die beteiligten Behörden von der Beachtung des für sie geltenden Rechts nicht frei; die als Amtshilfe geforderte Amtshandlung kann nur nach Maßgabe derjenigen Vorschriften geleistet werden, die die Rechtmäßigkeit gerade dieser Amtshandlung als Amtshilfe bestimmen 8 . Dabei gilt freilich als selbstverständlich, daß die Übermittlung rechtmäßig erhobener Informationen auf Grund der allgemeinen Amtshilferegelungen nicht allein schon deswegen unzulässig ist, weil sie zwischen Behörden mit unterschiedlichen - insbesondere unterschiedlichen sachlichen - Zuständigkeiten stattfindet und die übermittelten Informationen damit notwendig anderen als denjenigen Zwecken zugänglich gemacht werden, für die sie ursprünglich erhoben und vorrätig gehalten worden sind: Die Unzulässigkeit von Informationshilfe kann sich aus der Sicht der überkommenen Rechtsprechung und Verwaltungsübung nicht (schon) aus Kompetenz- und Befugnisdifferenzen, sondern (erst) aus Kompetenz- und Beiugnlsdefiziten, nämlich daraus ergeben, daß entweder die ersuchende Behörde die erbetenen Informationen nicht oder jedenfalls nicht so erheben darf, wie sie ihr nunmehr zufließen sollen, oder die ersuchte Behörde kraft besonderer Rechtsvorschriften an der Übermittlung dieser Informationen an die ersuchende Behörde rechtlich gehindert ist. 2. Diese zunächst aus der Entfaltung des „Problem- und Verweisbegriffs"' der Rechts- und Amtshilfe gewonnenen und alsdann auch unter den inhaltlich übereinstimmenden Amtshilfevorschriften der Verwaltungsverfahrensgesetze des Bundes10 und der Länder11 beibehaltenen 7
BVerwGE 38, 336 (340); 50, 301 (310). Vgl. z.B. BVerwGE 38, 336 (341 ff.): Wahrung der beamtenrechtlichen Pflicht zur Anhörung eines (früheren) Beamten zu für ihn möglicherweise ungünstigen Tatsachen vor deren Verwertung im Rahmen einer Auskunft; BVerfGE 27, 344 (351 ff.): Wahrung des Persönlichenkeitsrechts von Ehegatten bei der Entscheidung über die Beiziehung von Akten eines durch Klagerücknahme beendeten Ehescheidungsverfahrens zu dem gegen einen Ehegatten wegen Ehebruchs geführten Disziplinarverfahren; BVerfGE 34, 205 (208 ff.): Wahrung des Anspruchs auf Achtung der Intimsphäre bei Zuziehung der Akten eines - für die zu treffende Entscheidung jedenfalls nicht unmittelbar entscheidungserheblichen (S.206) - Ehescheidungsverfahrens zu dem gegen einen der früheren Ehegatten geführten Disziplinarverfahren; vgl. auch BVerfGE 56, 37 (49ff.): Wahrung des Schutzes vor staatlichem Zwang zur Selbstbezichtigung in einem strafgerichtlichen Verfahren durch ein strafgerichtliches Verwertungsverbot der im Konkursverfahren erzwingbaren Selbstbezichtigungen des Gemeinschuldners (S. 51) bzw. durch Unzulässigkeit der Übersendung der Konkursakten an die Strafverfolgungsbehörde (Sondervotum Heußner, a.a.O. S. 52 ff.). 10 ' Oben Fn. 6. Oben Fn. 2. 11 Vgl. zu diesen Gesetzen Badura, Das Verwaltung vorfahren, in Ericbsen/Martens, Allgemeines Verwaltungsrecht, 6. Aufl., 1983, S.317 (318 f.). Im folgenden wird nur das Verfahrensgesetz des Bundes zitiert. 8
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Grundsätze sind unter dem Postulat „Datenschutz contra Amtshilfe" 12 , das von der „Einheit der Staatsgewalt" zur „informationellen Gewaltenteilung" 13 bzw. zur „ Gewaltenteilung in der Verwaltung" 14 führen soll, hinsichtlich der Übermittlung personenbezogener Informationen schon im Ansatz in Frage gestellt worden. Danach soll als „Prinzip" gelten, daß die Erhebung, Sammlung, Verarbeitung und zwischenbehördliche Übermittlung von Informationen über Personen einen „Eingriff" in die grundrechtlich geschützte Rechtssphäre der Betroffenen darstellt und deshalb nur zulässig ist, wenn das Gesetz dies erlaubt oder der Betroffene eingewilligt hat 15 ; deshalb soll insbesondere für die zwischenbehördliche Informationsübermittlung „die Zustimmung des Betroffenen oder eine besondere materielle Rechtsgrundlage zu fordern sein16." Die allgemeinen Amtshilfevorschriften bieten hiernach der zwischenbehördlichen Informationshilfe jedenfalls dann keine hinreichende Rechtsgrundlage, wenn diese zwischen Behörden mit unterschiedlichen sachlichen Zuständigkeiten stattfinden soll. Die hieraus resultierende Forderung nach einer spezialgesetzlichen Grundlage für die zwischenbehördliche Übermittlung rechtmäßig erhobener personenbezogener Informationen für andere als diejenigen Zwecke, für die sie ursprünglich erhoben und vorrätig gehalten worden waren, wird von einer nicht unerheblichen Zahl von Autoren vertreten 17 . Sie ist neuestens von " Bull, D Ö V 1979, 689. " Bull, D Ö V 1979, 689. 14 Schlink (Fn. 6), passim. 15 Bull, D Ö V 1979, 692. " Bull, D Ö V 1979, 693. 17 a) vgl. z . B . Benda, FS für Geiger, S . 3 8 f . ; ders. in: Benda!Mathofer/Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, S. 124; Bull, D Ö V 1979, 693; ders. in: Bundesminister des Innern, Verfassungsschutz und Rechtsstaat, 1981, 149; ders. Gedächtnisschrift für Christoph Sasse, 1981, 877ff.; ders. Allgemeines Verwaltungsrecht, 1982, 201; Eherle, D Ö V 1977, 309; Erhel, RiA 1981, 26; Heußner, VSSR 1979, 311 Jensen, D V R 1977, 3 , 2 3 , 30ff. 46; Kamiah, D Ö V 1970, 363; ders. N J W 1976, 510; vgl. auch ders. Right of Privacy, 1969, S. 194 Abs.3 i.V. mit S. 124ff., 131 ff., 160; Louis, Grundzüge des Datenschutzrechts, 1981, S. 61; Riegel, Datenschutz bei den Sicherheitsbehörden, 1980, S. 19, 20; Schatzschneider, Ermittlungstätigkeit der Ämter für Verfassungsschutz und Grundrechte, 1979, 481 f.; Walter Schmidt, JZ 1979, 249; ders. ZRP 1979, 189; ders. Einführung in die Probleme des Verwaltungsrechts, 1980, S.86; Steinmüller u.a., BT-Drucks. VI 3826, S. 115, vgl. dort auch S. 111 ff. b) Nur scheinbar auf dieser Linie hegen einige Autoren, die die nach ihrer Ansicht erforderliche spezialgesetzliche Ermächtigung zur Informationsweitergabe in der Informationserhebungskompetenz der ersuchenden Behörde finden. So Schwan, VerwArch. 1975, 136, 138; im Ergebnis ebenso Rohlf, Der grundrechtliche Schutz der Privatsphäre, 1980, S. 212f.; ähnlich Denninger, J A 1980, 282; ders. W D S T R L 37, 41; ders. in: Bundesminister des Innern, Verfassungsschutz und Rechtsstaat, 1981, S. 25. - Der Zugriff der ersuchenden Behörde auf die erbetenen Informationen wird jedoch jedenfalls hinsichtlich der Auskunftspflicht der ersuchten Behörde erst durch die Amtshilfevorschriften ermög-
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Schlink aus einer umfassenden Erörterung des Amtshilferechts und dessen verfassungsrechtlicher „Vorgaben" näher begründet worden 18 und soll deswegen im Folgenden anhand der Darlegungen dieses Autors in ihrer Typik dargestellt und kritisch gewürdigt werden. II. Die These von der Notwendigkeit einer spezialgesetzlichen Grundlage für die zwischenbehördliche Informationshilfe 1. Schlink kennzeichnet die Amtshilfe als den Einsatz eigener Befugnisse der ersuchten Behörde für fremde Aufgaben. Diesen Einsatz habe der im Schrifttum jedenfalls „am Vorabend" der Amtshilferegelungen der Verwaltungsverfahrensgesetze (noch) überwiegende „schneidige" Amtshilfegrundsatz zugelassen. Dieser gehe davon aus, daß Amtshilfe allein auf Grund des Art. 35 Abs. 1 GG - „gesetzesunabhängig" - stattfinde und sprenge damit - als Grundsatz ernst genommen - die Kompetenz- und Zuständigkeitsordnung". Wenn die Kompetenzen und Zuständigkeiten gesetzlich geregelt seien, müsse auch die Amtshilfe eine gesetzliche Grundlage haben20. 2. Die aus „verfassungsrechtlichen Vorgaben"21 sich ergebenden Anforderungen an gesetzliche Amtshilferegelungen seien verschieden, je nachdem, ob die von der Amtshilfe berührten Vorschriften „von Grundrechts wegen"22 einem Gesetzesvorbehalt unterlägen oder nicht. Im „Eingriffsbereich" bedürfe die Einräumung von Aufgaben und Befugnissen einer gesetzlichen Grundlage23. Wegen dieser Grundrechtsrelevanz24 sei im „Eingriffsbereich" für die Leistung von Amtshilfe eine licht und ist nur nach deren Maßgabe zulässig sowie - auch gegenüber dem Betroffenen gerechtfertigt. c) Die Übermittlung rechtmäßig erhobener Informationen auf Grund der allgemeinen Amtshilfevorschriften halten für zulässig u.a. Bullinger, N J W 1978, 2121; Evers, ZRP 1980, 112; ders. in: Bundesminister des Innern, Verfassungsschutz und Rechtsstaat, 1981, 78ff., insb. S. 80; Gusy, N V w Z 1983, 325f.; ders. VerwArch. 1983, 105f.; Kopp, VwVfG, 3. Aufl., Rdn. 15, 16 zu §5; Krause, DVR 1980, 250ff., 259f.; ders. Der Betrieb, Beilage 23/1983, 14; Meyer in Meyer-Borgs, VwVfG, 2. Aufl., Rdn.4, 13 zu §5, R d n . 7 f f . zu §7; Meyer-Teschendorf, ZBR 1979, 266; ders. JuS 1981, 192; Johann Schmidt, FS zum 50jährigen Bestehen des Richard Boorberg-Verlags, S. 146; Walter Schmidt, J Z 1974, 242 Ii. letzter Abs. und re. Abs. 1 (vgl. demgegenüber aber die oben zu a) angeführten Äußerungen dieses Autors); Steinhömer, DVB1. 1981, 342); Wessel, Verfassungs- und verfahrensrechtliche Probleme der Amtshilfe im Bundesstaat, 1983, S. 47 ff., 115 ff. 18 Schlink (Fn. 6), passim. " S. 58, 59 f. 20 S. 150, 152. 21 S. 145 ff. 22 S. 151 Abs. 2, 149 Abs. 1. 23 S. 151 Abs. 2. » S. 151 Abs. 2.
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spezialgesetzliche Grundlage" erforderlich, welche „die Amtshilfe für bestimmte Behörden unter konkret bestimmten Voraussetzungen" regele26; denn Pflicht des Gesetzgebers sei im „Eingriffsbereich" die Schaffung bestimmter Kompetenzen durch Zuordnung bestimmter Befugnisse und bestimmter Aufgaben27. Unterliege der jeweils in Rede stehende Sachbereich nicht einem (gerade) „von Grundrechts wegen" geforderten Gesetzesvorbehalt, so sei für die zum Überspielen der Kompetenz- und Zuständigkeitsordnung nötige gesetzliche Regelung kein Spezialgesetz in dem beschriebenen Sinne nötig. Hierbei sei es gleichgültig, ob der betreffende Sachbereich - wie etwa der Leistungsbereich28 oder der Innenbereich der Verwaltung 2 ' - überhaupt keinem Gesetzesvorbehalt unterliege oder kraft der Verfassung einem anderen als einem gerade grundrechtlich geforderten Gesetzesvorbehalt unterworfen sei: Für die Uberspielung bloß von gesetzlichen Zuständigkeitsgrenzen sei - auch wenn der gesetzlichen Zuständigkeitsregelung ein sogenannter institutioneller Gesetzesvorbehalt zugrunde liege30 - ein Spezialgesetz nicht erforderlich. Da Kompetenz und sachliche Zuständigkeit trotz ihrer theoretischen Unterscheidbarkeit praktisch meist miteinander verbunden seien", lasse sich als „heuristische Formel" für den grundrechtsrelevanten „Eingriffsbereich" der Satz aufstellen, daß die Amtshilfe durch Spezialgesetz zu regeln sei, wenn sie die sachliche Zuständigkeit betreffe32. Im übrigen genüge als Amtshilferegelung ein sogenanntes „Querschnittsgesetz" 33 , d. h. eine Regelung, nach welcher „unter allgemein umschriebenen Voraussetzungen von beliebigen Behörden Amtshilfe gefordert werden kann und geleistet werden muß"34. Dementsprechend sei ein Querschnittsgesetz für die Amtshilfe erforderlich und ausreichend im grundrechtsrelevanten „Eingriffsbereich", soweit (nur) die örtliche Zuständigkeit betroffen sei, außerdem im 25 S. 148: Gesetze regelten „als den Kompetenzen geltende Spezialgesetze... einen speziellen Komplex von Aufgaben und Handlungsrechten und -pflichten, etwa einen bestimmten Aufgaben-Befugnis-Zusammenhang". 26 S. 148; Hervorhebungen nur hier. 27 S. 149 A b s . 1. 28 S. 153 Abs. 2. 25 S. 153 f. 30 S. 150 Abs. 1 und A b s . 2. 51 S. 152 A b s . 2. 32 S. 155 f. 33 Vgl. z . B . S. 150 A b s . 2 , 152 A b s . 2 , 153 A b s . 2 , 154 Abs. 1. Gesetze regelten „als den Kompetenzen geltende Querschnittsgesetze . . . Aspekte der Aufgabenwahrnehmung, die mehrere Komplexe übergreifen, etwa ein Verfahren, das in verschiedenen Zusammenhängen zu beachten ist" (S. 148). 34 S. 148; Hervorhebungen nur hier.
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Leistungsbereich und im Innenbereich der Verwaltung, soweit diese gesetzlich geregelt seien35. Uberhaupt keiner gesetzlichen Grundlage bedürfe die Amtshilfe, sofern und soweit sie in einem Bereich geleistet werde, der keinem Gesetzesvorbehalt unterliege und gesetzlich nicht geregelt sei36. 3. Der „Informationsbereich" gehöre hinsichtlich der den „Bürger" betreffenden Informationen zum „Eingriffsbereich", stehe also insoweit unter denselben verfassungsrechtlichen „Vorgaben" wie dieser37. Dementsprechend ist es unerheblich, ob personenbezogene Informationen im Rahmen der Eingriffsverwaltung oder der Leistungsverwaltung erhoben werden: Die Erhebung personenbezogener Informationen ist als solche ein grundrechtsrelevanter „Eingriff"38. Hieraus folgert S c h l i n k , „daß die amtshilfemäßige Informationserhebung, -Übermittlung und -Verarbeitung eines Spezialgesetzes bedarf, wenn sie über Grenzen verschiedener sachlicher Zuständigkeiten hinweg stattfindet, eines Querschnittsgesetzes, wenn sie über Grenzen lediglich verschiedener örtlicher Zuständigkeiten hinweg geschieht"39.
S. 155 f. S. 156. 37 S. 202. 38 S. 169 ff., insb. S. 198 ff., 202. 59 S. 202. Die Formel leidet an Unklarheiten: a) Wenn der „Informationsbereich" ein eigenständiger „Eingriffsbereich" ist (S. 155, 169 f., 198 ff., 202) - ein „Informationseingriff" also insbesondere auch dann vorliegt, wenn Informationen zur Vorbereitung einer Entscheidung über die Gewährung einer Leistung erhoben werden kann es für die Frage, ob Grenzen verschiedener sachlicher Zuständigkeiten überschritten werden, nur auf die Informationserhebungskompetenzen - nicht auf die Sachentscheidungskompetenzen der beteiligten Behörden ankommen. Das Zitat meint aber ersichtlich Sachentscheidungskompetenzen. b) „Informationserhebung": Inwiefern die ersuchende Behörde die Grenzen ihrer Informationserhebungskompetenzen allein schon deswegen überschreitet, weil sie die zur Erfüllung ihrer Aufgaben benötigten Informationen bei einer anderen Behörde mit anderer Sachentscheidungskompetenz durch Ersuchen um Auskunft erhebt, bleibt unerklärt. Auf die Informationserhebungskompetenzen der ersuchenden Behörden und die für diese Kompetenzen geltenden „Querschnittsregelungen" der §§ 24 ff. - insbesondere der §§ 24 Abs. 1 und Abs. 2, 26 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG - geht Schlink nicht ein. c) „Informationsübermittlung": Ubermitteln kann nur die ersuchte Behörde. Wenn die zur Befolgung eines in Wahrnehmung der Informationserhebungskompetenz der ersuchenden Behörde rechtmäßig gestellten Auskunftsersuchens nötige Informationsübermittlung einer spezialgesetzlichen „Übermittlungsermächtigung" bedürfte, liefe dies auf die Negation der Informationserhebungskompetenz der ersuchenden Behörde hinaus. Tatsächlich dürfte der Befugnis der ersuchenden Behörde, ihre Informationserhebungskompetenz durch ein Ersuchen um Auskunft an andere Behörden wahrzunehmen, die Pflicht der ersuchten Behörde entsprechen, dem Ersuchen nachzukommen, soweit dem nicht rechtliche Hindernisse entgegenstehen (§§4 Abs. 1, 5 Abs. 2 VwVfG). 35 36
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4. Die Amtshilfevorschriften der Verwaltungsverfahrensgesetze von Bund und Ländern sind „Querschnittsgesetze" im Sinne von Schlink40. Aus seiner Sicht legitimieren sie mithin die „Amtshilfe da, wo sie nicht eines Spezial-, sondern eines Querschnittsgesetzes bedarf"41. In den durch § 5 VwVfG normierten Voraussetzungen des Amtshilfeersuchens und der Amtshilfeleistung seien nämlich die beschriebenen „verfassungsrechtlichen Vorgaben" von Amtshilfe „mittelbar enthalten" bzw. „überhaupt unausgesprochen vorausgesetzt"42. Diese entschieden darüber, „welches rechtliche Unvermögen bei der ersuchenden Behörde überwunden werden darf", und bestimmten die Auslegung von § 5 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwVfG 43 . Nach Schlink gewährleisten somit auch diese Vorschriften, daß die Amtshilfe im „Eingriffsbereich" die Grenzen lediglich der örtlichen Zuständigkeit „überspielt"44, so daß die Übermittlung personenbezogener Informationen zwischen Behörden verschiedener sachlicher Zuständigkeit einer spezialgesetzlichen Grundlage bedarf45. III. Legitimationslast, Regelungskompetenz und grundrechtsbezogener „Gesetzesvorbehalt" für die behördliche Erhebung und Übermittlung personenbezogener Informationen 1. Die These, die zwischenbehördliche Übermittlung personenbezogener Informationen könne auf Grund der allgemeinen Amtshilfevorschriften nicht geleistet werden, sondern bedürfe einer spezialgesetzlichen Grundlage, läßt sich nur unter Preisgabe ihrer gedanklichen Grundlagen - der Problematisierung der Amtshilfe (erst) unter dem Gesichtspunkt des grundrechtsrelevanten „Eingriffs" - kritisch würdigen. Die Frage nach den Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen von Amtshilfe betrifft die Möglichkeiten, Voraussetzungen und Grenzen zwischenbehördlicher Beistandsleistung im Rahmen der geltenden Kompetenz- und Befugnisordnung. Aus dieser muß sich ergeben, ob, inwieweit und in welcher Weise die an der Amtshilfe beteiligten Behörden zur Erhebung und Übermittlung personenbezogener Informationen überhaupt gegen40
S. 204 f.
S. 205. 42 S. 232. 43 S. 233. Insbesondere sei die ersuchte Behörde im „Eingriffsbereich" an der erbetenen Hilfe rechtlich gehindert, wenn die ersuchte Amtshandlung „zwar durch eine Befugnis gedeckt ist, aber durch eine Eingriffsbefugnis, die der ersuchten Behörde für die Erfüllung einer Aufgabe zusteht, die sich von der Aufgabe der ersuchenden Behörde durch ihre Art und nicht nur durch den O r t unterscheidet, an dem sie zu erfüllen ist" (S. 234). 44 S. 234 f. 45 S. 2 3 7 ff., 243. 41
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über den hiervon Betroffenen legitimiert sind und ob das geltende Recht den jeweils als Amtshilfe in Rede stehenden Informationsfluß auch gegenüber dem Betroffenen zuläßt. Diese Fragen stellen sich vor und unabhängig von der Frage, ob die jeweils in Rede stehende Informationsübermittlung ein einem „Gesetzesvorbehalt" unterliegender „Eingriff" in einen grundrechtlich geschützten Rechtsbereich des Betroffenen ist. Sie sind deshalb auch unabhängig von und vor jeder Erörterung von Grundrechten und grundrechtsbezogenen „Gesetzesvorbehalten" zu klären. Grundrechte stellen als Abwehrrechte - nur um solche geht es im vorliegenden Zusammenhang - nach Maßgabe ihres Schutzgutes, ihres Schutzbereichs und ihrer Schutzintensität verfassungsrechtliche Schranken der kompetenzgemäßen Tätigkeit der Staatsorgane dar. „Von Grundrechts wegen" 46 bestehende - also kraft Verfassungsrechts Grundrechten beigefügte 47 - „Gesetzesvorbehalte" erweitern nach Maßgabe ihres Inhalts den Kompetenzraum des verfassungsmäßigen Gesetzgebers. Auf Grund eines solchen „Gesetzesvorbehalts" getroffene gesetzliche Regelungen bestimmen, sofern und soweit sie die Tätigkeit der Verwaltungsbehörden regeln, den Kompetenzraum dieser Behörden im grundrechtsrelevanten Bereich. Die Frage nach der Legitimation hoheitlichen Handelns und Entscheidens stellt sich jedoch nicht erst in dem Punkt, in dem dieses Handeln und Entscheiden auf das Widerlager von Grundrechten trifft. Die Grundrechtsrelevanz hoheitlichen Handelns und Entscheidens qualifiziert zwar das Legitimationsproblem dahin, daß die - je nach der Ausgestaltung des in Rede stehenden Grundrechts zu beantwortende 48 Frage nach der Legitimation zu grundrechtsrelevantem Handeln und Entscheiden als zusätzliche Legitimationsfrage zu beantworten ist; sie schafft aber nicht erst die Notwendigkeit der Legitimation staatlichen 46
Schlink (Fn.6), S. 151. Insoweit unklar Schlink (Fn. 6), S. 149: Aus den Grundrechten und aus der Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte folge, daß im „Eingriffsbereich" die Schaffung von Kompetenzen nur auf gesetzlicher Grundlage erfolgen könne. Aus der Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte ergibt sich indes nur, daß der Gesetzgeber gesetzliche „Eingriffe" ebenso wie Ermächtigungen zu „Eingriffen" zu unterlassen hat, sofern und soweit ihn nicht ein verfassungsgesetzlicher „Gesetzesvorbehalt" zu solchen „Eingriffen" oder Ermächtigungen befugt. 48 Hierbei kann sich ergeben, daß das Grundrecht absolut gewährleistet ist (ζ. B. Art. 4 Abs. 1 GG), daß in das Grundrecht auf Grund von formal und/oder inhaltlich besonders qualifizierten Rechtsgrundlagen - also auf Grund einer qualifizierten Legitimation eingegriffen werden darf (ζ. B. Art. 2 Abs. 2 Sätze 2 und 3 G G i. V. mit Art. 104 G G ) oder daß das Grundrecht von vornherein nur unter dem Vorbehalt der verfassungsmäßigen Ordnung (Art. 2 Abs. 1 GG) oder im Rahmen der allgemeinen Gesetze (Art. 5 Abs. 1 und Abs. 2 G G ) gewährleistet ist. 47
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Handelns, das sich vor und unabhängig von jeglicher Grundrechtsrelevanz aus der geltenden Kompetenz- und Befugnisordnung auch gegenüber dem Betroffenen legitimieren muß. Deshalb gehen Erörterungen, die die Legitimation hoheitlichen Handelns und Entscheidens erst in dem Ausschnitt eines „von Grundrechts wegen" bestehenden „Gesetzesvorbehalts" in den Blick nehmen, über die elementaren Legitimationsprobleme staatlicher Machtausübung insofern hinweg, als sie nur die grundrechtsrelevante staatliche Machtausübung als legitimationsbedürftig ansehen4'. Sie stehen deshalb in der Gefahr, entweder die nicht grundrechtsrelevante staatliche Machtausübung als ohne weiteres „legitimiert" anzusehen oder dem Bedürfnis nach deren rechtlicher Fundierung dadurch nachzugeben, daß diese Machtausübung kurzerhand - ohne hinreichende Bestimmung des Schutzgutes, des Schutzbereichs und der Schutzintensität des postulierten Grundrechts und ohne exakten Nachweis der normativen Grundlage, des Inhalts und der Reichweite des angenommenen grundrechtsbezogenen „Gesetzesvorbehalts" - als „Eingriff" in einen grundrechtlich geschützten Bereich qualifiziert wird. 2. Die vorliegende Skizze sieht wegen dieser Verkürzungen und Verwerfungen das Kriterium für die Notwendigkeit gesetzlicher Fundierung der behördlichen Informationserhebung und -Übermittlung nicht in einem grundrechtsrelevanten „Eingriff". Sie geht vielmehr hinsichtlich der Legitimationslast des Staates davon aus, daß durch staatliches Handeln und Entscheiden - unabhängig davon, ob es zu Lasten oder zu Gunsten der betroffenen geschieht - spezifische öffentliche Interessen gegenüber dem tatsächlich oder rechtlich Betroffenen zur Geltung gebracht werden sollen. Die handelnden und entscheidenden Stellen bedürfen der Legitimation zur Geltendmachung dieser Interessen durch Vorschriften, die auch für die Betroffenen verbindlich sind - auch diesen gegenüber Legitimität zu stiften vermögen so daß sie die Wahrnehmung der ihnen gegenüber zur Geltung gebrachten öffentlichen Interesw Diese Betrachtungsweise entspricht in der Metbode den „Gesetzesvorbehalten" der konstitutionellen Monarchie, die als „Ausgrenzungen" (Forsthoff, W D S t R L 12, 18; Mallmann, W D S t R L 19, 184; E.-W. Böckenförde, die Organisationsgewalt der Regierung, 1964, S. 81) aus der präkonstitutionellen monarchischen Machtfülle aufgefaßt wurden. Ebenso wie diese setzen Auffassungen, die das Legitimationsproblem nur von der Grundrechtsseite her angehen, die Legitimität des nicht grundrechtsrelevanten Handelns als ohne weiteres gegeben voraus. Die Verfassungordnung der Bundesrepublik Deutschland beschränkt jedoch nicht präkonstitutionelle staatliche Omnipotenz, sondern begründet überhaupt erst staatliche Kompetenz bzw. ermöglicht deren Begründung in den hierfür vorgesehenen Verfahren und Rechtsformen. Nicht (erst) die „Ausgrenzung", sondern (schon) die Begründung staatlicher Macht bedarf deshalb der Legitimation durch das Recht.
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sen als rechtmäßig hinnehmen müssen bzw. entgegennehmen können. Das gilt unabhängig davon, ob es sich bei den unter Berufung auf ein spezifisches öffentliches Interesse vorgenommenen Handlungen um Rechtsakte oder tatsächliche Handlungen - z.B. die Erhebung oder Übermittlung von Informationen - handelt. Die Kompetenz zur Erhebung und Übermittlung personenbezogener Informationen kann deshalb nur durch Regelungen begründet werden, denen Gemeinverbindlichkeit zukommt. Nach der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland können nur die förmlichen Gesetzgeber von Bund und Ländern und die Setzer von Rechtsverordnungen im Rahmen ihrer Rechtsetzungskompetenzen gemeinverbindliches Recht setzen. Die behördliche Erhebung und Übermittlung personenbezogener Informationen bedarf mithin allein schon aus Gründen kompetentieller Legitimation - unabhängig von irgendwelchen grundrechtlichen Bezügen - einer durch Gesetz oder durch ordnungsgemäß ermächtigte Rechtsverordnung geschaffenen rechtlichen Grundlage. 3. Ob und inwieweit die Erhebung und Übermittlung personenbezogener Informationen grundrechtsrelevant ist und die der Informationserhebung oder -Übermittlung zugrundeliegenden Rechtsvorschriften eine verfassungsmäßige Grundlage dieses „Eingriffs" darstellen, ist von Fall zu Fall anhand des Schutzgutes, des Schutzbereichs und der Schutzintensität des thematisch betroffenen Grundrechts, der Art und Weise der Informationserhebung oder -Übermittlung, des Inhalts der Informationen sowie ggf. der durch einen grundrechtsbezogenen „Gesetzesvorbehalt" gestellten Anforderungen an die rechtlichen Grundlagen des „Eingriffs" zu prüfen. Daß die behördliche Erhebung und Übermittlung personenbezogener Informationen notwendig - unabhängig von den jeweiligen konkreten Umständen - ein Grundrecht berühren könnte, das nicht ohnehin unter dem Vorbehalt der verfassungsmäßigen Ordnung steht, ist nicht ersichtlich. 4. Die hier vertretene Auffassung stimmt mit der Meinung Schlinks darin überein, daß die behördliche Erhebung und Übermittlung personenbezogener Informationen einer Rechtsgrundlage bedarf. Sie unterscheidet sich von dieser darin, daß diese Rechtsgrundlage nicht Ausdruck eines grundrechtsbezogenen „Gesetzesvorbehalts" ist und Grundrechtsfragen sowie die Erforderlichkeit einer durch einen spezifischen grundrechtlichen „Gesetzesvorbehalt" geforderten qualifizierten Legitimation nur nach Maßgabe der Umstände des Einzelfalls zu prüfen sind. Auf dieser Grundlage soll nunmehr der Frage nachgegangen werden, ob die zwischenbehördliche Übermittlung personenbezogener Informationen einer besonderen Rechtsgrundlage bedarf oder auf Grund der allgemeinen Amtshilfevorschriften zulässig ist.
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IV. Bedeutung und Reichweite des allgemeinen Amtshilferechts als Grundlage zwischenbehördlicher Informationshilfe 1. In der Literatur wird die Auffassung vertreten, das Amtshilferecht könne schon deshalb gegenüber Dritten keine Rechtsgrundlage für eine zwischenbehördliche Informationsübermittlung bieten, weil es als bloßes Institut des Innenrechts50 lediglich „Aufbau und Beziehungen innerhalb des staatlichen Bereich" regele51, sich damit „in der verfahrensrechtlichen Ebene" erschöpfe52, so daß die im Institut der Amtshilfe zusammengefaßten „verwaltungsverfahrensrechtlichen Vorschriften" 53 lediglich „eine Rechtsgrundlage gegenüber der angegangenen Behörde, Hilfe zu leisten", bildeten, „einen in der Hilfeleistung liegenden Eingriff gegenüber dem Bürger" dagegen nicht decken könnten54. Dem ist nicht zu folgen. Insofern ist zunächst klarzustellen, daß förmlich-gesetzliche Amtshilfevorschriften nach Maßgabe ihres Inhalts gegenüber jedermann verbindlich sind, daß also auch jeder Dritte diese gemeinverbindlichen Vorschriften nach Maßgabe ihres Inhalts gegen sich gelten lassen muß. In diesem Sinne bilden die förmlich-gesetzlichen Amtshilfevorschriften auch gegenüber dem Bürger die „formelle Grundlage" der Amtshilfe55. Ferner ist festzustellen, daß sich die Amtshilfevorschriften in ihrem Inhalt keineswegs auf die Regelung von Organisation und Verfahren der Amtshilfe beschränken. Vielmehr zeigen die nunmehr in den §§4 bis 8 VwVfG ausdrücklich normierten herkömmlichen Grundsätze der Amtshilfe56, daß das Amtshilferecht auch die sachlichen Voraussetzungen für die Leistung von Amtshilfe regelt. Die in den genannten Vorschriften getroffenen Regelungen lassen sich mit Meyer57 dahin zusammenfassen, daß sie außer der Definition der Amtshilfe und deren Abgrenzung zu anderen Erscheinungen, die nicht dem Amtshilferecht unterliegen (§4 VwVfG), Voraussetzungen und Grenzen der Amtshilfe und des Amtshilfeanspruchs näher bestimmen (§5 VwVfG), das Amtshilfeverfahren regeln (§6 VwVfG) und das 50 Schwan, in: Kamiah, Schimmel, Schwan, Kommentar zum Bundesdatenschutzgesetz, §1 Rdn. 50, 55. 51 Eberle, D Ö V 1977, 309. 52 Lange, Probleme des Persönlichkeits- und Datenschutzes, 1982, S. 203. 53 Jensen, DVR 1977, 3. H Walter Schmidt, J Z 1974, 249; Jensen DVR 1977, 3. 55 BVerfGE 27, 344 (352). 54 Vgl. dazu, daß die in den §§4-8 VwVfG getroffenen Regelungen einhellig als allgemeine Rechtsgrundsätze des Amtshilferechts angesehen werden, etwa Kopp, VwVfG, 3. Aufl. § 5 Rdn. 16; Lässig, in: Funkelnhurg-Lassig, VwVfG, §5 Anm. 5; Meyer, in: Meyer-Borgs, VwVfG, 2. Aufl., §4 Rdn. 5. 57 A . a . O . (Fn.56), §4 Rdn.3.
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anzuwendende Recht und die gegenseitige Verantwortlichkeit der Behörden bestimmen (§ 7 VwVfG). Hierbei geben insbesondere die in §4 und in §5 Abs. 2 VwVfG konkretisierten allgemeinen Grundsätze außerhalb des bloßen Organisations- und Verfahrensrechts liegende gemeinverbindliche Maßstäbe, nach denen sich die materielle Rechtmäßigkeit der'Amtshilfe bemißt. Nach diesen Maßstäben ist insbesondere zu beurteilen, ob eine Handlung überhaupt als Amtshilfe zu bewerten ist und ob sie als solche aus rechtlichen Gründen - z.B. wegen Fehlens der zu ihrer Vornahme gegebenenfalls nötigen Ermächtigung, wegen eines besonderen Verbots oder weil sie Grundrechte des Betroffenen verletzen würde - unzulässig ist. Zwar bestimmen die Vorschriften der §§ 4, 5 VwVfG nicht direkt die Sachverhalte, die die Anwendung des Amtshilferechts ausschließen, und die „rechtlichen Gründe", die der Leistung von Amtshilfe zwingend entgegenstehen, sondern umreißen nur allgemein die Bewertungsregeln, nach denen sich die Einschlägigkeit des Amtshilferechts gemäß §4 VwVfG und die Unzulässigkeit der erbetenen Amtshilfe (§5 VwVfG) bemessen58. Sie verweisen jedoch dabei auf den Inbegriff aller Rechtsvorschriften, die sich jeweils im konkreten Fall als für die Anwendung der Amtshilfevorschriften einschlägig und erheblich erweisen und beziehen in diese Verweisung nicht nur Organisations- und Verfahrensvorschriften, sondern auch Aufgaben- und Befugnisnormen sowie ohne irgendeine Einschränkung auch die sachlich-rechtlichen Vorschriften des geltenden Rechts einschließlich der Grundrechtsnormen ein. Die gemeinverbindlichen Amtshilfevorschriften können infolgedessen durchaus Rechtsgrundlage auch für einen in der Hilfeleistung etwa mit gegebenen „Eingriff" gegenüber dem Bürger sein5'. 2. Abzulehnen ist ferner die Annahme, die Amtshilfe durch Informationsübermittlung bedürfe jedenfalls bei unterschiedlichen Sachentscheidungskompetenzen der beteiligten Behörden einer spezialgesetzlichen Grundlage. Die allgemeinen Amtshilfevorschriften lassen die zwischenbehördliche Übermittlung rechtmäßig erhobener Informationen - auch bei unterschiedlichen Sachentscheidungskompetenzen und unterschiedlichen Informationserhebungskompetenzen der beteiligten Behörden - als Amtshilfe nur zu, wenn die übermittelten Informationen von der ersuchenden Behörde selbst erhoben werden dürfen, von der ersuchten
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Vgl. Bull, Allgemeines Verwaltungsrecht, 1982, s. 202: „Blankett- oder Verweisungsn o r m " ; Schlink (Fn. 6), S.232; in diesem Zusammenhang auch BVerwGE 38, 336 (340) und 50, 301 (310). 59 Vgl. dazu oben III. 3.
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Behörde in einer Art und Weise erhoben worden sind, die nicht nur ihr vorbehalten ist, sondern auch der ersuchenden Behörde bei eigener Informationserhabung offensteht, und wenn schließlich die Informationsübermittlung auch im übrigen sämtlichen Voraussetzungen genügt, von denen das geltende Recht die Erhebung von Informationen durch die ersuchende Behörde abhängig macht. Unter diesen Gegebenheiten kann davon, daß die nach den allgemeinen Amtshilfevorschriften gerechtfertigte zwischenbehördliche Informationsübermittlung jedenfalls bei unterschiedlichen sachlichen Zuständigkeiten der beteiligten Behörden der nötigen gesetzlichen Grundlage entbehre, nicht die Rede sein. Das ergibt sich im einzelnen aus folgenden Erwägungen: a) Die Frage, ob die zwischenbehördliche Informationsübermittlung angesichts bestehender Kompetenzdifferenzen zwischen ersuchender und ersuchter Behörde einer spezialgesetzlichen Grundlage bedarf, stellt sich von vornherein nicht in bezug auf die Sachentscheidungskompetenzen, sondern nur in bezug auf die Informationserhebungskompetenzen der beteiligten Behörden. Die ersuchte Behörde leistet als Amtshilfe nur die Übermittlung der erbetenen, von ihr bereits anderweitig - auf Grund ihrer eigenen Informationserhebungskompetenzen und -befugnissse rechtmäßig erhobenen Informationen. Sie trägt damit zur Sachentscheidung der ersuchenden Behörde nicht dadurch bei, daß sie einzelne Entscheidungselemente kraft eigener Sachentscheidungskompetenzen in das Entscheidungsverfahren einbrächte60. Vielmehr erbringt sie durch die Übermittlung von Informationen Amtshilfe nur in der Weise, daß sie der ersuchenden Behörde Informationen zugänglich macht, die allein oder zusammen mit anderen Informationen für die von der ersuchenden Behörde zu treffende Sachentscheidung möglicherweise" entscheidungserheblich sind. Auch auf Seiten der ersuchenden Behörde werden bei der zwischenbehördlichen Übermittlung von Informationen Sachentscheidungskompetenzen (noch) nicht wahrgenommen, weil die Übermittlung lediglich auf
60 Gerade dadurch unterscheidet sich die Amtshilfe von der kraft eigener Kompetenz zu leistenden Mitwirkung an der Entscheidung einer anderen Behörde (ζ. B. von der für die andere Behörde verbindlichen Feststellung des oder von Teilen des entscheidungserheblichen Sachverhalts). " Die Entscheidung darüber, ob und ggf. in welcher Hinsicht die übermittelte Information entscheidungserheblich ist, kann erst nach abschließender Sachverhaltsaufklärung getroffen werden. Deshalb hat die Entschließung darüber, ob ein Sachverhalt durch Erhebung von Informationen aufgeklärt werden soll, nicht zur Voraussetzung, daß sich die erhobenen Informationen als entscheidungserheblich erweisen; das mögliche Aufklärungsergebnis kann nicht Aufklärungsvoraussetzung sein. Es genügt, daß die erstrebten Informationen zur Aufklärung und Feststellung des entscheidungsherheblichen Sachverhalts beitragen können.
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die Aufklärung des Sachverhalts zielt und erst nach hinreichender Sachverhaltsaufklärung der entscheidungserhebliche Sachverhalt festgestellt und auf Grund dieser Feststellung - die das erste Element der zu treffenden Sachentscheidung darstellt und zu dem Ergebnis führen kann, daß die übermittelten Informationen und der ihnen zugrunde liegende Sachverhalt in keiner Hinsicht entscheidungserheblich sind" - die Sachentscheidung getroffen wird. Unterschiede in den Sachentscheidungskompetenzen der beteiligten Behörden können sich nur in der Weise auswirken, daß die rechtmäßig erhobenen Informationen durch die Übermittlung an die ersuchende Behörde anderen als den Zwecken zugeführt werden, für die sie ursprünglich erhoben worden sind. Fraglich kann somit nur sein, ob die zwischenbehördliche Übermittlung rechtmäßig erhobener Informationen durch die Informationserhebungskompetenzen und -befugnisse der beteiligten Behörden gedeckt ist und ob diese Kompetenzen durch die allgemeinen Amtshilfevorschriften auch unter Berücksichtigung des Umstands, daß diese Informationserhebungskompetenzen jeweils verschiedenen Zwecken dienen und die angeforderten Informationen mithin für andere als die Zwecke erhoben worden sind, für die sie nunmehr der ersuchenden Behörde zugeleitet werden sollen, so zusammengeschlossen sind, daß der Informationsfluß von der Informationserhebung durch die ersuchte Behörde bis zum Zugang der übermittelten Informationen bei der ersuchenden Behörde in verfassungsmäßiger Weise gegenüber dem Betroffenen gesetzlich gedeckt ist. b) Die allgemeinen Amtshilfevorschriften genügen diesen Forderungen. Eine nach Maßgabe des allgemeinen Amtshilferechts rechtmäßige zwischenbehördliche Übermittlung rechtmäßig erhobener Informationen bedarf deshalb keiner spezialgesetzlichen Grundlage". Eine solche Übermittlung stützt sich auf insgesamt drei Normenkomplexe, nämlich (1) die Normen, die die Informationserhebung durch die (später) ersuchte Behörde regeln, (2) die Normen, die die Informationserhebung durch die ersuchende Behörde regeln und (3) die Normen des Amtshilferechts, die bestimmen, unter welchen Voraussetzungen die von der ersuchten Behörde nach den Normen zu (1) erhobenen Informationen einer anderen Behörde auf ihr - im Rahmen einer Informationserhebung nach den Normen zu (2) gestelltes - Ersuchen übermittelt werden dürfen.
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Vgl. Fn. 61. " Eine spezialgesetzliche Grundlage ist nur erforderlich, wenn und soweit die Amtshilfe abweichend von den allgemeinen Amtshilfevorschriften geregelt werden soll.
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ZM (1): Die gemeinverbindlichen Normen, die die Informationserhebung durch die (nach Informationserhebung) ersuchte Behörde auch mit Wirkung gegenüber den Personen, über die Informationen erhoben werden, regeln, sind maßgebend für die Rechtmäßigkeit der - in Wahrnehmung eigener Aufgaben auf Grund eigener Informationserhebungskompetenzen vorgenommenen - Erhebung von Informationen durch die ersuchte Behörde. Aus dem Vergleich dieser Normen mit den Informationserhebungskompetenzen und -befugnissen der ersuchenden Behörde beantwortet sich ferner die - wie noch darzulegen ist - für die Amtshilfe nach den allgemeinen Amtshilfevorschriften bedeutsame Frage, ob der ersuchten Behörde im Verhältnis zur ersuchenden Behörde die Erhebung bestimmter Informationen oder die Anwendung bestimmter Erhebungsmethoden ausschließlich vorbehalten und die Übermittlung von Informationen an die ersuchende Behörde wegen dieser Ausschließlichkeit unzulässig ist. Zw (2): Für die ersuchende Behörde stellt die Erhebung von Informationen mittels Auskunftsersuchens an und Auskunftserteilung durch die ersuchte Behörde nur eine besondere Art und Weise der Sachverhaltsaufklärung zwecks Ermittlung des entscheidungserheblichen Sachverhalts dar. Die Kompetenz zur Ermittlung des entscheidungserheblichen Sachverhalts ist, sofern sie nicht besonderen Behörden anvertraut oder sonst durch besondere Vorschriften geregelt ist, durch diejenigen Normen (mit)gewährt, die der Behörde die Kompetenz zur Sachentscheidung und damit - weil jede Verwaltungshandlung das Ergebnis eines Prozesses der Informationsverarbeitung ist64 - notwendig auch zur Sachaufklärung zwecks Ermittlung des entscheidungserheblichen Sachverhalts geben. Die Sachentscheidungskompetenz schließt, soweit keine besonderen Informationserhebungsvorschriften bestehen, die Informationskompetenz mit ein: Die zur Sachentscheidung gegenüber dem Betroffenen ermächtigte Behörde ist damit dem Betroffenen gegenüber auch zur Erhebung der für die Sachentscheidung benötigten Informationen ermächtigt. Die hierfür nötigen Ermittlungen sind nach dem Untersuchungsgrundsatz vorzunehmen: Die Behörde ermittelt den entscheidungserheblichen Sachverhalt von Amts wegen und bestimmt Art und Umfang der Ermittlungen. Sie kann hierbei insbesondere Auskünfte jeder Art von privaten und amtlichen Stellen einholen. Diese - von Wolff-Bachofs als „Maximen" des Verwaltungsverfahrens bezeichneten, bis in die 64 65
Wolff-Bachof, Verwaltungsrecht III, 4. Aufl., 1978, § 156 Rdn. 1. A . a . O . (Fn.64), §156 vor R d n . 3 1 i.V. mit R d n . 3 1 , 33, 34.
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jüngste Zeit als (ungeschriebene) Grundsätze des Allgemeinen Verwaltungsrechts angesehenen und praktizierten" - Grundsätze über die Art und Weise der Ermittlung des entscheidungserheblichen Sachverhalts durch die entscheidungsbefugte Behörde sind nunmehr in den einschlägigen Vorschriften der Verwaltungsverfahrensgesetze niedergelegt, die insbesondere die Einholung von Auskünften (auch) bei amtlichen Stellen als Mittel der Sachverhaltsermittlung durch die entscheidungsbefugte Behörde vorsehen 67 . Diese Befugnis zur Einholung von Auskünften (auch) bei anderen Behörden ist der zur Informationserhebung ermächtigten Behörde nur zur Ermittlung des entscheidungserheblichen Sachverhalts eingeräumt. Sie darf deshalb nur im Rahmen der Informationserhebungskompetenz der um Auskunft ersuchenden Behörde und nur nach Maßgabe des die Wahrnehmung dieser Kompetenz näher regelnden materiellen Rechts" und Verfahrensrechts" ausgeübt werden: Die zur Informationserhebung ermächtigte Behörde ist Unabhängig davon, welche Mittel sie zur Gewinnung der für die Feststellung des entscheidungserheblichen Sachverhalts benötigten Informationen einsetzt, an das für sie geltende, die Informationserhebung regelnde Recht gebunden. Das Amtshilferecht stellt diese ohnehin bestehende Bindung nochmals ausdrücklich sicher: Nach § 7 Abs. 1 VwVfG richtet sich die Zulässigkeit der Maßnahme, die durch die Amtshilfe verwirklicht werden soll - hier: die Erhebung von Informationen zwecks Ermittlung des entscheidungserheblichen Sachverhalts - nach dem für die ersuchende Behörde geltenden Recht. Dieses bildet auch gegenüber dem Betroffenen die Grundlage der mittels eines " Badura ( F n . l l ) , S.304; Wolff, Verwaltungsrecht III, 2.Aufl., S.233, 238ff.; 3. Aufl., S. 276, 283 ff. 67 Daß die Behörde auf Grund dieser Vorschriften Auskünfte auch von anderen Behörden einholen darf, wird allgemein anerkannt; vgl. Clausen, in: Knack, VwVfG, 2. Aufl., §26 Anm.4.1; Kopp (Fn. 56), §26 Rdn. 8; Stelkens, in: Stelkens-Bonk-Leonhard, VwVfG, 2. Aufl., §26 Rdn. 7. Umstritten ist lediglich, wie weit die Verpflichtung zur Leistung von Amtshilfe auf Grund eines solchen Auskunftsersuchens reicht; vgl. in diesem Zusammenhang Bull (Fn.58), S. 191, 200. " Beispiele: BVerfGE 27, 344 (351 ff.) - oben Fn.8 - : Wahrung der Persönlichkeitsrechte von Ehegatten; BVerfGE 34, 205 (206) - oben Fn. 8 - : Wahrung des Anspruchs auf Achtung der Intimsphäre. " Beispiel: Wahrung des Aussageverweigerungsrechts des Betroffenen, wenn seine vor einer anderen Stelle gemachten Aussagen oder abgegebenen Erklärungen durch Beiziehung der einschlägigen Akten ermittelt und verwertet werden sollen: Das Verweigerungsrecht des Betroffenen wird nur gewahrt, wenn dieser zur Beiziehung gehört wird und dieser zustimmt. Schon wegen Mißachtung dieses Grundsatzes verletzte - wie nunmehr BVerfGE 56, 37 (49ff.) verdeutlicht - die von BVerfGE 27, 344 (351 ff.) aus anderen Gründen für verfassungswidrig erklärte Beiziehung von Ehescheidungsakten (auch) das Recht des Betroffenen auf Schutz vor staatlichem Zwang zur Selbstbezichtigung. - Vgl. zur Mitwirkungspflicht der Beteiligten im Verwaltungsverfahren §26 Abs. 2 VwVfG.
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Amtshilfeersuchens vorgenommenen Informationserhebung durch die ersuchende Behörde 70 . Zu (3): Mit der Befugnis, zur Ermittlung des entscheidungserheblichen Sachverhalts Auskünfte anderer Behörden über die von diesen bereits rechtmäßig erhobenen Informationen einzuholen, ist die zwischenbehördliche Übermittlung rechtmäßig erhobener Informationen noch nicht vollständig rechtlich erfaßt und gegenüber dem Betroffenen gedeckt. Es bedarf insoweit weiterer Vorschriften, die einerseits - als notwendiges Gegenstück der Befugnis zur Einholung behördlicher Auskünfte - die Auskunftspflicht der ersuchten Behörde regeln und die andererseits gewährleisten, daß diese Auskunftspflicht von Rechts wegen so eingegrenzt und mit den Informationserhebungsbefugnissen der ersuchenden Behörde harmonisiert wird, daß die Übermittlung solcher Informationen ausgeschlossen ist, deren Erhebung auf Informationserhebungskompetenzen und -befugnissen beruht, die ihrem Inhalt nach im Verhältnis zwischen den beteiligten Behörden ausschließlich der ersuchten Behörde vorbehalten sind71, und daß ferner der Kompetenzund Befugnisrahmen der ersuchten Behörde nicht überschritten wird72. Hierzu bleibt folgendes zu bemerken: Die Befugnis, den entscheidungserheblichen Sachverhalt durch Einholung von Auskünften bei anderen Behörden zu ermitteln, wäre unvollkommen, wenn sie nicht durch eine Pflicht der ersuchten Behörde zur Auskunftserteilung ergänzt würde. Insofern könnte man daran denken, eine Pflicht zur Befolgung eines Auskunftsersuchens allein schon daraus herzuleiten, daß sich die sachentscheidungsbefugte Behörde der Einholung von Auskünften zur Erhebung des Sachverhalts bedienen darf. Diese Schlußweise würde jedoch übersehen, daß das Recht zum Auskunftsersuchen und die Pflicht zur Auskunftserteilung einander nicht notwendig entsprechen und daß insbesondere im Bereich der Übermittlung von Informationen zwischen Behörden mit unterschiedlichen Kompetenzen und Befugnissen auch hinsichtlich der ersuchten Behörde rechtliche Vorkehrungen dafür getroffen werden müssen, daß das Kompetenz- und Befugnisge70
Insoweit zutreffend diejenigen Autoren, die die Grundlage der zwischenbehördlichen Informationsübermittlung in der Informationserhebungskompetenz der ersuchenden Behörde finden; vgl. oben Fn. 17 zu b). 71 Vgl. dazu Roll, JuS 1979, 241. 72 Beispiele: Die ersuchte Behörde muß die für sie geltenden besonderen Geheimhaltungsgebote einhalten. Sie darf ferner der ersuchenden Behörde die „zum persönlichen Lebensbereich" des Betroffenen sowie die Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse („nicht unbefugt" offenbaren (§30 VwVfG). „Nicht unbefugt" ist die Offenbarung, wenn die ersuchende Behörde die als „Geheimnis" anzusehende Tatsache in derselben Art und Weise erheben darf wie die ersuchte Behörde und hieran nur durch einen die Inanspruchnahme von Amtshilfe rechtfertigenden Grund i. S. von § 5 Abs. 1 VwVfG gehindert ist.
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füge der beteiligten Behörden bei Leistung von Amtshilfe nicht außer Funktion gesetzt wird. Das Auskunftsersuchen sieht sich deshalb von vornherein auf den "Weg des Ersuchens um Amtshilfe verwiesen; dementsprechend ist der ersuchten Behörde die Pflicht zur Auskunftserteilung nicht schlechthin, sondern nur als Pflicht zur Leistung von Amtshilfe nach Maßgabe der hierfür einschlägigen Vorschriften des Amtshilferechts auferlegt73. Die Grenzen zulässiger Amtshilfe umreißt § 5 Abs. 2 Satz 1 VwVfG dahin, daß die ersuchte Behörde Hilfe nicht leisten darf, wenn sie hierzu aus rechtlichen Gründen nicht in der Lage ist (Nr. 1) oder wenn durch die Hilfeleistung dem Wohl des Bundes oder eines Landes erhebliche Nachteile bereitet würden (Nr. 2). Nach § 5 Abs. 2 Satz 2 VwVfG ist die ersuchte Behörde insbesondere zur Vorlage von Urkunden oder Akten sowie zur Erteilung von Auskünften nicht verpflichtet, wenn die Vorgänge nach einem Gesetz oder ihrem Wesen nach geheimgehalten werden müssen. Im Rahmen der Frage, ob die allgemeinen Amtshilfevorschriften die zwischenbehördliche Übermittlung rechtmäßig erhobener Informationen in verfassungsmäßiger Weise sicherstellen, interessiert nur der Versagungsgrund nach § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwVfG. Zu fragen ist, ob diese Vorschrift eine Übermittlung von Informationen ausschließt, die durch die Informationserhebungskompetenzen der beteiligten Behörden nicht gedeckt ist. Das ist der Fall. Die ersuchte Behörde ist zur Übermittlung von Informationen auf Grund nur der allgemeinen Amtshilfevorschriften „aus rechtlichen Gründen nicht in der Lage" (§ 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwVfG), wenn und soweit ihr im Verhältnis zu der ersuchenden Behörde die Erhebung der bei ihr vorrätigen Informationen oder die Anwendung der Methoden und Mittel, mit denen sie diese Informationen erhoben hat, allein vorbehalten ist. Die um Informationsübermittlung angegangene Behörde hat „auf Ersuchen ergänzende Hilfe (Amtshilfe)" zu leisten (§ 4 Abs. 1 VwVfG), d. h. zur Erfüllung der Aufgaben der ersuchenden Behörde im konkreten Fall hilfeleistend beizutragen. Von dieser Pflicht nicht gedeckt und deshalb als Amtshilfe unzulässig ist ein Verhalten, das zu einem Zustand führt, der durch die ersuchende Behörde auf der Grundlage der ihr zustehenden Kompetenzen und Befugnisse nicht herbeigeführt werden darf. Ein solcher Zustand würde eintreten, wenn die um Übermittlung von ihr rechtmäßig erhobener Informationen ersuchte Behörde solche Informationen an die ersuchende Behörde weitergeben würde, die im Verhältnis zwischen den beteiligten Behörden nur sie erheben darf oder die sie mit Methoden und 75
Vgl. Kopp (Fn. 56), §26 Rdn. 8.
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Mitteln erhoben hat, die im Verhältnis der beteiligten Behörden nur ihr vorbehalten sind74. Die Grenzen zulässiger Amtshilfe würden schließlich durch die ersuchte Behörde überschritten, wenn bei Übermittlung der erbetenen Informationen nicht sämtliche Voraussetzungen vorliegen, von denen das geltende Recht mit Wirkung (auch) für die ersuchte Behörde" die Erhebung und Innehabung von Informationen durch die ersuchende Behörde abhängig macht. c) Alle diese Unzulässigkeitsgründe - ausschließliche Kompetenz der ersuchten Behörde für die Erhebung bestimmter Informationen oder für die Art und Weise der Informationserhebung, NichtVorliegen sonstiger notwendiger rechtlicher Voraussetzungen für die Erhebung oder Innehabung von Informationen durch die ersuchende Behörde, materielle Rechtsverstöße bei Übermittlung von Informationen an die ersuchende Behörde - lassen sich dahin zusammenfassen, daß die zwischenbehördliche Übermittlung rechtmäßig erhobener Informationen durch die allgemeinen Amtshilfevorschriften nicht gedeckt und deshalb - unabhängig davon, ob der jeweilige Rechtsverstoß die Beteiligung der ersuchenden Behörde, der ersuchten Behörde oder beider Behörden betrifft- unzulässig ist, soweit die ersuchende Behörde die jeweils in Rede stehende Information im konkreten Fall nicht oder nicht so hätte erheben dürfen. In diesem Satz - aber auch nur darin - liegt der zutreffende Kern der Annahme, die zwischenbehördliche Übermittlung von rechtmäßig erhobenen Informationen auf Grund nur der allgemeinen Amtshilfevorschriften sei bei unterschiedlichen Sachentscheidungskompetenzen der beteiligten Behörden bzw. wegen der deswegen eintretenden „Zweckentfremdung" der Informationen unzulässig. Die Differenz der Sachentscheidungskompetenzen der beteiligten Behörden und die deswegen infolge der Informationsübermittlung eintretende Zweckentfremdung der übermittelten Informationen steht der zwischenbehördlichen Übermittlung rechtmäßig erlangter Informationen aufgrund der allgemeinen Amtshilfevorschriften indessen nicht entgegen, wenn die betreffenden Informationen von der ersuchten Behörde auf Grund ihrer Informationserhebungskompetenzen und -befugnisse rechtmäßig erhoben worden sind, auch von der ersuchenden Behörde auf Grund ihrer Informationskompetenzen und -befugnisse erhoben werden dürfen und auch im übrigen die für eine rechtmäßige Inneha74 So im Ergebnis auch Kopp (Fn.56), §5 Rdn. 16; Meyer (Fn.56), §5 Rdn. 13, vgl. auch dort Rdn. 4. 75 Die Amtshilfe ist im ganzen unrechtmäßig, wenn auch nur ein Element - Ersuchen oder Hilfehandlung - nicht rechtmäßig ist. Im Einzelfall kann zweifelhaft sein, ob Ersuchen oder Übermittlung oder beides fehlerhaft ist. Dem kann hier nicht weiter nachgegangen werden.
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bung der Informationen durch die ersuchende Behörde erforderlichen formellen und materiellen Voraussetzungen gegeben sind. Nur unter diesen Voraussetzungen - die gewährleisten, daß der Informationsfluß von der Informationserhebung bis zum Zugang der übermittelten Informationen bei der ersuchenden Behörde in verfassungsmäßiger Weise gegenüber dem Betroffenen gesetzlich gedeckt ist - lassen die allgemeinen Amtshilfevorschriften die zwischenbehördliche Übermittlung von Informationen als Amtshilfe zu. Einer spezialgesetzlichen Ubermittlungsermächtigung bedarf es nicht. V. Schlußbemerkung Während der Drucklegung dieses Beitrags ist das Urteil des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Dezember 198376 verkündet worden. Dieses Urteil hat mit §9 Abs. 1 bis 3 des Volkszählungsgesetzes 198377 gesetzliche Vorschriften wegen ihrer Unvereinbarkeit mit Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG für nichtig erklärt, die ausdrücklich zur Übermittlung von nach dem Volkszählungsgesetz 1983 erhobenen Angaben an die Meldebehörden 78 , an oberste Bundes- und Landesbehörden oder an die von diesen bestimmten Behörden, öffentlichen und nichtöffentlichen Stellen79 sowie an Gemeinden und Gemeindeverbände®0 zur dortigen Verwendung für bestimmte Verwaltungszwecke ermächtigten. Diese Entscheidung beleuchtet vor dem Hintergrund der für nichtig erklärten spezialgesetzlichen Übermittlungsermächtigungen kontrastierend Funktion und Wirkungsweise der allgemeinen Amtshilfevorschriften deswegen sehr deutlich, weil keine der verfassungsrechtlich unzulässigen Informationshilfen auf Grund der allgemeinen Amtshilfevorschriften geleistet werden dürfte: Diese Informationshilfen sind nämlich bei Anwendung nur der allgemeinen Amtshilfevorschriften allein schon deswegen unzulässig, weil die im Rahmen der Volkszählung nach Maßgabe der §§2 bis 5 des Volkszählungsgesetzes 1983 in Verbindung mit §10 des Bundesstatistikgesetzes81 auf der Grundlage der Auskunftspflicht der Betroffenen von den Erhebungsstellen einzuholenden Angaben mit Mitteln gewonnen werden, die ausschließlich diesen Stellen 76
1 BvR 209/83, EuGR? 1983, 577. Gesetz über eine Volks-, Berufs-, Wohnungs- und Arbeitsstättenzählung (Volkszählungsgesetz 1983) vom 25. März 1982 (BGBl. I S.369) - VZG 1983 - . 78 § 9 Abs. 1 VZG 1983. 79 §9 Abs. 2 VZG 1983. 80 § 9 Abs. 3 VZG 1983. 81 Gesetz über die Statistik für Bundeszwecke (Bundesstatistikgesetz - BStatG) vom 14. März 1980 (BGBl. I S.289). 77
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vorbehalten sind82, mit denen die in § 9 Abs. 1 bis 3 des Volkszählungsgesetzes 1983 aufgeführten Behörden und Stellen die von ihnen benötigten Informationen dagegen gerade nicht erheben dürfen83. Dies belegt beispielhaft die den allgemeinen Amtshilfevorschriften durch ihre Bezugnahme auf das ihnen vorgegebene Recht innewohnende Ausrichtung auf den Inbegriff der verfassungsmäßigen Rechtsordnung: Die allgemeinen Amtshilfevorschriften bestimmen und umschreiben insbesondere in den §§4, 5 und 7 VwVfG - (auch) die im Wege der Amtshilfe zu leistende Informationshilfe als wegen bestimmter Sachlagen im Einzelfall zulässige zwischenbehördliche Übermittlung solcher Informationen, die kraft des den allgemeinen Amtshilfevorschriften vorgegebenen und von diesen in Bezug genommenen Rechts zwischen den beteiligten Behörden austauschbar sind, weil ersuchte und ersuchende Behörde die von der ersuchten Behörde erhobenen und an die ersuchende Behörde weitergeleiteten Informationen so, wie sie konkret erhoben und übermittelt worden sind, gleichermaßen rechtmäßig innehaben dürfen84. Fehlt es an dieser Voraussetzung, so ist Amtshilfe durch Informationshilfe nicht trotz, sondern gerade wegen und in Anwendung der allgemeinen Amtshilfevorschriften unzulässig. Dies zeigt - auch wenn die allgemeinen Amtshilfevorschriften selbst nicht gewährleisten können, daß ein etwa verfassungsrechtlich gebotener Ausschluß der Austauschbarkeit von Informationen 85 durch das ihnen
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Vgl. in diesem Zusammenhang oben IV 2 b) - Zu (1) - und vor Fn. 74. Das gilt insbesondere auch für die Meldebehörden; vgl. §§ 1 Abs. 3, 11 ff. des Melderechtsrahmengesetzes vom 16. August 1980 (BGBl. I S. 1429), geändert durch Gesetz vom 24. Februar 1983 (BGBl. I S. 179). - Demgegenüber ermöglichen erst die Geheimhaltungsvorschriften des § 11 BStatG, soweit sie zur Übermittlung statistisch erhobener Einzelangaben an nicht mit der Durchführung einer Bundesstatistik betraute Personen und Stellen ermächtigen, die Weitergabe derartiger Daten. 84 Vgl. dazu oben IV 2 b). 85 So ist nach BVerfG EuGRZ 1983, 589 rechts Abs. 2 hinsichtlich von personenbezogenen Daten, die „in individualisierter, nicht anonymisierter Form" (S. 589 links zu 2 vor und in a)) unter staatlichem „Zwang zur Angabe" (S. 589 Ii. letzter Abs.) „vom Bürger verlangt werden" (S. 589 Ii. Abs. 2), „ein - amtshilfefester - Schutz gegen Zweckentfremdung durch Weitergabe- und Verwertungsverbote" zum Schutz des vom Bundesverfassungsgericht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 G G abgeleiteten „Rechts auf informationelle Selbstbestimmung" erforderlich (S. 589 rechts Abs. 2 und links zu 2 vor a)). - Nach der hier vertretenen Auffassung bedarf es für die beschriebenen Fälle der aus den oben III 1 dargelegten Gründen fragwürdigen Konstruktion eines „Rechts auf informationelle Selbstbestimmung" und eines dieses Recht schützenden Weitergabeverbots nicht, um die zwischenbehördliche Übermittlung von zwangsweise erhobenen personenbezogenen Daten im Wege der Amtshilfe auszuschließen: Die zwangsweise Erhebung personenbezogener Daten beim Auskunftspflichtigen beruht stets auf diesbezüglicher besonderer Ermächtigung der erhebenden Behörde (vgl. in diesem Zusammenhang auch §26 Abs. 2 Satz 3 VwVfG), so daß schon wegen der Exklusivität der zur Erhebung 85
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vorgegebene einschlägige Recht hinreichend sichergestellt wird daß die auf den Fundamenten von Rechtsstaatlichkeit und pragmatischer Vernunft ruhenden allgemeinen Amtshilfevorschriften eine hinreichende Grundlage für die Leistung von Informationshilfe bieten und daß das letztlich auf eine Unterschätzung der rechtlichen Bindungen der Amtshilfe zurückzuführende - Verlangen nach einer spezialgesetzlichen Grundlage für die zwischenbehördliche Übermittlung von Informationen die geforderte Ermächtigung zum inhaltslosen Selbstzweck werden läßt: Wenn und soweit das geltende Recht die Austauschbarkeit von Informationen - auch zwischen Behörden mit unterschiedlichen sachlichen Zuständigkeiten - ermöglicht, weil die beteiligten Behörden die jeweils in Rede stehenden Informationen so, wie sie konkret erhoben und übermittelt werden, gleichermaßen rechtmäßig innehaben dürfen, genügt zur Begründung einschlägiger Amtshilfepflichten im Einzelfall eine diesbezügliche allgemeine Regelung, so wie sie durch die allgemeinen Amtshilfevorschriften geschaffen ist, die in ihrer Struktur der verfassungsgesetzlich vorgeschriebenen allgemeinen Amtshilfepflicht präzise entsprechen. Eine spezialgesetzliche Regelung der Informationshilfe ist demgegenüber nur erforderlich, wenn und soweit die zwischenbehördliche Übermittlung von Informationen abweichend von der bei Anwendung der allgemeinen Amtshilfevorschriften eintretenden Rechtslage durch - ggf. verfassungsrechtlich gebotene - Sondervorschriften ermöglicht, erweitert, eingeschränkt oder ausgeschlossen werden soll.
benutzten Mittel die Übermittlung der zwangsweise erhobenen Informationen durch die erhebende Behörde an Behörden mit anderer Informationserhebungszuständigkeit im Wege der Amtshilfe bereits nach den allgemeinen Amtshilfevorschriften unzulässig ist.
Berliner Rechtsprechung zum Grundgesetz ERNST BENDA
I. Der besondere Status Berlins verleiht auch der Rechtsprechung der Berliner Gerichte zum Grundgesetz eine besondere Qualität. Die Letztentscheidungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts in verfassungsrechtlichen Fragen gilt gegenüber den Gerichten von Berlin (West) nur in eingeschränktem, im einzelnen noch nicht vollständig geklärtem Umfang. Akte Berliner Gerichte unterliegen derzeit nicht der verfassungsrechtlichen Kontrolle, sie können mit der Verfassungsbeschwerde nicht angegriffen werden1. Immerhin können mit der Verfassungsbeschwerde mittelbar die auch in Berlin geltenden Gesetze des Bundes nicht jedoch solche des Landes Berlin2 - , die den angegriffenen Entscheidungen zugrunde liegen, zur Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht gestellt werden. Das Grundgesetz gilt in und für Berlin, soweit nicht der Berlin-Vorbehalt der drei Mächte seine Anwendung sowie die Ausübung der Jurisdiktion des Bundesverfassungsgerichts beschränkt3. Infolgedessen bleibt dem Beschwerdeführer insoweit der volle Rechtsschutz versagt, als das Bundesverfassungsgericht wegen des Berlin-Vorbehalts der drei Mächte den Berliner Rechtsanwendungsakt als solchen nicht nachprüfen oder gar aufheben darf4. Innerhalb der Berliner Gerichtsbarkeit selbst umstritten ist, ob ein Berliner Gericht gemäß Art. 100 Abs.l G G dem Bundesverfassungsgericht ein im Lande Berlin geltendes Gesetz des Bundes zur Prüfung vorlegen darf oder muß. Das Kammergericht nimmt in ständiger Rechtsprechung an, daß Berliner Gerichte an einer Vorlage von Bundesgesetzen an das Bundesverfassungsgericht gehindert seien5; das Arbeitsgericht sowie das Landesarbeitsgericht teilen diese Auffassung 6 . Demgegenüber
Vgl. BVerfGE 37, 57/60. B V e r f G E 7, 1. 5 Vgl. BVerfGE 7, 1/7, 10. 4 B V e r f G E 37, 57/62 f. 5 N J W 66, 598; FamRZ 80, 822f.; vgl. auch N J W 79, 1786ff. ' A r b G Berlin N J W 1979, 1678; L A G Berlin - 3 Ca 3/79 (31 BV 2/78). 1
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bejaht das Amtsgericht Charlottenburg die Vorlagepflicht 7 . Das Bundesverfassungsgericht hat über die Frage bisher nicht entschieden; zu ihr soll hier nicht Stellung genommen werden, da sie gegenwärtig wieder aktuell zu werden scheint. Umstritten ist auch, was zu geschehen hat, soweit eine Vorlagemöglichkeit verneint wird. Das Kammergericht nimmt eine eigene Verwerfungskompetenz der Berliner Gerichte an und läßt Gesetze des Bundes, die es für mit dem in Berlin geltenden Grundgesetz unvereinbar ansieht, außer Anwendung 8 . Das Arbeitsgericht verneint die Verwerfungskompetenz jedenfalls für den Fall, daß ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des entsprechenden Gesetzes bereits vor dem Bundesverfassungsgericht anhängig ist. Stattdessen müsse das Berliner Gericht ein Verfahren bis zur Erledigung des vor dem Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfahrens aussetzen 9 . Dies lehnt jedoch das Kammergericht ab, weil die Aussetzungsmöglichkeit in Art. 100 G G erschöpfend dahin geregelt sei, daß nur das vorlegende Gericht die Entscheidung des von ihm angerufenen Bundesverfassungsgerichts abzuwarten habe' 0 . Diese komplizierte, hier nur ansatzweise geschilderte Situation zusammen mit dem Fehlen eines eigenen Berliner Landesverfassungsgerichts erhöht das Gewicht der Verfassungsrechtsprechung der Berliner Gerichte. Während in anderen Teilen der Bundesrepublik Deutschland der Weg zum Bundesverfassungsgericht unzweifelhaft offensteht und eine Konzentrierung der Verfassungsrechtsprechung erreicht werden kann, sehen sich Berliner Gerichte auf die eigene Entscheidungskompetenz verwiesen. Die Situation erinnert in manchem an die Diskussion in der Weimarer Republik um die Prüfungs- und Verwerfungskompetenz des Reichsgerichts. Nicht ganz fern liegen könnte die Sorge, daß es zu einer Divergenz der Grundgesetzinterpretation zwischen Berlin und den anderen Teilen der Bundesrepublik Deutschland kommen könnte oder diese bereits eingetreten sei und daß infolgedessen die Bindungen Berlins an den Bund auf einem entscheidenden Gebiet der staatlichen Einheit gelockert würden. Andererseits vermag eine solche relativ eigenständige Rechtsprechung einen Beitrag zum Verfassungsrecht der Bundesrepublik zu leisten, der Ubereinstimmungen und Bindungen zeigen könnte. Es ist das Ziel der nachfolgenden Darstellung, solche Bezugspunkte an einigen ausgewählten Beispielen zu belegen.
1 A G Charlottenburg 7 C 743/81; vgl. dazu Kreikebohm/Meyer in BIGrdstBauWoR 1982, S. 128 ff. 8 KG N J W 66, 598; N J W 79, 1786; FamRZ 80, 821 ff.; vgl. auch O V G E Berlin 4 , 1 6 4 . ' ArbG Berlin, N J W 79, 1678. 10 KG FamRZ 67, 230; offengelassen von O V G in E O V G Berlin 3, 162.
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II. 1. Schon frühzeitig hat das Kammergericht die Notwendigkeit erkannt, die Intimsphäre vor unbefugtem Eindringen Dritter mit Hilfe moderner technischer Mittel zu schützen. Es hat deshalb eine Verletzung der Würde des Menschen sowie des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit bereits in der unberechtigten Herstellung einer Tonbandaufnahme von klanglichen Lebensäußerungen einer Person gesehen. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht, wie es § 823 Abs. 1 BGB i. V. m. Art. 1 und 2 G G schützt, umschließt danach die ausschließliche Befugnis, zu bestimmen, wann, wo, wie und welche von der Persönlichkeit ausgehenden, sinnlich wahrnehmbaren Äußerungen gleich welcher Art von Dritten fixiert, wiedergegeben oder sonst benutzt werden dürfen". Auf ähnlichem Verständnis beruht die Auffassung, daß im Strafprozeß ein aus Art. 1 Abs. 1 und 2 Abs. 1 G G folgendes Verwertungsverbot von formell rechtmäßig beschlagnahmten Beweismitteln bestehen könne. Das Gericht hat dabei offengelassen, ob ein solches Verwertungsverbot bei Verletzung der engsten Eigensphäre der Person nur für Niederschriften über Meinungen, Gefühle und Gedanken oder auch für Notizen über Tatsachen gilt, und ob trotz eines solchen Verwertungsverbotes das Interesse der Allgemeinheit an der Verbrechensaufklärung eine Verwertung in bestimmten Fällen rechtfertigt 12 . Jedenfalls entspricht dies der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die von einem grundsätzlich unantastbaren Eigenbereich der menschlichen Person ausgeht". Dabei mag zweifelhaft sein, wie das Kammergericht schon damals offengelassen hat, ob ein solcher Eigenbereich schlechthin unantastbar ist und wie die Grenzen eines solchen etwa bestehenden Bereiches zu ziehen sind14. Es kann sich jedenfalls nur um einen engen Bereich menschlicher Äußerungen handeln, dessen Grenzen von Fall zu Fall unter Abwägung mit den legitimen Interessen der Gesamtheit festgestellt werden müssen. Ganz im Sinne der teilweise erst später erfolgten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts haben Berliner Gerichte zur Untersuchungsund Strafhaft geurteilt. Das Kammergericht verlangt bei der Entscheidung darüber, ob einem Untersuchungsgefangenen eine Genehmigung zum Rundfunkempfang erteilt werden kann, eine sorgfältige Abwägung und lehnt es in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 15 ab, von vornherein die Abwägung im Einzelfall 11 12 13 u 15
KG N J W 56, 26. K G JR 1967, 192. Vgl. etwa BVerfGE 27, 1. Vgl. kritisch etwa Schlink, Die Amtshaftung, S. 192, m. w. N . BVerfGE 15, 288 ff.
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gegen das Begehren des Untersuchungsgefangenen ausschlagen zu lassen". Bisweilen haben die verfassungsrechtlichen Entscheidungen Berliner Gerichte auch eine gewisse Vorreiterfunktion. N o c h bevor das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur Einschränkung der Grundrechte von Strafgefangenen es für verfassungswidrig erklärte, Briefe von Strafgefangenen wegen ihres beleidigenden Inhalts aufzuhalten17, entschied das Kammergericht für den Bereich der Untersuchungshaft entsprechend für Briefe mit unsachlicher oder unberechtigter Kritik an der Durchführung des Strafverfahrens. Es bleibt allerdings insoweit hinter der später ergangenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zurück, als es annimmt, daß beleidigende Äußerungen in dem Brief einen Grund zur Beanstandung geben könnten 18 . Immerhin läßt sich eine gewisse Entwicklung gegenüber der Entscheidung des Kammergerichts vom 21. April 1967 erkennen", in der noch ausdrücklich gutgeheißen wurde, daß Briefe beleidigenden Inhalts von der Beförderung auszuschließen seien, wenn sie die Ordnung in der Vollzugsanstalt stören. Dies sei in der Regel der Fall, wenn sie unrichtige oder gröblich entstellende Behauptungen über die Verhältnisse in der Vollzugsanstalt enthielten und Richter und Beamte beleidigt würden; denn erfahrungsgemäß würden solche Briefe unter Gefangenen besprochen, und es bestehe die Gefahr, daß unkritische Gefangene sie zum Anlaß nähmen, sich ihrerseits gegen die Anstaltsordnung aufzulehnen. Das Bundesverfassungsgericht ließ dagegen dieses in der damaligen Rechtsprechung allgemein verbreitete Argument nicht gelten, da gerade solche Briefe unter Gefangenen besprochen würden, die angehalten worden seien20. Immerhin wird man feststellen können, daß in der Tendenz der fortschreitenden Sicherung der Grundrechte in Sonderstatusverhältnissen die Rechtsprechung beider Gerichte weitgehend parallel läuft. Als überholt kann deshalb die Entscheidung des Kammergerichts vom 9. Dezember 196521 gelten, nach der den Strafgefangenen, insbesondere den mit lebenslangem Freiheitsentzug Bestraften, uneingeschränkt nur noch das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zustehe. Entsprechend damals verbreiteter, vom Bundesverfassungsgericht jedoch mit Entscheidung vom 21.Juni 197722 zurückgewiesener Auffassung vertrat das Kammergericht die Ansicht, mit dem Verlust der persönlichen Freiheit als Strafe werde denkgesetzlich ein vollständiger Gewahrsam des Inha" K G Rpfl. 1963, 376. 17 BVerfGE 33, 1 ff.; vgl. auch BVerfGE 35, 35ff.; 42, 234ff. 18 K G J R 1971, 386. " K G J R 1967, 348. 20 BVerfGE 33, 1/16. 21 K G NJW 1966, 1088. 22 BVerfGE 45, 187 - Lebenslange Freiheitsstrafe - .
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bers der staatlichen Gewalt über den betroffenen Staatsbürger begründet. Infolge dieses Machtverhältnisses verliere der Gefangene im Prinzip tatsächlich alle diejenigen Grundrechte, zu deren uneingeschränkter Ausübung er der persönlichen Freiheit bedürfe. Seine Gefangenhaltung habe grundsätzlich die völlige Isolation von der Umwelt zur Folge. Jegliche Vergünstigung, insbesondere jeder Kontakt mit den Gefangenen, sei naturgemäß nur nach dem Ermessen und durch die Vermittlung des Gewalthabers denkbar, dessen einzige Pflicht gegenüber dem Gefangenen darin bestehe, das diesem uneingeschränkt gebliebene Recht auf Leben und auf eine damit zusammenhängende gesunderhaltende Behandlung nach zeitgemäßen Erkenntnissen zu gewähren. Insbesondere bei der lebenslangen Freiheitsstrafe stehe die Einschränkung der Lebensweise auf einfachste Formen, angemessene und menschlich erträgliche Sühne und Vergeltung für begangenes Unrecht im Vordergrund der Strafe; Resozialisierung durch bessernde, erzieherische Maßnahmen sei dagegen weitgehend bedeutungslos. 2. Zu einer noch früheren Phase der Entwicklung der Grundrechte zu einem umfassenden Schutz des Einzelnen gehört eine Entscheidung des Berliner Oberverwaltungsgerichts zum Sammlungsgesetz vom 26. März 1958 23 . Sie ist Teil einer in das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. August 1966 mündenden Auseinandersetzung, die über eine Reihe von Jahren angehalten hat und für das Verhältnis der Rechtsordnung der Bundesrepublik zu nationalsozialistischem Recht mitprägend war. Dabei hat auch die Entwicklung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wesentliche Impulse erfahren. Das Oberverwaltungsgericht hielt zwar anders als später das Bundesverfassungsgericht die weitgehenden Beschränkungen des Sammlungsgesetzes selbst für verfassungsgemäß, wobei es im wesentlichen vom Bundesverwaltungsgericht 24 bestätigt wurde, verneinte jedoch die Verhältnismäßigkeit des § 4 D V O SammlG. Darin war das Bestehen eines hinreichenden öffentlichen Bedürfnisses zur Voraussetzung der behördlichen Sammlungsgenehmigung gemacht. Das Oberverwaltungsgericht sah hierin zwar ein geeignetes, angesichts anderer hinreichender Möglichkeiten, die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu schützen, jedoch kein angemessenes Mittel und deshalb eine in die allgemeine Handlungsfreiheit im Ubermaß eingreifende Maßnahme. 3. Umfangreich und für die Entwicklung des Verfassungsrechts von erheblicher Bedeutung ist die Rechtsprechung besonders des Berliner
23
O V G E Berlin 6, 5. BVerwGE 10, 199.
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Oberverwaltungsgerichts zu Art. 12 GG 2 5 . So ist die . Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Altersgrenze bei Hebammen 26 auch durch das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin vom 2. September 1953 vorbereitet worden, mit dem die Altersgrenze von 70 Jahren für mit Art. 12 Abs. 1 G G vereinbar erachtet wurde. Dabei konnte sich das Oberverwaltungsgericht bereits auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Altersgrenze für Bezirksschornsteinfeger 27 stützen, wie es weiterhin bei seinem Urteil zur Altersgrenze für Kursmakler 28 auf die inzwischen ergangene gefestigte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu dem Gesamtkomplex zurückgreifen konnte. Demgegenüber vertrat es in einer Reihe von Entscheidungen, in denen es die Bedarfsprüfung für die Zulassung zum Hebammenberuf sowie für die Metallhandelserlaubnis 29 als verfassungsgemäß erachtete, noch die damals auch vom Bundesverwaltungsgericht vertretene 50 Auffassung, daß die Inanspruchnahme eines Grundrechts dann unzulässig sei, wenn dadurch für den Bestand der Gemeinschaft notwendige Rechtsgüter gefährdet würden. Diese Rechtsansicht hat das Bundesverfassungsgericht bekanntlich im Apothekenurteil 31 zurückgewiesen; sie ist soweit ersichtlich später von Berliner Gerichten auch nicht mehr vertreten worden. 4. In eine durchaus aktuelle Problematik führt ein weiterer Komplex Berliner Rechtsprechung. Der Sonderstatus Berlins verleiht dem Bereich weltanschaulichen Bekenntnisses, der Notwendigkeit und der Grenzen von politischer Toleranz und Wachsamkeit einige Besonderheiten, mit denen das Kammergericht bereits früh in der schon erwähnten Entscheidung zum Rundfunkempfang von Untersuchungsgefangenen argumentiert hat. Es sah dabei jedoch in der möglichen politischen und rundfunktechnischen Beeinflussung von Untersuchungsgefangenen, die unter dem Gesichtspunkt der Staatssicherheit relevant werden könnte,
25 Vgl. neben den nachstehend erörterten Entscheidungen noch VGGewArch. 65, 143; O V G J R 1955, 355; BVG-amerikanischer Sektor, DVB1. 49, 627; O V G E Berlin 3, 8; O V G J R 56, 356; O V G E Berlin 8, 116; O V G J R 1973, 347. 2 t BVerfGE 9, 338. 27 BVerfGE 1, 264. 28 O V G J R 1965, 114. D Ö V 1955, 564; DVB1. 1955, 561; ebenso O V G E Berlin 6, 46; OVG J Z 1955, 272; vgl. auch O V G N J W 1953, 1727; vgl. zur Bedarfsprüfung im Rahmen von Art. 12 GG noch O V G Berlin, Urt. vom 2 8 . 1 1 . 1 9 5 7 - O V G E Berlin 6, 1 - mit parallelen Argumenten zum Konkurrenzschutz der Deutschen Bundesbahn wie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Werkfernverkehr vom 2 2 . 5 . 1 9 6 3 - BVerfGE 16, 147. 30 31
BVerwGE 2, 89/93 f. und öfter. BVerfGE 7, 377/411.
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kein stets zu Lasten des Gefangenen ausschlagendes Argument bei der Frage der Empfangsgenehmigung 32 . Mehrfach hatten sich Berliner Gerichte mit Problemen mensurenschlagender Studentenverbindungen zu beschäftigen, gerade auch in Zeiten gewisser innenpolitischer Spannungen, in denen die vom Grundgesetz geforderte Toleranz von besonderer Wichtigkeit und ein Zeichen unbeirrter Standfestigkeit ist. So sah das Oberverwaltungsgericht in einem Urteil vom 13. Oktober 1955" in dem Verbot der Mitgliedschaft in mensurenschlagenden Verbindungen und des Mensurenschlagens überhaupt und entsprechend in dem Versagen der Immatrikulation eines Studenten mit dem Argument, er sei Mitglied einer mensurenschlagenden Verbindung, einen Verstoß gegen das Recht auf freie Wahl des Berufes und auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit. In der politisch gerade in Berlin spannungsreichen Zeit Ende der sechziger Jahre hat das Verwaltungsgericht Berlin Grundsätzliches zur Aufgabe der Universität in der freiheitlichen, rechtsstaatlichen Demokratie gesagt34. Die Freie Universität hatte eine studentische Vereinigung wegen eines „gewissen Unbehagens" an deren Volkstumspolitik nicht zugelassen, die verhindere, daß die Vereinigung einen förderungswürdigen Beitrag zur Erfüllung der der Universität gestellten Erziehungsaufgabe leisten könne. Demgegenüber führte das Verwaltungsgericht aus, daß die Universität als Beitrag zu ihrer Erziehungsaufgabe nur verlangen könne, daß die Vereinigung ihre Mitglieder in Einklang mit den Grundsätzen demokratischer Rechtsstaatlichkeit erziehe und daß die Vereinigung in ihrer Gesamthaltung nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung verstoße. Der Erziehungsauftrag der Universitäten müsse - wie jede Erziehung den Gedanken der Duldsamkeit einschließen; er berechtige die Universität nicht, das von ihr erstrebte Bildungs- und Erziehungsideal in einer Weise zu erzwingen, die einer Ausschaltung der freiheitlichen Grundrechte gleichkäme, insbesondere des Rechts der freien Meinungsäußerung und des Rechts auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die nach Art. 5 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG den Schutz des Grundgesetzes genießen. Jede menschenformende Erziehung setze gerade voraus, daß der zu Erziehende der Formung bedürfe, also dem mit der Erziehung zu verwirklichenden Vorstellungsbild des Erziehers noch nicht entspreche. Man mag gewisse Bedenken dagegen haben, eine auch gegen entsprechende Zulassungsrichtlinien der Universität verstoßende Entscheidung 32
KG Rpfl. 1963, 376. O V G JZ 1955, 272. " VG Berlin, Urt. vom 7.12.1967 - DVB1. 1968, 275 10. 7.1968 - DVB1. 1968, 714 - . 53
vgl. auch VG Berlin, Urt. vom
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als Verletzung des Art. 3 G G anzusehen und eher einen Verstoß gegen die spezielleren Grundrechte und Leitprinzipien der Verfassung annehmen; gleichwohl bleiben die grundsätzlichen Ausführungen des Urteils bestehen. In komplizierte noch heute umstrittene dogmatische Probleme der verfassungsrechtlichen Stellung der Parteien und der sich daraus ergebenden Situation von Parteimitgliedern führt die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts vom 11. Juni 1959". Einem arbeitslosen Mitglied der SED war wegen seiner parteipolitischen Zugehörigkeit die Winter- und Weihnachtsbeihilfe der Sozialfürsorge versagt worden. Das Oberverwaltungsgericht sah hierin einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 3 GG. Zunächst betont das Gericht in Ubereinstimmung mit der modernen Entwicklung der Gleichbehandlungsdogmatik, daß Art. 3 Abs. 3 G G auf jede Art und Weise staatliche Betätigung, auch bei der Verteilung staatlicher Leistungen, Anwendung finde. Aus den Grundrechten, insbesondere aus Art. 1 Abs. 1 G G in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip, folgert es einen Anspruch auf das Existenzminimum. Art. 3 Abs. 3 GG, der auch die Mitgliedschaft in einer politischen Partei schütze, stehe dabei nicht unter einem Vorbehalt des Art. 18 GG. Mit Art. 18 G G habe der Grundgesetzgeber bewußt den Grundsatz der Toleranz und geistigen Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner zugunsten der Erhaltung der Demokratie eingeschränkt und zum Zwecke der Abwehr von Gefahren für die Demokratie die Verwirkung gewisser Grundrechte für notwendig erachtet; die in Art. 18 G G enthaltene Aufzählung der verwirkbaren Grundrechte sei indes erschöpfend und Art. 3 Abs. 3 in dieser Aufzählung nicht enthalten. Auch die Gewährleistungsschranke des Art. 2 Abs. 1 GG, die das Gericht noch im Sinne der Dürig'schen Lehre als immanente Schranke aller Grundrechte interpretiert, gelte nicht für die Aktualisierung des Gleichheitssatzes im Rahmen sozialstaatlicher Gestaltung. Dagegen befreien nach Auffassung des Oberverwaltungsgerichts Berlin in Ubereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts36 die politischen Freiheitsrechte den Beamten nicht von seiner Pflicht zur Treue gegenüber der Verfassung. Entsprechend bestätigte das Gericht die Entfernung einer Lehrerin aus dem Dienst, weil sie bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus für den Kommunistischen Bund Westdeutschlands kandidiert hatte' 7 . Dabei weist das Oberverwaltungsgericht ausdrücklich darauf hin, daß die freiheitliche demokratische 35 OVGE Berlin 6,46 - bestätigt durch BVerwG D Ö V 1961,391; vgl. dazu noch OVG Berlin Urteil vom 22.12. I960, OVGE 6, 185. 36 Vgl. BVerfGE 39, 334. 37 OVGE 14, 204 - Urt. vom 26.9.1978 - .
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Grundordnung im Sinne der Verfassung von Berlin der freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes entspreche. Daß es bei diesem eher versteckten Hinweis auf die Sonderstellung des Landes Berlin bleibt und im übrigen Unterschiede zur gefestigten Rechtsprechung nicht nur des Bundesverfassungsgerichts, sondern auch der übrigen Gerichte der Bundesrepublik in der Frage der Treuepflicht im öffentlichen Dienst nicht hervortreten, bestätigt die bestehenden Bindungen 38 . In zwei Entscheidungen verschiedener Senate hatte sich das Oberverwaltungsgericht mit der Sammlung und Weitergabe von Informationen durch das Landesamt für Verfassungsschutz zu beschäftigen. Der Vierte Senat bestätigte die Praxis der sogenannten Regelanfrage von Einstellungsbehörden bei den Amtern für Verfassungsschutz 39 . Dabei stützt er sich unter anderem auf das Sondervotum des Richters Wand zu dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts zur politischen Treuepflicht im öffentlichen Dienst 4 0 ; es mißt den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zur Verhältnismäßigkeit von Ermittlungen der Verfassungsschutzämter über Verhaltensweisen vor dem Vorbereitungsdienst des Bewerbers 41 lediglich die Qualität von obiter dicta zu, die weder die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder noch die Gerichte und Behörden bänden. Entsprechend will der Vierte Senat - anders als die Vorinstanz - aus diesem Teil des Beschlusses keine Folgerungen für die Verwertbarkeit von Erkenntnissen ziehen, welche die Einstellungsbehörde einer routinemäßigen Anfrage beim Landesamt für Verfassungsschutz verdankt. Es versteht den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vielmehr dahin, daß die Einstellungsbehörde aus Art. 35 Abs. 1 G G befugt ist, dasjenige Material bei der Einstellungsentscheidung zu verwerten, das der Staat sich zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung beschafft hat. D e r Zweite Senat desselben Gerichts arbeitet demgegenüber Grenzen der Weitergabebefugnis der Verfassungsschutzämter heraus42. Das Sammeln von Auskünften, Nachrichten und Unterlagen über verfassungsfeindliche Bestrebungen vollziehe sich notwendigerweise bereits im Vorfeld polizeilicher, strafrechtlicher oder disziplinarrechtlicher Relevanz, und auch das Ordnen und Sichten des beschafften Materials als behördeninterner Vorgang begegne grundsätzlich keinen Bedenken. Soweit jedoch die Weitergabe des gesammelten Materials an andere " Vgl. zum weiteren Komplex der politischen Betätigung von Angehörigen des öffentlichen Dienstes VG Berlin NJW 79, 2629; VG Berlin NJW 82, 1113. " Urt. vom 2 4 . 2 . 1 9 7 8 - N J W 78, 1648 - . 40 BVerfGE 39, 334/386. 41 BVerfGE 39, 334/356 f. 42 Urt. vom 18.4.1978 - N J W 78, 1644.
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Behörden als an Ämter des Verfassungschutzes stattfinde, seien erheblich engere Grenzen gesetzt als bei der inneren Auswertung. An die Verfestigung des Kriteriums „verfassungsfeindliche Bestrebungen" und an den Wahrheitsgehalt der Nachrichten seien strenge Anforderungen zu stellen, weil für die Erhaltung der freiheitlichen Demokratie der Gebrauch sachfremder und dubioser verfassungsdienstlicher Informationen eher nachteilig als förderlich sei. Wenngleich der Senat ausdrücklich davon absieht, den Begriff „verfassungsfeindliche Bestrebungen" näher zu definieren, nennt er die Grenzen der Art. 18, 21 Abs. 2 G G und das Ziel, jene Grundlagen der bestehenden Ordnung zu beseitigen, die den Wesenskern der freiheitlichen Demokratie bilden 43 . Die Übermittlung vager „Zweifel an der Verfassungstreue" 44 sei durch den Gesetzesauftrag nicht gedeckt. Entsprechend verstoße es gegen Art. 3 Abs. 3 G G , die Mitgliedschaft in einer nicht verbotenen Partei, die Teilnahme an einer erlaubten Demonstration, die Unterzeichnung einer nach Form und Inhalt nicht zu beanstandenden Resolution oder Petition und andere von der Verfassung und vom geltenden Recht gewährleistete politische Willenbekundungen oder Betätigungen mitzuteilen, wenn nicht durch das Hinzutreten weiterer Umstände der Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen begründet erscheine. Beide Urteile sind Ausdruck des Bemühens, auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in dem verfassungsrechtlich wie verfassungspolitisch schwierigen Gebiet der wehrhaften Demokratie sowohl den Bedürfnissen politischer Freiheit wie den Notwendigkeiten rechtsstaatlicher Abwehrbereitschaft Rechnung zu tragen. Wenn gleichwohl eine gewisse Unterschiedlichkeit der Akzentsetzung zu verzeichnen ist, so mag dies jedenfalls der weiteren Entwicklung der Problemlösung eher förderlich sein. Ein abschließendes Wort mag hier um so schwieriger, bisweilen gar schädlich erscheinen, als das Verhältnis der freiheitlichen Demokratie zu ihren Kritikern oder Gegnern auch und besonders eine Frage des sich entwickelnden politischen Prozesses ist45. 5. Konnten sich die Berliner Gerichte in den zuletzt genannten Entscheidungen auf die bestehende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stützen, und haben diese Entscheidungen eher den Charakter der Weiterentwicklung und Akzentsetzung, so hat das Kammergericht auf dem Gebiet des verfassungsrechtlich geprägten Familienrechts in jüngerer Zeit wiederum die Funktion des Vorreiters übernommen. Diese Entscheidungen sind über den engeren verfassungsrechtlichen SachzuMit Hinweis auf BVerfGE 2, 1/13. BVerfGE 39, 334/353. 45 Vgl. zu weiteren Problemen politischer Auseinandersetzung O V G Berlin N J W 1973, 2044; VG Berlin J R 1968, 316. 43
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sammenhang hinaus deshalb von besonderer Bedeutung, weil hier die Möglichkeit einer unterschiedlichen Beurteilung von Bundesgesetzen durch Kammergericht und Bundesverfassungsgericht bestanden hat mit der möglichen Folge, daß ein Bundesgesetz in Berlin aus verfassungsrechtlichen Gründen durch das Kammergericht nicht zur Anwendung gelangte, das vom Bundesverfassungsgericht für verfassungskonform erklärt wäre. Dieser Fall ist freilich bisher nicht eingetreten. Von besonderer Bedeutung ist dabei der Beschluß des Kammergerichts vom 28. Mai 198046 zu §1671 Abs. 4 Satz 1 BGB. Diese N o r m schrieb vor, nach Scheidung der Eltern die elterliche Sorge für das gemeinschaftliche Kind einem Elternteil allein zu übertragen; es war dementsprechend nicht zulässig, die elterliche Sorge über das Kind beiden geschiedenen Eltern gemeinsam zu übertragen. Das Kammergericht hat diese Regelung für verfassungswidrig erachtet. Sie verstoße gegen das in Art. 6 Abs. 2 G G als Grundrecht garantierte Elternrecht auf Pflege und Erziehung der Kinder. Der Staat dürfe in Wahrnehmung des Wächteramtes in Elternrecht und Elternverantwortung nur dann mit generellen Verboten eingreifen, wenn individuelle Maßnahmen nicht ausreichten, um die Gefährdung des Kindeswohls abzuwenden. Es gebe jedoch keinen Erfahrungssatz dahin, daß das Kindeswohl stets gefährdet sei, wenn beide Eltern nach der Scheidung die gemeinsame Sorge behielten. Der weiterhin gemeinsamen Verantwortung der Eltern für ihr Kind entspreche es eher, wenn sie auch nach der Scheidung gemeinsam die elterliche Sorge ausüben wollten. Soweit das Gesetz eine solche Möglichkeit ausschließe, weite es das Wächteramt des Staates in unzulässiger Weise aus und verletze das den Eltern nach Art. 6 Abs. 2 G G zustehende Grundrecht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Im Hinblick darauf, daß eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht für ein Berliner Verfahren nicht in betracht komme, hat das Kammergericht die für verfassungswidrig erkannte Vorschrift nicht angewendet und in dem zu entscheidenden Fall festgestellt, die elterliche Sorge stehe den geschiedenen Eheleuten gemeinsam zu. Auf verschiedene Vorlagen anderer Gerichte hat das Bundesverfassungsgericht im Sinne des kammergerichtlichen Beschlusses entschieden, wobei es sich auf die Anhörung mehrerer Sachverständiger über die möglichen Folgen der Sorgerechtsregelung für die Entwicklung des Kindes gestützt hat. (Zu diesen gehörte bemerkenswerterweise auch - in seiner Eigenschaft als Vertreter einer Fachkommission des Deutschen Richterbundes - der Vorsitzende des entscheidenden Senats des Kammergerichts.) Der mögliche Eindruck einer gewissen stärkeren Akzentsetzung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf das Kin« FamRZ 1980, 821.
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deswohl mag damit zusammenhängen. Beide Entscheidungen belegen eine auffällige Ubereinstimmung der verfassungsrechtlichen Beurteilung und allgemeinen Denkweise beider Gerichte, vielleicht bedingt durch die sorgfältige Analyse der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durch das Kammergericht. Zu einer unterschiedlichen Beurteilung ist es allerdings in einer anderen Entscheidung hinsichtlich der Frage gekommen, ob Art. 15 E G B G B vor- oder nachkonstitutionelles Recht darstellt. Das Kammergericht hat in seinem Beschluß vom 19. April 1979" festgestellt, Art. 15 E G B G B verstoße gegen Art. 3 Abs. 2 G G , soweit bei der Beurteilung des ehelichen Güterrechts auf die Staatsangehörigkeit des Mannes zur Zeit der Eheschließung abgestellt ist. Gestützt auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, daß Kollisionsnormen keine bloß wertneutralen Ordnungsvorschriften seien, die nicht verfassungswidrig sein könnten48, stellt das Kammergericht fest, daß Kollisionsnormen nur dann verfassungsgemäß seien, wenn die Auswahl der Anknüpfungspunkte mit den Grundrechten vereinbar sei. An dieser Voraussetzung fehle es bei einer einseitigen Anknüpfung des anzuwendenden Statuts an das Heimatrecht des Mannes - sei es im Zeitpunkt der Eheschließung, sei es bei Einreichung des Scheidungsantrages - , weil dabei die Gleichwertigkeit der Staatsangehörigkeit von Mann und Frau mißachtet werde. In seinem Beschluß vom 22. Februar 1983 hat das Bundesverfassungsgericht diese verfassungsrechtliche Beurteilung bestätigt. Das Kammergericht nimmt jedoch an, daß Art. 15 E G B G B in dem entscheidungserheblichen Umfang als vorkonstitutionelles Recht gemäß Art. 117 Abs. 1 G G außer Kraft getreten sei. Demgegenüber hat das Bundesverfassungsgericht4' Art. 15 E G B G B als nachkonstitutionelles Recht qualifiziert, weil der Gesetzgeber der Bundesrepublik die Norm in seinen objektiven Willen aufgenommen habe. Die unterschiedliche Beurteilung dieser verfassungsrechtlichen Frage ist jedoch keine Besonderheit, die auf den Sonderstatus Berlins zurückzuführen ist; sie kann wegen des insoweit durchbrochenen Verwerfungsmonopols des Bundesverfassungsgerichts gemäß Art. 100 Abs. 1 G G auch im Verhältnis zu anderen Gerichten der Bundesrepublik entstehen. III. Das Bild dieser Rechtsprechung, das um zahlreiche weitere Einzelentscheidungen ergänzt werden könnte, zeigt die Fülle und Bedeutung der 47 NJW 1979, 1786; vgl. auch KG OLGZ 1976, 221 zu Art. 17 Abs. 1 EGBGB. « So noch BGH NJW 1971, 1521. w Beschluß vom 22.2.1983 - US 9 ff.
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verfassungsrechtlichen Rechtsprechung jenseits der eigentlichen institutionalisierten Verfassungsgerichtsbarkeit. Gewiß haben auch die Berliner Gerichte die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als Richtpunkt ihrer verfassungsrechtlichen Entscheidungen. Dennoch bleibt ihnen ein im Vergleich zu Gerichten anderer Bundesländer weiterer Spielraum eigener Rechtsfindung auf dem Gebiet der Verfassungsrechtsprechung. Vielleicht mag es nicht unbedingt überraschen, jedenfalls ist es ein Grund zu einiger Beruhigung, daß die Durchsicht dieser Rechtsprechung weitgehende Ubereinstimmung mit der Verfassungsrechtsprechung des Bundes erkennen läßt. Bis auf wenige Ausnahmen in einzelnen Entscheidungen befindet sich die Rechtsprechung der Berliner Gerichte zum Grundgesetz in bemerkenswertem Einklang mit derjenigen der Bundesrepublik. Daß hierfür nicht allein die gemeinsame Rechtsgrundlage als Erklärung dienen kann, zeigen die Beispiele der häufigen Rezeptionen, die dennoch in anderer nicht einmal stets sehr unterschiedlicher nationaler und kultureller Umgebung eine völlig eigenständige und andersgeartete Rechtsprechungstradition nach sich gezogen haben. Die bemerkenswerte Ubereinstimmung kann vielmehr auf die bestehenden und lebendigen Bindungen Berlins an die Bundesrepublik zurückgeführt werden und auf den beständigen Willen der beteiligten Entscheidungsträger, diese Bindungen aufrechtzuerhalten und auszubauen. Sie zeigen darüber hinaus, daß das System der gemeinsamen Rechtsordnung gerade auf dem für die Einheit des Staates besonders empfindlichen Gebiet des Verfassungsrechts in der Vergangenheit funktioniert hat. Es bewährt sich offenbar ständig an der praktischen Entscheidung des Einzelfalles. Auch wenn die Untersuchung über den hier betrachteten kleinen Ausschnitt hinaus ausgedehnt würde, ließe sich vermutlich feststellen, daß die Verfassungsrechtsprechung der Berliner Gerichte im wesentlichen keine geringere Ubereinstimmung auch mit der Tendenz der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aufweist, als diejenige der Gerichte anderer Bundesländer. Andererseits kann man auch nicht feststellen, daß den Berliner Gerichten eine besonders herausragende Rolle in der Verfassungsrechtsprechung zukommt, wenn man von dem unmittelbar durch den Sonderstatus Berlins hervorgerufenen Entscheidungsbedarf absieht. Zwar haben Berliner Gerichte in einigen Entscheidungen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewissermaßen antizipiert. Die besondere Funktion, die der Bayerische Verfassungsgerichtshof in den Anfängen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts innehatte, als das Bundesverfassungsgericht in wesentlichen Grundfragen an die bereits vorliegende Rechtsprechung des Bayerischen Verfassungsgerichtshof anknüpfen konnte, kann schon wegen der unterschiedlichen historischen Situation nicht erneut wahrgenommen werden.
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Sicher wäre es verfehlt, angesichts des Sonderstatus Berlins zu argwöhnen, Berliner Gerichte könnten ein eigenwilliges Berliner Verfassungsverständnis etablieren, das von der im Bundesgebiet herrschenden Grundgesetzinterpretation abweicht50. Die Bindungen Berliner Gerichte an Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die über ihre Einbindung in die Gerichtsverfassung des Bundes und nicht zuletzt über die Möglichkeit der Revision zu den über §31 BVerfGG gebundenen Bundesgerichten bestehen51, reichen jedoch nicht aus, um die freiwillige Anerkennung und Beachtung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts52 überflüssig zu machen, ohne welche die bestehende Rechtseinheit nicht nur in empfindlichen Einzelpunkten gefährdet würde. Die Durchsicht der Berliner Rechtsprechung zum Grundgesetz zeigt jedenfalls, daß von einer Einbahnstraße der Verfassungsinterpretation vom Bundesverfassungsgericht zur Berliner Gerichtsbarkeit nicht die Rede sein kann.
50 so auch Mußgnug, Die Bindung Berlins an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in: Festschrift für Werner Weber, S. 160f.; zum Gesamtproblem vgl. auch Storost, Alliierte Kommandantur und Bundesverfassungsgericht; in: Der Staat 1982, S. 113 ff. 51 Vgl. dazu im einzelnen Mußgnug, a. a. O . 52 Vgl. dazu Wengler, Die Übernahme von Bundesgesetzen für Berlin, Festschrift für Leibholz, Bd. 2, S. 960; Pestalozza, Die Geltung verfassungswidriger Gesetze, A O R 96 (1971) S. 80.
Über die Notwendigkeit einer neuen „Theorie des Staatseigentums" im demokratischen Verfassungsstaat JOACHIM BURMEISTER
Die in der heutigen Verfassungs- und Verwaltungsrechtslehre kaum angezweifelte Behauptung, daß sich die inhaberschaftliche Stellung einer juristischen Person des öffentlichen Rechts an einer Sache rechtskonstruktiv nur als - allenfalls mit öffentlich-rechtlicher Zweckbindung überlagertes - Privateigentum erfassen lasse, ist Ursache zahlreicher dogmatischer Verirrungen, die in der Zuerkennung des grundrechtlichen Eigentumsschutzes für die öffentliche Hand ihren Gipfelpunkt gefunden haben. Tatsächlich offenbart eine an diesem Ergebnis ansetzende Uberprüfung der zugrundeliegenden Prämisse das Fortwirken dualistischer Staatsvorstellungen, die unter den Bedingungen des demokratischen Verfassungsstaates ihre Berechtigung verloren haben. Die verfassungsrechtlich zwingend vorgegebene Uberwindung derartiger dualer Konzeptionen führt unmittelbar zur Notwendigkeit der Neubestimmung und Präzisierung der dogmatischen und rechtskonstruktiven Qualifikation des Eigentums der öffentlichen Hand. I. Grundrechtlicher Schutz staatlichen Eigentums als Konsequenz zivilistischer Betrachtungsweise Die zur Begründung eines grundrechtlichen Eigentumsschutzes der öffentlichen Hand vorgetragenen Argumente1 finden ihren Ausgangs1 Vgl. dazu insbesondere: H. Bethge, Grundrechtsträgerschaft juristischer Personen, A ö R 104 (1979), S. 265 ff.; K.A. Bettermann, Juristische Personen des öffentlichen Rechts als Grundrechtsträger, N J W 1969, S. 1321 ff.; K.Stern, Die verfassungsrechtliche Position der kommunalen Gebietskörperschaften in der Elektrizitätsversorgung, 1966, S. 50 ff.; £.W. Fuß, Grundrechtsgeltung für Hoheitsträger, DVB1. 1958, S.739ff.; H.Scholler/ S. Broß, Grundrechtsschutz für juristische Personen des öffentlichen Rechts, D O V 1978, S. 238 ff.; O. Kimminich, Der Schutz kommunaler Unternehmen gegen konfiskatorische Eingriffe, 1982, S. 79 ff.; K.Stern/ G. Püttner, Die Gemeindewirtschaft - Recht und Realität, 1965, S. 137 m . w . N . ; G. Kriegbaum, Grundrechtsschutz für den Staat im Fiskalbereich, BayVBl. 1972, S.481 ff.; W.Leisner, Grundeigentum und Versorgungsleitungen, 1973, S. 12 ff.; E. Schmidt-Aßmann, Der Ausgleich landesplanerischer Planungsschäden, S. 22 ff.; A.v.Mutius, Bonner Kommentar, Art. 19, III G G ; Rdn. 82-84, 114, 115, 126 ff. mit zahlreichen weiteren Nachweisen.
Joachim Burmeister
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punkt in der Übernahme zivilrechtlich geprägter Rechtsinstitute zur Erfassung und rechtlichen Qualifizierung organisatorischer Gebilde der staatlichen Verwaltung. Unverzichtbare Voraussetzung für die Anerkennung eines Schutzes öffentlichen Eigentums im Rahmen von Art. 14 G G ist dessen Lokalisierung auf der Privatrechtsebene. Daß diese Konstruktion „staatlichen Privateigentums" Konsequenz spezifischer rechtshistorischer Bedingungen, staatstheoretischer Annahmen und rechtspolitischer Intentionen ist, scheint weitgehend in Vergessenheit geraten zu sein. Nur so läßt es sich erklären, daß trotz des zwischenzeitlichen Wegfalls dieser Bedingungen und des Bruchs mit historisch überlebten staatstheoretischen Vorstellungen bei der Konstituierung der Staatsgewalt im modernen Verfassungsstaat grundgesetzlicher Prägung die einmal entwickelte Rechtsfigur nicht einer grundsätzlichen Infragestellung unterworfen, sondern unverändert beibehalten und fortgeführt wird. Es erscheint daher notwendig, den der privatrechtlichen Lokalisierung öffentlichen Eigentums zugrundeliegenden rechtshistorischen Hintergrund zumindest andeutungsweise in Erinnerung zu rufen. 1. Rechtsgeschichtliche
Wurzeln der privatrechtlichen Deutung des Staatseigentums Die entscheidende Weichenstellung zugunsten der zivilrechtlichen Betrachtung staatlicher Eigentumsverhältnisse muß in der Entwicklung der Fiskus-Theorie gesehen werden2. Mit der Vorstellung staatlicher Doppelpersönlichkeit sollte der sich infolge der Entstehung des Polizeistaates ergebende Wegfall richterlicher Kontrolle über die Tätigkeit des souveränen Landesfürsten und seiner Verwaltung zumindest teilweise kompensiert werden3. Tritt neben den Landesherrn eine von diesem verschiedene, eigene Rechtspersönlichkeit als Träger der staatlichen Vermögensrechte und ist dieses selbständige Rechtssubjekt wie ein Privater dem Zivilrecht und den Zivilgerichten unterworfen, so eröffnet 2 Einführend dazu: O.Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, II.Band, 3.Aufl., 1924, §35, S.39ff. (44ff.); ders., Eisenbahn und Wegerecht, AöR, Bd.XVI (1901), S.38ff.; F. Fleiner, Umbildung zivilrechtlicher Institute durch das öffentliche Recht, 190(>;J. Hätschelt, Lehrbuch des deutschen und preußischen Verwaltungsrechts, 5. und 6. Aufl., 1927, S. 433 ff.; H. Scheicher, Der öffentliche Weg und seine Bedeutung für das öffentliche und das Privatrecht, Fischers Zeitschrift, 31. Band (1906), S. 1 ff.; G. Lassar, Grundbegriffe des preußischen Wegerechts, 1919, S. 32 ff.; E. His, Eine historische Staatsteilung, in: Festgabe für Fritz Fleiner, 1927, S. 75 ff.; J. Biermann, Die öffentlichen Sachen, 1905; Th.Maunz, Hauptprobleme des öffentlichen Sachenrechts, 1933, S. 81 ff.; H. Preuß, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften, 1889, Neudruck 1964, S.323ff.; H.A. Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, 3. Abteilung, 1845, §§184 und 185, S. 9ff.; E. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd. 1, 10. Aufl. (1973), S.379, Anm.5 m . w . N . 3 F. Fleiner, Umbildung zivilrechtlicher Institute durch das öffentliche Recht, 1906, S. 3 ff.
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sich zumindest die Möglichkeit gerichtlicher Überprüfung staatlicher Tätigkeit im vermögensrechtlichen Bereich. Die Zuerkennung einer selbständigen Privatrechtsfähigkeit und -Subjektivität diente also letztlich einer Domestizierung des Staates, der auf diese Weise Teil derjenigen Rechtsordnung wird, die er selbst geschaffen hat und deren spezifischen Bindungen er unterliegt, soweit er sich ihres Formenkanons bedient. Die nicht zu leugnende historische Bedeutung dieser Konstruktion liegt - und als solche wurde sie zu Recht von frühen Verfechtern der Rechtsstaatslehre gefeiert - darin, daß das außerrechtliche Machtgebilde „Staat" aus den vielfältigen tradierten Handlungsformen von Willkür, Gewalt, Unterdrückung, Unberechenbarkeit und Unverläßlichkeit begrenzt herausgeführt und den Bindungen des auf Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit angewiesenen bürgerlichen Rechtsverkehrs unterworfen wurde. Dies entsprach auch den spezifischen Bedürfnissen des aufkommenden Industriezeitalters, dem innerhalb eines dem Warenaustausch förderlichen Systems von Verkehrsformen, das notwendigerweise die formale Gleichheit der sich gegenüberstehenden Vertragspartner voraussetzte, ein absolutistischer Obrigkeitsstaat als Störenfried erscheinen mußte. Es war daher nur konsequent, dem Staat insoweit die Hoheitsqualität abzusprechen, als er selber Subjekt des Rechtsverkehrs wurde. Hoheitsträger sollte der Staat nur dort sein, wo er mit den (man ist fast geneigt zu sagen: anachronistischen) Mitteln der Befehlsgewalt und des Zwanges glaubte vorgehen zu müssen. Der sich hingegen in den bürgerlichen Rechtsverkehr begebende Staat mußte als juristische Fiktion Gleicher unter Gleichen sein. Ein wesentlicher (wenn auch nicht der einzige) rechtsgeschichtliche Hintergrund der Enthoheitlichung oder Privatisierung des Staates war also das Bemühen um Unterwerfung des Staates unter die Bindungen und förmlichen Vorgaben des rechtsgeschäftlichen Verkehrs, sowie die Ermöglichung gerichtlicher Kontrolle staatlichen Handelns. Der zu diesem Zwecke entwickelte Dualismus von Staat und Fiskus schafft die Voraussetzung dauerhafter Lokalisierung bestimmter Rechtsverhältnisse auf dem Boden des Privatrechts 4 . Dabei wird das öffentliche Eigentum in Anknüpfung an die in Deutschland vorgenommene strenge Trennung von dominium und imperium typischerweise dem Fiskus zugeordnet 5 . Begünstigt wird diese 4 O.Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 2. Band, 3. Aufl. (1924), S.441; F. Fleiner (Anm.2), S.4. s J. Hatschek, Die rechtliche Stellung des Fiskus im bürgerlichen Gesetzbuche, in: Verwaltungsarchiv, Band 7 (1899), S. 424 ff. (442 ff.); G.Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 1900, S. 359/360; H. Preuß (Anm. 2), S. 323 ff., 327 ff.
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Auffassung durch die bis zur Mitte des 19.Jahrhunderts auch in der reichsgerichtlichen Rechtsprechung unangefochten geltende Annahme, daß vermögensrechtliche Ansprüche begrifflich dem Privatrecht angehören6. Die Gleichsetzung von Vermögensrecht und Privatrecht und die Fiskuslehre des Polizeistaates bedingen sich gegenseitig: Können vermögensrechtliche Rechtspositionen begrifflich nur auf der Privatrechtsebene gegeben sein, so kann der Hoheitsträger Staat im Gegensatz zum Privatrechtssubjekt Fiskus niemals über Vermögen verfügen. Umgekehrt muß, wenn das öffentliche Vermögen einer selbständigen, vom Staat völlig getrennten (Privat-)Rechtspersönlichkeit zusteht, dieses auch der Herrschaft des Privatrechts unterworfen sein. Interessant wäre in diesem Zusammenhang die Frage, inwiefern diese Konstruktionen auf die Lehre vom ursprünglichen Staatseigentum als der Quelle aller Hoheitsrechte zurückzuführen sind7. Ausgehend von der Vorstellung, die unbedingten Machtbefugnisse des Fürsten seien Ausfluß seines Eigentums oder zumindest „Obereigentums" am gesamten Staatsgebiet8, deutet Vieles darauf hin, daß unter dem Einfluß naturrechtlicher Vorstellungen, insbesondere der Lehre vom Staatsvertrag', in Deutschland die Ansicht begünstigt wird, daß staatliches Eigentum von den Hoheitsrechten scharf gesondert werden müsse. Der Staat als Hoheitsträger stellt sich dann quasi als eine Ausdifferenzierung und Verselbständigung gegenüber den mit dem Eigentum am Staatsgebiet verbundenen, umfassenden Herrschaftsbefugnissen dar. Folglich gehören die Hoheitsrechte in die öffentliche Rechtssphäre des Staates, während das Staatseigentum dem Staat nur als privatrechtlicher Persönlichkeit zustehen kann10. Auf der Grundlage der sich aus der Fiskustheorie 6 Vgl. R G 2 11, 65 (67); 22, 288 bis RGZ 99, 45. Zu dieser ganzen Problematik vor allem G. Lassar, Der Erstattungsanspruch im Verwaltungs- und Finanzrecht, Berlin 1921, S. 3ff.; C. F. Gerber, Über öffentliche Rechte, 1852, S.36; J.Hatscbek, Verwaltungsarchiv, Bd. 7 (1899), S. 455 ff. 7 Zu dieser Problematik vgl.: H.Preuß (Anm.2), S. 327 ff. und J.Hatscbek (Anm. 5), S. 455 mit zahlreichen weiteren Nachweisen. 9 C. Bornhak, Grundriß des Deutschen Staatsrechts, 5. Aufl., 1920, S. 49; C. F. Gerber, Über öffentliche Rechte, 1852, S. 3 ff.\J.Rave, Über den Unterschied der Oberherrschaft und des Eigentums, 1766. ' J. Hatschek (Anm. 5), S. 455 unter Bezugnahme auf A.F.H. Posse, Über das Einwilligungsrecht der Unterthanen in Landesveräußerungen, 1794. 10 Der privatrechtlichen Position von Biener, De natura et indole domini, 1780 und R. Maurenbrecher, Die deutschen regierenden Fürsten und die Souveränität, 1838, steht allerdings von Anfang an eine publizistische Staatsauffassung gegenüber, die von A. F. H. Posse, Über das Einwilligungsrecht der Unterthanen in Landesveräußerungen, 1794 und Albrecht, Göttinger gelehrte Anzeigen, 1837, S. 1491, vertreten wird. Interessanterweise wirft Maurenbrecher in seiner Replik auf Albrecht diesem vor, er selbst betreibe Staatsrechtswissenschaft mit zivilistischen Kategorien; Die Rechtsfigur der juristischen Person sei - dies zeige die Fiskuslehre - ein rein privatrechtliches Institut.
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ergebenden Unterscheidung zweier selbständiger staatlicher Rechtspersönlichkeiten bleibt jedenfalls festzustellen, daß das öffentliche Eigentum dem Privatrechtssubjekt Fiskus zugeordnet und damit auf der Privatrechtsebene lokalisiert wird. Hieran ändert sich auch nichts, als in der zweiten Hälfte des ^ . J a h r hunderts die Fiskus-Theorie aufgegeben und die These von der Identität von Vermögens- und Privatrecht widerlegt wird11. Trotz des Bekenntnisses zur Einheit des Staates und der Preisgabe der Vorstellung einer vom Staat verschiedenen, selbständigen Rechtspersönlichkeit, wird der Dualismus von Staat und Fiskus nicht überwunden, sondern nur anders gerechtfertigt 12 . Der Fiskus wird als „alter ego", d.h. als vermögensrechtliche Seite des Staates aufgefaßt, wobei dem Staat die Möglichkeit eingeräumt wird, entweder als Hoheitsträger in den Formen des öffentlichen Rechts oder als Fiskus in den Formen des Privatrechts zu handeln, mit der Folge, daß der Staat im letzteren Falle weiterhin den Bindungen des Privatrechts und zivilgerichtlicher Kontrolle unterliegt. Damit bleibt die Möglichkeit grundsätzlich privatrechtlicher Deutung einzelner Rechtsinstitute erhalten, wenn diese auch in der Folgezeit zunehmend von Elementen und Formen des öffentlichen Rechts durchsetzt werden, was zur Ausbildung der Theorie von den „gemischten Rechtsverhältnissen" führt 13 . Für das öffentliche Eigentum hat sich mit der Entscheidung im Streit um die Baseler Festungswerke (1859-1862) im deutschen Rechtskreis endgültig die dualistische Deutung durchgesetzt 14 . Danach untersteht das Staatseigentum grundsätzlich der Privatrechtsordnung, soweit nicht im Einzelfall wegen der öffentlich-rechtlichen Zweckbestimmung speziell öffentliches Recht zur Anwendung kommt. Gerade die in diesem Zusammenhang zugunsten der privatrechtlichen Deutung staatlichen Eigentums erstatteten und letztlich erfolgreichen Gutachten von Rütti-
11 R G Z 99,45 (v. 30. April 1920) bezeichnet erstmals die Ansicht, daß „Vermögenswert an sich und ohne weiteres etwas Privatrechtliches darstellt", als „durchaus rechtsirrig". Bereits vorher opponierten gegen die Gleichsetzung von Vermögensrecht und Privatrecht: M. Seydel, Grundzüge der allgemeinen Staatslehre, 1873, S. 56; O. v. Sarway, Das öffentliche Recht und die Verwaltungsrechtspflege, 1890, S. 102; O.Stölzl, Rechtsweg und Kompetenzkonflikt in Preußen, 1901, S.46; siehe auch: O.Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, l.Band, 3. Aufl., S. 114, Anm.2 m. w. N . 12 Hierzu: F. Fleiner (Anm. 2), S. 6ff. 13 F.Fleiner (Anm.2), S. lOff. m. w . N . 14 Die zur Vorbereitung dieser Entscheidung erstatteten Rechtsgutachten von F. L. v. Keller und R. v.Jhering einerseits, sowie von H. Demburg und J. Riittimann andererseits waren von grundlegender Bedeutung. (Vgl. dazu die zusammenfassenden Darstellungen bei: H. Scheicher [Anm.2], FischersZ, 31.Band [1906], S . l f f . ; E. His [Anm.2], S. 75 ff.; Th. Maunz [Anm. 2], S. 87ff.).
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mann und Dernburg machen die notwendige Prämisse dieser Auffassung deutlich: nämlich die Fähigkeit des Staates, als Privatrechtssubjekt (Fiskus) am Zivilrechtsverkehr teilzunehmen und Privateigentum zu erwerben. Ungeachtet der bereits zum damaligen Zeitpunkt gegen diese Auffassung vorgebrachten Einwände, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, hätte zumindest unter den Bedingungen des modernen Verfassungsstaates eine kritische Uberprüfung dieser Prämisse erfolgen müssen. Es stellt sich nämlich die Frage, ob angesichts der Tatsache, daß es im Rahmen des Grundgesetzes eine neben der verfassungsrechtlichen Zuständigkeitsordnung stehende, unabgeleitete Gewaltinstanz nicht gibt, überhaupt noch denkbar ist, daß der Staat über ursprüngliche, neben der Verfassung stehende, sozusagen vorverfassungsrechtlich überkommene Eigentumspositionen als Privatrechtssubjekt verfügt. Anders ausgedrückt: Kann der Staat neben der verfassungsrechtlichen Zuständigkeitsordnung noch originäre Befugnisse aus subjektiven Rechten, wie dem bürgerlichen Eigentumsrecht, besitzen? Anstelle der Auseinandersetzung mit dieser Problematik wurde aber die überkommene privatrechtliche Qualifikation des Eigentums der öffentlichen Hand auch unter den Bedingungen des Grundgesetzes einfach fortgeführt und der aktuellen Diskussion um die Anwendbarkeit von Art. 14 GG auf staatliches Eigentum zugrundegelegt. 2. Das Fortwirken dualistischen Staatsverständnisses als Bedingung grundrechtlichen Eigentumsschutzes der öffentlichen Hand Die Forderung nach dem Schutz staatlichen Eigentums im Rahmen von Art. 14 GG wird im wesentlichen auf zwei Argumente gestützt, die die Anerkennung des Dualismus von Staat und Fiskus und die Existenz eines staatlichen Privatrechtssubjekts zur unbedingten Voraussetzung haben: a) Evident ist dies, soweit die Anwendbarkeit von Art. 14 GG aus der Privatrechtsförmlichkeit staatlichen Eigentums gefolgert wird. Hierbei wird allein die begriffliche Qualifikation der inhaberschaftlichen Stellung des Staates an einer Sache als „Privateigentum" als ausreichend für die Zuerkennung grundrechtlichen Eigentumsschutzes angesehen15. Da der Staat die Möglichkeit habe, als Fiskus auf der Privatrechtsebene tätig 15 G. Kriegbaum (Anm. 1), BayVBl. 1972, S. 488; H. Scholler/S. Broß (Anm. 1), DÖV 1978, S. 243; R. Scholz, Gemeindliche Gebietsreform und kommunale Energieversorgung, 1977, S. 92; E. Forsthoff, Der Staat als Auftraggeber, 1962, S. 14; weitere Nachweise bei A. v. Mutius (Anm. 1), BK, Art. 19, III GG, Rdn. 82; auch H. Bethge (Anm. 1), AöR 104 (1979), S. 265 spricht vom Privateigentum des Staates als Anknüpfungspunkt grundrechtlichen Eigentumsschutzes, stellt aber in seinen weiteren Ausführungen entscheidend auf das Bestehen „grundrechtstypischer Gefährdungslagen" ab.
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zu werden und wie jeder Bürger „Privateigentum" zu erwerben, könne ihm auch der typischerweise mit dieser Rechtsposition verbundene Schutz nicht vorenthalten werden. Dieser Auffassung liegt der verfehlte Rückschluß von der Rechtsform auf die Rechtsqualität zugrunde. Auch wenn staatliches Eigentum formal als „Privateigentum" zu qualifizieren wäre, d.h. insbesondere, wenn sich Erwerb, Übertragung, Belastung und Verlust unter Inanspruchnahme zivilrechtlicher Handlungsformen vollziehen, so folgt daraus keineswegs, daß auch die inhaltliche Qualität der erlangten Position des Staates mit derjenigen des Privatmannes identisch ist. Wie nachfolgend noch zu zeigen sein wird, teilen staatliches und privates „Eigentum" lediglich die Bezeichnung; in der Sache hingegen, d. h. hinsichtlich der sich aus der Eigentumsstellung bzw. -inhaberschaft ergebenden Rechte und Pflichten, haben sie nichts miteinander gemein16. Die pauschale Qualifizierung staatlichen Eigentums im Rahmen der herrschenden Zivilistik hat den Blick für die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen Rechtsform und Rechtsqualität verstellt. Nicht die Tatsache, daß das Privateigentum umfassend dem Schutzbereich von Art. 14 G G unterfällt, ist beweisbedürftig, sondern die Behauptung, daß die inhaberschaftliche Stellung des Staates an einer Sache auch unter den Bedingungen des modernen Verfassungsstaates tatsächlich nicht nur formal, sondern auch inhaltlich noch als „Privateigentum" im bürgerlich-rechtlichen Sinne angesehen werden kann. Dieser Nachweis wird aber gerade nicht geführt, sondern es wird - ungeachtet entgegenstehender verfassungsrechtlicher Befunde - die nur mit einer dualistischen Staatskonzeption begründbare Privatrechtssubjektivität des Staates und die hierauf aufbauende Konstruktion „staatlichen Privateigentums" einfach als gegeben vorausgesetzt. b) Auch soweit neben der Anknüpfung an die Privatrechtsförmlichkeit staatlichen Eigentums die Anwendbarkeit von Art. 14 G G auf die öffentliche Hand mit der Überlegung begründet wird, daß das Eigentum einer juristischen Person des öffentlichen Rechts in der gleichen Weise hoheitlichen Eingriffen unterworfen sein könne wie das Eigentum eines Privatmannes 17 , werden notwendigerweise Vorstellungen von der staatlichen Doppelpersönlichkeit vorausgesetzt.
" So schon O. Mayer (Anm. 2), S. 40. " H. Bethge (Anm. 1), S. 265 ff.; Κ. A. Bettermann (Anm. 1), S. 1321 ff., ders., Gewerbefreiheit der öffentlichen Hand, in: Festschrift für E.Hirsch, 1968, S. 1 ff. (S. 11); O . Kimminich (Anm. 1), S. 80; K.Stem (Anm. 1), S.55; F.Ruland, Eigentumsschutz für Hoheitsträger, BayVBl. 1979, S.746ff.; A.v.Mutius, in: BK, Art. 19, III GG, Rdn. 114 mit weiteren Nachweisen auch zur Kritik am Kriterium der „grundrechtstypischen Gefährdungslage"; zur Obsoleszenz dieses Kriteriums J. Burmeister, Verfassungsrechtli-
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Diese Auffassung unterstellt die Möglichkeit einer mit dem status subjectionis des Bürgers identischen Gewaltunterworfenheit zwischen einzelnen Hoheitsträgern: „Auch juristische Personen des öffentlichen Rechts können wie ein .Bürger', d. h. wie eine natürliche oder juristische Person des Privatrechts, der öffentlichen Gewalt unterworfen sein. Sie können zu einem anderen Hoheitsträger nicht nur in organisations- oder amtsrechtlichen, sondern auch in .bürgerrechtlichen' Beziehungen stehen: nicht im Verhältnis einer Behörde zu einer anderen Behörde, sondern im Verhältnis des Bürgers zur Behörde, von ,Untertan und Obrigkeit', von ,Bürger und Staat'"1*. Gerade für den Bereich des Eigentums sei das Bestehen derartiger „grundrechtstypischer Gefährdungslagen"" überhaupt nicht zu leugnen. Weil das Eigentum juristischer Personen des öffentlichen Rechts nicht anders als das der Privatpersonen von staatlichen Eingriffsakten bedroht sei, käme die Nichtanwendung von Art. 14 GG sogar einer Pervertierung der Grundrechtsidee gleich20. Auf der Grundlage dieser Argumentation hat in der staatsrechtlichen Doktrin nahezu einhellig die Anerkennung grundrechtlichen Eigentumsschutzes der öffentlichen Hand stattgefunden21. Während hinsichtlich der grundrechtlichen Freiheitsrechte die Problematik einer Grundrechtssubjektivität der öffentlichen Hand weitgehend ausdiskutiert erscheint und die Korrektur der augenscheinlichsten Symptomatik grundrechtlicher Sinnverkehrung stattgefunden hat22, dokumentiert die che Grundfragen der kommunalen Wirtschaftsbetätigung, in: Festgabe für G. Ch. v. Unruh, 1982, S.623 (655 ff.). 18 K.A. Bettermann (Anm. 1), S. 1326. " Diese, sehr stark von Κ. A. Bettermann (NJW 69, 1326ff.; Festschrift für E. Hirsch, S. 11 - Anm. 17) beeinflußte Terminologie knüpft unmittelbar an die Überlegungen von K. Stem (Anm. 1), S. 52 ff. und E. Forsthoff (Anm. 15), S. 14 an. 20 K. Stern (Anm. 1), S. 56 und - unter Bezugnahme auf den Vorgenannten - O. Kimminich (Anm. 1), S. 80. 21 Zur Anerkennung grundrechtlichen Eigentumsschutzes in der Rechtsprechung vergleiche: VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 19.1.1977, DVB1. 1977, S.345; BayVerfGH, Urt. v. 13.7.1976, BayVBl. 1976, S. 589 ff. (unentschieden demgegenüber: BayObLG, Urt. v. 20.1.1975, NJW 1975, S. 1128); zur Anerkennung der Geltung der Eigentumsgarantie im Schrifttum: siehe oben Anm. 1. 22 Vgl. dazu: H. Bethge, AöR, Bd. 104 (1979), S. 54 ff., 265 ff.; ders., Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, S. 36 ff., 56 ff.; ders., Zur Grundrechtsfähigkeit der öffentlichen Hand, JA 1978, S. 533 ff. (537); ders., Grundrechtsschutz kommunaler Selbstverwaltung, in: Tradition und Entwicklung, Gedenkschrift für H.Riederer, 1981, S. 117; H. Scholler/S.Broß (Anm.l), DÖV 1978, S.238ff.; K.Kröger, Juristische Personen des öffentlichen Rechts als Grundrechtsträger, JuS 1981, S. 26ff.;/. Burmeister, Vom staatsbegrenzenden Grundrechtsverständnis zum Grundrechtsschutz für Staatsfunktionen, 1971, S.88ff.; A.v.Mutius (Anm.l), Bonner Kommentar, Art. 19, III GG, Rdn. 78ff. mit zahlreichen weiteren Nachweisen.
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fast einhellig behauptete Geltung der Eigentumsgarantie des Art. 14 GG die dringende Notwendigkeit einer Entschleierung der Vorstellung der qualitativen Identität staatlichen und privaten Eigentums als „Fehlgeburt" der zivilistischen Betrachtungsweise23. Die rechtskonstruktive Erfassung staatlichen Eigentums als „Privateigentum" ist wesensnotwendiges Element der Anerkennung einer grundrechtstypischen Gefährdungslage bei Eingriffen in Eigentumspositionen der öffentlichen Hand. Nur wenn die inhaberschaftliche Stellung der öffentlichen Hand an einer Sache im wesentlichen der Eigentumsposition des Bürgers entspricht, kann auch der Eingriff in diese Position am Maßstab der grundrechtlichen Eigentumsgarantie gemessen werden. Damit wird die allen Versuchen zur Begründung einer Grundrechtssubjektivität der öffentlichen Hand im Rahmen des Art. 14 GG zugrundeliegende Prämisse deutlich, nämlich die Existenz einer nichthoheitlichen staatlichen Erscheinungsform, die auf der Privatrechtsebene angesiedelt und mit Privatrechtssubjektivität ausgestattet ist. Die Formulierung von H. Bethge24, daß, wenn „die Rechtsordnung der öffentlichen Hand die Möglichkeit zubilligt, ähnlich dem Privatmann Privateigentum (ζ. B. Grundstücke) bzw. solche Rechtspositionen innezuhaben, die (wie auch für den Privatmann) Eigentum im verfassungsrechtlichen Sinne darstellen (z.B. Forderungsrechte), dann auch die öffentliche Hand als Eigentümerin gegenüber enteignenden Übergriffen anderer Hoheitsträger wie ein Privatmann geschützt sein muß"25, dokumentiert dies in eindrucksvoller Klarheit. Folglich liegt der Zuerkennung grundrechtlichen Eigentumsschutzes für juristische Personen des öffentlichen Rechts das duale Verständnis des Staates als Hoheitsträger einerseits und als Privatrechtssubjekt andererseits zugrunde. Nur mittels dieser Einteilung ist die Behauptung „grundrechtstypischer Gefährdung staatlichen Privateigentums'" begründbar. 3. Die Wiedergeburt des Fiskus Diese Überlegungen verdeutlichen, daß die in der staatsrechtlichen Doktrin längst als erledigt angesehene Fiskustheorie26 in der Diskussion 23 Die Problematik der Übertragung zivilrechtlicher Begriffe zur Erfassung öffentlichrechtlicher Gegebenheiten wurde in vortrefflicher analytischer Schärfe angedeutet von E. W. Böckenförde, Organ, Organisation, juristische Person, in: Festschrift für H . J . Wolff, 1973, S. 269 ff. (insbesondere S. 288 ff.). 24 Die Darstellungen von H. Bethge (s. oben Anm. 22) stellen zweifellos die umsichtigste Problemdurchdringung staatlicher Grundrechtsberechtigung dar. 25 H. Bethge (Anm. 1), AöR 104 (1979), S.265. 24 Vgl. hierzu: J. Burmeister, Der Begriff des „Fiskus" in der heutigen Verwaltungsrechtsdogmatik, DÖV 1975, S.695ff. (699) mit zahlreichen weiteren Nachweisen; W. Mallmann, Schranken nichthoheitlicher Verwaltung, in: W D S t R L , Heft 19 (1961),
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um den grundrechtlichen Schutz öffentlichen Eigentums plötzlich sogar in ihrer ursprünglichen Form27 zu neuem Leben erweckt wird. K.A. Bettermann, der geistige Vater der „grundrechtstypischen Gefährdungslage"211, bekennt sich in verblüffender Offenheit zur Idee einer neben dem Staat als Hoheitsträger stehenden, selbständigen Rechtspersönlichkeit als Zurechnungsendpunkt der zivilrechtlichen Rechtsbeziehungen: „Wenn man den Fiskus als ,alter ego' des hoheitlichen Staates bezeichnet, so widerlegt man damit die Grundrechtsfähigkeit des Fiskus nicht, sondern im Gegenteil bestätigt man sie mit diesem Argument. Man gibt mit dem ,alter ego' die Doppelrolle des Staates zu, die Alternität der Rechtsstellung von Fiskus und Hoheitsträger. Solange und soweit man einer juristischen Person des öffentlichen Rechts auch Privatrechtsfähigkeit zuerkennt, muß man ihr auch die Grundrechtsfähigkeit zugestehen. Denn der Fiskus, d. h. die juristische Person des öffentlichen Rechts als Privatrechtssubjekt, ist grundsätzlich unter den gleichen Voraussetzungen und im gleichen Umfang wie jede natürliche oder juristische Person des Privatrechts der öffentlichen Gewalt unterworfen28." Aber auch denjenigen Autoren, die sich zur „Identität von Staat und Fiskus"29 und zur „Obsoleszenz des Fiskusbegriffs"50 bekennen, gelingt es letztlich nicht, sich aus den dualistischen Denkkategorien zu befreien. Denn mit der bloßen Anerkennung der Einheit der staatlichen Rechtspersönlichkeit ist solange nichts gewonnen, wie hieraus nicht die grundgesetzlich zwingende Folgerung der Unmöglichkeit staatlicher Privatrechtssubjektivität gezogen wird. Wer unter Anerkennung der Einheitlichkeit des Staates als Vermögens- und Rechtssubjekt die Einteilung in hoheitliches und fiskalisches Handeln aufrechterhält und für den Bereich des fiskalischen Handelns Privatrechtssubjektivität behauptet31, überwindet letztlich den dualistischen Interpretationsansatz staatlichen Handelns nicht und bleibt der Vorstellung eines selbständigen staatlichen (Privat-)Rechtssubjekts namens „Fiskus" verhaftet.
S. 165ff.; K.Zeidler, Schranken nichthoheitlicher Verwaltung, in: W D S t R L Heft 19 (1961), S.208ff.; O.Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, l.Bd., 3.Aufl. (1924), S. 113ff. und 2.Bd., 3. Aufl. (1924), S.44ff.; F.Fleiner (Anm.2), S.3ff. 27 Kritisch insofern auch: A.v.Mutius (Anm. 1), BK, Art. 19, III GG, Rdn. 126, der entsprechende Formulierungen als „bedenklich" zurückweist. 28 K.A. Bettermann (Anm. 1), NJW 1969, S. 1321 ff. (1323). 29 A. v. Mutius (Anm. 1), BK., Art. 19, III GG, Rdn. 126. 30 H. Bethge (Anm. 1), AöR 104 (1979), S. 270. 31 So die ganz h.M. (vgl. die Nachweise bei J. Burmeister [Anm. 26], DÖV 1975, S. 700; A.v.Mutius [Anm.l], BK, Art. 19, III GG, Rdn. 126; H.J. Wolff / O. Bachof, Verwaltungsrecht I, 9. Aufl., 1964, S. 104/105).
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Damit zeichnet sich tatsächlich eine bereits an anderer Stelle warnend angedeutete „erstaunliche Karriere" des Fiskus 52 ab. Statt auf der Grundlage der grundgesetzlichen Konstituierung der Staatsgewalt diesem „minderwertigen Zwillingsbruder des Staates"" endlich den Garaus zu machen, führt die Vorstellung von der Privatrechtsfähigkeit des Staates, sofern er unter Rückgriff auf Handlungsformen des Zivilrechts als Fiskus auftritt, in Verbindung mit der These von der freien Austauschbarkeit der Formen exekutiven Handelns 34 nicht nur zu einer weitgehenden Freistellung von den spezifischen Bindungen hoheitlicher Verwaltung, sondern sogar zur Gewährung grundrechtlichen Eigentumsschutzes 35 . Die endgültige und dauerhafte Uberwindung dieser ganzen „Irrlehre" setzt die Einsicht in die Tatsache voraus, daß die Vorstellung einer auf der privatautonom bestimmten Zivilrechtsebene angesiedelten, mit Privatrechtssubjektivität ausgestatteten, selbständigen Erscheinungsform des Staates zwingenden verfassungsrechtlichen Vorgaben widerspricht. Bevor hierauf näher eingegangen wird, erscheint ein kurzer Blick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Anwendbarkeit von Art. 14 G G auf juristische Personen des öffentlichen Rechts angebracht, da dieses durch seine konsequente Ablehnung eines Eigentumsschutzes für die öffentliche Hand von Anfang an dem Grundirrtum privatrechtlicher Eigentumsberechtigung der öffentlichen Hand entgegengetreten ist, was im Umfeld der in der Staatsrechtstheorie eingenommenen Gegenposition besondere Be-„Achtung" verdient.
II. Die Verweigerung grundrechtlichen Eigentumsschutzes für die öffentliche Hand durch das Bundesverfassungsgericht „Art. 14 als Grundrecht schützt nicht das Privateigentum, sondern das Eigentum Privater 3 '." Mit dieser trefflichen Feststellung hat das Bundesverfassungsgericht seine bereits frühzeitig eingenommene Position der Unanwendbarkeit von Art. 14 G G im Bereich der Erfüllung
W. Mallmann (Anm. 26), W D S t R L Heft 19 (1961), S. 165. O.Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 2.Bd., 3.Aufl., 1924, S.44. 34 Vgl. hierzu: J. Burmeister (Anm.26), DÖV 1975, S.702; R.Scholz, Das Wesen und die Entwicklung der gemeindlichen öffentlichen Einrichtungen, 1967, S. 22 ff.; H.U. Erichsen/W. Martens, Allgemeines Verwaltungsrecht, 5. Aufl., 1981, §31, S. 292 ff.; H. Bethge (Anm. 1), AöR Bd. 104 (1979), S. 270 ff. jeweils mit weiteren Nachweisen. - Zur Kritik am Theorem der Formendisponibilität des Verwaltungshandelns vgl. u. a. Ch. v. Pestalozza, Formenmißbrauch des Staates, 1973, S. 166 ff.; ]. Burmeister, Der öffentliche Auftrag der Sparkassen und seine geschäftspolitischen Konsequenzen, 1973, S. 11 ff. 35 H. Bethge (Anm. 1), AöR Bd. 104 (1979), S.270. 34 BVerfGE v. 8.7.1882, Bd.61, S.82ff. (108/109) = NJW 1982, S.2173ff. (2175). 32 35
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öffentlicher Aufgaben37 auch auf die nicht-hoheitliche Tätigkeit staatlicher Organe ausgedehnt. Hierdurch wurde nicht nur den Mißdeutungen seiner Auffassung im Sinne einer Differenzierung zwischen hoheitlicher und nicht-hoheitlicher Tätigkeit und der Gewährung grundrechtlichen Eigentumsschutzes im nicht-hoheitlichen Bereich38 endgültig die Grundlage entzogen, sondern auch die Inkongruenz staatlichen und privaten Eigentums bestätigt. Bedauerlicherweise hat das Bundesverfassungsgericht in der Begründung seiner Entscheidung die eigentliche Ursache der Zuerkennung grundrechtlichen Eigentumsschutzes für die öffentliche Hand, nämlich die rechtliche Qualifizierung der inhaberschaftlichen Stellung des Staates an einer Sache, nur andeutungsweise behandelt. Es läßt sich daher vermuten, daß, solange die verfassungsrechtliche Unhaltbarkeit privatrechtlicher Deutung staatlichen Eigentums nicht eindeutig klargestellt wird, die Forderung nach grundrechtlichem Schutz „öffentlichen Privateigentums" weiter durch das rechtswissenschaftliche Schrifttum geistern wird. 1. Das Nichtbestehen „grundrechtstypischer für öffentliches Eigentum
Gefährdungslagen"
Der Behauptung, daß öffentliches Eigentum in einer dem status subjectionis des Privaten vergleichbaren Weise hoheitlichen Eingriffen unterliege, setzt das Bundesverfassungsgericht zunächst den Hinweis auf die sogenannten „Fiskusprivilegien" entgegen3'. Tatsächlich läßt sich kaum leugnen, daß die den öffentlichen Körperschaften bei ihrer wirtschaftlichen Betätigung oder als Vermögensträger eingeräumten Vorrechte, etwa hinsichtlich der Polizei- oder Steuerpflichtigkeit40 oder der Geltendmachung und Durchsetzung von Ansprüchen gegen diese Körperschaften41, sich deutlich von der Rechtsstellung Privater abheben. Bereits unter diesem Gesichtspunkt wird die These von der identischen Gewaltunterworfenheit Privater und juristischer Personen des öffentlichen Rechts äußerst fragwürdig42.
57 BVerfGE v. 2.6.1967, Bd.21, S.362ff. = NJW 1967, S. 1411 ff.; BVerfGE v. 7.6.1977, Bd. 45, S. 63 ff. = NJW 1977, S. 1960 ff. 58 So vor allem K.A. Bettermann (Anm. 1), NJW 1969, S. 1321; vgl. auch F. Klein, Gleichheitssatz und föderative Struktur der Bundesrepublik Deutschland, in: Festschrift für H . U . Scupin, 1973, S. 165 ff. (167 ff.). 3 ' BVerfG, NJW 1982, S.2175. 40 Vgl. H.J. Wolff/ O. Bachof, Verwaltungsrecht I, 9. Aufl., 1974, §23, II, a, S. 107 und 108; G.Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG-Kommentar, Art. 19, III GG, 1977, Rdn.46; R.Scholz, Zur Polizeipflicht von Hoheitsträgern, DVB1. 1968, S. 732ff. 41 Vgl. z.B. §17 VwVG, §882a ZPO, Art.22 des Bayerischen Gesetzes zur Ausführung des GVG (GVB1. S. 188). 42 Dieser Gesichtspunkt wird besonders von G. Dürig (Anm. 40), Rdn. 46, betont.
Die Notwendigkeit einer neuen „Theorie des Staatseigentums"
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Wichtiger aber erscheint der Hinweis auf die Unterschiedlichkeit staatlichen und privaten Eigentums infolge der durchgängigen Bindung allen staatlichen Handelns an die Erfüllung öffentlicher Aufgaben 45 . Bei der im konkreten Fall zu entscheidenden Frage grundrechtlichen Eigentumsschutzes im Bereich kommunaler Wirtschaftsbetätigung weist das Verfassungsgericht in Anknüpfung an die insofern bestehenden positivrechtlichen Normierungen 44 zutreffend darauf hin, daß wirtschaftliche Betätigung der Gemeinde und damit kommunales Eigentum nur im Zusammenhang mit der Wahrnehmung kommunal-öffentlicher Aufgaben zulässig sind45. Infolge der durchgängigen Bindung kommunalen Eigentums an die Erfüllung öffentlicher Zwecke sei dieses aber vom Eigentum des Privaten wesensverschieden und werde nicht vom Schutzbereich des Art. 14 G G erfaßt. Da aber - wie noch zu zeigen sein wird - sämtliche staatliche Aktivität der Bedingung öffentlicher Aufgabenerfüllung unterliegt und daneben privatautonom bestimmtes Staatshandeln verfassungsrechtlich nicht legitimiert werden kann, greift die vom Bundesverfassungsgericht für Kommunen entwickelte Argumentation für sämtliche juristische Personen des öffentlichen Rechts durch und führt zum generellen Ausschluß der Anwendbarkeit von Art. 14 GG. 2. Die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen Rechtsschutz und Kompetenzgewährleistung Das Bundesverfassungsgericht verweigert - mit der in unserem Zusammenhang unbeachtlichen Ausnahme von Universitäten, Fakultäten, Religionsgemeinschaften und Rundfunkanstal ten46 - juristische Personen des öffentlichen Rechts grundsätzlich die Berufung auf Grundrechte, da in diesem Fall der „unmittelbare Bezug zum Menschen fehle"47. Die grundsätzliche Orientierung der Grundrechte an der priva43
BVerfG, N J W 1982, S.2175. Vgl. die in Anknüpfung an §67 der Deutschen Gemeindeordnung von 1935 ergangenen, größtenteils nicht nur inhaltlich, sondern auch wortgleichen Regelungen in: §§ 91, 92, I, 1, 102,1, Nr. 1 G O BadWürtt.; Art. 74,1, 75, 89,1, N r . 1 BayGO; §§ 108,1, 109,1, 121 H e s s G O ; §§96, I, 97, I, 108, I, N r . 1 NiedersächsGO; §§76, I, 77, I, 88, I, N r . 1 G O N R W ; §§74, I, 75, I, 80, I, N r . 1 G O Rhld.-Pfalz; §§94, I, 95, I, 106, I, Nr. 1 K.SVG Saar; §§ 77, I, 78, I, 82, I Buchst, a. G O Schlesw.-Holst. 45 Vgl. H. Scholler / S. Broß, Grundzüge des Kommunalrechts in der Bundesrepublik Deutschland, 1979, S. 147ff., 186ff.; O. Gönnewein, Gemeinderecht, 1963, S.476ff.; H.Pagenkopf, Kommunalrecht, Bd.2 - Wirtschaftsrecht, 2.Aufl., 1976, S. 150ff.; H.Klüber, Das Gemeinderecht in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland, 1972, S. 238; F. L. Knemeyer, Bayerisches Kommunalrecht, 3. Aufl. 1980, S. 173. 44 Vgl. dazu G. Düng (Anm. 40), Rdn. 41-44; A. v. Mutius (Anm. 1), BK, Art. 19, III G G , Rdn. 128-133 jeweils m . w . N . 47 BVerfG, N J W 1982, S. 2174 unter Hinweis auf BVerfGE 21, S. 362 ff. (370) = N J W 1967, S. 1411. 44
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Joachim Burmeister
ten, natürlichen Person schließe ihre Übertragung auf öffentliche Organe aus. Soweit diese Position ursprünglich damit begründet wurde, daß niemand zugleich Träger und Adressat eines Grundrechts sein könne48, wurde die rechtslogische Unhaltbarkeit dieses Arguments zur Genüge dargelegt". Richtig bleibt aber, daß die mit dem Grundrechtsschutz des Einzelnen angestrebte Zielsetzung bei juristischen Personen des öffentlichen Rechts typischerweise grundsätzlich ausscheidet. Aufgabe des grundrechtlichen Schutzes privater natürlicher Personen ist die Sicherung freiheitlicher Selbstbestimmung und eigenverantwortlicher Mitgestaltung im Gemeinwesen gegenüber hoheitlichen Ubergriffen, d.h. die „Gewährleistung der Wahrnehmung ursprünglicher, unabgeleiteter Freiheiten"50. Da staatliches Handeln sich aber gerade nicht in der Ausübung derartiger Freiheit, sondern in der Wahrnehmung positivrechtlich übertragener Kompetenzen vollzieht, kommt ein Grundrechtsschutz für juristische Personen des öffentlichen Rechts prinzipiell nicht in Betracht. Hier rührt das Verfassungsgericht an den Kern des Problems: Tatsächlich sind die staatlichen Handlungsbefugnisse von denjenigen des Privaten fundamental unterschieden; sie werden staatlichen Handlungssubjekten nicht um ihrer selbst willen eingeräumt, d.h. sie sind nicht subjektives Recht im Sinne persönlicher Freiheit und Selbstbestimmung, sondern Instrumentarien zur Hervorbringung des Staatswillens51. Dies ist aber Konsequenz der grundrechtlichen Konstituierung der Staatsgewalt. Juristischen Personen des öffentlichen Rechts ist der Rückgriff auf Grundrechtsnormen versperrt, weil es nach den verfassungsrechtlichen Vorgaben neben dem in Wahrnehmung der übertragenen Kompetenzen handelnden Staat eine weitere selbständige, mit Privatautonomie und selbstbestimmter Entfaltungsmöglichkeit ausgestattete staatliche Er4» BVerfGE vom 16.1.1963, 15. Bd., S. 256ff. (262); G.Dürig, Die Geltung der Grundrechte für den Staatsfiskus und sonstige Fiskalate, BayVBl. 1959, S.201 ff.; ders., Der Staat und die Vermögenswerten öffentlich-rechtlichen Berechtigungen seiner Bürger, in: Festschrift für W.Apelt, 1958, S. 13 ff. (37); H.C. Nipperdey, Freie Entfaltung der Persönlichkeit, in: Κ. A. Bettermann / H. C. Nipperdey, Die Grundrechte, Bd. 4/II, 1962, S. 741 ff. (779); E.-W. Fuß, Grundrechtsgeltung für Hoheitsträger, DVB1. 1959, S. 739ff. (741). 49 R. Dreier, Zur Grundrechtssubjektivität juristischer Personen des öffentlichen Rechts, in: Festschrift für H.U. Scupin, 1973, S. 81 ff. (86); K.A. Bettermann (Anm. 1), NJW 1969, S. 1323; A.v.Mutius (Anm.l), BK, Art. 19, III GG, Rdn. 93; vgl. auch J. Burmeister (Anm. 22), S. 81. 50 BVerfG, NJW 1982, S.2174; vgl. auch BVerfGE 15,256 (262) = NJW 1963, 899; 21, 362 (369) = NJW 1967, S. 1411. 51 ]. Burmeister (Anm. 22), S. 91 ff.; E. W. Böckenförde (Anm. 23), S. 269 ff.
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scheinungsform nicht gibt. Diese Tatsache, die in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung keine Berücksichtigung findet, steht entscheidend der für die Zuerkennung grundrechtlichen Eigentumsschutzes der öffentlichen Hand unverzichtbaren Prämisse staatlicher Doppelpersönlichkeit entgegen. III. Die verfassungsdogmatische Unhaltbarkeit des dualistischen Staatsverständnisses 1. Die inhaltliche und organisatorische Einheit der nach dem Grundgesetz
Staatsgewalt
Die grundgesetzliche Konstituierung der Staatsgewalt in Art. 1, III; 20, II und III G G dokumentiert, daß einziges Zurechnungssubjekt aller staatlichen Willensäußerungen und Handlungen der „Staat" in seinen drei Erscheinungsformen ist52. Letztlich folgt aus dem Demokratieprinzip die erschöpfende Erfassung der Staatlichkeit durch die grundrechtliche Dreigliederung. Denn, wenn das Prinzip der „durchgängigen Volksherrschaft"53 eine legitimatorische Rückbindung aller Staatsgewalt an den Volkswillen verlangt, können staatliche Handlungsbefugnisse nur im Rahmen der vom Volkswillen getragenen verfassungsrechtlichen Kompetenzzuweisungen und nur für die von der Verfassung konstituierten Organisationsgebilde bestehen. Wenn die Verfassung sich aber in den Art. 1, III und 20, III G G zum Prinzip der Einheit der Staatsgewalt bekennt, folgt hieraus, daß sämtliche Emanationen staatlichen Handelns ihren ermächtigenden und sie legitimierenden Zurechnungsendpunkt, den traditionell als juristische Person konstruierten Staat, niemals verlieren. Einen zweiten, neben diesem Zurechnungsendpunkt existierenden Fiskus als Zurechnungssubjekt kennt das Grundgesetz nicht*. Zwar kann der Staat bei der Wahrnehmung der ihm übertragenen Kompetenzen auf die Handlungsformen des Privatrechts zurückgreifen. Dies ändert aber nichts an der Tatsache, daß derartiges privatrechtsförmliches Verwaltungshandeln, z.B. beim Erwerb oder der Übertragung 52 /. Burmeister, Der Begriff der „vollziehenden Gewalt" unter dem Grundgesetz und seine Auswirkungen auf die verwaltungsrechtliche Dogmatik, in: Recht und Gesetz im Dialog, Saarbrücker Vorträge, Schriftenreihe annales universitatis Saraviensis, Bd. 104, 1982, S. 105 ff. (124ff.); K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 533; H.v. Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, 1953, Art. 20, Anm.3; K.Loewenstein, Verfassungslehre, 2. Aufl. 1969, S. 32 ff.; E. W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 1958, S. 111 ff.; N.Achterberg, Probleme der Funktionslehre, 1970; W. Mallmann (Anm.26), W D S t R L Heft 19 (1961), S.204.
]. Burmeister (Anm. 52), S. 124; W. Mallmann (Anm. 26), S. 185 ff. /. Burmeister (Anm. 52), S. 125; ders. (Anm.26), S.703; K.Zeidler (Anm.26), S. 223 ff. mit umfangreichen weiteren Nachweisen; H.Bethge (Anm. 1), AöR Bd. 104 (1979), S. 270/271 m.w.N. 53 54
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einzelner Eigentumspositionen, weder Privatrechtsfähigkeit voraussetzt, noch deren Ausfluß ist. Vielmehr läßt die Verwendung der Handlungsformen des Privatrechts den qualitativen Charakter der Rechtshandlung als kompetenzrechtlich fundierte Verwaltungshandlung unberührt55. Die Vorstellung einer selbständigen staatlichen Rechtspersönlichkeit, die - möglicherweise sogar noch mit Privatautonomie ausgestattet ungebunden und unabhängig als „Privatmann" auf der Zivilrechtsebene agiert, ist mit dem Erfordernis legitimatorischer Rückbindung aller staatlichen Gewalt an den Volkswillen und der verfassungsrechtlichen Konstituierung einer einheitlichen Staatsgewalt absolut unvereinbar. 2. Die durchgängige
Gemeinwohlbindung
aller staatlichen
Äußerungen
Das Legitimationserfordernis im demokratischen Verfassungsstaat führt auch dazu, daß ausnahmslose Gemeinwohlbindung und Beschränkung auf die verfassungsrechtlich übertragenen Kompetenzen entscheidende Merkmale staatlicher agenda unter dem Grundgesetz sind56. Staatliches Handeln hat immer im öffentlichen Interesse und zur Erfüllung der dem einzelnen Verwaltungsträger übertragenen öffentlichen Aufgaben zu erfolgen. Eine der Rechtsausübung des Individuums vergleichbare Selbstbestimmung über die Wahrnehmung staatlicher Kompetenzen oder sogar über die Entfaltung darüber hinausgehender Aktivitäten gibt es nicht. Die staatliche Kompetenz ist durch das Pflichtmoment vom subjektiven Recht unterschieden57. Soweit eine verfassungsrechtliche Aufgabenzuweisung vorliegt, kann der Staat nicht nur von den entsprechenden Kompetenzen Gebrauch machen, sondern er ist hierzu verpflichtet. Fehlt hingegen eine Aufgabenzuweisung, so darf der Staat nicht nur ein bestimmtes Handeln unterlassen, sondern er muß untätig bleiben, da er andernfalls das verfassungsrechtliche Gebot legimatorischer Rückbindung allen staatlichen Handelns an den Volkswillen verletzt. Die für das subjektive Recht kennzeichnende Dispositionsfreiheit, eine Befugnis auszuüben oder nicht, kann daher bei staatlichem Handeln überhaupt nicht in Betracht kommen. Der Staat kann und darf immer nur als Kompetenzträger in Erfüllung öffentlicher Aufgaben handeln; jede darüber hinausgehende Aktivität ist Handeln ultra vires. Der Satz, daß „der Staat keine Privatangelegenheiten hat"58, ist zwingende Konsequenz der grundrechtlichen Determinierung staatlicher Handlungsmöglichkeiten. Vgl. auch E. W. Böckenförde (Anm.23), S. 304 ff. J. Burmeister (Anm. 52), S.128; ders. (Anm.22), S.62f.; K.Stern (Anm.52), S.745; H.Peters, Lehrbuch der Verwaltung, 1949, S.6ff.; P.Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 512 ff. 57 So prägnant E. W. Böckenförde (Anm.23), S. 303; J. Burmeister (Anm. 52), S. 126. 58 W. Mallmann (Anm. 26), S. 197. 55 56
Die Notwendigkeit einer neuen „Theorie des Staatseigentums"
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Damit hat aber die Vorstellung einer neben dem Staat als Hoheitsträger stehenden Privatrechtspersönlichkeit ihre Berechtigung verloren. Das verfassungsrechtliche Gebot der Uberwindung des dualistischen Staatsverständnisses erschließt zugleich den Blick auf die qualitative Wesensverschiedenheit staatlichen und privaten Eigentums. IV. Der unbedingte Ausschluß grundrechtlichen Schutzes für öffentliches Eigentum Die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG ist untrennbar mit der Garantie der persönlichen Freiheit verknüpft. Letztlich ist der grundrechtliche Schutz privaten Eigentums nichts anderes als die vermögensrechtliche Ausprägung des verfassungsrechtlichen Prinzips der freien Entfaltung der Persönlichkeit. Da der dem Individuum eingeräumte Freiheitsraum zur eigenverantwortlichen Lebensgestaltung nur ausgefüllt zu werden vermag, wenn auch die entsprechenden wirtschaftlichen Voraussetzungen gegeben sind und Art. 14 GG diese Voraussetzungen garantiert, ist diese Vorschrift in erster Linie Element des Schutzes individueller Handlungs- und Gestaltungsfreiheit 5 '. Die Eigentumsgarantie ist also primär nicht Sach-, sondern Rechtsträgergarantie60. Sie schützt die Selbstbestimmung und privatautonome Entfaltung des Individuums im vermögensrechtlichen Bereich. Vor diesem Hintergrund wäre ein Rückgriff auf Art. 14 G G bei staatlichem Eigentum aber nur denkbar, wenn es einen Bereich staatlichen Handelns gäbe, der sich in den Kategorien privatautonomer Selbstbestimmung vollzieht. Vom Schutzzweck der Norm her kann Art. 14 G G nur dort Anwendung finden, wo individuelle Gestaltungs- und Handlungsspielräume gesichert werden sollen. Kennzeichen staatlichen Handelns im Verfassungsstaat des Grundgesetzes ist demgegenüber die durchgängige Fremdbestimmung im Rahmen der kompetentiellen Handlungsaufträge. Einen Bereich pnvatautonom bestimmter staatlicher Entfaltung und Gestaltung kann es nicht geben, da infolge der grundrechtlichen Konstituierung der Einheit der Staatsgewalt neben dem auf Ausübung seiner Kompetenzen beschränkM
Vgl. BVerfGE v. 18.12.1968, 24. Bd., S. 367 ff. (389), E. v. 16.3.1971, 30. Bd., S.292ff. (334); E. v. 22.6.1971, 31.Bd., S.229ff. (239); E. v. 9.6.1975, 40.Bd., S.65ff. (83); E. v. 13.1.1976, 41. Bd., S. 126ff. (150); E. v. 24.3.1976, 42.Bd., S. 53ff. (76/77); E. v. 7.12.1977, 46.Bd„ S.325ff. (334); G. Leibholz / H.J. Rinck / D. Hesselberger, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 6. Aufl., 1979, Art. 14 Anm. 1; D. Chr. Dicke, in: I. v. Münch (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Band 1, 2. Aufl. 1981, Art., 14, R d n . l ; Th. Maunz / G. Diirig/R. Herzog/R. Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Art. 14, 1969, Rdn. 15; W.Leisner, Freiheit und Eigentum - die selbständige Bedeutung des Eigentums gegenüber der Freiheit, in: Festschrift für H . Jahrreiß, 1974, S. 135 ff. 60 BVerfGE v. 18.12.1968, 24. Bd., S. 367 ff. (400).
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ten Hoheitsträger eine weitere, auf der Privatrechtsebene angesiedelte und mit Privatrechtssubjektivität ausgestattete staatliche Rechtspersönlichkeit nicht existiert. Handelt der Staat aber immer nur in Wahrnehmung der ihm übertragenen Kompetenzen und gibt es eine über den Bereich hoheitlicher Aufgabenerfüllung hinausgehende Ausübung ursprünglicher, unabgeleiteter Freiheiten für den Staat im System des Grundgesetzes nicht, so kommt auch eine Anwendung von Art. 14 GG auf staatliches Eigentum nicht in Betracht. Da dem Staat ein Bereich privatautonomer Selbstentfaltung nicht zusteht, scheidet ein Rückgriff auf Art. 14 G G infolge des Schutzzwecks der Norm aus. Staatliches Eigentum dient im Gegensatz zum privaten Eigentum eben nicht der Sicherung ursprünglicher, unabgeleiteter Freiheit, sondern ist ausschließlich auf die Schaffung der tatsächlichen Voraussetzungen zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben beschränkt. Die durchgängige Bindung staatlichen Eigentums an hoheitliche Kompetenzwahrnehmung führt zu einer vollständigen Andersartigkeit der inhaberschaftlichen Stellung des Staates an einer Sache im Vergleich zum Privatmann. V. Die inhaltliche Inkongruenz staatlichen und privaten Eigentums Privates Sacheigentum wird in der einschlägigen Literatur einhellig als „umfassendstes Herrschaftsrecht", bzw. als Summe aller denkbaren Herrschaftsbefugnisse an einer Sache beschrieben61. Neben der negativen Komponente des Ausschlusses der Einwirkungsmöglichkeiten Dritter ist diese Position vor allem durch die in der Legaldefinition des § 903 BGB zum Ausdruck gebrachte Befugnis, „mit der Sache nach Belieben zu verfahren", gekennzeichnet, die selbst die Möglichkeit, eine Sache „zu zerstören" oder „verkommen zu lassen" einschließt". Diese äußerst weitgehende Herrschaftsbefugnis ist Konsequenz des dem Einzelnen eingeräumten, grundsätzlich unbeschränkten Entfaltungsspielraums im vermögensrechtlichen Bereich. Dem Staat, der über einen solchen Handlungs- und Gestaltungsfreiraum nicht verfügt, kann konsequenterweise eine solche umfassende Herrschaftsbefugnis zustehen. Infolge der ausnahmslosen Bindung auch der Verfügung über staatliches Eigentum zur Erfüllung der öffentlichen Aufgaben, verliert der Staat die das Privateigentum kennzeichnende Dispositionsbefugnis. Er kann eben nicht mit den seiner Verfügung unterliegenden Gegenständen nach Belieben verfahren, sondern ist auf " Vgl. H. Westermann, Sachenrecht, 5. Aufl., 1966, S. 113ff.; E. Wolff, Lehrbuch des Sachenrechts, 2. Aufl., 1979, S. 90ff.; M. Wolff, Sachenrecht, 5. Aufl., 1983, Rdn. 36 ff.; F. Baur, Sachenrecht, 12. Aufl., 1983, S. 221 ff.; P. Bassenge, in: Palandt, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 42. Aufl., 1983, Überbl. vor §903, Rdn. 1 a. « E. Wolff (Anm. 61), S. 91; M. Wolff (Anm. 61), Rdn. 37.
Die Notwendigkeit einer neuen „Theorie des Staatseigentums"
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Maßnahmen, die der Erfüllung seines verfassungsrechtlichen Handlungsauftrages dienen, beschränkt. Hieraus ergeben sich eine Vielzahl von Beschränkungen des Erwerbs, des Verlustes und der Verfügung über staatliches Eigentum. Demgegenüber kann auch nicht darauf verwiesen werden, daß die Verfügungsgewalt des Privateigentümers ebenfalls durch „Gesetze oder Rechte Dritter" (§ 903 BGB) ζ. T. sehr weitgehend eingeschränkt sein kann. Der wesentliche Unterschied zwischen staatlichem und privatem Eigentum besteht darin, daß letzteres grundsätzlich eine umfassende Herrschaftsbefugnis gewährt, die lediglich nachträglich unter bestimmten Voraussetzungen speziellen Einschränkungen unterworfen wird, während staatliches Eigentum von vorneherein generellen Dispositionsbeschränkungen unterworfen ist, die das Entstehen einer der Verfügungsgewalt des Privaten vergleichbaren Rechtsposition bereits abstrakt ausschließen. Staatliches und privates Eigentum sind daher ihrem Wesen nach vollkommen verschiedene Rechte; Privateigentum im eigentlichen Sinne kann der Staat niemals erwerben. Die Feststellung der Wesensverschiedenheit staatlichen und privaten Eigentums deckt sich mit dem verfassungsrechtlichen Befund von der Einheit der Staatsgewalt: Voraussetzung des Erwerbs privatrechtlichen Eigentums wäre nämlich die Existenz einer mit Privatrechtssubjektivität ausgestatteten selbständigen Erscheinungsform des Staates. Da es diese im demokratischen Verfassungsstaat nicht gibt, erwirbt der Staat nicht privatrechtliches Eigentum, sondern eine hiervon zu unterscheidende selbständige Rechtsposition. Diese Konsequenz wird bestätigt durch die Erkenntnis, daß die inhaberschaftliche Stellung des Staates an einer Sache von derjenigen des Privatmannes fundamental unterschieden ist. VI. Fazit: Die Notwendigkeit einer verfassungskonformen Theorie des Staatseigentums Aus dem vorstehend Gesagten wurde deutlich, daß die privatrechtliche Deutung hoheitlichen Eigentums unter den Bedingungen des modernen Verfassungsstaates nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Die Konstruktion „öffentlichen Privateigentums" ist notwendigerweise mit dualistischen Staatsvorstellungen verknüpft, die der grundgesetzlichen Konstituierung einer einheitlichen Staatsgewalt widersprechen. Daher ist eine Überwindung dieser Konstruktion geboten, und zwar nicht unter Gesichtspunkten verwaltungsrechtlicher Zweckmäßigkeit43, " Der Forderung E. Forsthoffs (Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Band I, 1973 S. 382, Fußn. 5) nach erneuter Uberprüfung der Lehre Otto Mayers vom öffentlichen Eigentum kann daher allenfalls im Ergebnis, hingegen nicht in der Begründung zugestimmt werden. (Vgl. auch H.J. Wolff / O. Bachof Verwaltungsrecht I, 9. Aufl., 1974, S.494.)
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sondern aufgrund der Notwendigkeit einer Anpassung der verwaltungsrechtlichen Dogmatik an die verfassungsrechtlichen Vorgaben. Da neben dem Staat als Hoheitsträger eine zweite, mit Privatrechtsfähigkeit ausgestattete staatliche Erscheinungsform im System des Grundgesetzes keinen Platz hat, und da die inhaberschaftiiche Stellung des Staates an einer Sache mit derjenigen des Privatmannes überhaupt nicht vergleichbar ist, bedarf die tradierte dogmatische und rechtskonstruktive Qualifikation des Eigentums der öffentlichen Hand der Revision. Erleichtert werden sollte dieser Prozeß durch die Erkenntnis, daß eine wesentliche Motivation privatrechtlicher Lokalisierung des öffentlichen Eigentums sich inzwischen ins Gegenteil zu verkehren droht: Erfolgte ursprünglich die Enthoheitlichung oder Privatisierung des Staates, um diesen zumindest teilweise rechtlichen Bindungen und gerichtlicher Kontrolle zu unterwerfen, so beinhaltet heute, angesichts umfassender Rechtsschutzgewährleistung und sehr viel strengerer Anforderungen des öffentlichen Rechts, der Rückgriff auf das Privatrecht eine Freistellung des Staates von spezifischen, weitergehenden öffentlich-rechtlichen Bindungen. Ziel dieser Überlegungen konnte es nicht sein, eine neue, den Bedingungen des modernen Verfassungsstaates entsprechende und in sich abgeschlossene Theorie des Eigentums der öffentlichen Hand zu entwikkeln. Sie sollte nur aufzeigen, daß unter den Bedingungen des Grundgesetzes die Beibehaltung tradierter, im dualistischen Staatsverständnis wurzelnde Rechtskonstruktionen nicht länger akzeptiert werden kann und sich die Rechtswissenschaft deshalb der Aufgabe stellen muß, eine den verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechende neue Theorie des Staatseigentums zu formulieren. Es wäre sicherlich von Vorteil, wenn dabei die kompetenzrechtlich strukturierte Stellung der öffentlichen Hand als Inhaber von Sachen nicht mehr unter dem Begriff des Eigentums, auch nicht dem des öffentlichen Eigentums erfaßt, sondern hierfür ein neuer terminus geschaffen würde.
Der logische Dissens U W E DIEDERICHSEN
I. Einleitung Das Zustandekommen des Vertrages ist das Herzstück des Allgemeinen Teils des Bürgerlichen Rechts. Man möchte deshalb meinen, Literatur und Rechtsprechung sei es gelungen, im Laufe der Jahrzehnte Klarheit in diesem Gebiet zu schaffen. Dennoch kann, wie mir scheint, beim Dissens noch einiges zu seiner logischen Präzisierung und dogmatischen Systematisierung beigetragen werden1. Begrifflich gibt es zwei verschiedene Arten von Dissens, von denen in den §§ 154, 155 B G B nur die eine Form geregelt ist; ich bezeichne sie als den Auslegungsdissens, weil die Feststellung der Nichteinigung der Parteien hier ausschließlich das Ergebnis der Auslegung der von ihnen getroffenen Abreden ist2. Die andere, wichtigere Form des Dissenses ist das eigentliche Gegenstück zum Konsens; es folgt aus dem Begriff des Vertrages und ist deshalb im Gesetz auch überhaupt nicht geregelt3. Da
1 Vgl. zum Dissens außer den Kommentaren die Lehrbücher von Brox, Allgemeiner Teil des BGB, 6. Aufl. 1982, Rdn.212ff.; Diederichsen, Allgemeiner Teil des B G B für Studienanfänger, 5. Aufl. 1984, Rdn.258ff.; Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 15. Aufl., 2. Halbband 1960, § 163 I—III S. 1002; Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2.Band, Das Rechtsgeschäft, 3. Aufl. 1979, §34 S. 618ff.; Köhler, B G B Allgemeiner Teil, 18. Aufl. 1983, §15 IV S.159; Larenz, Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, 6. Aufl. 1983, §27 III S. 515 ff.; Lehmann/Hühner, Allgemeiner Teil des B G B , 16. Aufl. 1966, §33 IV S.246; Medicus, Allgemeiner Teil des B G B , 1982, Rdn.434ff.; Pawlowski, Allgemeiner Teil des BGB, 2. Aufl. 1983, Rdn. 468ff.; Rüthers, Allgemeiner Teil des BGB, 4. Aufl. 1982, Rdn.445ff.; von Tuhr, Der Allgemeine Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts, 2. Band, 1. Hälfte, 1914, §62 V S.480ff.; Ernst Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 1973, § 8 D S.304ff.; ferner vor allem Manigk, JherJb. 75, 127 ff. (1925). 2 Vgl. dazu demnächst in der FS für Heinz Hübner 1984. 3 Dies wird der Sache nach in der Literatur durchweg anerkannt, jedoch ohne die Einsicht, daß es sich hierbei um eine Konsequenz aus dem Begriff des Vertrages und damit um eine logische Aussage handelt; am deutlichsten noch Flume, a.a.O., §34/6 a und b S.627; Rüthers, a . a . O . , Rdn.445; Wo//, a.a.O., §8 D II S.304; Erman/Hefermehl, Handkommentar zum B G B , 7. Aufl. 1981, § 154 Rdn. 2 und 3 (im Widerspruch allerdings zu Rdn.6); vgl. im übrigen Brox, a.a.O., Rdn.217f.; Enneccerus/Nipperdey, a.a.O., § 163 I S. 1002; Larenz, a. a. O., § 27 III S. 516; Kramer im MünchKomm Bd. 1 1978, § 154 Rdn.5 und 6 sowie §155 Rdn.6 und 11 mit dem - auf die Rechtsfolge bezogenen -
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Uwe Diederichsen
die Lehre vom Begriff Teil der Logik als wissenschaftlicher Disziplin ist, kann man ihn vielleicht am besten als logischen Dissens bezeichnen. Die Unterscheidung zwischen dem logischen und dem Auslegungsdissens ist eine solche im Tatbestand. In der Rechtsfolge unterscheiden sich die beiden Dissensformen nicht; es spielt keine Rolle, ob ein Vertrag begrifflich nicht zustande kommt oder deshalb nicht, weil die Auslegung ergibt, daß sich die Parteien noch nicht geeinigt haben: Ist der Vertrag „nicht geschlossen" (vgl. § 154 Abs. 1 S. 1 BGB), so liegt überhaupt keine Vereinbarung vor4.
II. Der Vorrang der normativen Auslegung 1. Das Konsenserfordernis Ein Vertrag setzt begrifflich die sinngemäße Übereinstimmung der Willenserklärungen mindestens zweier Vertragspartner voraus. Ihre Willenserklärungen müssen einander entsprechen. Angebot und Annahme müssen aufeinander abgestimmt sein; sie müssen zueinander passen. Das Ergebnis dieses Vorgangs bezeichnen wir als Konsens5 und setzen ihn in Gegensatz zum Dissens, bei dem die Parteierklärungen einander verfehlen und deshalb ein Konsens scheitert. 2. Die Konsensbildung als normativer Vorgang Die Herbeiführung des Konsenses zwischen den Kontrahenten ist ein juristischer, kein psychologischer Akt. Deshalb kommt es grundsätzlich nicht darauf an, daß die beiderseitigen „Willen" zusammenstimmen, sondern darauf, daß die „Erklärungen" zueinander passen. Der Inhalt der Erklärungen aber wird objektiv festgestellt, d. h. aus der Sicht eines
zutreffenden Begriff „Totaldissens"; Flad in Planck's Kommentar zum BGB, I. Bd., 4. Aufl. 1913, § 155 Anm. 3; Heinrich Lange bei Soergel, BGB, Bd. 1 , 1 0 . Aufl. 1967, § 155 Rdn. 16. Nach anderen Darstellungen erscheinen die §§154, 155 BGB als vollständige Regelung des Dissensproblems; vgl. z . B . Wolf bei Emmerich, Gerhardt u.a., Grundlagen des Vertrags- und Schuldrechts I, 1974, § 7 III S. 131. Typisch ist die Vermengung des logischen mit dem Auslegungsdissens schon von den Überschriften her; vgl. statt aller Köhler, a. a. O., § 15 IV 1 und 2 S. 159. 4 Vgl. Manigk, JherJb. 75, 129; Soergel/Lange, § 154 Rdn. 2; RG Recht 1929 Nr. 1461: Die Sanktion „liegt vor der Nichtigkeit eines äußerlich zustande gekommenen Vertrages"; MünchKomm-Kramer, §154 Rdn.9: „Nicht-Rechtsgeschäft"; Heinrichs im Palandt, BGB, 43. Aufl. 1984, § 154 Anm. 1 a: „Der Dissens ist kein Nichtigkeitsgrund. Wenn § 154 Abs. 1 zutrifft, liegt tatbestandlich (noch) kein Rechtsgeschäft vor". Vgl. zu dem Rechtsfolgenproblem ausführlich Pawlowski, Rdn. 469 ff. (mit Hinweis auf die dissentierte faktische Gesellschaft, das faktische Synallagma usw.): „Nichtigkeit". 5 Vgl. zum Verhältnis von Vertrag und Einigung Mayer-Maly, FS für Nipperdey 1965, Bd.I, S.509ff.; Latenz, § 2 7 III S.515. 6 So schon von Tuhr, § 6 2 V S.481.
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verständigen Dritten, der sich an der Stelle des jeweiligen Vertragspartners befindet und der Kenntnis von allen Umständen hat, die dem Vertragsgegner zur Kenntnis gelangt sind. Es ist zu prüfen, in welcher Bedeutung nach den Grundsätzen der normativen Auslegung jede Partei ihre eigene Erklärung gelten lassen muß 7 . Deshalb kann es durchaus zu einem „normativen" Konsens kommen, auch wenn der „innere" oder „natürliche" Konsens fehlt8. Derjenigen Partei, bei der der Rechtsfolgewille von ihrer Erklärung in deren „als maßgeblich zu betrachtenden Bedeutung" abweicht, bleibt nur die Möglichkeit, nach §119 Abs. 1 BGB anzufechten 9 . Dagegen darf, wenn die Vertragserklärungen - und sei es auch nur auf Grund einer Auslegung - eindeutig sind, kein Teil sich mit dem Ziel, den Konsens zu erschüttern, darauf berufen, daß er selbst seiner Erklärung einen anderen Sinn beigelegt habe10. Bezeichnet man den objektiven Erklärungswert eines Vertragsangebots mit χ und den damit übereinstimmenden inneren Willen des Anbietenden" mit x w sowie die dazugehörige andere Vertragserklärung, wenn sie mit χ normativ nicht „übereinstimmt", mit y und entsprechend den dahinterstehenden, ihr ganz gemäßen Willen des Angebotsempfängers mit y w , so kommt ein Vertrag (consensus = c) nicht nur zustande, wenn das Angebot des Α und die Annahmeerklärung des Β „übereinstimmen", also wenn die Formel „A (x + xw) + Β (x + x w ) = c x " gilt, sondern nach dem Gesagten auch dann, wenn entweder Α oder Β subjektiv etwas anderes meinten, als sie erklärt haben, so daß z.B. gilt: „A (x + xw) + Β (x + y w ) = cx"12. Β ist auch in diesem Falle an den Vertrag gebunden und kann sich lediglich durch Anfechtung wegen Inhaltsirrtums wieder davon lösen.
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Enneccerus/Nipperdey, §205 I 5 S. 1251; Flume, § 16 S. 291 ff.; Urem, §27 III S. 514. So die Ausdrucksweise von Emst A. Kramer, Grundfragen der vertraglichen Einigung, 1972, S. 175 ff. ' Larenz, §27 III S. 515; Lehmann/Hübner, S. 246; PaUndt/Heinrichs, § 155 Anm. 2 a; B G H LM Nr. 1 zu § 155 BGB a. E. Aus diesem Grunde besteht zwischen der Regelung des §119 Abs. 1 und § 155 BGB auch kein unlösbarer begrifflicher Widerspruch, wie Bailas, Das Problem der Vertragsschließung und der vertragsbegründende Akt, 1962, S. 5 ff., annimmt. Gegen seine „Verständigungstheorie", mit der er den Dualismus von subjektiver und objektiver Auslegungstheorie mit Hilfe sprachtheoretischer Überlegungen aufheben will zu Recht Flume, §34/4 S. 622 Fn. 12; Kramer (Fn. 8) S. 177ff. sowie MünchKomm., § 155 Rdn.3; vgl. auch schon Manigk JherJb. 75, 127, 130ff.; sowie Dilcher bei Staudinger, Kommentar zum BGB, 12. Aufl. 1980, §155 Rdn.6. 8
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RG 165, 193, 199; Erman/Hefermehl, §155 Rdn.3. Im folgenden bezeichnet das zweite Glied des Klammerausdrucks immer mit oder ohne das Suffix w immer den (subjektiven) Willen des erklärenden Α oder B, der jeweils vor der Klammer steht. 12 Wobei das Suffix χ bei c hier den für die Parteien verbindlichen Vertragsinhalt angibt. 11
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Erklärt beispielsweise Α objektiv, den Β verpflichten zu wollen, während er die Absicht hat, mit seiner Erklärung den C zu verpflichten, so gilt der Vertrag zwischen Α und B, wenn dieser seinerseits das an ihn gerichtete Angebot des Α angenommen hat'3. 3. Der logische Primat der (objektiven)
Auslegung
Dabei spielt es keine Rolle, daß in dem eben erwähnten Beispiel der objektive Sinn der Erklärungen von Α und Β erst durch Auslegung ermittelt werden muß14. Depeschiert ein New Yorker Kaufmann K, um seinem Schulfreund W zu helfen, an dessen Bank: „Kabelten Euch 5.000 Dollar als Kredit für W.s Firma", so darf die Bank - vorbehaltlich anders lautender Bankbräuche (!)15 - das Telegramm als Auftrag verstehen, das Geld an W weiterzuleiten; der tatsächliche Wille des K, bei Β auf seinen Namen ein Konto zu eröffnen und dieses von Β als Treuhänderin verwalten zu lassen, vermag die Einigung der Parteien in dem objektiven Sinn nicht zu hindern16. Die naheliegende Auffassung, in solchen Fällen den Konsens zu verneinen und einen Dissens anzunehmen, wird dadurch ausgeschlossen, daß im Bereich der Auslegung der Erklärungsgrundsatz und nicht der Willensgrundsatz gilt. Jede Partei muß ihre eigene Erklärung in der Bedeutung gelten lassen, die sie nach den Grundsätzen der normativen Auslegung hat17. Die Auslegung geht also grundsätzlich der Feststellung eines Konsenses oder Dissenses vor18. Letztere ist das Ergebnis eines Vergleichs zweier auf einen Vertragsschluß gerichteten Erklärungen. Ein solcher Vergleich ist aber erst möglich, wenn man für die Erklärungen einen konkreten Sinn ermittelt hat. Dies bedeutet zweierlei: (1) Für jede der beiden Vertragserklärungen ist deren juristische Bedeutung gesondert festzustellen". (2) Bei konkludenten Handlungen oder stillschweigenden Willenserklärungen muß der Inhalt jeder Erklärung zunächst in eine
» B G H W M 1970, 1290; vgl. ferner B G H LM Nr. 1 zu § 155; Larenz, § 2 7 III S.514 unten. 14 B G H WM 1973, 1114. Vgl. zum folgenden auch unten unter IV 4. 15 Vgl. auch O L G Köln WM 1970, 892: Keine Verkehrssitte dahin, Stammaktien statt Vorzugsaktien zu ordern. 16 R G J W 1932, 735, 738. 17 Larenz, § 2 7 III S.514; vgl. ferner RG 58, 233, 235 f. (Hamburger St. MichaelisKirche); RG 105, 209, 211 (Hausschwamm). 18 Der Auslegungsprimat gilt auch gegenüber der Anfechtung; vgl. Medicus, Bürgerliches Recht, 11. Aufl. 1983, Rdn. 123. " So schon Planck/Flad, § 155 A n m . 4 ; vgl. ferner Manigk, JherJb. 75, 133f. und 135; Enneccerus/Nipperdey, §163 III S. 1003; Erman/Hefermehl, §155 Rdn.3; Staudinger/ Dilcher, § 155 Rdn. 5; B G H LM Nr. 1 zu § 155 BGB.
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ausdrückliche Formulierung umgesetzt werden, ehe die Frage, ob ein Konsens oder ein Dissens vorliegt, entschieden werden kann. Ergreift zum Beispiel jemand in einem Zeitungskiosk eine Zeitung und sieht darin etwas nach und wird er alsbald vom Händler zur Bezahlung aufgefordert, so kann die Auslegung zeigen, daß die Erklärung des Kunden bedeutet: „Ich will mir diese Zeitung zur kurzfristigen Einsichtnahme ausleihen", während der Zeitschriftenhändler erklärt: „Ich nehme Ihr Kaufangebot an". Ein Zahlungsanspruch aus §433 Abs. 2 BGB entsteht dann nicht. Die Erfahrung lehrt, daß ein Dissens oft nur deshalb bejaht wird, weil die Auslegung nicht zu Ende geführt worden ist. Das ist etwa20 im Parterrewohnungsfall21 so: Mietet jemand von einem Ort aus, wo man unter Parterre das Erdgeschoß versteht, eine Wohnung in einer Gegend, in der man damit das erste Stockwerk meint, so gilt objektiv die in dem neuen Gebiet verwendete Bedeutung22. Aus der Rechtsprechung sei der Fall der Senkungsschäden23 zitiert, mit welchem Ausdruck die Parteien objektiv eine Ausbesserungspflicht für alle Schäden begründet haben, die an dem Gebäude durch dessen Senkung entstehen und nicht nur, wie das Berufungsgericht gemeint hatte, „Senkungsrisse"24. 4. Ausnahmsweiser Vorrang der subjektiven Auslegung Unabhängig davon, wie die Dinge im objektiven Bereich aussehen, läßt man es bisweilen zu einem Vertragsschluß bloß auf Grund der subjektiven Ubereinstimmung der Vertragspartner kommen 25 . Von dem Grundsatz des Vorrangs der objektiven Auslegung wird nach der Maxime „falsa demonstratio non nocet" eine Ausnahme gemacht bei einem gemeinsamen Fehlgriff der Parteien in der Ausdrucksweise 2 '. Wie weit diese Maxime, daß ein Fehlgriff in der Verwendung der sprachlichen Mittel dem vertraglichen Konsens nichts schadet, reicht, ist aller-
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Im Gegensatz zur Annahme von Kramer (Fn. 8) S. 152 f. Vgl. Lorenz, Methode der Auslegung, 1930, Neudruck 1966, S. 73. 22 So auch Pawlowski, Rdn. 475. Eine „objektive Bedeutung des Ausdrucks . . . für ihn" (Kramer a . a . O . ) ist eine „contradictio in adiecto". 23 Nach fehlerhafter Errichtung einer Badeanstalt (vgl. B G H LM N r . 3 zu §275 ZPO). 24 B G H LM N r . 1 zu §155 BGB = N J W 1961, 1668. Vgl. im übrigen unten bei Fn. 93 ff. 2i Unvermeidbar, aber im Interesse vernünftiger Ergebnisse hinzunehmen ist entgegen Bailas (Fn. 9) S. 8, damit, „daß die Dogmatik nicht . . . mit einem, sondern mit zwei Kriterien der Vertragsschließung arbeitet". Vgl. auch Kramer (Fn. 8), S. 134: „Dualismus zwischen subjektiver und objektiv-normativer Vertragsinterpretation" sowie S. 159 ff. 26 Enneccerus/Nipperdey, §166 IV S. 1032; Flume, §16/2 S. 302ff.; Larenz, §19 II a S.326f.; Medicus, Allg. Teil, Rdn.327; kritisch Wieling, AcP 172, 297 sowie Jura 1979, 524. 21
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dings äußerst problematisch. Dabei sind verschiedene Fälle zu unterscheiden: a) In dem berühmtesten und unbestrittenen Fall einer „falsa demonstratio" gingen die Parteien übereinstimmend davon aus, daß „Haakjöringsköd" Walfischfleisch bedeutet, während damit in Wirklichkeit in der norwegischen Sprache Haifischfleisch bezeichnet wird27. Fälle der „falsa demonstratio" kommen besonders leicht zustande, wenn der Vertragsschluß durch beiderseitige Zustimmung zu einem von einer Partei formulierten Vertragstext erfolgt28. Eine Falschbezeichnung im klassischen Sinne liegt auch vor, wenn sich die Parteien innerhalb des Vertragstextes eines Ausdrucks bedienen, der rein quantitativ weiter geht als der Rechtsfolgewille der Kontrahenten29. Das bloß subjektiv Gewollte kann in diesen Fällen deshalb gelten, weil hier für einen Vertrauensschutz kein Bedürfnis besteht30. Es gilt also: „A (x + y w ) + Β (x + y w ) = c y ". Die Parteien haben übereinstimmend y gemeint und dafür lediglich den „falschen" Ausdruck χ benutzt. b) Die konsenswirkende „subjektive Eindeutigkeit" der Erklärungen31 kommt nicht nur beim gemeinsamen Fehlgebrauch der Sprache durch die Parteien zum Tragen, sondern auch dann, wenn ein von ihnen verwendeter Ausdruck doppeldeutig ist, die Parteien aber übereinstimmend denselben Sinnausschnitt meinen32. Es gilt also „A (xi/2 + w^) + Β (χ,/2 + w x2 ) = Cjtf". c) Nach allgemeiner Meinung gilt die Willensübereinstimmung der Parteien auch in den Fällen, in denen sie sich subjektiv einig sind, während die von ihnen benutzten Ausdrücke glatt aneinander vorbeigehen, also nicht nur mehrdeutig sind, sondern einen völlig verschiedenen Wortlaut und verschiedene Bedeutung haben33, so daß gelten würde: „A (x + y w ) 27 RG 99, 147; vgl. zu weiteren Fällen dieser Art RG SeuffA 70 Nr. 235 („Rentenschuld" als Leibrente); RG J W 1939, 590; BGH BB 1967, 811 ·, Staudinger/Dilcher, §155 Rdn. 10 m. w. Nachw. 28 Vgl. Flume, §34/2 S.619. 29 Z.B. RG 66, 21: „Rittergut" unter Ausschluß einer bereits anderweitig veräußerten Moorparzelle. 30 Vgl. Latenz, § 19 II a S. 326; Medicus, Allg. Teil, Rdn. 327 unter Berufung auch auf § 1 1 7 Abs. 2 BGB: „Die Parteien brauchen nicht gegen ihren Willen an der üblichen Bedeutung des Erklärten festgehalten zu werden, wenn sie über eine andere Bedeutung einig waren". 31 So der treffende Ausdruck bei Enneccerus/Nipperdey, § 163 IV 1 S. 1004. 52 RG J W 1938, 590; Enneccerus/Nipperdey, §163 IV 1 und 2 jeweils a.E., S. 1004 sowie Fn. 13. " Enneccerus/Nipperdey, § 163 IV 1 a. E., S. 1004; Flume, § 34/3 S. 621; MünchKommKramer, §155 Rdn. 4 sowie § 1 1 9 Rdn. 43; a.A. Titze, Die Lehre vom Mißverständnis, 1910, S. 390 ff., 423.
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+ Β (ζ + y w ) = cy". Zur Begründung wird angeführt, das wirkliche Einverständnis der Parteien müsse dem normativen Sinn ihrer Erklärungen vorgehen 3 4 ; und so scheint sich diese Auffassung auch hier auf den Grundgedanken der Lehre von der „falsa demontratio" berufen zu können. Indessen wird damit, so scheint mir, zu wenig beachtet, daß eine Willenserklärung aus zwei Teilen besteht und daß die bloße Willensübereinstimmung der Parteien - weder sonst noch auch hier ausreicht, sondern daß sie vielmehr den Vertragsschluß auch objektiv in ihren Erklärungen irgendwie „zur Existenz bringen" müssen. Dafür genügt nun m. E . nicht, daß der eine χ und der andere y sagt, wenn sie beide nur ζ meinen; denn letztlich sind Willenserklärungen nicht nur für die Parteien selbst bestimmt, sondern auch für Dritte, etwa für die Gerichte, die sich mit einer derartigen Vereinbarung befassen müssen. d) N a c h allgemeiner Meinung soll die Regel über die „falsa demonstrat i o " vertragsbegründend auch in den Fällen wirken, in denen Β erkannt hat, daß Α mit seiner Erklärung einen von deren objektivem Gehalt abweichenden inneren Willen verbindet. Bei erkanntem und ausgenutztem Irrtum des anderen Teils soll das von diesem tatsächlich Gemeinte gelten 35 . Leiturteil für diese Fallkonstellation ist die Quadratruten-Entscheidung des R G 3 ' : D i e Maklerfirma Α hatte dem Bauunternehmer Β die Bebauung von drei Grundstücken vermittelt und verlangte Provision in H ö h e von 1,75 M a r k „pro Quadratrute" bebauter Fläche. Β erklärte sich hiermit „einverstanden". Α verlangte später Abrechnung auf der Grundlage von 1,75 M a r k pro „Quadratfuß" mit der Begründung, es seien in ihrem Brief Quadratfuß gemeint gewesen; Β hätte die falsche Bezeichnung auch als Schreibfehler erkannt und seinerseits ebenfalls zu Q u a dratfuß kontrahieren wollen. Das R G hat - die Richtigkeit dieser Behauptung vorausgesetzt - zugunsten von Α entschieden: „Hatte Beklagter den wirklichen Willen der Klägerin, den sie mit dem fehlgegriffenen W o r t zur Erklärung bringen wollte, trotz des Fehlgriffs dem Schreiben richtig entnommen, . . . so sprach er, wie er sich nicht verhehlen konnte, mit der Erklärung des Einverständnisses der Klägerin
54 35
Flume, S.621 Fn.ll. Danz, JherJb. 46, 381, 425f. und 433 ff.; Erman/Hefermehl, §155 Rdn.7; Flume,
§16/1 d S. 301 f. sowie §34/3 S.620; Kramer (Fn.8), S. 175 f. sowie MünchKomm., §119 Rdn.45 und §155 Rdn.5 sowie Fn.8 auf S.175; Staudinger/Dilcher, §155 Rdn.ll;
Wieling, AcP 172, 297, 300 Fn. 15; Soergel/Hefermehl, §119 Rdn. 13. 34
RG 66, 427; vgl. ferner RG 97, 195 (Wildhaare); BGH BB 1959, 646.
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seine Verpflichtung zur Zahlung der Provision mit 1,75 Mark pro Quadratfuß bebauter Fläche aus"37. Die Entscheidung des RG, wonach die von Α benutzte Bezeichnung praktisch als „falsa demonstratio" gewertet worden ist, geht in ihrer Grundbewertung davon aus, daß hier dem A, der den falschen Ausdruck benutzte, der Vorteil aus dem Vertrag nicht abgeschnitten werden soll; deshalb würde ihm das Anfechtungsrecht, das ihm sonst gewährt werden müßte 38 , nichts nützen. Immerhin braucht er nach §122 Abs. 2 BGB keine Schadensersatzpflicht zu fürchten; im übrigen beweist gerade diese Vorschrift aber, daß der Gesetzgeber diesen Fall als einen solchen der Anfechtung behandelt wissen wollte39. Wenn man annimmt, daß Β auf Grund der branchenüblichen Höhe solcher Provisionen nicht damit rechnen konnte, daß Α sich mit einem Zehntel dessen zufriedengeben wollte, worauf sie eigentlich „Anspruch" hatte, und dies der entscheidende Gesichtspunkt für das R G war, den Vertrag auf der Provisionsbasis von Quadratfuß zustande kommen zu lassen, so ist dieser Umweg nicht mehr erforderlich, nachdem wir heute den schuldhaft ausgelösten Dissens als einen Fall der „culpa in contrahendo" behandeln 40 und den dann geschuldeten Ersatz des Vertrauensschadens gegebenenfalls bis zum Erfüllungsinteresse erweitern 41 . e) Viel zu weit würde es schließlich gehen, wollte man wirklich den „falsa demonstratio"-Grundsatz auch in umgekehrter Richtung gelten lassen und auch auf den Fall anwenden, daß beide Kontrahenten annehmen, daß der Vertrag nicht zustande gekommen ist, während nach dem objektiven Sinn ihrer Erklärungen ein Vertragsschluß vorliegt42. Ist den Parteien nichts an den daraus begründeten Verpflichtungen gelegen,
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R G 66, 429. So in der Tat Titze, a . a . O . , S.337ff. sowie Planck/Flad, §155 A n m . 4 b (anders dagegen unter c). 39 Das wird auch von Kramer MünchKomm., §119 Rdn. 45 und §155 Rdn. 5 sowie Fn. 8 S. 175 eingeräumt. 40 R G 104, 265, 267; 143, 219, 221 f.; RG J W 1932, 735, 738; B G H N J W 1969, 1380; grundlegend R. Raiser, AcP 127, 1, 29 ff.; Hildebrandt, Erklärungshaftung, 1931, S. 110ff.; 193ff., 207ff.; Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, 1971, S.442; Enneccerus/Nipperdey, S. 1063 Fn.9; Lehmann/Hübner, S.247; Medicus, Allg. Teil, Rdn. 125 und Bürgerl. Recht, Rdn. 125; Erman/Hefermehl, § 155 Rdn. 10; Palandt/ Heinrichs, § 155 Anm. 3; Soergel/Lange, § 155 Rdn. 19; StaudingerlDilcher, § 155 Rdn. 16; wohl auch MünchKomm.-/framer, § 155 Rdn. 13; vgl. aber auch Kramer (Fn. 8), S. 187ff.; a. A. Oertmann, AcP 121, 122ff.; Manigk, JherJb. 75, 189; Flume, §34/5 S.625. 41 Vgl. statt aller Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. 1, Allg. Teil, 13. Aufl. 1982, § 9 I 3 S. 107f. 42 So aber Flume, §34/4 S.623. 58
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bleibt ihnen die Möglichkeit, den Vertrag einverständlich wieder aufzuheben (vgl. §§305, 397 BGB). Andernfalls besteht unter Umständen ein gerechtfertigtes Vertrauen des einen Teils, das der andere Teil nur um den Preis, das negative Interesse zu ersetzen, durch Anfechtung beseitigen darf. III. Der Begriff des logischen Dissenses 1. Logischer Dissens und Vertragsbegriff Beim logischen Dissens fehlt es begrifflich an einem Vertragsschluß. Die Parteien haben sich über die wesentliche Elemente eines bestimmten Vertragstypus nicht geeinigt. Der erste Entwurf des BGB sah folgende Bestimmung vor: „Solange die Vertragschließenden über die nach dem Gesetz zum Wesen des zu schließenden Vertrags gehörenden Teile sich nicht geeinigt haben, ist der Vertrag nicht geschlossen"43. Eine solche Bestimmung ist jedoch als Rechtsvorschrift überflüssig; denn die Rechtsfolge, daß der Vertrag nicht geschlossen ist, ergibt sich bereits aus dem Begriff des Vertrages, der als Regelung materieller Interessen stets einen bestimmten Mindestinhalt haben muß44. Verfehlen die Parteien mit Erklärungen, die einander in diesen wesentlichen Punkten widersprechen45, die „essentialia negotii", so scheitert der Konsens und damit ein Vertragsschluß aus logischen Gründen und nicht etwa erst im Wege einer entsprechenden Auslegung46.
43 § 78 Ε I; vgl. dazu Flume, § 34/6 b S. 627; mißverständlich ist der bei Staudinger § 154 Rdn. 1 von Dilcher hergestellte Zusammenhang: Diese Regel sei (in §154 BGB) „nicht übernommen worden", „so daß" (!) der Vertragsabschluß auch an Nebenpunkten scheitern könne. Hier wird der Unterschied zwischen logischem und Auslegungsdissens verkannt. 44 Vgl. Flume, §34/6 b S.627; MünchKomm.-Kramer, §154 Rdn.5; zum Konsenserfordernis insbesondere Mayer!Maly, FS für Erwin Seidl, 1975, S. 118 ff. 45 Auch die Fälle des Disparitäts- und Mehrdeutigkeitsdissenses (vgl. unten IV 2 und 4) beruhen letztlich auf dem Satz vom Widerspruch (vgl. Diederichsen, Einführung in das wissenschaftliche Denken, 2. Aufl. 1972, S.40): Wenn Α „x" und Β „y" erklären, so steckt in der Setzung der eigenen Aussage logisch jeweils zugleich die Negation der Aussage des Kontrahenten. 44 Verfehlt daher z.B. Piper im BGB-RGRK, 12.Aufl. 1982, §155 Rdn. 1: „in der Regel". Die Verneinung des Vertragsschlusses ist „gesetzlich nicht geregelt" nicht nur, weil die Rechtsfolge „klar" (so z.B. Larenz, Allg. Teil, §27 III S.517; Medicus, Allg. Teil, Rdn. 438) oder „selbstverständlich" ist (so Enneccerus/Nipperdey, § 163 I S. 1002), sondern weil es nicht Aufgabe des Gesetzgebers ist, Normen der Logik zu wiederholen. Auch Soergel/Lange, § 154 Rdn. 4 verstehe ich dahin, daß er einen Vertrag nicht ohne Regelung der wesentlichen Punkte als zustande gekommen ansehen will, sondern nur soweit die Parteien eine Vereinbarung darüber treffen, wie die offenen Punkte geregelt werden sollen. Auf den „Begriff" stellt beispielsweise Kramer (Fn. 8), S. 125 ab.
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2. Vertragstypus und Vertragsbegriff - „naturalia negotii" und „essentialia negotii" Inhaltlich braucht sich die Übereinstimmung der Parteien - unter dem Postulat eines formal wirksamen Vertragsschlusses - grundsätzlich nur auf die wesentlichen Bestandteile eines Vertragstypus (Kauf, Miete, Pacht usw.) zu beziehen. Diese „essentialia negotii"47 werden vom Gesetz durch das dispositive Recht, die sogenannten „naturalia negotii" ergänzt48. Das heißt, das Gesetz stellt ergänzende Regelungen zur Verfügung, deren Geltung als quasi mit vereinbart angesehen werden kann, weil sie einen mittleren Interessenausgleich innerhalb des Vertragsgefüges darstellen. Wollen die Parteien von diesen „natürlichen" Bestandteilen eines Vertragstypus abweichen 4 ' oder zusätzliche Regelungen treffen50, so müssen sie dies im Rahmen des Vertragsschlusses durch besondere Vereinbarung tun, wobei die zusätzlich in den Vertrag aufgenommenen Klauseln aus der Sicht einer bloß formalen Natur des Vertragsschlusses als „accidentalia negotii" erscheinen. Infolgedessen gilt, daß etwa ein Arbeitsvertrag geschlossen ist, wenn sich die Parteien über die grundlegenden Arbeitsbedingungen, d. h. Tätigkeit und Entgelt des Arbeitnehmers sowie über die Zeit der Aufnahme der Tätigkeit geeinigt haben, während über die konstitutive Bedeutung anderer Vereinbarungen (ζ. B. einer Schriftformklausel) die Auslegung entscheidet51. Der logische Dissens basiert im Schuldrecht auf der gesetzlichen Regelung besonderer Vertragstypen52. Hinter dem Typus „Kaufvertrag" mit seiner „typischen" Sachmängelgewährleistung steht aber der Begriff „Kauf"; die Einigung über den Kaufgegenstand, den Kaufpreis und die Verpflichtungen von Verkäufer und Käufer sind für den Kauf begriffsbestimmend. Gäbe es keine Vertragstypen mit fest bestimmten begrifflichen Erfordernissen, so wäre der logische Dissens eine überflüssige Figur, ebenso wie im typenfreien Bereich der Verträge „sui generis" (vgl. §§241, 305 47 Vgl. dazu Diederichsen, Allg. Teil, Rdn.222f.; Enneccerus/Nipperdey, §169 I I b sowie §189 II S. 1050 und 1151; Flume, §35/1 1 S.635; Lehmann/Hübner, S. 166; Medicus, Allg. Teil, Rdn.431; von Tu.hr, 2.Bd., 1.Hälfte, §52 II S.194f. Die Kritik Gschnitzers, AcP 121, 199 ff., am Gebrauch des Begriffspaars „wesentlich" und „unwesentlich" im BGB trifft die Lehre von den „essentialia negotii" nicht. 48 Diederichsen, a . a . O . ; Enneccerus/Nipperdey, §189 IV S. 1151; Flume, a . a . O . ; Lehmann/Hübner, a . a . O . ; von Tuhr, a . a . O . 49 Ζ. B. von der gesetzlichen Sachmängelgewährleistung, vom gesetzlichen Gefahrübergang usw. 50 Z.B. eine Eigenschaftszusicherung. 51 Vgl. den instruktiven Fall LAG Baden-Württemberg DB 1958, 1131. 52 Zum Typusbegriff allgemein Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 207 ff. und zu den Schuldvertragstypen im besonderen S. 288 ff.
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BGB) die Frage, ob eine Teilregelung schon vertraglich binden soll, durch Auslegung entschieden werden muß. Allerdings besteht in einer entwickelten Rechtskultur ein fortwährender Zug zur Typisierung und Verbegrifflichung, so daß heute etwa auch schon bei neueren Vertrags„ typen" des Rechtsverkehrs wie beim finanzierten Kauf, beim Finanzierungsleasing oder beim Factoring53 der logische Dissens „gilt"54. 3. Irrelevanz des Unterscheidungskritenums
der §§ 154, 155 BGB
O b die Nichteinigung den Parteien bewußt oder unbewußt ist, spielt im Gegensatz zu den §§154, 155 BGB keine Rolle; die Vorschriften betreffen den Fall des logischen Dissenses nicht. Wenn sich die Parteien nicht geeinigt haben, ob eine Sache „gekauft" oder „gemietet" werden soll, ist nicht nur „im Zweifel" der Vertrag geschlossen oder nicht geschlossen, sondern es fehlt am Vertragsschluß schlechthin55. Ergibt sich bei einem „essentiale negotii" ein Erklärungszwiespalt, kommen die Auslegungsregeln der §§154, 155 BGB nicht in Betracht; die mit der gesetzlichen Formel „im Zweifel" offen gehaltene Auslegungsalternative, den Vertrag trotz der Vertragslücke zustande kommen zu lassen, kann überhaupt nicht eintreten56. 4. Konsensfiktion nach Treu und Glauben Als einen Sieg der Wertungs- über die strenge Begriffsjurisprudenz 57 muß man es ansehen, wenn die Rechtsprechung in Ausnahmefällen trotz Offenbleibens eines „essentiale negotii" den Parteien Ansprüche auf „Vertragserfüllung gewährt. So hat der BGH im Sägewerksfall einer Vertragspartei die Berufung auf einen Einigungsmangel abgeschnitten, weil sie sich auf diesem Wege nur ihrer eigenen Verpflichtung entziehen, die aus der vollzogenen Vereinbarung von ihr bereits erlangten Vorteile aber erhalten wollte58. IV. Die Erscheinungsformen des logischen Dissenses Von einem Dissens zu sprechen, hat nur Sinn, wenn die Parteien einen Konsens verfehlt haben. Wollen Α und Β überhaupt keine vertragliche 55 Vgl. zu diesen Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. II, 12. Aufl. 1981, §63 S. 437 ff. 54 Vgl. dazu unten unter IV 1. 55 Indem § 154 Abs. 1 BGB nur eine Auslegungsregel gibt, unterscheidet die Vorschrift mittelbar zwischen den „essentialia negotii" und den „accidentalia negotii"; anders offenbar MünchKomm.-Ziremer, §154 Rdn. 4. 54 Deshalb werden viele Fälle der Rechtsprechung in der Kommentarliteratur an der falschen Stelle erörtert! 57 Vgl. dazu Larenz, Methodenlehre, S. 19 ff. und 117 ff. 58 B G H LM N r . 2 zu §154 BGB; zustimmend Canaris (Fn.40), S.322f.
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Vereinbarung miteinander treffen, wäre es seinerseits verfehlt, hier einen Dissens anzunehmen. Im übrigen aber tritt der logische Dissens in ganz verschiedenen Formen auf: 1.
Unvollständigkeitsdissens
Der Grundfall des logischen Dissenses ist der, daß sich die Parteien über ein „essentiale negotii" überhaupt nicht einigen. Die Einigung über diesen Punkt bleibt schlicht offen, etwa weil die Parteien seine Regelung vergessen haben. Damit hängt die übrige Vereinbarung in der Luft; ihr fehlt ein wesentliches Bindeglied, um von einem vertraglichen Konsens der Parteien sprechen zu können. Dieser Unvollständigkeitsdissens ist etwa gegeben, wenn die Parteien sich im Rahmen eines „ Gesellschaftsvertrages" zusammengetan haben, ohne die Gesellschaftsart zu bestimmen5'. Ein weiteres schönes Beispiel ist das Blankett: Erst mit der auf Grund der Ermächtigung ordnungsgemäß ausgefüllten Urkunde (etwa durch Einsetzen der Bürgschaftssumme oder des inzwischen gefundenen Kreditgebers als Gläubiger) wird der Bürgschaftsvertrag perfekt60, wie man sich überhaupt von der Vorstellung lösen muß, der Ausdruck der „wesentlichen" Vertragsbestandteile sei auf die Schuldvertragstypen beschränkt": Haben die Parteien vergessen, die gemäß §1199 Abs. 2 BGB zwingend vorgeschriebene Bestimmung der Ablösungssumme zu treffen, liegt ein logischer Dissens vor62. In der Praxis spielt eine besondere Rolle der Dissens in der Preisvereinbarung. Wird ein Mädchen, bei dem anläßlich einer schulärztlichen Untersuchung eine Kieferanomalie festgestellt worden ist, anschließend vom Hauszahnarzt der Familie an einen Spezialisten überwiesen, so entsteht ein Dissens über den Selbstkostenanteil, wenn die Eltern von dem liquidierenden Arzt über die mangelnde Erstattung desselben nicht aufgeklärt wurden63. Beim Kauf müssen sich die Parteien über den Kaufpreis einigen64. Das gilt auch im Rahmen eines Vorvertrages, so daß es nicht ausreicht, wenn
' MünchKomm.-Kramer, §154 Rdn.5. B G H WM 1962, 720, 722; Erman/Hefermehl, §154 Rdn.6; zur Blanketturkunde allgemein Latenz, Allg. Teil, § 3 3 III S.630ff.; Medicus, Allg. Teil, Rdn.910ff. 61 Vgl. oben unter III 1. 62 B G H WM 1965, 950, 952; vgl. dazu Canaris (Fn.40), S.324; Staudinger/Dilcber, § 155 Rdn. 7: Die Parteien geben auch hier „unvollständige Erklärungen" ab. 63 A G Köln N J W 1980, 2756. 64 Nach Erman/Hefermehl, § 154 Rdn. 6 können die Parteien ihn offen lassen, was aber im Widerspruch zu der in Rdn. 2 und 3 vertretenen Lehre von den „essentialia negotii" steht. Mißverständlich auch Soergel/Lange, §154 Rdn. 4. 5
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sie dafür „nur die äußerste Preisgrenze nach oben" festsetzen65. Beim finanzierten Kauf muß zu der Vereinbarung über Ware und Preis die Einigung über die Finanzierungsbedingungen hinzukommen 64 , es sei denn, der Käufer hat sich verpflichtet, hinsichtlich der Finanzierung des Restkaufpreises bei Abnahme des Fahrzeugs ein Wahlrecht (bar oder durch Wechsel) auszuüben 67 . Entsprechend dem Vorrang der Auslegung verringern eine ganze Reihe dispositiver Vorschriften das Entstehen von Dissensen: so etwa die §§315 ff., 612, 632 und 689 BGB hinsichtlich der Vereinbarung und Höhe der Vergütung 68 . Folgerichtig ist es auch, in den Fällen eines Kontrahierungszwanges die §§315 ff. BGB entsprechend anzuwenden, so daß etwa eine Molkerei einem Milcherzeuger ihres Einzugsgebiets einen nach billigem Ermessen zu bestimmenden Kaufpreis schuldet69. Dagegen geht es nicht an, im Rahmen eines Grundstückskaufvertrages im Wege ergänzender Vertragsauslegung (!) auch für das von den Käufern mit übernommene Grundstücksinventar (Einbaugeräte und Küchenmöbel) von Gerichts wegen einen „angemessenen Preis" festzusetzen70. Schließlich sei auf das merkwürdige Phänomen hingewiesen, mit Hilfe einer Bedingung dissenskonforme Ergebnisse zu erzielen. Kauft ein Ausländer ein Auto mit folgendem Zusatz: „Rest durch Finanzierung. Diese ist alleinige Sache des Käufers", so besteht hinsichtlich der Kaufpreisvereinbarung mit Rücksicht auf den zweiten Teil der Finanzierungsklausel kein Dissens; aber in deren erstem Satz läßt sich eine auflösende Bedingung sehen, die dem Käufer einen Anspruch auf Rückzahlung der von ihm geleisteten Anzahlung gibt, wenn sich die Finanzierung des Restkaufpreises als unmöglich erweist 7 '.
65
RG 124, 81, 84. LG Essen NJW 1958, 869. 67 OLG Düsseldorf NJW 1963, 2079. " Vgl. Soergel/Lange, §154 Rdn.4. " BGH 41, 271 = NJW 1964, 1617. 70 MünchKomm.-/fraOTer, § 154 Fn. 5 und 10; a. A. OLG Hamm NJW 1976,1212. Die Entscheidung erscheint jedoch aus zwei Gründen billig: Der Kaufpreis für das Inventar war im Verhältnis zum Grundstückskaufpreis von untergeordneter Bedeutung (etwa 1/20); und die Beklagten hatten das neuwertige Inventar sofort in Benutzung genommen. Richtig wäre gewesen, den Grundstückskauf über §139 BGB aufrechtzuerhalten. Mangels eines entsprechenden Kaufvertrags über die Inventarstücke hatten die Beklagten kein Recht zum Besitz daran, so daß dem Verkäufer Ansprüche aus den §§987 ff. bzw. im Übereignungsfall i.V.m. §819 Abs. 1 BGB zustanden. 71 KG NJW 1971, 1139 m.abl.Anm. v. Hereth, NJW 1971, 1704. 66
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2.
Disparitätsdissens
An einer vertragsbegründenden Übereinstimmung der Erklärungen fehlt es ferner, wenn jede Partei inhaltlich etwas anderes erklärt als ihr Vertragsgegner, formelhaft ausgedrückt: Der eine erklärt x, der andere yn. Die vertraglichen Erklärungen liegen in einem solchen Falle zwar beide vor, passen aber nicht zueinander; sie sind disparat. Beispielsweise erklärt, wie die Auslegung zeigt, der eine Teil, er wolle einen Pkw längerfristig „mieten"; die Auslegung der Erklärung des anderen Teils ergibt dagegen, daß dieser den Wagen „verkaufen" will. Oder: ein Onkel antwortet auf die Frage seines Neffen, ob er ein bestimmtes Buch „haben" könne, mit „Ja"; die Auslegung zeigt, daß der Neffe das Buch geschenkt erhalten, der Onkel es aber nur verleihen möchte. Ein gesetzlicher Fall des Disparitätsdissenses ist die Erklärung der Annahme unter Abweichungen vom Angebot (§ 150 Abs. 2 BGB) 73 . Erklärt eine (über 80 Jahre alte) Mutter, der man den Tod ihres Sohnes verschwiegen hat, um ihr Aufregungen zu ersparen, den von ihrem Sohn eingesetzten Erben gegenüber den Verzicht auf ihren Pflichtteil, so gibt sie eine Erklärung nach §312 Abs. 1 S. 1 und 2 B G B ab74, während die Erben ihrerseits den Erlaß des gegenwärtigen Pflichtteilsanspruchs gemäß §§397 Abs. 1, 2303 Abs. 1 und 2 S. 1, 1922 Abs. 1 B G B meinen75. Sehr problematisch ist es, ob ein logischer Dissens dieser Form auch dadurch entstehen kann, daß ein mündlich abgegebenes Angebot von dem Vertragsgegner akustisch unrichtig verstanden worden ist: A bestellt bei Β telefonisch 200 Ballen Baumwolle. B, der „100" versteht, erklärt: „Schön, gut" und liefert entsprechend 100 Ballen. Α erklärt hier x; die Erklärung ist, da sie dem Β gegenüber fernmündlich abgegeben wurde, auch wirksam geworden76. Die formal formulierte Einverständniserklärung von Β („schön, gut") hat hier aber auf Grund seines Wahrnehmungsfehlers ausnahmsweise einen anderen Sinn als x, nämlich y, auch wenn A dies nicht ahnen konnte. Es liegt somit ein Dissens vor77. 72 Für den Konsens werden nicht identische, sondern einander entsprechende Erklärungen verlangt; bei wörtlich übereinstimmenden Erklärungen kommt kein Vertrag zustande; vgl. R G 104, 265: Beide Parteien wollten Weinsteinsäure „verkaufen" (vgl. dazu den Text unten bei Fn. 100). Zur Vereinfachung wird hier aber von (seil.: sinngemäßer!) „Ubereinstimmung" gesprochen und in der obigen Formel die auf ein Angebot mit dem Inhalt „x" abgestimmte Annahmeerklärung ebenfalls mit dem Inhalt „x" bezeichnet; „x" ist also der jeweilige Erklärungs- bzw. Vertragsinhalt. 73 Vgl. Lehmann/Hübner, S.246. 74 Vertrag über den zukünftigen Nachlaß eines lebenden Dritten. 75 RG 93, 297. 76 Widersprüchlich Flume, § 3 4 / 4 S.623 Fn. 13 und § 3 4 / 5 S.626: Offerte gar nicht „zugegangen", wohl aber „Dissens". 77 So auch R G GruchBeitr. 50, 893; and. Planck/Flad, § 155 Anm. 5: Anfechtung durch B.
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3. Perplexitätsdissens Stimmen die Erklärungen der Parteien inhaltlich überein, sind aber in sich widersprüchlich und kann deshalb ein vernünftiger Vertragsinhalt nicht festgestellt werden, so ist ein logischer Dissens gegeben. Eine solche Perplexität liegt etwa vor, wenn die Parteien ein durch Buchstaben auf einem Lageplan abgegrenztes Grundstück als eine Fläche von „etwa 300qm" bezeichnet, obwohl das Grundstück in Wirklichkeit 441 qm enthält. Mangels einer anderweitigen Auslegungsmöglichkeit ist Gegenstand des Kaufvertrages sowohl das gemeinte Grundstück in seiner tatsächlichen Größe von 441 qm als auch das nach der ausdrücklichen Erklärung nur 300 qm große (so gar nicht existierende) Grundstück78. In der Literatur wird die Vertragsperplexität nicht als Fall eines Dissenses angesehen79; logisch liegt aber in der mangelnden Identifizierbarkeit des Kaufgegenstandes80 genauso ein Dissens wie in dem vorhergehenden Fall: Denn es ist gleichgültig, ob die Parteien sich über den Kaufgegenstand überhaupt nicht einigen oder ob sie ihn derart widersprüchlich bezeichnen, daß er ebenfalls unbestimmt bleibt. 4. Mehrdeutigkeitsdissens Ein weiterer Fall des logischen Dissenses ist schließlich gegeben, wenn die Vertragserklärungen zwar äußerlich übereinstimmen, die von den Parteien verwendeten Ausdrücke aber objektiv mehrdeutig sind und beide Kontrahenten subjektiv unterschiedliche Regelungen anstreben. In einer Formel ausgedrückt: Beide Parteien erklären χ; χ bedeutet aber objektiv betrachtet sowohl Xj als auch x2 und die eine Partei verbindet mit ihrer Erklärung den einen, die andere den anderen Sinn. Schulbeispiele ergeben sich hier immer wieder aus den verschiedenen Währungssystemen: Die Parteien vereinbaren Zahlung in „Kronen" oder „Franken" ; der eine spricht aber von dänischen, der andere von schwedischen Kronen bzw. von Schweizer Franken der eine, von französischen der andere81. Meinen beide Vertragspartner trotz der objektiven Mehrdeutigkeit des verwendeten Ausdrucks dasselbe, so kommt der Vertrag nach der hier ausnahmsweise durchschlagenden Willenstheorie zustande82. Die Mehrdeutigkeit wirkt sich juristisch nicht aus; es gilt - „a fortiori" - die 78
Vgl. B G H LM N r . 2 zu §155 BGB. Allg. Teil, §27 III S.515 Fn.33. 80 Und damit evtl. auch des Kaufpreises. 81 Vgl. MiinchKomm.-tfrdmer, §155 Rdn.9. 82 Erman/Hefermehl, § 155 Rdn. 6, allerdings unter verfehlter Bezugnahme auf RG 99, 148 (Haakjöringsköd ist nicht mehrdeutig, sondern bezeichnet eindeutig Haifischfleisch). 79
Urenz,
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Lehre von der „falsa demonstratio" 83 . Wenn die Parteien aber lediglich in der Verwendung des mehrdeutigen Ausdrucks, also objektiv, übereinstimmen, subjektiv aber, also in dessen Sinngebung, nicht 84 , so liegen die Dinge logisch nicht anders, als wenn der eine χ und der andere y sagt. Auch hier ist ein Dissens gegeben85. Als besonders dissensanfällig erweisen sich in diesem Zusammenhang objektiv eindeutigen Erklärungen beigefügte unklare Erläuterungen 86 , technische Ausdrücke oder gar künstliche Worte*7. Schon bei der Verwendung ganz geläufiger Ausdrücke kann es leicht zu Mißverständnissen kommen 88 . Das Dissensrisiko vergrößert sich auch erheblich bei Verwendung neuartiger technischer Begriffe, bei denen sich der Sprachgebrauch noch nicht einmal unter Fachleuten verfestigt hat. Hier gibt es offenbar absolut mehrdeutige Begriffe. Soll zum Beispiel der Versicherungsschutz für ein Flugzeug erst nach Durchführung des „Typenflugs" beginnen, so kann dies Verschiedenes bedeuten89. Verunglückt das Flugzeug beim dritten Flug, so war dies unter Umständen erst der für den Versicherungsschutz vorausgesetzte Typenflug. Das R G hat hier einen Dissens bejaht, weil Personen „derselben Sachkunde" darunter ganz Verschiedenes verstanden90. Mißverständnisse sind schließlich fast unvermeidlich, wenn sich die Parteien zur Herstellung des Konsenses der Hilfe von Phantasieworten bedienen. Hierfür gibt es eine berühmte Entscheidung: Nach der Abrede der Kontrahenten sollte ein Liefervertrag über Weißmetall perfekt sein, sobald ein Geschäftspartner dem anderen das Wort „Semilodei" kabelte. Später stellte sich heraus, daß der Käufer auf Grund falscher Informationen von dritter Seite damit eine zusätzliche Garantie
Vgl. oben unter II 4 a. Die unterschiedliche Verwendung kann auch dadurch geschehen, daß der Antragsgegner einem mehrdeutigen Angebot lediglich zustimmt; Flume, § 34/3 S. 620. 85 R. Raiser, AcP 127, 9 bezeichnet den Fall als „Scheinkonsens"; ihm folgend MünchKomm.-Kramer, § 155 Rdn.9. Nach von Tuhr, S.484 Fn. 166 liegt kein eigentlicher Fall des Dissenses vor, weil der Vertrag schon daran scheitert, daß jede der Erklärungen „unklar ist und unverstanden bleibt"; indessen schließen weder Unklarheit noch Nichtverstehen den Konsens in jedem Falle aus. 86 RG J W 1938, 590. 87 Vgl. die Zusammenstellungen bei Erman/Hefermehl, §155 Rdn. 5 und Staudinger/ Dilcher, §155 Rdn.9. 88 Vgl. RG Η RR 1936 Nr. 526: „Eigenkapital"; O L G Braunschweig NdsRpfl. 1954, 150: Vereinbarung eines „Baukostenzuschusses" ohne Abrede über dessen Rückzahlbarkeit oder Abwohnbarkeit; besonders illustrativ: O L G Köln WM 1970, 892: Auftrag zum Ankauf von „Aktien" einer bestimmten AG zum Nennwert von 5.000 DM, ohne daß die Parteien wissen, daß es bei diesem Unternehmen Stamm- und Vorzugsaktien gibt. 89 Rundflug von mindestens 5 Minuten Dauer mit 2 Kurven oder 1 kurzer Längsflug. - 90 RG 116, 274, 276. 83
M
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verband, während die Verkäufer ohne Garantie verkaufen wollten. Das „inhaltslose Nichts" Semilodei brachte nur einen Dissens zustande". Dieser wie der (weitere) Quadratrutenfall, in welchem es darum ging, ob das über 74 Quadratruten hinausgehende Straßenland vom Käufer nicht bezahlt zu werden brauchte' 2 , zeigen übrigens, daß es zur Verwendung mehrdeutiger Formulierungen vornehmlich dadurch kommt, daß zwischengeschaltete Vermittler den Parteien falsche Mitteilungen machen. Schließlich ist hier wiederum in besonderem Maße auf den Vorrang der Auslegung zu achten; sie wird in den meisten Fällen die auf den ersten Blick naheliegende Annahme eines Dissenses vermeiden helfen. In den oben' 3 angeführten Währungsfällen löst sich der Schein der Mehrdeutigkeit in aller Regel zu schöner Eindeutigkeit auf, weil sich etwa aus dem Wert des Kaufgegenstandes oder der sonstigen Leistung einerseits und dem Währungsgefälle der in Betracht kommenden Zahlungsmittel andererseits vernünftigerweise eine Währung als die eigentlich gemeinte herausstellt, ebenso wie die Nähe des Vertragsabschlußortes zu dem einen von den beiden in Betracht kommenden Währungsgebieten ein eindeutiges Auslegungsergebnis ermöglicht94. Ist Gegenstand eines Kaufvertrages ein auf „etwa 300 qm" geschätztes, in Wirklichkeit aber über 400 qm großes Grundstück, so kann der Vertrag unter Heranziehung aller den Parteien bekannten Umstände doch durch Auslegung einen eindeutigen Inhalt bekommen*, ebenso wie in der St. Michaelis-Kirchen-Entscheidung das RG ausführte, daß die fragliche Bestimmung, die wegen ihrer Mehrdeutigkeit den Dissens bewirkt haben sollte, „nach Wortlaut und Inhalt, bei Berücksichtigung der ganzen Sachlage und der in Betracht kommenden Interessen beider Parteien" objektiv nur in einem einzigen Sinne verstanden werden konnte". Bei der Auslegung muß sich jede Partei ihr eigenes Verhalten zurechnen lassen. So kann sich jemand, der in dem von ihm unterzeichneten Vertragsformular einzelne Bestimmungen in einer Weise einklammert,
" RG 68, 6, 8 f. Zur richtigen Begründung des Dissenses Manigk, JherJb. 75, 136. Da es als Vertragstyp keinen Garantiekauf gibt, liegt hier genau genommen ein bloßer Auslegungsdissens vor. 91 RG 66, 122. Zum ersten Quadratrutenfall oben Fn. 36. " Bei Fn. 81. * Vgl. Flume, §34/4 S. 625; MünchKomm. - Kramer, § 155 Rdn. 9. 95 Vgl. BGH LM Nr. 2 zu § 155 BGB; ebenso bereits RG 100,134: Wenn ein Vertrag in einem bestimmten Sinne verstanden werden muß, bleibt für die Annahme eines Dissenses kein Raum. Vgl. auch Manigk, JherJb. 75, 150 sowie im übrigen oben unter II 3 bei Fn. 14 ff. * RG 58, 233; vgl. dazu Manigk, JherJb. 75, 130f.; vgl. ferner BAG AP Nr. 1 zu § 155 BGB: Eindeutiger Sinn des Begriffs „regelmäßige Nachtarbeit".
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daß die Klammern leicht übersehen werden und von dem Vertragsgegner auch tatsächlich übersehen wurden, auf die Einklammerung nicht berufen97. Ferner ist zu bemerken, daß die Mehrdeutigkeit von Begriffen, die in Allgemeinen Geschäftsbedingungen verwendet werden, nach § 5 A G B G keinen Dissensfall mehr darstellen kann, weil Unklarheiten in den verwendeten Ausdrücken jetzt endgültig zu Lasten des Verwenders gehen'8, was natürlich Dissense in anderen Bereichen nicht ausschließt". An diese Stelle gehört schließlich der Weinsteinsäure-Fall des RG 100 . Die Firmen Α und Β handelten mit Weinsteinsäure. Nachdem Α dem Β ein freibleibendes Angebot über die von ihr geführten Waren geschickt hatte, worin kristallisierte Weinsteinsäure mit einem Preise von 68,50 Mark aufgeführt war, bat Β um ein Limit über 100 kg Weinsteinsäuregrieß bleifrei. Α antwortete: „Weinsteinsäuregrieß bleifrei kg 128 Mark". Darauf telegrafierte B: „100 kg Weinsteinsäuregrieß bleifrei geordnet101, briefliche Bestätigung unterwegs". Aus dieser schriftlichen Bestätigung ergab sich dann, daß jeder hatte verkaufen wollen. Der Fall ist von besonderem didaktischen Wert, weil er zeigt, daß der Vorrang der Auslegung nun nicht umgekehrt zu einer vorschnellen Festlegung führen darf: Das R G hat einen „wirklichen Einigungsmangel" angenommen102. Nach Auffassung des Berufungsgerichts mußte angesichts der Tatsache, daß Α dem Β in einem Preisverzeichnis kristallisierte Weinsteinsäure angeboten hatte, Β aus dem Telegramm des Α ersehen, daß Α verkaufen wollte. Ahnlich wurde immer wieder und auch neuerdings in der Literatur argumentiert: Da Α dem Β die Angebotsliste geschickt hatte, ergebe der Kontext der Telegramme, daß Α verkaufen wollte, so daß Β wirksam gekauft und er seine Erklärung nur hätte anfechten können103. Demgegenüber nimmt das R G an, nach richtigen Auslegungsgrundsätzen wäre dem Telegramm von Α nicht zu entnehmen gewesen, daß A
" RG 100, 134, 135. Die Erklärungen sind in diesem Fall nicht objektiv mehrdeutig (a. A. Erman/Hefermekl, §155 Rdn. 7); vgl. im übrigen Canaris (Fn. 40), S.283. " Vgl. Staudinger/Dilcher, §133 Rdn. 53 m.Nachw. " V g l . Palandt/Heinrichs, §154 Anm.lc. Beispiel: Preiserhöhungsklauseln und Offenlassen des Preises; vgl. Löwe I Graf von WestphalenlTrinkner, Großkommentar zum AGB-Gesetz, Bd. II, 2. Aufl. 1983, § 11 Nr. 1 Rdn. 13 und 21. 100 RG 104, 265. 101 Statt „geordert"? Der Abdruck der Entscheidung in RG 104, 265 weicht im übrigen erheblich von der in JW 1922, 1313 ab: „Preisverzeichnis" statt „Preiskurant", „dringdrahtet" usw. 102 RG 104, 265 = JW 1922, 1313 m.Anm. v. Levy. 103 So bereits Manigk, JherJb. 75, 191 Fn. 1; Flume, §34/5 S.626 Fn.22; Medicus, Allg. Teil, Rdn. 438.
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hätte verkaufen wollen. Das RG führt das im einzelnen aus104 und kommt zu dem Ergebnis, daß ein Dissens vorliegt105. Y. Zusammenfassung 1. Die von Rechtsprechung und Literatur unter dem Begriff des Dissenses behandelten Fälle weisen eine ganz unterschiedliche logische Struktur auf. Hierzu muß man sich vergegenwärtigen, daß im Rahmen des Zustandekommens eines Vertrages Konsens und Dissens kontradiktorische Begriffe sein können, wenn nämlich aus der Verneinung des einen die Setzung des anderen Begriffes folgt und umgekehrt. 2. In den Fällen eines solchen logischen Dissenses wird von den Parteien der Begriff des Vertrages verfehlt. Ein Dissens liegt vor, weil es nicht zu einem Konsens kommt. Die Rechtsfolge, daß der Vertragsschluß scheitert, ergibt sich in diesen Fällen nicht aus den §§ 154, 155 BGB, sondern das NichtZustandekommen des Vertrages folgt logisch aus dem Begriff des Vertrages. O b den Parteien der Dissens bewußt ist oder nicht, spielt im Gegensatz zu den §§154, 155 BGB keine Rolle. 3. Hierher gehören folgende Fälle: a) Die Parteien haben sich beim Vertragsschluß über einen oder mehrere wesentliche Bestandteile („essentialia negotii") eines bestimmten Vertragstypus' nicht geeinigt. Die vertragliche Vereinbarung ist in ihrem Kernbereich unvollständig (daher: UnVollständigkeitsdissens). b) Die Erklärungen der Parteien gehen aneinander vorbei, weil sie inhaltlich nicht aufeinander bezogen sind. Der eine Teil erklärt x, der andere y. Die miteinander unvereinbaren und damit einander widersprechenden Erklärungen führen zum Disparitätsdissens. c) Die Parteien einigen sich innerlich und äußerlich auf einen bestimmten Vertragsinhalt, der konsentierte Vertragstext ist aber in sich widersprüchlich und kann deshalb nicht ausgeführt werden (Perplexitätsdissens).
104 Insoweit in RG 104, 266 nicht mitabgedruckt, wohl aber in J W 1922, 1313, 1314 Sp. 1, wo die Annahme des Dissenses mit drei Argumenten belegt wird, von denen mit Rücksicht auf die Diskussion in der Literatur das Wichtigste ist, daß angesichts der Bewegung im Chemikalien- und Drogenhandel nach Meinung des RG von Β nicht verlangt werden konnte, daß sie sich bei Empfang des Telegramms daran erinnerte, von Α die Preisliste erhalten zu haben. 105 Schließlich muß sich auch der Verkäufer von Weinsteinsäure irgendwo mit diesem Artikel eindecken! Darauf hatte bereits Raiser, AcP 127, 13 ff. hingewiesen.
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d) Die Parteien verwenden übereinstimmend einen objektiv mehrdeutigen Ausdruck, mit dem sie subjektiv jeweils einen unterschiedlichen Sinn verbinden (Willensambiguität). 4. Neben dem logischen steht der Auslegungsdissens, den allein die §§ 154, 155 BGB regeln106. Hier haben sich die Parteien über die wesentlichen Vertragsbestandteile geeinigt. Offengehlieben sind typenneutrale Punkte. Ob an ihnen der Vertragsschluß scheitert oder der Vertrag trotz fehlender völliger Übereinstimmung der Parteien „bei Kräften erhalten" werden kann107, bleibt der Auslegung überlassen. Auch die wirtschaftliche oder sonstige Bedeutung der Vertragslücke für die Parteien ist nur im Rahmen der Auslegung zu würdigen. Das Gesetz begnügt sich damit, in den §§ 154, 155 BGB eine negative und eine positive Auslegungsregel zu geben je nachdem, ob den Parteien die Unvollständigkeit der von ihnen getroffenen Vereinbarung bewußt war oder nicht.
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Dazu mein Beitrag in der FS für Hübner. So die Ausdrucksweise in RG 58, 235.
Die Savigny-Stiftung FRIEDRICH E B E L
I.
Die Berliner Juristische Gesellschaft, gegründet 1859 auf Anregung von C. E. Hiersemenzel· unter Vorsitz des Grafen von Wartensleben1 nach dem Ende der Reaktionszeit3 im Zeichen des die gesamten Lebensbereiche durchdringenden Liberalismus, hatte zwei Institutionen ins Leben gerufen, die wie wohl keine anderen das deutsche Rechtsleben geprägt haben. Unterschiedlich waren die Akzente, die einerseits die Praxis, andererseits die Gelehrsamkeit ansprachen - in beider Verbindung aber war das spezifische Ziel der Gesellschaft erfaßt, jene Kombination von praktischer Rechtsgelehrsamkeit, die den hohen Rang der deutschen Rechtsprechung seit den Zeiten des Reichsgerichts wie die Weltgeltung der deutschen Rechtswissenschaft, namentlich in den historischen Fächern, begründete. In den Vorträgen der Gesellschaft, in den bis 1932 erscheinenden Jahresberichten zumeist veröffentlicht (heute leider eher versteckt, denn sie sind selten geworden) kam diese Verbindung wissenschaftlicher Untersuchung und Diskussion vor interessier' Hiersemenzel, Karl Christian Eduard, * 20. 7.1825, Studium Breslau, Tätigkeit an Gerichten in Sagan, Königsberg, Berlin, Charlottenburg und Mittenwalde, 1851 Assessor, 1859 Stadtrichter in Berlin, 1868 Rechtsanwalt und Notar. Begründer und Redakteur der „Preußischen Gerichtszeitung", später „Deutschen Gerichtzeitung", +6.12.1869. Hauptwerke: Vergleichende Übersicht des heutigen römischen und preußischen gemeinen Privatrechts ( 2 Bde. 1852-1855); Ergänzungen und Erläuterungen zum ALR (4 Bde. 1854-1858); Preußisches Handelsrecht (1856); Zur Lehre vom kaufmännischen Kommissionsgeschäft (1859); Die Verfassung des Norddeutschen Bundes (1867); Das Verfassungsund Verwahungsrecht des Noddeutschen Bundes und des deutschen Zoll- und Handelsvereins (1868-1870). Lit: Allgemeine Deutsche Biographie 12, 392. 2 v. Wartensleben, Julius Cäsar Leopold, " 12.6.1809, 1840 Kammergerichtsassessor, 1848 Stadtgericht Potsdam, 1851 Stadtrichter am Stadtgericht Berlin, 1852 Stadtgerichtsrat bis 1879. f 12.1.1882. Lit.: Gräfliches Taschenbuch 1870, S. 1062; Jahrbuch der preußischen Gerichtsverfassung 1840 bis 1879. 3 Vgl. E. Heymann, 100 Jahre Berliner Rechtsfakultät, in: Die juristische Fakultät der Universität Berlin von ihrer Gründung bis zur Gegenwart. Mit 450 handschriftlichen Widmungen hg. von O. Liebmann. Festgabe der Deutschen Juristenzeitung zur Jahrhundertsfeier der Friedrich-Wilhelm-Universität zu Berlin. Berlin 1910, 42.
102
Friedrich Ebel
ten Praktikern zum Ausdruck: Das vielberufene (Aus-)Bildungsziel des Rechtsunterrichts jener Zeit, der „habilitationsfähige Oberlandesgerichtsrat", war hier greifbar da. Der vielseitige Wissenschaftsorganisator Franz v. Holtzendorff gab den Anstoß für die Gründung des „Deutschen Juristentages" 5 , dessen wichtige Rolle im Deutschland des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts bis zur Jetztzeit vielfach analysiert wurde, weshalb hier die Erwähnung ausreichen mag. II. Weniger im Bewußtsein der juristischen Öffentlichkeit ist - jedenfalls heute - die Savigny-Stiftung. Ihr Wirken ist engstens verbunden mit der Blüte der rechtshistorischen Wissenschaften (obgleich die ursprüngliche Intention der Gründer namentlich den internationalen Aspekt des Savigny'schen Wirkens wohl auch im nicht streng Historischen berücksichtigen wollten), deren deutsche Tradition namentlich in der Berliner Fakultät gepflegt wurde, denn jedenfalls die Zivilisten, die zugleich produktive Rechtshistoriker waren, bildeten in ihr stets die Mehrheit'. Das ist vor allem deshalb von Bedeutung, weil von je her, seit Savigny, die Fakultät eine deutsche, nicht eine spezifisch preußische Fakultät war7. Der Beschluß der Gründung wurde auf der Feier, die die Juristische Gesellschaft zu Berlin am 29.11.1861 zum Gedächtnis des am 25.10.1861 verstorbenen Savigny veranstaltete, verkündet. Nachdem eine beträchtliche Geldsumme bereits gesammelt war, wurde das Statut
4 von Holtzendorff, Franz, * 14.10.1829, Studium Berlin, Heidelberg, Bonn. Habilitation Berlin 1857. 1860 a.o., 1873 o. Prof. Berlin, ab 1873 München, f 4 . 2 . 1 8 8 9 . Hauptwerke: Prinzipien der Politik (1869, 2 1879); Die Reform der Staatsanwaltschaft (1864); Die Deportation als Strafmittel (1859); Das irische Gefängnissystem (1859); Die Kürzungsfähigkeit der Freiheitsstrafen und die bedingte Freilassung der Sträflinge u.s.w. (1861). Herausgeber zahlreicher Sammelwerke, u.a.: Handbuch d. dt. Strafrechts (1871-1874); Enzyklopädie der Rechtswissenschaft (ab 1870); Handbuch d. dt. Strafprozesses (1877 bis 1879); Handbuch des Völkerrechts (1881-1889); Handbuch des Gefängniswesens (1888). Lit.: Ε. Landsberg, Geschichte d. dt. Rechtswissenschaft Abt. 3 Halbb. 2, München 1910, Neudr. Aalen 1978, Text 714ff., Noten 309ff.; ADB 55, 785ff. 5 Heymann, (Anm.3) 41. ' Vgl. R.Smend, Zur Geschichte der Berliner Juristenfakultät im 20. Jahrhundert, in: Studium Berolinense. Gedenkschrift der Westdeutschen Rektorenkonferenz und der Freien Universität Berlin zur 150. Wiederkehr des Gründungsjahres der Friedrich-Wilhelm-Universität zu Berlin, Berlin I960, 117. 7 Vgl.Smend (Anm.6) 127.
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vom 27.3.1863 mit königlicher Kabinetts-Ordre vom 20.7.1863 genehmigt. Zweck der Stiftung war (§ l) 8 „in wesentlicher Berücksichtigung der Bedürfnisse der Gesetzgebung und der Praxis 1) wissenschaftliche Arbeiten auf dem Gebiete des Rechts der verschiedenen Nationen zu fördern, namentlich solche, welche das Römische Recht und die verschiedenen Germanischen Rechte sowohl für sich, als auch im Verhältnis zueinander behandeln, ferner solche, welche die von Savigny begonnenen Untersuchungen in seinem Sinne weiterführen; 2) besonders befähigte Rechtsgelehrte in den Stand zu setzen, die Rechtsinstitutionen fremder Länder durch eigene Anschauung kennenzulernen und darüber Berichte oder weitere Ausführungen zu liefern." Die zu Begünstigenden konnten jeder Nationalität angehören, die Zuwendungen erfolgten aus den Zinsen des Kapitals. Organ der Stiftung war ein Kuratorium, das gebildet wurde aus je zwei Mitgliedern der Juristischen Gesellschaft, der Berliner Fakultät und der Preußischen Akademie der Wissenschaften; dies Kuratorium wählte einen Syndicus und einen Vorsitzenden. Die Zinsenmassen waren in zunächst sechs-, ab 1881 dreijährigem Turnus abwechselnd der Wiener, der Münchener und der Berliner Akademie zur Verfügung zu stellen'. Die jeweiligen Akademien bildeten ihrerseits Kuratorien für die Stiftung, die teilweise noch heute bestehen. Solche Stiftungen bei den Akademien waren keine Seltenheit; ein großer Teil der Forschungsarbeiten des 19. Jahrhunderts wurde breit über die Gebiete der Wissenschaften so gezielt gefördert. Die Berliner Akademie verfügte etwa im 19. Jahrhundert über 47 Stiftungen, darunter solche mit Millionenvermögen 10 . Die Akademien hatten nach dem Statut der Savigny-Stiftung (§ 16), die Wahl „1) ein in Druck oder in Schrift hier vorliegendes Werk zu prämiieren, 2) eine Preisaufgabe zur Concurrenz auszuschreiben, 3) ein Reisestipendium zu ertheilen ' Abdruck des Statuts bei G.Bruns, Die Savigny-Stiftung, in: Zeitschrift der SavignyStiftung für Rechtsgeschichte Germ. Abt. 1 (1880) VIII ff.; A. v. Harnack, Die Geschichte der königl. preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin I 2 (Berlin 1900) 476ff.; fortlaufend in den Jahresberichten der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, (Berlin 1862 ff.) ab 1865. ' H. Brunner, Die Savigny-Stiftung seit 1880, in: ZRG GA 22 (1901) VI. 10 G. Dunken, Die Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin in Vergangenheit und Gegenwart ( 2 Berlin (0) 1960) 30.
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4) die zur Ausführung einer rechtswissenschaftlichen Arbeit erforderlichen Geldmittel zu gewähren." III. Das Gründungskomitee bestand aus v. Bernuth, v. Bethmann-Hollweg, Borchardt, Bornemann, Bruns, Dove, Gneist, Heydemann, Homeyer, Meyen, v. Patow, Richter, Rudorf/, Graf v. Schwerin, Simson, Volkmar, Graf v. Wartensleben. Es übergab am 29.12.1863 an das erste Kuratorium die Summe von 23179 Talern. Das erste Kuratorium bestand aus den Akademievertretern Mommsen und Rudorff den Fakultätsvertretern Bruns und Gneist; aus der Juristischen Gesellschaft waren gewählt der Stadtgerichtsrat Graf v. Wartensleben und der Staatsanwalt Meyen. Vorsitzender wurde Wartensleben, Syndicus Meyen. Tod von Kuratoriumsmitgliedern und sonstige Gründe führten natürlich im Lauf der Zeiten zu Veränderungen, an denen sich ein wesentliches Stück Wissenschaftsgeschichte ablesen läßt. Die Akademiestellen besetzten: Adolf F. Rudorff 1863-1873 (t) u Justus Olshausen 1873-1882 (ausgesch.)12 Georg Waitz 1882-1886 (t)1J Alfred Pemice 1886-1900 (t) H Otto Hirschfeld 1900-1921 (ausgesch.)ls Ulrich Stutz 1921-1938" Die Fakultätsstellen besetzten: Georg Bruns 1863-1888 (f)" Heinrich Brunner 1888-1915 (t) 20 Ernst Heymann 1915- 21 Die Juristische Gesellschaft entsandte: Graf v. Wartenslehen 1863-1882 (f) 26 Gustav Ad. v. Wilmowski 1882-1896 (t)27 Adolf Stölzel 1897-1920 (+)" Felix Damme 1920- 2'
Theodor Mommsen 1863-1903 (f) 17 Dietrich Schäfer 1903- 18
Rudolf Gneist 1863-1895 (f) 22 Heinrich Dernhurg 1895-1907 (t)25 Emil Seckel 1907-1924 (f) 24 Heinrich Titze 1924- 25 Ludwig Meyen 1863-1894 (ausgesch.)*· Karl Wilke 1894—1911M Arnold Seligsohn 1911- 52
Spiegelt sich in den Persönlichkeiten der Akademievertreter die fachübergreifende Wissenschaftlichkeit, die freilich stark historisch orientiert ist, so sehen wir in den Fakultätsvertretern dominierend die Rechtsgeschichte; der von hier noch am ehesten zu erwartende internationalrechtliche Aspekt wurde freilich weder von Heymann noch von Titze in der Stiftung zum Tragen gebracht. Die Vertreter der Juristischen Gesellschaft zeigen den Einfluß der preußischen Justiz und gleichzeitige Beeinflussung durch den wissenschaftlichen Geist; der zweite Abgesandte freilich ist meist vordergründig-praktisch für die Verwaltung der Stiftung zuständig. Fußnoten 11-32 siehe Seiten 105 bis 108
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Fußnoten zu Seite 104 " Rudorff, Adolf August Friedrich, *21.3.1803, Studium Göttingen, Berlin. Habilitation 1825. 1829 a.o., 1833 o. Prof. Berlin. Seit 1839 Redakteur der Zeitschrift für Rechtsgeschichte. Seit 1860 Mitglied der Akademie, 114.2.1873. Hauptwerke: De lege Cincia (1825); Recht der Vormundschaft (3 Bde. 1832 bis 1834); Römische Rechtsgeschichte (2 Bde. 1857-1859); Edictum perpetuum (1869). Lit.: Landsberg III 2, 462ff.; ADB 29, 580ff. 12 von Olshausen, Justus, *9.5.1800. Studium Kiel, Berlin, Paris. 1823 a.o., 1830 o. Prof. Kiel. 1845 Etatsrat und Mgl. d. Akademie. 1848 Universitätskurator, Abgeordneter und Vizepräsident der Landesversammlung, 1850 Ehrenbürger von Kiel. 1852 Entlassung, 1853 Bibliothekar und o. Prof. Königsberg. 1858 bis 1874 Berufung an das Kultusministerium Berlin, dort zuletzt Geheimer Oberregierungsrat. Seit 1860 Mgl. pr. Akademie, f28.12.1882. Hauptwerke: Emendationen zum Alten Testament (1826); Observationes criticae ad vetus testamentum (1836); Lehrbuch der hebräischen Sprache (2 Bde. 1861). Lit.: Schräder, Gedächtnisrede, in: Abh. Akad. Berlin, phil. hist. Kl. 1883, Iff.; ADB 24, 328 f. " Waitz, Georg, « 9.10.1813. Studium Kiel, Berlin 1836 bis 1842 Mitarbeiter an den Monumenta Germaniae historica, 1841 Entdeckung der Merseburger Zauberspriiche. 1842 o. Prof. Kiel, 1849 bis 1876 Göttingen. 1848 Bevollmächtigter der provisorischen Regierung Schleswig-Holsteins in Berlin und Abgeordneter der Nationalversammlung. Seit 1875 Mgl. Akad. Berlin, Vorsitzender der Zentraldirektion der MGH, +24.5.1868. Hauptwerke: Deutsche Verfassungsgeschichte (8 Bde. 1843 bis 1878); SchleswigHolsteins Geschichte (2 Bde. 1851-1854); Lübeck unter Jürgen Wullenweber und die europäische Politik (3 Bde. 1855 bis 1856); Grundzüge der Politik (1862). Lit.: Wattenbach, Nachruf, in: Abh. akad. Berlin 1886; R.Schröder, in: ZRG GA 8 (1887) 198; W.Ebel, Catalogus Professorum Gottinginsium (Göttingen 1967), S. 108. 14 Pernice, Alfred Lothar Anton, ,f 18.8.1841. Studium Halle, Göttingen, Tübingen. 1867 Habilitation, 1870 a.o., 1871 o. Prof. Greifswald, 1877 Halle, 1888 Berlin. Seit 1880 Mitherausgeber der ZRG, ab 1884 Mgl. Akad. Berlin, + 23.11.1901. Hauptwerke: Zur Lehre von den Sachbeschädigungen nach römischem Rechte (1867); Marcus Antistius Labeo (3 Bde. 1873 bis 1895). Lit.: Α. Teichmann, in: Biographisches Jahrbuch und Deutscher Nekrolog 6 (1901) 184ff.; E.J. Bekker, in: ZRG GA 22 (1901) XVII ff. 15 Hirschfeld, Otto, * 16.3.1843. Studium Königsberg, Bonn, Berlin. 1869 Habilitation, 1872 a.o. Prof. Prag, 1876 o. Prof. Wien, seit 1885 Berlin. Mgl. Zentraldirektion d. Dt. Archäologischen Instituts, Direktor des Instituts für Altertumskunde, +27.3.1922. Hauptwerke: Die Getreideverwaltung in der römischen Kaiserzeit (1869); Untersuchungen auf dem Gebiete der römischen Verwaltungsgeschichte I (1876); Mitherausgeber des Corpus inscriptionum latinarum. Lit.: Dt. Biographisches Jahrbuch 4 (1922) 358 ff.; Wilken, in: SB Akad. Berlin phil. hist. Kl. 1922, XCVIII. 16 Stutz, Ulrich, "'5.5.1868. Studium Zürich, Berlin. 1894 Habilitation Basel, 1895 a.o. Prof. Basel, 1896 o. Prof. Freiburg, 1904 Bonn, 1917 Berlin. Ab 1897 Mitherausgeber der ZRG, 1918 Mgl. Akad. Berlin, Korresp. Mgl. Akad. München, Göttingen, Senator der Dt. Akad.; Vorsitzender der Hist. Komm. Brandenburg u. Berlin, +6. 7.1938. Hauptwerke: Geschichte des kirchlichen Benefizialwesens I 1 (1895); Das Verwandtschaftsbild des Sachsenspiegels (1890); Die kirchliche Rechtsgeschichte (1905); Die Eigenkirche (1895); Der Geist des Codex juris canonici (1918); zahlreiche Beiträge zum Eigenkirchenwesen.
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Lit.: Α. Schnitze, in: ZRG GA 59 (1939) XVII ff.; tf. S. Bader, Ulrich Stutz als Forscher und Lehrer (1969); A. Bauhofer u. a., Schweizer Beiträge zum Gedächtnis von Ulrich Stutz (1970). 17 Mommsen, Theodor, ^ 13.11.1817. Studium Kiel, Privatlehrer, Studienreisen, 1848 o. Prof. Leipzig, 1850 Entlassung aus pol. Gründen, 1852 o. Prof. Zürich, 1854 Breslau, 1861 Berlin. Ab 1858 Mgl. Akad. Berlin, 1874 bis 1895 deren ständiger Sekretär. 1863 bis 1866 und 1873 bis 1879 Mgl. pr. Landtag, 1881 bis 1884 Mgl. Reichstag. 1896 Ehrenbürger von Rom, 1897 Charlottenburg, Vizekanzler des Ordens Pour le merite für Wiss. u. Kunst, 1902 Nobelpreis für Literatur. Seit 1874 Mitherausgeber der MGH. f 1.1.1903. Hauptwerke: Römische Geschichte (3 Bd. 1854-1856); Die römische Chronologie bis auf Caesar (1858); Geschichte des römischen Münzwesens (1860); Römische Forschungen (2 Bd. 1865-1879); Römisches Staatsrecht (1870/71); Römisches Strafrecht (1899); Herausgabe Digesta Justiniani (1870); Corpus inscriptionum latinarum. Lit.: Hirschfeld, Nachruf in: Abh. Akad. Berlin phil. hist. Kl. 1904 1 ff.; G.Kleinheyer/ J.Schröder, Deutsche Juristen aus fünf Jahrhunderten (21983) 185 ff.; F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit ( 2 1967) 417ff.; L. Wickert, Theodor Mommsen - eine Biographie. Bd. 1-4. Frankfurt/M. 1959-1980; ]. Kuczynski - Theodor Mommsen - Porträt eines Gesellschaftswissenschaftlers. Studien zu einer Geschichte der Gesellschaftswissenschaft 9. Berlin (0) 1978. 1! Schäfer, Dietrich, * 16. 5.1845. Studium Jena, Heidelberg, Göttingen, 1877 o. Prof. Jena, 1885 Breslau, 1888 Tübingen, 1896 Heidelberg, 1903 Berlin. Seit 1903 Mgl. Akad. Berlin, Mgl. Akademien Göttingen, München, Kopenhagen, Christiania, Stockholm, Upsala, Helsingfors, Utrecht. Ehrendoktor Christiania u. Groningen, Mgl. Zentraldirektion MGH, f 12.1.1929. Hauptwerke: Die Hansestädte und König Waldemar von Dänemark (1879); Hanserezesse (9 Bd. 1881-1913); Die Hanse (1903); Weltgeschichte der Neuzeit (2 Bd. 1907); Deutsche Geschichte (2 Bd. 1927). Lit.: J.Jagow, Dietrich Schäfer und sein Werk (Berlin 1925); A. Brackmann, Gedächtnisrede, in: SB Akad. Berlin phil. hist. Kl. 1929, CIVff. " Bruns, Karl-Georg, ! ; '24.2.1816. Studium Göttingen, Heidelberg, Tübingen. 1839 Habilitation, 1844 a.o. Prof. 1849 o. Prof. Rostock, 1851 Halle, 1859 Tübingen, 1861 Berlin. Seit 1875 Mgl. Akad. Berlin, f 10.12.1880. Hauptwerke: Das Recht des Besitzes im Mittelalter und in der Gegenwart (1848); Zur Geschichte der Cession (1868); Die Besitzklagen des römischen und heutigen Rechts (1874); Fontes juris romani antiqui (seit 1860). Lit.: ADB 47, 306ff. 20 Brunner, Heinrich, K 21.6.1840. Studium Wien, 1861 Mgl. Inst. f. öst. Geschichtsforschung, 1865 Habilitation, 1868 o. Prof. Lemberg, 1870 Prag, 1872 Straßburg, 1873 Berlin. Seit 1884 Mgl. Akad. Berlin. Seit 1887 Mgl. Zentraldirektion MGH. Vorsitzender der Deputation des DJT, Mgl. pr. Herrenhaus, f 2 1 . 8.1915. Hauptwerke: Entstehung der Schwurgerichte (1872); Zur Rechtsgeschichte der römischen und germanischen Urkunde (1880); Deutsche Rechtsgeschichte (1887/92); Forschungen zur Geschichte des deutschen und französischen Rechts (1894); Der Leihezwang in der deutschen Agrargesellschaft (1897); Grundzüge der dt. Rechtsgeschichte (1901). Lit.: Smend, (Anm.6) 115; E.Seckel, Nachruf, in: SB Akad. Berlin 1916, 767f.; U.Stutz, in: ZRG GA 36 (1915) IXff. 21 Heymann, Ernst, *6.4.1870. Studium Breslau, 1896 Habilitation, 1899 a.o. Prof. Berlin, 1902 o. Prof. Königsberg, 1904 Marburg, 1914 Berlin. Leiter des Inst. d. KWG f. ausländisches u. internationales Privatrecht Berlin, dann Tübingen. Seit 1916 Mitherausge-
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ber der ZRG, seit 1927 Mitherausgeber der Z. f. aus), u. internat. Privatrecht, seit 1925 Herausgeber der Z. f. vergl. Rechtswiss. Mgl. d. Zentraldirektion der M G H . Seit 1918 Mgl., 1926 bis 1938 ständiger Sekretär, 1938 bis 1942 Vizepräsident der Akad. Berlin, Mgl. Akad. Göttingen, München, Wien, Haag und Akad. f. dt. Recht, 12.5.1946. Hauptwerke: Die Grundzüge des gesetzlichen Verwandtenerbrechts nach dem BGB (1896); Zur Geschichte des jus ad rem (1911); Das Verschulden bei Erfüllungsverzug (1913). Lit.: Η. Mitteis, in: Z R G GA 65 (1957) IXff.; N D B 9, 88f. 22 (v.) Gneist, Rudolf, * 13. 8.1816. Studium Berlin, 1839 Habilitation, 1841 Kammergerichtsassessor, 1845 a. o. Prof. Berlin, 1847-1849 Hilfsarbeiter am Obertribunal, 1850 Rücktritt vom Richteramt aus politischen Gründen, 1858 o. Prof. Berlin, 1859-1893 Mgl. pr. Abgeordnetenhaus, 1858-1875 Stadtverordneter Berlin, 1868-1884 Mgl. Reichstag, 1875 Richter am pr. Oberverwaltungsgericht, 1884 Mgl. pr. Staatsrat, 1888 Nobilitierung, f22.7.1895. Hauptwerke: Uber die Bildung der Geschworenengerichte (1849); Das heutige englische Verfassungs- und Verwaltungsrecht (2 Bd. 1857/60); Der Rechtsstaat und die Verwaltungsgerichte in Deutschland (1872); Englische Verfassungsgeschichte (1882). Lit.: Kleinhey er/Schröder, 99 ff.; Landsberg III 2, 963 ff. ADB 49, 412 f.; E.Schiffer, Rudolf von Gneist (1929). 25 Dernburg, Heinrich, ''3.3.1829. Studium Gießen, 1851 Habilitation Heidelberg, 1854 a.o., 1855 o. Prof. Zürich, 1865 Halle, 1873 Berlin. Mgl. pr. Herrenhaus, f23.11.1907. Hauptwerke: Uber die emptio bonorum (1850); Geschichte und Theorie der Kompensation (1852); Das Pfandrecht nach den Grundsätzen des heutigen römischen Rechts (2 Bde. 1860/64); Die Institutionen des Gaius (1869); Lehrbuch des preußischen Privatrechts (3 Bde. 1871-1880); Pandekten (3 Bde. 1884/87); Das bürgerliche Recht des Deutschen Reiches (6 Bde. 1905-1915). Lit.: Η. Sinzheimer, Jüdische Klassiker der dt. Rechtswissenschaft (Frankfurt a. M. 1963) 73 ff.; N D B 3, 608ff. 24 Seckel, Paul Georg Emil, * 10.1.1864. Studium Leipzig, Tübingen. 1895 Privatdozent, 1898 a.o. Prof., 1901 o. Prof. Berlin, +26.4.1924. Hauptwerke: Beiträge zur Geschichte beider Rechte im Mittelalter (1898); Die Aufhebung und Wiederherstellung der ehelichen Gemeinschaft (1900); Die Gestaltungsrechte des bürgerlichen Rechts (1903). Lit.: P.Abraham, E.Seckel (1925). 25 Titze, Heinrich, *23.10.1872. Studium Heidelberg, Berlin, Leipzig. 1900 Habilitation, 1902 a.o. Prof. Göttingen, 1908 o. Prof. Frankfurt, 1923 Berlin. Im Nebenamt zeitweise Kammergerichtsrat, f 7 . 4 . 1 9 4 5 . Hauptwerke: Unmöglichkeit der Leistung nach deutschem Bürgerlichem Recht (1900); Familienrecht (1906); Recht der Schuldverhältnisse (1923). Lit.: Ε. Heymann, in: Zeitschrift f. ausl. u. intern. Privatrecht 14 (1942) Vff. 26 Vgl. Anm.2. 27 v. Wilmowski, Gustav Adolf, * 17. 8.1818. Studium Bonn, Berlin. 1838 Justizdienst (Referendar), 1844 Obergerichtsassessor Wollstein, 1849 Rechtsanwalt Schlawe (Generalbevollmächtigter Bismarcks für dessen Gutsverwaltung in Varzin), 1869 Breslau, 1872-1891 Berlin. Vorstandsvorsitzender der Anwaltskammer des Kammergerichtsbezirks, Mitarbeit in der Bundesratskommission zur Vorbereitung einer dt. Z P O 1871-1872. 1888 Ehrenpromotion Berlin, f28.12.1896. Hauptwerke: Lübisches Recht in Pommern (1867); Beiträge zum pommerschen Lehn-
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IV. Gleich zu Beginn des Wirksamwerdens der Stiftung wurden beträchtliche Summen zur Forschungsförderung durch die Akademien vergeben. Den Anfang machte Wien - programmatisch das Bemühen, von Anfang an nicht einen eng Berlin-preußisch orientierten Forschungsfond zu installieren, sondern der europäischen Weite des Savigny'sehen Blickes gerecht zu werden. Die drei ersten Projekte rührten denn auch aus allen drei klassischen Teilgebieten der europäischen Rechtsgeschichte; und daß nicht alle drei fertig wurden, sondern eines Torso blieb33, ist vielleicht auch kennzeichnend für das Gedeihen und die Irrungen, in die Forschung nun einmal geraten kann. Fußnoten 28-32 zu Seite 104 recht (1870); Herausgeber und Mitarbeiter an Kommentaren zur ZPO und KO. Lit.: ADB 55, 96. 2,1 Stölzel, Adolf, * 28.6.1831. Studium Marburg, Heidelberg. 1860 Assessor, später Richter Stadt- bzw. Kreisgericht Kassel, 1872 Kammergerichtsrat, 1873 Vortragender Rat im Justizministerium, seit 1875 Mitglied, seit 1886 Präsident des Justizprüfungsamts, 1887 o. Prof. Berlin. 1872 Ehrenpromotion Marburg. Mitglied des pr. Herrenhauses, f 19.4.1919. Hauptwerke: Handbuch des kurhessischen Zivil- und Zivilprozeßrechts (2 Bde. 1960); Die Entwicklung des gelehrten Richtertums (2 Bde. 1872); Recht der väterlichen Gewalt in Preußen (1874); Carl Gottlieb Suarez (1885); Brandenburg-Preußens Rechtsverwaltung und Rechtsverfassung (1888). Lit.: U.Stutz, in: ZRG GA 40 (1919) 393f. 29 Damme, Felix, 24.3.1854. Studium Heidelberg, Leipzig, Göttingen, Berlin. 1877 Gerichtsassessor, 1884 Staatsanwalt in Frankfurt a. M., dann Stadtverwaltung Danzig, 1886 Hilfsarbeiter des Innenministeriums, 1888 Staatsanwalt Kiel, dann Patentamt Berlin, 1911 Richter am pr. OVG, 114.11.1928. Hauptwerke: Das deutsche Patentrecht (1906); Der Schutz technischer Erfindungen als Erscheinungsform moderner Volkswirtschaft (1910). Lit.: Wer ist's 1928, 1935; Handbuch über den preußischen Staat 1884 u. ö.; Deutsche Juristen-Zeitung 1911, 686. 30 Meyen, Ludwig, * 19.9.1820, 1850 Gerichtsassessor, 1851 Staatsanwalts-Gehilfe des StA in Prenzlau am Kreisgericht Angermünde, 1854 Berlin, 1856 Staatsanwalt Berlin, 1865 Justizrat, Rechtsanwalt und Notar Berlin, fnach 1894. Lit.: Jahrbuch der preußischen Gerichtsverfassung 1851-1890. 31 Wilke, Karl, 1892 Rechtsanwalt, seit 1902 Rechtsanwalt und Notar beim Kammergericht, ab 1907 Justiziar bei der preußischen Staatsbank. Lit.: Handbuch für den preußischen Hof und Staat versch. Jg.; Jahrbuch der preußischen Gerichtsverfassung 1890-1914. 32 Seligsohn, Arnold, * 13.9.1854. Studium Leipzig, Heidelberg, Berlin. 1882 Rechtsanwalt und Notar Berlin, Ehrenpromotion Berlin (rer. pol.) Vorsitzender des Kuratoriums der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. 11939. Hauptwerke: Patentgesetz und GebrauchsmusterschutzG - Kommentar (1892, 7. Aufl. 1932); WarenzeichenG - Kommentar (1894 u.ö.). Lit.: E.Lowenthal, Juden in Preußen (Berlin 1981) 207; Wer ist's 1935; Kürschners Gelehrten-Kalender 1926. 33 Die Schwabenspiegelausgabe Rockingers später v. Voltelinis.
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I m folgenden w i r d , o h n e d a ß Vollständigkeit g e b o t e n wird 3 4 , geglied e r t n a c h den drei klassischen F ä c h e r n , auf die wichtigsten E r g e b n i s s e hingewiesen (die J a h r e s z a h l weist auf das E r s c h e i n e n der P u b l i k a t i o n ) . I m g e r m a n i s t i s c h e n B e r e i c h w u r d e n unter a n d e r e m g e f ö r d e r t : Liebermann, Die Gesetze der Angelsachsen. 1898-1903 (5100,-) Lehmann, Consuetudines feudorum. 1892; den., Das langobardische Lehnrecht. 1896 (3000,-) Steffenhagen, Sachsenspiegel-Glosse (Vorstudien 1881-1921). (6900,-) Friese-Liesegang, Magdeburger Schöffensprüche. 1901. (9500,-) Gaudenzi, Storia del diritto longobardo in Italia. (4000,-) Knapp, Zehntbuch des Hochstifts Würzburg. 1907 (6900,-) v. Voltelini, Südtiroler Notariats-Imbreviaturen. 1899. (2000,-) v. Amira (ursprünglich Zallinger), Dresdner Bilderhandschrift des Sachsenspiegels. 1902. (4000,-) Borchling-v. Gierke, später mit Eckhardt Neubearbeitung von Homeyers Rechtsbücherverzeichnis. 1931/1934. (4250,-) Rosenthal, Geschichte des Gerichtswesen in Bayern. 1906. Bd. 2. (3000,-) Deutsches Rechtswörterbuch. 1914 ff. (20000,-) Sieveking, Italienische Handlungsbücher. 1915. (4100,-) Gal, Summa legum. 1926. (2400,-) A u c h die K a n o n i s t i k erfuhr d u r c h die Savigny-Stiftung eine beachtliche Förderung: Maassen, Geschichte der Quellen und Literatur des Kanonischen Rechts. 1870. (4500,-) Thaner, Kirchenrechtliche Quellen. 1906/15. (6900,-) v. Glanvell, Deusdedit. 1905 (3000,-) Wahrmund, Quellen zur Geschichte des römisch-kanonischen Prozesses. 1905 ff. (8100,-) D a s S p e k t r u m der im B e r e i c h des r ö m i s c h e n R e c h t s
geförderten
A r b e i t e n e r s t r e c k t sich v o n antiker P a p y r o l o g i e bis z u r G e s c h i c h t e d e r L e g i s t i k i m M i t t e l a l t e r ; das wichtigste W e r k ist sicher die M o m m s e n Krüger'sche Corpus Juris-Ausgabe. Lenel, Edictum perpetuum. 1883. (6900,-) Krüger, Codex Justinianus. 1877. (11 700,-) Malagola/Friedländer, Acta nationis germ. univ. Bononiensis. 1887. (6900,-) Günther, (ursprünglich Ewald), Avellana. 1895/98. (4400,-) Gradenwitz/Kübler/Schultze, Vocabularium iurisprudentiae romanae. 1894 ff. (21660,-) Kantorowicz, Albertus Glandinus u.d. Strafrecht d. Scholastik. 1907-1926. (1200,-) Wenger, Byzantinische Papyrusurkunden. 1914. (2000,-) v. Mayr, Vocabularium codicis Iustiniani. 1923 ff. (3400,-) Neumayer, Die gemeinrechtliche Entwicklung des IPR. (300,-) Kantorowicz /Schulz, Diplovatatius. 1919. (3300,-) San Nicolo, Schlußklausel. 1922. (1000,-) D i e F ö r d e r u n g e n einzelner V o r h a b e n erfolgte z u n ä c h s t meist ü b e r (Reise)Stipendien, teilweise w a r e n es ausgesetzte Preise, b e g o n n e n m i t * Eine Aufgliederung findet sich in den Übersichten bei Bruns (Anm. 8); Brunner (Anm.9) und U.Stutz, Die Savigny-Stiftung seit 1901, in: ZRG GA 46 (1926) IXff.
110
Friedrich Ebel
der Förderung des Edictum perpetuum in Weiterverfolgung der bekannten Versuche Rudorffs. Seit der Jahrhundertwende nehmen Druckkostenzuschüsse einen immer breiteren Raum ein. Ab 1888 wird auch die Zeitschrift für Rechtsgeschichte subventioniert, zunächst im Bereich der Honorare, dann als Druckkostenbeihilfe (s. u. V). Die nach dem Ersten Weltkrieg eintretende Inflation vernichtete weitgehend die Mittel der Stiftung; 1923 deckten die nominell hohen Guthaben nicht mehr die Kontogebühren, weshalb die Bank das Konto aufhob. Das Ende dieser Förderung von Forschung durch private Stifter-Initiative in Selbstverwaltung der betroffenen Wissenschaftler ist charakteristisch für das Schicksal der Forschung im Deutschland des 20. Jahrhundert überhaupt. An ihre Stelle tritt der Staat, zunächst über unterstützte Hilfsorganisationen, namentlich die „Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft". Das gilt für die Unterstützung (das ist Rettung) der ZRG, den Index interpolationum, Gäl's Summa legum oder die Neubearbeitung des Homeyer". Stutz hat 1926 in seinem (dem letzten) Bericht über die Tätigkeit der Stiftung dies Ende plastisch beschrieben36 (das freilich wohl kein Ende im Rechtssinne ist, denn Vermögensteile haben einerseits durch die Aufwertung die Inflation überdauert, vor allem ist die Zeitschrift als Wert noch existent.) Der durch das Statut angesprochene rechtsvergleichende Aspekt wurde mit geringen Ausnahmen nicht weiter verfolgt, wenn man nicht die stets vorhandene Internationalität der Rechtsgeschichte hierher zählen will - die Absicht der Gründer ging aber weiter. Die Akzentverlagerung auf das Geschichtliche entsprach nicht nur (was zu erwarten war) dem Zug der Zeit; die Persönlichkeiten der Gründer und Kuratoriumsmitglieder waren mehr noch Anstoß dafür, daß ihrerseits die Stiftung diesen Zug der Zeit formierte. Geschichte war gerade im Zeitalter der Kodifikationen Führungswissenschaft, der Historismus dieser Nachblüte der Historischen Schule bewußt erlebtes Seitenstück des Positivismus. V. Besonderer Erwähnung bedarf die Zeitschrift für Rechtsgeschichte. Die ZRG 1 war 1861 gegründet als Nachfolgerin von Savigny's „Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft" (1815-1848) und sollte, den Schulenstreit der Rechtshistoriker endgültig begrabend, ein Forum für die neue Rolle der Rechtsgeschichte seit dem letzten Drittel des
55 36
Vgl. den Vermerk in SB Akad. Berlin phil.-hist. Kl. 1934, LXXVI. Stutz (Anm.34) X X ff.
Die Savigny-Stiftung
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19. Jahrhunderts darstellen37. Diese gedachte Kontinuität war so stark, daß die jährlichen Berichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin über die Savigny-Stiftung seit 1882 den Vermerk führen, daß „die von Savigny gegründete" ZRG Organ der Stiftung sei. Gründer waren Bruns, Rudorf"f, Roth, Merkel und Böhlau, letzterer der eigentliche erste Motor. Ab 1880 führte die ZRG den Zusatz „Zeitschrift der Savigny-Stiftung", was von den Organen der Stiftung gebilligt wurde, äußeres Zeichen für die Verbundenheit 38 . Die Zeitschrift wollte Forum sein für die Arbeiten aus dem Kreis der Stiftung, zugleich beabsichtigt und später notwendig war eine wirtschaftliche Absicherung 3 '. Seit 1880 in zwei Abteilungen erscheinend, trat neben die germanistische und romanistische Abteilung ab 1911 noch eine kanonistische, was bis heute durchgeführt wird. Der demnächst erscheinende hundertste Band dieser „berühmtesten Zeitschrift Deutschlands" 40 zeugt von der Lebenskraft der Rechtsgeschichte. Die wissenschaftsgeschichtliche Rolle der ZRG ist natürlich in den vielen Jahren ihres Bestehens nicht gleich geblieben, weder in bezug auf die Intention der Redaktoren noch auf die Wirkung ihrer Beiträge. Der Ansatzpunkt ist als positivistisch bezeichnet worden; das ist nicht unrichtig, doch unvollständig. Es ist vornehmlich der Liberalismus, der in der Zeitschrift unstreitig höchsten wissenschaftlichen Ranges ein gelehrtes Forum geschaffen hat, das seinerseits Vorbild für entsprechende Zeitschriften des Auslandes wurde. Zu den rechtshistorischen Leistungen innerhalb und außerhalb der Z R G angestoßen, sie gefördert und verbreitet zu haben, ist bleibendes Verdienst der Savigny-Stiftung und ihrer Gründerin, der Juristischen Gesellschaft zu Berlin.
,7
Vgl. die Jahresberichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin 18 (1876/77) 12. H. Thieme, Hunden Jahre Zeitschrift für Rechtsgeschichte, in: ZRG GA 78 (1961) XIIff.; J.Falenciak, Programm der „Zeitschrift für Rechtsgeschichte", in: Germanica Wratislavensia 4. Zeszty Naükowe Uniwersytetu Wroclawskiego A Nr. 24 (Warszawa, Wroclaw 1960) 147ff. " Thieme (Anm. 38) XII. 40 So Sinzheimer (Anm. 23) S. 103. 38
Schule und Parlamentsvorbehalt H A N S - U W E ERICHSEN
Das Gebot, die Geduld der Zuhörer nicht über Gebühr zu strapazieren, ließ es nicht zu, 1978 in unserem Vortrag vor der Berliner Juristischen Gesellschaft 1 der Frage: „Schule und Gesetzesvorbehalt" mehr als einige Marginalien zu widmen 2 . Wenn sich auch zwischenzeitlich Gelegenheit ergab, zur Verteilung der staatlichen Verantwortung für die Schule auf Gesetzgebung und Verwaltung Stellung zu nehmen 3 , so bietet doch der jetzige Anlaß Gelegenheit, einiges nachzutragen und den bisher nur peripher behandelten Fragen des Parlamentsvorbehalts nachzugehen. Legt der Parlamentsvorbehalt 4 das Ausmaß formell-gesetzlicher Regelungsdichte und Bestimmtheit fest, so steht er, wie auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zunehmend deutlich wird 5 , zum Gesetzesvorbehalt in einem Stufen Verhältnis. Es handelt sich beim Parlamentsvorbehalt mithin um einen zum Delegationsverbot verdichteten Gesetzesvorbehalt'. Ein so verstandener Parlamentsvorbehalt kann demnach nur dann eingreifen, wenn eine staatliche Maßnahme überhaupt dem Gesetzesvorbehalt unterfällt 7 . Die Frage nach der Geltung des Parlamentsvorbehalts im Schulwesen führt also zunächst zu dem
1
Verstaatlichung der Kindeswohlentscheidung? l . A u f l . 1978, 2. Aufl. 1979. A . a . O . S.6f. 5 Erichsen in Festschrift für Scupin, 1983 S. 721 (731 f.). 4 Dieser Begriff wird nunmehr auch vom BVerfG - Ε 57 S. 295 (321) sowie Ε 58 S. 257 (268, 274) - und vom BVerwG - Ε 56 S. 130 (137) - gebraucht. Vgl. jüngstens H e s s V G H D Ö V 1983 S. 858 f. Vgl. auch den Bericht der Kommission Schulrecht, Schule im Rechtsstaat, Bd. I, 1981, S. 206; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 3 7 I 4. 5 Vgl. schon BVerfGE 47 S.46 (79) und zuletzt BVerfGE 57 S.295 (320); 58 S.257 (268, 274). N ä h e r dazu Erichsen, VerwArch Bd.67 (1976) S.97ff.; Bd.69 (1978) S.387 (390); Bd. 70 (1979) S.249f.; Krebs, Jura 1978 S.304 (312). Ähnlich Falckenberg, BayVBl. 1978 S. 166; Scholz/Bismark in Schule im Rechtsstaat, Bd. II, 1980 S. 109; Lerche, Bayerisches Schulrecht und Gesetzesvorbehalt, 1981 S.58f.; Bethge, N V w Z 1983 S.577 (578). ' Vgl. Krebs, Jura 1979 S.304 (312); E.-W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 2. Aufl. 1981 S.393. 7 Dementsprechend genügt den Anforderungen dieses Parlamentsvorbehalts nicht der schlichte Parlamentsbeschluß oder gar die Entscheidung eines Parlamentsausschusses. 2
114
Hans-Uwe Erichsen
Problem, ob und inwieweit staatliche Maßnahmen in diesem Bereich dem Gesetzesvorbehalt unterfallen 8 . I. Der Gesetzesvorbehalt 1. Das traditionelle Verständnis des
Gesetzesvorbehalts
Der Verfassungsgrundsatz des Vorbehalts des Gesetzes hat in der deutschen Verfassungsgeschichte eine lange Tradition'. Für Inhalt und Bedeutung dieses Grundsatzes ist bis heute bedeutsam, daß er stets in einem hochgradig verdichteten Spannungsfeld von Verfassungsrecht und Verfassungspolitik angesiedelt war. Im Verlaufe des 19. Jahrhunderts setzte sich die Auffassung durch, daß staatliche Eingriffe in Freiheit und Eigentum des Gesetzes bedurften. Solche Eingriffsgesetze wurden zunächst an die Zustimmung der Landstände und in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts an die Mitwirkung der Parlamente gebunden. Spätestens unter der Geltung der Weimarer Reichsverfassung hatte sich als nahezu unbestrittener Verfassungsgrundsatz durchgesetzt, daß jeder Eingriff in Freiheit und Eigentum des Bürgers nur durch Gesetz oder aufgrund einer formell-gesetzlichen Ermächtigung des nunmehr demokratisch legitimierten Gesetzgebers erfolgen dürfe10. Insoweit besteht auch heute noch weitgehende Einigkeit, obwohl der Grundsatz - im Gegensatz zu einigen Landesverfassungen" - in den Text des Grundgesetzes nicht aufgenommen wurde. 2. Traditioneller Gesetzesvorbehalt und Schulwesen Bildung und Erziehung in der Schule ist Einwirkung des Staates auf Kinder und Jugendliche. Diese Einwirkung erfolgt einerseits durch Geund Verbote und hält sich insoweit im Rahmen der Eingriffsverwaltung. In der Veranstaltung des Unterrichts liegt andererseits ein Leistungsangebot des Staates gegenüber den Schülern. Das gilt auch im Hinblick auf das schulpflichtige Kind, welches nur hinsichtlich Begründung, Änderung und Beendigung des Schulverhältnisses anders gestellt ist als das nicht mehr schulpflichtige Kind. ' Dazu auch Löhning, Der Vorbehalt des Gesetzes im Schulverhältnis, 1974; Niehues, DVB1. 1980 S. 465 ff. ' Vgl. dazu etwa Erichsen, Verfassungs- und verwaltungsrechtsgeschichtliche Grundlagen der Lehre vom fehlerhaften belastenden Verwaltungsakt und seiner Aufhebung im Prozeß, 1971 S. 135f.; dens., Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit I, 3. Aufl. 1982 S. 85ff.; Jesch, Gesetz und Verwaltung, 2. unveränderte Aufl. 1968 S. 102f.; Selmer, JuS 1968 S.489 (490 f.). 10 Vgl. etwa Thoma in Anschütz/Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, 1932 S. 221 ff. 11 Art. 58 bad.-württ. Verf.; Art. 70 Abs. 1 bay. Verf.; Art.2 Abs.2 hess. Verf.; Art. 32 nieders. Verf.; Art.45 Abs. 1 bin.Verf.
Schule und Parlamentsvorbehalt
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Stellt sich demnach die schulische Verwirklichung des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags auch als Gemenge von Maßnahmen der Eingriffs- und der Leistungsverwaltung dar12, so ist doch die einzelne Maßnahme des Staates jeweils nach Maßgabe der einschlägigen Regelungen zu beurteilen. Soweit es allerdings um den Gesamtkomplex staatlich-schulischen Bildungs- und Erziehungswesens geht, ist zu beachten, daß die Mittel der Eingriffsverwaltung in diesem Bereich nur eine flankierende Rolle spielen, zur Wegbereitung für das Bildungs- und Erziehungsangebot des Staates dienen. Diese instrumentale Funktion der Elemente der Eingriffsverwaltung im Rahmen schulischer Einwirkung auf das Kind führt dazu, den Gesamtkomplex der in öffentlichen Schulen erfolgenden Bildung und Erziehung der Kinder und Jugendlichen der Leistungsverwaltung zuzuordnen 13 . Gegenüber den Eltern, die - wenn überhaupt - nur im Zusammenhang mit ihrer Aufsichtspflicht staatlichen Eingriffen ausgesetzt sind, gilt dies in verstärktem Maße. Wie schon an anderer Stelle dargelegt, ist daher der Grundsatz des Gesetzesvorbehalts bei Zugrundelegung seines herkömmlichen Inhalts, wegen der leistungsstaatlichen Struktur dieses Bereichs staatlicher Aufgabenerfüllung nicht geeignet, eine brauchbare Grundlage für die Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis der Kompetenz von Gesetzgebung und Verwaltung im Schulwesen zu liefern 14 . 3. Das heutige Verständnis des
Gesetzesvorbehalts
Es besteht indes weitgehende Ubereinstimmung darüber, daß mit dem traditionellen Eingriffsvorbehalt die Reichweite des Gesetzesvorbehalts im geltenden Verfassungsrecht nicht erschöpft sein kann, daß heute vielmehr ein erweiterter Gesetzesvorbehalt gilt15. Zweifelhaft ist allerdings, wie dieser erweiterte Gesetzesvorbehalt zu begründen ist und welche Bereiche er faßt. a) Die zunächst in der Rechtswissenschaft geführte Diskussion um die Anpassung des Grundsatzes zum Vorbehalt des Gesetzes an die heutige Verfassungsrechtslage hat im vergangenen Jahrzehnt entscheidende Impulse von der höchstrichterlichen Rechtsprechung erfahren. So hat das Bundesverfassungsgericht in der Strafgefangenenentscheidung vom 14. März 1972, allerdings ohne dies ausführlich zu begründen, festgestellt, daß die Grundrechte auch in den besonderen Gewaltverhält-
12
So auch BVerwGE 47 S.201 (204); Niehues, Schul- und Prüfungsrecht, 1976 S.48; Lerche (Fn.5) S.54. 15 Vgl. auch VG Hamburg; NJW 1976 S.75 (77) Fockenberg, BayVBl. 1978 S. 166 (167); Starck, DÖV 1979 S.269 (270). " Erichsen (Fn.3) S.731. 15 Niehues, DVB1. 1980 S.465f.
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Hans-Uwe Erichsen
nissen gelten und nur durch oder aufgrund eines Gesetzes einschränkbar seien". Weitere Anstöße gingen von der Numerus-clausus-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 1972 aus, die dem Gesetzgeber die Entscheidung über die Verteilung solcher knapper Leistungen des Staates vorbehielt, die für die Ausübung von Grundrechten von Bedeutung sind17. Den entscheidenden verfassungsrechtlichen Ansatz für eine Neubestimmung des legislativen Vorbehaltsbereiches hat das Bundesverfassungsgericht indes in der Facharztentscheidung vom 9. Mai 1972 mit dem Rückgriff auf die Prinzipien des Rechtsstaates und der Demokratie formuliert18. Die dort erfolgte Begründung des Gesetzesvorbehalts unter Rückgriff auf die Prinzipien des Rechtsstaats und der Demokratie wurde vielfach aufgenommen und in Rechtsprechung und Schrifttum im Hinblick auf die verschiedensten Lebensbereiche, u.a. auch das Schulwesen", dahin formuliert, daß der Gesetzgeber verpflichtet sei, im Verhältnis Staat-Bürger alle „wesentlichen" Entscheidungen selbst zu treffen20. b) Demgegenüber ist einerseits darauf hinzuweisen, daß nach dem in Art. 20 Abs. 2 G G zum Ausdruck kommenden Demokratieverständnis nicht nur den Organen der Gesetzgebung, sondern auch denen der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung eine auf das Volk zurückgehende, demokratische Legitimation zukommt21. Zum anderen handelt es sich beim Rechtsstaats- und Demokratieprinzip um verfassunggestaltende Grundentscheidungen, die der konkretisierenden Entfaltung nach Maßgabe grundgesetzlicher Regelungen bedürfen22 und denen sich daher kaum oder allenfalls sehr begrenzt einzelfallbezogene
" BVerfGE 33 S. 1 ff. 17 BVerfGE 33 S.303 (333 f., 336 f.). 18 BVerfGE 33 S. 125 (158). " BVerfGE 45 S.400 (417/418). Vgl. auch BVerfGE 58 S.257 (268); 47 S.46 (78); 41 S.251 (260); 34 S. 165 (192f.); BVerfGE 47 S. 194 (198); 56 S. 155 (157); 64 S.308 (310); HessVGH D Ö V 1983 S. 858/859; Evers, JuS 1977 S. 804 (806 f.); Oppermann, Gutachten, 5 1 . D J T , Bd. I, Teil C, 1976, C 49; Starch, N J W 1976 S. 1375 (1377); Falckenberg, BayVBl. 1978 S. 166 (167); Stüer, J R 1974 S.445 (449). 20 BVerfGE 40 S.237 (249); BVerfGE 47 S.194 (196); 201 (203); 48 S.305 (308); 65 S.323 (325); O V G Münster DVB1. 1978 S.62 (63 f.); HessVGH J Z 1977 S.223 (224); Schmidt-Aßmann in Festschrift für H . P . Ipsen, 1977 S. 345 f.; Ossenbühl, Gutachten, 5 0 . D J T , Bd. I, Teil B, 1974, Β 75 ff.; Henke, AöR Bd. 101 (1976) S.576 (589); Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 13. Aufl. 1982 S. 195 (Rdn. 509); w. Nachw. bei Erichsen in Festschrift für Hans J. Wolff, 1973 S.219 (244). 21 Vgl. BVerfGE 49, S. 89 (125); Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, 1968 S. 187ff., 199; E.-W. Böckenförde/Grawert, AöR Bd. 95 (1970) S. 1 (25 f.); Starck, D Ö V 1979 S.269 (270); Erichsen, VerwArch Bd. 67 (1976) S.93 (101). 22 Vgl. BVerfGE 42 S.312 (330); 44 S. 125 (138). Vgl. auch Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit II, 2. Aufl. 1979 S.24; Schlink, Die Amtshilfe, 1982 S. 131.
Schule und Parlamentsvorbehalt
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Aussagen darüber abgewinnen lassen, was wesentlich ist und was nicht23. Diesen Bedenken hat sich das Bundesverfassungsgericht nicht verschlossen24 und die Wesentlichkeit staatlicher Entscheidung vielfach unter Rückgriff auf den „Schutz der Grundrechte" 25 , ihre „Grundrechtsrelevanz" 26 bestimmt, ohne daß damit freilich Begründung und Reichweite des Gesetzesvorbehalts abschließend bestimmt wären27. c) Die Grundrechte sehen in ihrer Mehrzahl ausdrücklich vor, daß die ihrem Regelungsbereich unterfallenden Freiheiten nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes begrenzt, inhaltlich ausgestaltet oder eingeschränkt werden dürfen. Auch soweit es der Grundrechtsnorm an einem ausdrücklich formulierten Gesetzesvorbehalt fehlt, gewährleistet sie, wie das Bundesverfassungsgericht mehrfach betont hat2', nicht unbegrenzte Freiheit. Vielmehr sind, wie das Gericht schon früh zutreffend festgestellt und zwischenzeitlich mehrfach hervorgehoben hat, „Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte . . . mit Rücksicht auf die Einheit der Verfassung und die von ihr geschützte gesamte Wertordnung ausnahmsweise imstande, auch uneinschränkbare Grundrechte in einzelnen Beziehungen zu begrenzen"". Die Frage ist allerdings, ob aus dem Fehlen eines ausdrücklichen Gesetzesvorbehalts zu folgern ist, daß die Exekutive oder Judikative über den begrenzenden Ausgleich der Verfassungsgüter originär entscheiden darf. Der vielen Grundrechten beigefügte Gesetzesvorbehalt bewirkt, daß die Entscheidung über Begrenzung und Einschränkung von Grundrechten in einem besonders qualifizierten Verfahren unter Beteiligung mehrerer
23 Vgl. auch BVerfGE 57 S.250 (276); 45 S.400 (418f.) und zur Kritik Erichsen in Festschrift für Hans J.Wolff, 1973 S.219 (244); Kisker, N J W 1977 S. 1313 (1317f.); Ossenhühl, D Ö V 1980 S. 545 (549 f.); Löhning, Der Vorbehalt des Gesetzes im Schulverhältnis, 1974 S. 164. Im übrigen auch Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 1970 S. 282. 24 Vgl. BVerfGE 47 S.46 (78ff.); dazu auch Oppermann, J Z 1978 S.289 (292); vgl. auch BVerfGE 49 S.89 (126 f.). Aus dem Schrifttum vgl. etwa Kisker, N J W 1977 S. 1313 (1317f.); Nevermann, VerwArch Bd.71 (1980) S.241 (246f.); Lerche (Fn.5) S.35ff. 25 BVerfGE 47 S.46 (79); vgl. auch BVerfGE 49 S.89 (126f.); 61 S.260 (275) und den Bericht der Kommission Schulrecht des DJT (Fn. 4) S. 45 f. 2 ' Vgl. etwa BVerfGE 47 S.46 (79f.); 57 S.295 (321); 56 S. 1 (13); 62 S. 169 (182/183); BVerwG D Ö V 1981 S.681 (682); BVerwGE 56 S. 155 (157); BayVerfGH BayVbl. 1980 S. 368 (370); O V G Münster N J W 1976 S.725 (726); Kisker (Fn.7) S.15; Bethge, NVwZ 1983 S. 577 (578). 27 Vgl. auch BVerwGE 64 S.308 (315f.); BVerwG DVB1. 1982 S.1004 (1005); Hesse (Fn.20) S. 195 (Rdn. 509); Lerche (Fn.5) S.36; Schlink (Fn.22) S. 135ff. 28 Vgl. etwa BVerfGE 12 S. 1 (4); 30 S. 173 (193); 57 S. 70 (99). M BVerfGE 28 S.243 (261); 47 S.46 (76). Vgl. auch BVerfGE 30 S. 173 (193); 32 S.98 (107f.); 41 S.29 (50); 49 S.24 (56). Kritisch dazu Wülfing, Grundrechtliche Gesetzesvorbehalte und Grundrechtsschranken, 1981 S.87ff.
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unterschiedlich legitimierter und zusammengesetzter Organe, mindestens aber eines in unmittelbarer Wahl durch das Volk bestellten Organs getroffen wird30. Es ist kaum anzunehmen, daß der mit diesem Verfahren intendierte Freiheitsschutz nur den Grundrechten zuteil werden soll, denen der Verfassungsgeber ausdrücklich einen Gesetzesvorbehalt beigefügt hat, zumal ein fehlender Gesetzesvorbehalt eher auf die besondere Schutzwürdigkeit des vorbehaltlos garantierten Grundrechts schließen läßt. Die Grundrechte betreffenden staatlichen Maßnahmen unterliegen demnach nicht nur dann dem Vorbehalt des Gesetzes, wenn dieser der einschlägigen Grundrechtsnorm ausdrücklich beigefügt ist, sondern auch dann, wenn sie sich als Begrenzung vorbehaltlos garantierter Grundrechte darstellen. Zur Begründung des Gesetzesvorbehalts für grundrechtserhebliche staatliche Maßnahmen bedarf es daher jedenfalls nicht des Rückgriffs auf die verfassunggestaltenden Grundentscheidungen für den Rechtsstaat und die Demokratie. Andererseits stellt sich die Frage, ob leistungsstaatliche Maßnahmen überhaupt grundrechtsrelevant sein können. 4. Die Geltung des Gesetzesvorbehalts für leistungsstaatliche Maßnahmen Wesentliche Funktion der Grundrechte ist ehedem wie heute, den Bürger vor Ubergriffen der Staatsgewalt in seine Freiheitssphäre zu schützen. Bei strikter Trennung der Sphären von Staat einerseits und Gesellschaft andererseits geht es demnach im liberalen Rechtsstaat darum, den durch Ge- und Verbot gezielt in den Bereich der Gesellschaft eingreifenden Staat zu disziplinieren. Heute ist indes die Trennung von Staat und Gesellschaft insofern nicht unerheblich relativiert, als staatliche Leistungen vielfach zur Bedingung gesellschaftlicher Existenz geworden sind51. Das breitgefächerte Ausbildungsangebot durch den Staat - flankiert durch Stipendien - ist hierfür beredtes Beispiel32. Entsprechend sind auch die Möglichkeiten des Staates gestiegen, durch Gewährung oder Entzug von Leistungen verhaltenssteuernd auf seine Bürger einzuwirken33. So hat denn auch das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf den „,Leistungsstaat' der Gegenwart" festgestellt, „daß staatliche Einwirkungen in den Bereich der wirtschaftlichen Betätigung zunehmend nicht im Wege eines unmittelbar ,gezielten' Eingriffs erfol50 Vgl. auch Ossenbühl, DÖV 1980 S.545 (549); Kisker, NJW 1977 S. 1313 (1315); H.H. Rupp, AöR Bd. 101 (1976) S.161 (184); Wülfing (Fn.29) S.46f. " Vgl. dazu Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger, 1938 S. 4 £.; Häberle, WDStRL Bd. 30 (1972) S.43 (47, 59, 90f., 96f.); Krebs, Vorbehalt des Gesetzes und Grundrechte, 1975 S.72f.; Erichsen, DVB1. 1983 S.289f. 32 Vgl. dazu auch BVerfGE 58 S.257 (272 f.). 53 Dazu Erichsen, DVB1. 1983 S.289f.
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gen, sondern durch staatliche Planung, Subventionierung oder . . . als Folge einer bestimmten Wahrnehmung von Aufgaben der staatlichen Leistungsverwaltung"34, und hat es bereits in einer früheren Entscheidung erkannt: „Staatliches Handeln, durch das dem Einzelnen Leistungen und Chancen gewährt und angeboten werden, ist für eine Existenz in Freiheit oft nicht weniger bedeutungsvoll als das Unterbleiben eines .Eingriffs'"35. Die Grundrechte können demnach ihre in Art. 1 Abs. 3 GG zum Ausdruck kommende Schutzfunktion nur erfüllen, wenn sie auch als Normen zur Disziplinierung staatlicher Steuerung durch Leistung verstanden werden. Ist aber der Grundrechtsschutz nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Staat nicht mit „klassischen" Eingriffsmitteln, sondern mit Leistungsmaßnahmen auf die Freiheitssphäre der Grundrechtsträger einwirkt, so ist im Hinblick auf den Gesetzesvorbehalt die Unterscheidung zwischen Eingriff und Leistung des Staates grundrechtsdogmatisch unerheblich geworden36. Grundrechtsrelevanz kann staatlichen Maßnahmen indes nicht nur im Hinblick auf subjektivrechtliche Betroffenheit zukommen. Das im Zusammenhang mit dem Sozialstaatsprinzip Wirkkraft entfaltende objektiv-rechtliche Steuerungspotential der Grundrechtsnorm37 läßt die seitens des Staates zur Verwirklichung grundrechtlicher Wertvorgaben ergehenden Maßnahmen als grundrechtsrelevant erscheinen. Ein auf die Grundrechtsrelevanz staatlicher Maßnahmen abstellender Gesetzesvorbehalt verläßt mithin, wie auch das Bundesverfassungsgericht in der Sexualkundeentscheidung38 und in der Kalkarentscheidung betont39, die traditionelle Fixierung dieses Grundsatzes auf Eingriff in Freiheit und Eigentum und bezieht die leistende und sozialgestaltende Tätigkeit des Staates und damit auch die Veranstaltung von Schule ein. Grundrechtserheblichkeit staatlicher Maßnahmen kann dementsprechend nicht mehr allein mit den für den Eingriffsstaat entwickelten Kriterien erfaßt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat diesem Gesichtspunkt in seiner neueren Rechtsprechung40 dadurch Rechnung getragen, daß es darauf abstellt, welche Bedeutung „für die Verwirkli-
34
BVerfGE 46 S. 120 (137/138). BVerfGE 40 S.237 (249). Vgl. auch Starck, D Ö V 1979 S.269 (271); Bauer, D Ö V 1983 S. 53 (54); Löhning (Fn.23) S. 182 f. 34 Vgl. auch BVerfGE 47 S.46 (78f.); 49 S.89 (129); Niehues, DVB1. 1980 S.465. A.A. Schlink (Fn.22) S. 135 ff. 37 Vgl. dazu Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit I, 3. Aufl. 1982 S.79ff. m . w . N a c h w . ; Krebs (Fn.31) S.72ff„ llOff. 3 » BVerfGE 47 S.46 (78/79). " BVerfGE 49 S. 89 (126f.). Vgl. auch schon BVerfGE 40 S.237 (249). 40 Eher eingriffsorientiert noch BVerfGE 41 S.251 (262 f.). 35
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chung der Grundrechte" einer staatlichen Maßnahme zukommt41. Nur wenn man von diesem Ansatz ausgeht, kann - wie wir schon an anderer Stelle betont haben42 - auch der in der Relegation liegende Entzug oder die in der Nichtversetzung liegende Gestaltung staatlicher Leistung, auf die ein originärer grundrechtlicher Anspruch nicht besteht, gleichwohl im Hinblick auf Art. 12 Abs. 1, 2 Abs. 1 G G grundrechtsrelevant sein, können Maßnahmen dieser Art die Grundrechte „berühren" oder „tangieren" 43 . Grundrechtserheblich sind daher Maßnahmen auch dann, wenn sie für die Verwirklichung grundrechtlicher Freiheit des Bürgers von Bedeutung sind. Maßnahmen im Bereich des Schulwesens sind demnach „grundrechtsrelevant", wenn sie die Rechtssphäre der betroffenen Eltern und Schüler „im Bereich der Grundrechtsausübung berühren" 44 , wenn sie die für die Ausübung des grundrechtlich gewährleisteten Elternrechts erheblichen „Voraussetzungen" oder den „Rahmen" leistungsstaatlicher Tätigkeit festlegen45. Die staatliche Gestaltung des Schulwesens kann als Gestaltung eines staatlichen Leistungsangebot also durchaus grundrechtserheblich i. S. der Voraussetzung der Geltung des Gesetzesvorbehalts sein44. 5. Die Geltung des Gesetzesvorbehalts für Organisation und Verfahren Es besteht heute weitgehende Einigkeit darüber, daß die Verwirklichung von Grundrechten der organisations- und verfahrensrechtlichen Abstützung bedarf und sich die Schutzpflicht des Staates auch hierauf bezieht47. Auch das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach die Organi-
41 BVerfGE 47 S.46 (79); vgl. auch BVerfGE 57 S.295 (321); 56 S . l (13); BVerwG D Ö V 1981 S.681 (682); BVerwGE 64 S.308 (312 f.). Vgl. auch HessVGH D Ö V 1983 S. 858 (859); HessStGH D Ö V 1983 S.546 (548); VerfGH N W D Ö V 1983 S.335 (336); Starck, D Ö V 1979 S.269 (271); Nevermann, VerwArch Bd. 71 (1980) S.241 (247ff., 253); Bethge, NVwZ 1983 S.577 (578 f.); Bauer, D Ö V 1983 S.53 (55 f.). Dieser Ansatz wird übersehen von Richter, NVwZ 1982 S.357 (358). 42 Oben Fn. 3 S. 732/733. 43 Vgl. BVerfGE 58 S.257 (272 ff.); BVerwGE 56 S. 155 (157f.); HessVGH D Ö V 1983 S.858 (859); Bauer, D Ö V 1983 S.53 (56). 44 BVerfGE 58 S.257 (274). 45 BVerwGE 64 S.308 (313, 314). 44 Vgl. auch Lerche (Fn.5) S.54; Löhning (Fn.23) S. 182 f. 47 Vgl. etwa Hesse, EuGRZ 1978 S.427 (434 f.); dens., Handbuch des Verfassungsrechts, 1983 S.79 (100ff.); Bethge, N J W 1982 S . l ; Lerche (Fn.5) S.29f.; Ossenbühl, D Ö V 1981 S. 1 (5); dens., NVwZ 1982 S. 465 (467 f.); dens. in Festschrift für Eichenberger, 1982 S. 183 ff.; Starck, JuS 1980 S.237 (242); Goerlich, N J W 1981 S. 2616f.; v. Mutius, N J W 1982 S. 2150 (2151 ff.); Degenhart, DVB1. 1982 S. 872 (874f.); Dolde, NVwZ 1982 S.65 (70); Schenke, BWVB1. 1982 S.313 (314f., 318); ferner bereits Häberle, W D S t R L B d . 3 0 (1972) S.43 (86ff.); H.H. Rupp, AöR Bd. 101 (1976) S.161 (183ff., 187ff.).
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sation und Verfahren fordernde Dimension der Grundrechte betont48 und sie außer für das gerichtliche auch für das Verwaltungsverfahren fruchtbar gemacht". Grundrechtsrelevanz kann daher auch der Gestaltung staatlicher Organisation50 und Verfahren51 zukommen. Sie ist in Anknüpfung an das oben zum Gesetzesvorbehalt Ausgeführte dann gegeben, wenn die Gestaltung staatlicher Organisationen oder Verfahren für die Ausübung grundrechtlich gewährleisteter Freiheit unmittelbar von Bedeutung ist. Auch Maßnahmen dieser Art können daher dem ausgehend von der Grundrechtsrelevanz begründeten Gesetzesvorbehalt unterliegen. II. Die Begründung des Parlamentsvorbehalts Soweit staatliche Entscheidungen vom (grundrechtlichen) Gesetzesvorbehalt erfaßt werden, können sie durch oder aufgrund eines formellen Gesetzes getroffen werden. Der Gesetzgeber hat also die Möglichkeit, die in seinen Zuständigkeitsbereich fallenden Rechtssetzungsbefugnisse auf die Exekutive zu übertragen52. Damit ist dem Gesetzgeber die Möglichkeit gegeben, im Grundrechtsbereich Entscheidungen dem jeweiligen Grundrecht und der zu regelnden Materie angemessen zwischen sich und der Verwaltung aufzuteilen. Die Eröffnung der Delegationsmöglichkeit für den Gesetzgeber führt indes zur Frage nach der Grenze dieser Befugnis. Zwar schließt jeder Gesetzesvorbehalt notwendig einen Kern ausschließlicher Parlamentskompetenzen ein53, fraglich ist aber, ob es dabei sein Bewenden hat und wie gegebenenfalls ein darüber hinaus reichender Entscheidungsbereich, in dem eine Delegation unzulässig ist, zu bestimmen ist. Es geht dabei um das Problem des verfassungsrechtlich gebotenen Ausmaßes formell-gesetzlicher Regelungsdichte, also um die Reichweite des Parlamentsvorbehalts54. Eine ausdrückliche Antwort auf diese Frage gibt das Grundgesetz in Art. 8055. Dabei handelt es sich, wie auch das Bundesverfassungsgericht 48 Vgl. etwa BVerfGE 37 S. 132 (141, 148); 46 S.325 (334); 49 S.220 (225); 53 S.30 (65 f.); 56 S. 216 (236); 57 S.295 (320); BVerfG DVB1. 1983 S.544 (545). 4 ' Vgl. etwa BVerfGE 52 S.380 (389 f.) m. zahlr. w. Nachw. 50 Vgl. auch Lerche (Fn.5) S. 54 ff.; Starck, DÖV 1979 S.269 (271). 51 Vgl. auch BayVerfGH NJW 1980 S. 1838 (1839); BVerwG DVB1. 1983 S.901 (903); BVerwG DÖV 1983 S.287 (288 f.). 52 Vgl. schon Jesch (Fn.9) S. 153 f. 55 So Ossenbühl in Festschrift für F.W. Bosch, 1976 S. 751 (756). 54 Dazu Erichsen, VerwArch Bd. 69 (1978) S. 387 (396); den., VerwArch Bd.67 (1976) S. 93 (97f.). Vgl. auch E.-W. Böckenförde (Fn.6) S.393f.; Falckenberg, BayVBl. 1978 S. 166 (168). 55 Vgl. auch BVerfGE 49 S.89 (126/127); Lerche (Fn.5) S.35; Kisker (Fn.7) S.16; E. W. Böckenförde (Fn.6) S.393.
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festgestellt hat" um die Ausprägung eines allgemeinen57 bundes- und landesverfassungsrechtlich58 geltenden Grundsatzes, dessen Inhalt indes herauszuarbeiten bleibt. Die Feststellung, gerade die wichtigen, grundlegenden, also „wesentlichen" Entscheidungen dürfe der Gesetzgeber nicht delegieren, ist ebenso selbstverständlich wie inhaltsarm5'. Angesichts des zwischen dem Parlamentsvorbehalt und dem Gesetzesvorbehalt nach dem oben60 Gesagten bestehenden Stufenverhältnis wird man bei der Antwort auf die Frage, welches die für das Eingreifen des Parlamentsvorbehalts entscheidenden Voraussetzungen sind, auf jene Überlegungen zurückgreifen müssen, die auch für die verfassungsrechtliche Festlegung des Gesetzesvorbehalts maßgebend sind". Wie oben schon gesagt, geht es insoweit um den Schutz des Bürgers gegen willkürliche Entscheidungen des Staates. Er wird bewirkt durch das zum Erlaß eines Gesetzes erforderliche, besonders gestaltete Entscheidungsverfahren und durch die Beteiligung mehrerer unterschiedlich berufener Organe, die allerdings alle die vom Volke ausgehende Staatsgewalt ausüben. Bedarf es demnach für die Begründung des durch Grundrechtsrelevanz bestimmten Gesetzesvorbehalts nicht des Rückgriffs auf die Grundsätze des Rechtsstaates und der Demokratie, so gewinnt der von beiden Grundsätzen intendierte Schutz des Bürgers gegenüber dem Staat bei der Bestimmung des Umfangs der vom Gesetzgeber selbst zu treffenden Entscheidung unmittelbar Bedeutung62. Eine staatliche Maßnahme fällt demnach dann in die ausschließliche Regelungskompetenz des Gesetzgebers, wenn und soweit die betroffenen Grundrechte sachbereichsbezogen quantitativ oder qualitativ in besonderem Maße betroffen sind63. Dementsprechend stellt auch das Bundesverfassungsgericht bereits in der Facharztentscheidung64, dann in der Kalkarentscheidung65 und in der 54
BVerfGE 49 S.89 (126/127). Mangels ausdrücklicher Festlegung für die Landesgesetzgebung unmittelbar aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip abzuleitenden (vgl. BVerfGE 58 S. 257 [277]). M Vgl. auch OVG Münster NJW 1976 S. 725 (726); Löhning (Fn.23) S. 192ff. 59 Vgl. dazu auch Erichsen, VerwArch Bd. 67 (1976) S.97ff.; Ossenhühl, DÖV 1977 S. 801 (802 f.); dens., DÖV 1980 S. 545 (550); Kisker, ZParl 1978 S. 53 (56 ff.); dem. (Anm. zu BVerfGE 58 S.257), DVB1. 1982 S.886 (887f.); Bauer, DÖV 1983 S.53 (57f.). 60 S. 29 f. " Vgl. auch - allerdings sehr eingriffsorientiert - Niehues, DVB1. 1980 S.465 (467). 62 Erichsen, VerwArch Bd. 67 (1976) S.93 (102). a Vgl. im Hinblick auf Unterrichtsgegenstände im Schulwesen auch Niehues, DVB1. 1980 S.465 (469). Im übrigen auch BVerfGE 48 S.210 (222); 56 S. 1 (13); 57 S.295 (320f.); 62 S. 169 (183); Scholz/Bismarck (Fn. 5) S. 73 (110ff.) sowie den Bericht der Kommission Schulrecht des DJT (Fn.4) S.46. H BVerfGE 33 S. 125 (160). 45 BVerfGE 49 S. 89 (127). 57
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Versetzungsentscheidung" auf die „Intensität" der Grundrechtsrelevanz ab67. Das Kriterium der Intensität zielt zwar in erster Linie auf den Grundrechtseingriff, beschränkt sich indes nicht darauf. Im Zusammenhang grundrechtserheblicher Leistungs-, Organisations- und Verfahrensregelungen kommt es auf die Intensität der Auswirkung, auf die besonders weitreichende Bedeutung von Leistung, Organisation und Verfahren für die Grundrechtsverwirklichung'8 aber auch - etwa im Falle des Verfahrens - darauf an, ob viele Grundrechte betroffen sind". III. Parlamentsvorbehalt und Schulwesen Wenn demgegenüber von mancher Seite im Interesse einer für notwendig erachteten Flexibilität der Kultusverwaltung sowie aus dem Gesichtspunkt des Schutzes der pädagogischen Freiheit des Lehrers vor einer zu weiten Vergesetzlichung des Schulwesens, d. h. vor einer allzu hohen Regelungsdichte, gewarnt wird70, so verkennt diese Kritik, daß nicht die verfassungsrechtlich gebotene gesetzliche Bestimmung staatlicher Eingriffe und Leistungen, Organisation und Verfahren im Schulrecht eine den Besonderheiten des Schulwesens unangemessene Einschränkung pädagogisch gebotener Freiräume71 bewirkt, sondern vielmehr gerade „die bis zum Perfektionismus gesteigerte Bürokratisierung und Bevormundung der Schule durch die Kultusverwaltungen''72. Es bleibt insoweit hervorzuheben, daß die Verwirklichung pädagogischer Einsichten und Systeme sich im Rahmen des Verfassungsrechts, insbesondere der Abgrenzung der Kompetenzbereiche von Gesetzgebung und Verwaltung halten muß, nicht aber das geltende Verfassungsrecht sich nach der Pädagogik zu richten hat73 und daß der Parlamentsvorbehalt nach seiner Ableitung und Zielsetzung gerade grundrechtssichernde und -verwirklichende Funktion hat74.
" BVerfGE 58 S.257 (274). 67 Vgl. auch BVerfGE 56 S.l (13); BVerwGE 47 S.194 (199); 64 S.308 (313); OVG Münster DVB1.1978 S. 278 (279); Scholz/Bismark (Fn. 5) S. 110,111; Bethge, NVwZ 1983 S. 577 (578); Hennecke (Anm. zu VerfGH DÖV 1982 S.691), DÖV 1982 S.696. Kritisch Kisker (Anm. zu BVerfGE 58 S.257) DVB1. 1982 S.886 (887f.). " Vgl. auch BVerfGE 47 S. 46 (79); 57 S. 295 (321); Bauer, DÖV 1983 S. 53 (58); ferner VerfGH NW DÖV 1983 S.335 (336). " Vgl. dazu Hesse, EuGRZ 1978 S. 427 (435); BVerfGE 34 S. 165 (182 f.); 47 S. 46 (80). 70 Vgl. etwa Scholz/Bismark (Fn.5) S. 117 ff.; Nevermann, VerwArch Bd. 71 (1980) S.241 (254ff.); Pieske, DVB1. 1979, 329ff.; Sendler, DVB1. 1982 S.381 (382/383). 71 Dazu Erichsen (Fn.3) S.733f. 72 So BVerfGE 58 S.257 (271). Vgl. auch Niehues, DVB1. 1980 S.465 (466); Bryde, DÖV 1982 S. 661 (671); Löhning (Fn.23) S.78f. 73 Vgl. Erichsen (Fn. 1) S. 10/11. 74 Vgl. auch BVerfGE 58 S.257 (271); Bethge, NVwZ 1983 S.577 (578).
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1. Notwendigkeit der Differenzierung Das Maß der Grundrechtsbetroffenheit ist in den verschiedenen Regelungsbereichen des Schulwesens unterschiedlich groß, so daß sich Geltung und Reichweite des Parlamentsvorbehalts und damit erforderlicher Umfang, notwendige Dichte und gebotene Bestimmtheit gesetzlicher Regelung jeweils nur für die einzelnen Regelungsgegenstände und -bereiche unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Besonderheiten bestimmen lassen75. Die Verschränkung von Elternrecht und staatlicher Verantwortung für das Schulwesen7' führt dazu, dem Bundesverwaltungsgericht in der Feststellung beizupflichten: „Die Eltern können die ihnen zukommende Verantwortung für den Gesamtplan der Erziehung ihrer Kinder nur tragen, wenn sie wissen, in welcher Weise der Staat seinen sich aus Art. 7 GG herleitenden Erziehungsauftrag wahrzunehmen gedenkt und welchen Rahmen die Schule ihnen zur Verwirklichung ihrer eigenen Ziele einräumt; beides sind wesentliche Voraussetzungen für die Wahrung ihres Elternrechts und damit auch wesentlich für die Verwirklichung dieses Grundrechts" 77 . Die für die Ausübung des elterlichen Erziehungsrechts maßgebenden staatlichen Rahmenvorgaben dürfen daher nicht durch die Verwaltung festgelegt werden. Vielmehr müssen diese für die Grundrechtsausübung und Grundrechtsverwirklichung erheblichen leistungsstaatlichen, organisatorischen und verfahrensrechtlichen Regelungen durch Gesetz so hinreichend bestimmt sein, daß nicht der Verwaltung im Ergebnis strukturelle Entscheidung und Letztverantwortung bleiben78. Die betroffenen Eltern und Schüler müs-
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Vgl. BVerfGE 58 S.257 (270); Kommission Schulrecht des DJT (Fn.4) S.42f.; Niehues, DVB1. 1980 S.465 (467ff.); Sendler, DVB1. 1982 S.381 (385). Nachdem das BVerfG das Gebot hinreichender Bestimmtheit von Gesetzen zunächst aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet hat (vgl. etwa BVerfGE 21 S.73 [79], S.245 [260f.]; 31 S.255 [264]; 37 S. 132 [142]), und zwar auch für den Bereich des Schulrechts (vgl. BVerfGE 45 S. 400 [420]), weist es in einigen neueren Entscheidungen darauf hin, daß sich das Bestimmtheitsgebot mit dem Verfassungsgrundsatz des Vorbehalts des Gesetzes „berührt" - vgl. BVerfGE 56 S. 1 (13) - und daß „das Erfordernis hinreichender Bestimmtheit die notwendige Ergänzung und Konkretisierung des aus dem Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip folgenden Grundsatzes des Vorbehalts des Gesetzes darstellt". Vgl. BVerfGE 58 S.257 (278); auch BVerfGE 59 S.360 (385f.); O V G Münster DVB1. 1978 S.278 (279); Hesse (Fn.20) S.79 (Rdn. 206) und S. 195 (Rdn. 509); Lerche (Fn. 5) A. 76f.; Kommission Schulrecht des DJT (Fn. 4) S. 46; Kisker (Fn. 7) S. 15 ff., 49ff.; dem. (Anm. zu BVerfGE 58 S.257), DVB1. 1982 S.886. 76 Vgl. Erichsen (Fn. 1) S. 12f.; dens. (Fn.3) S. 722ff. jeweils m. w. Nachw. 77 Vgl. BVerfGE 64 S. 308 (313). Vgl. auch BVerfGE 53 S. 185 (292); 47 S. 46 (83). Zum Erziehungsauftrag der Schule vgl. Erichsen (Fn. 3) S. 728 ff. 7S Vgl. auch schon BVerfGE 8 S.272 (275); 22 S.330 (345 f.); 49 S.89 (129).
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sen allein aufgrund der gesetzlichen Regelung die Rechtslage erkennen und ihr Verhalten danach einrichten können79. Die gesetzgeberische Entscheidung muß so verdichtet und bestimmt sein, daß diejenigen, die sich in einen grundrechtsrelevanten staatlichen Leistungs-, Organisations- und Verfahrenszusammenhang begeben, die Folgen ihrer Entscheidung für die Verwirklichung ihrer betroffenen Grundrechte abschätzen können80.
2. Die dem Parlamentsvorbehalt im einzelnen unterfallenden Regelungsgegenstände Daher sind vom Gesetzgeber selbst die Grundentscheidungen im Bereich der Schulorganisation zu treffen. Er muß über die Gliederung des Schulwesens in verschiedene Schulformen entscheiden sowie ihre „wesentlichen Merkmale" und damit die grundsätzliche Binnengliederung der einzelnen Schulformen festlegen". Er hat in diesem Zusammenhang über die spezielle Aufgabenstellung der einzelnen Schulform, die sie als Typus prägt und von anderen Typen abhebt, sowie über die in der einzelnen Schulform angebotenen Bildungsgänge zu entscheiden82. Hierher rechnet auch die Entscheidung über die Auflösung der Klassenverbände und gleichzeitige Einführung eines Kurssystems83 sowie überhaupt die Unterrichtsdifferenzierung im Klassen- und Kurssystem84. Dem Parlamentsvorbehalt unterfällt ferner die Festlegung des Fächerkanons' 5 . Auch müssen die Bildungs- und Erziehungsziele vom Gesetzge-
75 Vgl. auch BVerfGE 21 S.73 (79); 31 S.255 (264); 37 S. 132 (142); 45 S.400 (421); 59 S. 104 (114); 69 S. 169 (182/183). 80 Vgl. auch BVerfGE 62 S. 169 (182/183); 52 S. 1 (41); 47 S.46 (82 f.); 34 S. 165 (192/ 193); OVG Münster NJW 1976 S.725 (726); Kisker (Fn.7) S.50; Lerche, Bayerisches Schulrecht und Gesetzesvorbehalt, 1981 S. 76. »' Vgl. BVerfGE 34 S. 165 (192); BVerwGE 64 S. 308 (313). a Vgl. Lerche (Fn.5) S.55f„ 90f.; Niehues, DVB1. 1980 S.465 (467); Nevermann, VerwArch Bd. 71 (1980) S.241 (253); Starck, DÖV 1979 S.269 (271); Falckenberg, BayVBl. 1978 S. 166 (168); Bryde, DÖV 1982 S.661 (663 f.); Verhandlungen des 51.DJT, Bd. II, Sitzungsberichte Μ 230. Ebenso auch die Kommission Schulrecht des Deutschen Juristentages (Fn.4); vgl. auch BVerwGE 64 S. 308 (312). Zu den Empfehlungen des 51.DJT vgl. auch BVerfGE 45 S.400 (418f.). 83 BVerfGE 45 S.400 (419); so auch Niehues, DVB1. 1980 S.465 (467); Starck, DÖV 1979 S.269 (271). " Vgl. Nevermann, VerwArch Bd.71 (1980) S.241 (253). 85 So jedenfalls für die Festlegung der Pflichtfremdsprache BVerwGE 64 S. 308 (312 ff.); vgl. ferner Nevermann, VerwArch Bd.71 (1980) S.241 (253); Bryde, DÖV 1982 S.661 (669); Verhandlungen des 51.DJT, Bd. II (Sitzungsberichte), 1976 Μ 230. Zweifelnd Sendler, DVB1. 1982 S.381 (387); a.A. Lerche (Fn.5) S.87.
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ber festgelegt werden" und zwar nicht nur die allgemeinen Bildungsund Erziehungsziele der Schule, sondern auch die fachspezifischen „Groblernziele" 87 . Demgegenüber ist die Festlegung der sog. „Feinlernziele" nicht dem Gesetzgeber vorbehalten88. Wo allerdings die Grenze zwischen den „Groblernzielen" und den „Feinlernzielen" verläuft, läßt sich allein aufgrund dieser weitgehend leerformelartigen Begriffe nicht mit hinreichender Bestimmtheit festlegen. Jedenfalls müssen aber die Groblernziele noch soviel sachliche Substanz enthalten, daß sich Eltern und Schüler bei grundrechtsrelevanten Maßnahmen wie etwa der Wahl einer Schulform, eines Bildungsganges, eines bestimmten Faches oder Kursus über den wesentlichen Unterrichtsinhalt orientieren können89. Schließlich ist der Gesetzgeber auch zu einer möglichst differenzierten Leitentscheidung berufen, wenn Bildungsinhalte grundlegend umgestaltet bzw. neue Bildungskonzepte oder Organisationsmodelle verwirklicht werden90. 3. Anforderungen
an die Regelungsdichte
Ist danach eine bestimmte Regelungsmaterie vom Gesetzgeber selbst zu regeln, so genügt es in der Regel nicht, wenn er diese im Gesetz lediglich benennt, ohne sie zugleich inhaltlich auszugestalten". Auf der anderen Seite können die Anforderungen an die Regelungsdichte sinken, wenn eine Organisationsform oder ein bestimmtes Rechtsinstitut - wie z . B . das der Versetzung - eine auf langjährige Erfahrung beruhende bestimmte Ausformung erfahren hat92. Dem Elternwillen kommt in schulischen Entscheidungszusammenhängen vielfältige Bedeutung zu93. Um so merkwürdiger ist, daß es vielfach an einer Regelung zur Feststellung dieses entscheidungsbedeut86 Vgl. Starck, DÖV 1979 S.269 (271); Verhandlungen des 51.DJT Bd. II (Sitzungsberichte), 1976 Μ 230. Das BVerfG - Ε 47 S. 46 (83) - spricht davon, daß der „Erziehungsauftrag der Schule durch eine parlamentarische Leitentscheidung mit hinreichender Bestimmtheit" umschrieben werden müsse. 87 Vgl. dazu BVerfGE 47 S.46 (83); BVerwGE 47 S.194 (198 f.); 57 S.360 (363); Niehues, Verhandlungen des 51.DJT, Bd. II (Sitzungsberichte), 1976 Μ 57; dens. (Fn.5) S. 85f.; Bryde, DÖV 1982 S.661 (669f.); kritisch Nevermann, VerwArch Bd. 71 (1980) S. 241 (252 ff.). 88 Vgl. BVerfGE 47 S.46 (83); Niehues, Verhandlungen des 51.DJT, Bd.II (Sitzungsberichte), 1976 Μ 58. " Vgl. auch Niehues, DVB1. 1980 S.465 (467); im einzelnen dazu Evers, Die Befugnis des Staates zur Festlegung von Erziehungszielen in der pluralistischen Gesellschaft, 1979 S. 140 f. 50 Vgl. BVerwGE 64 S.308 (315); Eiselt, DÖV 1980 S.405 (406); Oppermann, Verhandlungen des 51.DJT, Bd.I (Gutachten), 1976 C 60f.; Lerche (Fn.5) S.92f.; Hess.VGH NJW 1976 S. 1856 (1857). " Vgl. BVerfGE 58 S.257 (279); 62 S.169 (182f.). 92 Vgl. BVerfGE 58 S. 257 (278). " Dazu etwa Erichsen (Fn. 1) S. 12ff.; dens. (Fn.3) S. 722ff.
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samen oder -erheblichen Elternwillens fehlt. So begnügt sich etwa §10 Abs. 4 Schulverwaltungsgesetz NW' 4 mit der Regelung, daß der Wille der Erziehungsberechtigten bei der Feststellung des für die Errichtung und Fortführung von Schulen erheblichen Bedürfnisses zu berücksichtigen ist. Da es hier um die Verwirklichung einer grundrechtlich gewährleisteten Rechtsposition - Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 S. 2 LVerf N W - geht, gilt der Gesetzesvorbehalt und kann der Parlamentsvorbehalt eingreifen. Welchen Grad von Dichte und Bestimmtheit der Gesetzgeber einhalten muß, bestimmt sich auch für Verfahrensregelungen nach den zuvor herausgearbeiteten Kriterien. Entscheidend sind mithin die Bedeutung des Verfahrens für die Verwirklichung des betroffenen Grundrechts bzw. die Intensität, in der die das Verfahren abschließende Entscheidung auf die Grundrechte einwirkt". Erheblich ist weiter, ob das Verfahren dazu dient, kollidierende Grundrechtspositionen oder sonstige Verfassungsgüter zum Ausgleich zu bringen" und ob das Verfahren unmittelbar aufgrund der gesetzlichen Vorschrift selbst für die Betroffenen hinreichend berechenbar und kalkulierbar wird'7. Die bereits angesprochene Vorschrift des § 10 Abs. 4 SchVG NW ist von erheblicher Bedeutung für die Verwirklichung des elterlichen Wahlrechts hinsichtlich der Schulform. Sie eröffnet die Möglichkeit, im Verfahren zur Entscheidung über die Errichtung und Fortführung von Schulen das Elternrecht zur Geltung zu bringen. Es geht dabei also sowohl um die Markierung der Grenzen zwischen dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag und dem Elternrecht" als auch um den Ausgleich zwischen verschiedenen - auch kontroversen - Elternrechten. Innerhalb des Gesamtverfahrens ist die Beeinflussung der Bedürfnisentscheidung durch den Elternwillen von wesentlicher, für die Verwirklichung von Grundrechten grundlegender Bedeutung. Daher ist das Verfahren zur Berücksichtigung des Elternrechts bei der Feststellung des Bedürfnisses für die Errichtung und Fortführung einer Schule als Folge der Geltung des Parlamentsvorbehalts zumindest in seinen Grundzügen im Gesetz zu umreißen". 94 I.d.F. der Bekanntmachung v. 21.Juni 1982, GV NW S.486. Dazu neuestes VerfGH NW in seinem Urteil v. 23.12.1983 - Az.: VerfGH 22/82. 95 Vgl. etwa BVerfGE 58 S. 257 (274); ferner BVerfGE 56 S. 216 (236), wo in bezug auf Art. 16 Abs. 2 S.2 GG „die nähere Ausgestaltung" des Asylverfahrens „einschließlich der Entscheidung, welche Behörde dafür zuständig sein soll" einer Entscheidung des Gesetzgebers vorbehalten wird; ferner Laubinger, VerwArch Bd. 73 (1982) S. 60 (76). * Vgl. BVerfGE 57 S.295 (321); 47 S.46 (80). " Vgl. in bezug auf Genehmigungsverfahren etwa BVerfGE 20 S. 150 (157); 21 S. 73 (79 f.); 52 S. 1 (41). " Vgl. dazu, daß diese Markierung Aufgabe des Gesetzgebers ist, BVerwGE 64 S. 308 (312f.); ferner BVerfGE 47 S.46 (80); Lerche (Fn.5) S.31. " So jetzt auch VerfGH NW, Urteil v. 23.12.1983 - Az.: VerfGH 22/82.
Zum Schutz von Baudenkmalen in Berlin KLAUS FINKELNBURG
I.
Erstmals ist mit dem Denkmalschutzgesetz von 19771 für Berlin ein umfassender Denkmalschutz verwirklicht worden. Bis dahin besaß die Stadt, bis 1945 der preußischen Rechtsordnung zugehörig, kein spezifisches Denkmalschutzrecht. 1. Das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 bestimmte in § 35 18, daß die auf öffentlichen Plätzen errichteten Statuen und Denkmäler von niemandem, wer er auch sei, beschädigt und ohne Erlaubnis nicht weggenommen oder eingerissen werden dürften. Dies war alles, was das Preußen des 19. Jahrhunderts an gesetzlichem Denkmalschutz - ohnehin beschränkt auf Denkmäler im engsten Sinne - besaß. Denn die folgende Bestimmung des § 36 18 ALR, derzufolge innerstädtische Gebäude, die an Straßen und öffentliche Plätze stoßen, ohne obrigkeitliche Erlaubnis weder vernichtet noch zerstört werden durften, bot für den Erhalt denkmalwürdiger Gebäude keinen Raum: Nach der Rechtsprechung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts, das sich hierfür auf Suarez berief, war es ihr vornehmlicher Zweck, die Verunstaltung der öffentlichen Straßen und Plätze durch das Entstehen wüster Stellen zu verhindern2. Wirkte die durch den Abriß drohende Baulücke nicht grob verunstaltend, oder erfolgte der Abriß gar, wie bei innerstädtischen Grundstücken die Regel, um einem Neubau Platz zu schaffen, ließ sich der Abbruch mangels einer verunstaltenden Baulücke rechtlich nicht unterbinden. Zum Schutz erhaltenswerter Bausubstanz konnte die Abrißgenehmigung nicht versagt werden3. Eine vorwärtsdrängende, baufreudige Zeit ließ dem Denkmalschutz keine Chance. Das Neue 1 Gesetz zum Schutz von Denkmalen in Berlin (Denkmalschutzgesetz - DSchG Bin) vom 22.12.1977 (GVB1. S.2510), geändert durch Gesetz vom 30.11.1981 (GVB1. S. 1470). Über die internationale Denkmalschutzbewegung, die ihren Höhepunkt im Europäischen Denkmalschutzjahr 1975 fand und die auslösend wurde für die Denkmalschutzgesetzgebung der Bundesländer s. Moench, NJW 1983, 1998. 2 PrOVG 69, 407 (410); das Gericht bestätigte deshalb das polizeiliche Verbot, ein Gebäude auf dem „durch Schönheit und Ebenmaß ausgezeichneten Pariser Platz" in Berlin ersatzlos abzureißen. 3 Vgl. PrOVG 68, 424 (427 f.).
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besaß allemal die Kraft, sich gegen das Vorhandene durchzusetzen. Die Bestimmung des §33 18 ALR schließlich, daß, soweit die Erhaltung einer Sache auf die Erhaltung und Beförderung des gemeinen Wohls erheblichen Einfluß hat, der Staat deren Zerstörung oder Vernichtung zu untersagen berechtigt sei, war, auch wenn dies zunächst so erscheint, kein Einfallstor für den Denkmalschutz. Zwar hinderte diese Vorschrift die Stadtgemeinden an der „willkürlichen Abtragung ihrer Stadtmauern, Thore, Thürme, Wälle und anderer zum Verschlusse sowohl als zur Verteidigung bestimmter Anlagen"4 und hatte damit einen denkmalerhaltenden Effekt 5 , doch diente sie vornehmlich polizei- und steuerlichen und vor allem militärischen Zwecken. Dies erklärt es, daß, wie Wolf Jobst Siedler in seinen Notizen zur Baugeschichte Berlins schreibt6, in Berlin jede Epoche die vorausgegangene verzehren konnte, das friederizianische Berlin kaum bis zum Ende des Jahrhunderts vorhielt, das folgende Berlin des Ubergangs vom Rokoko zur Vorklassik um die Mitte des 19. Jahrhunderts wieder nahezu verschwunden war und schließlich zwischen 1880 und 1910 eine fast vollständige Planierung des alten Berlin stattfand7, nach Siedler' die größte Zerstörung, die Berlin je erlebt hat. Daß gleichwohl öffentliche Gebäude jenen selbstzerstörerischen Vorwärtsdrang Berlins unversehrt überstanden haben, verdanken wir dem Umstand, daß Preußen, obwohl ohne umfassenden gesetzlichen Denkmalschutz, seit 1844 mit dem dem Kultusminister zugeordneten Konservator der Kunstdenkmäler eine staatliche Denkmalpflege für die im öffentlichen Besitz befindlichen Kunstdenkmäler besaß'. Jede wesentliche Veränderung an öffentlichen 4
Kabinettsordre v. 20.6.1830, die Erhaltung der Stadtmauern betreffend (GS S. 113). Nach einer Zirkularverfügung v. 27.3.1835, zitiert bei Lezius, Das Recht der Denkmalpflege in Preußen, 1908, S. 96, war im Rahmen des Genehmigungsvorbehalts auch zu prüfen, ob das abzureißende Bauwerk als Denkmal alter Baukunst oder als Monument zu erhalten sei. ' Siedler, Die Tradition der Traditionslosigkeit. Notizen zur Baugeschichte Berlins. In: Preußen, Beiträge zu einer politischen Kultur, herausgegeben v. M. Schlenke, 1981, Bd. 2 S. 31 Iff. 7 Vgl. auch Max Osborn, Die Zerstörung Berlins, 1906. ' G. Schmitt, Die Entwicklung des Denkmalschutzes, BayVBl. 1975, 433, weist in seinem inhaltsreichen, vornehmlich Bayern behandelnden Beitrag mit Recht daraufhin, daß seit jeher große Schöpfungen der Baukunst an die Stelle oft nicht weniger wertvoller Schöpfungen getreten sind, die ihnen weichen mußten. „Die Baukunst zerstört die Baukunst", oft nicht als ein Zeichen von Barbarei, sondern „als die Folge überströmender Schaffenskraft einer sich selbst vertrauenden Gegenwart" (Dehio). ' Um die Einrichtung einer staatlichen Denkmalpflege hat sich Schinkel nachhaltig bemüht. Erster Konservator war v. Quast, bedeutsam in späterer Zeit vor allem Persius. Seit 1899 verfügte die preußische Denkmalpflege mit der dem „Zentralblatt für Bauverwaltung" angeschlossenen Zeitschrift „Die Denkmalpflege" über ein eigenes und auch heute noch höchst lesenswertes Organ. Uber die Organisation der preußischen Denkmalpflege 5
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Gebäuden und Denkmälern unterlag ihrer Genehmigung10. Außerdem bestimmte §50 der Städteordnung für die sechs östlichen Provinzen", daß die Städte zur Veräußerung oder wesentlichen Veränderung von Sachen von besonderem wissenschaftlichen, historischen oder Kunstwert - wozu auch Gebäude rechneten12 - einer staatlichen Genehmigung bedurften. Die Preußischen Vermögensverwaltungsgesetze für die katholische und evangelische Kirche enthielten ähnliche Bindungen13. 2. Das gut einhundert Jahre später, nämlich 1907, erlassene „Gesetz gegen die Verunstaltung von Ortschaften und landschaftlich hervorragenden Gegenden"14 bedeutete den ersten, wenn auch noch unvollkommenen Schritt auf dem Wege zu einem allgemeinen gesetzlichen Denkmalschutz, da es erstmals für ganz Preußen die baupolizeilichen Befugnisse umfassend auf den Schutz ästhetischer Interessen erstreckte15. Die Bedeutung dieses Schrittes zeigt sich, wenn man bedenkt, daß das Preußische Oberverwaltungsgericht" in seinem immer wieder zitierten „Kreuzberg-Urteil" mit der Begründung, Wohlfahrtspflege sei nicht die Aufgabe der Polizei, eine Polizeiverordnung für ungültig erklärt und die auf sie gestützte Verfügung aufgehoben hat, die, um den freien Blick auf das von Schinkel geschaffene Denkmal auf dem Berliner Kreuzberg zu
insgesamt, insbesondere über die in den Provinzen eingerichtete Provinzialkonservatoren vgl. Lezius, Das Recht der Denkmalpflege in Preußen, 1908; ferner allgemein zu den denkmalpflegerischen Bestrebungen der Zeit Wussow, Die Erhaltung der Denkmäler in den Kulturstaaten der Gegenwart (1884); Reimers, Handbuch für die Denkmalpflege (1899). 10 Kabinettsordre v. 11.10.1815 (GS S.206). In Berlin und Charlottenburg war auch zum Aufstellen eines Denkmals eine Genehmigung erforderlich; Gesetz v. 2.7.1875 (GS S. 571). " Vom 30.5.1853 (GS S. 261). Die Gemeindeordnungen der Bundesländer enthalten in Anlehnung an §62 II der Deutschen Gemeindeordnung von 1935 einen ähnlichen Genehmigungsvorbehalt. Allgemein hierzu Hönes, Zur Bedeutung des kommunalrechtlichen Genehmigungsvorbehaltes für die Denkmalpflege, DVB1. 1977, 754. 12 So zu dem gleichlautenden §62 II Hess.GemO VG Kassel, DVB1. 1954, 91 betr. die Veränderung eines historischen Rathauses, u. zu Art. 63 BayGemO BayVGH, BayVBl. 1969, 286, betr. das Zeughaus in Augsburg. Die in dieser Einflußnahme des Staates auf die Erhaltung bedeutsamer Bauwerke liegende Einschränkung der kommunalen Selbstverwaltung ist nach BVerwG, DVB1. 1971, 213 mit Art. 28 GG vereinbar. 15 Vgl. Hue de Grais-Peters, Handbuch der Verfassung und Verwaltung, 23. Aufl. S. 441 f. " Vom 15.7.1907 (GS S. 260). Das daneben weitergeltende „Gesetz gegen die Verunstaltung hervorragender Gegenden" v. 2.6.1902 (GS S. 159) wandte sich nur gegen die Verunstaltung hervorragender Gegenden außerhalb geschlossener Ortschaften durch Reklameschilder u. dergl. und schied damit als Grundlage für Maßnahmen des Denkmalschutzes aus. 15 Scholz, Handbuch des gesamten öffentlichen Grundstücksrechts, 1933, Bd. I, S. 148. 16 PrOVG, 9, 353.
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erhalten17, die Höhe der umliegenden Gebäude begrenzt hatte. Das Kreuzberg-Urteil erweist sich damit nicht nur als Lehrstück für den allgemeinen Polizeibegriff, sondern belegt zugleich, wie schlecht es um den Denkmalschutz im Preußen des 19. Jahrhunderts bestellt war. Das Verunstaltungsgesetz bestimmte in §1, daß die baupolizeiliche Genehmigung zur Ausführung von Bauten und baulichen Änderungen zu versagen sei, wenn dadurch Straßen und Plätze oder das Ortsbild gröblich verunstaltet würden. Ein Schutz der Baudenkmäler vor Abriß oder Veränderung war damit noch nicht erreicht, wohl aber wurden sie durch den Verunstaltungsschutz vor Beeinträchtigung durch Veränderung ihrer Umgebung geschützt. § 2 sprach das Problem des Baudenkmals unmittelbar an. Durch Ortsstatut konnte vorgeschrieben werden, daß die (Bau-)Genehmigung zur Ausführung von Änderungen an Bauwerken von geschichtlicher oder künstlerischer Bedeutung zu versagen sei, wenn deren Eigenart hierdurch beeinträchtigt würde. Daß auch dieser Schutz unvollkommen war, liegt daran, daß nur Schutz vor Veränderung begründet werden konnte, nicht aber Schutz vor Abriß, der in dem formalen Verständnis der Zeit nicht unter den Begriff der Veränderung fiel18. Was, so würde man heute fragen, verändert ein Baudenkmal mehr als sein Abriß? Schließlich konnten entsprechend dem heutigen Umgebungsschutz (§15 DSchG Bin) Bauten und bauliche Veränderungen in der Umgebung von geschichtlich oder künstlerisch bedeutsamen Bauwerken unterbunden werden, wenn sie Eigenart oder Eindruck des schützenswerten Bauwerks beeinträchtigten. 3. Das Wort „Denkmalschutz" findet sich erstmals im Preußischen Wohnungsgesetz von 1918", das in Art. 4 §1 vorsah, daß „unter Berücksichtigung des Denkmal- und Heimatschutzes" die einheitliche Gestaltung des Straßenbildes sowie Verputz, Anstrich und Ausfugung der Wohngebäude geregelt werden konnten. Auch dies war noch kein Schutz denkmalwürdiger Bausubstanz vor Abbruch, sondern wieder nur mittelbar vor Beeinträchtigung. Den allenthalben geforderten umfassenden gesetzlichen Denkmalschutz, den nach dem Großherzogtum Hessen20 mittlerweile auch Oldenburg21, Hamburg22, Lübeck23 und Wo es, wie für den Berlinunkundigen gesagt sei, noch immer zu finden ist. " Vgl. PrOVG 78, 424 (427 f.). " GSS.23. 20 Dem das Deutsche Reich mit dem Gesetz, den Denkmalschutz betreffend, v. 16.7.1902 (RegBl. S. 275) den Anstoß für eine Denkmalschutzgesetzgebung verdankt. Ihm ging eine DenkmalschutzVO vom 22.1.1818 voraus. Noch älter war die kurhessische „Verordnung, die Erhaltung der im Lande befindlichen Monumente und Altertümer betreffend" vom 22.12.1779, nach Dörffeldt, Hessisches Denkmalschutzrecht (1977), S. 5, die älteste gesetzliche Regelung des Denkmalschutzes im deutschen Sprachraum. Das erste Denkmalpflegegesetz in Europa schuf 1834 Griechenland; als vorbildlich und richtungs17
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Württemberg 24 verwirklicht hatten und den auch Art. 150 der Weimarer Reichsverfassung vorsah, sollte das „Gesetz zum Schutz der Denkmale" 25 bringen, das indes über Beratungen im Preußischen Abgeordnetenhaus (1925/1927) nicht hinausgekommen ist. Der Denkmalschutz ist in Preußen unvollendet geblieben. Ein Reichsdenkmalgesetz scheiterte 1939 am Widerstand des Reichspropagandaministeriums2'. 4. Preußen und damit auch Berlin besaßen, das läßt sich zusammenfassend für das 19. Jahrhundert und die erste Hälfte unseres Jahrhunderts feststellen, in der Gestalt des Konservators der Kunstdenkmäler und der Provinzialkonservatoren eine Denkmalpflege von Rang. Die Erforschung der Baudenkmäler, ihre Inventarisierung und Revitalisierung sowie die Pflege und Erhaltung der Baudenkmäler der öffentlichen Hand war ihre vornehmliche Aufgabe. Dagegen fehlte es an einem allgemeinen und umfassenden gesetzlichen Denkmalschutz. Die in Privathand befindlichen Bauwerke von geschichtlicher und künstlerischer Bedeutung waren vor Veränderung oder Abriß kaum geschützt. Staatliche und private Denkmalpflege ja, gesetzlicher Denkmalschutz nein, lautet die Kurzformel, auf die sich die Fürsorge Preußens für seine Baudenkmäler bringen läßt.
II. 1. Die Verfassungen von Baden-Württemberg (Art. 86), Bayern (Art. 141), Hessen (Art. 62), Nordrhein-Westfalen (Art. 18), RheinlandPfalz (Art. 40) und dem Saarland (Art. 34) verpflichten Staat und Gemeinden zum Denkmalschutz. Die Verfassung von Berlin kennt eine solche Verpflichtung nicht. Für Berlin ist der Denkmalschutz ohne verfassungsrechtliche Vorgabe. Dies mag es erklären, daß Berlin den Denkmalbegriff enger faßt als die übrigen Bundesländer. Anders nämlich als die anderen Denkmalschutzgesetze, die teilweise (Baden-Würtweisend gilt die 1837 in Frankreich geschaffene Commission des monuments historiques, der 1887 das französische Denkmalschutzgesetz folgte. 21 Denkmalschutzgesetz v. 18.5.1911. 22 Denkmal- und NaturschutzG v. 6.12.1920 (Abi. S. 1441). 23 Gesetz v. 10.12.1921 (GS Nr. 200). 24 Gesetz betreffend den vorläufigen Schutz von Denkmalen und heimatlichem Kunstbesitz v. 14.5.1920 (RBI. S.305). 25 Preuß. AbgH, Drs. II Nr. 4298 u. 7100. Die Schwierigkeiten, an denen die Denkmalschutzgesetzgebung in den meisten Ländern des Deutschen Reiches immer wieder scheiterte, lagen außer im finanziellen Bereich und in den Auseinandersetzungen mit den Kommunen vor allem bei der Abgrenzung zu den verbrieften Rechten der Kirchen. Vgl. hierzu Dörge, Das Recht der Denkmalpflege in Baden-Württemberg, 1971, Einl. S. 18 f. 26 Dörge a.a.O., S.19.
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temberg, Bremen, Hessen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Schleswig-Holstein) den dem Berliner Recht fremden Oberbegriff des Kulturdenkmals verwenden und sämtlich neben Bau- und Bodendenkmälern auch bewegliche Sachen von wissenschaftlichem, künstlerischem oder geschichtlichem27 Interesse, wie etwa Urkunden und Sammlungen28, Archiv- und Bibliotheksgut sowie Gegenstände der bildenden Kunst 2 ' erfassen, beschränkt § 2 Abs. 2 DSchG Bin den Denkmalschutz auf Bauund Bodendenkmale. Bewegliche Gegenstände von geschichtlicher oder künstlerischer Bedeutung scheiden, sofern sie nicht Zubehör30 oder Ausstattung eines Baudenkmals (§2 Abs. 2 S. 2) oder ein bewegliches Bodendenkmal (§2 Abs. 3), wie etwa eine vor- oder frühgeschichtliche Vase sind, in Berlin von vornherein aus dem Denkmalschutz aus. Das DSchG Bin wirkt sich so gut wie ausschließlich im Bereich des Bau- und Bodenrechts aus. 2. §2 Abs. 2 DSchG Bin definiert das Baudenkmal31 als eine bauliche Anlage, einen Teil einer baulichen Anlage oder eine Mehrheit baulicher Anlagen, eine Gartenanlage, eine öffentliche Grünanlage oder einen Friedhof, deren Erhaltung wegen ihrer geschichtlichen, künstlerischen oder wissenschaftlichen Bedeutung oder wegen ihrer Bedeutung für das Stadtbild im Interesse der Allgemeinheit liegt. Zu einem Baudenkmal gehören sein Zubehör und seine Ausstattung, soweit sie mit dem Baudenkmal eine Einheit von Denkmalwert bilden. Dies gibt zu folgenden Anmerkungen Anlaß:
27 Die Begriffe sind nicht einheitlich. Als Schutzgrund finden sich insbesondere das heimatgeschichtliche, das geschichtliche oder volkskundliche, das technik- oder heimatgeschichtliche oder auch das städtebaulich motivierte öffentliche Interesse. 28 So ausdrücklich, aber auch für die anderen Bundesländer beispielhaft, §2 D S c h G Bremen; ähnl. § 4 II DSchG Rheinland-Pfalz. 29 Schleswig-Holsteinische Durchführungsvorschriften zum DenkmalschutzG, Nachrichtenblatt des Kultusministeriums 1974 S. 140. 30 Typisches Zubehör sind Türen, Treppen, Ofen und dergl. Vgl. V G H Bad.-Württ., B R S 3 9 N r . 134 (auf S.289). 31 Als Bodendenkmal, mit dem sich dieser Beitrag nicht befaßt, versteht § 2 D S c h G Bin eine bewegliche oder unbewegliche Sache, die sich im Boden befindet oder befunden hat, aus urgeschichtlicher, frühgeschichtlicher oder historischer Zeit stammt und Erkenntnisse über den Menschen und seine Umwelt liefert oder für die Urgeschichte der Tier- oder Pflanzenwelt von Bedeutung ist. Abgrenzungen und Überschneidungen ergeben sich zum Naturdenkmal nach §21 NatSchG Bln. Allgemein zur Bodendenkmalpflege, die in Preußen durch das von § 27 D S c h G Bin aufgehobene Ausgrabungsgesetz v. 26.3.1914 (GS S. 14) geregelt war, und die mit der Frage, ob es sich empfehle, dem Staat reichs- oder landesrechtlich ein Vorrecht an Altertumsfunden einzuräumen, schon 1904 den 27. D J T beschäftigt hatte, Oebbecke, Das Recht der Bodendenkmalpflege in der Bundesrepublik Deutschland, DVB1. 1983, 384.
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a) D e r Begriff des Baudenkmals setzt, sieht man von den hier nicht weiter zu behandelnden Gartenanlagen 32 , öffentlichen Grünanlagen und Friedhöfen ab, eine bauliche Anlage, einen Teil oder eine Mehrheit baulicher Anlagen voraus. Als bauliche Anlage ist, da das D S c h G Bin diesen Begriff nicht definiert, sondern voraussetzt, gem. § 2 Abs. 2 B a u O Bin eine mit dem Erdboden, sei es durch die eigene Schwere, verbundene, aus Baustoffen und Bauteilen hergestellte Anlage zu verstehen. H ö r t ein Gegenstand auf, bauliche Anlage zu sein - künstlerisch wertvolle Teile werden von einem Gebäude gelöst und fortan als bewegliche Kunstwerke behandelt - , verliert er seine Schutzfähigkeit. Ist die bauliche Anlage nicht insgesamt, wohl aber teilweise denkmalwürdig das in die Fassade des Jüdischen Gemeindehauses in der Fasanenstraße eingefügte Portal der 1938 niedergebrannten Synagoge - , kann dieser Teil geschützt werden. Der Ensembleschutz („Mehrheit baulicher Anlagen") gewinnt selbständige Bedeutung, wenn nicht jede bauliche Anlage des Ensembles, ja vielleicht keines ihrer Bauwerke für sich genommen, wohl aber die Gruppe in ihrer Gesamtheit ein Baudenkmal darstellt". b) Die bauliche Anlage muß, damit sie ein Baudenkmal sein kann, geschichtliche, künstlerische oder wissenschaftliche Bedeutung oder Bedeutung für das Stadtbild besitzen. Das Anknüpfen der Denkmaleigenschaft an diese vier Bedeutungen macht den Denkmalbegriff zu einem dem steten Wandel unterworfenen, einem dynamischen und - als Kehrseite - einem labilen Begriff. Denn jede Zeit hat ihre eigenen Vorstellungen darüber, was von geschichtlicher, künstlerischer, wissenschaftlicher oder städtebaulicher Bedeutung ist. Was zu Beginn unseres Jahrhunderts aus geschichtlichen Gründen erhaltungswürdig erschien das Haus, in welchem 1870 Wilhelm I „inmitten seines jubelnden Volkes" den Abend vor seiner Abreise zur Front verbrachte, der Platz, an dem „im Manöver 1909 die bayerischen Truppen an Kaiser Wilhelm II vorbeimarschierten" - , hat oftmals jede geschichtliche Bedeutung verloren. Anderes hingegen erscheint uns heute erhaltenswert, wie die Zeugnisse der beginnenden Industrialisierung oder Arbeiterhäuser und Arbeitersiedlungen jener Zeit. Es hat deshalb seinen guten Sinn, wenn § 8 D S c h G Bin die Möglichkeit vorsieht, Eintragungen im Denkmalbuch wieder zu löschen, weil die Eintragungsvoraussetzungen entfallen sind. Auch das Baudenkmal ist, diese Erkenntnis steht hinter der Löschungsvorschrift, häufig nur eine flüchtige Erscheinung der Zeit. Keinesfalls alle, ja vielleicht nur der geringere Teil der Baudenkmale besitzen einen 32 Hierzu Hönes, Historische Park- und Gartenanlagen zwischen Natur- und Denkmalschutz, DÖV 1980, 708. 33 Vgl. OVG Lüneburg, BRS 32 Nr. 45: Ensembleschutz für eine lange Reihe von für sich gesehen bedeutungslosen Häusern einer Moorkolonie.
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dem Wandel der Zeiten entzogenen Rang. Gemildert wird die Labilität des Denkmalbegriffs durch die Auswechselbarkeit der denkmalbegründenden Bedeutungen: Ein Neubau, der heute von städtebaulicher Bedeutung ist, mag in einer gewandelten Umwelt diese Bedeutung verlieren, dafür aber eine (architektur-)geschichtliche Bedeutung gewinnen. Die verlorene Bedeutung kann durch eine neu gewonnene, ebenfalls denkmalbegründende Bedeutung ersetzt werden. c) Die „geschichtliche Bedeutung" als Anknüpfungspunkt für Denkmalschutz führte zum Ursprung der Denkmalpflege zurück. Sie ist ein Kind des Historismus. Ihr letzter Beweggrund ist die Achtung vor der historischen Existenz34. Für Schinkel diente die „Erhaltung der vaterländischen Altertümer" der patriotischen und ästhetischen Erziehung am Ideal der eigenen Geschichte und war damit mehr als bloßes Konservieren35. Das erstarkende Nationalgefühl der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts hat die historische Denkmalpflege emporgetragen. Unzählige Geschichts-, Altertums- und Heimatvereine haben sich ihrer angenommen. Sieht man dementsprechend die in dem Begriff „geschichtliche Bedeutung" zum Ausdruck kommende (eine) Aufgabe des Denkmalschutzes darin, bauliche Anlagen, die Zeugnisse menschlicher Geschichte und Entwicklung sind, zu pflegen und zu schützen, so ergibt sich der denkbar weiteste Begriff des Geschichtlichen. Vor- und Frühgeschichte ebenso wie die Geschichte im eigentlichen Sinne bis hin zur Zeitgeschichte. Da sich jedoch das menschliche Leben überwiegend außerhalb dessen bewegt, was wir im engeren Sinne Geschichte nennen, und da es die tradierte Aufgabe der geschichtlichen Denkmalpflege ist, die Zeugnisse menschlicher Entwicklung zu erhalten, das Erbe der Vergangenheit zu wahren, ist „Geschichte" im Sinne des Denkmalbegriffs weit mehr als nur die Disziplin des Historikers: Architektur- und Kunstgeschichte, Wissenschaftsgeschichte, Militärgeschichte, Geschichte der Technik, der Wirtschaft, des Sports, der Arbeiterbewegung, kurz, alle Lebensbereiche werden von dem Begriff des Geschichtlichen erfaßt. Jede bauliche Anlage, die in diesem Sinne Zeugnis der Geschichte oder Schauplatz von Geschichte ist, ist ein potentielles Baudenkmal. d) Die „künstlerische Bedeutung" spricht die zweite klassische Zielrichtung der Denkmalpflege und des Denkmalschutzes an35a. Die ästhetisch
Dehio, Kunsthistorische Aufsätze, 1914, S.267. Findeisen, in: Karl Friedrich Schinkel, herausgegeben von den Staatlichen Museen zu Berlin/DDR, 1981, S.315. 55* Zum Zusammenhang zwischen Kunst und Denkmalpflege ist unverändert bedeutsam das Werk des Bonner Kunsthistorikers Paul Clemen, Die deutsche Kunst und Denkmalpflege, 1933. 34 35
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bestimmten denkmalpflegerischen Auffassungen der Romantik - das Wort „Kunstdenkmal gilt als goethezeitlich36 - finden hier ihren Niederschlag37. Die preußische Denkmalpflege lag in der Hand des Konservators der Äwwsidenkmäler, und die frühen Zeugnisse gesetzlich begründeter Denkmalpflege nennen neben der geschichtlichen stets auch die künstlerische Bedeutung des Bauwerks. Das Begriffspaar Kunst- und Geschichtsdenkmal zieht sich durch das Denkmaldenken des ^ . J a h r hunderts38. Künstlerische Bedeutung hat eine bauliche Anlage, wenn sie, da von künstlerischem Rang, ein Kunstwerk ist. Der Begriff ist, anders als der der geschichtlichen Bedeutung, ohne zeitliche Dimension. Auch die Gegenwartsarchitektur ist, wenn von künstlerischer Bedeutung, schutzfähig. Ein Bauwerk von künstlerischem Rang kann mit seiner Errichtung ein Baudenkmal sein. Gehört das Kunstdenkmal einer vergangenen Zeit an, kann ihm zugleich kunstgeschichtliche und, da die Kunstgeschichte im Sinne des Denkmalschutzes Teil der Geschichte ist, geschichtliche Bedeutung zukommen. Verliert das Bauwerk seine künstlerische Bedeutung, weil es einer überwundenen und inzwischen abgelehnten Stilrichtung angehört, kann es nach wie vor von (kunst-)geschichtlicher Bedeutung sein. Im Begriff der Kunstgeschichte geht die künstlerische Bedeutung in der geschichtlichen Bedeutung auf, indem als geschichtlich bedeutsam gilt, was an Kunstwerken aus der Vergangenheit überkommen ist, gleichgültig, ob es (noch) von selbständigem künstlerischem Rang, oder (nur) von Bedeutung für die Entwicklung der Kunst oder vielleicht (lediglich) charakteristisch für die Baukunst einer Epoche ist. Für Berlin, das arm an Bauwerken von künstlerischem Rang ist, steht der „geschichtliche" Denkmalschutz deshalb im Vordergrund. Die Zahl der Baudenkmale von wahrhaft künstlerischer Bedeutung ist gering. e) Den Begriff der „wissenschaftlichen Bedeutung" übernimmt das DSchG Bin unkritisch aus anderen Denkmalschutzgesetzen, wo er insbesondere für den Schutz von Archiv- und Bibliotheksgut von Nutzen ist. Für Berlin, das einen selbständigen Denkmalschutz für bewegliche Gegenstände nicht kennt, ist der Begriff, jedenfalls im Zusammenhang mit Baudenkmalen, ohne nennenswerte praktische Bedeutung3'. 34 Breuer, Die Baudenkmäler und ihre Erfassung, in: Schutz und Pflege von Baudenkmälern in der Bundesrepublik Deutschland, 1980, S.40. 37 Dörge, Das Recht der Denkmalpflege in Baden-Württemberg (1971), S.71. 38 Breuer a. a. O . 39 Gahlen-Schönstein, Denkmalrecht Nordrhein-Westfalen, 1981, nennen bei §2 Anm. 14 u.a. „Dachkonstruktionen oder Eingangsbereiche von Fabrikanlagen" als Objekte wissenschaftlicher Forschungstätigkeit, die deshalb Gegenstände des Denkmalschutzes sein können. Eberl-Schiedermair-Petzel, Bayerisches Denkmalgesetz, 2. Aufl.
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f ) Eine Schöpfung unserer Zeit ist der Denkmalschutz für bauliche Anlagen, die von „Bedeutung für das Stadtbild", von, wie man in Anlehnung an BBauG und StBauFG formulieren kann40, städtebaulicher Bedeutung sind, weil sie das Erscheinungsbild eines Ortes, Ortsteiles oder einer Straße (mit-)prägen41. Damit besteht die Möglichkeit, eine bauliche Anlage, die nicht den Rang eines Kunstwerks besitzt und (noch) nicht von historischer Bedeutung ist, um ihrer städtebaulichen Funktion willen vor Abbruch oder Veränderung zu schützen. Ein vergleichbarer Schutz wird erzielt, wenn gem. §39h BBauG durch Rechtsverordnung des Senators für Bau- und Wohnungswesen (§12 Berl AGBBauG) bestimmt wird, daß in einem Gebiet die nach Bauordnungsrecht erforderliche Genehmigung für den Abbruch, den Umbau oder die Änderung von baulichen Anlagen versagt werden darf, wenn die bauliche Anlage allein oder im Zusammenhang mit anderen baulichen Anlagen das Ortsbild oder die Stadtgestalt prägt oder von städtebaulicher, insbesondere geschichtlicher oder künstlerischer Bedeutung42 ist (§ 39 h Abs. 3 Nrn. 1, 2 BBauG). Da § 39 a Abs. 3 BBauG die landesrechtlichen Vorschriften über den Schutz und die Erhaltung von Baudenkmälern ausdrücklich durch die Anordnung von Maßnahmen nach den §§39b bis 39 h BBauG unberührt läßt, schließt der Erlaß einer Erhaltungsverordnung nach § 39 h BBauG trotz der weitgehend gleichen Schutzwirkung die denkmalrechtliche Unterschutzstellung einer baulichen Anlage nicht aus. Der städtebaulich motivierte Denkmalschutz kraft Landesrechts steht selbständig und gleichberechtigt neben dem städtebaulich motivierten Denkmalschutz des BBauG43. Die Stadt hat die Wahl, welcher Instrumente sie sich bedienen will44. 1975, erwähnen bei Art. 1 Erl. 12 als von wissenschaftlicher Bedeutung „technische, aber auch handwerkliche Geschichtsdenkmäler", und nennen als Beispiele u. a. Industriebauten, Brücken, Zechen, Dachstühle, Dachziegelformen oder Dachbeläge. Dies vermischt geschichtliche und wissenschaftliche Bedeutung. Interessanterweise und wohl mit Recht nennen die §§ 1 Abs. 6, 39 e, 39 h BBauG, 43 StBauFG, wenn sie von Baudenkmalen handeln, die wissenschaftliche Bedeutung nicht. 40 Vgl. § 1 Abs. 6, der von „Bauten... von geschichtlicher, künstlerischer oder städtebaulicher Bedeutung" spricht. Der Begriff findet sich auch in §§ 39 e Abs. 3, 39 h Abs. 3 BBauG, 43 Abs. 2 StBauFG. 41 Dörffeldt, Hessisches Denkmalschutzrecht, 1977, §2 Erl. 12; ähnlich Eberl-Schiedermair-Petzet, a. a. O. Art. 1 Erl. 11. 42 Die Begriffe der geschichtlichen oder künstlerischen Bedeutung werden in §§39e Abs. 3, 39 h Abs. 3 BBauG als Unterfälle der städtebaulichen Bedeutung („insbesondere") verwandt und sind damit möglicherweise enger als die gleichlautenden Begriffe in §2 Abs. 2 DSchG Bln. In § 43 Abs. 3 StBauFG, der in enger inhaltlicher Beziehung zu § 39 e BBauG steht, ist hingegen gleichrangig von „geschichtlicher, künstlerischer oder städtebaulicher Bedeutung" die Rede. 43 So auch Battis-Krieger, Zur praktischen Bedeutung des § 39 h BBauG für die Stadterhaltung, DVB1. 1981, 479 (481). Vgl. ferner Watzke, Zur Konkurrenz von Denkmalschutz
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g) Daß eine bauliche Anlage von geschichtlicher, künstlerischer, wissenschaftlicher oder städtebaulicher Bedeutung ist, reicht noch nicht aus, um sie zu einem Baudenkmal zu machen. Es muß hinzukommen, daß wegen dieser Bedeutung ihre Erhaltung im Interesse der Allgemeinheit liegt. (1) Die Unterstellung einer baulichen Anlage unter den Denkmalschutz ist wegen ihrer Rechtsfolgen eine Eigentumsbeschränkung. Denn fortan darf der Eigentümer ohne Genehmigung die Anlage weder beseitigen noch verändern und ist verpflichtet, sie zu erhalten und sachgemäß zu unterhalten (§§9, 10 DSchG Bin). Als Eigentumsbeschränkung ist sie nur zulässig, wenn und soweit ein öffentliches Interesse sie rechtfertigt 45 . Dem dient das Merkmal des Erhaltungsinteresses der Allgemeinheit46. Es rechtfertigt die in der Unterschutzstellung liegende Eigentumsbeschränkung47. (2) Aus der legitimierenden Funktion des Erhaltungsinteresses der Allgemeinheit folgt, daß es aus der geschichtlichen, künstlerischen, wissenschaftlichen oder städtebaulichen Bedeutung abgeleitet und begründet sein muß. Es ist nur dann ein Erhaltungsinteresse „der Allgemeinheit" und nicht nur einer Fachbehörde oder gar eines einzelnen Fachbeamten-, wenn eine allgemeine Uberzeugung von der Denkmalwürdigkeit der baulichen Anlage und der Notwendigkeit ihrer Erhaltung besteht 4 '. Eine solche allgemeine Überzeugung ist anzunehmen, wenn die Denkmalwürdigkeit in das „Bewußtsein der Bevölkerung oder mindestens eines breiteren Kreises von Sachverständigen eingegangen ist". Erst die allgemeine Resonanz erhebt das Erhaltungsinteresse in den Rang eines Allgemeininteresses. Eine Denkmalwürdigkeit, die keine Resonanz findet, führt nicht zur Denkmaleigenschaft. (3) Sonstige öffentliche Interessen vermögen die Denkmalwürdigkeit einer baulichen Anlage weder zu begründen, noch zu verhindern.
und städtebaulichem Erhaltungsrecht, ZfBR 1981, 10 und 57; Eberl, Das Recht des Denkmalschutzes in der Bundesrepublik Deutschland und seine Beziehungen zum Städtebau, BayVBl. 1980, 710. 44 Die Erklärung eines Gebietes durch Rechtsverordnung gem. §17 DSchG Bin zum geschützten Baubereich schützt dagegen nicht vor Abbruch, sondern begründet lediglich besondere gestalterische Anforderungen. 45 BVerfGE 8, 71 (80); ähnlich in 31, 229 (242). 44 Die Denkmalschutzgesetze der anderen Bundesländer sprechen uni sono von dem „öffentlichen" Interesse an der Erhaltung, einem gleichbedeutenden Begriff. 47 Dazu, daß das Erhaltungsinteresse der Allgemeinheit nicht identisch ist mit dem nach Art. 14 Abs. 3 G G für eine Enteignung erforderlichen Wohl der Allgemeinheit s. u. sub IV 4. 48 BVerwGE 11, 32 und ihm folgend Hess.VGH, ESVGH 31, 191.
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Insbesondere bietet § 2 Abs. 2 DSchG Bin ebensowenig wie andere Vorschriften des Gesetzes eine Handhabe, um gegenläufige öffentliche Finanzinteressen, vor allem die in Zeiten leerer Kassen verständliche Sorge vor Entschädigungsverpflichtungen (§13 DSchG Bin), gegen die Denkmaleigenschaft ins Feld zu führen4'. Es ist deshalb rechtlich bedenklich, wenn der Berliner Senat auf die Aufforderung des Abgeordnetenhauses, sicherzustellen, „daß der Rahmen der Finanzplanung durch Entscheidungen des Landeskonservators nicht überschritten wird" 50 , mit einer internen Verfahrensregelung reagiert hat, die den Senator für Finanzen an der Beurteilung der Denkmalwürdigkeit beteiligt, da, wie es in dem Senatsbeschluß heißt, „bereits bei der Unterschutzstellung finanzielle Erwägungen anzustellen sind". Nicht bei der Beurteilung der Denkmalwürdigkeit und der ihr folgenden Eintragung in das Baudenkmalbuch ist Raum für finanzielle Erwägungen, sondern erst bei der Entscheidung, ob - warum auch immer, also notfalls auch zur Vermeidung von Entschädigungsansprüchen - dem Verfügungsberechtigten Eingriffe in das Baudenkmal zu gestatten sind51. III. Die Eigenschaft einer baulichen Anlage als Baudenkmal zieht rechtliche Folgen nach sich. Die Anlage ist, wie § 1 DSchG Bin allgemein formuliert, zu schützen, zu erhalten, zu pflegen sowie wissenschaftlich zu erforschen. Ihre Erhaltung, Unterhaltung und Wiederherstellung kann öffentlich gefördert werden (§18 DSchG Bin)52. Der eigentlichen, die Veränderung oder Beseitigung verbietenden Schutzvorschrift des §10 DSchG Bin, dem „Herzstück" des Gesetzes, wird das Baudenkmal nach § 6 Abs. 4 DSchG Bin jedoch erst unterworfen, wenn es in das Baudenkmalbuch eingetragen worden ist. Berlin folgt damit dem Eintragungssystem, das zwar nicht die Eigenschaft einer baulichen Anlage als Baudenkmal, wohl aber den daran anknüpfenden gesetzlichen Denkmalschutz von der Eintragung des Baudenkmals in das Denkmalbuch abhängig macht", während andere Bundesländer54 den Denkmalschutz 49 So mit Recht auch Moench, N J W 1983, 1998 (1999); Hönes, DÖV 1983, 333; D Ö V 1981, 957 (958) sowie in NVwZ 1983, 213. 50 Beschluß vom 9 . 1 2 . 1 9 8 2 - Drs. AbgH. Nr. 9/894. 51 Dazu unten sub. IV 5. 52 Sanierungsbedürftige denkmalwürdige Gebäude können auch nach Maßgabe des § 43 III StBauFG gefördert werden. Zu weiteren Förderungsmöglichkeiten und den zahlreichen steuerlichen Vergünstigungen vgl. Moench, N J W 1983, 1998 (2002, Fn.48). 53 Ebenso Bremen, Hamburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein. 54 Bayern, Niedersachsen und das Saarland; ein gemischtes System verwendet BadenWürttemberg.
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ex lege eintreten lassen55, so daß der Eintragung in das Denkmalbuch keine konstitutive, sondern nur eine nachrichtliche Bedeutung zukommt. 1. Die als Baudenkmal erkannte bauliche Anlage ist nach §6 Abs. 1 S. 1 DSchG Bin in das Baudenkmalbuch einzutragen und damit den Schutzvorschriften des Gesetzes zu unterstellen. Anders als in Bremen, wo nach § 7 DSchG die oberste Denkmalschutzbehörde nach ihrem Ermessen über die Eintragung in die Denkmalliste entscheidet56, besitzt die Denkmalschutzbehörde in Berlin kein Ermessen. Sie ist gesetzlich verpflichtet, das Baudenkmal in das Baudenkmalbuch einzutragen. Eine Interessenabwägung findet nicht statt. 2. Die Eintragung in das Baudenkmalbuch ist (belastender) Verwaltungsakt57 in der Form der Allgemeinvergügung nach § 35 S. 2 VwVfG, da er die öffentlich-rechtliche Eigenschaft einer Sache, nämlich die Unterschutzstellung eines Baudenkmals betrifft. Die „unmittelbare Rechtswirkung nach außen", die nach §35 VwVfG eine behördliche Einzelfallregelung besitzen muß, um Verwaltungsakt zu sein, liegt in der nach §6 Abs. 4 DSchG Bin der Eintragung zukommenden Wirkung: erst durch die Eintragung wird das Baudenkmal den Schutzvorschriften des Gesetzes unterworfen. Dies bedeutet insbesondere: Das Baudenkmal darf ohne behördliche Genehmigung nicht ganz oder teilweise beseitigt, wiederhergestellt, instandgesetzt, in seiner Nutzung geändert, von seinem Standort entfernt oder durch das Anbringen von Anlagen der Außenwerbung, von Automaten oder in sonstiger Weise verändert werden (§ 10 Abs. 1 DSchG Bin). Die Wiederherstellung eines ohne Genehmigung veränderten, beseitigten oder zerstörten Baudenkmals kann angeordnet werden (§ 12 DSchG Bin). Die Umgebung des Baudenkmals darf, soweit sie für dessen Erscheinungsbild von erheblicher Bedeutung ist, durch Errichten oder Andern baulicher Anlagen oder von Werbeanlagen, durch die Gestaltung der unbebauten Flächen oder in anderer Weise nicht so verändert werden, daß die Eigenart und das Erscheinungsbild des Denkmals beeinträchtigt werden (§16 DSchG Bin). 3. Nach §43 Abs. 1 VwVfG (Bin) wird ein Verwaltungsakt gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, in 55 Dies wird zuweilen wenig plastisch als das „Prinzip der Generalklausel" bezeichnet, so etwa in B G H Z 7 2 , 2 1 1 . Zu den Unterschieden beider Systeme sowie zu ihren Vor- und Nachteilen Moencb, Reichweite und Grenze des Denkmalschutzes, N J W 1983, 1998 (2001) sowie B G H a . a . O . 54 O V G Bremen, N V w Z 1983, 234; ähnlich § 2 Hamb.DSchG. 57 V G H Bad.-Württ., Β RS 39 Nr. 134.
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dem Zeitpunkt wirksam, in dem er ihm bekannt gegeben wird. Das gilt, da das VwVfG Bin auch für die Tätigkeit der Denkmalschutzbehörde gilt, auch für den Verwaltungsakt der Eintragung in das Baudenkmalbuch. Unter der Wirksamkeit, von der §43 Abs. 1 VwVfG handelt, ist zunächst die äußere Wirksamkeit zu verstehen58: Mit der Bekanntgabe der Eintragung an den Betroffenen ist das auf die Eintragung zielende Verwaltungsverfahren abgeschlossen. Der Verwaltungsakt bindet die erlassende Behörde, die ihn, soweit nicht Spezialvorschriften wie § 8 DSchG Bin eingreifen, nur noch nach Maßgabe der §§48 ff. VwVfG ändern und beseitigen kann. Rechtsmittel können eingelegt werden. Von dem Eintritt der (äußeren) Wirksamkeit ist der Zeitpunkt zu unterscheiden, in welchem der Verwaltungsakt seine „unmittelbare Rechtswirkung nach außen" (§35 Abs. 1 VwVfG) entfaltet, von dem an seine Regelung gilt, er Geltung beansprucht. Grundsätzlich tritt die auch „innere" Wirksamkeit genannte Geltung im Zeitpunkt des Eintritts der äußeren Wirksamkeit ein, fällt also mit dieser zusammen, sofern nicht spezialgesetzlich etwas anderes bestimmt ist59. Eine Spezialnorm dieser Art ist § 6 Abs. 3 S. 2 DSchG Bin, der besagt, daß die Eintragung in das Denkmalbuch erst vollzogen wird, nachdem der Bescheid über die Eintragung unanfechtbar geworden oder seine sofortige Vollziehung (§80 Abs. 2 Nr. 4 V w G O ) angeordnet worden ist. Unklar ist, was § 6 DSchG Bin unter dem „Vollzug" der Eintragung versteht, da die Eintragung in das Baudenkmalbuch nur ein schutzbegründender (gestaltender) und kein unmittelbar gebietender oder verbietender und als solcher vollzugsfähiger Verwaltungsakt ist. Einzige an die Eintragung anknüpfende unmittelbare Vollzugsmaßnahme ist die öffentliche Bekanntmachung der Eintragung (§6 Abs. 5 DSchG Bin). In Wirklichkeit wird hier jedoch nicht nur der Vollzug, sondern wird auch die innere Wirksamkeit, die Geltung der Eintragung bis zum Eintritt der Unanfechtbarkeit oder Vollziehbarkeit hinausgeschoben. Erst wenn eine dieser beiden Bedingungen eingetreten ist, treten die Rechtswirkungen der Eintragung ein, gelten die Schutzvorschriften des Gesetzes. 4. Von der Eintragung einer baulichen Anlage in das Baudenkmalbuch ist jeder betroffen, den die mit der Eintragung verbundenen Änderungsund Beseitigungsverbote des § 10 DSchG Bin treffen: der Eigentümer, M Zu diesem Begriff Meyer-Borgs, Kommentar zum Verwaltungsverfahrensgesetz (2. Aufl. 1982), §43 Rdn. 2; Kopp, Verwaltungsverfahrensgesetz mit Erläuterungen (3. Aufl. 1983), §43 Rdn.4; Knack-Klappstein, Kommentar zum Verwaltungsverfahrensgesetz (2. Aufl. 1982), §43 Rdn. 2.2. 59 Meyer-Borgs, §43 Rdn. 14; Knack-Klappstein, §43 Rdn. 2.2.1.3. Allerdings kann die zusammen mit der äußeren Wirksamkeit eintretende innere Wirksamkeit wieder entfallen, wenn der Verwaltungsakt mit aufschiebender Wirkung (§ 80 VwGO) angefochten wird.
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die Inhaber grundstücksgleicher Rechte wie Erbbaurecht und Wohnungseigentum, die dinglich und obligatorisch Nutzungsberechtigten des einzutragenden Grundstücks, sofern sie kraft ihres Nutzungsrechts zu Maßnahmen berechtigt sind, die ihnen künftig § 10 DSchG Bin verwehrt: Beseitigung, Wiederherstellung, Instandsetzung, Nutzungsoder sonstige Änderung. Sie sind im Verwaltungsverfahren zu ermitteln; sind sie in dieser Weise betroffen, ist an jeden von ihnen der Verwaltungsakt der Eintragung in das Denkmalbuch zu richten. Sie sind infolgedessen Verfahrensbeteiligte nach § 13 Abs. 1 VwVfG, die nach §28 VwVfG vor Erlaß des Eintragungsbescheides anzuhören und nach dessen Erlaß nach § 42 Abs. 2 VwGO klagebefugt sind. § 6 Abs. 3 S. 1 DSchG Bin, der die Anhörung auf die „Verfügungsberechtigten" beschränkt, ist unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten zu eng. Was auch immer unter diesem im DSchG Bin nicht definierten Begriff zu verstehen ist", umfaßt er, wie ein Vergleich mit dem in dem von Auskunftspflichten und Betretungsrechten handelnden § 19 DSchG Bin verwandten Doppelbegriff des „Verfügungs- und Nutzungsberechtigten" zeigt, jedenfalls nicht die bloß Nutzungsberechtigten, die jedoch im Einzelfall durchaus von den Eintragungsfolgen betroffen sein können. Aber der Kreis der Betroffenen reicht noch weiter: Da nach § 16 DSchG Bin die Umgebung eines Baudenkmals, soweit sie für dessen Erscheinungsbild von erheblicher Bedeutung ist, u. a. durch Errichten oder Andern baulicher Anlagen nicht so verändert werden darf, daß Eigenart oder Erscheinungsbild des Denkmals beeinträchtigt werden (Umgebungsschutz), zieht die Unterschutzstellung eines Baudenkmals auch den Eigentümern und sonstigen Berechtigten benachbarter (§16 Abs. 2 DSchG Bin) Grundstücke Grenzen. Auch sie sind von der Eintragung betroffen und folglich nach § 28 VwVfG anzuhören und nach § 42 Abs. 2 VwGO klagebefugt. Werden sie nicht am Verwaltungsverfahren beteiligt und von der Eintragung durch Übersendung oder Zustellung des Bescheides in Kenntnis gesetzt - was nur selten geschieht - , läuft für sie keine Klagefrist (§ 58 VwGO). Erst die öffentliche Bekanntmachung der Eintragung (§6 Abs. 5 DSchG Bin) setzt die einjährige Klagefrist des § 58 Abs. 2 VwGO in Lauf, dies dann aber für jedermann, auch für den künftigen Eigentümer, Nutzer oder Nachbarn". §6 Abs. 4 S. 2 DSchG Bin bringt dies — unvollkommen — zum Ausdruck, indem er bestimmt,
60 Andere Denkmalschutzgesetze sind konkreter: Eigentümer und Besitzer (BadenWürttemberg), Eigentümer und die sonst dinglich Verfügungsberechtigten (Bayern), Eigentümer, Erbbauberechtigte, Nießbraucher und der Inhaber der tatsächlichen Gewalt (Niedersachsen). 61 Auf diese unvermeidliche Konsequenz des dinglichen Verwaltungsaktes weisen zutreffend Meyer-Borgs a.a.O. §35 Rdn.72 hin.
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daß die Eintragung in das Baudenkmalbuch für und gegen den Rechtsnachfolger wirkt. Sie wirkt nicht nur gegen den Rechtsnachfolger, sondern als Folge des § 35 S. 2 V w V f G gegen jedermann, auch gegen den Nachfolger ohne Recht: Wer ein Baudenkmal „besetzt", unterfällt in seinem rechtlosen Besitz ebenfalls den Bindungen des § 10 D S c h G Bln. 5. Im Streitfall unterliegt die von der Denkmalschutzbehörde bejahte und durch Eintragung in das Baudenkmalbuch manifestierte Denkmaleigenschaft einer baulichen Anlage, da unbestimmter Rechtsbegriff, der uneingeschränkten verwaltungsgerichtlichen Nachprüfung. Einen Beurteilungsspielraum, den das Gericht zu respektieren hat, besitzt die Denkmalschutzbehörde nicht62. N u n hat allerdings das BVerwG der nach dem Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften gebildeten Bundesprüfstelle bei der Entscheidung über die Aufnahme einer Schrift in die Liste der jugendgefährdenden Schriften einen Beurteilungsspielraum zuerkannt". Maßgebend hierfür war die vielköpfige und pluralistische Zusammensetzung der Bundesprüfstelle, der Beisitzer aus den Kreisen der Kunst, der Literatur, des Buchhandels, der Verlegerschaft, der Jugendverbände, der Jugendwohlfahrt, der Lehrerschaft, der Kirchen und anderer Religionsgemeinschaften angehören. Diese Zusammensetzung, die „vermutetes Fachwissen und Elemente gesellschaftlicher Repräsentanz" verbindet, bietet die Gewähr, daß bei der Entscheidung der Bundesprüfstelle „die verschiedenen Gruppen unserer pluralistischen Gesellschaft wirksam werden". Dies verleiht den Entscheidungen der Bundesprüfstelle das Merkmal der Unvertretbarkeit, das der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle Grenzen zieht. Es wäre - so mit Recht das BVerwG - „widersprüchlich, wenn die Verwaltungsgerichte befugt wären, aufgrund eigener Ermittlungen mit Hilfe von Sachverständigen ihre Entscheidung anstelle der Entscheidung der Prüfstelle zu setzen". D e lege ferenda ist zu erwägen, die Entscheidung über die Denkmalwürdigkeit einer baulichen Anlage ähnlich zu strukturieren. Wer könnte besser beurteilen, ob die Erhaltung eines Bauwerks aus geschichtlichen, künstlerischen oder stadtbildlichen Gründen im Interesse der Allgemeinheit liegt, als eine aus Sachverstand und Bürgersinn pluralistisch 64 zusammengesetzte, kollegial entscheidende Denkmalschutzbehörde? Derzeit jedoch, wo der aus drei sachverständigen Mitgliedern aus den Fachgebieten Geschichte, Denkmalpflege und Architektur sowie drei Mitgliedern aus der Bürgerschaft zusammengesetzte " BVerwGE 24, 60 (63); B G H Z 72, 211. 63 BVerwGE 39, 197. " Deswegen müßten auch Vertreter der Wirtschaft und der Haus- und Grundbesitzer in einem solchen Gremium Sitz und Stimme haben. Es wäre für die Ausgewogenheit mißlich, wenn nur Enthusiasten des Denkmalschutzes die Bürger repräsentierten.
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Beirat für Baudenkmale (§4 DSchG Bin) lediglich eine beratende, unterstützende und anregende Funktion, aber keine Entscheidungsbefugnis besitzt - Baudenkmalschutzbehörde ist der zuständige Senator (§ 3 Abs. 1 DSchG Bin) - , sind die Entscheidungen der Denkmalschutzbehörde verwaltungsgerichtlich uneingeschränkt nachprüfbar. Das Gericht ist kraft seines Rechtsschutzauftrages (Art. 19 Abs. 4 GG) berechtigt und verpflichtet, aufgrund eigener Ermittlungen, bei denen es sich der Hilfe von Sachverständigen bedienen muß, soweit es der eigenen Sachkunde ermangelt, seine Entscheidung notfalls an die Stelle der Entscheidung der Denkmalschutzbehörde zu setzen. 6. Eine Klage gegen eine in Passivität verharrende Denkmalschutzbehörde auf Eintragung eines Bauwerks in das Baudenkmalbuch ist unserer Rechtsordnung fremd. Das von Art. 19 Abs. 4 G G vorgeprägte System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes gestattet nur die Geltendmachung subjektiver Rechte oder Rechtsverletzungen (§42 Abs. 2 VwGO). Die Eintragung eines Baudenkmals in das Baudenkmalbuch erfolgt jedoch stets im und wegen des Erhaltungsinteresses der Allgemeinheit (§6 Abs. 2 DSchG Bin), nicht im subjektiven Interesse des Verfügungsberechtigten. Er ist zwar nach § 6 Abs. 3 DSchG Bin befugt, die Eintragung in das Baudenkmal zu beantragen. Dieses Antragsrecht hat jedoch nur Anstoßfunktion und indiziert keinen Rechtsanspruch auf Eintragung. Die Weigerung der Denkmalschutzbehörde, einem Antrag auf Eintragung eines denkmalwürdigen Bauwerks in das Baudenkmalbuch stattzugeben, bleibt deshalb sanktionslos. Der Verfügungsberechtigte ist auf den mühsamen und in seinem Erfolg unsicheren Weg der Gegenvorstellung, der Petition oder der Anrufung des - seinerseits eher machtlosen - Beirats für Baudenkmale beschränkt. IV. In einem Rechtsstaat, der das Privateigentum unter Grundrechtsschutz stellt, ist die Grenzziehung zwischen der entschädigungslos zu duldenden Eigentumsbeschränkung und dem zu entschädigenden enteignenden Eigentumseingriff die zentrale Frage des Denkmalschutzes 65 . Es gilt, den rechten Weg zwischen dem privaten Eigentümerinteresse einerseits und dem öffentlichen Denkmalschutzinteresse andererseits, zwischen Sozialbindung und Enteignung zu finden. 65
Dazu allgemein: Leibholz-Lincke, Denkmalschutz und Eigentumsgarantie, DVB1. 1975, 933; Fahrenbruch, Enteignende Wirkung denkmalrechtlicher Entscheidungen, BWVPr. 1979, 198 mit Ergänzung von Denzel, BWVPr. 1980, 45; Moench, Denkmalschutz und Eigentumsbeschränkung, NJW 1980, 1545; Maunz, Denkmalschutz und Eigentumsgewähr, BayVBl. 1983, 257.
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1. Die Eintragung einer baulichen Anlage in das Baudenkmalbuch unterwirft diese den Schutzvorschriften des Gesetzes (§ 6 Abs. 4 S. 1 DSchG Bin), insbesondere dem durch § 10 Abs. 1 DSchG Bin begründeten Verbot, das Baudenkmal ohne behördliche Genehmigung ganz oder teilweise zu beseitigen, wiederherzustellen, instandzusetzen, in seiner Nutzung zu ändern oder in sonstiger Weise zu verändern. §10 Abs. 1 DSchG Bin begründet ein präventives, kein repressives Verbot". Denn es geht nicht, wie beim repressiven Verbot, darum, jede Änderung des Baudenkmals auf Dauer zu unterbinden: Die Beseitigung von Teilen eines Bauwerks, die in späterer Zeit hinzugefügt wurden, wird oft das Baudenkmal überhaupt erst in seiner ursprünglichen Gestalt sichtbar werden lassen; gleiches gilt von der Wiederherstellung zerstörter Teile. Durch die Instandsetzung wird einem fortschreitenden Verfall Einheit geboten, und eine Nutzungsänderung kann durchaus denkmalverträglich sein. Daß es nicht der Sinn des §10 DSchG Bin sein kann, diese Änderungen unbedingt zu unterbinden, wird besonders deutlich an § 18 DSchG Bin, der eine öffentliche Förderung der Erhaltung und Unterhaltung - wozu auch die Instandsetzung gehört - und der Wiederherstellung von Baudenkmalen, sowie an § 13 Abs. 1 DSchG Bin, der Entschädigungsleistungen als Ausgleich für wirtschaftlich unzumutbare Aufwendungen für die Erhaltung, Unterhaltung und Wiederherstellung von Baudenkmalen vorsieht. § 10 DSchG Bin soll mithin nicht (repressiv) unterbinden, sondern soll (präventiv) sicherstellen, daß jede das Baudenkmal verändernde Maßnahme, bevor sie vorgenommen wird, zur Kenntnis der Behörde gelangt, damit diese die Maßnahme auf ihre Denkmalverträglichkeit prüft und sie, falls erforderlich, durch Versagung der Genehmigung verhindern kann67. Das Verbot mit Erlaubnisvorbehalt ist im Rechtsstaat ein geläufiges und zulässiges gesetzestechnisches Mittel zur Herbeiführung einer vorgängigen Verwaltungskontrolle, das als solches dem potentiellen Grundrechtseingriff vorausgeht, der frühestens in der Verweigerung der Erlaubnis liegt. Die Eintragung einer baulichen Anlage in das Baudenkmalbuch und das dadurch ausgelöste präventive Beseitigungs- und Veränderungsverbot des § 10 DSchG Bin stellen daher zwar eine Eigentumsbeschränkung, aber keine Enteignung dar. 2. Das präventive Verbot mit Erlaubnisvorbehalt muß, um rechtsstaatlichen Anforderungen zu genügen, die Voraussetzungen nennen, unter denen die Behörde die Genehmigung zu erteilen oder zu versagen hat,
" A . A . Moench, N J W 1980, 1545 (1547), der ein repressives Verbot annimmt. 67 Zu dieser generellen Zielrichtung des präventiven Verbots mit Erlaubnisvorbehalt s. BVerfGE 12, 281 (292); 18, 353 (362).
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und es m u ß , falls ein Versagungsgrund nicht vorliegt, einen Rechtsanspruch auf Erteilung der Genehmigung einräumen". § 10 DSchG Bin entspricht diesen Anforderungen: N a c h A b s . 2 darf die Genehmigung zur (Ver-)Anderung des Baudenkmals nur versagt werden, wenn ihr G r ü n d e des Denkmalschutzes entgegenstehen. Anderenfalls besteht ein Rechtsanspruch auf ihre Erteilung. U m sicherzustellen, daß es bei D u r c h f ü h r u n g der genehmigten Maßnahme nicht doch zu Beeinträchtigungen des Baudenkmals k o m m t , kann - eine Maßnahme vorbeugenden Denkmalschutzes - nach § 10 Abs. 3 S. 3 D S c h G Bin bestimmt werden, daß bestimmte Arbeiten nur durch Fachleute oder unter der Leitung von Sachverständigen ausgeführt werden. 3. Eine denkmalberührende Maßnahme - Beseitigung, Wiederherstellung, Instandsetzung, Nutzungsänderung oder sonstige Änderung kann mithin durch Verweigerung der Genehmigung nur unterbunden werden, wenn ihr G r ü n d e des Denkmalschutzes entgegenstehen". Liegt darin eine Enteignung, die dann wegen Art. 14 Abs. 3 G G nur z u m Wohle der Allgemeinheit und gegen Entschädigung zulässig ist? a) D e r Bundesgerichtshof 7 0 hat in einer zu §24 DSchG Bad.-Württ. 7 1 ergangenen Entscheidung die Grenze zwischen bloßer Eigentumsbeschränkung und Enteignung im Denkmalschutzrecht wie folgt gezogen: Die Grenze zwischen Sozialbindung und Enteignung werde überschritten, wenn eine bisher zulässig ausgeübte oder eine zwar nicht ausgeübte, aber zulässige N u t z u n g , die der Lage und Beschaffenheit des Eigentums entspricht und die von einem vernünftig denkenden Eigentümer auch ins Auge gefaßt würde, untersagt bzw. durch Versagung der Genehmigung unterbunden wird. Diese Grenzziehung ist, da aus Art. 14 G G entwikkelt, allgemeingültig. b) Das D S c h G Bin begnügt sich nicht mit der vagen Generalklausel, des baden-württembergischen Denkmalschutzrechts 7 2 , sondern bestimmt in
r«c&e« der §§56 ff. StVollzG; dies läßt sich in einer Rechtsordnung, für die das Selbstbestimmungsrecht der Person ein zentraler Wert ist (vgl. Art. 1 und 2 Abs. 1 GG), im übrigen in beiden Fällen auch verfassungsrechtlich untermauern. Ebenso wie der Patient der Freiheit hat demnach auch der kranke Gefangene einen Anspruch auf Unterrichtung über die Diagnose, über die Art der Behandlung und deren Risiken und nicht zuletzt auch über den Erfolg oder die Erfolgsaussichten der Therapie. Selbstverständlich hat der Gefangene also das Recht, beispielsweise über eine unheilbare schwere Krankheit (Krebs) unterrichtet zu werden. Die Aufklärung erfolgt natürlich auch im Strafvollzug in aller Regel mündlich, orientiert an den Geboten ärztlicher Fürsorge.
90 Die Entscheidung über die Einsichtsgewährung als solche ( = Anordnungskompetenz) steht in jedem Fall der Vollzugsbehörde zu, auch wenn diese zur Beurteilung der dabei anzuwendenden Kriterien ggf. der insoweit sachverständigen Hilfe des Anstaltsarztes bedarf. Zu diesem „Kompetenz"-Problem, das vor allem bei §101 Abs. 3 StVollzG aktuell geworden ist, siehe vertiefend G e b e r t Jura 1982, 189 f. " Hier und im folgenden folge ich vor allem einer neueren zivilrechtlichen und zivilprozessualen Konzeption, wie sie vor allem von Stümer (o. F. 53 S. 300 ff.) entwickelt wurde und speziell für die Einsichtsrechte in ärztliche Behandlungsunterlagen neuerdings von Hohloch (NJW 1982, 2582 ff.) und Ahrens (NJW 1983, 2610 ff.) fruchtbar gemacht wird. " Sie kann im Einzelfall durchaus auch - wie beispielsweise bei Einholen einer "second opinion" - als Hauptpflicht vereinbart werden: vgl. Ahrens N J W 1983, 2611.
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b) Etwas anderes gilt nur dann, wenn der Patient sich mit dieser in Art und Umfang vom Arzt allein bestimmten Aufklärung nicht begnügt und mehr Information verlangt - beispielsweise, selbst Einblick in die über ihn geführten ärztlichen Unterlagen nehmen zu dürfen. Dies kann er aber nur dann, wenn er Anlaß hat, exaktere Rechenschaft zu verlangen: eben unter den Voraussetzungen eines (außer- oder vorgerichtlichen) prozeßvorbereitenden Informationsanspruches, wie immer man diesen dogmatisch im einzelnen begründen mag93. Jedenfalls hinsichtlich der materiellen Voraussetzungen ist man sich weitgehend einig, daß solche prozeßvorbereitenden Informations-, hier: Einsichtsrechte nur im Rahmen rechtlicher Sonderverbindungen zur Sicherung/Durchsetzung von Ansprüchen (Stichwort: „rechtliches Interesse") und nur dort in Betracht kommen, wo der Antragsteller nicht selbst in der Lage ist, die Information ohne Behelligung eines anderen aus eigener Kraft zu besorgen'4. In diesem Sinn kann ein Gefangener an einem Blick in die anstaltsärztlichen Behandlungsunterlagen „rechtlich" interessiert sein, wenn er sich vom Anstaltsarzt und/oder unter den Bedingungen eines Gefängnisses ärztlich nicht ausreichend betreut fühlt und den Antrag auf pflichtgemäße Ermessensentscheidung dahinstellt, z.B. vom Anstaltsarzt anders (= besser) oder überhaupt von einem anderen (Fach-)Arzt behandelt oder in ein Krankenhaus außerhalb des Vollzuges verlegt zu werden. Oder der Strafgefangene möchte gegen eine an sich nichtmedizinische Vollzugsmaßnahme, die jedoch ärztliche Erkenntnisse und Befunde zur Grundlage hat (Beispiele: Besuchserlaubnis, Paketempfang, Vollzugslockerungen, Urlaub, Freigang usw.'5), vorgehen und eine für ihn günstige Entscheidung gegebenenfalls gerichtlich erzwingen. Zum Hauptanspruch, den es durch Einsichtnahme in die Krankenpapiere gegebenenfalls abzuschätzen oder vorzubereiten gilt, kann sich schließlich auch das Verlangen des Gefangenen verdichten, über das Vorhandensein einer unheilbaren schweren Krankheit umfassend und wahrheitsgetreu aufgeklärt zu werden. In allen diesen Fällen muß der Antragsteller im Hinblick auf den vorzubereitenden Anspruch noch zusätzlich dartun, weshalb sein Informationsinteresse gerade nur durch Einsichtnahme in die anstaltsärztlichen Unterlagen befriedigt werden kann und " Siehe dazu vor allem Stiirner (o. F. 53) S. 308 ff., der für seinen prozeßvorbereitenden Informationsanspruch die „Kasuistik" diverser vor allem zivilrechtlicher und zivilprozessualer „positivrechtlicher Einzelregelungen" fruchtbar machen will. - Parallelen dazu für das Thema dieses meines Beitrages: ich habe versucht, für die behördliche Ermessensentscheidung über die Gewährung von Einsicht in die anstaltsärztlichen Krankenunterlagen die Kasuistik insbesondere des §29 VwVfG nutzbar zu machen. 94 Zu den Voraussetzungen dieses prozeßvorbereitenden Informationsanspruches im einzelnen siehe Stiirner (o. F. 53) S. 326 ff. 55 Weitere Beispiele bei Geppert (o.F. 1) S. 17f.
Einsichtsrecht des Strafgefangenen in Krankenunterlagen
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welche konkrete Anhaltspunkte überhaupt dafür vorliegen, ζ. B. daß der Gefangene nicht korrekt versorgt wird, unbedingt in ein allgemeines Krankenhaus gebracht werden muß usw. Es versteht sich, daß allein das durch nichts belegte mögliche Mißtrauen des Patienten gegen seinen Arzt (oder: gegen „die Ärzte" schlechthin!) und insbesondere gegen einen Anstaltsarzt, der in der atmosphärisch angespannten Situation des Strafvollzuges erfahrungsgemäß nur zu oft als „Blitzableiter" dienen muß % , hierfür nicht ausreichen kann. Aus guten Gründen hat die Rechtsprechung überall dort, wo der Informationsanspruch an ein „rechtliches Interesse" geknüpft ist, nackte „Ausforschungs"-Begehren, die durch keinerlei Anhaltspunkte belegt sind, für nicht ausreichend erachtet' 7 . Man kann speziell im Vollzug, wo unnötige Geheimniskrämerei gerade das Verhältnis Arzt-Patient besonders nachteilig belasten wird, nur hoffen, daß die zur Ermessensentscheidung über die Einsichtgewährung Berufenen (Anstaltsarzt, Anstaltsleitung) sich nicht zu schnell hinter diesem Ausforschungsverbot verstecken. Man kann nur wünschen, daß die Entscheidungsträger einen solchen unzulässigen Ausforschungsantrag, bei dem man überhaupt nicht in die Ermessensprüfung einzutreten habe", nicht schon dort annehmen, wo der Gefangene für sein Einsichtsverlangen immerhin „plausible" Gründe nennen kann". Damit rede ich nicht das Wort dem Vorschlag, jeder Laune eines Gefangenen nachzukommen und ggf. gegenläufige Geheimhaltungsbelange nicht gebührend berücksichtigen zu wollen. Wohl aber möchte ich abschließend zu bedenken geben, daß eine einsichts-„freudigere" Praxis möglichen Querulanten auf Dauer am sichersten das Wasser abgräbt, den Beteiligten auf längere Sicht gewiß auch weniger Arbeit schafft und vor allem dafür sorgt, daß der Gefangene sich wenigstens im Verhältnis zum Anstaltsarzt so wenig wie nötig als „Gefangener" fühlen muß und von hier aus ein Vertrauensverhältnis schaffen kann, das nicht nur für seine medizinische Genesung von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist.
* Siehe dazu Böhm, Strafvollzug (1979), S. 106. ' 7 Nachweise in o.F. 15, 22 und 52. " So aber Czaschke NStZ 1983, 445 (in Anm.35 mit weiteren Hinweisen auf entsprechende höchstrichterliche Äußerungen). " Zu diesem Begriff siehe näher verdeutlichend Stümer (o. F. 53) S. 329 ff.
Kolonialpolitik zwischen Irritation und Illusion Prolegomena zu einer Rechts- und Sozialgeschichte deutscher Kolonialbestrebungen im Pazifik am Beispiel Samoas (1857-89) DIETER GIESEN* * Dr. iur. (Bonn), M . A . status (Oxon.); Ordinarius f. Bürgerl. Recht, Rechtsvergleichung u. Dt. Rechtsgeschichte a. d. FU Berlin (seit 1973); Visiting Fellow of Pembroke College Oxford (seit 1976). - Verf. dankt dem Master u. den Fellows of Pembroke College für großherzige Gastfreundschaft während seines Forschungsaufenthalts a. d. Univ. Oxford im Sommersemester 1983. - Für großzüg. gewährte Archivbenutzungserlaubnis, Hilfe u. d. Erlaubnis zu Zitierungen aus (bisher unveröffentlichten) Dokumenten dankt Verf. The Most Hon. The Marquess of Salisbury (Hatfield House, England), sowie dem Public Record Office, London; der Bodleian Library u. dem Rhodes House d. Univ. Oxford; dem Zentralen Staatsarchiv der D D R in Potsdam; dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes, Bonn, sowie dem Bundesarchiv-Militärarchiv, Freiburg i. B. Hier u. a. verwendete Abkürzungen: AA Auswärtiges Amt (s. hier a. E.); AdM Akten der Missionen (Botschaft London); Adm. Admiralität, Admiralty; Anl. Anlage(n); Β ΑΜΑ Bundesarchiv-Militärarchiv; BFSP British Foreign State Papers; Bin Berlin; Bodl. Bodleian Library; Ca. Cambridge; C H B E Cambridge History of the British Empire; C O Colonial Office London; CTS Consolidated Treaties Series ed. C. Parry; Drs. Drucksac h e ^ ) ; Dtld Deutschland; Erl. Erlaß; Ffm. Frankfurt a. M.; F O Foreign Office London; Frb. Freiburg i. B.; GenKon. Generalkonsul; GP Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871-1914, ed. J. Lepsius et alii; Hbg Hamburg; Hg. (Hgg.) Herausgeber; Jnl. Journal; KolGesch Kolonialgeschichte; KolMin Kolonialminister(ium); KolPol Kolonialpolitik; KolR Kolonialrecht; KolVerw Kolonialverwaltung; Lo. London; Lpz. Leipzig; Mü. München; N H New Haven; ΝΎ New York; o. D. ohne Datumsangabe; o.P. ohne Paginierung; Ox. Oxford; PRO Public Record Office; Ref. Referent; RG Rechtsgeschichte; Rh. H. Rhodes House; r. recto; Rez. Rezension zu; RKolA Reichskolonialamt; RM Reichsmarine(amt); Rs. Rückseite; R T Reichstag; RV Verfassung d. dt. Reiches v. 16.4.1871; Stgt Stuttgart; StenBer. R T Stenographischer Bericht über die Verhandlungen des Reichstags Legislaturperiode/Session m. Jahr/Band; v. verso; Wb. Angra Pequena Weißbuch, vorgelegt dem R T i.d. 1. Session der 6. Leg.-Per., l.Theil, Bin 1885, Angra Pequena: S. 69-127 = RT-Drs. 61/1884, StenBer. 6/1 1884-5/5, Bin 1885 S. 158-187; Wb. Fiji - Weißbuch, 2.Theil, Dt. Landreklamationen auf Fiji, vorgel. dem R T i.d. 1.Session der 6. Leg.-Per., Bin 1885, S. 3 ff. = RT-Drs. 11/1885, StenBer. 6/1 1884-5/5, Bin 1885, S.418ff.; Wb. Samoa I Weißbuch [Samoa], vorgel. dem R T i.d. 4.Session der 7.Leg.Per., 5. Theil, Bin 1889 = RT-Drs. 110/1889, StenBer. 7/IV 1888-9/5 (2. Anlagebd.), Bln. 1889, S.557ff.; Wb. Samoa II = RT-Drs. 138/1889, ebd. (wie Samoa I), S.874ff.; Wb. Südsee I Weißbuch, vorgel. dem R T i.d. 1.Session der 6.Leg.-Per., l.Theil, Bin 1885, Dt. Interessen i.d. Südsee [I], S.129ff. = RT-Drs. 63/1884, StenBer. 6/1 1884-5/5, Bin 1885, S. 196ff.; Wb. Südsee II Weißbuch, vorgel. dem RT i.d. 1.Session der 6.Leg.-Per., 2. Theil [Südsee], Bin 1885, S. 93 ff. = RT-Drs. 167/1885, StenBer. 6/1 1884-5/6, Bin 1885, S.686ff.; ZStA Zentrales Staatsarchiv. - Die in dieser Abhdlg. zit. Quellen aus d. AA befinden sich heute in Bonn (vgl. dazu Fn. 153).
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Die Vortheile, welche man sich von Colonien für den Handel und die Industrie des Mutterlandes verspricht, [beruhen] zum größten Theil auf Illusionen. Der Kanzler des Norddeutschen Bundes Graf Otto von Bismarck an den Kgl. Staats- u. Marineminister von Roon (1868)1 Samoa is an excessively overrated place. The Germans began there in 1857, and have caused a free hand in every stung. Sir John Thurston, High Commissioner for the Western Pacific, an Sir Robert Herbert, Colonial Office Permanent Under-Secretary (1886)1 Für Deutschland bedeutet der Name Samoa den Anfang und den Ausgangspunkt unserer kolonialen Bestrebungen. Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Bernhard von Bülow an den Kaiserl. Botschafter in London Grafen von Hatzfeldt (1899)3 Am Ende seiner Laufbahn fand Bismarck, daß die ganze Kolonialpolitik ein Fehler war... In Mitteleuropa zog längst der Emstfall herauf, und die Kolonien erschienen dem düsteren Realismus Bismarcks nur noch als Ablenkung und Belastung... Und als die rote Fahne 194} über dem Brandenburger Tor wehte, da war es, weil die deutsche Politik die Furcht Bismarcks durch die Hybris der Späteren ersetzt hatte. Michael Stürmer, Das ruhelose Reich (1983)4
Der Schwerpunkt der fremden Interessen in Samoa liegt offensichtlich in deutschen Händen. Schon gleich bei der Einfahrt in den Hafen von Apia fallen die großen Geschäfts- und Warenhäuser der deutschen Firmen ... und der deutschen Handels- und Plantagen-Gesellschaft..., die ausgedehnten Lagerhäuser und die daran sich anschließende stattliche Reihe von Dienstwohnungen der Angestellten der Gesellschaft ins Auge... Noch deutlicher tritt die Stellung und Bedeutung der gedachten Gesellschaft in Apia selbst zu Tage. Wer mit den hiesigen Verhältnissen näher bekannt ist, wird in jedem Dritten der ihm begegnenden Fremden entweder einen derzeitigen Bediensteten der Gesellschaft erkennen oder Einen, der in derselben früher thätig war, seine Existenz ihr verdankt, oder doch von den Geschäftsbeziehungen mit derselben abhängig ist. Unter den Samoanern selbst und Uberhaupt im Lande wird von ihr nur als von der „alten Firma" gesprochen.. .5 Was der nach Samoa entsandte
Berlin, 9.1.1868, ZStA Potsdam, RKolA 7155 Bl. 11-12. Government House, Fiji, 1.10.1886, PRO/CO 537/136 fols. 90Aff. (901· r.). 3 Berlin, 6.5.1899, AA/Dtld. 131 Nr. 3 [Secreta], GP XIV. 2/4072 (S.614). 4 M.Stürmer, Das ruhelose Reich. Dtld. 1866-1918, Bin 1983, 233, 235. 5 Der dt. Spezialkommissar f. Samoa Kaiserl. GenKon. in Sydney Travers an das AA, Apia, 8.12.1886 (Anl. z. Erl. Nr. 119 ds AA a. d. Botschafter in London Grafen von Hatzfeldt, Berlin, 9.2.1887, AA/AdM 577 = Rh.H./Micr. oc. 61/1). 1
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Generalkonsul Travers an eindrucksvollen Zeichen deutscher Präsenz damals sah, hatte eine Generation zuvor, 1857, mit Gründung einer Handelsniederlassung des Hamburger Hauses J. C. Godeffroy & Sohn begonnen. Es hatte bereits in Hawaii, Valparaiso und Kalifornien große Handelserfahrungen gesammelt, bevor es sich auf Samoa niederließ und in der Südsee zunächst unter diesem Namen und später als Deutsche Handels- und Plantagengesellschaft (DHPG) zum Gulliver among the Lilliputs' aufstieg7. Selbst wer heute, einhundertfünfundzwanzig Jahre danach in Samoa vom Flugplatz Faleolo an den die Straße säumenden Eingeborenendörfern - in denen die Zeit stillgestanden zu haben scheint - vorbei zur Hauptstadt Apia fährt, kann noch Generationen nach dem Ende der deutschen Zeit ehemals deutsche Plantagen unter anderen an der Reih-und-Glied-Anordnung ihrer Anpflanzungen ausmachen, wenn die meisten anderen Zeugen deutscher Vergangenheit längst vergangen sind und die Erinnerung an sie unter den Samoanern mit den heute über Achtzigjährigen allmählich selbst dahinschwindet. I.
Die frühe Entwicklung der deutschen Handelsinteressen in Afrika, Südamerika und im Pazifik8, der sie im 19. Jh. begleitenden kolonialen Argumente', sowie der deutschen Kolonialpolitik unter von Bismarck ist
' R. L. Stevenson, A Footnote to History. Eight Years of Trouble in Samoa, in: The Works o f . . . , Tusitala-Ed., 35 Bde., Lo. 1923-4, Bd. X X I (Vailima Papers), Lo. 1924, 67 ff. (88). 7 Kaiserl. Konsul Dr. Stuebel an Reichskanzler Fürsten von Bismarck, Apia, 18.12.1883 (m. Dkschr. nebst Anl.), Wb. Südsee I, 131-150 u. 199-213; GenKon. Travers (Fn. 5) a. d. AA, Apia, 8.12.1886, Wb. Samoa I, 1-5. 8 P. E. Schramm, Dtld. u. Übersee: D. dt. Handel mit d. anderen Kontinenten, insbes. Afrika..., Braunschweig 1950; Μ. Ε. Townsend, Origins of Modern German Colonialism 1871-85, N Y 1921, 36ff.; dies., Rise and Fall of Germany's Colonial Empire 1884-1918, N Y 1930, 44{i.;John A. Moses u. P. M. Kennedy (Hgg.), Germany in the Pacific and Far East 1870-1918, St. Lucia 1977. ' Zeitgen. Bsple: R. von Mohl, „Uber Auswanderung", Zschr. f. d. ges. Staatswiss. 4 (1847) 320; F.Fabri, Bedarf Dtld. der Colonien?, Gotha 1879; W. Hübbe-Schleiden, Dt. Colonisation, Hbg. 1881; F.List, D. nationale System d. polit. Ökonomie, Bin 1840 ("1925); vgl. allg. W. D. Smith, „The Ideology of German Colonialism 1840-1906", Jnl. of Mod. Hist. 46 (1974) 641. Moderne allg. Darstellungen: D.K. Fieldhouse, D. Kolonialreiche seit d. 18.Jh. (Bd. 29 d. Fischer-Weltgesch.), Ffm. 1965; den., Colonialism 1870-1945, Lo. 1981; zu Afrika: P. Duignan u. L. H. Gann (Hgg.), Colonialism in Africa 1870-1960, 5 Bde., Ca. 1969-76; zu d. dt. Afrikagebieten: L. H. Gann u. P. Duignan, The Rulers of German Africa 1884-1914, Stanford 1977; W. O. Henderson, Studies in German Colonial Hist., Lo. 1962; zum Pazifik: I. Leeson, A Bibliography of Bibliographies of the South Pacific, Ox. 1954; C.R.H. Taylor, A Pacific Bibliography, Ox. 1965; zu d. dt. Pazifikgebieten: John A. Moses u. P. M. Kennedy (Fn. 8), 349 ff., 384 ff.
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oft und unterschiedlich beschrieben und interpretiert worden10. Sie kann an dieser Stelle nur mit Hinweisen auf weiterführende Literatur gestreift werden11. Im Pazifik war die kaufmännische Position deutscher Handelsfirmen seit den 1870er Jahren unangefochten. Die Firma Godeffroy auf Samoa kontrollierte etwa 7 0 % des gesamten Handels der Südsee. Alle deutschen Firmen zusammen besaßen sowohl im Export (Kokosöl, Kopra, Baumwolle, Perlmutt) als auch im Import (Textilien, Eisenwaren, Waffen, Munition) mit Hans-Ulrich Wehlers Worten seit 1879 ein Monopol, das den Händlern anderer Nationen nur eine schmale Marge ließ". Unter der tatkräftigen Führung von Männern wie Theodor Weber — der auch die Interessen Hamburgs in der Südsee, dann die des Norddeutschen Bundes und nach 1871 als Konsul die des Deutschen Reiches vertrat und von anderen europäischen Beobachtern im Pazifik als a man of unequalled influence13 und als Südseekönig14 beschrieben wurde - , konnte die Firma Godeffroy bzw. die DPHG Apia zu jenem von Konsul Travers beschriebenen blühenden Mittelpunkt deutscher Interessen im Pazifik ausbauen, von dem aus auch Zweigniederlassungen und Stationen in allen anderen Teilen der Südsee gegründet wurden. Deren weitmaschiges Netz umspannte schon 1883 auch die Tonga-, Ellice-, Gilbert-, Marshall-, Karolinen-, Salomon- und Palauinseln sowie die Neuen Hebriden und den Neu-Britannien-Archipel15. Webers
10 Vgl. die v. H.-U. Wehler, Bismarck u. d. Imperialismus, Köln 1969 ( 2 1970 m. Lit.), dems., „Bismarck's Imperialism 1862-90", Past & Present 48 (1970) 119 (dt. Übers, in H.U. Dehler [Hg.], Imperialismus, Königsst./Ts. 1979, 259 ff.) ausgelöste Kontroverse um Bismarcks manipulatorischen Sozialimperialismus: L. Gall, Bismarck. D. weiße Revolutionär, Ffm. 1980 (Ί980), 614ff.; P.M. Kennedy, „German Colonial Expansion: Has the Manipulated Social Imperialism been antedated?", Past & Present 54 (1972) 134; W. Zorn, Rez. d. ob. gen. Wehlerschen Monographie, Vjschr. f. Soz.- u. Wirtschaftsgesch. 57 (1970) 129; vgl. auch Fn. 96.
Η. Pogge von Strandmann u. A. Smith, „The German Empire in Africa and British Perspectives: A Historiographical Essay", in: P. Gifford u. Wm. R. Louis (Hgg.), Britain and Germany in Africa. Rivalry and Colonial Rule, N H 1967, 709; P.Duignan u. L.H. Gann, A Bibliographical Guide to Colonialism in Sub-Saharan Africa, in: Colonialism in Africa (Fn. 9), Bd.5, Ca. 1973, 386; vgl. auch Fn.9. 12 H.-U. Wehler, Bismarck (Fn. 10), 208ff. (216); vgl. auch 5. G. Firth, „German Firms in the Pacific Islands 1857-1914", i n : J . A. Moses u. P. M. Kennedy (Fn. 8), 3 ff.; E. SuchanGalow, D. dt. Wirtschaftstätigkeit i. d. Südsee vor der ersten Besitzergreifung 1884, Hbg. 1940. Vgl. Fn. 46. 13 Sir John Thurston (bei Fn.2) an KolMin Edward Stanhope, Suva, Fiji, 8.10.1886 [Secret & Confidential], P R O / C O 537/136 fols. 71 ff. (75 r.). 14 Ε. G.Jacob, Dt. KolPol in Dokumenten, Lpz. 1938, 119; Μ. E. Townsend, Rise and Fall (Fn. 8), 48. 15 Wb. Südsee I, 150ff. u. 213ff.; P.M. Kennedy, „Bismarck's Imperialism: The Case of Samoa 1880-90", The Hist. Jnl. XV.2 (1972) 261 (263); H.-U. Wehler, Bismarck (Fn. 10), 210 ff. 11
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neue Verarbeitungs-, Verschiffungs- und Verwertungstechniken für das Hauptprodukt der Inselwelt, die Kokosnuß, führten zu einem großen Aufschwung des deutschen Südseehandels, seine Entscheidung, Land auf Samoa aufzukaufen und firmeneigene Plantagen anzulegen, um von der unregelmäßigen Kopraproduktion der Eingeborenen unabhängig zu sein", legte aber auch die Grundlage für die deutsche Sorge um die Verhütung der ständigen samoanischen Stammesfehden um die nicht festgelegte und daher zwischen mehreren Häuptlingsfamilien immer wieder streitige Königswürde 17 und die Sicherung friedlicher, dem Handel günstiger Verhältnisse18. II. Zwar galt die Sorge deutscher Kaufleute in der Südsee zunächst nur der wirtschaftlichen Absicherung ihres Handels. In dem Umfang aber, in dem sich das Handelsinteresse mit wachsendem Grund- und Plantagenbesitz verband, rückte auch die Frage in den Vordergrund, wie dieser Besitz vor Unruhen und Plünderungen politisch wirksam geschützt werden könnte" - auch deshalb, weil sich Großbritanniens unruhige Subkolonisten im Pazifik, Australien20, besonders Neuseeland 21 , seit langem, wenn auch gegen den Willen des Mutterlandes22, für Samoa interessierten, dort agitierten und immer wieder Annexionsabsichten verkündeten und schließlich Großbritannien selbst und die Vereinigten
14 Zum Hintergrund: R. P. Gilson, Samoa 1830-1900. The Politics of a multicultural Community, Melbourne 1970, 29 ff., 246 ff.; J. W. Davidson, Samoa mo Samoa. The Emergence of the Independent State of Western Samoa, Melbourne 1967, 13ff.; R.G. Ward, Man in the Pacific Islands, Ox. 1972. 17 Neuestens: Cb. G. Powles, The Persistence of Chiefly Power and its Implications for Law and Political Organisation in Western Polynesia, Canberra (Austral. Nat. Univ. phil. Diss.) 1979, 11 ff., 19 ff.; noch d. dt. KolVerw. hatte Schwierigkeiten, diese kriegerischen „Contests for leadership and title honours" abzuschaffen (ebd. 107 ff.), m. w . N . 18 S. Masterman, The Origins of the International Rivalry in Samoa 1845-84, Lo. 1934, 57 ff. " A. Zimmermann, Gesch. d. dt. KolPol, Bin 1914, 12 ff.; Μ. E. Townsend, Origins (Fn.8), 43 ff. 20 J.D. Legge, Australian Colonial Policy, Sydney 1956. 21 A. Ross, New Zealand Aspirations in the Pacific in the 19th Century, Ox. 1964; J. Vogel (später Premier v. Neuseeland), N e w Zealand and the South Sea Islands, and their relation to the Empire, Lo. 1878; C H B E VII.2, 206, 209-211; vgl. Fn.22. 22 Auf Hinw. ds Gouverneurs v. Neuseeland 1873, sein Land suche nach wie vor Annexion Samoas durch d. Mutterland u. andernfalls durch Neuseeland selbst, notierte KolMin Lord Kimberley auf der Rs. ds Briefs: "I am not prepared to interfere with respect to these islands. We have quite enough on our hands in all quarters of the world without adding to our responsibilities." (Sir James Fergusson an C O , Auckland, 23.10.1873, P R O / C O 537/122 fols. 17-8 (Zit. 18 r.).
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Staaten mit den deutschen Interessen auf Samoa zusammenzustoßen begannen". 1. In seiner doppelten Eigenschaft als Leiter des Godeffroyschen Hauses und als deutscher Konsul machte Theodor Weber in der Hauptstadt des gerade erst gegründeten Deutschen Reiches24 schon 1871 darauf aufmerksam, daß die Vereinigten Staaten sich um Samoas besten Hafen (Pago Pago auf Tutuila im heutigen Amerikanisch-Samoa) zu bemühen begonnen hatten25 und im Begriff waren, auch auf den anderen samoanischen Inseln Verträge mit den Eingeborenen zu schließen. Er empfahl der kaiserlichen Regierung, im deutschen Interesse schnell in Samoa zuzugreifen und nicht länger zu zögern26. In einer späteren Eingabe nach Berlin erklärte er, daß dieses Temporisiren zu nichts Gutem führt oder nur das verschiebt, was sonst höchstwahrscheinlich früher oder später doch wird geschehen müssen, nämlich einzuschreiten, Samoa zur Ruhe und Ordnung zwangsweise veranlassen, eine gehörige Regierung einsetzen und für längere Zeit stützen. Nicht alleine die hiesigen Fremden, so argumentierte der Konsul, sondern auch die Samoaner ... sehen es fast als eine Art Pflicht Deutschlands an, Angesichts der hiesigen großen und fast ausschließlich deutschen Interessen, daß die kaiserliche Regierung derartige Schritte nimmt... [Ich betone,] daß ich nicht viel Hoffnung auf Besserung habe, wenn nicht entschiedener vorgegangen wird nämlich durch Annexion, bevor es zu spät war: dem Zustand immerwährender Unruhen und Gefahren für die deutschen Interessen sei selbst eine Errettung durch Englische Annectirung vorzuziehen27. 2. In Berlin gingen in den sechziger und siebziger Jahren auch zahlreiche andere Kolonisationsvorschläge ein: von Neu-Guinea und Madagaskar war die Rede, von Plätzen in oder wie Mexiko, Costa Rica, „CentralAmerika", Java, Surinam, Borneo, Formosa, Tunis und Tripolis, von der Westküste Afrikas, von Timor, Ekuador, der Delagaobucht in Südafrika und vom Transvaal, von Afrikas Ostküste, Mozambique, Curasao, Saigon, Fiji, Algier, Westindien, den Neuen Hebriden, von 23 P. M. Kennedy, The Samoan Tangle. Α Study in Anglo-German-American Relations 1878-1900, St. Lucia 1974. 24 Uber das kaiserl. Berlin: G. Masur, Imperial Berlin, Newton Abbot 1973; über das kaiserl. Dtld: ].]. Sheehan, Imperial Germany, NY 1976 (Lit.). 25 Ein d. Recht z. Bau eines amerikan. Hafens in Pago Pago einräumender Vertrag v. 14.2.1872 wurde im damals isolationist. Kongreß nicht ratifiziert; ein Freundschaftsvertrag v. 17.1.1878 (Fn. 57) räumte den Amerikanern dieses Privileg „for their naval and commercial marine" schließlich ein (Art. II, CTS 152, 313 [314]). 26 Α. Zimmermann (Fn. 19), 10. 27 D. kaiserl. Konsul auf Samoa Th. Weber an AA, Apia, 17.5.1879, ZStA Potsdam, RKolA 2820 B1.5 (10-11).
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K u b a , H a i t i , Mittelafrika, P o r t o R i c o , v o n N a t a l , d e m „ R o t h e n Meer", d e n P h i l i p p i n e n u n d sogar v o n N e u s e e l a n d , v o m S c h u t z deutscher H a n d e l s i n t e r e s s e n hier u n d dort, v o n H a n d e l s v e r t r ä g e n , K o h l e - u n d Flottenstationen, Gebietserwerbungen, Schutzgebieten, Annexionen u n d K o l o n i e n w a r die R e d e bei diesen z a h l l o s e n Eingaben 2 8 , die als P e t i t i o n s p o l i t i k organisierter K o l o n i a l i n t e r e s s e n g e g e n ü b e r d e m D e u t s c h e n R e i c h b e s c h r i e b e n w o r d e n sind 2 '.
III. E s ist freilich b e k a n n t , daß das D e u t s c h e R e i c h unter Bismarck diesen F o r d e r u n g e n z u n ä c h s t sehr z u r ü c k h a l t e n d g e g e n ü b e r g e s t a n d e n hat. 1. N o c h z u r Zeit des N o r d d e u t s c h e n B u n d e s hatte der B u n d e s k a n z l e r u n d p r e u ß i s c h e Ministerpräsident geäußert, daß K o l o n i s a t i o n s u n t e r n e h m u n g e n in f r e m d e n L ä n d e r n d e m privaten H a n d e l u n d freien Spiel der Kräfte überlassen bleiben m ü ß t e n : [Ich] hege gegen die Einleitung von Colonisationsplanen Uberhaupt erhebliche Bedenken. Einerseits beruhen die Vortheile, welche man sich von Colonien für den Handel und die Industrie des Mutterlandes verspricht, zum größten Theil auf Illusionen. Denn die Kosten, welche die Gründung, Unterstützung und namentlich die Behauptung der Colonien veranlaßt, übersteigen ... sehr oft den Nutzen, den das Mutterland daraus zieht, ganz abgesehen davon, daß es schwer zu rechtfertigen ist, die ganze Nation zum Vortheile einzelner Handels- und Gewerbezweige, zu erheblichen Steuerlasten heranzuziehen ... Für den Norddeutschen Bund, dessen Wehrsystem auf der allgemeinen Wehrpflicht beruht, liegt noch eine besondere Schwierigkeit darin, daß es nicht füglich als zum Inhalt der Wehrpflicht gehörig angesehen werden kann, die Wehrpflichtigen auf längere Zeit in den Tropenländern als Besatzung zu verwenden... Endlich würde der Versuch, Colonien auf Gebieten zu gründen, deren Oberhoheit andere Staaten, gleichviel ob mit Recht oder mit Unrecht, in Anspruch nehmen, zu mannigfachen und unerwünschten Conflicten führen können. Colonisationsuntemehmungen ... sind lediglich der Privat-Industrie zu überlassen. Selbst bei günstiger Disposition ... würde jedes Unternehmen, welches den Anschein erweckte, als wolle der Norddeutsche Bund [ζ. B.] in Centrai-Amerika festen Fuß fassen, die Eifersucht der Vereinigten Staaten wachrufen und damit den Keim zu Verwickelungen legen, dessen Nachtheile für das Gesammtinteresse des Bundes außer allem Verhältniß zu dem Werth jener Erwerbungen stehen würden™. U m die n ä m l i c h e Zeit ließ Bismarck auch in der Presse ö f f e n t l i c h erklären, daß der N o r d d e u t s c h e B u n d , d e s s e n V e r f a s s u n g e b e n s o w i e k u r z darauf d i e v o n d o r t ins D e u t s c h e R e i c h ü b e r n o m m e n e R e i c h s v e r f a s s u n g v o n 1871 bereits die G e s e t z g e b u n g s k o m p e t e n z in Fragen der 28
Acta betr. Colonisations-Projecte u. Errichtung von Flottenstationen, ZStA Potsdam, RKolA 7154-7159 (1866-83). M Μ. E. Townsend, Origins (Fn. 8), 45 (48). 30 D. Kanzler ds Norddt. Bundes Graf O. von Bismarck a. d. kgl. Staats- u. Marineminister von Roon, Berlin, 9.1.1868, ZStA Potsdam, RKolA 7155, Bl. 11-12.
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Kolonisation regelte31, nicht die Absicht habe, Kolonien in fremden Meeren zu gründen32. „Vor Ort" - etwa bei den in der Südsee oder in Afrika Handel treibenden deutschen Kaufleuten, Plantagenbesitzern und Farmern oder den konsularischen Vertretern des Deutschen Reichs in Ubersee - mußte diese Untätigkeit in dem Maße alarmierend wirken, in dem andere Nationen ohne solche Zurückhaltung Aktivitäten zu entfalten begannen, die auf die wirtschaftliche, insbesondere aber nachhaltige politische Stärkung ihrer eigenen Handelsinteressen hinausliefen. 2. Deutsche Befürchtungen erhielten Nahrung, als Berlin 1875 wegen der Behinderung des freien Handels auf den Karolinen durch Spanien in Madrid vorstellig werden mußte. Im selben Jahr wurden den Vereinigten Staaten in Hawaii vertraglich exklusive Handelsprivilegien eingeräumt. 1877 hatte Großbritannien in Afrika (zunächst erfolglos) den Transvaal, 1879 im Pazifik Nordborneo annektiert. Frankreich annektierte 1881 die Gesellschaftsinseln (mit Tahiti) und übernahm kurz darauf in der Karibik die Inseln über dem Wind (Guadeloupe, Martinique u. a.) in seine faktische Kontrolle33. Am meisten waren die deutschen Handelsinteressen indes getroffen, als Großbritannien 1874 seinem riesigen Kolonialreich die Samoa benachbarten Fiji-Inseln einverleibte34. Fast alle ausstehenden deutschen Zahlungsansprüche wurden unter Anwendung des Statute of Limitation für verjährt sowie die meisten deutschen Landbesitzansprüche für ungültig erklärt35. Zu den anschließenden deutschen Schadenersatzansprüchen verhielt man sich über zehn Jahre lang ausweichend3', was den Reichskanzler später (1884) erstmals zu schärferen 31 Απ. IV Verf. ds Nrddt. Bdes v. 1.7.1867 = Art. IV RV (RGBl. 1871 S. 64), abgedr. G.Dürig/W. Rudolf (Hgg.), Texte z. dt. VerfGesch., Mü. 1967, 109; G.Franz (Hg.), Staatsverfassungen, Mü. 1964, 168; H. Hildebrandt (Hg.), D. dt. Verfassungen, 11. Aufl. Paderborn 1979, 54 (55). Der Bundeskommissar Wirkl. Geh. Rat Karl Frdr. von Savigny (Sohn ds bedeutend. Namensträgers) erklärte dazu im verf.geb. RT (StenBer. RT ds Norddt. Bds im Jahre 1867, l.Bd., Bin 1867, 271-2), daß bei dieser Bestimmung „vorläufig" (nur) an d. Errichtung v. Flottenstationen gedacht war, das Übrige sollte „der Zukunft überlassen" bleiben; allg. dazu C. Bornhak, „Die Anfänge ds dt. Kolonialstaatsrechts", AöR 2 (1887) 1-53; A.Arndt, D. StaatsR ds Dt. Reiches, Bin 1901, 165; ders., Verf. ds Dt. Reichs, 4. Aufl. Bin 1911, Anm. 8 zu Art. IV RV (S. 81 ff.); vgl. auch Fn. 271. 32 A. Zimmermann (Fn. 19), 9. 33 P.M. Kennedy, Bismarck's Imperialism (Fn. 15), 264; W. P. Morrell, Britain in the Pacific Islands, Ox. 1960, 191-2; H. U. Wehler, Bismarck (Fn. 10), 208-10; CHBE VIII. 474 ff. (476). 34 CHBE VII. 1, 352ff.; M.E. Townsend, Origins (Fn.8), 56ff. 35 D. kaiserl. GenKon. C. L. Stahl an Bismarck (Fn. 7), Sydney, 31.10.1874, Wb. Fiji, S. 3-4 bzw. 423; Ψ. P. Morrell (Fn. 33) 146-8,190-2; Μ. E. Townsend, Origins (Fn. 8), 57, 64, 160-1, 168; H.-U. Wehler, Bismarck (Fn. 10), 208-10; vgl. Fn.36. 36 AA (Β. von Biilow d. Ä.) a. d. kaiserl. Botschafter in London Grafen zu Münster, Berlin, 27.4.1875, Wb. Fiji, S.5 u. 423-4, sowie die a.a.O. 6-92 u. 423-55 folg. Korrespondenz d. Jahre 1875-84 zw. Berlin u. London.
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Worten an die englische Adresse veranlaßte 37 , dort aber in seiner Tragweite zunächst ebensowenig verstanden wurde 38 wie Bismarcks insistierende Anfragen in London nach etwaigen britischen Rechtsansprüchen auf den Hafen von Angra Pequena (dem heutigen Lüderitz) in Südwestafrika 3 '. Hier hatte der Bremer Kaufmann Adolf Lüderitz inzwischen (1883) das Hafengebiet erworben und Handelsaktivitäten in dem Gebiet entfaltet, das kurz darauf Grundlage und Ausgangspunkt für Deutschlands erstes Schutzgebiet werden sollte 40 . In der Tat ließ die weltweite Bedrohung der deutschen Handelsinteressen durch die übrigen Mächte an vielen Orten die schlimmsten Befürchtungen aufkommen: was zuletzt in Fiji geschehen war, konnte sich in Afrika und auf den wenigen noch nicht abhängigen „flaggenfreien" Pazifikinseln - namentlich in Samoa - jederzeit wiederholen 41 : Man konnte schon damals nicht mehr im Zweifel darüber sein, daß der für immer abgetan geglaubte Drang nach kolonialen Erwerbungen bei einer Reihe von Nationen erwacht war, und daß die Aufteilung der noch herrenlosen Gebiete in der Welt bevorstand - so formulierte es 1910 einer der frühen Historiographen deutscher Kolonialpolitik 42 . Das galt schon nach zeitgenössischem Eindruck auch für die Südsee43. 3. Die Annexion der Fiji-Inseln durch Großbritannien (1874) bezeichnete der Reichskanzler noch als stabilisierenden Schritt einer befreundeten Macht, der unter dem Schutze einer regelmäßigen und kräftigen Regierung auch der freien Entfaltung deutscher Handelsinteressen förderlich sein werde 44 . In Samoa begrüßte er das Interesse der Vereinigten Staaten am Ausbau des Hafens in Pago Pago und wies den deutschen
57 D. Staatssekretär im AA Graf von Hatzfeldt (i.A. ds Reichskanzlers) an Grafen Münster (Fn.36), Berlin, 4.4.1884, GP IV/736. 38 Vgl. die beiden Briefe ds brit. KolMin. Lord Derby an Außenminister Lord Granville ν. 20. 8.1884 u. 30.1.1885, PRO 30/29/120; diese Begriffsstutzigkeit findet auch bei Berücksichtigung von Bismarcks Vorliebe für eher vorsichtig-dunkle Andeutungen i. d. Jahren 1883-5 unter heutigen Historikern kaum Verständnis, vgl. etwa H.A. Turner, „Bismarck's Imperialist Venture: Anti-British in Origin?", in: P. Gifford u. Wm. R. Louis (Fn. 11), 47 (63).
' Wb. Angra Pequena, 69ff. u. 158ff.; vgl. auch GP IV/741-M. Dazu I. Goldblatt, Hist, of South West Africa from the Beginning of the 19th Century, Cape Town 1971; O. von Weber, Gesch. ds Schutzgebietes Deutsch-SüdwestAfrika, 3. Aufl. Windhuk 1982; zur Archivlage in Südwestafrika vgl. Fn.252. 41 M.E. Townsend, Origins (Fn.8), 57-8; Wb. Südsee I, 131-77 u. 196-231; Wb. Südsee II, 93-190 u. 686-728. 42 A. Zimmermann (Fn. 19), 57; aus heut. Sicht vgl. M. Stürmer (Fn. 4), 193 ff. (230). 43 Stuebel (Fn. 7) an Bismarck (Fn. 7), Apia, 17.6.1884, Wb. Südsee II, 145-146 bzw. 711-12. 44 Erl. ds Reichskanzlers v. 17.1.1875 a. d. kaiserl. Konsul Hennings in Levuka (Fiji), Wb. Fiji, S.4 bzw. 423. 3
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Konsul 1875 an, keine eigene Politik zu treiben und alles zu vermeiden, was die Beziehungen zu Amerika gefährden könnte45. Aber je stärker der Handel im Pazifik expandierte44, desto stärker nahmen auch die Rivalitäten der fremden Mächte um mehr Kontrolle auf der Inselwelt zu. Immer häufiger erschienen die für die Eingeborenen so furchterregenden Kanonenboote der miteinander wetteifernden drei Mächte Deutschland, Großbritannien und Vereinigte Staaten vor den Inseln der Samoagruppe und besonders im Hafen von Apia, um Flagge zu zeigen oder den Anordnungen der weißen Konsuln Nachdruck zu verleihen. The prestige of the European powers was still unbroken. No native would then have dreamed of defying these colossal ships, worked by mysterious powers, and laden with outlandish instruments of death. None would have dreamed of resisting those strange but quite unrealised Great Powers understood (with difficulty) to be larger than Tonga and Samoa put together, and known to be prolific of prints, knives, hard biscuit, picture-books, and other luxuries, as well as of overbearing men and inconsistent orders*7. In dem Umfang, in dem die Kontrolle der Ereignisse auf den Inseln aber in die Hände der fremden Mächte geriet, ging der Einfluß der Samoaner auf ihren eigenen Inseln zurück, nahm ihre Unruhe, aber auch ihre Bereitschaft zu, sich derjenigen Macht anzuschließen, die ihnen Vorteile dafür versprach. Da die in Apia residierenden Vertreter der drei fremden Mächte vielfach gegenläufige Interessen entwickelten und auszutragen begannen, kam es zunehmend zu den auf Samoa ohnedies häufigen Parteibildungen um einander befehdende Häuptlingsfamilien, und je stärker die dadurch ausgelösten Unruhen vor Ort wurden, desto lauter wurden auch die Rufe nach einer effektiven fremden Kontrolle Samoas durch die drei Hauptstädte oder - eine von ihnen48. Die Ankunft der Weißen im Pazifik hatte, wie der britische Generalkonsul in Apia anläßlich seiner Rückkehr aus der Südsee in einem Memorandum für das Foreign Office es formulierte, das Leben der Eingeborenen tiefgreifend verändert4'. A. Zimmermann (Fn. 19), 11. Vgl. bei Fn. 12. Diese Entwicklung setzte sich auch i. d. 80er Jahren fort; damals waren die dt. Interessen auf Samoa so dominant, daß die der anderen Fremden nicht mehr ins Gewicht fielen (vgl. auch Fn. 7). Das war auch die brit. Einschätzung: "Our interest in Samoa is not considerable, and the sooner we leave..., the better", hatte KolMin. Lord Kimberley schon 1880 auf ein Memo, ds FO notiert (Marg. auf FO an CO, 7.9.1880 [CO Paper 14021], PRO/CO 225/6 fols. 459 [461 r.]), u. sein Nachfolg. Lord Derby schrieb 1884 an seinen Kollegen im FO Lord Granville: "In fact, Samoa is half German already." (11.12.1884, PRO 30/29/120). Vgl. Fn. 179. 47 R. L. Stevenson (Fn.6), 67 ff. (151-2). 48 P. M. Kennedy, Samoan Tangle (Fn.23), 51 ff., 98 ff., 145 ff. 49 D. brit. Konsul in Apia A. P. Maudsley an FO, [London] 20.10.1880, PRO/FO 158/171 fols. 274ff.; damals wie heute sehr lesenswert. 45
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In den ersten Jahren nach der Annexion Fijis durch Großbritannien schienen die Aussichten Deutschlands, Samoa unter seine eigene Kontrolle zu bekommen, so schlecht nicht. Wie der amtierende britische Generalkonsul in Samoa nach London berichtete, waren die deutschen Interessen auf Samoa schon 1879 so umfassend, daß man auch im britischen Interesse nur eine eindeutige deutsche Konsequenz daraus: nämlich die Annexion Samoas durch das Deutsche Reich, wünschen mochte 50 . Zwar hatte des Konsuls Vorgesetzter, der britische Hochkommissar für den Westpazifik, kurz vor diesem Votum ein entgegengesetztes abgegeben und von Fiji aus indirekt zur Verhütung weiterer Anarchie auf Samoa eine Annexion der Inselgruppe durch Großbritannien vorgeschlagen51. Der britische Außenminister hatte dem kaiserlichen Botschafter indes versichert, daß seine Regierung in Samoa keine Annexionspläne verfolge52. Selbst der britische Kolonialminister lehnte eine Annexion Samoas durch Großbritannien ab: britische Interessen auf der Inselgruppe seien ohnedies unbedeutend; es sei daher allemal besser, andere die Kastanien allein aus dem Feuer holen zu lassen53. 4. Eben hierzu war Bismarck nicht bereit. Jedes stärkere Engagement des Deutschen Reichs im Südpazifik - etwa die Erfüllung des von Konsul Weber in Apia nach Berlin übermittelten Ersuchens des Königs von Tonga um Entsendung eines hohen deutschen Beamten als ständigen Beraters der Regierung von Georg Tupou I. in Nuku'alofa - mußte den Feinden und Neidern der deutschen Entwicklung die Gelegenheit geben, jene so vielfach aufgetretenen und wiederlegten [sie] Gerüchte, als ob die kaiserliche Regierung dort Kolonien zu gründen beabsichtige, aufs Neue hervorrufen «[nd] namentlich der von nationaler Eifersucht getragenen Agitation Australischer oder Amerikanischer Annektionisten ohne Grund und ohne politischen Vortheil Nahrung zu geben54. Bismarck suchte, wie er den neuen deutschen Konsul auf Samoa wissen ließ, auf dieser' Inselgruppe keine Sonderstellung, sondern nur den Schutz der dortigen deutschen Handelsinteressen 55 . Sie hatte der Reichskanzler kurz zuvor auch durch einen Vertrag über Frieden und immerwährende Freund50
A.P. Maudsley (Fn.49) an FO (Lord Salisbury), Apia, 29.4.1879 [Confidential], P R O / F O 58/164 fols. 197 ff. (202 v.). 51 Sir Arthur Gordon an FO, [Suva, Fiji] 4.3.1878, PRO/FO 58/159 fols. 86 ff. 52 Graf Münster (Fn. 36) an AA, London, 14.12.1879, ZStA Potsdam, RKolA 2821 Bl. 202 ff. (202 v.), üb. eine Unterredung mit Lord Salisbury. 53 So wörtlich Lord Kimberley, Marg. auf FO an C O (CO Paper 14021), 7.9.1880 [Confidential], P R O / C O 225/6 fols. 459 ff. (461 r.). 54 AA an Th. Weber (Fn.27), Berlin, 3.3.1879, BA-MA, RM 1/v. 2430 betr. Die Entsendung von Kriegsschiffen nach den Südsee-Inseln, fols. 24 ff. (24 v). 55 AA a. d. kaiserl. Konsul in Apia Zembsch, Berlin, 27.12.1879, ZStA Potsdam, RKolA 2821 (o.P.).
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schaft zwischen dem Deutschen Reich und Samoa ν. 24.1.1879" zu fördern gesucht, nachdem ein Jahr zuvor die Vereinigten Staaten bereits mit gutem Beispiel zuvorgekommen waren57. Wie Bismarck den Konsul in Apia hatte wissen lassen, war es zu diesem Vertragsabschluß unter dem Druck der Verhältnisse - auch angesichts des stilbildenden Freundschaftsvertrags zwischen den Vereinigten Staaten und Samoa ν. 17.1.1878 - vor allem gekommen, um einerseits den Rechten und Interessen der dort ansässigen und verkehrenden Angehörigen des Reichs möglichste Sicherheit... zu verschaffen, andererseits bei den ... Eingeborenen dieser Inselgruppen dem Wunsch oder Zwang einer engeren Verbindung mit anderen Mächten ... tunlichst vorzubeugen5". a) Der zu diesem Zweck abgeschlossene Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und Samoa garantierte den deutschen Staatsangehörigen die vollständige Handelsfreiheit in allen Gebieten Samoas, wie sie die Samoaner oder die Angehörigen der meistbegünstigten Nation jeweils besaßen. Er räumte deutschen Kriegsschiffen und deren Besatzungen umfassende Verweilrechte in den Häfen der Inselgruppe, den Deutschen Freizügigkeit, Freiheit des Erwerbs und Besitzes von Ländereien und deren Nutzung sowie deutsche Konsulargerichtsbarkeit ein59. Hinzu trat die Verpflichtung Samoas, keiner anderen Nation in irgend einer Weise irgendwelche Vorrechte vor der deutschen Regierung in bezug auf den Hafen von Apia und dessen Ufer einzuräumen und die deutschen Staatsangehörigen ... immer die gleichen Rechte und Vortheile wie die Samoaner oder die Angehörigen der meistbegünstigten Nation in Samoa genießen zu lassen oder im eigenen Lande keine Monopole ... oder wirklichen Vorrechte zum Nachtheile des deutschen Handels oder der Flagge und der Staatsangehörigen des Deutschen Reiches zu bewilligen60. Der Vertrag wies alle diese Privilegien aber auch den beiden anderen Nationen zu, indem er eine im amerikanisch-samoanischen Vertrag von 1878 bereits enthaltene Auffangklausel nachträglich mit zusätzlichem Leben erfüllte61 und den behend nachfassenden britischen Bemühungen um einen ähnlichen Freundschaftsvertrag mit Samoa neue Maßstäbe setzte62. 54 RT-Drs. 239/1879 i.V.m. Bundesrats-Drs. 96/1878-9; RGBl. 1881 S.29; CTS 154, S. 455 ff. 57 Treaty of Friendship and Commerce between Samoa and the United States, 17.1.1878, CTS 152, S.313ff. = BFSP 1877-8 vol. LXIX (Lo. 1885), 76ff. 58 Erl. ds Reichskanzlers an Th. Weber (Fn. 27), [Berlin 1879], abgedr. A. Zimmermann (Fn. 19), 13-14 Anm.13 (o.D.). 5 ' Gesetz üb. d. Konsulargerichtsbarkeit v. 10.7.1879 (RGBl. 197). 60 Dt.-Samoan. Freundschaftsvertrag v. 24.1.1879 (Fn.56), Arn. IV-X. 61 Am.-Samoan. Freundschaftsvertrag v. 17.1.1878 (Fn.57), Art. VI. 42 Treaty of Friendship etc. between Great Britain and Samoa, 28.8.1879, CTS 155, S. 193 ff. = BFSP 1878-9 vol. LXX (Lo. 1886), 113 ff.
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b) Der Munizipaldistrikt von Apia - Zentrum der Inselgruppe und Sitz of the political sickness of Samoa, wie Robert Louis Stevenson die Stadt nannte, in der die Weißen alles besaßen und die Samoaner zu Fremden geworden waren" - , wurde auf Initiative Großbritanniens, der das Deutsche Reich und die Vereinigten Staaten sofort beitratenM, neutralisiert und unbeschadet der Landeshoheit Samoas unter einen von den drei Konsuln gebildeten Munizipalrat mit ausgedehnten Befugnissen gestellt. Änderungen dieses Status waren nur im gegenseitigen Einvernehmen der drei Mächte gestattet". Dies rundete ihre Bemühungen ab, keiner Nation den Vortritt in Samoa zu lassen und sie alle auf die rechtliche Gleichstellung Deutschlands, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten festzulegen, auch wenn Deutschlands Interessen an Samoa ganz deutlich die anderen fremden Interessen überwogen. Auf die wohl auch deshalb im Auswärtigen Amt aufgeworfene Frage, ob es nicht angezeigt sei, daß eine der drei Mächte die Leitung der Samoar Regierung Ubernehme, antwortete der Reichskanzler am Rand des Memorandums indessen mit NeinIn einer Marginalie aus derselben Zeit gab Bismarck die Weisung, beiden Cabineten [in London und Washington] amtlich ...zu sagen, daß wir a Trois zu gleichen Rechten dort [in Samoa] operiren, «[nd] ausschließliche Rechte für uns nicht erstreben wollten, wenn die beiden anderen dasselbe zusagen67. c) Der Nachfolger von Lord Salisbury im Foreign Office hatte keine Schwierigkeiten, den auch für Samoa zuständigen Hochkommissar in Fiji dementsprechend anzuweisen. Er erklärte, daß er the joint protectorate now established jedweder Annexion, auch der britischen, vorziehe68, wenn er auch - wohl mit Rücksicht auf neuseeländische Empfindlichkeiten - das damals von Bismarck gewünschte gemeinsame Vor-
" R.L. Stevenson (Fn.6), 67 ff. (81, 83). " Convention between Great Britain [Germany, the United States] and the King and Government of Samoa for the government of the Town and District of Apia, 2.9.1879, AA/AdM 579 = CTS 155, S. 205 ff. = BFSP 1878-9 vol. L X X (Lo. 1886), 294 ff. Kartenskizze ds Munizipaldistrikts: AA/AdM 590. 45 Ebd. (Fn. 64), bes. Art. IX. Kursivpassage ds Textes aus d. sog. Samoavorlage Bismarcks (Fn.81), 721. " Graf Herbert von Bismarck (ältester Sohn ds Kanzlers) an AA, Varzin, 21.12.1879, m. Anl. betr. Samoa: Graf Otto zu Stolberg (AA) an Bismarck in Varzin, 12.12.1879, m. Rdbem. ds Reichskanzlers, ZStA Potsdam, RKolA 2821 Bl. 217 {{. (Zitate 221 v. 222 [gesperrte Kursivpassage im Orig. unterstrichen]). 67 Graf von Philipsborn (AA) an Bismarck in Varzin. 12.12.1879, m. Rdbem. ds Reichskanzlers, ZStA Potsdam, RKolA 2834 S.26 ds Anl. i.undels zu B1.50. 68 Lord Granville (Fn.38) an Sir Arthur Gordon (bei I n. 51), [London] 27.5.1880, P R O / F O 58/168 fol. 35 v.
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gehen der Vertragsmächte in Samoa ä Trois" unannehmbar fand70. Mit solcher Einstellung war zwar die britische Admiralität unzufrieden. Sie befand, daß ohne britische Annexion Samoas eine Unterstützung des englandfreundlichen Häuptlings Malietoa gegen den deutschfreundlichen Häuptling Tamasese nur in the usual way möglich war - : nach sarkastischen Randnotizen aus dem Foreign Office also weiterhin [by] shelling villages, destroying crops & fruit trees71. Aber Großbritannien konnte nicht jede Insel im Pazifik selbst in Besitz nehmen. Das war sogar die Ansicht des in solchen Fragen sonst nicht unbedingt zimperlichen britischen Colonial Office72, welches schon seit langem ein Weltreich zu verwalten hatte, in dem die Sonne nicht unterging73. IV. Habent sua fata pacta. Wie auch immer die an den Vertragsschlüssen mit den Vertretern der drei Mächte beteiligten samoanischen Häuptlinge die Tragweite solcher Vereinbarungen eingeschätzt haben mögen74, die Fremden sahen sich alsbald in den Fallstricken der einseitige Aktionen blockierenden Abmachungen gefangen. Diese liefen schon ab 1879 praktisch auf ein frustrierendes und von niemandem geliebtes Kondominium ä Trois hinaus. Die Erhaltung halbwegs friedlicher und gedeihlicher Verhältnisse wurde dadurch für alle Beteiligten in den Hauptstädten und „vor Ort" zu einem zwei wechselvolle Dekaden andauernden Trauma, das sich aufs unglücklichste mit bedeutenderen Aspekten der " Marg. Bismarcks auf dem Fn. 67 nachgewiesenen Brief v. 12.12.1879. 70 Lord Granville (Fn. 38) an d. Geschäftsträger d. kaiserl. Botschaft in London Baron von den Brincken, [London] 7.9.1880, in: F O an C O , 7 . 9 . 1 8 8 0 [Confidential], C O Paper 14021, P R O / C O 225/6 fols. 459 ff. (470 r.). 71 Adm. an FO, London, 2 8 . 7 . 1 8 8 0 , P R O / F O 58/171 fols. 100 ff. m. Rdbem. F O (Hill), ebd. 105. 72 Unless we are ... to annex every unoccupied island in the Pacific we must be content to see some of the islands in the hands of other European Powers... (Lord Kimherley [Fn. 46], Marg. auf F O an C O , 7.9.1880, P R O / F O 225/6 fols. 459 ff. [461 r.]; vgl. auch schon Fn. 22). 73 Vgl. dazu die monumentale Cambridge History of the British Empire, e d . / . Holland Rose et alii, m. den Bänden: I (The Old Empire to 1783), 1929; II (The Growth of the New Empire 1783-1870), 1968; III (The Empire-Commonwealth 1870-1919), 1967; IV (British India 1497-1858), 1929; V (The Indian Empire 1858-1918), 1932; VI (Canada), 1930; VII. 1 (Australia), 1933; VII.2 (New Zealand, Pacific), 1933; VIII (South Africa, Rhodesia etc.), 1963, jew. m. exzellenten Bibliographien; modernere Lit.: F n . 9 u. 11. 74 Their treaty relations with foreign Powers, the real meaning of which the few who signed did not rightfully understand, whilst the great majority of the nation knew nothing at all of their existence until called to account for some breach of a clause in the treaties of which they were ignorant, only served to involve them in many more complications than ever they were in before (Wm. B. Churchward, My Consulate in Samoa. A Record of Four Years' Sojourn in the Navigators Islands, Lo. 1887, 219).
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großen Politik verband und sich insbesondere auf die deutsch-britischen Beziehungen legte75. Bei der ausgeprägten Bereitschaft der in Apia amtierenden Konsuln, am Verhalten ihrer jeweiligen Kollegen oder der vor oder hinter diesen stehenden Eingeborenen Anstoß zu nehmen, Protest einzulegen und Flagge zu zeigen, konnte es nicht ausbleiben, daß sich die Vertreter der drei Regierungen innerhalb und außerhalb des Munizipalrats von Apia immer häufiger der Intrigenpolitik bezichtigten. Die Samoa anlaufenden Kriegsschiffe ihrer Nation wurden in diese Politik hineingezogen. Über die so „erzielten" Ergebnisse jagten die Konsuln bald unzählige Berichte und Depeschen - the usual monthly bulletin[s] of squabble & paralysis in Samoa, wie man später im britischen Colonial Office einmal formulierte 7 ' - in die Hauptstädte ihrer Länder, die sie mit immer neuen Überraschungen, Beschwerden, Meldungen über unaufhörliche Unruhen, Plantagenplünderungen, Waffenlieferungen an Eingeborene, die Drahtzieherschaft der jeweils anderen Konsuln und ihre Übergriffe, etwa die Wühlereien der Engländer oder die deutschfeindliche Haltung des amerikanischen Generalkonsuls in Apia oder fremde Absichten, in Apia die Flagge zu hissen77 oder (bei Samoaeingängen in Berlin) über die Verletzung der nationalen Ehre durch die anderen78 außer Atem hielten 7 '.
V. Berlin war unter Bismarck aber nicht bereit, über das mit dem Freundschaf tsvertrag und dem Neutralitätsabkommen von 1879 politisch Erreichte hinauszugehen. 75 Grundlegend: P.M. Kennedy, The Rise of the Anglo-German Antagonism 1860-1914, Lo. 1980, m. umfass. Lit. Zur sozialen Wirklichkeit im damaligen England aus heutiger deutscher Sicht vgl. A.M. Birke, „Die Revolution von 1848 u. England" bzw. „Soziale Selbsthilfe u. amtl. Sozialpolitik im viktorianischen England", in: Α. M. Birke u. K. Kluxen (Hgg.), Viktorianisches England in dt. Perspektive, Mü., NY, Lo. u. Paris 1983, 49-60 bzw. 79-89 (Lit.). Vgl. auch Fn. 222. 76 Marg. ds F O (Dallas) v. 2.4.1895 auf Bericht Woodford (Konsulat Apia) an Lord Kimberley (Fn.46), Apia, 25.2.1895, P R O / F O 58/297 fols. 192 (196 r.). 77 Adm. an Grafen Hatzfeldt (Fn.37), Berlin, 17.3.1885, m. Anl. Kommandant S.M. Krz. Albatroß, Korvettenkptn Plüddemann, an Adm., Apia, 3.2.1885, ZStA Potsdam, RKolA 2834 Bl. 1 (2 v.); AA (Graf H. von Bismarck [Fn.66]) an Grafen Hatzfeldt (Fn.37), Berlin, 21.11.1887, m. Anl. Erl. ds Kanzlers an d. kaiserl. Geschäftsträger in Washington v. 18.11.1887, AA/AdM 578 = Rh. H., Micr.oc. 62/1. 78 AA (Bismarck) an Dt. GenKonsulat Sydney für Konsulat Apia, Berlin, 7.8.1887 [Geheim], BA-MA, RM 1/v. 2431 fols. 153ff. (153 r.); Telegr. Commodore u. Geschwaderchef Heusner an AA, Apia, 24.8.1887, Telegr. AA an kaiserl. Botschaft London, Berlin, 19.9.1887, A A / A d M 578 = R h . H . , Micr.oc. 61/1. 75 Allg. üb. den furor consularis jener Jahre in Apia: P. Μ. Kennedy, Samoan Tangle (Fn. 23), 51 ff., 145 ff.
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1. Wie es in der Begründung zur bald darauf im Reichstag knapp (112 :128 :140) gescheiterten80 Samoavorlage des Kanzlers v. 14.4.1880 hieß, bestand die ... bisher mit Erfolg vom Reich befolgte Politik ... darin, in den außerhalb der ausschließlichen Machtsphäre anderer Staaten liegenden Gebieten die Gleichstellung und volle Gleichberechtigung Deutschlands und seiner Angehörigen mit den meistbegünstigten Nationen zu sichern81. Daran hätte auch die oft mißverstandene Samoavorlage nichts geändert, die deutsche Handelsinteressen in der Südsee mit einer Reichsgarantie bis zum Höchstbetrag von zehn Millionen Mark gestützt haben würde82, jedoch keine Änderung von Bismarcks Einstellung zu Samoa bedeutete. Das Reich hatte für die Entsendung von Schiffen nach der Südsee zum Schutz dortiger deutscher Interessen schon seit 1877 jährlich rund eine Million Mark aufgewendet83. Es ging nach dem Scheitern der zusätzlichen Samoahilfe im Reichstag nach 188084 über die bis dahin übliche gelegentliche Entsendung von Kriegsschiffen nach der Südsee nicht mehr hinaus85. Auf die nach Bismarcks Niederlage im Parlament wiederholte Anfrage des Konsuls in Apia, ob wir hier draußen Kolonien haben wollen oder nicht und seine Vorhaltung, es werde aus den Ländereien und Plantagen hier draußen Nichts werden, wenn man nicht zu Hause von oben herab den Willen hat, vollständig die Leitung der staatlichen Verhältnisse in Samoa zu übernehmen, reagierte der Vortragende Rat im Auswärtigen Amt Friedrich von Holstein - lange Jahre Graue Eminenz in der wichtigsten (politischen) Abteilung I des Amts - nur mit einem Fragezeichen am Rand des Schreibens aus der Südsee8'. Im Zusammenhang mit einer den deutschen Kolonialbestrebungen gewidmeten Denkschrift des einflußreichen Berliner Bankiers A. von Hansemann87 notierte Bismarck am Rande des vom Auswärtigen Amt erstellten Resumes zur Denkschrift mit Bezug auf das „Projekt einer deutschen Niederlassung auf Neuguinea": Niederlassung - Mit 80 39. Sitzg ds RT v. 2 7 . 4 . 1 8 8 0 (2. Lesung), StenBer. RT 4/III 1880/2, Bin 1880, S. 945 ff. (Protok. d. namentl. Abstg S. 960-2: Dafür Frei- u. Deutsch-Konservative mit d. rechten Flügel d. Nationalliberalen; dagegen: bes. Linksliberale u. Zentrum; die übr. Abg. beteiligten sich nicht a. d. Abstg). Vgl. auch H.-U. Wehler, Bismarck (Fn. 10), 215 ff. 81 Begrd. z. Entwurf eines Ges. betr. d. Unterstützung der „Deutschen See-HandelsGesellschaft", RT-Drs. 101/1880, StenBer. RT 4/III 1880/4, Bin 1880, S. 720 ff. (721). 82 Ebd., 720. 83 A. Zimmermann (Fn. 19), 19 Anm. 21. 84 Z. weiteren Entw.: H.Spellmeyer, Dt. KolPol., Stgt 1931. 85 Vgl. etwa BA-MA, RM 1/v. 2430-2431 betr. Entsendung von Kriegsschiffen nach d. Südsee (1878-1887). 86 Marg. auf Bericht Konsul Zembsch (Fn. 55) an von Holstein (AA), Apia, 4 . 6 . 1 8 8 0 , ZStA Potsdam, RKolA 2807 Bl. 50 (Bündel nicht foliierter Papiere aus Holsteins Besitz, Brief ebd. S.2/3). 87 ZStA Potsdam, RKolA 2927 betr. dt. KolBestr. i. d. Südsee [Secreta], Bl. 8 ff., m. Anschr. Hansemanns an AA, Berlin, 11.11.1880, Bl. 1-7.
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Geheimen] Rathen? Kanzlei? Die Sache müßte kaufmännisch entstehn. Staat ist nicht im Besitz der Beamten, um sie damit zu gründen ... Niemals viel Geld fordern; von welcher Fraction im Reichstage könnte man das erwarten? ... Im Όehrigen wären Ansätze im Post- und Marine-Budget erforderlich ... Die meisten würden schon deshalb [im Reichstag] dagegen sein, weil ich es vorschlage. Mit Samoa-Majoritäten läßt sich nichts der Art unternehmen**. 2. Auf des früheren Konsuls Weber wiederholten Rat, dieses Provisorium [auf Samoa] möglichst abzukürzen und ... ohne Zeitverlust die thatkräftigsten Mittel zum Schutz der deutschen Interessen aufzubieten, reagierte der Kanzler mit einer Reihe von Randbemerkungen: Welche [Mittel]? Eine Annexion, ein Protectorat ... [kosten] Geld, »[nd] der /?[eichs]tag hat abgelehnt, Geld zu bewilligenPrivatim schrieb von Holstein nach Apia, daß eine vollständige politische Organisation ... durch das Reichstagsvotum [gegen die Samoavorlage] ausgeschlossen sei; daß die Frage, wie einzelne enthusiastische Spezialisten - unsere Colonial-Jingos, wie Fürst von Bismarck sie später nannte90 - , glauben und wünschen, noch einmal in parlamentarische Berathung gezogen wird, glaube ich bestimmt nicht. Bei ganz wichtigen Sachen, an denen die Existenz des Reiches hängt, ist zwar der Reichskanzler der Mann, der sich an Popularität nicht kehrt und Alles für Alles draufsetzt; dieß ist aber kein solcher Fall, und ich bin vollständig überzeugt, daß er hier einfach den vom Parlament vorgezeichneten Weg weiterverfolgen wird!". Als Ende 1882 Kommerzienrat Baare für den Bochumer Verein den Erwerb Formosas durch das Deutsche Reich empfahl, notierte der Kanzler höchstpersönlich: Zu Colonien gehört ein Mutterland, in dem das Nationalgefühl stärker ist als der Parthei Geist und Mit diesem Ä[eichs]ii2g ist es schon schwer genug, dem Reiche zu erhalten, was es hat, sogar das Heer im Inland. So lange das Reich finanziell nicht consolidirt ist, dürfen wir an so theure Unternehmungen nicht denken, cf. Samoa. Colonial-Verwaltung wäre nur Vergrößerung des parlamentarischen Exercierplatzes". Bismarck war wohl der letzte, der gerade das 88
ZStA Potsdam, RKolA 2927 Bl. 192 ff. (Rdbem. ds Reichskanzlers ebd. 195v. und 196 v. [gesperrter Kursivpassus im Orig. von Bismarck unterstrichen]). w Marg. ds Kanzlers auf Th. Webers Promemoria üb. d. Samoa-Verhältnisse, Berlin, 2.12.1880, ZStA Potsdam, RKolA 2927 Bl. 197 ff. (201). 90 Marg. ds Kanzlers auf Brief ds Grafen Hatzfeldt (Fn. 5) an Bismarck, London, 19.10.1886, G P IV/801 (S. 154). " F. von Holstein an Konsul Zembsch, Berlin, 12. 8.1880, ZStA Potsdam, RKolA 2807 (Bündel d. Holsteinpapiere zu Bl. 50). 92 Marg. ds Kanzlers auf Brief Geh. Commerzienrath Baare an Bismarck, Bochum, 29.11.1882, ZStA Potsdam, RKolA 7159 Bl. 151-152 (151 r. [1.Zitat], 152r. [2.Zitat]; gesperrte Kursivworte im Orig. v. Bismarck unterstrichen).
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gewollt hätte'3. Directe Colonien können wir nicht verwalten, notierte er Anfang 1883, nur Compagnien unterstützen. Dazu wäre aber auch ein nationaler Reichstag nöthig, mit anderen, höheren Zwecken als der Äeg.fierung] Schwierigkeiten zu machen «[nd] Reden zu halten,4. 3. Es waren aber wohl doch nicht nur alles erklärende ökonomische Motive, die den Kanzler gegenüber kolonialen Aktivitäten zurückhaltend sein ließen, wie dies die eindrucksvollen, aber sehr teleologisch ausgerichteten Studien Wehlers über Bismarcks angeblichen manipulatorischen Sozialimperialismus glauben machen könnten' 5 , sondern gerade auch außenpolitische Überlegungen, die das Handeln des Kanzlers generell bestimmt haben dürften' 6 , jedenfalls in Samoa unzweifelhaft entscheidend bestimmt haben'7. Diese Überlegungen hatte der Reichskanzler schon 1879 gegenüber der Admiralität und auch in einem Erlaß an den Konsul in Apia zu erkennen gegeben". Er hatte 1881 auf die aus Berliner Bankkreisen zu deutschen Kolonialunternehmungen im Pazifik angeregte Vorlage des Auswärtigen Amts, eine Entscheidung über die ferner von uns in Samoa und der Südsee überhaupt zu verfolgende Politik anstreben zu wollen, erneut an den Rand der Vorlage notiert: Zu dergl. [eichen] müßten wir ein nationales Parlament hinter uns haben, nicht bloße Fractionen und abgeschlossen mit der Bemerkung, daß, um [weitergehende] Rechte [auf Samoa] und Anschluß dort zu üben, ... wir immer erst die Engländer und Amerikaner bereden [müßten], uns dort allein freie Hand zu lassen. Das werden sie uns aber nicht zu Gefallen
93 H.-U. Wehler, Bismarck (Fn. 10), 428; ders., „Bismarcks Imperialismus" (Fn. 10), 259 ff. (264-5). 94 Marg. ds Kanzlers auf d. Promemoria ds AA für d. Reichskanzler betr. Ankauf von Formosa, Berlin, 16.2.1883, ZStA Potsdam, RKolA 7159 Bl. 155 r. Vgl. Fn. 92 letzter Halbsatz. 95 Nachw. Fn. 10. Vgl. auch bei u. in Fn. 106. 94 L. Gall, „Bismarck u. England", in: P.Kluke u. P.Alter (Hgg.), Aspekte d. dt.-brit. Bez. i. Laufe d. Jhh., Stgt 1978, 46ff.; ders., Bismarck (Fn. 10), bes. 614ff.; H.Herzfeld, D . Mod. Welt 1789-1945, 2 Bde., 3. Aufl. 1960; ders., Rez. d. Wehlerschen Monographie (Fn. 10), H Z 210 (1970) 725ff.; G. W.F. Hallgarten, „War Bismarck ein Imperialist?", in: Gesch. i. Wissenschaft u. Unterricht Bd.22 (1971) 257ff.; P.M. Kennedy, Antagonism (Fn. 75), 167 ff. (173 ff.). 97 P. M. Kennedy, Samoan Tangle (Fn. 23), 26-7, 86-7, unterschätzt bei seiner auch von uns ansonsten geteilten Kritik an der Wehlerschen Position (Fn. 10, 106, 148) d. Bedeutg. d. internat. Verträge mit Samoa, die diese für Bismarcks Realismus (u. Vertragstreue) gerade auch außenpolitisch hatten. 98 AA (Bismarck) an Chef d. Adm., Berlin, 29.7.1879, ZStA Potsdam, RKolA 2819 Bl. 119 ff. mit Mitteilg d. Erl. an Konsul Weber, „alles demonstrative Vorgehen, welches [bei den beiden anderen an Samoa beteiligten Mächten] zu Mißdeutungen über die Ziele unserer Politik in der Südsee Anlaß geben könnte, sorgfältig zu vermeiden."
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thuri". In einer für den Kronprinzen Friedrich Wilhelm gefertigten Standortbestimmung gerade während der Depressionsphase 1882 betonte der Kanzler erneut die Nothwendigkeit..unabhängig von der jeweiligen englischen Regierung und ihrer mitunter wunderlichen Politik, mit der englischen Nation und der öffentlichen Meinung derselben jeden Conflict zu vermeiden, der das englische Nationalgefühl gegen uns verstimmen könnte, ohne daß wir durch überwiegende deutsche Interessen dazu gezwungen sind™. Unweigerlich aber waren die Interessen illorum - so schien es jedenfalls - beatorum possidentium berührt, wenn auch Deutschland sich anschickte, in den Kreis der Kolonialmächte einzutreten und näher an die Interessensphäre einer so eng und traditionell befreundeten Regierung und Nation wie Großbritannien heranzurücken, auf deren Freundschaft Bismarck nach seinen Bekundungen im Reichstag damals auch weiterhin Wert legte101. Von den bald darauf in einer schier atemberaubend kurzen Zeitspanne (1884-5) erworbenen deutschen Kolonien - Deutsch-Südwestafrika, Kamerun und Togo, Deutsch-Ostafrika sowie im Pazifik Deutsch-Neuguinea (KaiserWilhelms-Land), der Bismarck-Archipel und die Marshallinseln102 gehörte nur eine einzige Besitzung (Togo) nicht zur Interessensphäre jenes unbewußten Werks der Jahrhunderte, wie Golo Mann das imposante britische Empire genannt hat105, das durch Beherrschung der Ozeane funktionierte, die schnelle Manövrierfähigkeit von Kreuzern und Fregatten nutzte und die Möglichkeit ausspielte, britische Macht an jedem zu Wasser erreichbaren Ort der Erde innerhalb von Wochen drohend zusammenzufassen und einzusetzen VI.
U m so erstaunlicher ist die Tatsache des im Ergebnis ungehinderten Erwerbs eines Kolonialreichs, das mehrfach größer war als das Territo-
" Acta betr. dt. KolBestrebgen i. d. Südsee [Secreta], m. Dkschr. Hansemann, Berlin, 11.11.1880, u. Vorlage ds AA an Grafen von Bismarck-Schönhausen (Fn. 66), Berlin, 3.1.1881, ZStA Potsdam, RKolA 2927 Bl. 1 ff. bzw. 189 ff. nebst Marg. ds Reichskanzlers Bl. 189 u. 191. 100 Bismarck an Friedrich Wilhelm, Varzin, 7.9.1882, AA/Ägypten 3 [Secreta] Bd. 1 (o. P.); gesperrter Kurisvpassus im Orig. v. Bismarck unterstrichen; G P W/727. 101 Reichstagsrede v. 26.6.1884, StenBer. RT 5/IV 1884/2, Bin 1884, S. 1059 ff. (1062). 102 Nachw. d. Schutzverträge u. Erlasse: K. Gareis, Dt. KolR, 2. Aufl. Gießen 1902, 159ff.; P.Laband, D. StaatsR ds Dt. Reiches, 5.Aufl. Tüb. 1911, 4 Bde., II. 265ff. Später kamen noch hinzu: Kiautschou (1898, RGBl. 171), die Karolinen, Palau u. Marianen (1899, RGBl. 541) u. Samoa (1900, RGBl. 135). Weiterführ, kol.-rechtl. Lit.: Fn. 271. 103 Dt. Gesch. ds 19. u. 20.Jhs„ Ffm. 1969, 506 ff. (509). 104 M.Stürmer (Fn.4), 196; zum brit. Empire vgl. die Nachw. Fn.73.
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rium des Deutschen Reichs selbst105. Über Bismarcks Beweggründe für diesen ausgedehnten Kolonialerwerb insbesondere in Afrika hat es viele Interpretationen und Spekulationen gegeben. Die einen sehen Bismarcks Kolonialpolitik als integralen Bestandteil seiner von Anfang an verfolgten kontinuierlichen Gesamtpolitik des Wartenkönnens 106 . Die anderen sehen sie als the outcome of no conscious, formulated plan, vielmehr als chance of the moment and the favourable position of affairs107, als völlig neues Moment in der deutschen Geschichte108 oder als Ergebnis eines unerwarteten Sinneswandels bei Bismarck allerfrühestens ab Mitte 1883 Gestalt annehmen109 - mit einem oft genannten Datum (24.4.1884) für den eigentlichen Geburtstag des deutschen Kolonialismus 110 . Für die einen bestätigte sich mit Bismarcks kolonialem Zugriff seine Auffassung vom Primat der Außenpolitik"1, für die anderen seine Auffassung vom Primat der Innenpolitik"2, für wieder andere die Erkenntnis, daß sowohl
105
M.Stürmer (Fn.4), 193 ff. (231); H.A. Turner (Fn. 38), 47. E. G. Jacob (Fn. 14), 26; M. E. Townsend, Rise and Fall (Fn. 8), 54 ff. (62); auch H.U. Wehler, Bismarck (Fn. 10), sieht die 1884 einsetzenden Annexionen Bismarcks i. Zus.hg einer seit den 1860er Jahren kontinuierl. Uberseepolitik, die am pragmat. Ansatz eines freien Handels, dem die Flagge folgt, festhält, bis er unter d. Eindruck d. schweren Wirtschaftskrise der 70er Jahre, des überall wachsenden Protektionismus u. d. Torschlußpanik, angesichts der fortschreitenden Aufteilg d. Erde zu spät einzutreffen, ab Ende 1883 zu vorsorglichen Schritten, vom Informal Empire zur formalen Kolonialherrschaft, überging, um bestehende Vorteile u. potentielle Chancen vor d. Ansprüchen d. europäischen Rivalen wirkungsvoller schützen zu können (vgl. Fn. 115). Zur kolonialen Torschlußpanik vgl. L. H. Gann u. P. Duignan, „Reflections on Imperialism and the Scramble for Africa", in: Colonialism in Africa (Fn. 9), 1.100 ff. Zu Wehler vgl. auch Fn. 148. 107 The Cambridge Modern Hist., ed. A. W. Ward et alii, XII (Ca. 1910) 160. 108 K.E. Born, „Beginn d. dt. KolPol. 1884/5", in: Gehhardts H d b . d. dt. Gesch., 9. Aufl. 1973, hgg. H. Grundmann, Bd. 3, §46 (S.292). 105 H.A. Turner (Fn.38), 47ff. 110 Etwa E. G. Jacob (Fn. 14), 59; Μ. E. Townsend (Fn. 106), 62. An diesem Tag hatte Bismarck an d. dt. Konsul in Kapstadt telegraphiert: „Nach Mittheilungen des Herrn Lüderitz zweifeln die [dortigen bzw. britischen] Kolonialbehörden, ob seine Erwerbungen nördlich vom Orange-Fluß [Angra Pequena u. a. in Südwestafrika] auf deutschen Schutz Anspruch haben. Sie wollen amtlich erklären, daß er und seine Niederlassung unter dem Schutz des Reiches stehen." (Wb. Angra Pequena, 89). 111 P. Darmstädter, Gesch. d. Aufteilg u. Kolonisation Afrikas, 2 Bde., Bin 1913/20; L.Gall, Bismarck (Fn. 10), 614ff.; M. von Hagen,. Bismarcks KolPol., Stgt 1923; H. Oncken, D. dt. Reich u. d. Vorgesch. ds Weltkriegs, 2 Bde., Lpz. 1933; P. E. Schramm (Fn. 8); A. J. P. Taylor, Germany's First Bid for Colonies 1884-5, Lo. 1938. 1,2 Wm. Ο. Aydelotte, Bismarck and British Colonial Policy..., 1883-5, Philadelphia 1937; ders., „Wollte Bismarck Kolonien?", in: W.Conze (Hg.), FS Hans Rothfels, Düsseid. 1971; E.Eyck, Bismarck, 3 Bde., Zürich 1941/44; ders., Bismarck and the German Empire, Lo. 1950; H.-U. Wehler, „Bismarcks Imperialismus" (Fn. 10), 259ff. (bes. 277). 106
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innen- wie außenpolitische Erwägungen maßgeblich waren" 3 und bei der sehr unterschiedlichen Situation der einzelnen Kolonien auch sorgfältig zu unterscheiden ist und Geschichte sich monokausalen Erklärungsversuchen ohnehin entzieht. Endlich haben Historiker mit der Fülle von Äußerungen des Kanzlers zu leben gehabt, die Bismarck als einen Politiker erweisen, für den erst... Besitz und Handelprivatim entstehen mußten, bevor Flagge und Schutz hinzutreten konnten" 4 , der deshalb auch ganz unbestreitbar am liebsten privaten Handelskolonien unter einem locker formalisierten Reichsschutz, also dem „Informal Empire" den Vorzug vor der formellen Kolonialherrschaft staatlicher Verwaltungskolonien gegeben hätte" 5 , weil er kein Kolonialmensch von Hause aus gewesen war'" und entweder am Ende seiner Laufbahn fand, daß die ganze Kolonialpolitik ein Fehler war und daß man um des lebensnotwendigen Bündnisses mit England willen gut daran tat, die Episode beizeiten zum Abschluß zu bringen117 oder deutschen Kolonialbestrebungen immerhin auch dann noch skeptisch begegnete, als er ihnen insbesondere in Afrika bereits widerwillig nachzugeben begann" 8 . Jedenfalls in Samoa hat Reichskanzler von Bismarck diese Zurückhaltung nie revidiert, sondern seine (auch) den Schutz deutscher Interessen in Ubersee bezweckende Politik vielmehr außenpolitischen Einsichten untergeordnet und trotz der Fehlschläge seiner Bemühungen um eine Verbesserung deutschen Interessen auf dieser Inselgruppe deutsche Vorschläge, auf Samoa notfalls einseitig vorzugehen, beharrlich abgelehnt119. 1. Als im Herbst 1884 Generalkonsul Dr. Stuebel aus Apia bei Bismarck anfragte, warum Deutschland nach dem Hissen der deutschen Flagge in Südwestafrika nicht auch Samoa annektiere, nahm der Kanzler das zwar 113
H. Herzfeld, Rez. der Fn. 10 gen. Wehlerschen Monographie, H Z 210 (1970) 725 ff.; P.M. Kennedy, Antagonism (Fn. 75), 167 ff.; zf. H.Pogge von Strandmann (Fn. 11), 709 ff. Vgl. auch Fn. 10, 97, 106 u. 148. Marg. Bismarcks auf Promemoria ds Vortrags. Rats im AA Dr. Krauel für d. Reichskanzler, Berlin, 22.4.1885, ZStA Potsdam, RKolA 2835 Bl. 115ff. (119v.); vgl. auch RKolA 2518 m. Rdbem. auf d. Berichten N r n . 46 u. 50 seines Sohns Herbert (Fn. 66) v. 2. bzw. 6.9.1885 - alle diese Äußerungen nach den ersten Kolonialerwerbungen. 1,5 H.-U. Wehler, „Bismarcks Imperialismus" (Fn. 10), 259ff. (262, 281); H.A. Turner (Fn. 38), 47 ff. (81). Zu Wehler vgl. Fn. 106. So Bismarck selbst in seiner letzten großen kol.-politischen Reichstagsrede v. 26.1.1889, StenBer. 7/IV 1888-9/1, Bin 1889, S. 617 ff. (620). 117 M. Stürmer (Fn. 4), 193 ff. (233); Κ. E. Born (Fn. 108), 292-3. "s H.A. Tumer (Fn.38), 47ff. (50); vgl. auch Golo Mann (Fn.103), 506ff.; H.Pogge von Strandmann, „Domestic Origins of Germany's Colonial Expansion under Bismarck", in: Past & Present 42 (1969) 140 ff. (144). Auch dies verweist d. These vom innenpolitisch (wahltaktisch) motivierten manipulatorischen Englandhaß Bismarcks in d. Reich der pol. Legenden; vgl. dazu L. Gall, „Bismarck u. England" (Fn. 96), 46 ff.
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interessiert zur Kenntnis120, notierte auch an den Rand von Stuebels nachfassender Forderung nach einer verbesserten personellen Ausstattung des Konsulatsdienstes in der Südsee nur das derartige Erwägungen schon innenpolitisch abweisende Wort Reichstag!m, er erließ kurz darauf an den Konsul aber auch die seine außenpolitischen Bedenken kennzeichnende Mahnung, bei der Wahrung deutscher Interessen in der Südsee mit Vorsicht [zu] handeln und auch den Schein [zu] vermeiden ..., als beabsichtigten wir einen Gewalt-Akt gegen die Unabhängigkeit Samoas. Wir halten vielmehr daran fest, daß eine Veränderung in den Oberhoheits-Verhältnissen der genannten Inselgruppe nur nach vorheriger Verständigung unter den Vertragsmächten erfolgen kann, und daß wir inzwischen darauf angewiesen sind, die für unsere HandelsInteressen nothwendige Ordnung und Sicherheit unter Benutzung der vorhandenen Vertragsbestimmungen durch Einwirken auf die Samoanische Justiz und Verwaltung herbeizuführen122. 2. Daß solche Zurückhaltung in Berlin auf Samoa selbst nichts fruchtete, machten die rastlosen Konsuln in den Folgejahren immer wieder in ihren Berichten über die von ihnen meist selbst ausgelösten Ereignisse klar. Bismarck sprach bei Nennung Samoas bald vom morbus consularis1", sein britischer Kollege Lord Salisbury vom furor consularisn\ der über die Regierungskanzleien in Berlin und London hereinbrach. a) Noch konnte des Kanzlers soeben erwähnter Erlaß die Südsee gar nicht erreicht haben, als Generalkonsul Stuebel das Auswärtige Amt in der Wilhelmstraße mit folgendem Telegramm in Aufregung versetzte und dort hektische diplomatische Aktivitäten ad maiora mala vitanda auslöste: Territorium von Apia als Repressalien beschlagnahmt. Flagge Regierungssitz gehißt. Bitte zur Vermeidung von Conflict und Errei-
120 Marg. Bismarcks auf Brief Dr. Stuebel (Fn. 7) an Bismarck, Apia, 7.10.1884, ZStA Potsdam, RKolA 2832 Bl. 1 ff. (7). 121 Marg. Bismarcks auf Brief Dr. Stuebel (Fn. 7) an Bismarck, Apia, 11.11.1884, ZStA Potsdam, R K o l A 2832 Bl. 18ff. (21); vgl. auch schon ders. an dens., Apia, 18.12.1883, Wb. Südsee I, 131; vgl. auch Fn. 177. 122 A A (Dr. Krauel [Fn. 114] mit im Zitat berücksichtigten Korrekturen ds Reichskanzlers) an GenKon. Dr. Stuebel in Apia, Berlin, 3 . 2 . 1 8 8 5 , ZStA Potsdam, RKolA 2832 Bl. 93 ff. (94). Vgl. auch d. Eingabe der D H P G (Cesar Godeffroy) an Bismarck, Hamburg, 19.3.1885, die den Kanzler erneut um Errichtung eines dt. Schutzgebiets auf Samoa bat, m. Marg. des Kanzlers, der die Vorlage der „anteriora" anordnete, bes. der „mit England und Amerika wegen Erhaltung des status quo gewechselten Erklärungen", ZStA Potsdam, R K o l A 2834 Bl. 40 ff. (Marg. Bl. 42). 123 Marg. Bismarcks auf d. Memorandum ds A A (Ref. Geh.Leg.-Rat von Kusserow) v. 2 0 . 3 . 1 8 8 5 betr. die im Text folg. Ereignisse, ZStA Potsdam, RKolA 2834 Bl. 16. 124 Premierminister Lord Salisbury an d. brit. Botschafter in Berlin Sir Edward Malet, Foreign Office, 2 4 . 4 . 1 8 8 9 , Hatfield H o u s e MSS., 3 Μ, Class A 64/49 fol. 123 v.
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chung von Protektorat schleunigst um gro/?[es] Kriegsschiff. Stuebel"''. Der Reichskanzler ließ postwendend zurückfragen: Gegen wen und weßhalh Repressalie f Zweck von Flaggenhissen unverständlich. Protektorat oder Gewaltakt dort nicht beabsichtigt, deßhalb kein Schiff nöthig126. In von Bismarck persönlich entworfenen Telegrammen an die kaiserlichen Vertretungen in London und Washington ließ das Auswärtige Amt ausrichten: Wir erstreben oder billigen keine Aenderung der bisherigen Zustände in Apia. Theilen Sie das mit. Von Bismarck117. Graf Herbert von Bismarck, damals in Diensten seines Vaters im Auswärtigen Amt, bat den Boschafter Ihrer Britannischen Majestät und den amerikanischen Gesandten zu sich, um ihnen zu erklären, daß wir keinerlei Absicht hätten, Territorium auf Samoa zu beschlagnahmen oder Flagge zu hissen, sondern strict auf dem Boden unserer Abmachungen mit England und den Vereinigten Staaten ständen12'. Der kaiserlichen Admiralität teilte das Auswärtige Amt zusätzlich mit, daß es nicht beabsichtigt sei, in Samoa durch Entsendung von Kriegsschiffen ein deutsches Protektorat vorzubereiten12'. b) Als Mitte März 1885 in Berlin die Nachricht eintraf, nun sei in Samoa zusätzlich auch in Mulinu'u, dem traditionsreichen Versammlungsort der samoanischen Häuptlinge, gegen den Protest des englischen und des amerikanischen Konsuls die deutsche Flagge aufgezogen worden'30, reagierte der Reichskanzler, wie seinen Marginalien auf einem Memorandum des Auswärtigen Amtes entnommen werden kann, verärgert auf die Exzesse seines Konsuls in Samoa und die Versuche seines Referenten in Berlin, diese in milderem Licht erscheinen zu lassen. Hier zeige sich wieder dieser morbus consularis; wieso - so hatte Bismarck im Memorandum des Geheimen Legationsrats im Auswärtigen Amt von Kusserow zu lesen bekommen - „drohende Annexion durch England oder Neuseeland"? „Wodurch ist die Drohung substanziiert? Wir haben Am.ferika] und England statum quo zugesagt und sie uns." Kusserow: Häuptling Malietoa sei in die frühere feindselige Haltung131 gegen die 125 Stuebel (Fn. 122) an AA, Apia, 28.1.1885 (üb. Auckland, 9.2.1885), ZStA Potsdam, RKolA 2832 Bl. 98. 126 Der Reichskanzler (Ref. Dr. Krauel [Fn. 114]) an Stuebel (Fn. 122), 9.2.1885, ZStA Potsdam, RKolA 2832 Bl. 100. 127 Telegr.-Entw. ds Kanzlers in ZStA Potsdam, RKolA 2832 Bl. 100 (9.2.1885). 128 Memo. Graf H. von Bismarck, 9.2.1885, ZStA Potsdam, RKolA 2832 Bl. 99. ,w AA (Dr. Krauel [Fn. 114]) an Adm., Berlin, 10.2.1885, BA-MA, RM 1/v. 2434, Bd. 1 [Ganz Geheim], fol. 44; ZStA Potsdam, RKolA 2832 Bl. 97. 130 Adm. an Grafen Hatzfeldt (Fn. 37), Berlin, 17.3.1885, m. Anl. Kommandant S.M. Krz. Albatroß Korvettenkptn Plüddemann an Adm., Apia, Febr. 1885, ZStA Potsdam, RKolA 2834 Bl. 1 ff. (m. Marg. ds Grafen Hatzfeldt a. a. O. S. 6 zum Protest der beiden anderen Konsuln: „natürlich, was hätten wir getan, vice versa?"). 131 Hier kursiv gesetzte Worte sind im Orig. vom Reichskanzler unterstrichen.
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Deutschen zurückgefallen"; Bismarck: „Was heißt Haltung? Liegen Thatsachen vor?" Kusserow: Malietoa habe in Erwartung englischer Hilfe gestanden; Bismarck: „Unsinn." Kusserow: Die Häuptlinge seiner Partei hielten Hetzreden gegen Deutschland; Bismarck: „Klatsch." Kusserow: In Neuseeland liege ein Regierungsdampfer bereit, „jeden Augenblick zu politischen Zwecken nach Samoa in See zu gehen"; Bismarck: „Warum soll er nicht liegen?" Kusserow: Daß die englische Regierung samoanische Petitionen um Annexion ablehnen würde, sei angesichts dessen „keine ausreichende Sicherheit [Bismarck: „!!"] gewesen"; Bismarck: „Gegen seine Nachrichten über einen Dampfer in Neuseeland? Das ist stark!! Hetzreden, Zeitungs-Artikel! Nachrichten über einen bereit liegenden Dampfer - voilä tout!" Kusserow: Konsul Dr. Stuebel habe einer englischen Aktion zuvorkommen wollen; Bismarck: „Ohne jeden Grund." Kusserow: An ein Paktieren mit Malietoa sei nicht zu denken gewesen; Bismarck: „Warum auch? Wir haben mit England pactirt." Kusserow: Es sei darum gegangen, „den Einfluß Deutschlands auf die künftige Gestaltung der Verhältnisse sicher zu stellen"; Bismarck: „Das ist Sache Sr. M.fajestät], aber nicht des Consuls." Man möge doch - so das Memorandum von Kusserows abschließend - in Washington sondieren, ob dort Neigung bestehe, Deutschland gegen Sicherheiten anderswo in der Südsee „freie Hand in Samoa zu lassen"; Bismarck: „Nein. Nach dem nicht zu rechtfertigenden Verhalten des H.ferrn] St.[uebel] müssen wir vor Allem nicht dem Verdacht Raum geben, als erstrebten wir mehr wie den verabredeten status quo"132. Eine Woche später verfügte der Kanzler aus neuem Anlaß ungehalten: „Das Notenschreiben muß nun doch endlich aufhören . . . Bevor wieder eine Note . . . entworfen wird, ist meine schriftliche Genehmigung einzuholen, v. B.""\ 3. Dies beendete zunächst zwar die Diskussion über Samoa in der Wilhelmstraße. Inzwischen waren aber das britische Foreign und Colonial Office hellhörig geworden, wo lange nicht begriffen worden war, daß sich die deutsche Politik unter Bismarck - dem die britischen Beobachter in Europa vieles zuzutrauen geneigt waren134 - unter dem
132 Memo, ds AA (Ref. von Kusserow [Fn. 123]) für Bismarck betr. das Hissen der Flagge in Mulinu'u am 2 3 . 2 . 1 8 8 5 , Berlin, 2 0 . 3 . 1 8 8 5 (m. Rdbem. des Reichskanzlers), ZStA Potsdam, RKolA 2834 Bl. 16-27 v. (vgl. dazu Fn. 131). AA {von Kusserow [Fn. 123]) an Grafen Münster (Fn.36), 2 9 . 3 . 1 8 8 5 - „Sfeiner] D[urchlaucht] im Concept", ZStA Potsdam, RKolA 2834 Bl. 51 ff. m. Marg. ds Kanzlers (vgl. dazu Fn. 131). So hatte der brit. Botschafter in Berlin schon 1880 beklagt, daß sich d. brit. Außenpolitik seiner gut. Beziehungen zur Wilhelmstraße weniger intensiv bediene als früher: The difficulty I have had to contend with is the universal distrust of Bismarck which
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Eindruck des europäischen Scramble for Africa nun auch kolonialen Überlegungen in Afrika zuzuwenden begonnen hatte135. Noch im Juni 1884 hatte der damalige britische Außenminister dem kaiserlichen Botschafter allerdings erklärt, daß er bisher nicht den Eindruck gewonnen habe, als wolle die deutsche Regierung eine systematische Kolonialpolitik treiben136. Aber London hatte schon Überlegungen für diesen Fall angestellt und das Interesse des Deutschen Reiches an pazifischen Inseln und seine möglichen Auswirkungen auf die australischen Kolonien137 unterstellt und intern große Zurückhaltung gegenüber solchen Entwicklungen bekundet138. Während der Premierminister des durch den permanenten Ausnahmezustand in Irland außenpolitisch gelähmten Großbritanniens13' das Deutsche Reich im Kreis der großen Kolonialmächte im Unterhaus öffentlich willkommen hieß140, empfanden die maßgeblichen Männer in der Wilhelmstraße, daß ihre Frage an No. 10 Downing Street, ob England ... geneigt sei, für unser schwerwiegendes Anerbieten, die englische Politik ferner wie bisher zu unterstützen, jenseits der Meere uns klaglos zu stellen und den berechtigten Unternehmungen deutscher Reichsangehöriger nicht in den Weg zu treten141, nahezu allerorten mit wenig ermutigenden Zeichen der Tat beantwortet wurde - nicht nur in
prevails in England... Nor can I wonder at it. A man who has secretly planned three successful wars, deflated two great powers, created an Empire in the center [sic] of Europe and made himself the irresponsible Leader of a nation of warriors is open to suspicion and distrust ever after... (Odo Russell an Lord Salisbury, Berlin, 4.1.1880, Hatfield House MSS., 3 M , Class A 9/61 fols. 186ff. [186v. - 187v.]). 135 Dazu L.H. Gann u. P.Duignan (Fn. 106), 100 ff. 154 Graf Münster (Fn.36) an Bismarck, London, 7.6.1884, AA/England 78 Bd. 1 (o. P.), dazu d. Marg. Bismarcks: „Was ist Colonial-Politik? Wir müssen unsre Landsleute schützen." (Marg. ebd. S.3; GP IV/744). 137 The idea of allowing any of these Islands [of Samoa] to fall into the hands of other European Powers ... might almost drive the Australian Colonies into revolt... (FO an C O , 21.3.1884, P R O / C O 225/17 Paper 4779 fol. 86v.); vgl. dagegen noch Fn.22. F O an C O , 21.3.1884, P R O / C O 225/17 Paper 4779 fols. 88 v., 90r. „Die ernsteste Schwierigkeit [für d. brit. Politik] bleibt aber immer I r l a n d . . . " (Graf Hatzfeldt [Fn. 5] an Grafen Bismarck [Fn. 66], London, 10.12.1885, abgedr. in: Botschafter Paul Graf von Hatzfeldt (Nachgelassene Papiere 1838-1901, hgg. v. G.Ebel, Erster Teil, Boppard 1976, N r . 218 [S. 471]); vgl. allg. F. Prill, Ireland, Britain and Germany 1871-1914, Dublin 1975; rechtsgeschichtl. vgl. dazu D. Giesen, „Repression u. Rechtsgefühl. Rechts- u. sozialgeschichtl. Bemerkungen zur Bedeutung ds konfessionellen Arguments in der Irlandpolitik der Tudor- u. Stuartzeit", in: G. Kleinheyer u. P. Mikat (Hgg.), Beiträge z. Rechtsgesch. Gedächtnisschrift f. Hermann Conrad, Paderborn 1979, 181-212; drs., „Zum modernen Irlandproblem. Einige Erwägungen vor dem Hintergrund irischer Rechts- u. Sozialgeschichte", in: Der Staat 15 (1976) 485-502. Allg. zur europäischen Gleichgewichtslage zw. 1878 u. 1890 vgl. M.Stürmer (Fn.4), 193ff. (205). 140
Hansard's Parliamentary Debates, 3rd Series, vol. 295 (Lo. 1885), 979. Bismarck an Grafen Münster (Fn.36), Friedrichsruh, 1.6.1884, AA/England 78 Bd. 1 (ο. P.); G P IV/743 (S.60). 141
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Fiji142, auch in Afrika und Samoa143. Unsere kolonialen Bestrebungen sind überall einer abwehrenden und einschränkenden Haltung Englands begegnet, schrieb Bismarck Anfang 1885 an den kaiserlichen Botschafter in London144, um hinzuzufügen, daß die Kolonialfrage aber schon aus Gründen der inneren Politik eine Lebensfrage für uns istM. Diese Äußerung des Kanzlers ist nicht nur vor dem Hintergrund des für Bismarck enttäuschenden Ausgangs der Herbstwahlen zum Reichstag 1884, sondern überhaupt als Schlüssel für den behaupteten eindeutigen Bismarckschen Primat der Innenpolitik gedeutet worden146. Sie läßt sich im Fall Samoas aber auch für die Folgejahre der Bismarckschen Kanzlerschaft nicht instrumentalisieren. Denn auch nach 1884 zeigt sich an Samoa deutlich, wie sehr Bismarck bestrebt war, die Interessen der dort mitverantwortlichen Vertragsmächte zu achten. So wurden die heißspornigen konsularischen Vertreter des Deutschen Reichs iterum atque iterum auf die Linie der Zurückhaltung und Rücksichtnahme zurückgepfiffen, die er selbst nicht erst seit seinem Scheitern mit der Samoavorlage im Reichstag (1880), vielmehr schon früher und erst recht seit Abschluß der internationale Rücksichtnahme erheischenden Verträge (1879) stets eingehalten hatte. Sie Schloß einseitige faits accomplis von vorneherein aus und ließ ihre ernsthafte Planung unter Bismarck anders als im Reichsmarineamt unter seinen Nachfolgern147 - auch überhaupt nicht zu148. Versuche, einseitig zu handeln und auf diese Weise erzielte Vorteile auszunutzen, ereigneten sich nur auf Samoa selbst. Hier verwickelten sich die Konsuln der drei Mächte immer Wb. Fiji, S. 3 ff. bzw. 418 ff. Bismarck an Grafen Münster (Fn.36), Berlin, 5.12.1884, AA/Ägypten 5 Bd. 15 Bl. 74 ff. (GP IV/756). 144 Bismarck an Grafen Münster (Fn.36), Berlin, 2 4 . 1 . 1 8 8 5 , AA/England 78 Bd.3 (o.P., Erl. S. 4); GP IV/757 (S.94). 145 Bismarck an Grafen Münster (Konzept v. d. Hd ds Gesandten im Haag Grafen Herbert von Bismarck [Fn. 66], zZ. Berlin, m. zahlr. Marg. ds Reichskanzlers), Berlin, 2 5 . 1 . 1 8 8 5 , AA/England 78 Bd. 3 (o. P., Erl. S. 3); GP IV/758 (S. 96). 144 H.-U. Wehler, „Bismarcks Imperialismus" (Fn. 10), 275ff. (277-8); vgl. auch H.Pogge von Strandmann (Fn. 118); eine Ubers, üb. d. Ergebn. der RT-Wahlen 1871-1912 findet sich im Großen Ploetz, Auszug a. d. Gesch., 29. Aufl. Frbg 1980, 760-1. 147 Vgl. bei und in Fn.234. 148 Dies unterschätzt H.-U. Wehler, Bismarck (Fn. 10), 215 ff., wie überhaupt ds Bspl. Samoa in seine Hauptthese vom expansiven Bismarckschen „Sozialimperialismus unter dem Primat der Innenpolitik" (ebd. S. 486 ff.) kaum einzufügen ist; es stimmt andererseits auch nicht ohne weiteres, daß Bismarck „Kolonialerwerb in der Südsee . . . damals wie später gar nicht angestrebt" habe (S. 222): Bismarck hat im Ggteil nach dem v. England mißbilligten Annexionsversuch von Queensland (1883) nicht gezögert, Dt.-Neuguinea (Kaiser-Wilhelms-Land) mit der sich anschließenden Inselgruppe Neubritannien ( = Bismarckarchipel) 1884-5 unter den Schutz ds dt. Reichs zu stellen (Fn. 102): ein Befund, den Wehler - diesmal im Sinn seiner eigenen Thesen - wohl nicht hinreichend würdigt. 142 1,3
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häufiger in jene flag-hoisting and flag-pulling-down troubles in Apia, die der britische Konsul dieser Jahre anschaulich beschrieben hat14'. Robert Louis Stevenson hat diese Vorgänge als a story ... of rapacity, intrigue, and the triumphs of temper beschrieben, als [a] picture ... of a piece throughout: excellent courage, super-excellent folly; a war of schoolchildren; expensive guns and cartridges used like squibs or catherine-wheels on Guy Fawkes's day: Three nations were engaged in this infinitesimal affray, and not one appears with credit150 - die schnell beleidigten Deutschen eingeschlossen151. Bismarck selbst hat die im Treibhausklima unter tropischer Sonne sich unerwünscht und aggressiv entfaltenden Aktivitäten seiner Konsuln ähnlich gesehen: Wissen Sie - äußerte er 1889 im Gespräch mit Parlamentariern - , meine Botschafter und Gesandten kann ich meistern, aber der morbus consularis ist schwer zu dämpfen. Kaum ist einer auf seinem Posten, so fragt er sich: ,Wer könnte mich kränken? Einer muß mich kränken.' Zugleich entsteht dann das Bedürfnis nach Flaggenhissung, und der Teufel ist losti2. 4. Es ist nach langem Aktenstudium verführerisch, die in diesem Sinn faszinierenden Berichte der fremden Konsuln über das selbst angerichtete Chaos auf Samoa sprechen zu lassen, die damals Berlin, London und Washington erreichten und wissenschaftlicher Auswertung zugänglich sind1". Raumgründe zwingen dazu, dies späteren Arbeiten vorzubehalten154. Die Antwort Bismarcks auf alle die hitzigen Berichte seiner Konsuln in Apia blieb stets die gleiche: keine einseitige Änderung des ,4
' Wm. B. Churchward (Fn. 74), 195-6. R.L. Stevenson (Fn.6), in d. Reihenfolge d. Zitate: 161, 166, 91. 151 In the Germans alone, no trace of humour is to he observed, and their solemnity is accompanied by a touchiness often beyond belief. Patriotism flies in arms about a hen; and if you comment upon the colour of a Dutch umbrella, you have cast a stone against the German Emperor... (R. L. Stevenson [Fn.6], 88). 152 Bismarck im Gespr. m. Parlamentariern (22.2.1889), zit. nach W.Andreas (Hg.), Bismarck. D. ges. Werke, Bd. 8 (Gespräche), Bin 1926, N r . 463 (S.655). 15:1 Die wichtigsten europ. Archive befinden sich in Potsdam (ZStA, bes. die üb. 300 Bde. ds RKolA allein zu Samoa), London (PRO, bes. die nach Tausenden zähl. Bde. zum Pazifik in d. Abtlgen F O , C O u. Adm.), Bonn (AA, bes. die zahlr. hier wichtigen Bde. England, Dtld., Südsee u. AdM), Freiburg i. Β. (BA-MA, bes. d. mit der Südsee befaßten Adm.-Akten) und Hatfield House (Residenz von Lord Salisbury) sowie Oxford (Bodl. u. Rh. H.). Die Kolonialakten von Deutsch-Samoa befinden sich dagegen teilweise in Samoa selbst (Public Record Office Apia), teilweise in Neuseeland (National Archives Wellington). Vgl. Fn. * sowie 154 u. 254. 154 Vgl. vorerst P. M. Kennedy, The Partition of the Samoan Islands 1898-99, D. Phil. Diss. Oxford 1970 (Bodl. Libr. MS. D. Phil. d. 4983). Im Druck ist nur ein sehr klein. Teil der damal. konsular. u. diplomat. Korrespondenz ersch. (vor allem in den dt. Weißbüchern (Fn. *) u. in BFSP 1884-5 Bd. LXXVI (Lo. 1892) 778-811; 1887-8 Bd. LXXIX (Lo. o. D.) 963-1053; 1888-9 Bd. LXXXI (Lo. o.D.) 579-594; 1889-90 Bd. LXXXII (Lo. o. D.) 613-629. 150
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status quo der drei Vertragsmächte von Samoa; Versuche, Vorteile für das Deutsche Reich vertraglich auszuhandeln: ja; Gewalt gegen die beiden anderen Mächte oder Annexion: unter keinen Umständen. Bismarck hat diesen Weg auf Samoa, wo das Deutsche Reich anders als bei den 1884/5 erworbenen deutschen Kolonien durch internationale Abmachungen seit 1879 auf gegenseitige Rücksichtnahme festgelegt war, nie verlassen. Im Zusammenhang mit politischen Fragen, die nicht die Südsee betreffen, instruierte der Kanzler den Botschafter in London zwar dahin, daß Schüchternheit... bei der Rücksichtslosigkeit der englischen Colonial-Politik nicht angebracht und kein Mittel sei, in guten Verhältnissen mit England zu bleiben™. Die englische Seite empfand später im Rückblick die gesamte Politik des Deutschen Reiches seit Bismarck auch (und gerade) mit Blick auf Samoa als eine unaufhörliche Politik unverhüllter Drohungen156. Aber nach Samoa gerichtete Erlasse des Kanzlers mit dem Hinweis, gegenüber den beiden anderen Mächten weniger Schüchternheit zu zeigen, wird man in den Samoa betreffenden Aktenbergen des Reichskolonialamts157 nicht finden. In Zeiten samoanischer Krisen mochte Bismarck zwar den Besuch deutscher Kriegsschiffe in samoanischen Gewässern als nützlich empfinden158; deutsche Befürchtungen über das Verhalten der beiden anderen Mächte mochten den Kanzler auch in der Ansicht bestärken, daß es ein politischer Fehler sein würde, den deutschfeindlichen Intriguen [auf Samoa] freien Spielraum zu lassen; deshalb konnte die Anwesenheit eines deutschen Geschwaders in solchen Fällen bei der deutschfreundlichen Partei unter den Samoanern den Eindruck hervorrufen, daß wir entschlossen sind, unsere dortigen Interessen mit Nachdruck zu schützen und daß wir über die erforderlichen Machtmittel verfügen1". Aber es ging eben um die Behauptung und Sicherung der deutschen Interessen neben den anderen fremden Interessen, nicht um der letzteren Zurückdrängung oder gar Ausschaltung. Fast jedesmal, wenn der deutsche Konsul deutsche Schiffe vor Samoa um den Einsatz der von Bismarck angesprochenen Machtmittel bat und ihn auch bewirkte, kamen strenge Erlasse aus Berlin, mit denen die Konsuln ob 155 Bismarck an Grafen Münster (Fn. 36), Varzin, 12.8.1884, AA/Ägypten 5 Bd. 9 Bl. 26 ff. (Zit. Bl. 27v.); GP IV/749 (S. 77). 154 KolMin. Joseph Chamberlain an Lord Salisbury (Fn. 124), Birmingham, 18.9.1899, Hatfield MSS., 3 M, Class Ε (No. 166). 157 Vgl. Fn. 153. 158 So nach d. Scheitern der Samoakonferenz Washington 1887; vgl. etwa AA (Graf H. von Bismarck [Fn. 66]) an Chef d. Adm. von Caprivi, Berlin, 2 9 . 6 . 1 8 8 7 ; AA (Graf H. von Bismarck) a. d. kaiserl. Konsul in Apia Becker, Berlin, 28.6.1887, BA-MA, RM 1/v. 2427 betr. Entsendung von Schiffen nach Australien resp. den Südsee-Inseln, Bd. 6 fols. 84 ff., 87 ff. 159
Ebd., fol. 88 r.
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ihrer die Grenzen überschreitenden Kanonenbootpolitik zurechtgewiesen wurden. Dies führte in einem Fall schließlich sogar zur Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen den deutschen Konsul in Samoa, das mit seiner Abberufung und Versetzung in den einstweiligen Ruhestand endete160. 5. Bis der Lotse von Bord ging - und wohl auch in den ersten Jahren unter Bismarcks Nachfolger Graf von Capriviw - war die deutsche Politik jedenfalls in Samoa bestrebt, die Ende der siebziger Jahre vereinbarte Neutralität der Samoagruppe nicht einseitig zu brechen, sondern, so schwer das angesichts der dortigen Zustände auch fallen mußte, zu respektieren sowie Änderungen zugunsten Deutschlands nur im Verhandlungswege anzustreben. a) Diese Bemühungen wurden 1885 intensiviert, als sich der kaiserliche Generalkonsul Dr. Krauel in London zu Sondierungen aufhielt. Sie bereiteten mit den sich anschließenden Bemühungen von Bismarcks ältestem Sohn Graf Herbert von Bismarck das koloniale Einvernehmen mit England vor, das mit Ausräumung der letzten Streitpunkte - Sansibar und Samoa - im August 1887 zu einer deutsch-britischen „Kolonialehe" führte162, für die auch der Reichskanzler im Parlament lobende Worte fand163. Dieses Einvernehmen nahm auch für die Zeit nach dem Scheitern der Washingtoner Samoakonferenz von 18871M und der einvernehmlich von allen drei Mächten erzielten Berliner Samoa-Akte von 1889165 das politische Tauziehen um die Inselgruppe bis 1894 aus dem Bereich der großen Politik heraus, wenn es auch keineswegs gelang, Samoa selbst von dem bitteren furor consularis zu befreien166. In einem an 140 ZStA Potsdam, RKolA 3068 betr. Samoa [Geheime Beiakten] u. das Disziplinarverf. gegen Konsul Dr. Wilhelm Knappe vor d. untersuchgsführenden Beamten Geh. Leg.Rat Göring (dem Vater); Ruhestandsversetzung: 4.12.1889 (Bl. 24-5 m. 20 Bl. Anl. [Geheim]). Knappe leitete 1890-4 d. (dt.) Staatsbank in Pretoria, 1898 war er GenKon. in Schanghai, 1904 Geh. Leg.-Rat im AA. Zu den Vorgängen selbst vgl. diese Abhdlg. unten S. 210 ff. Er war unter Parlamentariern vielleicht deshalb bes. geachtet, weil er Kolonien kühl gegenüberstand; ihm wurde der Satz zugeschrieben: „Je weniger Afrika, desto besser." (Μ. Stürmer [Fn. 4], 267). Das dürfte auch für d. Pazifik gelten, vgl. Capnvis Aufzeichnungen v. 1.5.1894 (Fn. 230). 162 Das Wort stammt von Graf von Bismarck (Fn. 66) aus dessen RT-Rede v. 14.12.1888, StenBer. RT 7/III 1888/1, Bin 1888, 311. 143 Bismarcks letzte große kolonialpol. RT-Rede (26.1.1889 [Fn. 116], 617 ff. (618, wo das RT-Protokoll „Bravo![Rufe] von links" festhält). Akten: BFSP 1887-8 Bd. LXXIX (Lo. o. D) 900-962; R h . H . , Micr.oc. 62/1. 165 Orig.-Akten: ZStA Potsdam, RKolA 2882-2904. Sitzungsprotokolle in AA/AdM 580; R h . H . , Micr.oc. 62/2; BFSP 1888-9 Bd. LXXXI (Lo.o.D.) 1217-73; Samoa-Akte 1889: RT-Drs. 64/1890, 554ff. 166 P.M. Kennedy, Samoan Tangle (Fn.23), 98ff., 145ff.
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Krauel nach London gerichteten Erlaß betonte der Kanzler den auf Vertragstreue gerichteten Ausgangspunkt seiner Samoapolitik, an dem er festzuhalten wünschte, auch wenn neue Verhandlungen mit den anderen Mächten keine Anerkennung der dominanten wirtschaftlichen Stellung deutscher Interessen auf Samoa im politischen Bereich bringen sollten. Trotz der auf Grund ihrer Meistbegünstigungsverträge mit Samoa dort formell bestehenden Gleichberechtigung Deutschlands, Englands und Nordamerikas und ungeachtet des Abkommens der drei Regierungen, den status quo hinsichtlich der Unabhängigkeit der Inselgruppe nicht ohne die Zustimmung der beiden anderen Theile zu ändern, ist von Seiten Englands und Amerikas bisher die Sorge für Aufrechterhaltung der Ruhe in Samoa ... seit sechs Jahren ausschließlich uns überlassen worden.. ,167; das Tridominium der Mächte auf Samoa habe sich nicht bewährt; man müsse daher besorgt sein, im Wege der Verhandlungen mit England und Amerika in Samoa freie Hand zu erhalten, und wenn das nicht gelinge, Deutschlands Verträge mit Samoa voll ausschöpfen, um unsere Interessen so wirksam als möglich zu wahren"8. b) Die deutsch-englischen Verhandlungen ließen sich überaus vielversprechend an1" und brachten zunächst eine Einigung beider Seiten auf die Uebernahme der gesammten Regierungsbefugnisse auf Samoa durch eine der Vertragsmächte unter Wahrung der nominellen Souveränität des einheimischen Herrschers"". Die Schwierigkeiten begannen aber bei der Frage, welche Vertragsmacht die Regierungsbefugnisse zunächst übernehmen sollte. Die hierbei in Betracht kommenden Wünsche unseres Handelsstandes, welche sich zum Theil widersprechen, würden, wenn man sie insgesammt erfüllen wollte, uns in die Lage bringen, so ziemlich von allen Inselgruppen der Südsee Besitz zu ergreifen, schrieb Krauel aus London. Ich habe diesen Wünschen daher nur eine sekundäre Beachtung geschenkt, und mich in der Hauptsache von dem für unsere Kolonialpolitik auch in Afrika maßgebenden Princip leiten lassen, auf eine Konzentration und Abrundung der bereits erworbenen Besitzungen und auf eine möglichste Trennung von englischen Schutzgebieten Bedacht zu nehmen. [Bismarck: richtig.]m
167 Erl. Bismarcks an d. kaiserl. GenKon. Dr. Krauel, zZ. London, Berlin, 4.4.1885, ZStA Potsdam, RKolA 2835 Bl. 3 ff. (m. Korrekt, v. d. Hd ds Reichskanzlers; Zitat 12v.-13r.; gesperrte Kursivpassage im Or. von Bismarck unterstrichen. m Ebd., 14v-15r. Krauel (Fn. 167) an Bismarck, London, 13.4.1885, ZStA Potsdam, RKolA 2835 Bl. 58 ff. m Kaiserl. Wirkl. Leg.-Rat Dr. Krauel (Fn. 167) an Bismarck, London, 22.4.1885, ZStA Potsdam, RKolA 2835 Bl. 115 ff. (Zit. 116 v.). 171 ZStA Potsdam, RKolA Bl. 115ff. (119v.-120r., m. Marg. Bismarcks).
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c) Es ist müßig, wenn nicht unzulässig, darüber zu reflektieren, wie weit Großbritannien der deutschen Seite entgegengekommen wäre, wenn Bismarck den Gedanken des Übergewichts der deutschen Interessen auf Samoa 1886 stärker zugunsten der deutschen Verwaltung Samoas ins Spiel gebracht hätte als das offenbar geschah. 1887 konnten sich Deutschland und England damit auf der Washingtoner Konferenz nicht durchsetzen, 1889 wurde er auf der Berliner Samoa-Konferenz gar nicht erst erörtert. Während der Kanzler 1886 gegenüber der in seinen Augen in den samoanischen Angelegenheiten für uns wenig entgegenkommende[n] englischen Regierung172 schon bereit war, einer aus den Konsuln in Apia bestehenden „internationalen Kommission" mit alternierendem Vorsitz zuzustimmen, obgleich derselbe den überwiegend deutschen Charakter der europäischen Niederlassung in Samoa außer Acht zu lassen scheintm, erwog die englische Regierung intern noch, ob sie Samoa, das nur dem Namen nach noch keine Kolonie Deutschlands war, den Deutschen nicht für ein quid pro quo in other places überlassen sollte174, zumal britische Samoainteressen selbst dem britischen Hochkommissar für den Westpazifik nicht groß genug schienen, ihretwegen die Freundschaft mit dem Deutschen Reich aufs Spiel zu setzen175. Der britische Premier sah sogar Gefahren einer neuen Niederlage seines Landes wie in Südwestafrika Jahre zuvor: It will be necessary to sit upon the Colonical Office, schrieb er an den Ständigen Staatssekretär im Foreign Office, I do not imagine that Bismarck would cease to care about Samoa if German preponderance of interests should cease. But if we make our arrangement dependent upon preponderance — it is as likely as not to be ours whenever the first turn [of a German administration in Samoa] is over... But we shall get into a new Angra Pequena trouble if we do not look out. That is to say we shall force him into a menacing position on a matter upon which we are not prepared to resist him to the end; and the result will be a discreditable „skedaddle"176. Entgegen den Erwartungen von Lord Salisbury insistierte der Reichskanzler in der Frage einer ersten Administrationsrunde unter deutscher Leitung jedoch nicht; dem kaiserlichen Botschafter in London telegraphierte er statt dessen: Unser Bedürfniß in Samoa ist nicht Herrschaft, sondern Sicherheit unseres 172 AA (Graf Bismarck [Fn.66] an Gesandten von Zedtwitz in Washington, Berlin, 11.9.1886 (Entw. m. Marg. ds Reichskanzlers), ZStA Potsdam, RKolA 3017 Bl. 37 ff. (39 r. [Einfügung Bismarcks]). 173 Ebd., 37 v. (Einfügung Bismarcks). 174 Sir John Thurston (bei Fn.2) an Stanhope (Fn. 13), Suva (Fiji), 8.10.1886 [Secret & Confidential], P R O / C O 537/136 fols. 71 ff. (83 r.). 175 Ebd., fols. 71 ff. (81). 176 Lord Salisbury (Fn.124) an Sir Philip Currie (FO), 30.11.1886, Hatfield House MSS., 3 M , Class D/III/15-19 fol. 347.
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dortigen Verkehrs gegen die Eingeborenen und gegen Streit mit England und Amerika. Ich bitte diese Grenze genau festzuhalten und keine Erfolge über dieselbe hinaus zu erstreben. Viel Werth lege ich daher auf ausschließliche deutsche Verwaltung [Samoas] nicht, mehr auf feste, nur einstimmig zu modificirende Abkommen mit England und Amerika177. d) In einem wenige Wochen später vom Vortragenden Rat im Auswärtigen Amt Dr. Krauel und sodann vom Reichskanzler persönlich kritisch durchgesehenen Memorandum des gerade in Berlin weilenden Generalkonsuls Dr. Stuebel betreffend Samoas künftige Verwaltung sah dieser Beamte den einzigen Ausweg aus dem samoanischen Chaos in der „Uebertragung der Exekutive auf einen leitenden Beamten", der „von einer der 3 Regierungen gewählt" würde [Krauel: „Mit Zustimmung der beiden anderen"], am besten so, „daß Deutschland die Wahl nur bis auf Weiteres, solange das Uebergewicht seiner Interessen andauert, ausübe" [Bismarck: „Werden die anderen nicht zugeben."] 178 Wie der Kanzler vorausgesehen hatte, scheiterte das mit England schließlich erzielte Einvernehmen, angesichts der überwiegenden deutschen Interessen auf Samoa einen deutschen Beamten zum Leiter der samoanischen Exekutive zu bestellen179, am 2 6 . 7 . 1 8 8 7 in Washington am Widerstand der dritten Vertragsmacht, am amerikanischen Außenminister Bayard, der darauf beharrte, daß das Kriterium der wirtschaftlichen Präponderanz nur eine Wirkung haben konnte: to reduce the islands into a Germanic possessionm, und das war für die Vereinigten Staaten damals ebenso 177 Kaiserl. Geh. Leg.-Rat Rantzau (Schwiegersohn Bismarcks) an AA, Varzin, 30.10.1886 (m. Ber. üb. gleichlaut. Telegr. Bismarcks nach London), ZStA Potsdam, RKolA 3017 Bl. 109 v. Vgl. auch Graf Hatzfeldt (Fn.5) an Grafen Bismarck (Fn.66), London, 11.11.1886, Hatzfeld-Naßlaß (Fn. 139), Nr. 268 (S. 537-8), sowie Graf Bismarcks Antwort an Grafen Hatzfeldt, [Berlin] 16.11.1886, ebd. Nr. 270, wo Verf. seinen Vater mit der Bemerkung zitiert, daß dieser „mit Bezug auf... [Samoa] durchaus keinen Ehrgeiz und zumal kein Jingo-Bedürfnis habe"; „Handelsfreiheit und Polizeischutz" sei das, was Dtld. wolle; „die Übernahme der Regierung von Samoa würde für uns bei der antikolonialen Reichstagsmajorität sogar eine Verlegenheit sein" (S. 541) - dies nach umfassendem Kolonialerwerb in Afrika und der Südsee! 178 Memo. Stuebel (Fn. 122) für Grafen Bismarck (Fn.66), Berlin, 15.11.1886, ZStA Potsdam, RKolA 3017 Bl. 110-5 m. Marg. ds Reichskanzlers u. von Dr. Krauel (Fn. 170). Kursivpassagen im Orig. unterstrichen. 179 Krauel (Fn. 170) an Bismarck, London, 22.4.1885, ZStA Potsdam, RKolA 2835 Bl. 115ff.; Lord Salisbury (Fn. 124) an Sir L.S. West (brit. Botschafter in Washington u. Delegationsleiter auf d. Samoakonferenz 1887), London, 30.4.1887 [Secret], PRO/CO 537/136 Paper 4/87 [Secret] fol. 360r.: It appears to be unquestionable that at present Germany is in a commercial sense the preponderating Power at Samoa ... In recognition of this fact, Her Majesty's Government fully admit that the first mandate for a period of five years should be conceded to Germany. Vgl. Fn. 46. 180 Protocoll of 2nd Conference, 2nd July 1887, S.3, BFSP (Fn. 164) 910; 3rd Conf., 9th July, S. 5, BFSP 931; 6th Conf., 26th July, S. 7, BFSP 957-8; auch in AA/AdM 578 u. Rh.H., Micr.oc. 62/1.
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unannehmbar181 wie es für die deutsche Regierung enttäuschend war182. Während der Reichskanzler noch nach Apia telegraphieren ließ: Unser Zweck [auf Samoa] beschränkt sich auf Schutz der Deutschen «[nd] ihres Handels, ohne Rivalität «[nd] Prestige-Bedürfniß183, beklagte er in einem Erlaß an den kaiserlichen Geschäftsträger in Washington die Verschlechterung des deutsch-amerikanischen Verhältnisses im Gefolge des negativen Konferenzausgangs 184 , der eine allgemeine Verschlechterung der Verhältnisse auf den Inseln selbst auslöste und das deutsche Konsulat in Apia dazu verleitete, entgegen den mäßigenden Weisungen aus Berlin eine eher auf Konfrontation angelegte Politik zu betreiben185. Dazu, mochte sich der kaiserliche Konsul ermutigt sehen, weil die Admiralität inzwischen angewiesen worden war, angesichts der erneut ausgebrochenen Stammesunruhen zum Schutz der deutschen Interessen in den Gewässern um Samoa Präsenz und Flagge zu zeigen186, und der Konsul selbst die Anweisung erhalten hatte, dem unter englischem Einfluß gegen den deutschfreundlichen Häuptling Tamasese agierenden Häuptling Malietoa notfalls den Krieg zu erklären, wenn dieser seine deutschfeindlichen Aktivitäten nicht einstellte und für von ihm verursachte Ausschreitungen bei der Feier des Kaisergeburtstags187 nicht alsbald Satisfaction für Beleidigung des Kaisers und der nationalen Ehre durch Vorgänge am 22. März [1887] . . . und Bürgschaft für künftigen Rechts181 6th Conf., 26th July 1887, S. 11, BFSP (Fn. 164), 961-2, AA/AdM 578 u. Rh. H., Micr. oc. 62/1. Vgl. aber auch Fn.219. 1!! Nachw. Fn. 184. D. Reichskanzler betonte aber auch sogleich, es liege „der kaiserlichen Regierung selbstverständlich fern, eine Aenderung in dem politischen Verhältnisse der drei befreundeten dort vertretenen Mächte in Samoa zu erstreben; wir halten vielmehr an den bestehenden Verträgen und Verabredungen zwischen uns und den Regierungen Englands und der Vereinigten Staaten bezüglich dieser Inselgruppe und an der Gleichberechtigung der Vertragsmächte f e s t . . ( B i s m a r c k an d. kaiserl. Gesandten in Washington von Alvensleben, [Berlin] 7. 8.1887, Wb. Samoa I, 10 [12]). 183 Bismarck an d. kaiserl. Konsulat Apia üb. GenKonsulat Sydney u. Auckland, Berlin, 2.11.1887, ZStA Potsdam, RKolA 2849 Bl. 60 (Zit. ist eine Einfügung v. d. H d des Reichskanzlers). 184 Bismarck an Zedtwitz (Fn.172), 18.11.1887 = Graf Bismarck (Fn.66) an Grafen Hatzfeldt (Fn.5), 21.11.1887: Bei den so freundschaftlichen Beziehungen, welche seit mehr als einem Jahrhundert zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten ungetrübt bestehen, ist es auffallend, daß wir auf diesem entlegenen Inselreich, wo weder für Amerika noch für Deutschland politische Interessen zu verthetdigen sind..., AA/AdM 578; Rh. H., Micr. oc. 62/1; vgl. auch Fn. 182. 185 P. M. Kennedy, „Anglo-German Relations in the Pacific and the Partition of Samoa: 1885-99", in: The Australian Jnl. of Politics and Hist. Bd. 17 (1971) 56-72, m. w . N . 186 Nachw. Fn. 158. 187 22.3.1887; es handelte sich dabei um Steinwürfe gegen die zur Feier „des Allerhöchsten Geburtstages im Festlokale noch versammelten und die auf dem Heimweg befindlichen Deutschen": Konsul Becker (Fn. 158) an Bismarck, Apia, 30.3.1887 (Eing. in Berlin: 7.5.1887), Wb. Samoa I, 9.
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schütz leistete188. Wenig später wurde Malietoa der Krieg erklärt18' und gemäß der für diesen Fall erteilten Weisung, den Häuptling womöglich fangen zu lassen und an Bord zu nehmen™, war er alsbald auch schon an Bord eines kaiserlichen Kriegsschiffs..., um einstweilen nach Kamerun gebracht zu werden191. Der deutsche Konsul erhielt aber auch jetzt die Weisung, deutsche Okkupation des Landes thunlichst und Hervorrufung eines Zusammenstoßes mit englischen oder amerikanischen Kriegsschiffen absolut zu vermeidenm. Die beiden anderen Mächte hielten sich zurück; sie erließen in Apia in the usual mealy-mouthed manner, wie Stevenson es formulierte, eine Proklamation, Ruhe und Ordnung zu bewahren193, und der britische Premier telegraphierte an seinen Konsul in Apia, die deutsche Regierung habe die strikte Beachtung des Dreimächtestatus auf Samoa zugesichert und wolle nur vor Ort geschehenes Unrecht vergelten: Your duty therefore will be to observe a complete neutrality both in word and actionw - was einen indignierten Mitarbeiter des Colonial Office zu der Randglosse veranlaßte: This telegram means ... that we are not to look too closely at what is about to go on at Samoa™. 6. Während das Auswärtige Amt die Zustände auf Samoa schon entsetzt als unbeschränkte Anarchie bezeichnete und nach der mißglückten Washingtoner Konferenz (1887) eine neue Initiative zu deren Fortsetzung in Berlin entfaltete1", geriet die Sache der Deutschen in Samoa in ein gefährliches Fahrwasser. a) Der deutschfeindliche Häuptling Malietoa war gegen den Protest der anderen Konsuln197 kaum von der Inselgruppe entfernt worden, als 188 Bismarck an Dt. GenKonsulat Sydney z. Weiterleitg an Dt. Konsulat Apia, 7.8.1887 [Geheim], BA-MA, RM 1/v. 2431 fol. 153. 1,9 „Wegen Beleidigung des Kaisers von Deutschland": Kommodore u. Geschwaderchef Heusner an AA, Apia, 24. 8.1887; AA an Grafen Hatzfeldt (Fn. 5), 19.9.1887, beide A A / A d M 578 u. R h . H . , Micr.oc. 62/1; Becker (Fn.158) an Bismarck, Apia, 11.9.1887 (Eing. in Berlin: 21.10.1887), Wb. Samoa I, 13-6. Adm. an Dt. GenKonsulat Sydney z. Weiterleitg an Kommodore Heusner in Samoa, 8.8.1887, BA-MA, RM 1/v. 2431 fol. 157. 1.1 AA an d. kaiserl. Geschäftsträger in London von Plessen, Berlin, 11.10.1887, unter Bez.nahme auf zwischenzeitl. Meldungen aus Apia, AA/AdM 578; Rh.H., Micr.oc. 62/ 1. 1.2 Wie Fn. 190, fol. 157 v. Vgl. auch Fn. 182. 1.3 R.L. Stevenson (Fn.6), 107 ff. (108). Vgl. auch Fn. 194. m Lord Salisbury (Fn. 124) an Acting Consul Symonds in Apia, London, 23. 8.1887, P R O / C O 537/136 fol. 366 r. 1,5 Ebd., fol. 364 r. 196 AA (Graf Bismarck [Fn. 66]) an von Plessen (Fn. 191), Berlin, 25.9.1887, AA/AdM 578; R h . H . , Micr.oc. 62/1, jew. S. 12-14 ds Erlasses. 1,7 Sir Robert Herbert (bei Fn. 2) vom C O sprach von „great cruelty to the King & impertinence to us & the United States" (Marg. auf C O Paper 20481 Adm. an C O , 11.10.1887, P R O / C O 225/26 fol. 352).
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ihm ein Nachfolger in dem ebenfalls gegen Tamasese kämpfenden Häuptling Mataafa erwuchs. Uber seine Untaten schickten die Konsuln Becker und sein Nachfolger Dr. Knappe schrille Berichte aus Apia nach Berlin" 8 . Wenn die Beschädigungen der deutschen Pflanzungen seitens der Anhänger Mataafas fortdauern, schrieb das Auswärtige Amt deshalb an die Botschaft in London, werden wir schließlich genöthigt sein, gegen den letzteren in gleicher Weise vorzugehen, wie dies im vorigen Jahr gegen Malietoa geschehen ist. Wir würden dann dem Häuptling Mataafa den Krieg erklären und Tamasese soweit militärisch unterstützen müssen, als es nothwendig ist, um denselben wieder in den Besitz der Regierung von Samoa zu setzen. Wir nehmen an, daß England gegen ein solches eventuelles Vorgehen von unserer Seite keinen Einspruch erheben wird, da dasselbe nur bezweckt, die ... gestörte Ruhe und Ordnung in Samoa wiederherzustellen1W. Kurz vor diesem Erlaß an den Botschafter in London hatte die britische Regierung ihrem eigenen Botschafter in Berlin geschrieben: We have left Prince Bismarck free hand in Samoa (& a pretty mess he has made of it)200. b) Am Abend des 5 . 1 . 1 8 8 9 traf nach Dienstschluß aus Apia im Auswärtigen Amt ein Telegramm ein, das wie eine Bombe wirken mußte und über die Niederlage der zu StrafSanktionen gegen Mataafa in den Busch abkommandierten deutschen Seeleute berichtete, die sich bereits Mitte Dezember 1888 im Hinterland des Munizipaldistrikts zugetragen hatte: 1 Offizier 15 Mann todt 2 Offiziere 37 Mann verwundet 3 Köpfe abgeschnitten201. Konsul Knappe verlangte zur Herstellung von Ruhe und Ordnung sofortige Annexion, die der Kanzler aber auch jetzt sofort ablehnte: Geht wegen Abmachung mit England-Amerika nicht..., aber die Rebellen angreifen ist nach den Ermordungen «[nd] Kopf abschneiden unser Recht, «[nd] daß wir es thun werden, in £.[ondon] «[nd] W a shington] mitzutheilen, wenn 5. [eine] Af.fajestät] genehmigt202. Seine Majestät genehmigte203, und das Auswärtige Amt telegraphierte an den "" Becker (Fn. 158) an Bismarck, [Apia] 30.11.1887; ders. an dem., 31.12.1887; Dr. Knappe (Fn. 160) an AA, Apia, 3.12.1888 (über „ein mörderisches Gefecht" zwischen Mataafa u. Tamasese ["90 Todte; 44 abgeschnittene Köpfe wurden von Tamasese erbeutet..."]), et passim, alle AA/AdM 578 (1887) bzw. 579 (1888) u. Rh.H., Micr.oc. 62/2. Vgl. auch d. im Wb. Samoa I, 13 ff. abgedr. Korrespondenz zw. Apia u. Berlin. m AA (Graf Bismarck [Fn. 66]) an Grafen Hatzfeldt (Fn. 5), Berlin, 12.12.1888, AA/ AdM 579 u. Rh.H., Micr.oc. 62/2. 200 Lord Salisbury (Fn. 124) an Sir Edward Malet (Fn. 124), 18.9.1888, Hatfield House MSS., 3 Μ, Class A 64/33 fol. 85 r. 201 Knappe (Fn.160) an AA, Apia, 28.12.1888 (Eing. Berlin: 5.1.1889, 18.52 Uhr), ZStA Potsdam, RKolA 2855 Bl. 25, abgedr. Wb. Samoa I, 58. 202 Marg. Bismarcks ebd. (Fn.201), Bl. 26 (l.Zit.), Bl. 25 (2.Zit.). 203 Telegr. Graf Bismarck (Fn.66) an AA, 6.1.1889, ZStA Potsdam, RKolA 2855 B1.45.
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Konsul in Apia: „Annektiren selbstverständlich ausgeschlossen wegen Abmachungen mit England und Amerika; Repressalien gegen Rebellen welche durch Überfall Kriegszustand provoziert, nothwendig" 204 . c) Als in Samoa zusätzlich bekannt wurde, daß der Sieg über die deutsche Truppe auf einen Amerikaner zurückging, der Mataafas Krieger befehligt hatte, brach der furor consularis teutonicus alle Schranken. Binnen weniger Tage hatte Konsul Knappe seine Kriegserklärung v. 19.1.1889 auch auf alle Fremden erstreckt und ganz Samoa unter deutsches Kriegsrecht gestellt205. An Knappes Bericht über die Ereignisse machte der Reichskanzler erzürnte Randbemerkungen: „Ab irato gehandelt", „Das alles sind Folgen des unberufenen militärischen Eingriffs!" Bei des Konsuls Einleitungssatz „In Folge der von den fremden Mächten eingenommenen feindseligen Haltung" ersetzte Bismarck die kursiv gesetzten Worte durch ein auf den Konsul gemünztes mir, und auf die zukunftgerichteten Vorschläge Dr. Knappes war er erst recht nicht gut zu sprechen: Knappe: „Ueber die künftige Gestaltung der politischen Verhältnisse machte ich [den Emissären Mataafas] folgende Vorschläge..." Bismarck am Rand: „Ohne England u[nd] Am.[erika]?" Knappe: „Deutschland übernimmt die Verwaltung des Landes und die politische Vertretung nach Außen." Bismarck: „Zu weitgehend." Knappe: „ . . . Ein besonderes [samoanisches] Oberhaupt giebt es n i c h t . . . " Bismarck: „Wozu dann noch Conferenzen in Berlin?" Knappe: An eine effektive Wiederherstellung der deutschfreundlichen Regierung sei ohnehin nicht zu denken, aber „wenn Deutschland die Verwaltung übernimmt, wird auch Tamasese bereit sein, gegen Gewährung einer Pension auf seine Stellung zu verzichten." Bismarck: ,,K.[nappe] scheint anzunehmen, daß das von uns allein abhängt! er muß die Verträge doch kennen?" Knappe: „Am liebsten würden es freilich sämmtliche Samoaner, auch die Aufständischen sehen, wenn Deutschland durch Annexion den traurigen Zuständen ein Ende machen wollte." Bismarck: „Das scheint doch eine große Verblendung." Knappe: „Ich habe aber geringe Hoffnung, daß die Aufständischen sich früher beugen werden" - Bismarck: „Obschon sie Annexion wünschen?" - „als sie eine
2M Telegr. AA (Graf Bismarck [Fn.66]) an Knappe (Fn. 160), Liebenberg i. d. Mark, 7.1.1889, ZStA Potsdam, RKolA 2855 Bl. 67. Die im Zitat kursiv gesetzten Worte sind von Bismarck persönl. hineinkorrigiert worden; die ursprünglich schwächere Fassung („nicht angängig") hat d. Kanzler durchgestrichen. Vgl. auch Telegr. Graf Bismarck (Fn.66) an Konsulat Auckland ζ. Weiterleitg nach Apia, Berlin, 8.1.1889, Wb. Samoa I, 59-60. 205
Kriegserklärung v. 19.1.1889: ZStA Potsdam, RKolA 2861 Bl. 61. Ausweitg ds Kriegsrechts: Knappe (Fn. 160) an Bismarck (AA), Apia, 31.3.1889, ZStA Potsdam, RKolA 2861 Bl. 45 ff. = AA/AdM. 580 u. R h . H . , Micr.oc. 62/2.
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größere Machtentfaltung Seitens Deutschlands in Samoa gesehen haben." Bismarck: „Morbus!" 206 7. Während der Kanzler mit den beiden anderen Mächten eine schnelle Verständigung und nach Geheimabsprachen mit England207 eine Teilung pazifischer Inseln (Hawaii an die Vereinigten Staaten, Tonga an Großbritannien, Samoa an Deutschland), hilfsweise aber für den Fall, daß die Vereinigten Staaten dazu nicht bereit waren208, eine Verständigung auf der bisherigen Grundlage der Gleichberechtigung aller drei Mächte auf Samoa suchte209, übermittelte er dem Generalkonsul in Apia eine gesalzene Zurechtweisung, die auch in Apia keine Zweifel mehr daran lassen konnte, daß der Kanzler des Deutschen Reichs in Samoa nichts ohne die Vertragsmächte zu ändern beabsichtigte und alle den Rechtsbruch insinuierenden Vorschläge auch weiterhin genauso scheitern mußten wie sie auf Samoa immer gescheitert waren. Es war nach Bismarcks eigenen Worten „unverantwortlich], wenn auf diese Waise [sie] durch Herausford[e]r[un]g des milit.[ärischen] Ehrgefühls 2 Nationen in Conflict kämen, die befreundet waren u.[nd] allen Grund hätten, es zu bleiben"210. Der Bericht des Konsuls Dr. Knappe v. 31.1.1889 zeige, so hieß es in Bismarcks Erlaß an Generalkonsul Dr. Stuebel in Apia, daß derselbe in seinem Auftreten den Vertretern der fremden Mächte wie auch den Eingeborenen gegenüber nicht mit der Ruhe und Kaltblütigkeit vorgegangen ist, welche für eine richtige Behandlung internationaler Fragen die unerläßliche Vorbedingung bilden ... Auch in der Korrespondenz mit seinen Kollegen scheint mir sein Ton ein schroffer und aufgeregter, welcher sich gelegentlich sogar zu Drohungen gegen die
206 Knappe (Fn. 160) an Bismarck, Apia, 31.1.1889, ZStA Potsdam, RKolA 2861 Bl. 45-60 m. Marg. ds Reichskanzlers; vgl. dazu Fn. 131. Vgl. auch Telegr. Bismarck an Dt. Konsulat Apia (üb. GenKons. Auckland), Berlin, 31.1.1889, AA/AdM. 580 (o.P.): ... Die von Ihnen gestellte Forderung betreffend Uebernahme der Verwaltung Samoas durch Deutschland, liegt außerhalb Ihrer Instruktionen und unserer Ziele. Nehmen Sie dieselben alsbald zurück ... kann ich Ihr Verhalten nicht gutheißen." Zu d. Folgen für Knappe vgl. Fn. 160. 207 Geheimes Memo, ds Grafen Bismarck (Fn.66) an Bismarck betr. d. mit Lord Salisbury (Fn. 124) abgesprochene gemeins. dt.-engl. Vorgehen auf d. Berliner Samoakonferenz 1889, London, 22.3.1889, ZStA Potsdam, RKolA [Samoa, Geheime Beiakten], Bl. 3ff.; Bismarck an seinen Sohn (Fn.66) in London, Telegr. v. 25.3.1889: „Seine Majestät ist mit Inhalt einverstanden." (ebd.) Vgl. auch Lord Salisbury (Fn. 124) an Sir Edward Malet (Fn. 124), 3.4.1889, Hatfield House MSS., 3M., Class A 64/47 fols. 117-119. 201 Sie waren nicht bereit: das erklärte der amerikan. Delegierte]. A. Kasson vor Beginn d. Konf. so unmißverstdl., daß auf ihr Teilungspläne gar nicht erst erörtert wurden; Graf Hatzfeldt (Fn. 5) an Bismarck, London, 24.4.1889, ZStA Potsdam, RKolA 3068 Bl. 20-26 (Bismarck Bl. 20 v. dazu am Rande: „War zu vermuthen."). Vgl. Fn. 219. 2OT Graf Hatzfeldt (Fn.5) an Bismarck, London, 24.4.1889, ZStA Potsdam, RKolA 3068 Bl. 21 (dazu der Kanzler am Rande: „Gut"). 210 Marg. ds. Reichskanzlers auf Brief Chef d. Adm. an Staatssekretär des AA Grafen Bismarck (Fn. 66), Berlin, 4.3.1889 [Geheim], ZStA Potsdam, RKolA 2861 Bl. 41 r.
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anderen Konsuln versteigt... Euer Hochwohlgeboren ist bekannt, daß die von Konsul Knappe bei den Verhandlungen mit Mataafa gemachten Forderungen, daß Deutschland die Verwaltung der Samoa-Inseln einschließlich der politischen Vertretung nach Außen, übernehmen solle, ungerechtfertigt waren, und daß deren sofortige Zurückziehung von hier telegraphisch angeordnet ist. Die ferneren Ausführungen in dem vorliegenden Bericht, daß eine Annektirung der Inselgruppe durch Deutschland sämmtlichen Samoanem am liebsten sein würde, daß aber trotzdem geringe Hoffnung auf Nachgiebigkeit der Aufständischen vorhanden sei, erscheinen theils widerspruchsvoll, theils ohne praktische Bedeutung, da ohne Zustimmung Englands und der Vereinigten Staaten eine Veränderung der politischen Stellung Samoas vertragsmäßig nicht angestrebt werden kann. Es ist mir unverständlich, wie Herr Knappe noch jetzt auf den Annexionsgedanken wieder zurückkommen konnte, nachdem er durch seine Mitarbeit im Auswärtigen Amt, durch seine Instruktionen und durch die jüngste Korrespondenz wissen mußte, daß alle Annexionsgelüste bezüglich Samoas mit der Politik, die ich nach kaiserlichen Intentionen leite, in direktem Widerspruch stehen..."' Als um dieselbe Zeit die D H P G von Hamburg aus dem Kanzler vortrug, „daß die Herstellung dauernder, geordneter Verhältnisse in Samoa nur dann zu erreichen sei, wenn die Mitwirkung bei der Landesverwaltung in die Hände einer Macht gelegt würde . . . und selbstredend . . . diese Macht nur Deutschland sein" könne, „wenn das Gedeihen der allseitig als überwiegend anerkannten deutschen Interessen in Samoa gesichert werden soll", notierte Bismarck an den Rand nur noch: Das alte Lied.Z212 8. Nach welchen Intentionen er die kaiserliche Politik auch weiterhin zu leiten gedachte, notierte der Reichskanzler am Ende geheimer Instruktionen Lord Salisburys an den britischen Botschafter in Berlin, die der Botschafter Graf von Hatzfeldt in London vom britischen Premier in Abschrift zur Weiterleitung an Bismarck erhalten hatte: Wir sollten uns [mit dem Blick auf die in Berlin bevorstehende Samoakonferenz] weniger darum bekümmern, wie die Samoaner sich regieren oder streiten, sondern nur den Schutz der Weißen und ihres Handels und Besitzes ... gemeinsam und solidarisch als Conferenz-Zweck aufstellen2". In diesem Sinne reagierte der Kanzler wenig später auch auf einen neuerlichen Bericht seines unermüdlichen Konsuls Knappe: Die Angabe, daß die Anhänger Tamaseses „in treuer Ergebenheit der Befehle der deutschen Regierung harren" beweist, daß Dr. Knappe sich bis zuletzt unser
2,1 Erl. Bismarcks an GenKon. Stuebel (Fn. 122) in Apia, Berlin, 9.3.1889, AA/AdM. 580; Rh.H., Micr.oc. 62/2. 212 DHPG an Bismarck, Hamburg, 23.3.1889, ZStA Potsdam, RKolA 2477 Bl. 36 ff. (38 v., m. Marg. ds Kanzlers; vgl. dazu Fn. 131). 213 Marg. Bismarcks auf Brief Graf Hatzfeldt (Fn. 66) an Bismarck, London, 13.4.1889 [Geheim], m. Anl. Lord Salisbury (Fn. 124) an Sir Edward Malet (Fn. 124), London, 11.4.1889, ZStA Potsdam, RKolA 3068 Bl. 14-19 (zur gesperrten Kursivpassage s. Fn. 167).
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Verhältniß zu den Samoanern nicht klar gemacht hat. Wir haben denselben nichts zu befehlen, soweit es sich um Ordnung ihrer eigenen Angelegenheiten handelt, und kein Bedürfniß, die Ordnung der letzteren zu übernehmen. Unsere Aufgabe beschränkt sich darauf, die Reichsangehörigen zu schützen und denselben eine gedeihliche Entwicklung ihrer wirthschaftlichen Interessen zu ermöglichen.. .2M 9. Bismarcks Wille zur Einvernehmlichkeit in Samoa stand wohl auch für seinen britischen Kollegen Lord Salisbury außer Zweifel, der in bezug auf die wenige Tage später in Berlin beginnende Samoakonferenz v. 1889 an den hiesigen britischen Botschafter Sir Edward Malet schrieb und das tatsächliche Konferenzergebnis auch treffend vorwegnahm: I gather your deliberations will not be long or difficult, & will result in a victory for the Americans. But as a settlement of the question this ... will he quite valueless. The fundamental difference between their view, & that which we & the Germans have supported is that we think some one European Power must lead in the Gov. [ernmen]i of the islands, while the Americans think that all 3 Gov.[ernmen]w must he on a precisely equal footing. I understand that on this point the Germans mean to give in. We cannot fight it alone: but the Gcm[ernmen]i by 3 equal consuls will not work smoothly for 3 years together"*.
Der britische Botschafter berichtete am Vorabend der Konferenz aus Berlin, daß der Reichskanzler in a very yielding mood sei, ready to accept almost anything relying on time to show its impracticability2". Die Akten der Berliner Samoakonferenz von 18 89217 lesen sich in der Tat so, als ob es die Erfahrungen mit dem Chaos in Samoa nie gegeben hätte. Deutschland war durch das einseitige Vorgehen seines konsularischen Vertreters in Apia politisch viel zu verwundbar, als daß es mit weitgehenden Forderungen hätte auftreten können. Es verlangte nur, daß von allen Anwärtern auf die wiederhergestellte samoanische Königswürde jedenfalls Mataafa ausgeschlossen bleiben mußte, der deutsches Blut auf Samoa vergossen hatte218. Den Rest bestimmten die damals noch optimi-
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Erl. Bismarcks an GenKon. Stuebel (Fn. 122) in Apia, Berlin, 16.4.1889, AA/AdM. 580 (o.P.); Rh. H., Micr.oc. 62/2. 215 Premier Lord Salisbury an Sir Edward Malet (Fn. 124) in Berlin, London, 24.4.1889, Hatfield House MSS., 3 Μ., Class A 64/49 fols. 121 ff. (121). 216 Sir Edward Malet (Fn. 124) an Lord Salisbury, Berlin, 27.4.1889, Hatfield House MSS., 3M, Class A 62/34 fols. 85 ff. (85). 2 " Fn. 165. Die Prot. d. Schlußsitzung m. Samoaakte auch in ZStA Potsdam, RKolA 2477 Bl. 44 ff. 218 Sir J. A. Crowe (brit. Deleg. auf d. Samoakonf. 1889) an Lord Salisbury, Kaiserhof, 15.6.1889, Hatfield House MSS., 3M, Class A 60/41 fols. 173ff. (174v.); dazu d. Reichskanzler als Begründung: „Strafe, Satisfaction, Entschädigung." (Marg. Bismarcks auf Brief Graf Hatzfeldt [Fn.66] an Bismarck, London, 13.4.1889 [Geheim], ZStA Potsdam, RKolA 3068 Bl. 14-19 (Marg. 14 oben).
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stischen A m e r i k a n e r m i t ihrer N e i g u n g z u r F o r t s e t z u n g des T r i d o m i n i u m s auf S a m o a 2 " , das indes n o c h u m die P o s i t i o n e n eines P r ä s i d e n t e n des M u n i z i p a l r a t s v o n A p i a u n d eines O b e r r i c h t e r s erweitert w u r d e , a u c h in b e z u g auf die R e c h t s s t e l l u n g d e r d e u t s c h e n R e i c h s a n g e h ö r i g e n in S a m o a d e n N e u v e r e i n b a r u n g e n a n g e p a ß t w e r d e n mußte 2 2 0 , a b e r insges a m t auf K o m p e t e n z r e g e l u n g e n b e r u h t e , die sich in d e r F o l g e z e i t ü b e r h a u p t n i c h t bewährten 2 2 1 u n d den W e g bereiten halfen, der das n a c h b i s marckische Weltmachtstreben der Reichsregierung insbesondere 1 8 9 4 a u c h in S a m o a an sein Ziel brachte 2 2 2 . U n t e r Bismarck
nach
ging es indes
n i c h t d a r u m , S a m o a d e u t s c h z u sehen. In seinem letzten g r u n d s ä t z l i c h e n E r l a ß an G e n e r a l k o n s u l Stuebel
in A p i a n a c h d e r
Samoakonferenz
e r m a h n t e d e r K a n z l e r die d o r t i g e n d e u t s c h e n B e a m t e n , sich stets gegenw ä r t i g z u halten, daß wir mit der englischen Regierung in freundschaftlichen und intimen Beziehungen stehen und daß es der Wille Seiner Majestät des Kaisers [inzwischen Wilhelms II.] ist, dieselben zu pflegen und aufrecht zu erhalten. Auch mit den Vereinigten Staaten von Amerika ist unser direkter wirthschaftlicher Verkehr zu ausgedehnt und zu wichtig, um ihn wegen der Unbequemlichkeiten aufs Spiel zu setzen, die gelegentlich in Samoa vorkommen, und die nicht durch die Regierungen von England und Amerika, sondern durch die Thätigkeit einzelner Geschäftsleute und Abenteurer entstehen, welche sich der Kontrolle ihrer Regierungen in noch höherem Maße entzieht, als die Thätigkeit der dortigen Vertretung des deutschen Reiches der meinigen. Der Ton Ihrer Berichterstattung macht mir den Eindruck, als ob Sie ungeachtet aller Erfahrungen der letzten beiden Jahre sich noch immer nicht hinreichend vergegenwärtigen, daß Sie auf den Samoa-Inseln eine Mission des Friedens und der Pflege wirthschaftlicher Beziehungen haben, aber keineswegs eine politische. Die Fragen, die Sie in Ihren Berichten berühren..., die Schilderung der alltäglichen und in jedem uncivilisierten Lande vorkommenden Erlebnisse von Räubereien und Diebstählen der Eingeborenen..., dies
219 Wenige Jihre später, in nachbismarckischer Zeit, suchten die Vereinigten Staaten anges. d. stand. Verschlimmerung d. Unruhen u. Dreimächtestreitigkeiten vor Ort aus Samoa herauszukommen, vgl. United States' 53d Congress, 2d Session, Ex.[ecutive] Doc.[ument] No. 93 u. No. 132 (Messages from the President of the United States, May 9, 1894 u. July 9, 1894, to the Senate), abgedr. BFSP 1893-4 Bd. L X X X V I (Lo. 1899) 1209-1246 u. Rh. H., Micr.oc. 62/4; allg. dazu G.H. Ryden, The foreign Policy of the United States in Relation to Samoa, NH 1933; A. Vagts, Dtld. u. d. Vereinigten Staaten i. d. Weltpolitik, 2 Bde., Lo. 1935. 220 Gesetz betr. d. Konsulargerichtsbarkeit in Samoa u. d. Uebernahme einer Bürgschaft seitens ds Reichs für die durch Einrichtung einer anderweitigen Rechtspflege erwachsenden antheilmäßigen Kosten v. 6. 7.1890 (RGBl. 139); VO betr. die Konsulargerichtsbarkeit in Samoa ν. 29.10.1890 (RGBl. 189). 221 Dazu R.P. Gilson (Fn. 16), 396ff.; P.M. Kennedy, „Germany and the Samoan Tridominium 1889-98: Α Study in Frustrated Imperialism", in: John A.Moses u. P.M. Kennedy (Hgg.), Germany in the Pacific (Fn. 8), 89-114. 222 G.A. Craig, Dt. Gesch. 1866-1945, Mü. 1983, 205ff.; P.M. Kennedy, Antagonism (Fn.75), 205ff., 223ff-, 410ff.; P.Winzen, Bülows Weltmachtkonzept, Boppard 1977; ders., „Prince Bülow's Weltmachtpolitik", in: The Australian Jnl. of Politics and History Bd. X X I I (1976) 227-242.
Kolonialpolitik zwischen Irritation und Illusion
217
Alles macht mir den Eindruck, daß Sie in Ihrer Berichterstattung nach Form und Inhalt mehr diejenigen Momente betonen, welche Verstimmungen und Gereiztheiten zwischen den Schutzmächten fördern können, als daß Sie die Versöhnlichkeit und das gute Einvernehmen derselben unter einander zu erhalten bestrebt sind. Sie haben lange genug im Centrum unserer auswärtigen Geschäfte gearbeitet, um sich selbst sagen zu können, daß unsere kolonialen und überseeischen Bestrebungen nicht den Ausgangspunkt für Entfremdungen, Verstimmungen und kritische Fragen zwischen uns und solchen Mächten bilden dürfen, welche, wie England und Nordamerika, nach den geschichtlichen Traditionen und nach den Sympathien ihrer Bevölkerung mehr als andere zu unseren Freunden gehört haben. Die Thatsache, daß die Reizbarkeit... [des abberufenen Konsuls Dr. Knappe] und sein Mangel an Augenmaß für die Folgen seiner Handlungen und Requisitionen uns in die Lage gebracht haben, eines der widersinnigsten und unnatürlichsten Zerwürfnisse, nämlich mit den Vereinigten Staaten, nur durch ein hohes Maaß diesseitiger Zurückhaltung und Selbstbeherrschung zu beseitigen, sollte Ihnen, wie ich wenigstens angenommen hatte, den Blick für das Finden des richtigen Maßes zur Erfüllung Ihrer dortigen Aufgabe geschärft haben. Ich stelle Ihrem eigenen Unheil anheim, ob ich mich hierin getäuscht habe, und sehe Ihrer Äußerung darüber entgegen, ob Sie bereit sind, Ihre dortige Mission in dem von mir angedeuteten versöhnlichen und vorwiegend wirthschaftlichen Sinne aufzufassen, oder ob Sie dies mit Ihrem Selbstgefühl gegenüber dem Verhalten Ihrer dortigen Kollegen und der Eingeborenen unvereinbar finden. Von Bismarckm. E i n i g e M o n a t e v o r seinem R ü c k t r i t t schnitt d e r R e i c h s k a n z l e r das T h e m a des „ p o l i t i s c h e n " Interesses an S a m o a n o c h m a l s in einer A n w e i sung an das A u s w ä r t i g e A m t a n : w e n n v o n s o l c h e n Interessen die R e d e sei, seien damit „handelspolitische" Interessen gemeint, also
„wirth-
schaftliche Interessen, die erst d u r c h B e r ü h r u n g mit anderen M ä c h t e n i n t e r n a t i o n a l p o l i t i s c h e " w e r d e n ; „politische Interessen im g e w ö h n l i c h e n Sinne des W o r t e s " verfolge das D e u t s c h e R e i c h auf S a m o a nicht 2 2 4 . VII. A l s Bismarck
entlassen w a r ( 2 0 . 3 . 1 8 9 0 ) , b e g a n n sich das T e m p e r a -
m e n t , a u c h das p e r s ö n l i c h e R e g i m e n t Wilhelms
II. deutlicher zu zeigen.
B e r i c h t e n seines L o n d o n e r B o t s c h a f t e r s ü b e r ein G e s p r ä c h m i t U n t e r staatssekretär i m F o r e i g n O f f i c e Sir Thomas burys
Sanderson,
d e r Lord
Salis-
a b w a r t e n d e H a l t u n g z u den V o r g ä n g e n in S a m o a m i t d e m gerin-
gen Interesse seines P r e m i e r s an S a m o a zu erklären v e r s u c h t hatte, fügte d e r K a i s e r a m R a n d e h i n z u : „ D a er [Lord
Salisbury]
d e r Stärkere ist,
s e h r b e g r e i f l i c h " , er b e m e r k t e aber a m Schluß v o n Graf B e r i c h t a u c h : Sandersons
Antworten
sind
verlogen,
Hatzfeldts
schwankend
und
223 Erl. ds Reichskanzlers Fürsten von Bismarck an GenKon. Dr. Stuebel in Apia, Berlin, 23.9.1889, AA/AdM. 580 (o.P.); Rh. H., Micr.oc. 62/2 (gesperrte Kursivteile sind im Orig. vom Kanzler unterstrichen). Zu Konsul Knappe s. Fn. 160. 224 Geh. Leg.-Rat von Brauer an AA, Friedrichsruh, 22.11.1889, ZStA Potsdam, RKolA 3068 Bl. 22-23.
218
Dieter Giesen
unbefriedigend,In der diplomatischen Korrespondenz der großen Politik kam bald von Berlin aus ein - spätestens seit der langen Kolonialverfügung des Auswärtigen Amts v. 10.9.1893 2 2 ' - gerade in Kolonialfragen gegen England drängender offizieller Ton auf227: die „Kolonialschwärmer" und „Oberbonzen des Kolonialwesens" begannen sich zu rühren, wie Friedrich von Holstein es dem besorgten Grafen Hatzfeldt beschrieb228. Reichskanzler Graf von Caprivi, der davon ausging, daß wir ernstere Verwicklungen mit England vermeiden müssen, vollends um Samoas willen, das uns nichts einbringt und weit außerhalb unserer Machtsphäre liegt11'', konnte auch in Samoa noch zu Vorsicht und Zurückhaltung mahnen230 und zur Beachtung der internationalen Verträge über Samoa anhalten231, aber es bedurfte nicht erst der von Bülowschen Weltmachtpolitik232, mit Bezugnahme auf Samoa bereits 1894 festzustellen, daß das Ziel, welches wir dort erstreben, die Erlangung einer deutschen Verwaltung ist2". 225 Marg. Wilhelms II. auf Brief Graf Hatzfeldt (Fn.5) an AA, London, 31.3.1890, ZStA Potsdam, RKolA 3047 Bl. 73-74 (73 v. u. 74 r.). 226 D. Unterstaatssekretär im AA Frhr. von Rotenhan an Grafen Hatzfeldt (Fn. 5), Berlin, 10.9.1893, AA/England 78 Bd. 8 (o. P.); GP VIII/2018. 227 D. Staatssekretär des AA Frhr. von Marschall an Grafen Hatzfeldt (Fn. 5), Berlin, 17.4.1894, GP VIII/2023ff. Über d. engl. Reaktion darauf vgl. Graf Hatzfeldt (Fn.5) an F. von Holstein (bei Fn.86), London, 24.4.1894, Hatzfeldt-Nachlaß (Fn. 139), Nr. 602. Vgl. auch G.A. Craig (Fn.222), 218 ff. 228 D. stv. Staatssekretär im AA von Holstein an Grafen Hatzfeldt (Fn.5), Berlin, 27.9.1893, Hatzfeldt-Nachlaß (Fn. 139), Nr. 576 (S.939); vgl. auch Graf Hatzfeldt an Reichskanzler Graf von Caprivi, London, 19.9.1893, AA/England 78 Bd. 8 (o.P.); GP VIII/2019. 229 Caprivi (Fn.228) an Grafen Hatzfeldt (Fn.5), Berlin, 28.5.1894, GP VIII/2035 (S. 431). 250 Aufzeichnungen Caprivis (Fn. 228) v. 1.5.1894 für d. Immediatvortrag b. Kaiser betr. „Unsere Lage gegenüber Samoa", ZStA Potsdam, RKolA 2868 Bl. 82 ff. 231 Caprivi (Fn.228) an Grafen Hatzfeldt (Fn.5), Berlin, 28.5.1894, GP VIII/2035 (S.432); zur Caprivi-Ara vgl. J.A. Nichols, Germany after Bismarck. The Caprivi Era 1890-4, Ca. (Mass.) 1958; G.A. Craig (Fn.222), 228ff.; M.Stürmer (Fn.4), 267ff. 232 Vgl. dazu F. Meinecke, Gesch. ds dt.-engl. Bündnisproblems, 1890-1901, Mü./Bln 1927; J. C. Röhl, Germany without Bismarck: The Crisis of Government in the Second Reich 1890-1900, Lo. 1967 (dt. Übers.: Dtld. ohne Bismarck 1890-1900, Tüb. 1969); P. Winzen, Die Englandpolitik Friedrich von Holsteins 1895-1901, phil. Diss. Köln 1975; ders., „Prince Bülow's Weltmachtpolitik" (Fn.222), 227ff.; wichtig auch: Fritz Fischer, Krieg der Illusionen, Düsseid. 1969 (engl. Übers.: War of Illusions. German Policies from 1911 to 1914, Lo. 1975). 255 Marschall (Fn.227) an Grafen Hatzfeldt, Berlin, 18.4.1894, AA/AdM. 585 (o.P., Erl. S. 5); Rh. H „ Micr. oc. 62/4; GP VIII/2024 (S. 417). Jetzt war es Zeit, „die Hand auf Samoa zu legen", versicherte F. von Holstein (Fn. 228 u. bei Fn. 86) dem Grafen Hatzfeldt (Fn.5), [Berlin] 28.5.1894, Hatzfeldt-Nachlaß (Fn. 139), Nr. 605 (S.986): die Kolonialtroika im AA (Staatssekretär von Marschall, Kol.-Direktor Dr. Paul Kayser und F. von Holstein) war entschlossener denn je. G.A. Craig (Fn.222), 221 scheint auch Caprivi
Kolonialpolitik zwischen Irritation und Illusion
219
1. M i t d i e s e m Ziel ab 1894 m o c h t e n auch die Militärischen Erwägungen über eine Besetzung der Samoa-Inseln h a r m o n i e r e n , die seit dieser Zeit n i c h t aber unter Bismarck - i m R e i c h s m a r i n e a m t z u Papier gebracht u n d diskutiert wurden 2 3 4 , auch w e n n der Staatssekretär i m R e i c h s m a r i n e a m t von Tirpitz die größte Geheimhaltung dieser Pläne anempfahl 2 3 5 . D e r G r u n d dafür lag für die Vertreter des N e u e n Kurses auf der H a n d . Wilhelm II. hat ihn 1896 e i n d r u c k s v o l l formuliert: Es zeigt sich ... zur Evidenz, wie thöricht es war, vor zehn Jahren Kolonialpolitik anzufangen, ohne eine Flotte zu haben; und diese Politik zu entwickeln, ohne im Aushau der Flotte gleichen Schritt zu halten. Jetzt stehen wir da mit einem großen Kolonialbesitz behaftet, der für das bisher für England unantastbare Deutschland eine Achillesferse geworden ist, denn er bringt uns fortwährend mit letzterem in kleinere und größere Verwickelungen, die über kurz oder lang unsere völlige Ohnmacht zu Wasser kundthun werden. Unser Handel macht dem englischen auf Tod und Leben Konkurrenz, und unsere Presse rühmt sich dessen alle Tage, aber die große Handelsflotte, welche unter unserer Flagge alle Meere der Welt durchfurcht, ist völlig schutzlos den 130 englischen Kreuzern preisgegeben, denen wir mit Stolz 4 entgegensetzen können. Wilhelm I. R.2» Wir kriegen gutwillig nichts was wir nicht mit bewehrter Faust uns selbst nehmen! notierte der Kaiser a m R a n d e eines langen n e u e i n g e g a n g e n e n Berichts aus London 2 3 7 : Caeterum censeo naves esse aedificandas, lautete die Z u s a m m e n f a s s u n g eines A l l e r h ö c h s t e n S c h l u ß p l ä d o y e r s z u g u n s t e n eines raschen F l o t t e n b a u s ein paar W o c h e n später 238 . 2. A l s sich die Lage auf S a m o a E n d e 1 8 9 8 / A n f a n g 1899 n o c h m a l s b e d e n k l i c h zuspitzte 2 3 ' u n d der Staatssekretär des A u s w ä r t i g e n Bernhard von Bülow aus K l e i n - F l o t t b e c k ans A u s w ä r t i g e A m t telegraphierte, daß dieser „Vorfall auf S a m o a . . . ein neuer B e w e i s dafür [ist], daß sich ü b e r s e e i s c h e P o l i t i k nur m i t einer ausreichenden F l o t t e n m a c h t f ü h r e n
dazurechnen zu wollen; die Dokumente erhärten diese Einschätzung jedoch nicht, vgl. bei Fn. 161, 229-231. 234 BA-MA, RM 5/v. 5909 Oberkommando d. Marine, Ganz Geheim, betr. Geheime R[eichs]-Angelegenheit Samoa (Mai 1894 - Okt. 1899), Bd. 1; RM 39/v. 1-2, Hauptakten d. Australischen Station, Geheim I, jew. m. zahlr. Dok. u. Plänen zur Besetzung Samoas aus den Jahren 1894-95; ZStA Potsdam, RKolA 2868 Bl. 87 ff. 235 BA-MA, RM 5/v. 5909 (Fn.234), fol.3. 234 Wilhelm II. an den Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe, zZ. in Schillingsfürst, Neues Palais, 25.10.1896, AA/Dtld. 167 Bd. 1 (o. P., im Umschlag); GP XIII/3396 (S.4). 237 Schlußbem. Wilhelms II. auf Brief Graf Hatzfeldt (Fn.5) an Hohenlohe (Fn.236), London, 12.5.1897, AA/England 78 Bd. 10 (o.P., Brief S.27); GP XIII/3407 (S.27). 231 Schlußbem. (Auszug) Wilhelms II. auf Brief ds preuß. Gesandten in München Grafen Monts an d. preuß. Minister der Auswärtigen Angel. Fürsten von Hohenlohe (Fn.236), München, 31.7.1897, AA/England 78 [Secretissima], Bd.3 (o.P.); GP XIII/ 3413 (S. 34). 239 Vgl. die Dok. in AA/AdM. 591; ausführl. dazu P.M. Kennedy, The Partition of Samoa 1898-99 (Fn. 154).
220
Dieter Giesen
läßt", notierte der Kaiser zustimmend: was ich seit 10 Jahren den Ochsen von Reichstagsabgeordneten alle Tage gepredigt habe2*0. Nach zwanzig Jahren, wenn diese Flotte fertig sei, meinte Wilhelm II., werde er eine andere Sprache führen241. 3. Am Schluß der Berliner Samoakonferenz (1889) hatte Sir Joseph A. Crowe, Mitglied der britischen Delegation, seinem Premier eine aus der Retrospektive bemerkenswerte Beobachtung vom Hofe Wilhelms II. mitgeteilt: There has not been a time since 1870-1 in which the soldiers and sailors who surround & flatter //.[is] /.[mperial] Af.[ajesty] have had more influence than now. The Emperor has more than once ... expressed his impatience at the studied peaceful attitude of the Chancellor [ = Bismarck] . . . But the Chancellor, I believe, sees war looming in the future and his yielding attitude in the Pacific is no doubt due to the anxiety which the state of affairs in Europe causes.. .242
Heute wissen wir, daß diese Sicht der politischen Klimalage in Europa nach Bismarcks Abgang immer mehr an Substanz gewann243. Auch wenn es bis zur Jahrhundertwende noch keine beherrschende europäische Konfliktsituation gegeben haben mag, in deren Brennpunkt sich Deutschland befand, zog in Mitteleuropa, wie Michael Stürmer es jüngst formuliert hat, längst der Ernstfall herauf, erschienen die Kolonien dem düsteren Realismus Bismarcks nur noch als Ablenkung und Belastung der nach 1884 sich verschlechternden Sicherheitslage des Reichs244. In den entscheidenden Verhandlungswochen, die der deutsch-britischamerikanischen Einigung über die Überlassung der samoanischen Hauptinsel Upolu (mit Apia) und Savai'i an Deutschland vorausgingen (Sept./Okt. 1899)245, klagte Kolonialminister Joseph Chamberlain mehr240 D. Staatssekretär des AA B. von Bülow an AA („Für des Kaisers und Königs Majestät"), Klein-Flottbeck, 1.4.1899, AA/Südsee 5 Bd. 2 (o.P., Marg. Telegr. S.5); GP XIV. 2/4053 (S. 592). 241 Bülow (Fn. 240) an Grafen Hatzfeldt (Fn.5), 3 0 . 1 0 . 1 8 9 9 [Vertraulich], über ein Telegr. ds Kaisers an das AA vom Vortag, AA/AdM. 596 Bl. 144; Rh. H., Micr. oc. 62/7. 242 Sir J.A. Crowe (Fn.218) an Lord Salisbury (Fn. 124), Kaiserhof, 15.6.1889, Hatfield House MSS., 3 M , Class A 60/41 fols. 174v.-175r. 243 G.A. Craig (Fn.222), 205ff., 268ff.; P.M. Kennedy, Antagonism (Fn.75), 155ff., 289ff., 439ff.; M.Stürmer (Fn.4), 275ff.; Fritz Fischer (Fn.232), 44ff., 69ff. (engl. Ausg.). Vgl. auch Fn.232. 244 M. Stürmer (Fn. 4), 206-7, 234. 245 Dok. in AA/AdM. 594-600; P. M. Kennedy, Samoan Tangle (Fn. 23), 189 ff.; Samoa betreffende Verträge: Convention between Great Britain, Germany, and the United States, 2 . 1 2 . 1 8 9 9 , abgedr. Treaties and other International Agreements of the United States of America 1776-1949, ed. Ch.I. Bevans, Bd. 1 (Washington 1968) 2 7 6 - 7 ; Convention and Declaration between Germany and Great Britain for the Settlement of the Samoan . . . Question, 14.11.1899, CTS 188, 148-153; BFSP 1899 Bd. X C I , 70ff.; Das Staatsarchiv LXIV, 1 ff. Vgl. Fn. 247.
Kolonialpolitik zwischen Irritation und Illusion
221
f a c h ü b e r den aus d e n d i p l o m a t i s c h e n A k t e n der Zeit seit 1 8 9 4 bestätigten
drängenden,
ja
drohenden
G e s p r ä c h s p a r t n e r . I expected juncture
...
But I have
& I cannot
doubt
much greater first
half
themselves the powers powers 4.
to consider
20th
ousted from
seiner
Century
is past
any possessions -
My conviction Germany they
will
present
Government question
is of
is that before
& France
they may have
whether
deutschen
at the
policy of the
time the Transvaal
than any other.
of Australasia
I do not
the general
that at the present
importance
of the
Verhandlungsstil
that they would press Samoa
then
will
in the Pacific be
the find by
Colonial
know1Ab.
F ü r D e u t s c h l a n d ist dieses W o r t bald eingetroffen. Als 1 9 1 4 der K r i e g
ausbrach,
ging für die a m
1.3.1900
feierlich d e m D e u t s c h e n
unterstellte K o l o n i e D e u t s c h - S a m o a 2 4 7 eine i m Vergleich z u deutschen
Kolonialgebieten 2 4 8
auch
in
britischen
und
Reich
anderen
australischen
A u g e n v o r O r t 2 4 9 i m g a n z e n r e c h t gute Z e i t d e u t s c h e r V e r w a l t u n g z u Ende 2 5 0 , die bisher n u r in einzelnen A s p e k t e n untersucht 2 5 1 , j e d o c h i m
M J. Chamberlain (Fn. 156) an Lord Salisbury (Fn. 124), Birmingham, 18.9.1899, Hatfield House MSS., 3 Μ, Class Ε (No. 166); gesperrter Kursivteil im Or. unterstrichen. 247 Ges. betr. d. Freundschaftsverträge mit . . . Samoa ν. 15.2.1900 (RGBl. 37); VO z. Ausf. ds Ges. betr. d. Freundschaftsverträge . . . v. 17.2.1900 (RGBl. 39); Allerhöchster Erl. betr. d. Erklärung des Schutzes über die Samoainseln westl. ds 171. Längengrades v. 17.2.1900 (RGBl. 135); VO betr. die Rechtsverhältnisse in Samoa ν. 17.2.1900 (RGBl. 136). Flaggenhissung in Mulinu'u auf Upolu (Samoa) am 1.3.1900 durch Gouverneur Dr. Wilhelm Solf, vgl. D. Staatssekretär des AA Frhr. von Richthofen an d. kaiserl. Gesandten in London Grafen von Metternich, Berlin, 19.3.1900, Rh. H., Micr. oc. 62/8. 248 Vgl. dazu Wm. R. Louis, Britain and Germany's Lost Colonies 1914-19, Ox. 1967, bes. S. 16, 35, einerseits, K. Mackenzie, „Some British Reactions to German Colonial Methods 1885-1907", in: The Historical Jnl. Bd. XVII (1974) 165-175, m. d. gebot. Korrektur ds letzteren durch P. Μ. Kennedy, Antagonism (Fn. 75), 501 Anm. 67. Vgl. auch das brit. Blaubuch v. 1916: European War. Great Britain Colonial Office. Papers Relating to German Atrocities, and Breaches of the Rules of War, in Africa. Presented to both Houses of Parliament by Command of His Majesty (Cmnd. 8306), Lo. 1916 (Expl. in den State Archives Windhoek AP 2/1/1). Vgl. Fn.268. 249 Vgl. Fn.250, 268. 250 For the first time in history Samoa saw and felt the benefit of a good and united government... And equality of justice was impartially extended to all foreigners... The story of the Colony became one of development, the surest sign, in times of peace, of stable governance. (Robert M. Watson [früherer Richter auf Samoa], History of Samoa, Wellington 1918, 124-6; vgl. auch Fn.268). - Insbes. hat Gouverneur Dr. Solf (1900-11) dabei Respekt u. Lob gefunden, vgl. etwa John A. Moses, „The Solf Regime in Western Samoa", in: New Zealand Jnl. of Hist. Bd.6 No. 1 (1972) 42-56; Peter J. Hempenstall, Pacific Islanders under German Rule. A study in the meaning of colonial resistance, Canberra 1978, 51 ff., der auch Solfs Nachfolger, Dr. Schultz-Ewerth (1912-14), lobend erwähnt; Solf wurde 1911 Staatssekretär des RKolA, er war von 1920-28 Botschafter in Tokio, wo er ebf. höchstes Ansehen genoß (Klaus Mehnert, Ein Deutscher in d. Welt. Erinnerungen 1906-80, Stgt 1983, 184-5); um ihn sammelte sich bis zu seinem Tode (1936) ein Kreis ds
222
Dieter Giesen
B e r e i c h des Spannungsverhältnisses z w i s c h e n R e c h t u n d sozialer W i r k lichkeit n o c h keine umfassende W ü r d i g u n g gefunden hat, o b w o h l die h e u t e n o c h v o r h a n d e n e n A k t e n v o n D e u t s c h - S a m o a u n t e r den klimatischen
Bedingungen
G e f a h r sind u n d -
ihrer A u f b e w a h r u n g
teilweise s c h o n in
e t w a i m G e g e n s a t z z u den i m L a n d
größter
gebliebenen
Akten von Deutsch-Südwest252 oder auch Deutsch-Ostafrika253 -
kein
g r o ß e s o r d n e n d e s Interesse gefunden haben 2 5 4 . D i e Inseln gingen a m 3 0 . 8 . 1 9 1 4 als erste d e u t s c h e K o l o n i e kampflos 2 5 5 an N e u s e e l a n d ü b e r , dessen langjährige „ A s p i r a t i o n s " i h r e m Ziel d a m i t n ä h e r g e r ü c k t w a r e n . Am
1 . 9 . 1 9 1 4 w u r d e d e r britische U n i o n J a c k anstelle d e r
schwarz-
Widerstandes gegen die aufziehende Diktatur, vgl. dazu E. von Vietsch, Wilhelm Solf. Botschafter zw. den Zeiten, Tüb. 1961. 251 Etwa: P.J. Hempenstall, „Native Resistance and German Colonial Policy in the Pacific...", in: J.A. Moses u. P.M. Kennedy (Hgg.), Germany in the Pacific (Fn. 8), 209-233; ders., Pacific Islanders (Fn.250); H.Laracy, „Church and State in German Samoa", in: New Zealand Jnl. of Hist. Bd. 12 (1978) 158-67; John A. Moses, „The Coolie Labour Question and German Colonial Policy in Samoa 1900-14", in: Jnl. of Pacific Hist. Bd. 8 (1973), 101-124 (ebf. abgedr.: J.A. Moses u. P. M. Kennedy [Hgg.], Germany in the Pacific [Fn. 8], 234—61); John A. Moses, „Zwischen Puritanismus u. Ultramontanismus: D. Politik der Diagonalen auf Deutsch-Samoa 1900-14", in: Klaus J. Bade (Hg.), Imperialismus u. Kolonialmission. Kaiserl. Dtld. u. koloniales Imperium, Wiesbaden 1982, 243-56. 252 D. Kol.Akten sind hervorragend erhalten, geordnet u. katalogisiert (List of Archivalia in South West African Archives Depots, State Archives Windhoek, 2nd ed. Windhoek 1983 [unveröfftl.]; D.J. Pieters u. A. C. Stern, Inventar der Akten ds Zentralbureaus ds kaiserl. Gouvernements 1884-1915, Windhoek 1939/1973 [unveröfftl.]); die Arbeitsbedingungen im Archiv v. Windhuk sind ζ. Z. vorbildlich. 253 Veröfftlgen d. Archivschule Marburg, hgg. v. K.Diilfer, Bd. 9/1—II: D. DeutschOstafrika-Archiv. Inventar d. Abtlg „German Records" im Nationalarchiv d. Vereinigten Rep. Tansania, Dar-es-Salaam 1973. Vgl. auch d. Quellen z. Gesch. Afrikas südl. d. Sahara in d. Archiven d. Bundesrepublik Dtld. International Council on Archives. Guide to the Sources of the History of Africa Bd. I [Dtld.], Zug/Schw. 1970. 254 Eine zu wenig ins Detail gehende (aber verdienstvolle) Arbeit ist: P. M. Kennedy, „A Guide to Archival Sources Relating to Germany in the Pacific . . . 1871-1914", in: J.A. Moses u. P. M. Kennedy (Hgg.), Germany in the Pacific (Fn. 8), 349-383; J.Hornabrook, „The National Archives of New Zealand", in: Jnl. of Pacific Hist. Bd. 3 (1968) 181-190 m. kurzen Hinw. auf (völlig ungeordnetes) Material aus dt. Zeit in Wellington u. Apia. Verf. dieser Abhdlg weiß von dort, daß die dt. Kol.Akten nicht gut erhalten u. d. meisten bisherigen Veröfftlgen (schon mangels ausreich. Deutschkenntnisse) nicht auf sie gestützt sind, sondern auf engl. Übersetzungen u. Zus.fassungen, die in einzelnen Fällen früher inoffiziell angefertigt worden sind. Beispiele für das Forschungsverständnis im „Down Under" Australiens sind für das frühere Gebiet Deutsch-Neuguinea etwa D. R. Chalmers, "The Colonial Legal System in German New Guinea: 1884-1914" in ZvglRW 79 (1980) 209-224 bzw. der Rundumschlag von P. G. Sack, "Law in New Guinea and the Risks of Academic Pioneers" in: ZvglRW 82 (1983) 231-241, der nicht frei von den Fehlern ist, die er Chalmers völlig überzogen vorwirft. Sacks eigene Arbeiten beziehen sich auch nur auf von ihm angefertigte Übersetzungen deutscher Quellen, die er a. a. O. selbst aber weder in einer wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht werdenden Weise vorlegt, noch auch nur in verifizierbarer Weise zitiert.
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223
w e i ß - r o t e n F l a g g e aufgezogen 2 5 6 . D i e N i c h t b e a c h t u n g bis dahin eingeh a l t e n e r Q u a r a n t ä n e v o r s c h r i f t e n w ä h r e n d d e r Z e i t d e r neuseeländischen B e s e t z u n g d e r Inseln entwickelte sich für die e i n g e b o r e n e B e v ö l k e r u n g w ä h r e n d des Kriegs z u einer K a t a s t r o p h e 2 " , die jüngst als the single important
traumatic
event
in Samoan
history258
most
b e z e i c h n e t w o r d e n ist.
D i e Situation d e r D e u t s c h e n im Pazifik v e r s c h l e c h t e r t e sich 1 9 1 4 überall a u c h da, w o d e u t s c h e E i n w a n d e r e r f r ü h e r e r G e n e r a t i o n e n ein neues M u t t e r l a n d glaubten gefunden zu haben 2 5 '. D i e M a n d a t s z e i t des V ö l k e r bunds 2 6 0 ließ im L a n d den W u n s c h n a c h d e r R ü c k k e h r des d e u t s c h e n
255 Samoa wäre militärisch nicht zu halten gewesen: das war die Erkenntnis d. auf den Ernstfall planenden Adm.: „Führt Kreuzerkrieg oder taucht im Pazifik unter" - lautete d. Quintessenz d geh. Anweisungen, vgl. BA-MA, RM 5/v. 6255 betr. M[obilmachung]sÜbersichten d. Austral. Station (1910-13), Ganz Geheim, Von Hand zu Hand, Bl. 56ff.; RM 5/v. 5663 (1909-14). 256 M.E. Townsend, Rise and Fall (Fn.8), 368; Wm. R. Louis, „Australia and the German Colonies in the Pacific 1914-19", Jnl. of Mod. Hist. 38 (1966) 407ff.; Wm. S. Livingston u. Wm. R. Louis (Hgg.), Australia, New Zealand, and the Pacific Islands since the First World War, Lo. 1979. 257 Eine Epidemie raffte rd. 20 % d. Bevölkerung d. Inselgruppe hinweg u. reduzierte die gesundheitl. Widerstandskraft vieler Uberlebender; von d. amerikan. Samoainseln Tutuila angebotene Hilfe wurde v. neuseeländ. Gouverneur Logan abgelehnt, vgl. Mary Boyd, „The Military Administration of Western Samoa 1914-19", New Zealand Jnl. of Hist. Bd. 2 (1968) 148 ff. 258 D. Pitt, „The Transition Phase in Development. The Case of Western Samoa", in: Civilisations Bd. 29 (1979) 57 ff. (59). 25 ' „The great Protestations of loyalty to the country of their adoption meant little when the great British empire was perceived to be under threat..." (Jenny T. Stock, „South Australia's .German' vote in World War I", in: Australian Jnl. of Politics and Hist. 28 (1982) 250 ff. (263); über die Lage der Deutschen in Australien heute vgl. J.H. Voigt, Neuanfänge. Deutsche in New South Wales und Queensland, Stgt 1983 sowie den Bericht von E. Haubold, „Leicht war es nie für die Deutschen in Australien", FAZ Nr. 283 v. 6.12.1983, 7-8. 260 Daß Samoa nie wieder an Dtld. zurückgegeben u. fortan v. Neuseeland verwaltet werden sollte, war schon 1917 beschlossene Sache: Imperial War Conference, Lo. 1917, PRO/CO 537/989. D. Rechtsgrdlagen f. d. Mandatszeit sind: Treaty of Peace between the Allied and Associated Powers and Germany, Versailles, 28.6.1919, BFSP 1919 Bd. CXII (Lo. 1922) Iff., bes. Part IV Art. 119 i.V.m. Part I Art.22; League of Nations Mandate betr. Samoa, Genf, 17.12.1920, BFSP 1920 Bd. CXIII (Lo. 1923) 1107ff.; Act of the Parliament of the Dominion of New Zealand to make provision for the Goverment of Western Samoa, 7.12.1921, BFSP 1925 Pt. I Bd. C X X I (Lo. 1929) 500ff.; Samoa Amendment Acts 1926 u. 1927, The Statutes of the Dominions of New Zealand, 17 Geo. V bzw. 18 Geo. V, 453 ff. bzw. 19 ff. Vgl. bes. League of Nations, First Report of the Government of . . . New Zealand on the Administration of the Mandated Territory of Western Samoa, 1921, Rh. H. 881 S.3, m. Einzelheiten üb. die seit der dt. Zeit vorgen. Änderungen auf Samoa nach 1914.
224
Dieter Giesen
Gouverneurs Wilhelm Solf wach werden261, sie ging - die Treuhandzeit nach 1945 mitgerechnet261 - erst 1962 zu Ende, als West-Samoa der erste unabhängige Staat Polynesiens wurde262. Die 1899 den Amerikanern überlassene Insel Tutuila ist bis heute unter dem Namen American Samoa im Besitz der Vereinigten Staaten. Man las kürzlich, daß dieses Land Anno Domini 1983 ein paar Hände voll pazifischer Inseln aufzugeben im Begriff ist und drei von ihnen nördlich Samoas an Neuseeland übertragen will. Among objections raised in the long debate over the treaties ... was the argument that the land might be used for military bases. However, Defense Secretary Caspar W. Weinberger said the islands were not needed for that purpose1". VIII. Deutschlands Kolonialreich war das letzte, das entstand, und das erste, das fiel264. Wirtschaftlich hat es für das Mutterland kaum Bedeutung gehabt265. Reichskanzler von Bismarck hatte diese Einschätzung schon ein langes Menschenleben vor des Deutschen Reiches illusionärem Drängen nach einem Platz an der Sonne266 gehegt. Als das Ziel schließlich erreicht war, beklagten an der stärkeren Ausbeutung Samoas als Kolonie interessierte deutsche Gegner der eingeborenenfreundlichen und auf Förderung auch der anderen fremden Interessen bedachten Kolonialpolitik Solfs und seines Nachfolgers Schultz-Ewerth auch schon den Rückgang der deutschen Interessen auf Samoa, forderten sie eine „schlackenfreie, deutschnationale Politik" für die Inselgruppe, „um unser Südsee-
2
" J.A. Moses, „The Solf R e g i m e . . . " (Fn.250), 42; O.Riedel, D. Kampf um Dt.Samoa. Erinnerungen eines Hamburger Kaufmanns, Bin 1938, 161. 262 / . W. Davidson (Fn. 16), 161 ff., 347 ff., 415 ff., m . w . N . 263 The International Herald Tribune, Thursday, 23d June 1983, S.3. 264 Wm. R. Louis (Fn.248), 36ff., 77ff., 117ff„ m. zahlr. Nachw. 265 Die Kolonien ... blieben Faß ohne Boden, gewinnbringend nur für wenige Reedereien, die die Häfen anliefen, und eine Handvoll Verkäufer von Schnaps, Gewehren und billigen Stoffen. Kupfererze und Diamanten, die Südwestafrika anziehend machen sollten, wurden erst später in großem Umfang ausgebeutet. (M. Stürmer [Fn. 4], 193 ff. [233]); vgl. auch H. Aubin u. W. Zorn (Hgg.), H d b . d. dt. Wirtschafts- u. Sozialgesch., Bd. 2, Stgt 1976, 234, 585; W.O. Henderson (Fn.9), 33ff., 44ff., 135; P.J. Hempenstall, Pacific Islanders (Fn.250), 51 ff. (70). 266 D. Wort stammt vom damaligen (1897) Staatssekretär ds AA von Bülow aus dessen RT-Rede anläßl. d. „Erwerbg" Kiautschous: Die leiten, wo der Deutsche dem einen seiner Nachbarn die Erde überließ, dem anderen das Meer und sich selbst den Himmel reservirte, wo die reine Doktrin thront [Heiterkeit - Bravo!] - diese Zeiten sind vorüber... Mit einem Worte: Wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne [Bravo!]. (StenBer. RT 9/V 1897-8/1, Bln. 1898, S.60).
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p a r a d i e s d e u t s c h z u e r h a l t e n " , m i t d e m A l a r m r u f , die d e u t s c h e P o s i t i o n w e r d e s c h o n jetzt ( 1 9 1 1 ) „eine i m m e r s c h w ä c h e r e " , „in d e m M a ß e , w i e e n g l i s c h - a u s t r a l i s c h e r E i n f l u ß in D e u t s c h - S a m o a steigt" 2 6 7 . U m e t w a die gleiche Z e i t l o b t e n britische u n d australische P f l a n z e r in S a m o a die F r e u n d s c h a f t u n d G l e i c h b e r e c h t i g u n g , die sie in der d e u t s c h e n K o l o n i e seit J a h r e n erfahren hatten 2 6 8 . D a s schnelle E n d e d e u t s c h e r kolonialer E r f a h r u n g u n d das W i e d e r a u f l e b e n des kolonialen A r g u m e n t s bald n a c h d e m Versailler V e r t r a g u n d seiner s c h u l d z u w e i s e n d e n B e s t i m m u n g e n 2 6 ' in d e r Z e i t v o n W e i m a r , b e s o n d e r s aber u n t e r teilweise frösteln m a c h e n d e n V o r z e i c h e n i m D r i t t e n Reich 2 ™, hat das d e u t s c h e wissenschaftliche I n t e r e s s e an den f r ü h e r e n K o l o n i e n n a c h d e m Z w e i t e n W e l t k r i e g nicht g e r a d e beflügeln k ö n n e n . W i e sie i m Spannungsfeld z w i s c h e n d e m in B e r l i n gesetzten R e c h t 2 " u n d dessen W i r k u n g unter t r o p i s c h e r S o n n e t a t s ä c h l i c h f u n k t i o n i e r t e n u n d w a s D e u t s c h l a n d s N a c h f o l g e r d a v o n in ihre eigene koloniale E r f a h r u n g a u f g e n o m m e n o d e r aus ihr v e r b a n n t
Richard Deeken, „Samoanische Bilder", Dt. Kolonialzeitung 1911, 115 (116). The Britisher in Samoa ... is absolutely as free as he is in his own country. We are treated with exactly the same consideration as the German ... The cordiality that exists cannot he too much emphasised. The German is glad to meet us; we are glad to meet him. (The Daily Telegraph [London], Korrespondentenbericht, 23rd Febr. 1912, AA/Südsee 5 Bd. 11). 269 Nachw. Fn. 260; vgl. auch F. Berber (Hg.), D. Diktat v. Versailles. Entstehung Inhalt - Zerfall. Eine Darstellg in Dok., 2 Bde., Essen 1939, bes. II. 949ff.; H. Kraus u. G. Rüdiger (Hgg.), Urkunden z. Friedensvertrag v. Versailles v. 28.6.1919, 2 Bde., Bln. 1920-21, bes. I. 210, 216, 241, 434 f., 473 ff., 565, 604 ff. 270 Vgl. Wolfe W. Schmokel, Dream of Empire: German Colonialism 1919-45, NH 1964, 137 ff., wonach die Nationalsozialisten - Vortrag ds Reichsministers Hans Frank im Mai 1939 vor d. Akad. f. Dt. Recht - auch ein Apartheidsprogramm für die dt. Kolonien mit einem „Kolonialblutschutzgesetz" planten, unter dem die Samoaner als „Arier" eingestuft worden wären (ebd. 169-172, m.w. N.). Grundlegend zum Versagen der dt. Demokratie und zum Scheitern Weimars vgl. Institut f. Ztgesch. (München), Dt. Sonderweg - Mythos od. Realität? Kolloquien ds Inst. f. Ztgesch., Mü. u. Wien 1982; vgl. auch H.Möller, in: Vierteljahreshefte f. Ztgesch. 30 (1980) 162-5; A.M. Birke, „Warum Deutschlands Demokratie versagte. Geschichtsanalyse im britischen Außenministerium 1943/1945", in: Hist. Jb. (Im Auftr. d. Görres-Gesellschaft hgg. v. L.Boehm, O.Engels, E. Iserloh, R. Morsey u. K. Repgen), Jg. 103 2. Hlbbd. (1983) 395-410 (Lit.). 271 Vgl. Fn. 247. An systemat. Darstellgen aus d. Zt vor 1914 vgl. Fn. 31 u. 102, sowie H. Edler von Hoffmann, Dt. KolR, Lpz. 1907; ders., Verwaltungs- u. Gerichtsverfassg der dt. Schutzgebiete, Lpz. 1908, sowie die im Deutschen Koloniallexikon (Hg. H.Schnee), 3 Bde., Lpz. 1920, II. 339-341 nachgew. Quellen, die aber im hier behandelten Ztraum auf Samoa noch nicht zutreffen. Eine mod. Darstellung der dt. Kol.Verfassung findet sich bei E.R. Huber, Dt. Verf.Gesch. seit 1789, Bd. IV (Struktur u. Krisen ds Kaiserreichs), Stgt 1969, 604-34; über d. Reichsorgane (einschl. ds RKolA) u. ihre Besetzung vgl. dens., Bd. III (Bismarck u. d. Reich), 2. Aufl. Stgt 1970, 809 ff. (844); grdlegd für seine Zeit auch zum Stichwort „Kolonien u. KolPol." das Hdwb. d. Staatswissenschaften, 3. Aufl. Jena 1910, V. 921-1038; 4. Aufl. Jena 1923, V. 781-810 (Lit.). 267
268
226 haben und wie jenes „Erbe" bei den zur Unabhängigkeit gelangten Völkern dieser Länder eingeschätzt wurde, darüber ist bislang nur wenig aus den noch vorhandenen Kolonialakten Erarbeitetes dargelegt worden. Der pazifische Raum und mit ihm Samoa ist nur eines der vielen Gebiete, das der erst in ihren Anfängen steckenden und zweifellos mühsamen Quellenerschließung auch im Bereich kolonialer Rechts- und Sozialgeschichte harrt.
Arbeitsrecht in der sozialen Marktwirtschaft PETER HANAU Widmung Vieles haben wir uns selbst zerstört durch Krieg und Verbrechen unerhört. Von Adolf Hitler ließen viele sich betören, auf Warnungen wollten sie nicht hören. Jetzt ist unser Land geteilt, mit Wunden, welche die Zeit nicht heilt. Berlin hat dabei so viel verloren, daß man es nicht zählt in Hören. Und doch, die Stadt sie lebt, hat wieder Kraft. Der Aufstieg von ganz unten ist geschafft. Ward auch das Recht hier furchtbar pervertiert, am Ende doch das Gute triumphiert. Dies will auch diese Festschrift sagen, die die Jurist'sche Gesellschaft zusammengetragen. In alter Verbundenheit grüß' ich die Stadt, die mir so viel gegeben hat.
I. Soziale und marktwirtschaftliche Komponente im Arbeitsrecht 1. Sozial gegen
Marktwirtschaft?
Das Arbeitsrecht ist ein wesentliches Element der sozialen Marktwirtschaft1. Nach traditioneller Auffassung ist das Arbeitsrecht vor allem der sozialen Komponente dieses Wirtschaftssystem zuzurechnen, während es seiner marktwirtschaftlichen Komponente entgegengesetzt sei. Das Arbeitsrecht soll sozial wirken, indem es die Vertragsfreiheit als wichtigste Ausdrucksform der Marktwirtschaft zurückdrängt. „Das Arbeitsrecht läßt sich begreifen als ein einziges großes Kontrollsystem gegenüber der Vertragsfreiheit2." Die Angst vor dem Mißbrauch der Vertragsfreiheit durch die Arbeitgeber sitzt so tief, daß jeder Vorschlag, der Vertragsfreiheit mehr Raum zu geben, auf starken Widerstand stößt und
1 Zu dieser allgemein: Grundtexte zur sozialen Marktwirtschaft, hrsg. von Stiitzel, Watnn, Willgerodt, Hohmann, 1981. 2 (Hanau)/Adomeit, Arbeitsrecht, 7. Aufl., S. 33.
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vielfach gar nicht als legitimes Diskussionsthema akzeptiert wird 3 . Insbesondere verteidigen die Gewerkschaften unseres Landes erbittert jeden Zoll zwingenden Arbeitsrechts. In der Rechtsprechung wird der Umfang des zwingenden Arbeitsrechts auf Kosten der Vertragsfreiheit noch ausgedehnt, da die geltenden arbeitsrechtlichen Gesetze und Rechtsgrundsätze noch ungenutzte Reserven traditionellen Arbeitnehmerschutzes enthalten. Durch die neue Rechtsprechung des BVerfG 4 und des B A G 5 ist die Freiheit des Gesetzgebers und des Arbeitgebers zur unterschiedlichen Behandlung von Arbeitern und Angestellten weitgehend beseitigt worden. Ähnlich hat das B A G 6 zu den Teilzeitbeschäftigten entschieden, daß ihre Arbeitsentgelte, einschließlich der betrieblichen Altersversorgung, (mindestens) strikt proportional ihrer Arbeitszeit zu bemessen seien, soweit nicht sachliche Gründe im Einzelfall eine unterproportionale Vergütung rechtfertigen. Im Bereich der personenbedingten Kündigung sind vom B A G die Anforderungen an eine Kündigung wegen Krankheit des Arbeitnehmers weiter verschärft worden 7 . Bei der betriebsbedingten Kündigung ist es dabei geblieben, daß unternehmerische Entscheidungen, die zum Abbau von Arbeitsplätzen führen, von den Arbeitsgerichten grundsätzlich hingenommen werden, soweit sie nicht offensichtlich verfehlt sind oder durch weniger einschneidende personelle Maßnahmen realisiert werden können 8 . Der Arbeitgeber muß aber nach der Rechtsprechung des B A G ' beweisen, daß seine unternehmerische Maßnahme gerade die Entlassung des jeweils betroffenen Arbeitnehmers erfordert. Eine weitere Zunahme der gerichtlichen Kontrolldichte ist nicht auszuschließen. Seit langem ziehen die Arbeitsgerichte aus dem Kündigungsschutzgesetz auch den Schluß, daß Befristungen von Arbeitsverhältnissen nur aus sachlichen Gründen zulässig sein können. Diese Rechtsprechung ist in letzter Zeit insbesondere in den beiden folgenden Punkten bekräftigt und ausgebaut worden. 3 Charakteristisch die Reaktion des stellvertretenden Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, Wolfgang Roth, auf die Vorschläge des Vorsitzenden der sozialpolitischen Arbeitsgruppe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, George, zum Abbau beschäftigungshemmender Wirkungen des Arbeitsrechts: George unternehme den gezielten Versuch, die bisher von allen Parteien und den sozialen Gruppen getragene Sozialordnung in Frage zu stellen. Es finde eine Rückwendung zur kapitalistischen Marktwirtschaft statt, die mit dem Feuer des sozialen Unfriedens spiele. 4 NJW 1983, 617. 5 N J W 1980, 2374. 6 NJW 1982, 2013. 7 Betrieb 1983, 1047. 8 B A G A P Nr. 6, 8 §1 KSchG betriebsbedingte Kündigung. 9 B A G AP N r . 6 a. a. Ο .
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Der Arbeitgeber darf bei einem Überangebot von Arbeitskräften (hier: Lehrer) Arbeitsplätze nicht befristet besetzen, um anschließend andere Bewerber einstellen zu können10. Dies gilt auch, wenn der Platz für spätere, besser qualifizierte Bewerber offen gehalten werden soll. Das BVerfG11 hat dagegen Sympathien für ein Rotationsprinzip im Interesse von Arbeitsplatzbewerbern erkennen lassen, doch ist das von den Arbeitsgerichten noch nicht zur Kenntnis genommen worden. Ferner erlaubt die Ungewißheit einer zukünftigen wirtschaftlichen und betrieblichen Entwicklung nach der Rechtsprechung12 eine Befristung des Arbeitsverhältnisses nur, wenn der zukünftige Wegfall des Arbeitsplatzes mit Wahrscheinlichkeit feststellbar und terminierbar ist. Mit anderen Worten: ein Dauerarbeitsverhältnis muß auch dann eingegangen werden, wenn noch gar nicht feststeht, ob der Arbeitsplatz auf Dauer gehalten werden kann. Die Ungewißheit, ob und wie lange ein Aufschwung dauert, kann eine Befristung danach nur rechtfertigen, wenn der Abschwung schon feststeht. 2. Sozial durch Marktwirtschaft f Zunehmend werden Zweifel daran angemeldet, daß durch zwingende Beschränkungen der Vertrags- und Unternehmerfreiheit, wie sie vorstehend aufgezeigt wurden, dem sozialen Zweck des Arbeitsrechts wirklich gedient sei. Insbesondere machen Wirtschaftswissenschaftler zunehmend geltend, daß soziale Ergebnisse nicht gegen, sondern durch die Marktwirtschaft zu erzielen seien. So wird es heute schon in den Anfängerlehrbüchern der Ökonomie gelehrt. So führt ζ. B. Kathxi aus, Kündigungsschutz, Lohnfortzahlungsanspruch und betriebliche Verdienstsicherung für ausgewählte Gruppen von Arbeitnehmern erhöhten die Kosten der Beschäftigung dieser Arbeitskräfte und minderten ihre Chancen auf Neu- oder Wiedereinstellung. Generell gelte, daß erschwerte Kündigungsmöglichkeiten das Risiko der Arbeitslosigkeit vermehrten, weil arbeitssparender technischer Fortschritt, aber auch Uberstunden rentabler würden. Darüber hinaus sei der Bestandsschutz ein untaugliches Mittel, um das Arbeitsplatzrisiko in einer Marktwirtschaft zu verringern; auf längere Sicht führe er eher zu einem Anstieg als zu einem Rückgang der Arbeitslosigkeit. Ahnlich heißt es bei WollH, 10 BAG NJW 1982, 1475. " BVerfG 59, 231, 266, betr. Rundfunkmitarbeiter. 12 BAG AP Nr. 50, 56 §620 BGB befristeter Arbeitsvertrag; LAG Berlin Betrieb 1977, 2237. 13 In: Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, Bd. II, S. 381 f. 14 Das Ende der Stabilitätspolitik, Vorträge und Aufsätze des Walter Eucken Instituts, Nr. 93, 1983, S.20.
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wahrscheinlich bestehe eine breite Übereinstimmung darüber, daß ζ. B. in unserem Lande die Ausgestaltung der Arbeitslosenunterstützung, der Lohnfortzahlung bei Erkrankung, des Mutter- und Jugendschutzes dazu führen, die Arbeitslosigkeit zu erhöhen. Besonders drastisch äußert sich Stützet15: da man sich bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für die arbeitsrechtliche Lösung entschieden habe, hätten es Kränkliche besonders schwer, Arbeitsplätze zu finden. Gleichermaßen habe man aus wohlgemeinten sozialen Gründen die betrieblichen Gesamtkosten marktlagenwidrig erhöht für Auszubildende, Frauen und ältere Personen. Prompt habe sich dies für viele als Bumerang erwiesen, als kontraproduktive Sozialmaßnahme. Der Katalog der Problem-Arbeitslosen enthalte ziemlich genau dieselben Personengruppen, denen man durch Gewährung marktlagenmäßig überhöhter Löhne sozial helfen zu können glaubte. Unerläßlich sei, daß Soziales für Schwächere statt von Einzelbetrieben von Solidargemeinschaften übernommen werde. Es müsse Schluß mit den Versuchen gemacht werden, Sozialem dadurch Rechnung zu tragen, daß man unter den Beschaffungspreisen eines Produzenten gerade die Kosten der Einstellung von Schwächeren besonders stark erhöhe. Wenn die Mehrleistungen an Schwächere den betreffenden Betrieben auferlegt werden, bei denen sie beschäftigt sind, leiste man den Schwächeren einen Bärendienst. Nur wenn die Mehrleistungen aus allgemeinen Fiskalmitteln kommen, werde das sozial Erstrebte auch erreicht werden. In der Tat ist es plausibel, daß die mit dem Arbeitsverhältnis für die Arbeitgeber verbundenen Lasten und Risiken die Einstellung von Arbeitnehmern als letztes Mittel erscheinen lassen können, um das betriebliche Leistungsvermögen zu erweitern oder auch nur aufrechtzuerhalten. Alternativen wie Uberstunden, Rationalisierung, Verlagerung ins Ausland, können attraktiver erscheinen. Es ist freilich schwierig, arbeitsrechtsbedingte Arbeitsplatzvernichtungen festzustellen, zumal es hier um einen hypothetischen Kausalzusammenhang geht: Was hätte das Unternehmen getan, wenn die arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen für es günstiger gewesen wären? Häufig wird geltend gemacht, daß wegen der Haftungsrisiken nach den §§25 HGB, 419 und insbes. 613a BGB immer weniger Unternehmen bereit seien, gescheiterte Firmen aufzufangen16. Das BAG17 hat in 15 In: Marktpreis und Menschenwürde, 3. Aufl., 1982, 29; Kampf um Wörter?, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung Nr. 163, 1980, 468; Grundtexte zur sozialen Marktwirtschaft, 1981, 352 f. " Z . B . Uhlenbruck KTS 1981, 558, der damit die Erfahrungen vieler Konkursverwalter wiedergibt. 17 AP Nr. 18 § 6 1 3 a BGB = Betrieb 1980, 308, 310.
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einer Entscheidung vom 17.1.1980 festgestellt, daß ihm aus seiner Rechtsprechung Fälle bekannt seien, in denen Betriebsveräußerungen an den haftungsrechtlichen Folgen des 613 a BGB gescheitert sind. Daraus ergibt sich freilich noch nicht zwingend, daß 613 a BGB zu einem Arbeitsplatzverlust geführt hat. Zur Kündigung gibt es insoweit eine Befragung von Unternehmen durch die sozialwissenschaftliche Forschungsgruppe des Max-PlanckInstituts für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg 18 . U m die Frühwirkungen von Kündigungsnormen empirisch zu erfassen, wurden die Unternehmen 1978 gefragt: „Wirkt sich das geltende Kündigungsschutzrecht auf ihre Auswahlentscheidung bei Neueinstellungen aus?" 60 % von 562 hierauf antwortenden Unternehmen bejahten solche Auswirkungen. 40 % der Befragten (Mehrfachnennungen waren möglich) gaben an, nach Möglichkeit keine Schwerbehinderten einzustellen; 34 % , wegen des allgemeinen Kündigungsschutzes weniger Einstellungen vorzunehmen, als aus Gründen der Produktivität erforderlich wäre. Die gegenwärtige Bundesregierung hat sich der Auffassung a n g t schlossen, daß vom Arbeitsrecht beschäftigungshemmende Wirkungen ausgehen können. Nach einem Bericht in der F A Z vom 19.11.1983 hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, D r . Blüm, angekündigt, daß die Bundesregierung Anfang nächsten Jahres einen Gesetzesentwurf einbringen werde, um solche Hemmungen abzubauen. Dabei würden die Schutzvorschriften für Frauen, Jugendliche und Schwerbehinderte überprüft, um den Arbeitslosen aus diesen Gruppen zu helfen, wieder einen Arbeitsplatz zu finden. Die Schutzvorschriften nutzten nur jenen, die einen Arbeitsplatz hätten; sie nützten aber denjenigen nichts, die einen Arbeitsplatz suchten. Auch sollten befristete Arbeitsverträge zugelassen werden. II. Zur Harmonisierung von Vertragsfreiheit und Sozialschutz 1. Zwingendes Recht zum Ausgleich gestörter Vertragsfreiheit Das dialektische Konzept der sozialen Marktwirtschaft legt es nahe, eine mittlere Linie zu verfolgen, soviel Freiheit wie möglich, soviel Bindung wie nötig, auch im Arbeitsrecht. Wenn im Arbeitsrecht die totale Vertragsfreiheit die Arbeitnehmer benachteiligt, der totale Schutz aber auch, muß man nach einer goldenen Mitte suchen, die die positiven Wirkungen des Sozialschutzes möglichst optimiert und seine negativen Wirkungen minimiert. Bei der praktischen Umsetzung sollte man sich mehr als bisher an den Leitgedanken der sozial-liberalen Bundestags18
Falke/Höland/Rohde/Zimmermann, Kündigungspraxis und Kündigungsschutz in der Bundesrepublik Deutschland, 1981, I, 156.
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mehrheit der 70er Jahre erinnern, auch einmal ein Experiment zu wagen, um es je nach Ausgang festzuschreiben oder rückgängig zu machen. Nach dem Vorbild des berühmten Wortes von Willy Brandt „mehr Demokratie wagen", geht es heute im Arbeitsrecht auch darum, mehr Freiheit zu wagen. Dabei ergibt sich aus den anerkannten Grundsätzen des Zivilrechts ein einfacher Grundgedanke: In die Vertragsfreiheit darf und muß eingegriffen werden, soweit sie infolge des wirtschaftlichen oder intellektuellen Ubergewichts der einen Seite gestört ist. Auf diesem Grundgedanken beruht z.B. das Gesetz über die allgemeinen Geschäftsbedingungen. Im Arbeitsrecht führt dieser Gedanke zu einem besonders großen Maß an zwingendem Recht, da man hier von einer grundsätzlichen wirtschaftlichen Überlegenheit des Arbeitgebers gegenüber dem Arbeitnehmer und damit einer grundsätzlich gestörten Vertragsfreiheit ausgeht. Aber auch wenn man dies annimmt, bleibt Raum für mehr Vertragsfreiheit im Arbeitsrecht. 2. Mehr Freiheit für den Tarifvertrag Das geltende Arbeitsrecht ist grundsätzlich auch gegenüber dem Tarifvertrag einseitig zwingend und läßt Veränderungen nur zugunsten der Arbeitnehmer zu. Freilich gibt es auch Ausnahmen, sogenannte tarifdispositive Rechtsnormen, die durch Tarifvertrag, nicht durch Betriebsvereinbarung und Einzelvertrag, zugunsten wie zu Lasten der Arbeitnehmer abgeändert werden können. Die wichtigsten Fälle sind: §§7 AZO (Verlängerung der täglichen Arbeitszeit auf 10 Stunden); 616 II 2 BGB (Verkürzung oder Verlängerung der Dauer der Lohnfortzahlung an Angestellte im Krankheitsfall); 2 III LFG (Veränderungen der Berechnungsart der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall von Arbeitern); 622 II BGB (Verkürzung von Kündigungsfristen); 13 BUrlaubsG (Gestaltung des Urlaubsanspruchs außer der Mindestdauer von 3 Wochen); 17 BetrAVG (Regelung von Höhe und Abfindung der unverfallbaren Anwartschaften, der Anrechnung sonstiger Bezüge auf die betriebliche Altersversorgung sowie der Anpassung der Betriebsrenten an die Geldentwertung). Gegen eine interpretative, d. h. durch Auslegung erfolgende Ausdehnung dieses Vorrangs des Tarifvertrages auf andere gesetzliche und richterrechtliche Regelungen im Arbeitsrecht wird in dem führenden Kommentar zum T V G " angeführt, allein mit dem Gesichtspunkt der materiellen Richtigkeitschance der betreffenden Regelung könne die Zulässigkeit von tarifdispositivem Gesetzesrecht nicht begründet wer" Wiedemann/Stumpf, TVG, 5. Aufl., 1977, Einleitung Rdn. 126. Differenzierend Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, 1964, 154 ff.
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den. Mit Hilfe dieser Überlegung könne nämlich jede gesetzliche Schutzregelung mit Ausnahme des sozial-ethischen Minimums zuungunsten der Arbeitnehmer der Disposition der Tarifparteien anheim gegeben werden. Demgegenüber sei zu berücksichtigen, daß das in der großen Vielzahl der Fälle bestehende Machtgleichgewicht zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften durchaus einmal gestört sein könne. Auch bestehe die Gefahr, daß das Verantwortungsbewußtsein der Verbände dort seine Grenze finde, wo es um die Belange von Minderheiten gehe. Mit dem Schutzzweck der arbeitsrechtlichen Gesetze sei es auch unvereinbar, wenn die gesetzlichen Bestimmungen von den Koalitionen zugunsten einer überdurchschnittlichen, werbewirksamen Vergütung eingetauscht würden. Man sieht hier, wie fern führende Arbeitsrechtler dem Gedanken stehen, das Arbeitsrecht vertraglicher Disposition weiter zu öffnen: sogar eine weitere Öffnung für Tarifverträge wird abgelehnt. Folgerichtig fordert der Kommentar im Zweifel eine Auslegung des Tarifvertrages zugunsten der Arbeitnehmer20, denn eine Richtigkeitsgewähr für den Tarifvertrag bestehe im bilateralen Monopol nicht. Im Rahmen einer ganzheitlichen Betrachtung müsse deshalb das soziale Ergebnis für den Arbeitnehmer und sein Erwartungshorizont berücksichtigt werden. Diese für die gegenwärtige Theorie und Praxis des Arbeitsrechts durchaus repräsentative Meinung beruht auf den Prämissen, daß die Gewerkschaft in der Tarifpolitik im Zweifel die schwächere Seite sei und daß vermehrte tarifvertragliche Leistungen an Arbeitnehmer eine wünschenswerte Vermehrung des Sozialschutzes seien. Dagegen ist es für die herrschende Schule der Nationalökonomie schon ein Gemeinplatz, daß die gewerkschaftliche Position in den Tarifverhandlungen eher zu stark sei und daß ein Mehr an tariflichen Leistungen zu einem Weniger an recht verstandenem Sozialschutz führe, da es Beschäftigungschancen vermindere21. Dafür, im Zweifel jedenfalls ein Gleichgewicht der Tarifparteien anzunehmen, spricht auch, daß es gerade der Zweck der Koalitionsfreiheit und der Tarifautonomie ist, an die Stelle des gestörten Gleichgewichts der Arbeitsvertragsparteien das Gleichgewicht der Kollektiwertragsparteien zu setzen. Wiedemann/Stumpf gehen ja auch selbst davon aus, daß in der großen Vielzahl der Fälle ein Machtgleichgewicht zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften bestehe. An diesem Regelfall muß sich aber die Rechtsordnung orientieren; für Ausnahmefälle kann der Gegenbeweis eines Vertragsdiktats in der Form A.a.O. §1 Rdn. 410. Neueste Äußerung in dieser Richtung Giersch, in: Wie es zu schaffen ist, Agenda für die deutsche Wirtschaftspolitik, 1983, 25f.: Wenn die Löhne längere Zeit real zu hoch sind, verhärtet sich die Arbeitslosigkeit zur Dauerarbeitslosigkeit. 20 21
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des Kollektiwertrages offenbleiben. Dies legt m. E. Gesetzgeber und Richter nahe, weitere arbeitsrechtliche Normen der Disposition der Tarifparteien zu öffnen. Für §613 a BGB (Ubergang der Arbeitsverhältnisse bei Betriebsübergang) ist eine erste Anregung in dieser Richtung von maßgeblicher gewerkschaftlicher Seite gegeben worden. Diese Bestimmung solle im Sanierungsverfahren nicht gewendet werden, wenn die Tarifvertragsparteien dem zustimmen22. Tarifvertragliche Regelungen zugunsten wie zu Lasten der Arbeitnehmer sind ferner in Betracht zu ziehen für Höhe und Dauer der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die Anpassung des Frauen- und Jugendarbeitsschutzes an die besonderen Bedingungen einzelner Branchen sowie für den Kündigungsschutz. 3. Mehr Freiheit vom Tarifvertrag? In der Öffentlichkeit wird freilich mehr Freiheit nicht zum, sondern vom Tarifvertrag gefordert. Hier sind es neben einzelnen (keineswegs allen) Arbeitgeberverbänden wiederum einige Wirtschaftswissenschaftler, die sich von der Zulassung untertariflicher Bezahlung beschäftigungsfördernde Wirkungen erwarten23. Die insoweit bestehende Rechtslage scheint freilich nicht überall bekannt zu sein. So meint Wo//24, es sei daran zu denken, das Institut der staatlichen Allgemeinverbindlicherklärung, das 1969 im Tarifrecht eingeführt worden sei, wieder zu beseitigen. Die Allgemeinverbindlicherklärung, durch welche die Normen eines Tarifvertrages auf die beiderseitigen Außenseiter erstreckt werden, wurde aber schon durch die Tarifvertragsverordnung vom 23.11.1918 eingeführt. Außerdem dürfte Woll die Allgemeinverbindlicherklärung mit der zwingenden Wirkung der Tarifverträge verwechseln. Nach geltendem Recht gibt es keine unangemessenen Hindernisse für Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die untertarifliche Arbeitsbedingungen vereinbaren zu müssen glauben. Gewiß wirken die Normen eines Tarifvertrages nach §§3, 4 TVG unmittelbar und zwingend für die Mitglieder der vertragschließenden Verbände; abweichende Arbeitsverträge sind nur mit Zustimmung der Tarifparteien oder zugunsten der Arbeitnehmer möglich. Uber diese Rechtslage kann sich nicht beschweren, wer die Mitgliedschaft freiwillig gewählt hat. Nach Verbandsaustritt gilt der Tarifvertrag allerdings nach § 3 III TVG mit zwingender Wirkung fort, doch nur bis zu seinem - meist raschen - Ablauf. Danach tritt die durch Einzelvertrag abdingbare Nachwirkung gem. § 4 V TVG ein. Düttmann, Sitzungsbericht Μ des 54.DJT, 1982, 165. Giersch, Konjunktur- und Wachstumspolitik in der offenen Wirtschaft, 2. Bd., 265f.; Woll, Vorträge und Aufsätze des Walter Eucken Instituts, Nr. 93, 1983, 31 ff. 24 A. a. O. 22 23
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Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die den tarifschließenden Verbänden nicht angehören, sind grundsätzlich nicht an den Tarifvertrag gebunden25. Eine Ausnahme gilt allerdings im Fall der Allgemeinverbindlicherklärung, doch wird diese nach § 5 T V G nur unter bestimmten Voraussetzungen bei nachgewiesener sozialer Notwendigkeit ausgesprochen. Eine Veranlassung zur Änderung dieser im wesentlichen seit 1918 geltenden Rechtslage dürfte nicht bestehen. Die wirtschaftliche Krise zwingt also nicht zu Änderungen des Tarifvertragsrechts, sondern zum Uberdenken der Praxis, gut verdienende und krisengeschüttelte Unternehmen und Branchen auf Gedeih und Verderb denselben Tarifverträgen zu unterwerfen. Scheren sanierungsbedürftige Unternehmen oder Branchen aus dem Arbeitgeberverband aus, stehen sie der Gewerkschaft freilich allein gegenüber, doch können sie dann statt der koalierten wirtschaftlichen Stärke ihre besondere wirtschaftliche Schwäche zur Geltung bringen. Hier ist dann auch der rechtliche und wirtschaftliche Rahmen gegeben, in dem die Arbeitnehmer eine etwaige Verzichtsbereitschaft voll in die Waagschale werfen können. N o c h besser wäre es freilich, wenn Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften gemeinsam einen befristeten tariflichen Sonderstatus für sanierungsbedürftige Unternehmen festlegen. Aber dem stehen wohl auf beiden Seiten systemimmanente Hemmnisse entgegen. 4. Auslegung im Zweifel für den
Arbeitnehmer
Aus der hier vertretenen Einschätzung des Tarifvertrages folgt, daß eine Auslegungsregel „im Zweifel für den Arbeitnehmer" nicht haltbar ist. Eine solche einseitige Auslegung ist, wie § 5 A G B G zeigt, angebracht bei vertraglichen Regelungen, die nicht wirklich ausgehandelt, sondern von der einen Seite der anderen aufgedrängt werden. So liegt es bei allgemeinen Geschäftsbedingungen, aber nicht bei Tarifverträgen. Deshalb müssen hier die allgemeinen Auslegungsregeln gelten, keine einseitige Auslegung zugunsten des Arbeitnehmers. Wenn man auch bei solchen arbeitsrechtlichen Regelungen, die allgemeinen Geschäftsbedingungen nicht vergleichbar sind, im Zweifel eine Auslegung zugunsten des Arbeitnehmers fordert, heißt das, vom Richter Parteilichkeit, nämlich im Zweifel Parteinahme für eine Seite zu fordern. Dafür besteht bei Tarifverträgen angesichts der Kräfteverhältnisse beider Seiten kein Anlaß. 25 Die abweichende Andeutung der Entscheidung des BAG AP Nr. 22 § 5 BetrVG 1972 = Betrieb 1979, 1039, ist so offensichtlich nicht mit § 3 1 TVG vereinbar, daß ihr wohl keine Bedeutung beizumessen ist. Allerdings setzt sich der führende Kommentar zum T V G von Wiedemann/Stumpf, §3 Rdn. 125, ebenfalls dafür ein, nicht tarifgebundenen Arbeitnehmern aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz einen Anspruch auf tarifvertragliche Leistungen einzuräumen.
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5. Mehr Freiheit für die Betriebsvereinbarung Da das Arbeitsrecht, wie dargelegt, selbst dem Tarifvertrag mißtraut, zieht es der Betriebsvereinbarung erst recht enge Schranken. Die Betriebsvereinbarung kann in noch geringerem Umfang von Gesetzen und richterrechtlichen Grundsätzen abweichen als der Tarifvertrag. Insofern ist die Betriebsvereinbarung dem Einzelvertrag gleichgestellt26. Dagegen nahm die Rechtsprechung bisher an, daß durch Betriebsvereinbarung in günstigere arbeitsvertragliche Einheitsregelungen eingegriffen werden könne, doch will der 6. Senat des BAG dies für freiwillige Betriebsvereinbarungen nicht mehr anerkennen; deswegen ist der Gr. Senat des BAG angerufen27. Freilich wollen auch die anderen Senate des BAG die Betriebsvereinbarung kurz halten; sie wird sowohl einer abstrakten als auch konkreten Billigkeitskontrolle unterworfen 28 . Demgegenüber ist zu erwägen, der Betriebsvereinbarung ebensoviel Spielraum zur Abdingung von gesetzlichen und richterrechtlichen Normen zu geben wie dem Tarifvertrag. Dies würde dem Arbeitsrecht eine beträchtliche zusätzliche Flexibilität verleihen. Damit wäre den Arbeitgebern genützt, aber auch den Betriebsräten, deren Einfluß stiege, wenn über sie die Abänderung von Normen zu erreichen wäre, die den Besonderheiten einzelner Branchen, Betriebe oder Situationen nicht gerecht werden. Daß die Arbeitnehmer dabei zu kurz kämen, ist nur zu befürchten, wenn man den Betriebsräten kein Urteil darüber zutraut, welches Maß an gesetzlichem Sozialschutz in einem Betrieb in einer konkreten Situation angemessen und möglich ist. Den Gewerkschaften gebührt freilich der Vorrang: soweit eine Materie tariflich geregelt ist, kann eine Betriebsvereinbarung nur abgeschlossen werden, wenn der Tarifvertrag dies ausdrücklich zuläßt (§77 III BetrVG). Im übrigen ermöglicht die richterliche Billigkeitskontrolle die Korrektur offenbaren Mißbrauchs. 6. Die Angst vor dem Sozialplan Während die Arbeitsgerichte die Betriebsräte verdächtigen, die Interessen der Arbeitnehmer nicht hinreichend zu vertreten, werden die von den Betriebsräten im Rahmen des § 112 BetrVG abgeschlossenen Sozialpläne heftig kritisiert, weil sie häufig übermäßige Leistungen an Arbeit26 BAG AP Nr. 63 §611 BGB Gratifikation: Beruht eine Gratifikationszahlung auf einer Betriebsvereinbarung, sind die für eine freiwillige, auf einer einzelvertraglichen Vereinbarung beruhenden Gratifikationsrückzahlungsklausel aufgestellten Grundsätze maßgeblich. Die Rechtslage ist in einem solchen Fall eine andere, als wenn die Regelung auf einem Tarifvertrag beruht. 27 BAG AP Nr. 4, 6 § 77 BetrVG. 28 BAG D B 1982, 242.
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nehmer festsetzten. Dabei spielt nicht nur die objektive Rechtslage und Praxis des Sozialplans eine Rolle, sondern vor allem die Angst vor dem Sozialplan. Diese beruht darauf, daß die gesetzliche Regelung keine Höchstgrenzen des erzwingbaren Sozialplans kennt, so daß theoretisch mit unabsehbaren Belastungen zu rechnen ist. Solche Ängste erhalten einen realen Anstrich durch die nicht seltenen Fälle, in denen Großunternehmen freiwillig Sozialpläne mit sehr hohen Summen abschließen. Es ist verständlich, daß kleine und mittlere Unternehmen, wenn sie davon hören, Angst bekomen. Die Radikalkur, Sozialpläne von einer erzwingbaren zu einer freiwilligen Regelung zurückzustufen, ginge m. E. zu weit. Der Sozialplan ist ein flexibles Instrument, um in schwierigen Situationen zu einem friedlichen Ausgleich zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu kommen. Er trägt dem Umstand Rechnung, daß die Arbeitnehmer - zunehmend mit zunehmender Betriebszugehörigkeit - den Unternehmen ihre Arbeit, Kraft und Intelligenz zur Verfügung stellen, ihnen auch häufig zu Gewinn verhelfen, und deshalb eine Berücksichtigung ihrer Interessen auch in schweren Zeiten erwarten können. Im übrigen würde die Abschaffung der Sozialplanpflichtigkeit den gewünschten Effekt möglicherweise gar nicht erreichen, da dies die Zahl und die Intensität der Kündigungsschutzklagen ebenso vermehren würde wie die Bereitschaft der Gerichte, ihnen stattzugeben. Notwendig ist dagegen eine bessere Berechenbarkeit des Sozialplans; dieser darf nicht zum unkalkulierbaren Risiko werden. Der deutsche Juristentag 1982 hat die Einführung einer Obergrenze gefordert". Uber die Höhe kann man verschiedener Meinung sein30. Die gegenwärtige Sozialplanpraxis würde inhaltlich nicht wesentlich geändert, aber transparenter und damit berechenbarer gemacht, wenn die Höchstgrenzen für Abfindungen, die nach §§9, 10 KSchG bei sozial ungerechtfertigter Kündigung und nach §113 BetrVG bei unterlassenem oder verletztem Interessenausgleich zu zahlen sind, auf den erzwingbaren Sozialplan übertragen würden. Freiwillige Sozialpläne blieben davon unberührt. Die Übertragung dieser Abfindungsvorschriften auf den Sozialplan war schon während der parlamentarischen Beratung des BetrVG vorgeschlagen worden, damals aber aus unklaren Gründen nicht akzeptiert worden31. Dies hat zu dem widersprüchlichen Ergebnis geführt, daß die erzwingbare Sozialplanabfindung wegen rechtmäßiger Kündigung höher sein kann als die gerichtlich festzusetzenden Abfindungen wegen rechts29
Sitzungsbericht Μ des 54.DJT, 241, für das Reorganisationsverfahren. S. Beuthien, Sozialplan und Unternehmensverschuldung, 64; ders. ZIP 1980, 87; Hanau, Gutachten Ε für den 54. DJT, 45. 31 Dazu Dietz/Richardi, BetrVG, 6. Aufl., §112 Rdn.63. 30
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widriger Kündigung. Außerdem ist es rechtsstaatlich bedenklich, die Unternehmen im Fall von Betriebsänderungen einer der H ö h e nach unbegrenzten Belastung auszusetzen. Der Sozialplan würde seine Unkalkulierbarkeit für die Arbeitgeber ganz verlieren, wenn das Risiko versicherungsmäßig abgedeckt werden könnte. Eine unmittelbare Versicherung des Sozialplanrisikos dürfte freilich nicht finanzierbar sein32. Neuerdings wird in Kreisen der Privatversicherung diskutiert, eine private Zusatzversicherung gegen Arbeitslosigkeit zu schaffen. Käme es dazu, wären Betriebsvereinbarungen denkbar, in denen der Arbeitgeber die Kosten einer solchen Versicherung ganz oder teilweise übernimmt und dafür ganz oder teilweise von einer späteren Sozialplanpflichtigkeit freigestellt wird. Freilich wäre der Mißbrauchsanreiz einer solchen Regelung f ü r Arbeitgeber und Arbeitnehmer erheblich. 7. Vertragsfreiheit
bei der Lohnfortzahlung
im
Krankheitsfall
Nach geltendem Recht kann die Pflicht des Arbeitgebers zur 6wöchigen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall durch Tarifvertrag in begrenztem Umfang, durch Betriebsvereinbarung und Einzelvertrag gar nicht eingeschränkt werden. Dabei ist der Spielraum des Tarifvertrages bei Angestellten und Arbeitern verschieden. Bei Angestellten kann nach §616 II S. 2 die Dauer, bei Arbeitern nach §2 III LFG die H ö h e der Lohnfortzahlung begrenzt werden. Der Zulassung einer weitergehenden Vertragsfreiheit steht hier entgegen, daß sie zu Lasten Dritter, nämlich der gesetzlichen Krankenkassen gehen müßte, die den krankheitsbedingten Entgeltausfall durch Krankengeld abdecken müssen. Dieses Bedenken würde freilich geringer, wenn eine kollektiv- oder einzelvertragliche Einschränkung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall nur in der Form zugelassen würde, daß der Arbeitgeber einen Zusatzbeitrag an die jeweils zuständige Krankenkasse zahlt, die entsprechend Krankengeld vom ersten Krankheitstag an zu gewähren hätte. N o c h mehr Raum bliebe für individuelle Gestaltung, wenn die gesetzliche Pflicht zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall abgelöst werden könnte durch einen vom Arbeitgeber an den Arbeitnehmer zu zahlenden Beitrag, der zu entsprechender Eigenvorsorge ausreicht. Erwägenswert ist m. E. auch, die Entgeltsicherung bei Mehrfacherkrankung in größerem Umfang vertraglicher Disposition zuzuführen. Z. Zt. ist der Arbeitgeber nach jeder Erkrankung zu 6wöchiger Entgeltfortzahlung verpflichtet, auch mehrfach im Jahr. N u r bei Wiederholung
32 S. die entsprechende Überlegung zum Insolvenzschutz von Sozialplänen Hanau, Gutachten Ε für den 54. DJT, 79 m. w. N.
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derselben Krankheit gibt es eine Einschränkung (§1 I S. 2 LFG). Diese Regelung ist problematisch, weil sie die Risikoübernahme durch den Arbeitgeber weit über 6 Wochen hinaus ausdehnen kann und weil nicht leicht definierbar und feststellbar ist, wann dieselbe oder wann eine andere Krankheit vorliegt. Außerdem zwingt diese Regelung dazu, den Arbeitgebern ausnahmsweise einen Anspruch auf Mitteilung der Diagnose zu geben. All dies könnte vermieden werden, wenn die Entgeltfortzahlung wegen Krankheit generell durch Vertrag auf 6 Wochen im Jahr begrenzt werden und die Entgeltsicherung bei darüber hinausgehenden Erkrankungen den Krankenkassen überlassen werden könnte. 8. Befristung von Arbeitsverhältnissen O b mehr Freiheit für die Vereinbarung befristeter Arbeitsverhältnisse gewährt werden soll, ist umstritten. Während die Bundesregierung, wie oben erwähnt, eine Verlängerung der Zeiträume für befristete Arbeitsverhältnisse erwägt, lehnen die Gewerkschaften dies strikt ab. Nach einem Bericht im Kölner Stadt-Anzeiger vom 22.9.1983 hat der D G B Minister Blüm Unkenntnis des geltenden Arbeitsrechts vorgeworfen. Denn Zeitverträge seien auch nach geltendem Recht zulässig. Die Gerichte verlangten lediglich das Vorliegen eines sachlich anerkennenswerten Grundes, um eine Umgehung des KSchG zu vermeiden. Weitergehende Vertragsfreiheit sei in diesem Bereich deshalb ungerechtfertigt. Der D G B hat die Problematik damit scharf beleuchtet: Gibt es ein legitimes Bedürfnis für die Ausweitung befristeter Arbeitsverträge, obwohl die Rechtsprechung die Befristung aus sachlichem Grund bereits anerkennt? Sollen nun unbegründete Befristungen zugelassen werden? Um dies zu beantworten, muß man einmal grundsätzlich ansetzen: Das Arbeitsrecht will soziale Sicherheit gewähren, insbesondere die Stetigkeit der Arbeitsverhältnisse. Die Wirtschaft, von der die Arbeitsverhältnisse des privaten Dienstes abhängen, unterliegt aber der gegenteiligen Regel: Sie ist unsicher und unstetig. Das Arbeitsrecht kann dies wegen seiner realen Verflechtung mit dem Wirtschaftsleben nicht ignorieren, wie es andererseits auch nicht zur bloßen Vollzugsordnung des wirtschaftlichen Kalküls werden darf. Das Arbeitsrecht der sozialen Marktwirtschaft muß beidem gerecht werden, dem sozialen Ideal der Stetigkeit und Sicherheit ebenso wie der Realität wirtschaftlicher Unstetigkeit und Unsicherheit. Mit anderen Worten: Das sichere, stetige Arbeitsverhältnis muß die Regel sein, aber es muß auch genug Freiraum geben zur Befriedigung wechselnder wirtschaftlicher Bedürfnisse. Die Arbeitsgerichtsbarkeit trägt dem u.a. Rechnung, indem sie die Befristung von Arbeitsverhältnissen aus sachlichen Gründen anerkennt. Dafür werden gerichtlich nachprüfbare Gründe gefordert, vor allem auch Gewißheit oder eine verläßliche Prognose, wo in der Realität
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gerade Unsicherheit herrscht, nämlich bei der Beurteilung, wie lange ein zusätzlicher Bedarf an Arbeitskräften bestehen wird. Wir stehen hier vor einem Dilemma. Die wirtschaftliche Unsicherheit kann kein allgemeiner und dauernder Grund für die Befristung von Arbeitsverhältnissen sein, denn sonst wäre der Bestandsschutz der Arbeitsverhältnisse beseitigt. Andererseits wird dieser Bestandsschutz in potentiell beschäftigungshemmender Weise überzogen, wenn er kompromißlos gegen die wirtschaftliche Realität durchgesetzt werden soll. Die Rechtsprechung hat einen Mittelweg gesucht, indem sie die Befristung bei sachlichen Gründen zuläßt. Dies trifft aber eben auf das Bedenken, daß der wichtigste Befristungsgrund, die Unsicherheit über die Fortdauer der Beschäftigungsmöglichkeit, einer gerichtlichen Kontrolle auf sachliche Rechtfertigung schwer zugänglich ist. Deshalb gilt es nach zusätzlichen Gestaltungsmöglichkeiten zu suchen, die der wirtschaftlichen Realität verstärkt Rechnung tragen, ohne den Sozialschutz wesentlich abzubauen. Μ. E. ist es auch hier unbedenklich, Tarifvertrag und Betriebsvereinbarung freien Raum zu geben". Die Arbeitsgerichte werden von sich nicht behaupten können, daß sie generell besser als Tarifparteien und Betriebsräte in der Lage seien, die sachliche Berechtigung einer Befristung von Arbeitsverträgen zu überprüfen. N u r im Fall offensichtlichen Mißbrauchs ist die gerichtliche Kontrolle unentbehrlich. Arbeitsvertragliche Befristungen werden bisher unabhängig von dem Nachweis eines sachlichen Grundes in 2 Fällen zugelassen: Wenn sie 6 Monate nicht übersteigen und wenn sie auf Wunsch des Arbeitnehmers erfolgen34. Erstere Ausnahme ergibt sich daraus, daß der allgemeine gesetzliche Kündigungsschutz nach § 1 KSchG erst nach 6monatiger Beschäftigung einsetzt; vorher kann er deshalb durch Befristungen nicht umgangen werden. Der Bundesregierung schwebt anscheinend vor, die 6-Monats-Grenze bestehen zu lassen, erstmalige Befristungen aber bis zur Dauer eines Jahres zuzulassen. Dies würde bedeuten, daß der gesetzliche Kündigungsschutz in stärkerem Maße als bisher zeitlich abgestuft würde: In den ersten 6 Monaten eines Beschäftigungsverhältnisses kein gesetzlicher Kündigungsschutz; 6 weitere Monate durch Befristung abdingbarer Kündigungsschutz; danach Kündigungsschutz, soweit nicht sachliche Gründe für eine Befristung des Arbeitsverhältnisses vorliegen. Für eine solche Regelung lassen sich immerhin zwei 33 N a c h der Rechtsprechung des B A G , A P N r . 35, 36, 43 §620 BGB Befristeter Arbeitsvertrag, sind die Tarifparteien von der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Zulässigkeit befristeter Arbeitsverträge nicht freigestellt, dürfen diese aber konkretisieren. 34 Zur 6 Monatsfrist B A G A P N r . 20, 45, 71 a. a. O . ; zum Wunsch des Arbeitnehmers Nr.42 a.a.O.
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Gründe anführen: der allgemein anerkannte Gedanke, daß die Intensität des Sozialschutzes im Verhältnis zur Dauer der Beschäftigung stehen sollte, ferner, daß die unternehmerische Einschätzung der zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung nur in begrenztem Maße gerichtlich nachprüfbar ist. An die Befristung von Arbeitsverhältnissen auf Wunsch des Arbeitnehmers werden von der Rechtsprechung zu Recht strenge Anforderungen gestellt. Die Befristung muß dem Interesse des Arbeitnehmers entsprechen und seine Zustimmung darf ihm nicht abgenötigt sein"'. Darin kommt wieder der allgemeine Gedanke zum Ausdruck, daß die Vertragsfreiheit Anerkennung verdient, wo sie nicht zur Anerkennung einseitiger Vertragsdiktate führt. Von Seiten der Volkswirtschaftslehre (u. a. Prof. Dr. Wolfram Engels, Frankfurt) stammt der Gedanke, verschiedene Typen von Arbeitsverhältnissen mit verschiedener Intensität des Sozialschutzes zu entwickeln. Dies wäre jedenfalls dann kein unzumutbarer Abbau sozialer Rechte, wenn dem Arbeitnehmer die freie Wahl zwischen den verschiedenen Modellen überlassen bliebe. Die Rechtsprechung hat diese Überlegung vorweg genommen, indem sie die Befristung des Arbeitsverhältnisses und damit die vertragliche Abbedingung des Kündigungsschutzes auf Wunsch des Arbeitnehmers anerkennt. III. Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit des Sozialschutzes Das Bundesarbeitsgericht hat in letzter Zeit mehrfach auf die große Bedeutung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit für das Arbeitsrecht hingewiesen35. Dieser Grundsatz muß auch für Beschränkungen marktwirtschaftlicher Handlungsfreiheit durch soziale Gesetze gelten. Wo kein Schutz erforderlich ist, sollte keiner gewährt werden; wo ein besonders intensives Schutzbedürfnis besteht, sollten besondere Schutzvorschriften bestehen, die freilich so gefaßt sein müssen, daß sie die Geschützten nicht von Beschäftigungsmöglichkeiten ausschließen. Dies ist in der Tat der Grundgedanke des geltenden Arbeitsrechts. Es gibt aber eine ganze Reihe von Ausnahmeregelungen, die mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unvereinbar sein dürften. Das bekannteste Beispiel ist wohl die Rechtsprechung des BAG 3 ', nach der Betriebsrenten gem. § 16 BetrAVG auch dann an die Geldent34
· Nachweise Fn. 34. BAG AP Nr. 43 Art. 9 G G Arbeitskampf; N r . 2, 5, 6, 7, 9, 10 §40 BetrVG 1972, besonders AP N r . 18 §37 BetrVG 1972: der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beherrsche „das gesamte Arbeitsrecht". Dazu Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981, 32 f. 54 AP N r . 5, 7, 8 § 16 BetrAVG; dazu Höfer/Abt, BetrAVG, 2. Aufl., I, § 16 Rdn. 125. 35
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wertung anzupassen sind, wenn diese durch eine Erhöhung der Sozialrenten ganz oder teilweise ausgeglichen wurde. Dies kann zu Sozialschutz ohne soziale Bedürftigkeit und zu richterlichen Eingriffen in betriebliche Altersversorgungen führen, die angesichts der Lage des Arbeitnehmers unverhältnismäßig erscheinen. Auch bei dem Sozialplan gem. § 112 BetrVG besteht das BAG37 nicht auf dem Nachweis der Erforderlichkeit des Sozialschutzes. Die Einigungsstellen seien nämlich befugt, von der konkreten Situation der von einer Betriebsänderung betroffenen Arbeitnehmer abzusehen und pauschale Abfindungen festzusetzen. Diese Rechtsprechung kann man nicht pauschal verwerfen, denn sie hat einige gute Gründe für sich. Vor allem ist bei der Aufstellung des Sozialplans häufig noch gar nicht zu übersehen, wie sich die wirtschaftliche Lage der betroffenen Arbeitnehmer entwickeln wird. Ferner würden entlassene Arbeitnehmer von Bemühungen um einen anderen Arbeitsplatz abgehalten, wenn die Sozialplanabfindung vom Fortbestehen der Arbeitslosigkeit abhinge. All dies verliert aber seine Berechtigung, wenn bei der Aufstellung des Sozialplans feststeht oder wenigstens wahrscheinlich ist, daß sich die wirtschaftliche Lage bestimmter Arbeitnehmer nicht oder nicht wesentlich verschlechtert hat oder verschlechtern müßte. Dies betrifft vor allem Arbeitnehmer mit einer guten Position am Arbeitsmarkt. Hier kann die unterschiedslose Gewährung von Sozialplanleistungen gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen, da eine soziale Leistung ohne soziale Bedürftigkeit und damit ohne Erforderlichkeit gewährt würde. Dies ginge nicht nur auf Kosten des Arbeitgebers, sondern auf Kosten bedürftiger Arbeitnehmer; insofern würde es sich um einen Unsozialplan handeln. Während es in diesen Fällen an jeder Erforderlichkeit des Sozialschutzes fehlte, fehlt es in anderen Fällen an der Abstufung von sozialem Schutz und sozialer Bedürftigkeit. So sind die arbeitsrechtlichen Rechte und Pflichten der Schwerbehinderten nicht nach dem Grad der Schwerbehinderung abgestuft. §5 SchwerbehindertG bestimmt aber, daß sich unter den von den Arbeitgebern im Rahmen der Pflichtquote zu beschäftigenden Schwerbehinderten in angemessenem Umfang solche mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 8 0 % , solche, die das 55. Lebensjahr vollendet haben und solche befinden müssen, die nach Art und Schwere ihrer Behinderung besonders betroffen sind. Das Arbeitsamt kann die Anrechnung solcher Schwerbehinderter auf mehr als einen Pflichtplatz zulassen (§ 7 VI). Daran anknüpfend könnte der arbeitsrechtliche Schwerbehindertenschutz in größerem Maße von dem 37
AP Nr. 6 §112 BetrVG Bl. 105.
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Grad oder der Berufsbezogenheit der Behinderung abhängig gemacht werden38. IV. Ergebnis Die vorstehenden Überlegungen sollten an wenigen Beispielen zeigen, daß das Verhältnis von sozialer und marktwirtschaftlicher Komponente des Arbeitsrechts ständiger Uberprüfung bedarf. Insbesondere muß nach Möglichkeiten gesucht werden, den Bereich des Marktwirtschaftlichen, insbesondere der Vertragsfreiheit, dort auszuweiten, wo es nicht oder nicht wesentlich auf Kosten des Sozialschutzes geht. Eine solche schmerzlose Harmonisierung von sozialer und marktwirtschaftlicher Komponente ist vor allem dadurch möglich, daß zwingende arbeitsrechtliche Eingriffe nur dort vorgenommen werden, wo die Vertragsparität gestört ist und ein soziales Schutzbedürfnis besteht. Dieser Gedanke ist simpel, im geltenden Recht aber noch keineswegs verwirklicht.
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S. Thieler, Die Anerkennung als Schwerbehinderter, Diss. jur. Köln 1984.
Konkurrenzschutz privater Makler gegenüber den öffentlich-rechtlichen Sparkassen im Bereich der Immobilienvermittlung DIETER HECKELMANN
A. Problemstellung Die Frage, ob überhaupt, inwieweit und auf welche Art und Weise sich private Unternehmen gegen die Konkurrenz der sich ebenfalls wirtschaftlich betätigenden öffentlichen Hand wehren können, ist seit langem Gegenstand kontroverser Diskussionen 1 . Angesichts anhaltender Konjunkturschwäche und zunehmender wirtschaftlicher Aktivitäten der öffentlichen Hand gewinnt diese Problematik jedoch mehr und mehr an Aktualität 2 . Als Beispiel ist in diesem Zusammenhang die ständige Ausweitung wirtschaftlicher Betätigungen durch die in öffentlich-rechtlicher Form betriebenen Sparkassen zu nennen3. Im 19. Jahrhundert als Spareinrichtungen für die minderbemittelten Bevölkerungskreise geschaffen, nehmen sie heute nicht nur längst sämtliche bankgeschäftlichen Aufgaben wahr 4 , sondern versuchen auch in anderen Betätigungsbereichen, die mit den traditionellen Bankgeschäften nichts zu tun haben, Fuß zu fassen. Als wirtschaftlich besonders ins Gewicht fallend ist hier die in neuerer Zeit von den Sparkassen zunehmend praktizierte Immobilienvermittlung zu nennen5. Die Ausweitung der Geschäftstätigkeit der Sparkassen hat insoweit dazu geführt, daß sich die privaten Makler einer neuen ernstzunehmenden Konkurrenz ausgesetzt sehen, die ihnen gegenüber einen u . U . erheblichen Wettbewerbsvorsprung
1 Vgl. etwa Emmerich, Das Wirtschaftsrecht der öffentlichen Unternehmen, 1969; Grupp, Z H R 140 (1976), 367ff.; Klein, Die Teilnahme des Staates am wirtschaftlichen Wettbewerb, 1968; Püttner, Die öffentlichen Unternehmen, 1969; Schricker, Wirtschaftliche Tätigkeit der öffentlichen Hand und unlauterer Wettbewerb, 1964. 2 Vgl. aus neuester Zeit Hubmann, Wirtschaft und Verwaltung (Beilage zum Gewerbearchiv) 1982, 41 ff.; Ulmer, Z H R 146 (1982), 466ff. 3 Die Sparkassen werden überwiegend als rechtsfähige Anstalten des öffentlichen Rechts betrieben; die sog. freien Sparkassen wurden dagegen auf privatrechtlicher Grundlage errichtet. 4 Vgl. Stem/Burmeister, Die kommunalen Sparkassen, 1972, S. 1 ff. 5 Vgl. etwa Klüpfel, Das Sparkassenrecht in Baden-Württemberg, Teil III, 2. Aufl. 1978, Kommentar zur Sparkassen-Satzung, § 18 Nr. 14 Anm.3.
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genießt; abgesehen von der durch die Kopplung des Bankgeschäfts mit dem Immobiliensektor erleichterten Geschäftsanbahnung im Bereich der Grundstücksvermittlung, bringt das Publikum nämlich den Sparkassen ein besonderes Vertrauen entgegen, das seine Grundlage in dem öffentlichen Status der Sparkassen hat. Dabei ist die Erstreckung der wirtschaftlichen Betätigung der Sparkassen auf die Immobilienvermittlung sparkassenrechtlich durchaus nicht unbedenklich. Es stellt sich nämlich die Frage, ob die Wahrnehmung der Grundstücksvermittlung mit dem in den Sparkassengesetzen der Länder normierten öffentlichen Auftrag der Sparkassen vereinbar ist'. Hier kommt die „Zwitterstellung" der Sparkassen als im Spannungsfeld zwischen Wettbewerbswirtschaft einerseits und öffentlichen Aufgaben verpflichteter Verwaltung andererseits stehende öffentliche Unternehmen voll zum Tragen 7 . Damit drängt sich die Frage auf, ob und gegebenenfalls welche Möglichkeiten die privaten Makler haben, die Immobilienvermittlung durch die Sparkassen zu unterbinden oder zumindest deren u . U . existenzbedrohende Wirkung zu beseitigen. Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst erforderlich, die Reichweite des öffentlichen Auftrages der Sparkassen auszuloten. B. Grenzen des öffentlichen Auftrags der Sparkassen Sämtliche Sparkassengesetze der Länder enthalten Vorschriften über den Aufgabenkreis der Sparkassen. Dieser ist etwa in § 2 Berliner Sparkassengesetz 8 dahingehend festgelegt, daß die Sparkassen den Spargedanken zu pflegen und zu fördern haben; sie geben Gelegenheit, Spargeld sicher und verzinslich anzulegen, und dienen der Befriedigung des örtlichen Kreditbedarfs, insbesondere des Mittelstandes und der wirtschaftlich schwächeren Bevölkerungskreise. Nach § 2 Sparkassengesetz/Rheinland-Pfalz' erbringen die Sparkassen geld- und kreditwirtschaftliche Leistungen, wobei ihnen insbesondere die sichere Anlage von Geldern, die Förderung des Sparens und anderer Formen der Vermögensbildung, die Sicherung der örtlichen Kreditversorgung, die Unterrichtung der Bevölkerung in geld- und kreditwirtschaftlichen Angelegenheiten sowie die Förderung des Sparsinns der Jugend obliegt. Auch nach § 2 Hessisches Sparkassengesetz10 haben die Sparkassen die Auf6 Ablehnend etwa Heinevetter, Sparkassengesetz Nordrhein-Westfalen, 2. Aufl., Stand 1982, SparkVO §31 Anm. 10 a.E. 7 Vgl. Brzoska, Die öffentlich-rechtlichen Sparkassen zwischen Staat und Kommunen, 1976, S. 12. ' Sparkassengesetz vom 13.7.1960 (GVB1. S.662) in der Fassung vom 2 8 . 6 . 1 9 7 3 (GVB1. S.970). ' Sparkassengesetz vom 1 . 4 . 1 9 8 2 (GVB1. 1982, S. 113). 10 Sparkassengesetz vom 2 . 1 . 1 9 7 3 (GVB1. I S. 16, 54, 422), geändert durch Art. 11 des Gesetzes vom 2 1 . 1 2 . 1 9 7 6 (GVB1. I S. 36).
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gäbe, geld- und kreditwirtschaftliche Leistungen zu erbringen. In entsprechender Weise sieht §3 Sparkassengesetz/Nordrhein-Westfalen" vor, daß die Sparkassen der kreditwirtschaftlichen Versorgung der Bevölkerung, insbesondere des Geschäftsgebietes und ihres Gewährträgers dienen. Die aufgeführten Beispiele zeigen bereits, daß trotz im einzelnen unterschiedlicher Gesetzesfassungen der öffentliche Auftrag für alle Sparkassen übereinstimmend dahingehend festgelegt ist, daß sie der kreditwirtschaftlichen Versorgung der Bevölkerung zu dienen bestimmt sind, also bankmäßige Aufgaben wahrzunehmen haben12. Zu diesen in den Sparkassengesetzen ausdrücklich genannten bankmäßigen Tätigkeiten gehört die Grundstücksvermittlung aber zweifellos nicht13. Es darf allerdings nicht übersehen werden, daß die einschlägigen gesetzlichen Regelungen zum Teil bewußt unbestimmt ausgestaltet sind. So gehört es nach § 3 Sparkassengesetz/Nordrhein-Westfalen „vor allem" zu den Aufgaben der Sparkassen, den Sparsinn und die Vermögensbildung zu fördern. Noch unklarer äußert sich etwa § 6 S. 4 Sparkassengesetz/Baden-Württemberg 14 , nach dem die Sparkassen die in der Satzung zugelassenen Geschäfte betreiben; die aufgrund § 7 Sparkassengesetz/Baden-Württemberg erlassene Satzung bestimmt in §§ 3 bis 18 die zulässigen Geschäfte der Sparkassen, bei denen es sich zwar im wesentlichen wiederum nur um typische Bankgeschäfte handelt. Nach § 18 N r . 14 der Satzung ist die Sparkasse jedoch befugt, „sonstige Geschäfte, die von der Rechtsaufsichtsbehörde allgemein oder im Einzelfall zugelassen werden", zu betreiben. Diese allgemeine Formulierung hat dazu geführt, daß einer großen Zahl von Sparkassen das Grundstücksmaklergeschäft gestattet worden ist15. Dennoch ist zweifelhaft, ob angesichts der Unbestimmtheit der die Aufgaben der Sparkassen regelnden Vorschriften davon ausgegangen werden kann, daß auch Betätigungen nicht bankgeschäftlicher Art, also etwa die Grundstücksvermittlung, zum öffentlichen Auftrag der Sparkassen gehören16. Die exemplarische Aufzählung ausschließlich bankmäßiger Tätigkeiten in den Sparkassengesetzen spricht eher dafür, daß die Landesgesetzgeber den Sparkassen lediglich im Rahmen des in den einschlägigen Vorschriften eindeutig zum Ausdruck gebrachten öffentlichen Auftrages, nämlich der Befriedi-
" Sparkassengesetz vom 2.7.1975 (GVB1. S. 498), geändert durch Gesetz vom 18.9.1979 (GVB1. S.552). 12 Vgl. Brzoska (Fn. 7), S. 15; Heinevetter, Sparkassengesetz Nordrhein-Westfalen, 2. Aufl., Stand 1982, § 3 Anm. 1 f.; Stern/Burmeister (Fn.4), S. 69ff. " Zutr. Heinevetter (Fn. 6). 14 Sparkassengesetz vom 4.4.1975 (GBl. S.270). 15 Vgl. Klüpfel, Das Sparkassenrecht in Baden-Württemberg, Teil III, Kommentar zur Sparkassen-Satzung, § 18 N r . 14 Anm. 3. 16 Vgl. Heinevetter (Fn. 6).
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gung des Kreditbedarfs und der Wahrnehmung sonstiger banküblicher Geschäfte, einen Betätigungsspielraum einräumen wollten17. Ein solcher Spielraum ist auch durchaus notwendig, weil die Aufgaben der Sparkassen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung folgen müssen und damit einem Wandel und auch einer Erweiterung unterliegen18. Eine darüber hinausgehende generelle Ermächtigung zu allen denkbaren Geschäften kann dagegen den die Aufgabezuweisung an die Sparkassen regelnden Vorschriften nicht entnommen werden". Wenn danach auch davon auszugehen ist, daß die Sparkassen nicht zur Immobilienvermittlung gesetzlich ermächtigt sind, so bleibt doch zu überlegen, ob sie nicht auch ohne eine solche gesetzliche Ermächtigung zur Aufnahme von Tätigkeiten nicht bankgeschäftlicher Art befugt sind. Insoweit ist aber zu berücksichtigen, daß die Sparkassen regelmäßig rechtsfähige Anstalten des öffentlichen Rechts sind20. Als solche sind sie nur im Rahmen des ihnen durch Gesetz, Rechtsverordnung oder Satzung übertragenen Funktionsbereichs, also nur zur Erfüllung der ihnen gestellten öffentlichen Aufgabe, zu handeln befugt 21 . Die sparkassenrechtlichen Vorschriften über den Aufgabenkreis der Sparkassen sind mithin abschließend22. Die Notwendigkeit der Beschränkung der Sparkassen auf deren öffentlichen Auftrag leuchtet auch durchaus ein, wenn man bedenkt, daß eine autonome Aufgabenerweiterung über die öffentliche Aufgabe hinaus die Verwirklichung der eigentlichen kreditwirtschaftlichen Funktion durch die Sparkassen gefährden würde, sei es wegen der kaum abzuschätzenden wirtschaftlichen Risiken der sonstigen Tätigkeiten, sei es, daß die für die sonstigen Betätigungen bereitgestellten finanziellen Mittel und Arbeitskräfte der kreditwirtschaftlichen Aufgabe verlorengingen. Nach allem ist als Zwischenergebnis festzuhalten, daß die gesetzliche Funktionszuweisung an die Sparkassen ausschließlich bankmäßige Tätigkeiten erfaßt, wozu die Grundstücksvermittlung nicht gehört, und daß die Rechtsstellung der Sparkassen als öffentlich-rechtli-
17 Vgl. Klüpfel, Das Sparkassenrecht in Baden-Württemberg, Teil III, Kommentar zur Sparkassen-Satzung, § 18 Nr. 14 Anm. 1. 18 Zutr. Klüpfel, Das Sparkassenrecht in Baden-Württemberg, Teil I, Kommentar zum Sparkassengesetz, 2. Aufl. 1975, §6 Anm. 8. " Vgl. etwa Brzoska (Fn. 7), S. 16 ff., 75; Heinevetter (Fn. 12). 20 Vgl. etwa § 2 Sparkassengesetz/Nordrhein-Westfalen, § 1 Hessisches Sparkassengesetz, §1 Sparkassengesetz/Baden-Württemberg; vgl. ferner BVerwGE 41, 195 (196); Brzoska (Fn. 7), S. 11. 21 Dies entspricht der anerkannten ultra-vires-Lehre; vgl. allgemein B G H D O V 1956, 310 (311); B G H N J W 1969, 2198f.; BVerwGE 34, 69 (74); BVerwGE 59, 231 (238); BVerwG BB 1981, 2125; Brzoska (Fn. 7), S.26; Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht I, 9. Aufl. 1974, §32 III c 1. 22 Brzoska (Fn. 7), S. 75.
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che Anstalten diesen die autonome Aufnahme nicht bankgeschäftlicher Betätigungen wie der Grundstücksvermittlung untersagt. C. Möglichkeiten des Rechtsschutzes privater Makler Mit der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Immobilienvermittlung durch die Sparkassen stellt sich zwangsläufig die Frage des Rechtsschutzes privater Makler. Hier geht es zum einen um das Problem, welcher Rechtsweg gegeben ist, zum andern ist zu untersuchen, ob den Maklern gegen die Sparkassen materiellrechtliche Ansprüche auf Unterlassung der Grundstücksvermittlung überhaupt oder auch nur bestimmter Wettbewerbshandlungen zustehen.
I.
Rechtsweg
O b für Klagen Privater gegen wirtschaftliche Betätigungen der öffentlichen Hand die ordentlichen Gerichte oder die Verwaltungsgerichte zuständig sind, hängt davon ab, ob es sich dabei um bürgerliche Rechtsstreitigkeiten oder um öffentlich-rechtliche Streitigkeiten handelt (§§13 G V G , 40 I V w G O ) . Bei der Prüfung dieser Frage ist auf die Natur des Klagebegehrens abzustellen; danach kommt es entscheidend darauf an, ob der Sachverhalt, aus dem sich das Klagebegehren ergibt, nach bürgerlichem Recht oder nach öffentlichem Recht zu beurteilen ist23. Die spezifische Problematik liegt hier darin, daß die wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand sowohl öffentlich-rechtliche Fragen als auch solche des privaten Wettbewerbsrechts aufwirft24. In Rechtsprechung und Schrifttum wird daher überwiegend zwischen der Aufnahme öffentlicher Wirtschaftstätigkeit als solcher und der Art und Weise der Wettbewerbsteilnahme durch die öffentliche Hand unterschieden25. Die Frage, ob eine wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand zulässig ist, unterliegt nach dieser Auffassung nicht wettbewerbsrechtlicher Beurteilung, sondern ist anhand öffentlich-rechtlicher Normen, primär anhand der Rechtsgrundlagen der jeweils betroffenen juristischen Person des öffentlichen Rechts zu entscheiden. Damit handelt es sich insoweit um öffentlich-rechtliche Streitigkeiten, für die der
23 Vgl. BGH NJW 1976, 1794; BGH DVB1. 1982, 945 (946) jeweils m . w . N . ; ferner Baumbach/Hefermehl, Wettbewerbsrecht, 14. Aufl. 1983, Allg. Rdn. 164 ff. 24 Vgl. im einzelnen Baumbach/Hefermehl, Wettbewerbsrecht, Allg. Rdn. 167 ff. 25 Vgl. BVerwGE 39, 329 (331, 337); BGH GRUR 1974, 733; BGH GRUR 1976, 658; Grupp, ZHR 140 (1976), 367 (391 f.); Püttner, GRUR 1964, 359 (361); vgl. auch Klein, Die Teilnahme des Staates am wirtschaftlichen Wettbewerb, 1968, S. 242 f.: Das UWG besagt nichts darüber, wer in den Wettbewerb eintreten darf, sondern nur, wie er ausgeübt werden muß; ferner Püttner (Fn. 1), S. 373.
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Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten gegeben ist26. Nur die Art und Weise der Marktteilnahme der öffentlichen Hand unterliegt nach dieser Ansicht wettbewerbsrechtlicher Beurteilung; zwischen der öffentlichen Hand und privaten Konkurrenten besteht insoweit ein durch Gleichordnung der Beteiligten gekennzeichnetes und damit privatrechtliches Wettbewerbsverhältnis mit der Konsequenz, daß für Streitigkeiten aus diesem Verhältnis der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten gegeben ist27. Der BGH ist allerdings in einigen Entscheidungen der Differenzierung zwischen der Zulässigkeit der wirtschaftlichen Betätigung der öffentlichen Hand überhaupt und der Art und Weise dieser Tätigkeiten nicht gefolgt. So hat er bereits in den bekannten Blockeisentscheidungen den Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten auch insoweit angenommen, als es um die Aufnahme einer wirtschaftlichen Tätigkeit durch die öffentliche Hand ging, und zwar mit der Begründung, daß die öffentliche Hand ihr Unternehmen im Verhältnis zu den Benutzern privatrechtlich organisiert hatte28. In einer anderen Entscheidung untersagte der BGH einer Landwirtschaftskammer, einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, nach § 1 UWG die Beteiligung an einer Messe-GmbH 29 . In zwei neueren Entscheidungen, in denen gesetzlichen Krankenkassen der Verkauf von Brillen an die Mitglieder nach § 1 UWG untersagt wurde, sah der BGH ebenfalls den Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten auch für die Frage der Zulässigkeit wirtschaftlicher Tätigkeiten der öffentlichen Hand als gegeben an; zur Begründung stellte der BGH hier entscheidend darauf ab, daß die Krankenkassen mit dem Verkauf von Brillen zu den selbständigen Augenoptikermeistern und -betrieben in ein Wettbewerbsverhältnis traten, das bürgerlichem Recht unterfällt30. Auch im Schrifttum ist die Unterscheidung zwischen der Aufnahme wirtschaftlicher Tätigkeiten durch die öffentliche Hand und der Art und Weise solcher Betätigungen zum Teil abgelehnt worden31. In der Tat sprechen gewichtige Gründe gegen eine solche Differenzierung. Wenn auch das Wettbewerbsrecht primär die Art und Weise der Marktteilnahme betrifft, so muß doch berücksichtigt werden, daß im Zusammenhang mit wirtschaftlichen Betätigungen der öffentlichen 26
So etwa BVerwGE 39, 329 (331); BGH GRUR 1974, 733; Püttner, GRUR 1964, 359
(361). 27 BVerwGE 39, 329 (337); BGH GRUR 1976, 658 (660); Püttner, GRUR 1964, 359 (361); Scholz, ZHR 132 (1969), 124 (134 f.). 28 BGH GRUR 1962, 159 (160); BGH GRUR 1965, 373. 2 ' BGH GRUR 1964, 210. 30 Vgl. BGH GRUR 1982, 425 (427); die weitere einschlägige Entscheidung des BGH vom 1 8 . 1 2 . 1 9 8 1 - I ZR 116/80 - ist bisher nicht veröffentlicht. 31 Vgl. Schultz-Süchting, GRUR 1974, 700 (701); Ulmer, ZHR 146 (1982), 466 (495).
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Hand Fallgestaltungen denkbar sind, in denen wettbewerbsrechtskonforme Zustände nicht allein durch die Untersagung bestimmter unlauterer Formen der Tätigkeit geschaffen werden können, sondern nur durch die Untersagung der öffentlichen Wirtschaftstätigkeit insgesamt 32 . Zur Verdeutlichung sei hier auf die Problematik sittenwidriger Verquickung öffentlicher und privater Interessen bei wirtschaftlichen Betätigungen der öffentlichen Hand verwiesen 33 ; auch ein sittenwidriger Mißbrauch amtlicher Autorität kann u. U . nur durch die Untersagung der wirtschaftlichen Betätigung der öffentlichen Hand insgesamt beseitigt werden34. Solche spezifisch wettbewerbsrechtlichen Gesichtspunkte würden vernachlässigt und der Rechtsschutz privater Konkurrenten dementsprechend verkürzt, wollte man die Frage der Zulässigkeit öffentlicher Wirtschaftstätigkeit allein anhand der öffentlich-rechtlichen Grundlagen der jeweils betroffenen juristischen Person des öffentlichen Rechts, im Falle der Sparkassen also anhand der sparkassenrechtlichen Normen, beurteilen. Im übrigen zwingt die Auffassung, nach der den ordentlichen Gerichten die Beurteilung der Zulässigkeit öffentlicher Wirtschaftstätigkeit verwehrt ist, private Konkurrenten u. U . zu Doppelprozessen vor dem Verwaltungsgericht und dem ordentlichen Gericht; dies ist aber mit dem Grundsatz der Prozeßökonomie unvereinbar 35 . Die Zivilgerichte haben vielmehr im Rahmen der wettbewerbsrechtlichen Prüfung auch über die Vorfrage der öffentlich-rechtlichen Zulässigkeit der wirtschaftlichen Betätigung der öffentlichen Hand zu befinden 36 . Dies schließt jedoch nicht aus, daß private Konkurrenten auch unmittelbar die Verletzung öffentlich-rechtlicher Vorschriften durch die sich wirtschaftlich betätigende öffentliche Hand rügen können; insoweit ist nach § 4 0 I V w G O der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten gegeben37. Die Makler haben also die Wahl, ob sie einen wettbewerbsrechtlichen Unterlassungsanspruch (§ 1 U W G ) vor dem ordentlichen Gericht oder unmittelbar einen Verstoß der Sparkassen gegen sparkassenrechtliche Vorschriften, eventuell auch gegen Grundrechtsnormen, vor dem Verwaltungsgericht geltend machen wollen.
Zutr. Ulmer, ZHR 146 (1982), 466 (495). Vgl. hierzu BGH GRUR 1964, 210 (213); Schricker (Fn. 1), S. 181 ff.; Ulmer, ZHR 146 (1982), 466 (483 f.). 54 BGH GRUR 1964, 210 (213); zum Mißbrauch amtlicher Autorität vgl. ferner Schricker (Fn. 1), S. 168 ff.; Ulmer, ZHR 146 (1982), 466 (481 f.). 35 Zutr. Hubmann (Fn.2), S.51; vgl. ferner Ulmer, ZHR 146 (1982), 466 (480). » Zutr. Hubmann (Fn.2), S.51 (m.w.N.); vgl. i.ü. BGH NJW 1976, 1794 (1795). 37 Vgl. Hubmann (Fn.2), S.52; Lerche, JurA 1970, 821 (828ff.). 32
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II. Materiellrechtliche 1. Öffentlich-rechtlicher
Beurteilung
Unterlassungsanspruch der Makler?
Fraglich ist zunächst, ob den Maklern ein öffentlich-rechtlicher Anspruch auf Unterlassung der Grundstücksvermittlung gegen die Sparkassen zusteht. Allein der Umstand, daß das Verhalten der Sparkassen in der fraglichen Angelegenheit objektiv rechtswidrig ist, besagt noch nicht, daß den Maklern auch ein subjektives öffentliches Recht auf Unterlassung der Grundstückvermittlung zusteht. Während nämlich im Privatrecht regelmäßig die Verpflichtung des einen der Berechtigung des anderen entspricht, so daß aus einer bloßen Verpflichtungsnorm ohne weiteres auf die entsprechende Berechtigung geschlossen werden kann, ist dies im Verwaltungsrecht anders: D o r t geht es nämlich vielfach allein um die Aufrechterhaltung der objektiven Ordnung und insoweit also gerade nicht um den Ausgleich von Allgemeininteressen mit kollidierenden Zivilinteressen; daraus folgt, daß im Verwaltungsrecht nicht ohne weiteres einer Verpflichtung der öffentlichen H a n d auch eine individuelle Berechtigung einer Privatperson entspricht 38 . Beschränkt sich daher ein Rechtssatz seinem Wortlaut nach auf die Verpflichtung der öffentlichen Hand, so muß im Wege der Auslegung ermittelt werden, ob er lediglich der Herstellung eines objektiven Rechtszustandes dient oder ob durch ihn auch interessierte Privatpersonen berechtigt werden sollen 39 . I m vorliegenden Zusammenhang k o m m t es also darauf an, ob die Sparkassen durch die einschlägigen Vorschriften des Sparkassenrechts nur um öffentlicher Interessen willen zur Unterlassung wirtschaftlicher Betätigungen nicht bankgeschäftlicher Art wie der Grundstücksvermittlung verpflichtet sind oder ob zumindest auch ein Konkurrenzschutz privater Dritter, hier der Makler, bezweckt ist. Soweit den Sparkassengesetzen ein Drittschutz nicht entnommen werden kann, bleibt zu überlegen, ob sich ein solcher aus Grundrechtsbestimmungen wie Art. 2 I, 3 I, 12 I, 14 I G G ergibt.
a) Gewährung subjektiv-öffentlicher Rechte durch die Sparkassengesetze? D e n die Aufgabenzuweisung an die Sparkassen regelnden Vorschriften in den Sparkassengesetzen läßt sich unmittelbar nichts über einen eventuell beabsichtigten Drittschutz entnehmen. Zweck dieser V o r schriften ist die Festlegung des öffentlichen Auftrags der Sparkassen im Rahmen der Kommunalwirtschaft, und zwar im Sinne universeller bankgeschäftlicher Betätigung. W e n n man diesen Regelungen im H i n -
38 39
Vgl. insbes. Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht I, §43 I (m.w.N.). Wolff/Bachof {Fn.38).
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blick auf sonstige Betätigungen nicht bankgeschäftlicher Art abschließenden Charakter beimißt, so geschieht dies aus der Erwägung, daß die Sparkassen nur um ihrer begrenzten öffentlichen Aufgabe willen geschaffen wurden und auch die volle Verwirklichung dieses öffentlichen Auftrags den Ausschluß sonstiger wirtschaftlicher Betätigungen voraussetzt 40 . Mit dem Ziel einer umfassenden und sachgerechten Verwirklichung des Anstaltszwecks dienen die sparkassenrechtlichen Vorschriften über die Funktionszuweisung an die Sparkassen aber erkennbar nur der Herstellung eines objektiven Rechtszustandes. Dagegen bestehen keine Anhaltspunkte dafür, daß der aus der Aufgabenbeschränkung der Sparkassen folgende Vorteil für die privaten Makler nicht nur als zufällige Reflexwirkung des objektiven Rechts, sondern als echtes subjektiv-öffentliches Recht anzusehen ist. Die Interpretation der sparkassenrechtlichen Funktionszuweisungsnormen als Vorschriften mit Drittschutzcharakter ist daher ausgeschlossen. b) Grundrechtsschutz gegen wirtschaftliche der öffentlichen Hand?
Betätigungen
Unabhängig von der sparkassenrechtlichen Lage bleibt aber zu überlegen, ob nicht aus übergeordneten verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten Beschränkungen wirtschaftlicher Betätigungen der öffentlichen Hand hergeleitet werden können, die zugleich den Schutz privater Dritter bezwecken. Hier ist naturgemäß an Grundrechtsnormen (Art. 2 I, 3 I, 12 I, 14 I GG) zu denken, deren individualschützende Funktion sich bereits aus dem Wortlaut ergibt. Inwieweit der Wirtschaftstätigkeit der öffentlichen Hand verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt sind, ist allerdings umstritten 4 '. Weitgehende verfassungsrechtliche Beschränkungen öffentlicher Wirtschaftstätigkeit werden im Schrifttum im wesentlichen unter zwei Gesichtspunkten befürwortet. Zum einen ist versucht worden, dem Grundgesetz einen wirtschaftsverfassungsrechtlichen Grundsatz privater Wettbewerbsfreiheit zu entnehmen 42 . Daraus ist dann die Folgerung gezogen worden, die öffentliche Hand bedürfe für ihre wirtschaftliche Betätigung einer spezifischen Ermächtigung; andernfalls seien die Grundrechte privater Wettbewerber etwa aus Art. 2 I, 14 G G verletzt. 40
Vgl. etwa Heinevetter (Fn. 12). Vgl. BVerwGE 17, 306; BVerwGE 39, 329; BVerwG N J W 1978, 1539; BayVGH JZ 1976, 641; Badura, Z H R 146 (1982), 448 (459 ff.); ders., Wirtschaftsverwaltungsrecht, in: von Münch (Hrsg.): Besonderes Verwaltungsrecht, 6. Aufl. 1982, S. 273 (350); Isensee, DB 1979, 145 (150); Klein (Fn. 1), S. 176ff., 180ff.; Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, A r t . 2 Rdn.52, Art. 12 Rdn. 104, 401 ff.; Püttner (Fn. 1), S. 146f.; Ulmer, Z H R 146 (1982), 466 (468). 42 Vgl. Isensee, DB 1979, 145; ders., Festschrift für H . P . I p s e n , 1977, S.409 (431). 41
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Zum andern wird die Geltung eines allgemeinen Subsidiaritätsgrundsatzes mit Verfassungsrang befürwortet, dem in dieser Allgemeinheit Schutznormcharakter zukommen soll43. Nach dieser Ansicht gestattet ein öffentlicher Zweck für sich allein noch nicht die Errichtung wirtschaftlicher Unternehmen der öffentlichen Hand; hinzukommen muß vielmehr ein effektives Nichtausreichen der Privatwirtschaft zur Erfüllung des öffentlichen Zwecks. Fehlt es daran, so soll die Wettbewerbsfreiheit (Art. 2 I GG) in ihrem Wesensgehalt (Art. 19 II GG) verletzt sein44. Solche Versuche einer verfassungsrechtlichen Beschränkung öffentlicher Wirtschaftstätigkeit haben sich jedoch nicht durchgesetzt. Gegen die Anerkennung eines wirtschaftsverfassungsrechtlichen Grundsatzes privater Wettbewerbsfreiheit und gegen die allgemeine Geltung des Subsidiaritätsprinzip für die öffentliche Hand ist vor allem eingewandt worden, daß das Grundgesetz wirtschaftspolitisch neutral sei45. Dementsprechend wird in Rechtsprechung und Schrifttum überwiegend die Auffassung vertreten, daß die bloße Teilnahme der öffentlichen Hand am Wettbewerb weder die in Art. 2 I, 12, 14, 15 G G geschützten Freiheitsgrundrechte privater Wettbewerber noch das in Art. 3 I G G normierte Gleichheitsgrundrecht der privaten Konkurrenten verletzt; die genannten Grundrechte schützen nicht vor der Konkurrenz als solcher, auch nicht vor dem Wettbewerb der öffentlichen Hand 46 . N u r ausnahmsweise soll danach die öffentliche Wirtschaftstätigkeit grundrechtlichen Maßstäben unterworfen sein, nämlich soweit der öffentlichen Hand Vorrechte oder gar ein Verwaltungsmonopol eingeräumt werden oder wenn die wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand aus Gründen oder mit der Wirkung der Wirtschaftslenkung erfolgt, insbesondere wenn eine Verdrängung privatwirtschaftlicher Unternehmen eintritt47. Anders als bei bloßer Konkurrenz sollen in diesen Fällen interventionistischer Wirtschaftstätigkeit der öffentlichen Hand je nach Sachlage die Grundrechte der Art. 2 I, 3 I, 12 1,14 I G G ihre Schutzwir-
43 Vgl. Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 2 Rdn. 52; ferner Isensee, DB 1979, 145 (150); weitere Nachweise bei Lerche, JurA 1970, 821 (842 Fn. 87). 44 Vgl. Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Fn. 43). 45 Vgl. Badura, Z H R 146 (1982), 448 (459); Lerche, JurA 1970, 821 (843); Stober, Z H R 145 (1981), 565 (575); zur wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes vgl. BVerfGE 4, 7 ff.; 50, 336 ff. Im Schrifttum wird zu Recht auch darauf hingewiesen, daß im Verfassungskonvent von Herrenchiemsee die Aufnahme eines allgemeinen Subsidiaritätsprinzips sogar ausdrücklich abgelehnt wurde, vgl. Bulla, DVB1. 1975, 643 (649). 44 Vgl. BVerwGE 39, 329 (337); BVerwGE 17, 306 (313 f.); BVerwG N J W 1978, 1539 (1540); Badura, Wirtschaftsverwaltungsrecht, in: von Münch (Hrsg.): Besonderes Verwaltungsrecht, S. 273 (350); Stober, Z H R 145 (1981), 565 (578). 47 Vgl. Badura (Fn.46).
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kung entfalten 48 . Angesichts dieses öffentlich-rechtlichen Befundes werden die Makler im Regelfall die Unterlassung der Immobilienvermittlung durch die Sparkassen im Wege einer Klage vor dem Verwaltungsgericht nicht erzwingen können. 2. §1
UWG
Damit kommt der Frage nach den wettbewerbsrechtlichen Schranken wirtschaftlicher Betätigungen der öffentlichen Hand zentrale Bedeutung zu. Das U W G , insbesondere § 1 U W G , findet grundsätzlich uneingeschränkt auch auf Wettbewerbshandlungen der öffentlichen Hand Anwendung 49 . Die Grundstücksvermittlungstätigkeit der Sparkassen ist danach im Rahmen des § 1 U W G unter verschiedenen Gesichtspunkten wettbewerbsrechtlichen Bedenken ausgesetzt. Im Hinblick darauf, daß die Sparkassen durch die Immobilienvermittlung gegen sparkassenrechtliche Vorschriften verstoßen, ist zunächst ein Unterlassungsanspruch privater Konkurrenten unter dem zu § 1 U W G entwickelten Gesichtspunkt eines unlauteren Vorsprungs durch Rechtsbruch zu erwägen50. Auch die Ausnutzung von Vorteilen aus dem Bereich des den Sparkassen eingeräumten öffentlichen Auftrags im Rahmen der Grundstücksvermittlung könnte einen Unlauterkeitstatbestand erfüllen und zur Anwendung des § 1 U W G führen". Hier ist zum einen an die Ausnutzung in Ausübung des öffentlichen Auftrags erlangter Beziehungen oder Kenntnisse zu Wettbewerbszwecken zu denken; zum andern könnte in der Wahrnehmung einer nicht vom öffentlichen Auftrag gedeckten Tätigkeit ein Mißbrauch der besonderen Vertrauensstellung der öffentlich-rechtlichen Sparkassen liegen. Als dritte in Betracht kommende Fallgruppe unlauteren Wettbewerbs ist schließlich die der Marktstörung zu nennen". a) Unlauterer
Wettbewerbsvorsprung
durch
Rechtsbruch?
Es widerspricht dem Sinn und Zweck des Leistungswettbewerbs, wenn ein Wettbewerber sich dadurch einen Vorsprung vor seinen Mitbewerbern verschafft, daß er die durch Gesetz oder Vertrag festgelegten Bedingungen mißachtet, während sich seine Mitbewerber an diese hal48 Vgl. Badura, Festschrift für H.-J. Schlochauer, 1981, S.3 (22). " Vgl. Baumbach/Hefermehl (Fn.23), UWG, §1 Rdn.732; Ulmer, ZHR 146 (1982), 466 (474 ff.) jeweils mit zahlreichen Nachweisen. 50 Zu dieser Fallgruppe unlauteren Wettbewerbs vgl. Baumbach/Hefermehl (Fn. 237), UWG, §1 Rdn. 534ff., 734 ff.; Ulmer, ZHR 146 (1982), 466 (496 ff.). 51 Vgl. hierzu etwa Schricker (Fn.l), S. 172ff., 181 ff.; Ulmer, ZHR 146 (1982), 466 (481 ff.). 52 Vgl. dazu allgemein Baumbach/Hefermehl (Fn.23), UWG, §1 Rdn.691 ff.; ferner Ulmer, ZHR 146 (1982), 466 (499 f.).
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ten 53 . Regelmäßig führt daher nur die Verletzung solcher rechtlichen Schranken, die für alle Wettbewerber in gleicher Weise gelten, zu Unterlassungsansprüchen nach § 1 U W G 5 4 . Uberschreiten aber juristische Personen des öffentlichen Rechts die ihnen durch Gesetz oder Satzung gesetzten Zuständigkeitsgrenzen, wie etwa die Sparkassen im Falle der Immobilienvermittlung, so verstoßen sie damit gegen nur für sie, nicht aber für die privaten Mitbewerber geltende Vorschriften. D u r c h einen solchen Rechtsbruch können sie sich daher keinen unlauteren Wettbewerbsvorsprung unter Ausnutzung der Gesetzestreue privater Mitbewerber verschaffen 55 . Dementsprechend hat der B G H in der Blockeis-II-Entscheidung 5 6 die im Widerspruch zu der einschlägigen kommunalrechtlichen Vorschrift stehende privatwirtschaftliche Betätigung einer Gemeinde nicht unter dem Gesichtspunkt eines unlauteren Vorsprungs durch Rechtsbruch untersagt, sondern nur deshalb, weil die verletzte Vorschrift der Gemeindeordnung gerade auch den Schutz privater Wettbewerber vor einer Konkurrenz durch die Gemeinden bezweckte; den Unlauterkeitsvorwurf stützte der B G H überdies darauf, daß die Gemeinde nicht nur vorsätzlich und fortgesetzt das dem Schutz der privaten Wettbewerber dienende Gesetz verletzt hat, sondern dies auch getan hat, o b w o h l die Aufsichtsbehörde dieses Verhalten bereits beanstandet hat und obwohl ihr verfassungsmäßig berufener Vertreter in „wiederholten verbindlichen Erklärungen" die Unterlassung des W e t t bewerbs zugesagt hatte. Selbst wenn man diese erschwerenden Umstände im Rahmen des § 1 U W G für entbehrlich hält 57 , so bleibt es bei dem allgemein anerkannten Erfordernis des Drittschutzzwecks der den Zugang zum Wettbewerb regelnden öffentlich-rechtlichen N o r men 58 . Ein solcher Drittschutzweck kann aber - wie bereits oben festgestellt — den sparkassenrechtlichen Vorschriften nicht entnommen werden. Allein der Verstoß gegen die den öffentlichen Auftrag der Sparkassen und damit deren Zuständigkeitsgrenzen umschreibenden Vorschriften des Sparkassenrechts ist somit wettbewerbsrechtlich irrelevant.
55
Vgl. Baumbach/Hefermehl (Fn. 23), UWG, § 1 Rdn. 534.
Vgl. BGH GRUR 1965, 373 (375); Baumbach/Hefermehl (Fn.23), UWG, §1 Rdn. 534. 55 Vgl. Ulmer, ZHR 146 (1982), 466 (497). 56 BGH GRUR 1965, 373 (375). 57 So etwa v. Falck, Anm. zu BGH GRUR 1965, 373 (376). 58 Vgl. noch BGH NJW 1956, 749; BGH GRUR 1961, 418; Baumbach/Hefermehl (Fn.23), UWG, §1 Rdn.561 (m.w.N.); Hefermehl, Anm. zu BGH GRUR 1973, 655 (658). 54
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b) Ausnutzung
von Vorteilen aus dem Bereich des öffentlichen zu Wettbewerbszwecken
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Auftrags
aa) Vorteile der Sparkassen im Wettbewerb mit den privaten Maklern Wettbewerbsrechtliche Bedeutung könnte die Überschreitung des gesetzlich festgelegten Aufgabenbereichs der Sparkassen aber dadurch erlangen, daß die Sparkassen bei der Immobilienvermittlung Vorteile aus ihrer bankmäßigen Betätigung ausnutzen können. Solche Vorteile ergeben sich zunächst daraus, daß die Sparkassen zur Anbahnung von Grundstücksgeschäften auf einen breit gestreuten Kundenkreis zurückgreifen können, wobei ihnen die im Rahmen der bankmäßigen Tätigkeit erlangten Kenntnisse von den wirtschaftlichen Verhältnissen ihrer Kunden zugute kommen; so werden sie regelmäßig eher als konkurrierende private Makler erfahren, daß ihre Kunden Grundstücke veräußern oder erwerben wollen. Die Sparkassen können auch von sich aus ihre Kunden auf Immobiliengeschäfte ansprechen und auf den Vorteil der Kopplung von Vermittlung und Finanzierung eines Grundstückserwerbs hinweisen. Aktivitäten der Sparkassen auf dem Immobilienmarkt werden zudem dadurch erleichtert, daß das Publikum den Sparkassen ein besonderes Vertrauen entgegenbringt, das seine Grundlage in den traditionell anerkannten Leistungen im bankgeschäftlichen Bereich sowie in dem öffentlichen Status der Sparkassen hat. bb) Wettbewerbsrechtliche Einordnung Bei der Prüfung, wie die genannten Vorteile der Sparkassen gegenüber den privaten Maklern wettbewerbsrechtlich zu beurteilen sind, drängt sich zunächst die Frage auf, ob nicht die zu § 1 UWG entwickelte Fallgruppe der unlauteren Verquickung öffentlicher und erwerbswirtschaftlicher Interessen 5 ' auch hier herangezogen werden kann. Es ist der öffentlichen Hand verwehrt, amtlich begründete Beziehungen zu Wettbewerbszwecken, etwa zum Abschluß von Verträgen, auszunutzen 60 . Die Verwertung amtlicher Beziehungen, die nur die öffentliche Hand, nicht aber der private Mitbewerber herstellen kann, stellt grundsätzlich eine Form des nach § 1 UWG untersagten Nichtleistungswettbewerbs dar41. Eine unlautere Ausnutzung von Vorteilen aus dem amtlichen Bereich zu Wettbewerbszwecken ist daher etwa angenommen worden, wenn ein städtisches Bestattungsamt die in dieser Eigenschaft erlangte Kenntnis von eingetretenen Sterbefällen dazu benutzte, bei den Angehö-
59
Vgl. Vgl. Hefermehl 61 Vgl. 60
dazu Schricker (Fn. 1), S. 181 ff.; Ulmer, ZHR 146 (1982), 466 (483 f., 495 f.). BGH GRUR 1964, 210 (213); BGH GRUR 1971, 168 (170); Baumbach/ (Fn.23), UWG, § 1 Rdn. 739. Schricker (Fn. 1), S. 181 ff.
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rigen der Verstorbenen für das städtische Bestattungsunternehmen zu werben oder mit den Angehörigen Verträge über Bestattungen abzuschließen62. Gleiches muß für den vom BGH 63 nur im Hinblick auf die Rechtswegfrage entschiedenen Fall gelten, in dem ein städtisches Reisebüro im gleichen Raum wie das Paßamt untergebracht war; es liegt auf der Hand, daß die räumliche Verbindung von Dienststelle und Wirtschaftsunternehmen der Stadt im Wettbewerb mit privaten Reisebüros einen nicht leistungsbedingten und damit unlauteren Vorsprung verschaffte64. Auch in dem Fall, in dem eine Kraftfahrzeugzulassungsstelle in ihren Diensträumen Kraftfahrzeugkennzeichenschilder zum Verkauf bereit hält, wird man eine unlautere Ausnutzung amtlicher Beziehungen zur Werbung und zum Abschluß von Verträgen annehmen müssen65. Eine Anwendung dieses Grundsatzes auch auf die Tätigkeit der Sparkassen, die neben den Bankgeschäften Grundstücksvermittlungen betreiben und dabei ihre im Rahmen der bankmäßigen Betätigung erlangten Informationen und Beziehungen verwerten, begegnet allerdings Bedenken. Im Gegensatz zu den oben genannten Fällen unlauterer Verquickung von Amtstätigkeiten und wirtschaftlichen Betätigungen fehlt es hier an der wettbewerbsfremden Ausnutzung amtlicher bzw. hoheitlich erlangter Informationen oder sonstiger Vorteile. Die Sparkassen begeben sich vielmehr bereits im Rahmen ihres in den sparkassenrechtlichen Vorschriften festgelegten öffentlichen Auftrages in den Wettbewerb mit privaten Kreditinstituten; die dabei angeknüpften Geschäftsbeziehungen beruhen daher wie bei privaten Kreditinstituten auf ihren Leistungen im Wettbewerb, nicht aber auf spezifisch hoheitlichen Momenten, wie etwa einem Anschluß- und Benutzungszwang. Die Übertragung des Grundsatzes, nach dem der öffentlichen Hand eine Ausnutzung amtlich begründeter Beziehungen zu Wettbewerbszwecken verwehrt ist, auf die Grundstücksvermittlungstätigkeit der Sparkassen würde daher letztlich bedeuten, daß doch allein der Verstoß der Sparkassen gegen deren Zuständigkeitsgrenzen den Unlauterkeitsvorwurf auslöst. Daß dies wegen des fehlenden Drittschutzzwecks der die Zuständigkeitsgrenzen der Sparkassen festlegenden sparkassenrechtlichen Normen nicht der Fall ist, wurde bereits dargelegt. Eher begründbar erscheint der Unlauterkeitsvorwurf damit, daß die Sparkassen bei der Grundstücksvermittlung ihr Ansehen, ihre Autorität, ihre anerkannte Vertrauensstellung beim Publikum als Teil der öffentli62 Vgl. dazu Schricker (Fn. 1), S. 183; Ulmer, ZHR 146 (1982), 466 (483); vgl. auch V G H Baden-Württemberg, GRUR 1973, 82 (83); ferner BVerwGE 39, 329 (337). 63 BGH GRUR 1956, 227. " Zutr. Schricker (Fn. 1), S. 183; Ulmer, ZHR 146 (1982), 466 (483). 65 Zutr. Schultz-Süchting, GRUR 1974, 700 (702); vgl. auch Ulmer, ZHR 146 (1982), 466 (483 f.); a.A. BGH GRUR 1974, 733 ff.
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chen Hand einsetzen". Das den Sparkassen entgegengebrachte besondere Vertrauen mag im Hinblick auf die kreditwirtschaftliche Betätigung, also soweit der öffentliche Auftrag reicht, begründet sein; eine Übertragung dieses besonderen, auf dem öffentlichen Status der Sparkassen beruhenden Vertrauens auf sonstige, von dem sparkassenrechtlichen Auftrag nicht gedeckte Aktivitäten wie beispielsweise die Grundstücksvermittlung ist dagegen sachlich nicht gerechtfertigt. Die „Vertrauensübertragung" ist daher als ein nicht leistungsgerechter Vorteil der Sparkassen gegenüber den privaten Maklern bei der Kundenwerbung anzusehen, so daß nicht mehr von wettbewerbseigener Kundenbeeinflussung, sondern von wettbewerbsfremdem Kundenfang auszugehen ist67. Da es zu der unlauteren Ausnutzung der besonderen Vertrauensstellung bereits dadurch kommt, daß die Sparkassen auch bei Grundstücksgeschäften als solche auftreten68, reicht die bloße Trennung der öffentlichen Aufgaben der Sparkassen von der Grundstücksvermittlung in räumlicher, organisatorischer und personeller Hinsicht nicht aus, um den Unlauterkeitsvorwurf zu beseitigen. Als Konsequenz bleibt nur die Untersagung der Immobilienvermittlung nach § 1 UWG. c) Gefahr der
Marktstörung
Es bleibt schließlich zu untersuchen, ob eine Untersagung der Immobilienvermittlung durch die Sparkassen nach § 1 U W G auch unter dem Gesichtspunkt der Marktstörung möglich ist. Das Wettbewerbsrecht schützt nämlich außer den Interessen der Mitbewerber auch die der sonstigen Marktteilnehmer und der Allgemeinheit an der Erhaltung eines funktionsfähigen Wettbewerbs". Nach neuerer Auffassung kann sich danach die Unlauterkeit von Wettbewerbshandlungen aus deren die Marktverhältnisse störenden Wirkungen ergeben70. Da jedoch etwa eine Gefährdung des Wettbewerbsbestandes oder eine Marktverstopfung auch die Konsequenz eines leistungsgerechten Wettbewerbs sein kann, wenn sich beispielsweise eine bestimmte Ware wegen ihrer Qualität durchsetzt, genügen negative Marktwirkungen allein keinesfalls für eine Anwendung des § 1 UWG. Der Unlauterkeitsvorwurf hängt vielmehr " Vgl. zu diesem Gesichtspunkt Baumbach/Hefermehl (Fn.23), UWG, §1 Rdn.739; Scbncker (Fn. 1), S. 172ff.; Ulmer, ZHR 146 (1982), 466 (481 f.); vgl. ferner BGH WM 1981, 905 (907). 47 Zum Problem der Vertrauensausnutzung bei der wirtschaftlichen Betätigung der öffentlichen Hand vgl. auch Baumbach/Hefermehl (Fn.23), UWG, § 1 Ren. 153. " Sie können ja ihre Identität nicht verleugnen! " Vgl. dazu Baumbach/Hefermehl (Fn.23), UWG, §1 Rdn.691; ferner BGH GRUR 1979, 321 (323); BGHZ 81,291 (294); BGH GRUR 1969, 295 (296); BGHZ 43,278 (284). 70 Vgl. Baumbach/Hefermehl (Fn.23), UWG, §1 Rdn.691; Ulmer, ZHR 146 (1982), 466 (484 f. m . w . N . ) .
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von einer Gesamtwürdigung bestimmter Wettbewerbshandlungen und deren Marktwirkungen ab71. Ulmer spricht insoweit zutreffend von einer Art erfolgsqualifizierter Unlauterkeit, bei der der Unwert nicht bereits im Verhalten als solchem liegt, sondern sich erst aus Verhalten und Erfolg zusammen ergibt72. Typische Beispiele für diese Fallgruppe unlauteren Wettbewerbes waren bisher etwa der ständige Verkauf von Waren unter Einstandspreis oder die kostenlose Abgabe von Originalwaren73. So vertritt der B G H etwa die Auffassung, daß Verkäufe unter Einstandspreis dann wettbewerbsrechtlich verwerflich sind, wenn sie dazu führen, allgemein die Mitbewerber vom Markt zu verdrängen, und wenn dadurch der Wettbewerb auf diesem Markt völlig oder nahezu aufgehoben würde, oder wenn ernstlich damit zu rechnen wäre, daß Mitbewerber in einem solchen Maß diese Preisaktionen nachahmten, daß es zu einer gemeinschaftsschädigenden Störung des Wettbewerbs käme74. Auch im Hinblick auf die ständige Gratisverteilung einer Fachzeitschrift hat der B G H entschieden, daß es für die Beurteilung der Lauterkeit oder Unlauterkeit wettbewerblichen Verhaltens darauf ankommt, ob aus der umstrittenen Werbemaßnahme eine konkrete ernste Gefahr für den Bestand des Wettbewerbs erwächst75. In zwei Entscheidungen zur Frage der Brillenabgabe durch gesetzliche Krankenkassen hat der BGH nunmehr die Marktstörung als Fallgruppe unlauteren Wettbewerbs auch herangezogen, um der öffentlichen Hand den Zugang zum Markt zu verwehren76. Der B G H führt zunächst aus, daß Vorschriften über die Frage der Selbstabgabe von Brillen durch die Sozialversicherungsträger im SGB und in der RVO nicht enthalten sind; auch aus der gesetzlichen Aufgabe des Krankenversicherungsträgers, Krankenhilfe zu gewähren, und aus dem entsprechenden Anspruch des Versicherten lasse sich keine grundsätzliche Entscheidung dieser Frage herleiten77. Demgegenüber ergibt sich nach Ansicht des BGH aus dem Gesamtzusammenhang der die Leistungserbringung regelnden Vorschriften der RVO, daß es dem Regelfall des Gesetzes entspricht, wenn die Kasse die in § 182 I Nr. 1 RVO genannten Leistungen dem Versicherten unter Einschaltung der bestehenden freien Berufe verschafft; die Vgl. Baumbach/Hefermehl (Fn.23), UWG, §1 Rdn.691. Ulmer, GRUR 1977, 565 (577); den., ZHR 146 (1982), 466 (484f.). 73 Vgl. etwa BGH GRUR 1979, 321 (323); BGH GRUR 1982, 53 (55); Baumbach/ Hefermehl (Fn.23), UWG, §1 Rdn.691 (m.w.N.); Ulmer, ZHR 146 (1982), 466 (488, 499). 74 Vgl. BGH GRUR 1979, 321 (323 m.w.N.). 75 Vgl. B G H GRUR 1982, 53 (55). 76 BGHZ 82, 375ff. = DVB1. 1982, 945ff. = GRUR 1982, 425ff.; die zweite einschlägige Entscheidung des BGH - I ZR 116/80 - ist bisher nicht veröffentlicht. 77 BGH GRUR 1982, 425 (427 ff.). 71
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eigene Erbringung solcher Leistungen obliege ihr nur ausnahmsweise aus zwingenden gesundheits- und sozialrechtlichen Erwägungen78. Der B G H hält allein diese Auffassung für mit dem Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 I G G ) vereinbar. Im übrigen vertritt der B G H die Auffassung, die Krankenkassen seien zur Erfüllung ihres aus dem Sozialstaatsprinzip abgeleiteten Auftrags nicht auf kasseneigene Abgabestellen angewiesen, weil die Versorgung der Bevölkerung durch die freiberuflich tätigen Angehörigen des Augenoptikerhandwerks gewährleistet sei. Die demnach aus sozialversicherungsrechtlicher Sicht nicht gebotene Selbstabgabe von Brillen durch gesetzliche Krankenkassen ist nach Ansicht des B G H unter Berücksichtigung der Bedeutung dieser Tätigkeit für die wettbewerbliche Ausgangslage und ihre Auswirkungen auf den Leistungswettbewerb wettbewerbswidrig im Sinne des § 1 UWG 7 9 . Der B G H hält insoweit für entscheidend, daß der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung wegen Fehlens eines unternehmerischen Risikos und wegen steuerlicher Bevorzugung nicht der gleichen wettbewerblichen Ausgangslage und den gleichen Wettbewerbsbedingungen wie die Augenoptiker unterworfen ist; für diese bestehe daher die Gefahr eines ruinösen Wettbewerbs mit der Möglichkeit ihrer Ausschaltung als selbständige Gewerbetreibende aus dem Wirtschaftsleben, zumindest aber die Gefahr einer erheblichen Beeinträchtigung der freien Berufstätigkeit der Augenoptiker80. O b der B G H mit den Entscheidungen zur Brillenabgabe durch gesetzliche Krankenkassen allgemein eine strengere Beurteilung der Marktteilnahme der öffentlichen Hand am wettbewerbsrechtlichen Maßstab der Marktstörung einleiten wollte, ist schwer zu beurteilen81. Unabhängig davon ist aber zu prüfen, ob die vom B G H entwickelten Aspekte verallgemeinerungsfähig sind und damit möglicherweise auch im Zusammenhang mit der Immobilienvermittlung der Sparkassen Berücksichtigung finden können. Die vom B G H in dem auf § 1 U W G bezogenen Teil der Brillenabgabeentscheidungen für maßgeblich gehaltenen Gesichtspunkte der ungleichen wettbewerblichen Ausgangslage und der ungleichen Wettbewerbsbedingungen sind allgemeiner Natur und lassen sich nicht auf die besonderen Wettbewerbsverhältnisse zwischen Augenoptikern und gesetzlichen Krankenkassen beschränken. Die Heranziehung der ungleichen wettbewerblichen Ausgangslage und der ungleichen Wettbewerbsbedingungen der öffentlichen Hand im VerhältB G H G R U R 1982, 425 (429). " B G H G R U R 1982, 425 (430 f.). 80 B G H (Fn. 79). " Zurückhaltend insoweit Ulmer, Z H R 146 (1982), 466 (499 f.); vgl. aber auch Baumbach/Hefermebl (Fn. 23), U W G , §1 Rdn. 736: weittragende Bedeutung der Entscheidung für den Wettbewerb der öffentlichen Hand. 78
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nis zu privaten Konkurrenten ist im übrigen durchaus sachgerecht, wenn man bedenkt, daß diese Ungleichheiten, etwa das Fehlen eines unternehmerischen Risikos der öffentlichen Hand, leistungsfremde Vorteile darstellen und damit der durch § 1 U W G geschützte Leistungswettbewerb beeinträchtigt werden kann 82 . Diese verallgemeinerungsfähigen Gesichtspunkte treffen prinzipiell auch für das Wettbewerbsverhältnis zwischen Immobilienvermittlung betreibenden Sparkassen und privaten Maklern zu. D i e öffentlich-rechtlichen Sparkassen unterliegen bei ihrer Tätigkeit ebenfalls keinem unternehmerischen Risiko. Hier ist zum einen auf die Anstaltslast des Gewährträgers der Sparkassen, also dessen Pflicht zur Sicherung der wirtschaftlichen Basis und zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Sparkassen, hinzuweisen 8 3 . Zum andern ist in den Sparkassengesetzen die unbeschränkte, wenn auch subsidiäre H a f tung des Gewährträgers für alle privat- und öffentlich-rechtlichen V e r bindlichkeiten der Sparkassen festgelegt 84 . Ein Konkurs der Sparkassen ist danach zwar rechtlich, nicht aber tatsächlich möglich 8 5 . Schließlich ist auch die Gewinnerzielung zumindest nicht primäres Ziel der Betätigung der Sparkassen 86 . Eine Untersagung der vom öffentlichen Auftrag nicht gedeckten Immobilienvermittlungstätigkeit der Sparkassen nach § 1 U W G unter dem Gesichtspunkt der Gefahr der Marktstörung k o m m t danach grundsätzlich in Betracht. Fraglich ist nur, unter welchen V o r aussetzungen im einzelnen die Anwendung des § 1 U W G geboten ist. D i e Gefahr einer erheblichen Beeinträchtigung des Leistungswettbewerbs hat der B G H in den Brillenabgabeentscheidungen damit begründet, daß über 94, 75 % der Gesamtbevölkerung bei den Kassen der gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind und daß die beanstandete Tätigkeit bei einem entsprechenden Erfolg bundesweite Nachahmung und Ausdehnung finden könnte 8 7 . Entsprechend wird man im Fall der Immobilienvermittlung durch die Sparkassen zum einen die Verbreitung dieser aufgabenfremden Aktivitäten, zum andern die Nachahmungsgefahr bei fehlender Beanstandung berücksichtigen müssen. D i e 82 Auch in den bisher unter dem Gesichtspunkt der Marktstörung erörterten Fällen des ständigen Verkaufs unter Einstandspreis und der kostenlosen Abgabe von Originalwaren handelte es sich um leistungsfremden Wettbewerb, vgl. Ulmer, Z H R 146 (1982), 466 (484, 499); ders., G R U R 1977, 565 (577). 83 Vgl. dazu Klüpfel, Das Sparkassenrecht in Baden-Württemberg, Teil I, Kommentar zum Sparkassengesetz, 2. Aufl. 1975, § 8 Anm.IV. 2., § 2 9 Anm.IV. 1; Stern/Burmeister (Fn.4), S. 27. 84 Vgl. etwa § 5 Sparkassengesetz/Nordrhein-Westfalen; § 8 Sparkassengesetz/BadenWürttemberg; ferner Heinevetter (Fn. 12), Sparkassengesetz Nordrhein-Westfalen, § 5 Anm. 1. 85 Vgl. Klüpfel (Fn. 83), § 8 Anm. IV. 3. * Vgl. Brzoska (Fn. 7), S.17. 87 Vgl. B G H G R U R 1982, 425 (430).
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Frage, wann eine Gefahr der Marktstörung anzunehmen ist, ist dann nach den jeweiligen tatsächlichen Verhältnissen zu beurteilen. D. Bankenaufsicht und Rechtsaufsicht Trotz der unverkennbaren Tendenz der ordentlichen Gerichte zu einem erweiterten Konkurrenzschutz privater Unternehmen gegen die öffentliche Hand sind klare Konturen, wie weit dieser Schutz reicht, bisher nicht erkennbar. Es sind daher flankierende Maßnahmen der Bankenaufsicht oder der Rechtsaufsicht zu erwägen. I. Bankenaufsicht nach dem Gesetz über das Kreditwesen Der Bankenaufsicht nach dem Gesetz über das Kreditwesen (KWG) 88 unterliegen auch die öffentlich-rechtlichen Sparkassen (vgl. § 40 KWG). Das Gesetz verfolgt das Ziel, die Funktionsfähigkeit des Kreditapparates zu wahren und die Bankengläubiger nach Möglichkeit vor Verlusten zu schützen8'. Die Notwendigkeit der Bankenaufsicht ergibt sich daraus, daß alle Zweige der Volkswirtschaft auf das Kreditgewerbe als Kreditgeber und Geldsammeistelle angewiesen sind; Störungen in diesem Wirtschaftszweig, etwa infolge unvorsichtiger Liquiditätspolitik, können sich daher auf die gesamte Volkswirtschaft auswirken90. Das KWG bezweckt demnach den Schutz gegen die von den Bankgeschäften ausgehenden Gefahren (vgl. §§32 ff. KWG). Bankfremde Geschäfte, die das K W G neben den Bankgeschäften zuläßt, unterliegen daher nicht der Bankenaufsieht". Die Überwachung der Sparkassen dahingehend, daß sie bankfremde, nicht von ihrem in den Sparkassengesetzen festgelegten öffentlichen Auftrag gedeckte Betätigungen unterlassen, gehört demzufolge nicht zum Bereich der Bankenaufsicht nach dem KWG, sondern zur allgemeinen Rechtsaufsicht'2. II. Rechtsaufsicht Die Sparkassen unterliegen nach den Sparkassengesetzen der Länder der Aufsicht des Staates". Es handelt sich dabei um eine besondere Form der Kommunalaufsicht, die sich darauf erstreckt, daß die Sparkassen ihre 18 KWG vom 10. Juli 1961 (BGBl. I. S. 881), Neufassung des Gesetzes vom 3. Mai 1976 (BGBl. I. S. 1121). 89 Vgl. Schönle, Bank- und Börsenrecht, 2. Aufl. 1976, §40 II; Schork, Gesetz über das Kreditwesen, Kommentar, 2. Aufl. 1976, Einleitung 2. 1/7 f. 90 Vgl. Schork (Fn. 89). " Vgl. Schork, Gesetz über das Kreditwesen, § 1 Rdn. 20. 92 Vgl. Heinevetter (Fn. 12), Sparkassengesetz Nordrhein-Westfalen, §28 Anm.2. 2.; Klüpfel (Fn. 83), § 4 7 Anm. I. 1. 93 Vgl. §47 Sparkassengesetz/Baden-Württemberg; §20 Sparkassengesetz/Hessen; §28 Sparkassengesetz/Nordrhein-Westfalen.
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Aufgaben im Einklang mit dem geltenden Recht erfüllen' 4 . Die Aufsichtsbehörden haben also vor allem darüber zu wachen, daß die Sparkassen einerseits die ihnen nach Gesetz und Satzung obliegenden Aufgaben voll wahrnehmen, andererseits aber auch die Grenzen der zulässigen Geschäfte nicht überschreiten95. Die Makler können danach bei den Sparkassenaufsichtsbehörden anregen, die Grundstücksvermittlung durch Sparkassen zu unterbinden; ein Anspruch auf Maßnahmen der Rechtsaufsichtsbehörden besteht dagegen nicht". E. Ergebnis Die besondere rechtliche Problematik öffentlicher Wirtschaftstätigkeit liegt darin, daß insoweit sowohl öffentlich-rechtliche als auch privatrechtliche Regelungskomplexe eine Rolle spielen. Dies hat zu einem entsprechenden Dualismus öffentlich-rechtlicher, insbesondere verfassungsrechtlicher, und zivilrechtlicher, insbesondere wettbewerbsrechtlicher, Lösungsversuche geführt. Angesichts der in der öffentlichrechtlichen Diskussion überwiegend sehr weit gezogenen Grenzen öffentlicher Wirtschaftstätigkeit und der sehr zurückhaltenden Annahme eines Eingriffs in Grundrechte Privater durch die Konkurrenz der öffentlichen Hand, ist es zu begrüßen, wenn zunehmend versucht wird, das Wettbewerbsrecht als Maßstab öffentlicher Wirtschaftstätigkeit fruchtbar zu machen. Dies gilt nicht nur für die Art und Weise der Marktteilnahme der öffentlichen Hand, sondern gerade auch für den Zugang zum Markt überhaupt. Insbesondere § 1 UWG bietet insoweit durchaus sachgerechte Lösungsmöglichkeiten. Im Spezialfall der Sparkassen etwa, die in Überschreitung ihres öffentlichen Auftrages Immobilienvermittlung betreiben, erscheint immerhin der vor den ordentlichen Gerichten durchzusetzende Konkurrenzschutz privater Makler nach § 1 UWG unter den Gesichtspunkten unlauterer Ausnutzung der besonderen Vertrauensstellung durch die Sparkassen sowie der Gefahr der Marktstörung denkbar. Im übrigen haben die Makler die Möglichkeit, Maßnahmen der Rechtsaufsicht bei den Sparkassenaufsichtsbehörden anzuregen.
94 Vgl. §20 III Sparkassengesetz/Hessen; §47 II Sparkassengesetz/Baden-Württemberg; §29 I Sparkassengesetz/Nordrhein-Westfalen. ' 5 Vgl. Klüpfel (Fn. 83), §47 Anm. II. 1. % Vgl. Klüpfel (Fn. 83), §47 Anm. II. 2.
Der Stadtstaat als Unternehmer und Träger der Fachaufsicht Lehren aus dem Hamburger „Fall Brokdorf" H A N S PETER IPSEN
Berlin, dessen ehrwürdiger Juristengesellschaft dieser Beitrag gewidmet wird, ist außer der Freien und Hansestadt Hamburg"" der einzige deutsche „Stadtstaat" - „Land und Stadt zugleich". „Staat und Gemeinde sind keine verschiedenen Rechtssubjekte. Landesverwaltung und Stadtgemeindeverwaltung werden nicht getrennt, sondern von denselben Organen ausgeführt" 1 . Diese „Stadtstaatlichkeit" erklärt und ermöglicht, daß das Gemeinwesen in der Wahrnehmung spezifischer Kommunalaufgaben wie der Versorgung mit Energie, Wasser oder Verkehrsleistungen als „Unternehmer" (unterschiedlicher) zivilrechtlicher Gestaltung auftritt und zugleich qua Staat gesetzlich begründete Fachaufsichtsbefugnisse gegenüber den Trägern solcher Aufgaben wahrzunehmen hat. Aus dieser Doppelrolle als Unternehmer und Fachaufsichtsinstanz können für den Stadtstaat Kollisionen rechtlicher Tragweite erwachsen, wenn er bestimmte versorgungspolitische Ziele, deren Verfolgung in der gesetzlichen Aufsichtsregelung keine Grundlage (mehr) findet, mit Mitteln des Zivilrechts durchzusetzen versucht. Ein solcher Kollisionstatbestand ist der seit Jahren in Hamburg anstehende Fall des auf schleswig-holsteinischem Gebiet im Bau befindlichen Kernkraftwerks Brokdorf 2 mit dem letzten Ziel gewandelter * Abkürzung im folgenden: H H . Weitere Abkürzungen: H E W = Hamburgische Electrizitätswerke A G ; L H O = Hamburgische Landeshaushaltsordnung; EnergG = Gesetz zur Sicherung der Energiewirtschaft. 1 Pfennig/Neumann, Komm, zur Verfassung von Berlin (1978) Anm. 6 zu Art. 1, S. 5. - Vgl. Verf. Berlin Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3; Hamb. Verf. Art. 1 und 4 Abs. 1. 3 Vgl. den Kommentar „Irreal und dogmatisch", Die Welt, Nr. 34, S. 19 vom 10.2.1983 mit dem Hinweis auf mögliche stadtstaatliche Einflußnahme durch einen Beherrschungsvertrag; ferner FAZ Nr. 102 S. 15 vom 3.5.1983, Nr. 106 S. 11 vom 7.5.1983, Nr. 107 S.13 vom 9.5.1983 - Knappe Kennzeichnung der Situation bei Raschauer, W D S t R L Heft 40 (1982) S.265: zu den Problemen der Selbstbindung der Verwaltung gehöre der „Fall des Hamburger Bürgermeisters, der ,aus der Kernkraft aussteigen' wollte, aber feststellen mußte, daß die Verwaltung einen praktisch nicht
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Hans Peter Ipsen
Senatspolitik, die Hamburgischen Electrizitätswerke A G , an denen der Stadtstaat mit 71,5 % des Stammkapitals von 400 Millionen DM beteiligt ist3, zum sog. „Ausstieg" aus ihrer Beteiligung an der für Errichtung und Betrieb dieses Werkes bestehenden Gesellschaft zu veranlassen. Beteiligung hieran und der Bezug von Kernenergie-Strom war den HEW unter Anwendung des Energiewirtschaftsgesetzes vor Baubeginn im Rahmen der hamburgischen Zuständigkeit rechtsgültig genehmigt worden. Unter der Parole, die HEW seien als Hamburgs „Stadtwerke, Abteilung Strom" zu behandeln, ist ihr Aufsichtsrat durch Wahl von Personen, die die Senatspolitik vertreten, umgebildet4 und mit verschiedenen Mitteln versucht worden, ihre Verwirklichung zu erreichen. Unter diesen Mitteln würde rechtlich, wie erwogen worden ist, auch der Abschluß eines Beherrschungsvertrages zwischen dem Stadtstaat und den HEW in Betracht kommen, um dann den „Ausstieg" durch entsprechende Weisungen zu erwirken. Gleichviel, ob der Einsatz dieses Mittels insbesondere aus finanziellen Gründen unterbleibt oder später erwogen werden sollte, würde sich damit in rechtlicher Eindeutigkeit jener Kollisionsfall einstellen, der hier zu bewerten ist, nämlich der Konflikt zwischen Unternehmerqualität und solcher als Träger von Fachaufsicht in der Doppelgestalt des Stadtstaates. Dabei mag es de facto unerheblich sein, ob solche Kollision auch für den Stadtstaat Berlin relevant werden kann, da seine meisten Versorgungsbetriebe als Eigenbetriebe (Art. 80 Verf. Berlin) organisiert sind5. Wenn der anders (den hamburgischen HEW vergleichbar) organisierten Berliner Kraft- und Licht A G (BEWAG), an deren Kapital Berlin mit 51 % beteiligt ist, zusammen mit den anderen „privatrechtlich organisierten Betrieben Berlins, soweit sie öffentliche Aufgaben wahrnehmen", allerdings attestiert wird, ihnen komme „kein Behördencharakter (sie!) zu, da sie nicht hoheitlich tätig werden; dennoch sind sie funktional der Hauptverwaltung (des Stadtstaates) zuzuordnen" 6 , so erinnert kündbaren Vertrag über den Betrieb eines Kernkraftwerkes abgeschlossen" (richtig: abzuschließen genehmigt!) hatte. 3 Zur Beteiligungsstruktur bei den HEW vgl. Schuppert, Zur Kontrollierbarkeit öffentlicher Unternehmen, in: Anlagen zu Drucks. 9/4545 der Hamb. Bürgerschaft 9. WP S.7, 21. 4 Dazu: F A Z Nr. 143 S. 14 vom 24.6.1983; Nr. 144 S. 16 vom 25.6.1983; zur staatlichen Einflußnahme in „Verflechtungen" über „Aufsichtsratsposten" vgl. Hoffmann-Riem, W D S t R L , Heft 40, (1982) S. 209-210. 5 Zu den spezifischen Einwirkungsmöglichkeiten auf Eigenbetriebe, die im hier behandelten Fragenbereich nicht in Betracht kommen, vgl. Scholz/Pitschas, Gemeindewirtschaft zwischen Verwaltungs- und Unternehmensstruktur (1982) S. 36 ff., 155. 6 Pfenning/Neumann (Fn. 1) Anm. 8 zu Art. 50, S. 236-237. - Nach der Anlage zu § 1 der D V O zum Allg. Zuständigkeitsgesetz i.F. vom 8.6.1982 (Berl. GVB1. S.969, 1548) Abs. 7 gehört die Aufsicht nach dem EnergG zu den Aufgaben der Hauptverwaltung und
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diese Formulierung denn doch nicht wenig an die für die H E W fälschlich verwendete Kennzeichnung „Stromabteilung der Stadtwerke". Der Blick für die zivilrechtliche Organisation der Stromversorgung ist in Berlin also offenbar nicht schärfer als in Hamburg. So mag die nachstehende Untersuchung zum hamburgischen Brokdorf-Fall prinzipiell vielleicht auch für den Stadtstaat Berlin von Interesse sein. I. Der Zusammenhang zwischen öffentlich-rechtlicher und aktienrechtlicher Kennzeichnung der HH-Beteiligung an den HEW Die Frage öffentlicher Zweckverfolgung von Gebietskörperschaften bei Wirtschaftsunternehmen ihrer Kapitalbeteiligung - von der Erwägung analoger Anwendbarkeit des Aktienrechts abgesehen - ist vorwiegend nach Maßstäben des öffentlichen Haushalts- und des Kommunalrechts behandelt worden. Dabei war im Zusammenhang mit Fragen der Prüfungskompetenz auch bereits akut geworden, was die Rechtsprechung inzwischen geklärt hat, ob nämlich eine Gebietskörperschaft überhaupt als Unternehmen i. S. des Aktienrechts gelten könne7. Und wird dort nach der Geschäftsverteilung des Senats vom 11. 8./15.9.1981 (ABl. Berlin 1981, S. 1839) Ziff. XII Nr. 11 vom Senator für Wirtschaft und Verkehr wahrgenommen. Für gesellschaftsrechtliche Einwirkungen auf die BEWAG ist der Senator für Finanzen zuständig (Ziff.VI Nr.8 der Geschäftsverteilung, a.a.O. S. 1833), für „räumliche und umweltbezogene Belange der Energie- und Wärmeversorgung" der Senator für Stadtentwicklung und Umweltschutz (Ziff. X I Nr. 4 der Geschäftsverteilung, a. a. O. S. 838). Der Senator für Wirtschaft und Verkehr (dieser selbst) und der Senator für Finanzen (vertreten durch seinen Senatsdirektor) gehören dem Aufsichtsrat der BEWAG an; vgl. Geschäftsbericht BEWAG über das 53. Geschäftsjahr 1981/82 S.4, 5. - Problemlos ist das Verhältnis zwischen dem Berliner Senat und der BEWAG offenbar nicht, wie die Auseinandersetzungen über ihre Investitionspolitik und den Plan eines neuen Heizkraftwerkes sowie die Stillegung alter Werke zeigen; vgl. „Hitziger Streit über den Bau eines neuen Kraftwerkes", FAZ Nr. 191 vom 19. 8.1983, S. 14. Bislang soll der für die EnergiewirtschaftsAufsicht zuständige Wirtschaftssenator „als Mitglied des Aufsichtsrates aktiv" geworden sein. 7 Vgl. hierzu: Ipsen, Kollision und Kombination von Prüfungsvorschriften des Haushalts- und Aktienrechts, JZ 1955 S. 593 ff.; ders., Haushaltsrecht und Aktienrecht. Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen §§48, 110 ff. RHO, §60 RWB und dem Aktienrecht, Rechtsgutachten September 1961 (unveröff.); auf Anregungen aus der Abhandlung von 1955 gehen zurück: K. Vogel, Öffentliche Wirtschaftseinheiten in privater Hand (1959) und Berkemann, Die staatliche Kapitalbeteiligung an Aktiengesellschaften (1966), beide in den Abhandlungen aus dem Seminar für Öffentliches Recht der Universität Hamburg (Hefte 47 und 53). - Die neueren Arbeiten von Hidien, Gemeindliche Betätigung rein erwerbswirtschaftlicher An und „öffentlicher Zweck" kommunalwirtschaftlicher Unternehmen (1981), von Heimburg, Verwaltungsaufgaben und Private (1982) sowie von Ehlers, Rechtsstaatliche und prozessuale Probleme des Verwaltungsprivatrechts, DVB1. 1983, S. 422 ff. berühren die hier erörterte Fragestellung nicht. - Zur „Wahrnehmung unterschiedlicher Aufgaben durch die selben Funktionsträger" unter der Fragestellung „Selbstbindungen der Verwaltung" vgl. Hoffmann-Riem, W D S t R L Heft 40 (1982)
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der Zusammenhang zwischen der Frage grundsätzlicher Zulässigkeit sog. „erwerbswirtschaftlicher Tätigkeit der öffentlichen Hand", dem Stand der einschlägigen öffentlich-rechtlichen Gesetzgebung und Dogmatik und der Novellierung des Aktienrechts im Jahre 1965 ist zutreffend hervorgehoben worden, als der Gelsenberg-Fall zur Entscheidung heranstand und gekommen war8. Der öffentlich-rechtlichen Würdigung jenes Problemkreises, in dem die aktienrechtliche Behandlung jetzt mit dem Instrument des Beherrschungsvertrages und seiner Einsetzbarkeit aufgrund der BGH-Judikatur operieren kann, ging es um die zutreffende dogmatische Kennzeichnung der öffentlichen Wirtschaftstätigkeit, die Grenzen ihrer Wirksamkeit und die Gestaltung und Sicherung jener legitimen öffentlichen Zwecke, aufgrund deren allein öffentliche Wirtschaftstätigkeit kraft Kapitalbeteiligung zulässig erschien. Um den hier relevanten Gehalt einer kraft etwaigen Beherrschungsvertrages vermittelten Einwirkungsbefugnis der HH gegenüber den H E W zutreffend zu qualifizieren, erscheint es zunächst nützlich, aus der öffentlich-rechtlichen Sicht des Zuordnungsproblems zwei Erkenntnisse hervorzuheben, nämlich (1) die dogmatische Qualifizierung der HHBeteiligung an den HEW, sowie (2) die darin liegende Zweck-Widmung mit ihren Rechtsgrundlagen und in ihrer konstruktiven Sicherung. 1. Die Qualifizierung der HH-Beteiligung
an den HEW
a) Der Zustand „heilloser Verwirrung" im Bereich der privat-rechtsförmlich wahrgenommenen staatlichen Aufgaben9, die sich „in einem Niemandsland zwischen Haushaltsrecht und Gesellschaftsrecht (beweS. 209, Anm. 55; zu „Möglichkeiten der Durchsetzung des Eigentümerinteresses an der instrumentalen Verwendung öffentlicher Unternehmen" vgl. Oettle, Nationaler Bericht zum Thema I des X I X . Internationalen Kongresses für Verwaltungswissenschaften (Berlin 1983), S.26ff.; ebenda, S. 35ff.: Oberlack, Das Zusammenwirken von öffentlichem und privatem Kapital in der Elektrizitätswirtschaft der Bundesrepublik, der S. 43, 45 die H E W behandelt (deren Vorstandsvorsitzender er ist). 8 B G H Z Bd. 69, S.334 = N J W 1978, S. 104; dazu: Ritter, Der Staat - ein Unternehmen im Sinne des Aktienrechts? Fs Flume (1978) S. 241 ff., 245, 256; Wiedemann/K.P. Martens, Die Unternehmensqualifikation von Gebietskörperschaften im Recht der verbundenen Unternehmen, in: Die Aktiengesellschaft 1976, S. 197ff., 232ff., insbes. S. 234-235. Vorher hatte insbes. Emmerich, Das Wirtschaftsrecht der öffentlichen Unternehmen (1969) S. 246 ff. die Frage der aktienrechtlichen Pflichtprüfung im Zusammenhang mit dem Haushaltsrecht behandelt, während die aktienrechtliche Literatur die verfassungsund verwaltungsrechtliche Seite der Thematik nahezu gänzlich außer Betracht gelassen hatte; Kraft, Das Verwaltungsgesellschaftsrecht (1982) S. 178 ff. 9 So das Urteil von Emmerich JuS 170, s. 333, aufgegriffen unter Zitierung Zustimmender (auch von Öffentlichrechtlern: Ossenbühl, Mallmann, H.H.Rupp) von: Burmeister, Plädoyer für ein rechtsstaatliches Instrumentarium staatlicher Leistungsverwaltung und Wirtschaftsagende, in: Wirtschaftsrecht 1972 S.340 mit Fn.73.
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gen), das schon aus rechtsstaatlichen Gründen Ärgernis erregen muß"'°, ist mit Hilfe zutreffender Fixierung verwaltungs- und haushaltsrechtlicher Begriffe und Regelungen jedenfalls punktuell aufgeklärt worden. Dazu gehört in erster Linie die Erkenntnis, daß diese Art staatliche Betätigung, wiewohl für Staatsfunktionen atypisch zivilrechtlich wahrgenommen, in der Sache Verwaltung ist und bleibt, im Sinne heute maßgeblicher Dogmatik Leistungsverwaltung. Insbesondere gilt das was hier allein in Frage steht - für die Sicherstellung des lebensnotwendigen Gutes der Energieversorgung11. Die Mehrheitsbeteiligung der H H an den HEW in Erfüllung einer Aufgabe der Leistungsverwaltung, also der Verwaltung, ist selbstverständlich nicht Staatsbetätigung qua Fiskus (wie die Verpachtung des Ratsweinkellers), und auch nicht - um diesen verfänglichen, aber verbreiteten Terminus zu verwenden - eine „erwerbswirtschaftliche", auf Gewinnmaximierung bedachte staatliche Teilhabe am Markt und Wettbewerb, obwohl jene Beteiligung dem Stadtstaat Hamburg beachtliche Erträge vermittelt hat. Diese leistungsverwaltungsrechtliche Beteiligung entspricht eindeutig den in der Präambel des Energiewirtschaftsgesetzes fixierten öffentlichen Zwecken: Sicherung preisgünstiger Energieversorgung für die Allgemeinheit. Ohne weiteren Beweises herfür zu bedürfen, bildet auch die der Hamburgischen Bürgerschaft, dem Parlament, vorbehaltene Tarifkontrolle12 ein Indiz dafür, daß die Zweckerfüllung dieser Verwaltungsaufgabe, gleicher parlamentarisch-demokratischer Kontrolle wie die öffentliche Staatsverwaltung bedürftig, ihr gleichgestellt wird. Zugleich liegt hierin ein Rechtfertigungsmerkmal: „Die staatliche Wirtschaftstätigkeit zu öffentlichen Zwecken rechtfertigt sich überhaupt nur, wenn das parlamentarische Aufsichtsrecht über die gesamte Leistungsverwaltung ebenso besteht wie über die Hoheitsverwaltung" 13 .
10 So Rittner (Fn. 8) S. 255 zum „Paukenschlag" des Gelsenberg-Urteils des B G H Senats, der damit seinem „Unbehagen" Ausdruck habe geben wollen gegenüber dem Staat, der sich als Unternehmer übernommen und als Gesetzgeber versagt habe. " Das dürfte seit Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger (1938), ders., Rechtsfragen der leistenden Verwaltung (1959), zuletzt ders., Verwaltungsrecht I 10. Aufl., (1973) S. 370 ff. insgesamt nicht mehr zu bestreiten sein; vgl. dazu auch Burmeister (Fn.9) S. 342 ff. 12 Vgl. Ipsen, Hamburgs Verfassung und Verwaltung (1956) S.352; die Tarifkontrolle beruht auf Vereinbarung zwischen der H H und den HEW, wonach die Strompreisänderung der Zustimmung des Senats bedarf, der seinerseits die Bürgerschafts-Einwilligung einholt; vgl. Emmerich (Fn. 8) S. 199; ders., Die Aktiengesellschaft 1976 S.227, der darin bereits ein Beherrschungsverhältnis sieht; dagegen Rittner (Fn. 8) S. 253 mit Anmerkung 59 und Wiedemann/Martens (Fn. 8) S. 236-237 zur abwegigen Deutung Emmerichs des in B G H Z Bd. 36 S.296 behandelten Tatbestandes. " Leisner, Mitbestimmung im öffentlichen Dienst (1970) S.74.
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b) Für die hier in Frage stehende Aufgabe der Leistungsverwaltung ist wesentlich, daß ihre Wahrnehmung trotz rechtsförmlicher Privatisierung in Organisation und stadtstaatlicher Einflußsicherung durch Kapitalbeteiligung solchen Rechtsgrundsätzen und Bindungen unterworfen bleibt, denen die gesamte Staatsverwaltung nach Verfassungs- und Verwaltungsrecht unterstellt ist. Danach ist auch auf die zivilrechtlich wahrgenommene Leistungsverwaltung anzuwenden, was Art. 3 II 2 H a m bVerf. (entsprechend Art. 20 III GG) verlautbart: auch sie ist, weil auch „Staatsverwaltung", an die Verfassung und die Gesetze gebunden. Die Gebundenheit an das Verfassungsprinzip der Gesetzmäßigkeit verlangt nicht nur eine „funktionsgerechte Organisiertheit, um behördliche Handlungsfähigkeit sowie Wirksamkeit und Uberschaubarkeit des Verwaltungshandelns zu gewährleisten" 14 , sondern ebenso die Einhaltung der gesetzlichen Zuständigkeitsordnungen, ihrer Dosierung und fachlichen Zuordnung von Handlungs- und Eingriffsermächtigungen an die Exekutive sowie die Beachtung des gesetzlich geordneten Verwaltungsverfahrens. Indem Art. 57 HambVerf. Gliederung und Aufbau der Verwaltung dem Gesetz vorbehält, wird nicht nur ein Gesetzesvorbehalt für die Verwaltungsorganisation statuiert, sondern zugleich im Sinne einer stillschweigenden Verweisung auf Art. 3 II 2 a. a. O. die Bindung der Verwaltung an diese Zuständigkeitsordnung in Bezug genommen und ihr damit verwehrt, sie - und sei es mit Mitteln zivilrechtlich wahrgenommener Leistungsverwaltung - zu ignorieren oder zu „unterlaufen" (dazu unten: II, 2, 3). Schon an dieser Stelle kann dem „Ärgernis" des Gelsenberg-Urteils 15 begegnet werden, der Staat betätige sich in allzu extensiver Weise als Unternehmer und könne dies „ohne hinreichende Kontrolle" tun; auch genügten die Haushaltsregelungen nicht, weil sie allein das fiskalische Staatsinteresse im Auge hätten. Denn: soweit der Staat im Wege der Kapitalbeteiligung Leistungsverwaltung in Privatrechtsform betreibt, ist und bleibt er doch Verwalter und als solcher rechtsstaatlich gebunden 16 . Die dem Staat zugedachte „Wahlfreiheit" seines „Doppelspiels", Aufgaben mit Mitteln öffentlichen oder privaten Rechts zu erledigen und in ihrer Wahrnehmung öffentliche Zwecke auch in Formen des Aktien-
" Stem, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Bd. I (1977) S. 647, dort S. 648 zum Folgenden. 15 Von Rittner (Fn. 8) S. 254 bemerkt. " Nicht anders dürften auch Wiedemann!Martens (Fn. 8) S. 234 zu verstehen sein, wenn sie die „Leitungsmacht" der öffentlichen Hand in Unternehmen ihrer Beteiligung auf die Befriedigung öffentlicher Interessen verweisen und ihren Entscheidungsspielraum als an „verfassungsrechtliche Grundsätze" gebunden erachten.
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rechts durch Kapitalbeteiligung zu verfolgen17, eröffnet ihm zwar zivilrechtliche Handlungsformen und -mittel. Sie befreit ihn aber im Bereich der Leistungsverwaltung nicht von den Verfassungs- und Gesetzesbindungen öffentlichen Rechts, dem jedwede Verwaltung unterworfen ist. Der Satz des Bundesgerichtshofs 18 , die öffentliche Hand bedürfte einer (nicht bestehenden) verfassungsmäßigen gesetzlichen Grundlage, um „besondere Interessen" über das allgemein zulässige Maß hinaus in der von ihr beeinflußten Gesellschaft auf deren Kosten wahrzunehmen, verträgt auch eine Abwandlung vom Standpunkt des öffentlichen Rechts aus: es bedürfte auch einer - ebenso wenig bestehenden - Grundlage solcher Qualität, wenn die „öffentliche Hand" qua „Verwaltung" sich in Einwirkungen auf die Gesellschaft ihrer Beteiligung von Bindungen lösen wollte, die das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung ihr auferlegt. 2. Grundlagen, Formen und Inhalt der öffentlichen Zweckbindung a) Die Kapitalbeteiligung der H H an den H E W ist heute nach § 65 11 und 3 L H O davon abhängig, daß ein wichtiges Staatsinteresse vorliegt, daß sich der angestrebte Zweck nicht besser und wirtschaftlicher auf andere Weise erreichen läßt und ihr angemessener Einfluß eingeräumt wird. Das entspricht §65 B H O , sinngemäß §60 II der Reichswirtschaftsbestimmungen i. Verb, mit dem früheren §48 R H O und findet seine Ergänzung in den (§§ 53 ff. H G r G entsprechenden) Prüfungsvorschriften der §§67 ff. L H O . Daß §65 I L H O als Soll-Vorschrift formuliert ist", mindert ihre instruktionelle Rechtsverbindlichkeit nicht, soweit es um die Bindung des Staates in seiner Entscheidung über das „Ob" der Beteiligung geht20. Denn Soll-Vorschriften öffentlichen Rechts sind nicht in zivilrechtlichem Sinne ihrer Nachgiebigkeit zu verstehen 2 ', sondern beziehen sich auf den Ermessensumfang der Verwaltung und sind für sie in diesen Grenzen ebenso verbindlich wie Muß-Vorschriften 22 .
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Grundsätzlich hierzu: Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre 2. Aufl. (1966) S.328ff.; zuletzt Binder, Der Staat als Träger von Privatrechten (1980) S. 8 ff. 11 II 3 der Gelsenberg-Entscheidung. " Kropff, Zur Anwendung des Rechts der verbundenen Unternehmen auf den Bund, ZHR 144 (1980) S.97-98 nennt sie eine „verwaltungsinterne .Soll-Vorschrift'". 20 O b die entsprechende Soll-Vorschrift des § 65 BHO Außenwirkung und infolgedessen gegenüber dem Aktienrecht derogierende Kraft haben könnte, ist hier ohne Interesse; dazu (verneinend): Emmerich (Fn. 8), S. 164-165 unter Hinweis auf die Gesetzesbegründung. 21 Abwegig deshalb: Fischer, Finanzarchiv N F Bd. 15 (1954/55) S.426. 22 BVerwG DVB1. I960, S.252ff.; Wolff-Bachof, Verwaltungsrecht I 9.Aufl. (1974) S. 196.
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Wesentlich ist der materiell-rechtliche Gehalt der Vorschrift, die ein Verbot eigenwirtschaftlicher Staatstätigkeit außerhalb dieser Grenzen verlautbart". Und sie statuiert, wiewohl instruktioneil formuliert, mit der Publizitätswirkung einer jeden verkündeten Rechtsnorm, daß die staatliche Beteiligung unter vorheriger Sicherung des nötigen staatlichen Einflusses öffentlicher Zweckverfolgung stattfindet und auch nur unter gleichen Zweckgesichtspunkten vorgenommen werden darf. b) Ob für die Kapitalbeteiligung der HH an den HEW deshalb, weil der Stadtstaat HH „rechtlich auch Gemeinde" ist24, als Zulässigkeitsmaßstab und Weisungsermächtigung auch die in den früheren §§ 67, 70 D G O und den Nachfolgevorschriften des deutschen Gemeinderechts verlautbarten Prinzipien maßgeblich sind, kann hier auf sich beruhen25. Denn es geht hier im Kern der Fragestellung nicht um die Zulässigkeit der HH-Beteiligung an den HEW und eine etwa auf öffentlichem (Gemeinde-)Recht beruhende Weisungsbefugnis der HH gegenüber staatlichen HEW-Organmitgliedern zum „Ausstieg", sondern um eine kraft etwaigen Beherrschungsvertrages zu vermittelnde Einwirkungsmöglichkeit dieses Inhalts. Ihre Ersetzbarkeit aber hängt ab vom Inhalt der mit ihr verfolgten Zwecke. Ihrer Stipulation gegenüber den HEW und ihrer näheren Determinierung ist nachzugehen. c) Die - auch von mir - vertretene Auffassung, durch haushaltsrechtlich geforderte Abmachungen zwischen Staat und Beteiligungsgesellschaft über Zweck- und Einflußsicherungen könne eine den aktienrechtlichen Normbestand modifizierende Wirkung eintreten, und zwar kraft öffentlichen Haushaltsrechts und der durch öffentlich-rechtliche Verträge stipulierten staatlichen Aufsichtsbefugnisse, hat den Widerspruch der Zivilrechtler gefunden26. Diese Auffassung ging davon aus, daß dem Staat kraft seiner zivilrechtlichen Beteiligung bereits solche Mitgliedschafts- und Verwaltungsrechte zustehen, die das Aktienrecht ohnehin einräumt. Diese Art und dieses Ausmaß staatlicher Einwirkungsbefugnis konnte und kann das Haushaltsrecht mit seinen Geboten der Einflußsicherung also ohnehin voraussetzen. Es war indes anzunehmen, daß sich die Regelungen des Haushaltsrechts hierin nicht erschöpfen. Denn sie normieren öffentlich-rechtliche Anforderungen, die die Einräumung erforderlichen Einflusses zur Durchsetzung der mit der Beteiligung verfolgten öffentlichen Zwecke zum Gegenstand haben, und dies in der Ipsen, J Z 1955, S.595; ders., Rechtsgutachten (Fn. 7), S.30ff. Ipsen, Hamburgisches Staats- und Verwaltungsrecht 5. Aufl. (1975) S. 10; ders., (Fn. 12), S. 233 ff. 25 Dafür: Ipsen, (Fn. 12), S. 238; ablehnend: Β G H Z Bd. 36 S. 305 = N J W 1962 S. 866; gegen diese Entscheidung: Berkemann (Fn. 7), S.215. 2 ' Zutreffende Darstellung unter Hinweis auf die zivilrechtliche Gegenposition bei Wiedemann-Martens (Fn. 8), S. 232-233. 23
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Erkenntnis und der ratio legis, die aus der Beteiligung fließenden zivilrechtlichen Mitgliedschafts- und Verwaltungsrechte als solche seien weder allgemein noch in der Regel ausreichend, um den zur öffentlichen Zweckverfolgung erforderlichen Einfluß zu sichern. Zutreffend ist dieses Gebot für die vergleichbaren Verhältnisse im Kommunalrecht mit der Feststellung umschrieben worden: „Mitgliedschaftsrechte . . . vermögen nun einmal nicht einen ,organischen Zusammenhang' zu institutionalisieren, der die Zweckbindung des öffentlichen Unternehmens rechtswirksam garantiert"27. Das haushaltsgesetzliche, seinerseits Verfassungsanforderungen ausprägende Anliegen, auch kraft zivilrechtlicher Staatsbeteiligung an Wirtschaftsunternehmen für ausschließlich öffentliche Zweckverfolgung zu sorgen, erschien mit der aktienrechtlichen Ordnung allein und selbst nicht erfüllt, so daß zusätzliche Sicherung eben durch dahingehende Abmachungen geboten erschien. Hier ist nicht weiter zu erörtern, ob und wie dieses Postulat weiterhin zu vertreten und zu begründen ist. Entscheidend ist hier lediglich die Feststellung, daß solchen Abmachungen jedoch niemals die Wirkung zugedacht worden ist, den Staat mit ihrer Hilfe aus seinen verfassungsrechtlichen Bindungen der Zuständigkeitsordnung und des Prinzips der Gesetzmäßigkeit seiner Verwaltung zu lösen. Auch die Erfüllung des Zwecksicherungs-Anliegens muß stets der Einsicht entsprechen, daß der Staat, der sich beteiligt, in anderem Sinne „wirtschaftet" als der Bürger, weil er in keinem Zeitpunkt aufhört und aufhören darf, sich seiner Aufgaben und Bindungen auch als Herrschaftsträger bewußt zu sein. Nach der Gelsenberg-Entscheidung des Bundesgerichtshofs, die dem Staat als „Unternehmen" den Abschluß eines Beherrschungsvertrages ermöglicht28, wovon eben hier ausgegangen wird, stellte sich die Frage, zu welcher Art staatlicher Zweckverfolgung ein solcher Vertrag legitimiert. Denn ihm käme, falls der Staat nicht in anderer Weise dem haushaltsrechtlich gebotenen „wichtigen Staatsinteresse" entspräche, eben jene Funktion zu, die ansonsten in Gestalt der soeben gekennzeichneten „Abmachungen" erfüllt werden kann29. Ob gegen die Gestaltung der Einflußnahme qua Beherrschungsvertrag Bedenken bestehen können, weil seine Eingehung u.U. die in §65 1 2 L H O vorgeschriebene Köttgen, Die wirtschaftliche Betätigung der Gemeinden, in: Hundert Jahre deutsches Rechtsleben, Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages Bd. I ( 1 9 6 0 ) S. 6 1 1 ; ders., Gemeindliche Daseinsvorsorge und gewerbliche Unternehmerinitiative S. 82. 27
Vgl. II 5 der Entscheidungsgründe. (Fn. 8), S. 217, 221 ff. hat diese Abmachungen bereits als Beherrschungsverträge qualifiziert, soweit der Staat sich nachhaltigen Einfluß auf die Unternehmensleitung sichert; zu dieser „Parallele" vgl. auch Berkemann, (Fn. 7), S. 195 ff. 28
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Begrenzung der EinZahlungsverpflichtung auf einen bestimmten Betrag angesichts der etwaigen Verlustübernahmepflicht (§302 AktG) überschreiten kann, darf hier unberücksichtigt bleiben. Denn sie betrifft nicht den Kern der hier behandelten Fragestellung. Daß diese Verpflichtung eine finanzielle Belastung des Staates bedeutet, bleibt gleichwohl zu beachten30. Auch für Art und Umfang der durch Β eherrschungsvertrag dem Staat vermittelten Einwirkungsbefugnisse mag sich die vorher für haushaltsrechtliche „Abmachungen" erwogene Frage stellen, ob und inwieweit sie die bereits aktienrechtlich vermittelten Ermächtigungen kraft öffentlichen Rechts überhöhen können, ob also eine Gebietskörperschaft als beherrschendes Unternehmen intensiver zu beherrschen vermag als ein solches des Zivilrechts. Indes kann auch diese Frage hier auf sich beruhen, denn: wenn für die „Abmachungen" festgestellt werden mußte, daß auch die durch sie dem Staat eröffneten, etwa zusätzlichen Einwirkungsbefugnisse jedenfalls keine Freistellung von seinen verfassungsrechtlichen Bindungen als Herrschaftsträger zur Folge haben können, so gilt diese Erkenntnis gleichermaßen für alle denkbaren Wirkungen des Beherrschungsvertrages. Auch in dieser Position bleibt der Unternehmer-Staat Herrschaftsträger und als solcher verfassungsrechtlich gebunden an die Ordnung, die seine hoheitlichen Zuständigkeiten regelt und bestimmt, eben an das Prinzip gesetzmäßiger Verwaltung. II. Die kraft „Beherrschung" beanspruchte Einwirkungsbefugnis zum „Ausstieg" aus Brokdorf Der hier erörterte Kollisionsfall kann eintreten, wenn auf der Grundlage eines etwa zwischen der HH und den HEW abzuschließenden Beherrschungsvertrages gemäß §308 I AktG die Weisung zum „Ausstieg" aus Brokdorf erteilt werden würde mit der Begründung, daß dies den Belangen der H H diene. 1. Eingrenzung der relevanten öffentlichen Interessen Der Bundesgerichtshof bezweifelt die strikte Unterscheidbarkeit und Gegensätzlichkeit öffentlichen und privatwirtschaftlichen Interesses als Triebkräfte wirtschaftlichen Handelns, und öffentliche und private Interessenverfolgung seien nicht scharf zu trennen31. Für die Kapitalbeteiligung der H H an den HEW, für die damit intendierte Interessenverfolgung und für die kraft Beherrschung etwa ermöglichte Weisung zum „Ausstieg" ist indes eine hinreichend deutliche Eingrenzung der ver30 31
Dazu: Kropff (Fn. 19), S. 97-98. II 3 der Urteilsgründe.
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schiedenen in Frage stehenden Interessen möglich und durchführbar32. Es geht hierbei für die HH um durchaus „begrenzbare öffentliche Aufgaben" aus dem Gesamtbereich ihr zustehender „politischer Aktivitäten in ihrer ganzen Vielfalt"33. a) Mit Recht ist darauf hingewiesen worden, daß die den §§311 ff. AktG und ihrer ratio vom Gesetzgeber zugedachte Funktion," lediglich Vermögensinteressen des Konzerns mit dem Beherrschungsvertrag zur Geltung zu bringen, als für öffentliche Unternehmen einer Gebietskörperschaft nicht „stimmig" genannt werden kann34. Zumal der Bundesgerichtshof sich selbst von dieser Interpretation gelöst hat, muß das im Falle der „Ausstieg"-Anordnung in Frage stehende Vermögensinteresse der HH im Kreis der insgesamt relevanten Interessen placiert werden. Da die HH haushaltsrechtlich gehalten ist, auch insoweit die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit zu wahren, die „Ausstiegs"-Anordnung kraft Beherrschungsvertrag indes ausschließlich Haushaltsbelastungen auslöst, kommt ein Vermögensinteresse der HH als relevantes öffentliches Interesse für die „Ausstiegs"-Anordnung nicht in Betracht. §65 I 2 LHO (Begrenzung der EinZahlungsverpflichtung auf einen bestimmten Betrag) und § 7 LHO (Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit, Voraussetzung einer Nutzen-Kosten-Untersuchung vor Maßnahmen erheblicher finanzieller Bedeutung) stehen einer Berufung auf HHVermögensinteressen zu Gunsten einer „Ausstiegs"-Anordnung eindeutig entgegen. b) Die Berufung auf das noch nicht mit hinreichender Sicherheit befriedigte öffentliche Interesse an der Lösung des Entsorgungs-Vroblems ist der HH verwehrt, da es ihr hierfür in bezug auf Brokdorf an gehöriger Zuständigkeit fehlt. Diese liegt beim Land Schleswig-Holstein als demjenigen, in dessen Gebiet die Anlage errichtet wird und betrieben werden soll, als Problem des Gesamtstaates beim Bund. Eine in Betracht kommende Mitwirkung der HH hieran durch Verfahrensbeteiligung berührt die Verbandskompetenz des Landes Schleswig-Holstein für „Brokdorf" nicht und begründet keine solche der HH35. c) Die Verbandskompetenz der HH in bezug auf Brokdorf erschöpft sich in derjenigen der §§ 4 II und 5 EnergG. Die Zuständigkeit gemäß § 4 II a.a.O. bezieht sich auf das öffentliche Interesse einer Investitionskontrolle, ist kein Instrument zur Durchsetzung einer bestimmten Ener32 Insoweit ist die Kritik von Zöllner, Zur aktienrechtlichen Unternehmenseigenschaft der Bundesrepublik Deutschland, AG 1978 S.43 an der BGH-Entscheidung wohl begründet. 33 So Rittner (Fn. 8), unter Bezugnahme auf das Gelsenberg-Uneil zu II 3 und II 6 a Ε. 34 Wiedemann-Martens, (Fn. 8), S. 236. 35 Zur einschlägigen Anwendung der §§7, 9 a AtG vgl. Degenhart, Kernenergierecht (1981) S. 39 ff.
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giepolitik und liefert keine Ermächtigung zur Untersagung des Strombezuges der H E W aus Brokdorf. Infolgedessen entfällt auch eine etwaige Berufung der H H auf eine Atomstrom-Abhängigkeit der H E W als Anliegen einer bestimmten Energiepolitik. Im übrigen ist - unbestreitbar - alle Handlungszuständigkeit der H H auf dieser Rechtsgrundlage durch zeitliche Verwirkung, durch Nichtbeanstandungsbescheid als Verzicht und durch die frühere Genehmigung des Strombezuges durch die H E W gemäß §5 EnerG, weil ausgeschöpft, erloschen, auch nicht durch Widerruf wiederherstellbar 36 , und eine sonstige „umfassende Anordnungsgrundlage" enthält das Gesetz nicht57. Der H H als hoheitlich handelnder Gebietskörperschaft ist es folglich verwehrt, die in den §§ 4, 5 EnergG ihrer Wahrnehmung überantworteten öffentlichen Interessen mit Mitteln der Wirtschafts-Fachaufsicht weiterhin geltend zu machen. Das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung steht allen dahingehenden Handlungsintentionen der H H entgegen. d) Hinsichtlich derjenigen Interessen, die die H H zur Begründung einer „Ausstiegs"-Anordnung geltend macht, ist die Einflußnahme parteipolitischer Beschlußgremien auf Entscheidungen des Senats ohne rechtliche Relevanz. O b und inwieweit der Senat seine Entscheidungen in solcher Weise orientiert und ob hiergegen auch verfassungsrechtliche Bedenken anzumelden sind, ist für die in Frage stehenden öffentlichen Interessen rechtlich unerheblich. Die Entscheidungen des Senats bemessen sich ausschließlich nach den Anforderungen und Maßstäben der einschlägigen Rechts- und Zuständigkeitsordnung und übergeordneter Verfassungsprinzipien. Parteipolitisch geltend gemachte Interessen, die in Senatsentscheidungen eingehen und allein auf diese Weise die Qualität „wichtiger staatlicher Interessen" (§65 I L H O ) annehmen könnten, werden ausschließlich in Gestalt solcher Staatsakte zu maßgeblichen öffentlichen Interessen und infolgedessen auch nur in dieser Qualität rechtlich bewertet. e) Das maßgebliche Beteiligungsinteresse der H H an den H E W besteht im öffentlichen Interesse an der Sicherheit und Preisgünstigkeit der Energieversorgung. Der Gesetzgeber des Energiewirtschaftsgesetzes hat diese Interessen - in der Präambel formuliert - als die im Bereich der Energiewirtschaft maßgeblichen öffentlichen Interessen qualifiziert. Sie bestimmen im Rahmen des hier fraglichen Tatbestandes Sinn und Zweck 36 Diese Rechtsfragen sind durch Rechtsgutachten abschließend geklärt und dürften unstreitig geworden sein. 37 Kraft (Fn. 8), S. 197, Badura, in: Badura/Kern, Maßstab und Grenzen der Preisaufsicht nach § 12 a der Bundestarifordnung Elektrizität, Hamburger Beiträge zum Handels-, Schiffahrts- und Wirtschaftsrecht Bd. 8 (1983) S.42.
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der einschlägigen §§ 4 und 5 EnergG und ihrer Anwendbarkeit. Sie sind die in den Zuständigkeitsgrenzen des Gesetzes der H H verfügbaren, mit Mitteln der Hoheitsverwaltung verfolgbaren, öffentlichen Interessen. Und sie sind auch diejenigen, die an sich kraft Beherrschungsvertrages durch die H H gegenüber den HEW zur Geltung gebracht werden dürften. Die daraus sich ergebende entscheidende Frage geht deshalb dahin, ob die H H unter Berufung auf ihre aktienrechtlichen Beherrschungsbefugnisse auf die HEW mit der „Ausstiegs"-Anordnung zur Erzielung von Ergebnissen einwirken dürfte, die sie als Hoheitsträger im Rahmen ihrer Energiewirtschafts-Aufsicht rechtlich nicht erzielen kann, oder anders formuliert: vermag die zivilrechtliche Beherrschung der Gebietskörperschaft die Befugnis zu Maßnahmen zu rechtfertigen, die zu identischen öffentlichen Zwecken und mit gleichbelastender Wirkung zu treffen ihr die einschlägige Gesetzgebung als Hoheitsträger versagt? 2. Die Bindung der HH an das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung a) Der Bundesgerichtshof räumt der öffentlichen Hand die Befugnis ein, Einfluß auf das abhängige Unternehmen auszuüben, „wenn sie sich in dem nach öffentlichem Recht zulässigen Rahmen" als Großaktionär unternehmerisch betätigt38. Diese Wendung dürfte primär auf die öffentlich-rechtliche Grenze unternehmerischer Staatstätigkeit an sich zielen, also insbesondere solche des Haushaltsrechts. Recht verstanden, muß sie aber auch für solche zwecks Einflußnahme wahrgenommenen Aktivitäten gelten, die als Staatshandlungen innerhalb eines Ermächtigungsrahmens öffentlichen Rechts stattfinden. Zutreffend ist deshalb darauf hingewiesen worden, daß mit nachteiligen Einflußnahmen i. S. der §§17 I, 311 AktG nicht solche öffentlicher Gewalt, also der Exekutive oder der Gesetzgebung, gemeint sein können, deren Zulässigkeit und Folgen sich nach den Normen öffentlichen Rechts richten". Es bedarf deshalb der Prüfung „von Fall zu Fall", wie die staatliche Einwirkung zu qualifizieren ist40. Für hier in Frage stehende Einwirkungen der H H auf Vgl. II 4 der Urteilsgründe. Kröpf'f (Fn. 19), S. 91-93; ebenso im Hinblick auf den aktienrechtlichen Nachteilsausgleich, der durch Hoheitsmaßnahmen nicht ausgelöst wird: Wiedemann-Martens (Fn. 3), S. 237; Kraft (Fn.8), S. 168 verweist zutreffend auf die der „Beherrschung" gezogenen Grenzen, die sich aus dem Aktienrecht und „den allgemeinen Vorschriften" ergeben, damit insbesondere (S. 67) dem Rechtsstaatsprinzip. 40 B G H unter II 3. Seine Gelsenberg-Entscheidung hat (unter II 4) selbst erkannt, daß hier Probleme liegen, die „zu beseitigen . . . jedenfalls das Aktienrecht weder geschaffen noch geeignet ist", ohne indes das gerade hier anstehende einer Bindung der Gebietskörperschaft als Hoheitsträger zu erkennen; begründete Kritik hierzu bei Rittner (Fn.8), S. 248-249. 38
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die H E W ist bei dieser Prüfung zu beachten, daß Handlungsermächtigungen des Energiewirtschaftsgesetzes, die nach der einschlägigen Zuständigkeitsverteilung von der hamburgischen Behörde für Wirtschaft, Verkehr und Landwirtschaft wahrgenommen werden und gegenüber den H E W wahrgenommen worden sind, als solche hamburgischer Landeszuständigkeit gleichermaßen dem Senat zuzurechnen sind. Denn nach hamburgischem Recht verfügt der Senat als oberste Landesverwaltungsbehörde kraft Weisungsrecht und Evokationsbefugnis potentiell über alle Zuständigkeiten der Fachbehörde, und von ihnen kraft Landeszuständigkeit ergehende Hoheitsakte sind für Fachbehörde und Senat gleichermaßen relevant41. b) Die Beteiligung der H H an den H E W ebenso wie etwaige Einwirkung auf diese zum Abschluß eines Beherrschungsvertrages und dieser selbst sind von der H H vollzogen und würden vollzogen werden kraft ihrer Wahlfreiheit zum Einsatz privater Rechtsmacht, die dem Staat in Grenzen zusteht. Daß diese Wahlfreiheit 42 zu staatlichen Aktivitäten geführt hat, die herkömmlich 43 als „Flucht ins Privatrecht" plakatiert worden sind, ist bekannt und bedarf hier keiner näheren Darlegung. Wohl aber bedarf immer zu wiederholender Hervorhebung, daß sich diese „Wahlfreiheit ,natürlich' nur im Rahmen des grundgesetzlich festgelegten Systems der zernierten Staatsgewalt sowie der durch die verfassungsmäßige Ordnung funktional abgesteckten Kompetenzsphäre des Hoheitsverbandes entfalten kann" 44 . Im Sinne dieser Aussage genügt für die folgenden Erörterungen die Feststellung, daß diese Wahlfreiheit zum Einsatz seiner Privatrechtssubjektivität den Staat jedenfalls im Bereich der Leistungsverwaltung, um die es hier geht, nicht zu emanzipieren vermag von den verfassungsrechtlichen Bindungen, denen er als Verwaltungsträger nach dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung unterworfen ist. Es ist hiermit nicht zu vereinbaren, daß die dem Staat zustehende Wahlfreiheit zwischen zivil- und öffentlich-rechtlicher Wahrnehmung von Aufgaben der Leistungsverwaltung zu einer „Einebnung" staatlicher Kompetenzbereiche und zu einer zivilrechtlichen Denaturierung qualitativ hoheitlicher Funktionen führt. Die staatliche Wahlfreiheit über den Einsatz ziviloder öffentlicher-rechtlicher Gestaltung entscheidet zwar unter Handhabung einer Art „Kollisionsnorm" über die jeweilige Anwendbarkeit zivilen oder öffentlichen Rechts. Indes vermittelt diese Kompetenz
Vgl. § 1 IV des Gesetzes über Verwaltungsbehörden; Ipsen (Fn. 12), S. 299 ff. Vgl. dazu grundsätzlich: Herbert Krüger (Fn. 7), S. 321 ff., 326. 43 Offenbar seit Fleiner, Institutionen des deutschen Verwaltungsrechts, 8. Aufl. (1928) S. 326. 44 Burmeister (Fn. 9), S. 322-323; ders., S. 345 ff. auch zum Folgenden. 41
42
Der Stadtstaat als Unternehmer und Träger der Fachaufsicht
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keineswegs die Befugnis, zugleich und beliebig von dem für das Verwaltungshandeln des Staates maßgeblichen öffentlichen Sonderrecht freizustellen45. Es entspricht dieser Erkenntnis, daß für die umstrittene Frage der Fiskalgeltung der Grundrechte die „sachliche Gestaltung des staatlichen Wirkens", nicht seine Formen den Ausschlag geben: es gibt „kein Reservat staatlichen Wirkens, das, weil es sich in Formen des Privatrechts vollzieht, dem Geltungsanspruch der Verfassung nicht untersteht", zu deren Prinzipien dasjenige der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung gehört46. c) Es ist demgegenüber abwegig, diese Bindung auch zivilrechtlich formierter staatlicher Leistungsverwaltung an das Verfassungsprinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung nach Maßstäben eines Geltungsvorranges öffentlichen Rechts gegenüber dem Zivilrecht, also als den Fall einer Gesetzeskonkurrenz, zu bestreiten und solchen Vorrang dem Aktienrecht als lex specialis oder lex posterior zuzuweisen 47 . Denn es geht bei dieser Zuordnungsfrage nicht um Nonnbestände, sondern darum, ob der Staat mit Mitteln des Zivilrechts über Prinzipien zu disponieren vermöchte, die von Verfassungs wegen seine Verwaltungsorganisation und das sie regelnde Ermächtigungssystem bestimmen. Weil der Staat in dieser Disposition verfassungsgebunden ist, fehlt es ihm bereits an Kompetenz, Elementen seiner Zivilrechtsordnung derogierende Kraft jener angeblichen „Vorrang"-Wirkung beizulegen. Eine Frage der angeblichen „Rangordnung" stellt sich deshalb nicht. Zwischen Rechtshandlungen des Staates, die nach staatlicher Zuständigkeitsordnung in ihrer Grundlage und Wirkung als Ausfluß der Staatsgewalt zu beurteilen sind, und solchen als Ausfluß seiner Privatrechtsfähigkeit besteht eine „rechtszwingende Barriere", die ihre Vergleichbarkeit ausschließt48. 45 Pestalozzi Formenmißbrauch des Staates (1973) S. 174-175: „Auf jeden Fall, an dem der Staat beteiligt ist, findet sein Sonderrecht Anwendung. Staatliches Verhalten beurteilt sich stets nach staatlichem Sonderrecht, d. h. es sind diejenigen Normen anzurufen, als deren Pflicht- oder Rechtssubjekt der Staat erscheint"; ebenso Herbert Krüger, W D S t R L Bd. 19 (1961) S. 261; Rill, Komm, zu den österreichischen Raumordnungsgesetzen (1982) S. 73-76: das Mißbrauchsverbot gilt im Verhältnis hoheitlicher Festlegungen zur Privatwirtschaftsverwaltung ein und derselben Gebietskörperschaft. 44 Zuletzt: Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 13. Aufl. (1982) Rdn.348. 47 So aber Emmerich (Fn. 8), S. 161, 192. 48 Burmeister (Fn.9), S. 3349; Kirchhof, Verwaltung durch „mittelbares" Einwirken (1977) S. 158-159 spricht insoweit von willkürlicher Vortäuschung von Gesetzeskonkurrenz; auch Badura, (Fn. 37), S. 42 verweist auf die verfassungsrechtlich gebotene Trennung von Einflußmöglichkeiten der gesetzlich geregelten Aufsicht über Energieversorgungsunternehmen und solchen aufgrund von Anteilsrechten der öffentlichen Hand.
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Hans Peter Ipsen
3. Einsatz der aktienrechtlichen Einwirkung al$ verfassungswidriger Formenmißbrauch a) Der Einsatz der kraft etwaigen Beherrschungsvertrages in Anspruch zu nehmenden Befugnis, auf die H E W zum „Ausstieg" aus Brokdorf einzuwirken, ist in der üblich gewordenen Terminologie 49 als unzulässiger „Formenmißbrauch" zu qualifizieren. Er besteht in der Wahrnehmung zivilrechtlicher Rechtsmacht zur Erreichung eines die H E W rechtlich und vermögenswertig belastenden Ergebnisses, das nach dem Prinzip gesetzmäßiger Verwaltung zu erreichen der Staat verfassungsrechtlich gehindert sein würde. In der weiteren Begründung dieser Feststellung mag hier unerörtert bleiben, ob bereits die Einwirkung auf die H E W zum Abschluß des Beherrschungsvertrages selbst deshalb verfassungsrechtlich zu beanstanden sein würde, weil er erzwungen würde, um die Anordnung des „Ausstiegs" zu ermöglichen. Die Mahnung, Bund und Länder sollten „ihre Verantwortung als Staat so ernst nehmen, daß sie weiterhin auf den Abschluß von Beherrschungsverträgen verzichten" 50 , mag an dieser Stelle gegenüber der H H im Hinblick auf das mit Beherrschung der H E W verfolgte Ziel genügen. b) Die kraft Beherrschung getroffene Anordnung zum „Ausstieg", den die H H mit den von ihren Verwaltungsorganen wahrzunehmenden Befugnissen der Energiewirtschafts-Aufsicht zu erwirken nicht befugt ist, darf sie auch nicht nach Maßstäben der Widerrufsregeln des Verwaltungsverfahrensrechts herbeiführen. Die „Ausstiegs"-Anordnung könnte in diesen ihren beabsichtigten Wirkungen als ein zivilrechtlich begründeter und „verkappter" Verwaltungsakt gedeutet werden, den als solchen zu erlassen der H H als Hoheitsträger die Rechtsgrundlage fehlt. Ein solcher Vorgang ist als „Entartung in der staatlichen Organisationsstruktur", als unzulässige „Einebnung des staatlich-bürgerlichen Funktionsdualismus" oder „Absetzbewegung in das Privatrecht" umschrieben worden", als „Frisierung" eines verwaltungsrechtlichen Verhältnisses als privatrechtliches 52 , als Selbstbestellung des Staates zum „Privatmann zur Wahrnehmung einer öffentlichen Aufgabe" 53 , als „Umgehung öffentlich-rechtlicher Bindungen" und unzulässige Formen-„Vertauschung" 54 , als „Flucht aus der Hoheitsgewalt" 55 , auch als „kollusive Überspielung von Rechtssätzen". Gleichviel, welcher Kennzeichnung
49 50 51 52 55 54 55
Pestalozza (Fn.5), S.17ff. So Rittner (Fn. 8) S.253. Burmester (Fn.9), S.319, 336, 339. Wolff-Bachof (Fn. 22), S. 112. BVerfGE Bd. 10, S.327. Forsthoff (Fn. 11), s. 100, 125. Naumann, W D S t R L Heft 11 (1954), S. 131.
Der Stadtstaat als Unternehmer und Träger der Fachaufsicht
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der V o r z u g gegeben wird: der Vorrang würde als l ormenmißbraucb zu qualifizieren sein, weil die zivilrechtliche „ A u s s t i e g s " - A n o r d n u n g bewirken würde, was nach dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit zu erwirken die Staatsgewalt der H H nicht ermächtigt ist. D i e auch grundrechtsträchtigen Wirkungen solchen Formenmißbrauchs würden evident werden, wenn die „Ausstiegs " - A n o r d n u n g mit d e m Verbot verbunden würde, gegen sie als „verkappten" Verwaltungsakt den Rechtsschutz der Verwaltungsgerichte in Anspruch zu nehmen 5 6 . c) D a ß das fragliche, formenmißbräuchliche Vorgehen der H H mit gleichen Konsequenzen auch dem Vorwurf eines venire contra factum p r o p r i u m ausgesetzt ist, mag zusätzlich angemerkt werden. Dieser allgemeingültige Rechtsgedanke 5 7 könnte die Mißbräuchlichkeit eines aktienrechtlichen Vorgehens der H H zur A u f g a b e des B r o k d o r f - E n g a gements der H E W zusätzlich kennzeichnen.
III. Schlußbemerkung Verfassungsrechtlich und verfassungspolitisch zwar nicht erbaulich, aber denn doch wegen der Identität der beiden Beteiligten mindestens historisch erwähnenswert ist die Tatsache, daß die H H es vor mehr als drei Jahrzehnten - vergeblich - unternommen hat, ihre politischen Vorstellungen gegenüber den H E W in umgekehrter Methode eines Formenmißbrauchs durchzusetzen 5 8 . E s ging im Jahre 1949 u m den Versuch des hamburgischen Gesetzgebers, gestützt auf eine v o m Senat bei der britischen Besatzungsmacht initiierte Militärregierungs-Ermächtigung, die ihrerseits Grundrechtsgewährleistungen des Grundgesetzes außer acht ließ, den hamburgischen Staat aus zivilrechtlichen Vertragsbindungen zur H E W ohne nach Art. 14 A b s . 3 G G angemessene Entschädigung der freien Aktionäre zu lösen und eine Verstaatlichung der H E W herbeizuführen.
56 Kropff (Fn. 19), S. 91, 92, der dem Zusammenhang zwischen Beherrschung und Aufsicht öffentlichen Rechts am nächsten kommt, befaßt sich indes nicht mit dieser Fragestellung, sondern mit der Eingrenzung beherrschender Einflüsse gemäß § 17 I A k t G gegenüber rechtlich zulässigen Einwirkungen öffentlicher Gewalt durch Erlaß von Verwaltungsakten oder N o r m e n , die als solche die Haftung nach §§311, 317 A k t G nicht auslösen.
Forsthoff (Fn. 11), S . 2 1 9 ; Pestalozza (Fn.45), S.29 mit A n m . 1 7 6 S . 3 5 ; Ipsen, Aktionär und Sozialisierung in Verkehrs- und Energiewirtschaft, gedr. Rechtsgutachten (1949) S. 33. 58 Vgl. dazu mein der Arbeitsgemeinschaft der Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz erstattetes Rechtsgutachten (Fn. 57) v o m 3. August 1949. 57
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Damals sollte Hoheitsgewalt von zivilrechtlichen Bindungen lösen. Im Falle einer kraft Beherrschung zu treffenden Ausstiegs-Anordnung sollten zivilrechtliche Befugnisse von Bindungen der Hoheitsgewalt emanzipieren. Beides ist von Verfassungs wegen verwehrt.
Beschränkungen des Anlagenbetriebs und des Kraftfahrzeugverkehrs bei austauscharmen Wetterlagen* HANS D . J A R A S S
I. Grundlagen
1. Das
Smog-Problem
a) Den Berlinern wie den Bewohnern vieler anderer Ballungsgebiete ist das Problem der austauscharmen Wetterlagen, des sog. Smogs, wohl bekannt. Die in solchen Gebieten in großem Umfang emittierten luftverunreinigenden Stoffe verteilen sich normalerweise relativ schnell. Die sowohl vertikal wie horizontal sich bewegenden Luftmassen nehmen die Schmutzstoffe mit, tragen sie in größere Höhen bzw. bringen sie in benachbarte Gebiete. Dadurch wird die Konzentration der Luftverunreinigungen in der unmittelbaren Umgebung der betreffenden Quellen erheblich reduziert. Dieser „Austausch" der Luftmassen und der Schadstoffe funktioniert jedoch nicht oder nur unzureichend, wenn zum einen die Bodenluftschicht ungewöhnlicherweise kühler ist als die darüber liegende Schicht und damit der vertikale Luftmassenaustausch behindert wird und zum anderen wenig oder gar kein Wind herrscht und deshalb auch der horizontale Luftmassenaustausch nicht funktionieren kann. Zusammengenommen hat dies zur Folge, daß sich in bzw. unmittelbar über dem Ballungsgebiet eine Smoghaube mit hohen Luftverunreinigungswerten bildet 1 . b) Die für austauscharme Wetterlagen typische hohe Konzentration an luftverunreinigenden Stoffen in der Atemluft führt zu belegbaren Gesundheitsbeeinträchtigungen. Vor allem Personen mit schweren Herz- und Kreislauferkrankungen und mit chronischen Erkrankungen der Atemwege sind gefährdet. Nachgewiesen wurde auch, daß die Sterblichkeitsziffer bei Smog deutlich höher liegt als sonst 2 . Ausgelöst werden die smog-spezifischen Gesundheitsgefahren vor allem durch * Paragraphen ohne Angaben sind solche des Bundes-Immissionsschutzgesetzes. Starker Regen- oder Schneefall kann den Smog verhindern. 2 Hansmann, in: Landmann-Rohmer, Umweltrecht (III), Stand Juli 1982, Nr. 1 §40 Rdn. 2; Feldhaus, Bundes-Immissionsschutzrecht, Bd. 1 A, Stand März 1983, 1.2 §40 Anm.2; Schmitt, Umwelt 1975, 38; ders., Polizei- und Verkehrsjournal 1976, 13. 1
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Hans D. Jarass
Schwefel- und Stickstoffdioxid, durch Kohlenmonoxid, Kohlenwasserstoffe und lungengängigen Feinstaub 3 . Es handelt sich dabei um Schadstoffe, die großenteils durch industrielle Anlagen und den Kraftfahrzeugverkehr emittiert werden; aber auch Heizungen tragen Erhebliches bei. Da man die meteorologischen Verhältnisse nicht ändern kann, lassen sich die Gefahren austauscharmer Wetterlagen nur dadurch verringern, daß man bei den Emissionsquellen ansetzt und dafür sorgt, daß sie für die Dauer solcher Wetterlagen keine oder weniger Emissionen ausstoßen. Der Betrieb von Anlagen und der Kraftfahrzeugverkehr müssen zeitlich oder sachlich beschränkt werden 4 . 2. Das gesetzliche
System
Das rechtliche System der Beschränkung des Betriebs von Anlagen sowie des Kraftfahrzeugverkehrs weist mehrere Schichten auf. Im Bundes-Immissionsschutzgesetzes (BImSchG) enthalten § 40 S. 1 (für den Kraftfahrzeugverkehr) und §49 Abs. 2 (für den Betrieb von Anlagen) Ermächtigungen zum Erlaß von Rechtsverordnungen 5 . In diesen Rechtsverordnungen sollen alle generellen Voraussetzungen der Betriebs- und Verkehrsbeschränkungen festgelegt werden (dazu u. II). In Kraft treten die Beschränkungen aber erst mit einer Einzelfallmaßnahme, der „Bekanntgabe" der austauscharmen Wetterlage (dazu u. III). Die Beschränkungen des Straßenverkehrs werden zudem durch das Verkehrsrecht beeinflußt. O h n e N u t z u n g des verkehrsrechtlichen Instrumentariums lassen sie sich nicht wirksam durchsetzen. Dementsprechend ist die Ermächtigung des §40 sorgfältig mit dem Verkehrsrecht abgestimmt. Die Verknüpfung von Immissionsschutzrecht und Verkehrsrecht erfolgt dadurch, daß die bei Smog erforderlichen Straßenverkehrsbeschränkungen eine doppelte, kumulativ erforderliche Grundlage benötigen. Sie sind nur dann wirksam, wenn die immissionsschutzrechtlichen und die verkehrsrechtlichen Voraussetzungen gegeben sind'. Erstere finden ihre Grundlage in den gem. §40 S. 1 erlassenen Landesrechtsverordnungen und werden durch die Bekanntgabe der austauscharmen Wetterlage wirksam. Die verkehrsrechtlichen Grundlagen wur3
Hansmann (Fn.2), §40 Rdn.3. Schmitt, Umwelt 1975, 38. 5 Zur Entstehung der Vorschriften vgl. Hansmann (Fn.2), §40 Rdn. 12ff., §49 R d n . 3 ff.; Feldhaus (Fn.2), §40 Anm. 1, §49 Anm. 1; Ule, Bundes-Immissionsschutzgesetz-Kommentar, Stand März 1983, §40 Rdn. 1, §49 Rdn. 1. Bedenken gegen die Bestimmtheit der Ermächtigung des §49 werden von Lenz, BauR 1975, 167 erhoben. Dagegen zu Recht Ule, a. a. O., §49 Rdn. 1. 6 Hansmann (Fn.2), §40 Rdn. 10; Jarass, Bundes-Immissionsschutzgesetz, 1983, §40 Rdn. 2. 4
Beschränkungen bei austauscharmen Wetterlagen
285
den aufgrund § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 b StVG vor allem durch die Einführung eines entsprechenden Verkehrszeichens in §41 Abs. 2 Nr. 6 Zeichen 270 StVO geschaffen 7 . Daneben sind auch andere verkehrsrechtliche Maßnahmen zur Umsetzung zulässig und nötig, damit sich bei Inkrafttreten der Verkehrsbeschränkungen kein Chaos ergibt 8 . II. Die durch Rechtsverordnung festgelegten Grundlagen Von den Ermächtigungen der § § 4 0 S. 1, 49 haben bislang die Länder Baden-Württemberg, Berlin, Hessen, Nordrhein-Westfalen, RheinlandPfalz und Saarland Gebrauch gemacht'. Orientiert am Rahmenentwurf des Länderausschusses für Immissionsschutz' 0 haben sie sog. SmogVerordnungen erlassen, die die generellen Voraussetzungen sowohl der Verkehrs- wie der Betriebsbeschränkungen bei Smog regeln. Lediglich die Smog-Verordnung des Saarlandes befaßt sich dagegen allein mit Beschränkungen des Anlagenbetriebs (§49 Abs. 2)". Die Mehrzahl der Smog-Verordnungen enthalten übrigens, auf der Grundlage des Polizeirechts, auch eine allgemeine, für jedermann geltende Pflicht, sich bei Smog so zu verhalten, daß die schädlichen Luftverunreinigungen nicht zunehmen. Zudem werden die zuständigen Behörden zu entsprechenden Anordnungen ermächtigt12. Auf diese Regelungen, deren praktische Bedeutung relativ gering ist, wird im folgenden nicht eingegangen. 1. Voraussetzungen
der austauscharmen
Wetterlage
Sowohl für Betriebs- wie für Verkehrsbeschränkungen bedeutsam sind die Vorschriften der Smog-Verordnungen zu den Voraussetzungen einer austauscharmen Wetterlage. Danach muß in einer Luftschicht, die weniger als 700 m über dem Erdboden liegt, die Temperatur mit der 7 Vgl. Ule (Fn. 5), §40 Rdn.6; Engelhardt, Bundes-Immissionsschutzgesetz, 2. Aufl. 1980, §40 Rdn.5; Feldhaus (Fn.2), §40 Anm.9. 8 Vgl. amtl. Begründung zu §41 StVO, VerkehrsBl. 1976, 472. Zur Sondersituation des Verkehrs auf privatem Gelände s.u. II 3 c. Allgemein zu polizeilichen Maßnahmen bei Smog vgl. Wettschereck, Die Polizei 1979, 124 ff. 9 Baden-Württemberg: Smog-Verordnung vom 3.5.1977 (GBl. 158); Berlin: SmogVerordnung vom 24.10.1977 (GVBl. 1978, 393), geändert am 15.1.1982 (GVB1. 251); Hessen: Smog-Verordnung vom 5.3.1981 (GVBl. I 53); Nordrhein-Westfalen: SmogVerordnung vom 29.10.1974 (GVBl. Ausg. A 1432), zuletzt geändert am 23.9.1981 (GVBl. 542), SGV NW Nr. 7129; Rheinland-Pfalz: Smog-Verordnung vom 27.10.1976 (GVBl. 249); Saarland: Smog-Verordnung vom 28.7.1976 (Amtsbl. 1022). Die Verordnungen sind bei Feldhaus, Bundes-Immissionsschutzrecht, Bd. 2, Stand März 1983, abgedruckt. 10 Abgedruckt bei Hansmann (Fn.2), §40 Rdn. 37. 11 Vgl. §§5 und 6 Smog-VO Saarl. 12 § 12 f Smog-VO Hess.; §13f. Smog-VO NW; § 7 f . Smog-Vo Saarl.; § 6 f . Smog-VO Berl. (ohne Anordnungsermächtigung).
286
Hans D . Jarass
H ö h e zunehmen und außerdem die Windgeschwindigkeit in Bodennähe während einer Dauer von 12 Stunden im Mittel nicht kleiner als 1,5 m/ sec" sein. Weiter müssen bestimmte Schadstoffkonzentrationen in der Luft auftreten, wobei von folgenden Basiswerten ausgegangen wird: 0,4 mg/m 3 Schwefeldioxid, 15 mg/m 5 Kohlenmonoxid, 0,3 mg/m 3 Stickstoffdioxid und 2,5 mg/m 3 Kohlenwasserstoffe (ohne Methan) 14 . Wird einer dieser Basiswerte um das Doppelte überschritten, sind die Voraussetzungen der Alarmstufe 1 erfüllt, bei einer vierfachen Überschreitung die der Alarmstufe 2 und bei einer sechsfachen Überschreitung die der Alarmstufe 315. Geringere Überschreitungen sind ausreichend, wenn bei mehreren Schadstoffen die Basiswerte übertroffen werden 16 . Die Grenzen der Alarmstufen sind damit außerordentlich hoch angesetzt, wie ein Vergleich mit der T A Luft 1983 deutlich werden läßt, die bereits einen Schwefeldioxidgehalt von 0,4mg/m 3 für gesundheitsgefährlich ansieht 17 . Berücksichtigt man außerdem, daß die Smog-Verordnungen Maßnahmen erst bei den Alarmstufen 2 und 3 zulassen, werden die Grenzwerte noch fragwürdiger. Bei einer Herabsetzung der Grenzwerte sollte die starre Verknüpfung der anlagen- und verkehrsbezogenen Maßnahmen vor allem während der Alarmstufe 2 aufgegeben werden. Die Überschreitungen müssen jeweils bei der Hälfte aller Meßstellen in einem Smog-Gebiet über eine Zeit von drei Stunden auftreten 18 , was nur sinnvoll ist, wenn die relevanten Gebiete flächenmäßig sehr begrenzt sind. Dies ist vor allem in Nordrhein-Westfalen nicht der Fall. Die Voraussetzungen des Smog-Alarms werden schließlich durch die Lage der Meßstellen beeinflußt, für die die Smog-Verordnungen Angaben, wenn auch nicht sehr präziser Art, enthalten". Die Bedeutung der
15 § 2 Abs. 1 S m o g - V O Bad.-Würt., Hess., N W , Rh.-Pf. u. Saarl. In Berlin wird eine Windgeschwindigkeit von 2 m / s e c . verlangt ( § 2 Abs. 1 N r . 2 S m o g - V O Berl.).
" § 3 A b s . 3 der S m o g - V O Bad.-Würt., Rh.-Pf., Saarl.; § 2 A b s . 3 S m o g - V O Hess. In Nordrhein-Westfalen ist der Basiswert der Kohlenwasserstoffe durch 0,4 mg/m 3 Schwebstaub ersetzt (§ 3 Abs. 3 d S m o g - V O N W ) . Vgl. dazu Boisseree/Oels/Hansmann/Schmitt, Immissionschutzrecht, Bd. 1, Stand Februar 1983, Β II 1.9 § 3 F n . 6 . In Berlin wird allein auf S 0 2 und C O abgestellt ( § 2 A b s . 3 S m o g - V O Berl.). 15 § 3 A b s . 2 der S m o g - V O Bad.-Würt., Berl., N W , Rh.-Pf.; § 2 Abs.2 Smog-VO Hess. Die Smog-Verordnung des Saarlandes nennt die Stufe 1 „ Vorwarnstufe", die Stufe 2 „Stufe 1" und die Stufe 3 „Stufe Τ ( § 3 A b s . 2 S m o g - V O Saarl.). 16
Vgl. Fn. 15.
N r . 2.5.1 T A Luft 1983. 18 § 3 Abs. 1 der S m o g - V O Bad.-Würt., N W , Rh.-Pf., Saarl.; § 2 A b s . 2 Smog-VO Hess. In Berlin wird auf den Durchschnitt aller Meßstellen abgestellt (§ 3 Abs. 1 S m o g - V O Berlin), was nicht unproblematisch ist; allerdings ist das Meßgebiet deutlich beschränkt. 17
" Die Smog-Verordnungen verlangen, daß sich aus den Meßergebnissen eine räumlich und zeitlich differenzierte Aussage für die jeweiligen Gebiete gewinnen läßt (§ 3 Abs. 5 S m o g - V O für Bad.-Würt., N W , Rh.-Pf., Saarl.; § 2 A b s . 5 S m o g - V O Berl.). Anders
Beschränkungen bei austauscharmen Wetterlagen
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meßtechnischen Details darf nicht unterschätzt werden20; sie beeinflussen in großem Umfang die praktische Bedeutung der Smog-Verordnungen. 2. Beschränkungen
des
Anlagenbetriebs
a) Im Hinblick auf den Betrieb emissionsträchtiger Anlagen legen die Smog-Verordnungen auf der Grundlage von § 49 Abs. 2 Gebiete fest, in denen während austauscharmer Wetterlagen ein starkes Anwachsen schädlicher Umwelteinwirkungen durch Luftverunreinigungen, kurz: schädlicher Luftverunreinigungen zu befürchten ist und daher die in § 49 Abs. 2 vorgesehenen Beschränkungen des Anlagenbetriebs erforderlich sind. Diese Gebiete werden von den Smog-Verordnungen einheitlich als Smog-Gebiete21 bezeichnet, im Unterschied zu den Sperrgebieten22, in denen der Kraftfahrzeugverkehr beschränkt wird. Die Smog-Gebiete reichen erheblich weiter als die Sperrgebiete23. Das entspricht durchaus den Ermächtigungen24, obwohl §49 Abs. 2 ein starkes Anwachsen schädlicher Luftverunreinigungen voraussetzt, während sich §40 S. 1 mit einem bloßen Anwachsen begnügt. Die Voraussetzungen des §49 Abs. 2 sind im Ergebnis jedoch nicht schärfer als die des § 40 S. 1, da § 49 Abs. 2 auf alle Emittenten abstellt, §40 S. 1 dagegen allein auf den Kraftfahrzeugverkehr. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, daß der Einwirkungsbereich von Anlagen regelmäßig sehr viel größer als der von Kraftfahrzeugen ist. Endlich setzt § 40 S. 1 einen größeren Kraftfahrzeugverkehr voraus, der keineswegs in allen vom Smog betroffenen Gebieten anzutreffen ist25. b) Gestützt auf §49 Abs. 2 S.2 Nr. 2 sehen die Rechtsverordnungen zum einen vor, daß bei Alarmstufe 2 und 3 nur besonders emissionsarme, im einzelnen aufgeführte Brennstoffe verwandt werden dürfen26. Ausnahmen können gewährt werden, wenn sie im öffentlichen Interesse jedoch §2 Abs. 5 Smog-VO Hess. Hier wird lediglich verlangt, daß zwischen den Meßstellen ein Abstand von höchstens 16 km liegt. 20 Zur Ermittlung der Immissionswerte vgl. auch Schmitt, Umwelt 1975, 38; ders., Polizei- und Verkehrsjournal 1976, 13 f. 21 §1 Abs. 1 i.V.m. Anlage 1 Smog-VO Bad.-Würt., Hess., NW, Rh.-Pf. 22 § 5 Abs. 1 i.V.m. Anlage 2 Smog-Vo Bad.-Würt., NW, Rh.-Pf.; §1 Smog-VO Berl., § 6 i. V. m. Anlage 2 Smog-VO Hess. 23 Alle Gemeinden, in denen Sperrgebiete liegen (s. II 3 a), sind Smog-Gebiete, darüber hinaus eine Reihe weiterer Gemeinden. Vgl. auch jeweils Anlage 1 mit Anlage 2 Smog-VO Bad.-Würt., Hess., N W und Rh.-Pf. 24 Α. A. wohl Engelhardt (Fn. 7), § 4 9 Rdn. 12. 25 Ähnlich Hansmann (Fn.2), §40 Rdn.6, 21, § 4 9 Rdn.44; Feldhaus (Fn.2), §40 Anm.4. 26 §10 Abs. 1 Smog-VO Berl., Hess, und Rh.-Pf., § 8 Abs. 1 Smog-VO Bad.-Würt., §11 Abs. 1 Smog-VO NW, § 5 Abs. 1 Smog-VO Saarl.
Hans D. Jarass
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dringend erforderlich sind 27 . Darüber hinaus kann die Verwendung an sich unzulässiger Brennstoffe gestattet werden, wenn Emissionen durch andere Vorkehrungen (zum Beispiel durch eine Rauchgasentschwefelungsanlage) ausreichend vermieden werden 28 . D i e Brennstoffbeschränkungen gelten für alle „Anlagen" und damit für die meisten Emissionsquellen, da der immissionsschutzrechtliche Anlagenbegriff außerordentlich weit ist. G e m . der Legaldefinition des § 3 Abs. 5 werden ortsfeste Einrichtungen, bewegliche Maschinen oder Geräte sowie Grundstücke erfaßt, auf denen emissionsträchtige Arbeiten vorgenommen werden 29 . Keine Anlagen sind lediglich Fahrzeuge, die § 3 8 unterfallen, d . h . im wesentlichen alle mit Maschinenkraft betriebenen Fahrzeuge 3 0 . D i e in unmittelbarem Zusammenhang mit einer Anlage benutzten Fahrzeuge sind allerdings Teil dieser Anlage 3 1 ; da sie andererseits ihren Fahrzeugcharakter wohl nicht verlieren 32 , unterliegen sie sowohl §49 wie § 4 0 . Endlich nehmen die Smog-Verordnungen Heizungsanlagen mit einer Feuerleistung unter 100 Megajoule 3 3 bzw. 4 Gigajoule 3 4 pro Stunde von den Pflichten der Brennstoffverwendung aus. c) A u f der Grundlage von § 4 9 Abs. 2 S . 2 N r . 1 enthalten die SmogVerordnungen zum anderen Regelungen zur zeitlichen Beschränkung des Anlagenbetriebs 3 5 . aa) Alle Smog-Verordnungen ermächtigen die zuständigen Behörden, im Wege der Anordnung den Betrieb von Anlagen während der Alarm-
Jeweils Abs. 3 der in Fn. 26 aufgeführten Vorschriften. Vgl. jeweils Abs. 2 der in Fn. 26 aufgeführten Vorschriften und Hansmann (Fn. 2), § 4 9 Rdn. 51. " Zum Anlagenbegriff s. Jarass (Fn. 6), § 3 Rdn.49ff.; Kutscheidt, in: LandmannRohmer, Umweltrecht (III), Stand Juli 1982 Nr. 1, § 3 Rdn. 23 ff.; Feldhaus (Fn.2), § 3 27
28
Anm. 11 ff.; Engelhardt
(Fn. 7), §3 Rdn. 15 ff.; Ule (Fn. 5), §3 Rdn. 9ff.;
Stich/Porger,
Immissionsschutzrecht des Bundes und der Länder, Stand Febr. 1983, - Kommentar § 3 Rdn. 16ff.; Schmatz/Nöthlichs, Immissionsschutz, Stand Januar 1983, § 3 Anm. 13ff. 30
S. Hansmann
(Fn.2), §38 Rdn. 7ff.; Jarass
(Fn.6), Vorbem. 2f. vor §38;
(Fn.2), § 3 8 Anm. 2; Ule (Fn.5), § 3 8 Rdn.2; Engelhardt 31
OVG NW, DVB1 1979, 315/316; Breuer,
Rdn.5, § 3 Rdn.27; Ule
unklar Engelhardt 32 33
Saarl.
(Fn. 7), § 3 8 Rdn.l.
NJW 1979, 1868; Kutscheidt
(Fn.5), § 3 Rdn. 12; Schmatz/Nöthlichs
(Fn. 7), §3 Rdn. 17.
Feldhaus
(Fn.29), §2
(Fn.29), § 3 Anm. 14;
S. unten bei Fn. 65. So § 1 0 Abs. 2 Smog-VO Berl.; §11 Abs.2 Smog-VO N W ; § 5 Abs. 2 Smog-VO
34 So § 8 Abs. 2 Smog-VO Bad.-Würt.; § 10 Abs. 2 Smog-VO Hess.; § 10 Abs.2 SmogV O Rh.-Pf. 35 § 9 Abs. 1 Smog-VO Bad.-Würt.; § 11 Abs. 1 und 2 Smog-VO Berl.; § 11 Smog-VO Hess.; § 1 2 Abs. 1 und 2 Smog-VO N W ; §11 Abs. 1 Smog-VO Rh.-Pf. und § 6 Abs. 1 Smog-VO Saarl.
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stufe 3 für eine bestimmte Zeit zu verbieten oder einzuschränken 36 . Das ist durch die Vorschrift des §49 Abs. 2 gedeckt, obwohl die Formulierung dieser Vorschrift eher an eine direkte Festsetzung der Beschränkungen durch die Rechtsverordnung und nicht erst durch einen Verwaltungsakt denken läßt37. § 64 BImSchG bzw. die Nachfolgevorschrift des § 327 StGB verdeutlichen jedoch, daß die Smog-Verordnungen auch zu Anordnungen ermächtigen können. Diese Anordnungen werden in der Praxis nicht erst während der austauscharmen Wetterlage ergehen, sondern - aufschiebend bedingt - bereits vorher, damit die betroffenen Anlagenbetreiber sich darauf einstellen können. Sie können alle Anlagen iSd § 3 Abs. 5 betreffen, also, wie festgestellt38, praktisch alle Emissionsquellen mit Ausnahme der von §38 erfaßten Fahrzeuge. Daß die Ermächtigung des §49 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 anders als die der Nr. 2 von „ortsveränderlichen oder ortsfesten" Anlagen spricht, ist ohne Bedeutung. Ortsfest sind die Anlagen des § 3 Abs. 5 Nr. 1 und N r . 3, ortsveränderlich diejenigen des §3 Abs. 5 N r . 239. Das Anlagenbetriebsverbot kann auch für die gesamte Zeit der austauscharmen Wetterlage erfolgen. Dagegen werden Bedenken vorgetragen, weil die Ermächtigung des §49 Abs. 2 davon spricht, daß die Anlage „nur zu bestimmten Zeiten betrieben" werden dürfe. Folglich müsse jedenfalls ein eingeschränkter Anlagenbetrieb während begrenzter Zeitspannen der austauscharmen Wetterlage möglich sein40. Bei der identischen Formulierung in § 49 Abs. 1 Nr. 3 ist jedoch anerkannt, daß ein Betriebsverbot für einige Tage durchaus zulässig ist41. Berücksichtigt man, daß §49 Abs. 2 im Vergleich zu dieser Ermächtigung eher noch gefährlichere Situationen erfaßt, besteht für eine engere Auslegung der Formulierung in Abs. 2 als in Abs. 1 kein Anlaß. Andererseits ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu wahren: Genügen kürzere Beschränkungen, sind nur diese zulässig42. Als milderes Mittel kommen vor allem sachliche Beschränkungen des Betriebs in Betracht, etwa generelle Leistungsbeschränkungen 43 oder die Stillegung bestimmter Anlagenteile 34 §9 Abs. 1 Nr. 2 Smog-VO Bad.-Würt.; §11 Abs. 1 und 2 Smog-VO Berl.; §11 Smog-VO Hess.; §12 Abs. 1 Smog-VO NW; §11 Abs. 1 N r . 2 Smog-VO Rh.-Pf. und §6 Abs. 1 Smog-VO Saarl. (Alarmstufe 2 entspricht hier Alarmstufe 3 nach dem Sprachgebrauch der restl. Smog-Verordnungen, vgl. Fn. 15). 37 Ebenso Hansmann (Fn.2), §49 Rdn.60. 38 S.o. bei II 2 b und in Fn.29. 39 Ebenso Hansmann (Fn.2), §49 Rdn.46;/«ra« (Fn.6), §49 Rdn.22f. 40 Hansmann (Fn. 2), §49 Rdn. 47; vgl. auch Engelhardt (Fn. 7), § 49 Rdn. 14; Feldbaus (Fn.2), §49 Anm.8; Schmatz/Nöthlicbs (Fn.29), §49 Anm.2. 41 Hansmann (Fn.2), §49 Rdn.26f.; Feldhaus (Fn.2), §49 Anm.6. 42 Im Ergebnis wohl zustimmend Ule (Fn. 5), § 49 Rdn. 4. 43 So ausdrücklich § 9 Abs. 2 Smog-VO Bad.-Würt.; § 11 Abs. 2 Smog-VO Rh.-Pf.; § 6 Abs. 2 Smog-VO Saarl.
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bzw. -prozesse. Dem Anlagenbetreiber steht es in diesem Falle frei, statt dessen den Anlagenbetrieb für die fragliche Zeit ganz einzustellen44. bb) In Baden-Württemberg und in Rheinland-Pfalz können bei Alarmstufe 2 an allen Anlagen Wartungsarbeiten, die mit Luftverunreinigungen verbunden sind, verboten werden45. In den anderen Bundesländern sind solche Regelungen aufgrund der §§17, 24 möglich, sofern die Voraussetzungen dieser Vorschriften vorliegen46. cc) Endlich ist in Berlin, Nordrhein-Westfalen und Hessen der Betrieb von nach dem BImSchG genehmigungsbedürftigen Anlagen bei Alarmstufe 3 unmittelbar aufgrund der Smog-Verordnung verboten47. Betroffen sind davon alle in der 4. BImSchV aufgeführten Anlagen, unabhängig davon, ob sie im regulären oder im vereinfachten Verfahren zu genehmigen sind. Das Verbot wird allerdings durch eine Reihe von Ausnahmen durchbrochen, etwa für bestimmte Heizungsanlagen48 oder für den Fall, daß die Stillegung der betreffenden Anlage erhebliche Gefahren verursacht49. d) Die für Anlagen aufgrund anderer Vorschriften bestehenden Pflichten werden durch die Smog-Verordnungen nicht berührt, da es ihr Zweck ist, den Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen gegenüber dem allgemeinen Immissionsschutzrecht zu verbessern und nicht etwa die Möglichkeiten des allgemeinen Rechts zu begrenzen50. Die zuständigen Behörden können daher für Anlagen während austauscharmer Wetterlagen aufgrund § 17 oder §§24, 25 weitergehendere und andersartige Anforderungen stellen, sofern die Voraussetzungen dieser Vorschriften erfüllt sind. Dies hat vor allem für die Alarmstufen 1 und 2 Bedeutung; die zeitweise Stillegung von Anlagen ist also nicht auf die Alarmstufe 3 beschränkt. Die genannten Vorschriften können auch ohne Bekanntgabe einer austauscharmen Wetterlage zur Bekämpfung von Smoggefahren eingesetzt werden. Endlich besteht die Möglichkeit, in der Anlagengenehmigung zusätzliche Pflichten für die Zeiten austauscharmer Wetterlagen vorzusehen51. Mit Hilfe dieser Instrumente des allgemeinen Rechts kann die Smogbekämpfung flexibler gestaltet werden und damit die 44 Vgl. §21 S. 2 und 3 O B G N W . « So § 9 Abs. 1 Nr. 1 Smog-VO Bad.-Würt. und § 11 Abs. 1 Nr. 1 Smog-VO Rh.-Pf. « S.u. d). 47 S. §11 Abs.2 Smog-VO Berl.; §11 Abs.2 Smog-VO Hess.; § 1 2 Abs.2 Smog-VO NW. 48 § 11 Abs. 2 Nr. 1-5 Smog-VO Berl., § 11 Abs. 2 S. 2 Smog-VO Hess, und § 12 Abs. 2 S. 1 Smog-VO N W . 49 § 11 Abs. 3 und 4 Smog-VO Berl.; § 11 Abs. 2 S. 3 Nr. 1-3 Smog-VO Hess, und § 12 Abs.2 S.2 lit. a-c Smog-VO N W . 50 Feldhaus (Fn.2), § 4 9 Rdn.8; Hansmann (Fn.2), § 4 9 Rdn.42; Jarass (Fn.6), § 4 9 Rdn. 19. 51 Vgl. VGH Bad.-Würt., GewArch 1974, 396/398 ff.
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geringe Elastizität der Smog-Verordnungen, die für die im Vergleich etwa zu Frankreich geringere Leistungsfähigkeit des deutschen Systems verantwortlich sein dürfte 52 , reduzieren. 3.
Verkehrsbeschränkungen
a) § 40 S. 1 ermächtigt die Landesregierungen, bestimmte Gebiete zu sog. Sperrgebieten zu erklären und damit eine Beschränkung oder ein völliges Verbot des Kraftfahrzeugverkehrs bei austauscharmen Wetterlagen zu ermöglichen. Voraussetzung ist, daß derartige Beschränkungen notwendig sind, um ein Anwachsen schädlicher Umwelteinwirkungen durch Luftverunreinigungen während austauscharmer Wetterlagen zu verhindern. Dies ist regelmäßig der Fall, wenn in dem betreffenden Gebiet austauscharme Wetterlagen über mehrere Tage auftreten und Kraftfahrzeugverkehr in größerem Umfang stattfindet". Die SmogVerordnungen haben in folgenden Gemeinden Sperrgebiete ausgewiesen: Berlin, Bochum, Bottrop, Castrop-Rauxel, Darmstadt, Dortmund, Duisburg, Essen, Frankfurt/Main, Gelsenkirchen, Hanau, Herne, Kassel, Ludwigshafen, Mainz, Mannheim, Mülheim/Ruhr, Oberhausen, Offenbach/Main, Recklinghausen, Wiesbaden und Witten 54 . b) Entsprechend §40 S. 1 legen die Smog-Verordnungen den zeitlichen Umfang der Verkehrsbeschränkungen fest: Bei Alarmstufe 3 ist der Verkehr ganztags verboten 55 , während bei Alarmstufe 2 der Verkehr nur zwischen 6 und 10 U h r sowie zwischen 15 und 20 U h r und damit zu den Zeiten mit einem besonders hohen Verkehrsaufkommen unzulässig ist56. c) Das Verkehrsverbot gilt im Grundsatz für alle Kraftfahrzeuge, d . h . für Landfahrzeuge, die durch Maschinenkraft betrieben werden, ohne an Bahngleise gebunden zu sein, insbesondere Personenkraftwagen, Lastkraftwagen und Motorräder 57 . Einige emissionsarme Fahrzeugarten sind allerdings ausgenommen, was in bestimmten Fällen sogar
52 S. Knoepfel/Weidner, Die Durchsetzbarkeit planerischer Ziele auf dem Gebiet der Luftreinhaltung aus der Sicht der Politikwissenschaft, 1983, 12 ff. 53 Vgl. Hansmann (Fn.2), §40 Rdn. 19f.; Engelhardt (Fn. 7), §40 Rdn.2ff.; Feldhaus (Fn.2), §40 Anm. 4; Schmatz/Nöthlichs (Fn. 29), §40 Anm. 1. Zur abweichenden Formulierung bei den Anlagen s. ο. II 2 a. 54 Vgl. Anlage 2 Smog-VO Bad.-Würt., N W und Rh.-Pf.; Anlage 1 Smog-VO Hess, und § 1 Smog-VO Berl. 55 §5 Abs.2 Smog-VO Bad.-Würt.; §8 Abs. 1 N r . 2 Smog-VO Berl.; § 7 Smog-VO Hess, und § 6 Smog-VO N W u. Rh.-Pf. * §5 Abs. 1 Smog-VO Bad.-Würt.; §8 Abs.l N r . l Smog-VO Berl.; § 6 Smog-VO Hess, und §5 Smog-VO N W u. Rh.-Pf. 57 Vgl. §1 Abs.2 StVG sowie Jarass (Fn.6), Vorbem. 2 vor §38; Hansmann (Fn.2), §38 Rdn. 9; Engelhardt (Fn. 7), §38 Rdn. 1; Feldhaus (Fn.2), §38 Anm.2; Schmatz/ Nöthlichs (Fn. 29), §2 Anm. 4.
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verfassungsrechtlich geboten sein kann (Übermaßverbot) 58 . Darüber hinaus gelten für Fahrten zu bestimmten Zwecken Ausnahmen oder es können Ausnahmen gewährt werden, etwa für Fahrten der Polizei, der Feuerwehr, für Krankentransporte, für den Personennahverkehr oder für dringende betriebliche Fahrten auf privatem Gelände 59 . Die Verkehrsbeschränkungen gelten für den Verkehr auf öffentlichen Straßen, wobei zum Teil bestimmte Fernverkehrsstraßen ausgenommen sind60. Darüber hinaus gelten sie auch auf privatem Gelände, wie den Smog-Verordnungen zu entnehmen ist 6 '. Dies ist im Hinblick auf die Ermächtigung in § 40 S. 1 nicht unbedenklich, da es als durchaus zweifelhaft bezeichnet werden muß, ob die Ermächtigung auch den Verkehr auf privatem Gelände erfaßt. § 4 0 S. 1 ermächtigt (lediglich) zu Regelungen, die die Voraussetzungen der Verkehrsbeschränkungen bei Smog festlegen. Die tatsächliche Verhängung und Durchsetzung der Beschränkungen regelt dann § 40 S. 2. Die beiden Vorschriften bedingen sich also gegenseitig 62 , weshalb es merkwürdig anmutet, wenn § 40 S. 1 den gesamten Kraftfahrzeugverkehr betrifft, während § 4 0 S. 2 wegen seines Regelungsgehalts (Verpflichtung der Straßenverkehrsbehörden) unvermeidlich auf öffentliche Straßen beschränkt ist63. Für eine Ausweitung des § 40 S. 1 auf den Verkehr auf privatem Gelände läßt sich allerdings der Wortlaut der Vorschrift anführen, der allgemein von Kraftfahrzeugverkehr spricht. Entscheidend dürfte sein, daß von der Funktion des § 40 her eine Gleichbehandlung des gesamten Kraftfahrzeugverkehrs angezeigt ist. Dies hat insbesondere für das Argument Bedeutung, daß der im Zusammenhang mit dem Betrieb von Anlagen stehende Verkehr und damit die problematischen Fälle des Verkehrs auf privatem Gelände ohnehin von § 4 9 Abs. 2 erfaßt werden. Dies trifft zwar zu64, doch ist es wegen der spezifischen Gefahren der Kraftfahrzeuge angemessener, den
58 §6 Smog-VO Bad.-Würt.; §9 Abs. 1 Nr. 1 Smog-VO Berl.; § 8 Smog-VO Hess, und § 7 Smog-VO NW u. Rh.-Pf. 59 Vgl. § 7 Smog-VO Bad.-Würt.; § 9 Smog-VO Berl., Hess., NW und Rh.-Pf. Dies ist von der Ermächtigung des §40 S. 1 gedeckt (Hansmann [Fn.2], §40 Rdn. 25; Engelhardt [Fn. 7], § 40 Rdn. 8), die keineswegs ausgeschöpft werden muß. Auch § 40 S. 2, der wegen seines Wortlauts zuläßt, daß in der Verordnung bestimmte Kraftfahrzeuge ausgenommen werden, spricht dafür. 60 §8 Smog-VO NW und Rh.-Pf., jeweils i.V.m. Anlage 3. " Vgl. §5 Abs. 1 Nr. 1 Smog-VO Bad.-Würt.; §8 Abs.2 Smog-VO Berl.; §6 S.2, §7 S.2 Smog-VO Hess.; §5 Smog-VO NW; §5 S.2 Smog-VO Rh.-Pf. 62 Weshalb §40 S.2 zur Interpretation von S. 1 auch in anderen Zusammenhängen herangezogen wird; vgl. Engelhardt (Fn. 7), §40 Rdn. 8; Hansmann (Fn.2), §40 Rdn.25, 27. 63 Vgl. Hansmann (Fn.2), §40 Rdn.34. M S.o. bei II 2b und in Fn.31.
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Anlagenverkehr zusammen mit dem allgemeinen Verkehr und nicht zusammen mit dem Anlagenbetrieb zu regeln. Dieses an sich anerkannte Ergebnis wird allerdings von mehreren Autoren dadurch unterlaufen, daß sie Fahrzeugen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit Anlagen betrieben werden, den Fahrzeugcharakter bestreiten, da sie Teil der Anlage seien65. Die Folge ist, daß ein Verkehrsverbot Kraftfahrzeuge auf öffentlichen und privaten Straßen erfaßt, es sei denn, sie werden in unmittelbarem Zusammenhang mit einer Anlage benutzt. Soll auch dieser Verkehr untersagt werden, sind anlagenbezogene Anforderungen auf der Grundlage von § 4 9 in jedem Einzelfalle notwendig. Dieses wenig praxisgerechte Ergebnis läßt sich vermeiden, wenn man den Anlagenverkehr sowohl § 4 9 wie §40 unterwirft. Dem steht § 3 Abs. 5 Nr. 2 nicht entgegen: Die in unmittelbarem Zusammenhang mit einer Anlage eingesetzten Fahrzeuge sind zwar Teil einer (regelmäßig unbeweglichen) Anlage. Sie selbst sind aber keine (beweglichen) Anlagen, sondern Fahrzeuge.
III. Verhängung der Maßnahmen 1.
Bekanntgabe
a) Die in den Smog-Verordnungen vorgesehenen Betriebs- und Verkehrsbeschränkungen treten keineswegs automatisch in Kraft, wenn in den betreffenden Gebieten eine austauscharme Wetterlage auftritt. Vielmehr muß die austauscharme Wetterlage förmlich bekanntgegeben werden, wie das § 4 0 S. 2 voraussetzt". Die Bekanntgabe löst also auf der Grundlage der jeweiligen Rechtsverordnung Rechtspflichten aus. Besonders deutlich ist das auf privatem Gelände, da hier die Beschränkungen allein durch die Bekanntgabe wirksam werden. Dies legt es nahe, in der Bekanntgabe eine Allgemeinverfügung und damit einen Verwaltungsakt zu sehen. Die Bezeichnung als „Bekanntgabe" steht dem nicht entgegen. Wie auch sonst kommt es nicht auf die Bezeichnung, sondern auf den Inhalt67 an. Dementsprechend ist etwa bei § 2 6 anerkannt, daß die dort vorgesehene und ausdrücklich so bezeichnete Bekanntgabe der Meßstellen ein Verwaltungsakt ist68. Gleichwohl wird in der Bekannt65 Kutscheidt (Fn.29), §3 Rdn.27; Schmatz/Nöthlichs (Fn.29), §3 Anm.14; §38 Anm.2; wohl auch OVG NW, DVB1 1979, 315/316. " Vgl. Hansmann (Fn.2), §40 Rdn.28; Engelhardt (Fn.7), §40 Rdn. 10; Feldhaus (Fn.2), §40 Anm.8; Ule (Fn.5), §40 Rdn.6; Jarass (Fn.6), §40 Rdn. 13. 67 Vgl. Kopp, VwVfG, 3. Aufl. 1983, §35 Rdn. 4. M S. Hansmann (Fn.2), §26 Rdn.40; Jarass (Fn.6), §26 Rdn. 15; Schmatz/Nöthlichs (Fn.29), §26 Anm.2.5; Engelhardt (Fn.7), §26 Rdn.9; den., BB 1978, 71 f.; Schmitt Glaeser/Meins, Recht des Immissionsschutzes, 1982, 74; a.A. Feldhaus (Fn.2), §26 Anm.6; Ule (Fn.5), §26 Rdn.2.
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gäbe der austauscharmen Wetterlage von einigen Autoren kein Verwaltungsakt gesehen; sie soll eine sog. „bloße Rechtstatsache" sein, an die die Rechtsverordnungen bestimmte Rechtsfolgen knüpfen". Begründet wird das damit, daß die Bekanntgabe keine Regelungen enthält. Das trifft jedoch nicht zu. Die Bekanntgabe enthält zumindest eine verbindliche Feststellung der austauscharmen Wetterlage. Darüber hinaus dürfte (schon wegen des Ubermaßverbotes) zulässig sein, daß die Bekanntgabe den Umfang der (automatischen) Verkehrs- und Betriebsbeschränkungen weiter eingrenzt und damit einen zusätzlichen Regelungsgehalt aufweist70. b) Zuständig für die Bekanntgabe der austauscharmen Wetterlage ist, wie die Smog-Verordnungen festlegen, regelmäßig ein Minister bzw. Senator71. Sie erfolgt über den Rundfunk oder die Presse und wird in der Regel mit der ersten Veröffentlichung, die über den Rundfunk erfolgen wird, wirksam72. Dagegen bestehen, trotz des Verwaltungsaktscharakters der Bekanntgabe, gem. §41 Abs. 3 S. 2 VwVfG keine Bedenken73. Was die Bekanntgabe des Endes der austauscharmen Wetterlage, also die Entwarnung, angeht, gilt für Zuständigkeit, Verfahren und Wirksamwerden das gleiche wie für die Bekanntgabe des Anfangs der austauscharmen Wetterlage74. c) Die Bekanntgabe der austauscharmen Wetterlage verpflichtet die Straßenverkehrsbehörden gem. §40 S. 2, den Straßenverkehr in dem Umfang zu verbieten, wie dies in den Smog-Verordnungen sowie in der Bekanntgabe vorgesehen ist. Die Verpflichtung besteht allerdings „nach Maßgabe der verkehrsrechtlichen Vorschriften". Damit können die Straßenverkehrsbehörden auch verkehrsrechtliche Zwecke berücksichtigen und etwa im Einzelfall in bestimmten Bereichen den Straßenverkehr noch zulassen, soweit dies erforderlich ist, um ein Chaos auf den Straßen zu vermeiden. Im übrigen sind sie an die Festlegungen der SmogVerordnungen gebunden75.
" Hansmann (Fn.2), § 4 0 Rdn.28; BoissereelOelslHansmannl Schmitt (Fn. 14), Β II 1.9 F n . 2 sprechen von „Tatbestandsvoraussetzung"; a. A. Jarass (Fn.6), § 4 0 Rdn. 13. 70 Ule (Fn.5), § 4 0 Rdn.2 und 5; a.A. Hansmann (Fn.2), § 4 0 Rdn.29. 71 § 4 Smog-VO Bad.-Würt.; § 2 Abs. 1 Smog-VO Hess.; § 4 Abs. 1 Smog-VO Rh.-Pf. und § 3 Abs. 1 Smog-VO Berl., N W u. Saarl. 72 Wird die Bekanntgabe (allein) durch die Presse bewirkt, ist die Rechtslage uneinheitlich; vgl. § 4 Abs.2 Smog-VO Berl.; § 4 Abs.2 Smog-VO Hess.; § 4 Abs.2 Smog-VO N W ; § 4 Abs.2 Smog-VO Rh.-Pf.; § 4 Abs. 1 Smog-VO Saarl. und § 4 Smog-VO Bad.Würt. 73 Vgl. BVerwGE 12, 87/91; Meyer/Borgs, VwVfG, 2. Aufl. 1982, §41 Rdn. 27. 74 Vgl. Hansmann (Fn.2), § 4 0 Rdn.31; Engelhardt (Fn. 7), § 4 0 Rdn.10; Feldhaus (Fn.2), § 4 0 Anm. 8; Jarass (Fn.6), § 4 0 Rdn. 13. 75 Zu streng Hansmann (Fn. 2), § 40 Rdn. 36.
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2. Wirksamwerden der Beschränkungen a) Die Beschränkungen des Brennstoffeinsatzes wie des sonstigen Anlagenbetriebs werden für die Anlagenbetreiber mit der Bekanntgabe der austauscharmen Wetterlage wirksam76. Gleiches gilt für die Verkehrsbeschränkungen auf privatem Gelände77. Die Beschränkungen enden mit der Bekanntgabe des Endes der austauscharmen Wetterlage. Die Wirksamkeit der Beschränkungen hängt nicht davon ab, ob tatsächlich eine austauscharme Wetterlage vorliegt. N u r wenn die Bekanntgabe offensichtlich fehlerhaft war, ist sie gem. § 44 Abs. 1 VwVfG nichtig und damit unwirksam. b) Die Verkehrsbeschränkungen auf öffentlichen Straßen werden, wie dargelegt, nur wirksam, wenn die immissionsschutzrechtlichen und verkehrsrechtlichen Voraussetzungen gegeben sind. Sie erfordern daher zum einen eine wirksame Bekanntgabe, ebenso wie bei den anderen Beschränkungen (dazu o. a). Verkehrsrechtlich ist zum anderen notwendig, daß zumindest an den Grenzen des Sperrgebiets das als Gebietszeichen ausgelegte Smog-Verkehrsschild (§41 Abs. 2 N r . 6 Zeichen 270 StVO) aufgestellt wurde; eine Aufstellung an den Hauptzufahrtsstraßen dürfte genügen78. Weisungen der Verkehrspolizei können von der Wirkung des Schildes und damit von den Verkehrsbeschränkungen dispensieren (vgl. § 36 Abs. 1 2 StVO). Die Straßenverkehrsbeschränkungen treten also in Kraft, wenn Bekanntgabe und Aufstellung der Verkehrsschilder erfolgt sind; sie treten außer Kraft, wenn entweder das Ende der austauscharmen Wetterlage bekanntgegeben oder die Verkehrsschilder entfernt wurden 7 '. 3. Durchsetzung und Rechtsschutz a) Wird gegen das Gebot, in Anlagen bestimmte Brennstoffe zu verwenden, oder gegen ein Betriebsverbot, das direkt aus den SmogVerordnungen folgt80, verstoßen, erläßt die zuständige Behörde aufgrund der ordnungsbehördlichen Generalklausel eine Grundverfügung, die dann vollstreckt werden kann81. Anordnungen, den Betrieb zu beschränken, können direkt vollstreckt werden. Ein Verstoß gegen die 76 Sofern die Beschränkung des Anlagenbetriebs aufgrund einer behördlichen Anordnung erfolgt, muß diese natürlich ebenfalls ergangen sein. Vgl. auch Hansmann (Fn. 2), §49 Rdn.52; Engelhardt (Fn. 7), §49 Rdn. 15; Ule (Fn.5), §49 Rdn.4. 77 Hansmann (Fn.2), §40 Rdn. 34. 78 Ebenso Feldhaus (Fn. 2), § 40 Anm. 9. " Vgl. Ule (Fn.5), §40 Rdn.6; Hansmann (Fn.2), §40 R d n . 9 f . 80 S.o. II 2 c cc. 81 Näher Jarass (Fn.6), §52 R d n . 5 m . w . N . ; a.A. etwa Hansmann (Fn.2), §52 Rdn. 20 und Schmatz/Nöthlichs (Fn. 29), §52 Anm. 1, die §52 als Grundlage heranziehen wollen.
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Pflichten der Brennstoffverwendung und der Beschränkung des Anlagenbetriebs ist außerdem gem. § 329 Abs. 1 StGB eine Straftat, auch dann, wenn die Pflicht sich erst aus einer auf die Smog-Verordnung gestützten Anordnung ergab (vgl. § 329 Abs. 1 S. 2 StGB)82. Wenn eine konkrete Umweltgefährdung eingetreten ist, kann sogar eine Straftat gem. §330 StGB vorliegen. Die Beachtung der Verkehrsbeschränkungen auf öffentlichen Straßen dürfte nur durch entsprechende Maßnahmen der für Verkehrsüberwachung zuständigen Behörden und aufgrund der verkehrsrechtlichen Ermächtigungen durchzusetzen sein83. Ein Verstoß stellt dem §49 Abs. 3 N r . 4 StVO eine Ordnungswidrigkeit iSd §24 Abs. 1 StVG dar. Verkehrsbeschränkungen auf privaten Straße werden dagegen auf der Grundlage der ordnungsbehördlichen Generalklausel durchgesetzt 84 . Verstöße sind weder Ordnungswidrigkeiten noch Straftaten. Lediglich die hessische Smog-Verordnung enthält insoweit einen Ordnungswidrigkeitentatbestand 85 , dessen rechtliche Grundlage allerdings zweifelhaft ist. b) Von Anlagen- wie Verkehrsbeschränkungen betroffene Personen können die Bekanntgabe der austauscharmen Wetterlage anfechten. Widerspruch und Anfechtungsklage, die an sich die Bekanntgabe, wenn auch nur im Verhältnis zum Rechtsmittelführer 86 , suspendieren, dürften in Analogie zu § 80 Abs. 2 N r . 2 V w G O keine aufschiebende Wirkung haben. Soweit die Bekanntgabe Beschränkungen des Straßenverkehrs bewirkt, ist die Parallele zu den in § 80 Abs. 2 N r . 2 V w G O angesprochenen unaufschiebbaren Maßnahmen der Polizeivollzugsbeamten besonders ausgeprägt87. Stimmt man dieser Analogie zu, wird man für die Beschränkungen des Anlagenbetriebs aus Gründen der Einheitlichkeit nichts anderes gelten lassen können. Allerdings ist die Rechtslage insoweit keineswegs eindeutig. Vorsichtshalber sollte daher die Bekanntgabe mit der Anordnung der sofortigen Vollziehung verknüpft
82 Anders als bei der Vorgängervorschrift des § 63 BImSchG braucht die Verordnung nicht auf die Strafbestimmung zu verweisen, um die Strafbarkeit von Verstößen auszulösen. 83 Vgl. Hansmann (Fn.2), §40 Rdn.40; Engelhardt (Fn. 7), §40 R d n . l l ; Feldhaus (Fn.2), §40 Anm.9. 84 S.o. Fn.81. 85 § 16 Smog-VO Hess.; vgl. auch § 16 des Rahmenentwurfs des Länderausschusses für Immissionsschutz (Fn. 10). 86 Vgl. Kopp, VwGO, 5. Aufl. 1981, §80 Rdn.8. 87 Dementsprechend haben die Rechtsmittel gegen Verkehrszeichen keinen Suspensiveffekt; BVerwG, NJW 1978, 656 f.; OVG NW, OVGE 24, 200/202; VGH Bad.-Würt., DVB1 1974, 636; Kopp, VwGO, 5. Aufl. 1981, §80 Rdn.38.
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werden; eine Begründung ist gem. § 80 Abs. 3 V w G O unnötig. Straßenverkehrsteilnehmer können darüber hinaus gegen die verkehrsrechtlichen Maßnahmen vorgehen.
Die gesetzliche Regelung über den Vollzug der Untersuchungshaft und ihre Reform G Ü N T H E R KAISER
I. Fragestellung Seit drei Jahrzehnten herrscht unangefochten der Grundsatz, daß der Beschuldigte in seiner Freiheit nur wegen des Haftzweckes und der Ordnung in der Anstalt beschränkt werden darf. Gleichwohl lassen sich die Gebrechen des Haftrechts und des Vollzuges der Untersuchungshaft nicht übersehen. So werden nach einer kritischen Analyse bundesweit „nirgendwo so viele Menschen wegen Bagatelldelikten in Untersuchungshaft genommen wie in Berlin"'. Dabei wird der Hauptmangel begründet in der geltenden gesetzlichen Lösung erblickt. Deshalb zählt die Neuregelung des Vollzuges der Untersuchungshaft seit Mitte der siebziger Jahre zum Gesetzgebungsprogramm des Bundesministeriums der Justiz1. Danach soll der Vollzug der Untersuchungshaft „durch eine gesetzliche Umschreibung der Rechte und Pflichten des Untersuchungsgefangenen sowie eine ausgewogene Verteilung der Befugnisse zwischen dem Haftrichter und der Vollzugsbehörde" verbessert werden. Ein eigener Reformvorschlag befindet sich allerdings erst in Arbeit. Uber den näheren Inhalt der Planung ist noch nichts bekannt. Demgegenüber haben sich Wissenschaft und Praxis bereits mehrfach zur Erneuerung des Rechts der Untersuchungshaft geäußert. Es handelt sich also um ein Problemfeld, das traditionell zum festen Bestand der Erörterungen in der Juristischen Gesellschaft zu Berlin zählt. Denn die hier gehaltenen „Vorträge waren praxisbezogen und beschäftigten sich mit Gegenwartsproblemen aus dem forensischen Bereich, dann aber zunehmend vor allem mit Vorschlägen an die Legislative". Die „Reform des Strafrechts und des Strafprozesses" gehörte seit jeher zu den behandelten Materien ebenso wie das Gefängniswesen und die Problematik der Rechtsstaatlichkeit3. Deshalb erscheint es in hohem 1 Wiegand, Untersuchungshaft und Aburteilung - eine statistische Bestandsaufnahme unter besonderer Berücksichtigung der Berliner Situation. Strafverteidiger 3 (1983), 437-439 (437). 2 Vogel, Recht 1976, 6; neuerdings Engelhardt, Recht 1983, 44. 3 Scholz, 125 Jahre Juristische Gesellschaft zu Berlin. Berliner Anwaltsblatt 1983, 207-215 (208).
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Günther Kaiser
Grade legitim, die Juristische Gesellschaft zu Berlin anläßlich ihres 125jährigen Bestehens mit einem Beitrag über die gesetzliche Regelung zum Vollzug der Untersuchungshaft und ihre Reform zu ehren. Im Strafverfahren treffen bekanntlich die Interessen des Staates und des Beschuldigten scharf aufeinander. Dieser Interessenkonflikt ist für
die Problematik
der Untersuchungshaft geradezu kennzeichnend.
Auf
der einen Seite steht das staatliche Interesse, die Gesellschaft wirksam vor Verbrechen zu schützen. Deshalb kann auch die Anordnung von Untersuchungshaft erforderlich werden, welche ein geordnetes Strafverfahren, die spätere Strafvollstreckung und die Durchführung von Ermittlungsaufgaben gewährleisten soll. Andererseits ist der einzelne Bürger grundsätzlich in seiner individuellen Freiheit geschützt. Staatliche Eingriffe in die Freiheit der Person unterliegen daher besonders strengen Anforderungen. Dieses Spannungsverhältnis wird besonders akut, wenn ein tatverdächtiger Bürger, dessen Schuld noch nicht nachgewiesen ist, Eingriffe in seine Rechtsstellung im Interesse wirksamer Verbrechensbekämpfung hinnehmen muß. Der Ausgleich zwischen den individuellen und staatlichen Interessen ist freilich nicht nur ein juristisches Problem, sondern auch weitgehend von den vorherrschenden politischen Strömungen abhängig. So gesehen kann die Regelung der Untersuchungshaft als Spiegel politischer Ideen und Auseinandersetzungen verstanden werden. Hinter der gesetzlichen Regelung des Vollzuges der Untersuchungshaft und den Reformbestrebungen steht also letztlich ein spezifisches Verständnis der Beziehungen zwischen Bürger und Staat.
II. Rechtsgrundlagen 1. Motive und Entwicklungen zum geltenden
Recht
Für das Gebiet des früheren deutschen Reiches wurde erstmalig im Rahmen der 1877 neugeschaffenen Strafprozeßordnung in § 116 R S t P O eine einheitliche Regelung für den Vollzug der Untersuchungshaft getroffen. Bis zu diesem Zeitpunkt galten in den verschiedenen Teilen des Reichsgebietes sehr unterschiedliche Regelungen, die den Untersuchungsgefangenen erheblichen Unsicherheiten aussetzten. Der neugeschaffene § 116 R S t P O , der Vorläufer der geltenden Regelung in § 119 StPO, bezeichnete die Untersuchungshaft als eine Maßnahme, welche lediglich die Sicherung der Person des Beschuldigten oder die Verhütung von Kollusionen bezweckte. E n t sprechend dieser Zielsetzung bestimmte Abs. 1: „Der Verhaftete soll, soweit möglich, von anderen gesondert und nicht in demselben Raum mit Strafgefangenen verwahrt werden"; Abs. 2 : „Dem Verhafteten dürfen nur solche Beschränkungen auferlegt werden, welche zur Sicherung des Zwecks der Haft oder zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Gefängnis notwendig sind". Demnach waren - enge Zweckbestimmung (Sicherung), - Trennungsgrundsatz und
Vollzug der Untersuchungshaft und ihre Reform
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- richterliche Entscheidungsbefugnis die wesentlichen Regelungsbestandteile. Z u m i n d e s t t h e o r e t i s c h w a r der V e r h a f t e t e m i t dieser
gesetzlichen
R e g e l u n g gegen willkürliche Eingriffe der V o l l z u g s b e h ö r d e n in seine R e c h t e g e s c h ü t z t . Allerdings eröffneten sich in jenem A u g e n b l i c k , in d e m d e r U n t e r s u c h u n g s h ä f t l i n g der W i l l k ü r der Anstaltsleitung e n t z o gen w u r d e , neue
Entscheidungsfreiräume
für
den Richter,
da es diesem
v o r b e h a l t e n bleiben sollte, bezüglich einzelner U n t e r s u c h u n g s g e f a n g e n e r a b w e i c h e n d e A n o r d n u n g e n z u treffen. So kam nunmehr der Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffes „ Ordnung im Gefängnis" durch die richterliche Auslegung und Entscheidung große Bedeutung zu. Dadurch wurde der Vollzug der Untersuchungshaft entscheidend mitgestaltet, zumal die gesetzliche Regelung bis zur Gegenwart nicht wesentlich verändert wurde. F r e i l i c h ist als b e d e u t e n d e N e u e r u n g seit 1 9 4 9 d u r c h das G r u n d g e s e t z die s o g e n a n n t e Unschuldsvermutung
als A u s p r ä g u n g des R e c h t s s t a a t s -
p r i n z i p s ( A r t . 2 0 G G ) a n e r k a n n t . Bis z u m gesetzlichen N a c h w e i s seiner Schuld w i r d d a n a c h v e r m u t e t , daß der G e f a n g e n e unschuldig ist. D i e s e r G r u n d s a t z findet sich a u c h in A r t . 6 der E u r o p ä i s c h e n M e n s c h e n r e c h t s konvention ( E M R K ) von 1952. Der Untersuchungsgefangene verbüßt d a h e r keine Strafe u n d darf nicht m i t Eingriffen belastet w e r d e n , die e i n e m in W a h r h e i t U n s c h u l d i g e n nicht z u g e m u t e t w e r d e n k ö n n e n . A u s diesem G r u n d m ü s s e n die B e l a s t u n g e n des Verhafteten v o n m ö g l i c h s t k u r z e r D a u e r sein. 1964 wurde der Anspruch auf beschleunigte Aburteilung in §§ 121,122 StPO konkretisiert. Danach muß die Tat grundsätzlich in 6 Monaten aufgeklärt und abgeurteilt werden. Verzögert sich das Verfahren, so prüft das Oberlandesgericht, ob die längere U-Haft durch besondere Umstände gerechtfertigt wird. Andernfalls muß deren Vollzug ausgesetzt werden. Die Wirkung dieser Beschleunigungsvorschriften wird jedoch eher skeptisch beurteilt4. Nach einer Untersuchung aus dem Jahre 1977 beschließen die Oberlandesgerichte in 97 bis 100 Prozent der Haftprüfungen eine Fortsetzung der UHaft5. Allerdings enden ohnehin mehr als 85 Prozent aller Haftfälle bereits vor Ablauf der Sechsmonatsfrist'. Die längeren Haftfälle betreffen daher von vornherein eher Ausnahmesituationen, in denen besondere Gründe für eine Haftfortsetzung in der Regel vorliegen dürften. Gleichwohl läßt der internationale Vergleich erkennen, daß Häufigkeit und Dauer der Untersuchungshaft in der Bundesrepublik noch immer zu hoch sind. E i n Teil der V e r u r t e i l t e n v e r s u c h t , d u r c h A u s s c h ö p f u n g des R e c h t s w e g e s die R e c h t s k r a f t des U r t e i l s hinauszuschieben, u m m ö g l i c h s t lang
4 Grebing, Zur Entwicklung des Untersuchungshaftrechts in der Bundesrepublik Deutschland. ZfRV 1975, 161 ff. (184). 5 Vöcking, Die oberlandesgerichtliche Kontrolle der Untersuchungshaft gemäß § 121 StPO. Mainz 1977, 221. 6 Statistisches Bundesamt: Strafverfolgungsstatistik 1981, 51.
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die Privilegien der Untersuchungshaft zu erhalten und den Strafvollzug (z.B. wegen fehlender Arbeitspflicht oder um in der dem Heimatort meist näher gelegenen U-Haftanstalt zu verbleiben) zu vermeiden7. In diesem Fall spricht man auch von sogenannter „Rechtsmittelhaft". Deren Anteil wird nach der oben erwähnten Untersuchung aus dem Jahre 1977 mit mehr als einem Drittel aller Untersuchungshäftlinge angegeben, deren Haftdauer 6 bis 9 Monate beträgt. Er erhöht sich noch mit zunehmender Dauer bis auf über 75 Prozent8. Lange Verfahren beeinflussen daher auch die durchschnittliche Dauer der Untersuchungshaft. Eine Beschleunigung des gesamten Strafprozesses einschließlich des Rechtsmittelverfahrens könnte folglich die Dauer der Untersuchungshaft verkürzen. In diesem Zusammenhang wird auch erörtert, ob eine überlange Verfahrensdauer ein Prozeßhindernis darstellt und damit zur Einstellung des Verfahrens führen muß. Entsprechende Forderungen konnten sich jedoch aus praktischen Erwägungen nicht durchsetzen. 2. Geltendes Recht Der Vollzug der Untersuchungshaft ist nach geltendem Recht bekanntlich in §119 StPO geregelt. Freilich lassen sich durch den Gesetzestext allein unterschiedliche Auslegung und Handhabung nicht vermeiden. Um trotz der Unabhängigkeit und Entscheidungskompetenz des Richters den Vollzug der Untersuchungshaft einheitlich zu gestalten, wurden 1953 von den Landesjustizverwaltungen bundeseinheitliche Verwaltungsvorschriften beschlossen, die sogenannte Untersuchungshaftvollzugsordnung (UVollzO). Die Rechtsstellung des Untersuchungsgefangenen unterscheidet sich nach Gesetz und Verwaltungsvorschriften von der des Strafgefangenen in folgender Hinsicht: a) Der Untersuchungshaftgefangene verbüßt keine Strafe (Unschuldsvermutung!) und darf deshalb nicht mit Strafgefangenen in demselben Raum untergebracht werden; b) er hat Anspruch auf Einzelhaft; c) er ist nicht zur Arbeit verpflichtet; d) er ist berechtigt, eigene Kleidung zu tragen und eigene Bettwäsche zu benutzen; e) er kann sich auf eigene Kosten selbst verpflegen, indem er sich Mahlzeiten aus einer Gaststätte in die Anstalt kommen läßt.
Insgesamt sind die gesetzlichen Regelungen zum Vollzug der U-Haft jedoch sehr knapp gehalten. Daran ändern auch die eingehenden BestimSchöch, in: Kaiser/Kemer/Scböch, Strafvollzug. 3. Aufl. 1982, 112. Vöcking, a . a . O . (Fn.5), 233; über andere Befunde jedoch berichtet Jehle, Bericht über das 18. Colloquium der Südwestdeutschen Kriminologischen Institute. MschrKrim 1983, 41. 7 8
Vollzug der Untersuchungshaft und ihre Reform
303
mungen der UVollzO nichts. Denn diese hat - wie erwähnt - nur den Charakter von Verwaltungsvorschriften. Sie bindet zwar die Bediensteten der Vollzugsverwaltung, nicht aber den Richter. 3. Auslegung und Präzisierung des §119 StPO durch die Rechtsprechung 3.1 Deutsche Rechtsprechung Vor allem der Verkehr des Verhafteten mit der Außenwelt war von Anfang an der richterlichen Aufsicht und Kontrolle unterworfen. Entsprechend der liberalistischen Zeitströmung um die Jahrhundertwende sollte die Verwaltung möglichst wenig Einfluß auf die Rechtsstellung des Gefangenen haben. Deshalb galt es als deutliche Privilegierung, daß der Untersuchungsgefangene ausschließlich dem Richter anvertraut war'. Mit der Lehre vom besonderen Gewaltverhältnis wurde jedoch die rechtliche Stellung des Untersuchungsgefangenen gegenüber der Anstalt wiederum relativiert. In den Zeiten des Nationalsozialismus versuchte man überdies auf dem Verwaltungswege die Rechte des Einzelnen zugunsten des totalitären Machtstaates einzuschränken. Infolgedessen wurde die richterliche Kontrolle zurückgedrängt, ja sogar ausgeschaltet. Nach 1945 wurde auf die Prinzipien der Menschenwürde und der Freiheit der Person zurückgegriffen. Die Rechtsprechung entwickelte für den Vollzug der Untersuchungshaft nunmehr den Grundsatz, daß jeweils im Einzelfall eine Gefährdung des Zweckes der Haft oder der Ordnung der Anstalt nachzuweisen ist, um eine Maßnahme gegen den Untersuchungsgefangenen zu rechtfertigen. Dieses Prinzip wurde geradezu als „magna charta" des Untersuchungsgefangenen bezeichnet10. Auslegung und Anwendung der gesetzlichen Regelung dürfen nur unter Beachtung der Unschuldsvermutung und des Verhältnismäßigkeitsprinzips erfolgen. Besondere Bedeutung wird dabei der Wahrung der Grundrechte beigemessen. Nach der neueren Rechtsprechung hat der Untersuchungsgefangene daher grundsätzlich das Recht, Besuche zu empfangen, Schriftverkehr zu führen oder sich durch Rundfunkempfang zu informieren. In jedem Fall gebieten das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine individuelle Abwägung aller Umstände. Bei längerer Dauer der Untersuchungshaft muß gerichtlich entschieden werden, ob die Haft noch als angemessen erscheint. Eine solche Entscheidung kann unter Umständen auch durch die europäischen Menschenrechtsorgane überprüft werden (Art. 5 II, 25 Menschenrechtskonvention). ' Preusker, Zur Notwendigkeit eines Untersuchungshaftvollzugsgesetzes. ZfStrVo 1981, 131 ff. (132). 10 Daliinger, M D R 1951, 120f.
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3.2 Spruchpraxis der europäischen
Menschenrechtsorgane
In ihrer Spruchpraxis hat die Europäische Kommission für Menschenrechte versucht, für den Begriff der „Angemessenheit" der Untersuchungshaft allgemeine Kriterien zu entwickeln. Danach wurde jeder Einzelfall unter folgenden Gesichtspunkten geprüft": 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Länge der U-haft als solche Art der Straftat Auswirkungen der Haft auf den Betroffenen Verhalten des Beschuldigten im Verfahren objektive Schwierigkeit der Ermittlungen Art und Weise, in der die Ermittlungen geführt werden Verhalten der Gerichtsinstanzen.
Der Europäische Gerichtshof hat sich der Prüfungsmethode der Kommission jedoch nicht angeschlossen. Er hat sich geweigert, allgemeine Kriterien für die Beurteilung der Angemessenheit der Untersuchungshaft aufzustellen und sich statt dessen damit begnügt, festzustellen, daß die jeweiligen Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen sind. So hat der Gerichtshof in einem schwierigen Fall (Wemhoff) eine Untersuchungshaft von 3 Jahren und 5 Monaten noch für zulässig gehalten12. Insgesamt betrachtet läßt sich feststellen, daß der Begriff der Angemessenheit der Untersuchungshaftdauer zu abstrakt ist und die Kompetenzen der europäischen Menschenrechtsorgane nicht ausreichen, um dem Untersuchungsgefangenen wirksamen Schutz zu gewähren. Daher ist deren Einfluß auf die deutsche Praxis der U-Haft relativ gering geblieben. 4. Mängel und Lücken im geltenden
Recht
An der geltenden gesetzlichen Regelung fällt vor allem die knappe und abstrakte Fassung auf. Dem Richter bleiben praktisch alle Entscheidungen vorbehalten, selbst wenn diese das Verfahren überhaupt nicht berühren. Häufig wird der Richter dadurch völlig überlastet. Zudem kann die umfassende richterliche Zuständigkeit zu außerordentlich divergierenden und praxisfernen Regelungen führen. Außerdem erheben sich verfassungsrechtliche Bedenken, inwieweit es mit der parlamentarischen Demokratie vereinbart werden kann, daß erhebliche Eingriffe in die Grundrechte des einzelnen Bürgers ohne konkrete gesetzliche Regelung - und parlamentarische Legitimierung - zugelassen werden. Schließlich hat das Strafvollzugsgesetz 1977 gravierende Unterschiede in 11 Vogler, in: Jescheck/Krümpelmann, Die Untersuchungshaft im deutschen, ausländischen und internationalen Recht. Bonn 1971, 873. 12 Bartsch, Dauer der Untersuchungshaft und Europäische Menschenrechtskonvention - Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte. JuS 1970, 445 ff. (448).
Vollzug der Untersuchungshaft und ihre Reform
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der Rechtsstellung von Straf- und Untersuchungsgefangenen geschaffen, welche nur durch eine Fortentwicklung des geltenden Rechts der Untersuchungshaft ausgeglichen werden können. III. Gegenwärtige Praxis, Probleme und Folgen 1. Umfang, Struktur und Entwicklung der Untersuchungshaft Jährlich gelangen mehr als 40000 Personen in Untersuchungshaft. Diese ist damit die am häufigsten angeordnete und vollzogene Haftart. Da sie in der Regel auf die Straftat angerechnet werden muß, wird ein beachtlicher Teil der vollstreckten Freiheitsstrafen in der Untersuchungshaft verbüßt. Problematisch ist vor allem der Vollzug der Untersuchungshaft bei kürzeren Freiheitsstrafen und Geldstrafen. In rund 10 Prozent aller Fälle, in denen auf Freiheitsstrafe erkannt wird, entspricht die Dauer der Strafen der Untersuchungshaft oder ist sogar kürzer13. Im Durchschnitt der letzten Jahre haben sich in der Bundesrepublik an denselben Stichtagen etwa 15000 Personen in Untersuchungshaft befunden. Am Ende des Jahres 1981 waren es 15 636 Personen bei 53 597 insgesamt Gefangenen und Verwahrten. Die absolute Zahl der Untersuchungshäftlinge ist damit seit 1960 (etwa 13 000) praktisch konstant geblieben14. Allerdings ist die Kriminalitätsbelastung in den letzten zwei Jahrzehnten erheblich gewachsen. Novellierungen des Haftrechts beabsichtigten zwar, die Anordnung der Untersuchungshaft einzuschränken, blieben aber im ganzen erfolglos. Daher entfällt noch immer fast ein Drittel der Insassen in Justizvollzugsanstalten auf Untersuchungshäftlinge. 1981 befanden sich etwa 700 Jugendliche und 2000 Heranwachsende in Untersuchungshaft. 750 Untersuchungsgefangene waren Frauen15. Die durchschnittliche Dauer der Untersuchungshaft beträgt gegenwärtig etwa drei Monate (in rd. 85 Prozent der Fälle). Rund 10 Prozent der Haftzeiten dauern zwischen 6 Monaten und 1 Jahr und knapp 5 Prozent länger als 1 Jahr. Länger als 1 Jahr dauerte die Untersuchungshaft 1981 bei Mord in 45 Prozent, bei Totschlag in über 28 Prozent und bei schwerem Raub und Raub mit Todesfolge in über 12 Prozent der Fälle16. Hinsichtlich der Struktur von Untersuchungsgefangenen ergab eine Spezialuntersuchung aus dem Jahre 1982, daß die durch die Erhebung Engelhardt, Recht 1983, 7. Statistisches Bundesamt: Strafvollzugsstatistik 1981, 18f.; Krümpelmann, Aktuelle Probleme des Haftrechts in empirischer und verfahrensrechtlicher Sicht. KrimGegfr 12 (1976), 4 4 - 5 5 (48). 15 Statistisches Bundesamt: Strafvollzugsstatistik 1981, 18 f. " Statistisches Bundesamt: Strafverfolgungsstatistik 1981, 70ff.; ferner Wolter, Untersuchungshaft, Vorbeugehaft und vorläufige Sanktionen. ZStW 93 (1981), 452 ff. (458). 13 14
306
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erfaßten Untersuchungshäftlinge strafrechtlich erhebliche Vorbelastungen aufwiesen: rund vier Fünftel von ihnen waren vorbestraft und etwa zwei Drittel hatten Hafterfahrung. Demgegenüber waren im Regelstrafvollzug der letzten Jahre „nur" zwei Drittel der Strafgefangenen vorbelastet. Rund ein Drittel der Untersuchungsgefangenen verfügte über keinerlei Wohnung oder feste Unterkunft. Mehr als die Hälfte übte zuletzt eine ungelernte Tätigkeit aus, wobei zwei Drittel der Untersuchungshäftlinge in den letzten zwei Jahren vor der Inhaftierung wenigstens zeitweise ohne feste Arbeitsstelle waren. Auch die Entlassungssituation stellte sich für die meisten der Untersuchungsgefangenen sehr schwierig dar17. 2. Mängel im Vollzug der Untersuchungshaft Aufgrund des geschilderten Umfanges der Untersuchungshaft und der Struktur seiner Insassen verwundert es nicht, daß die Untersuchungshaft der Tendenz zum bloßen Verwahrungsvollzug unterliegt. Problematisch ist vor allem ihre übermäßig lange Dauer. So dauerte die U-Haft 1978 bei Mord in über 50 Prozent, bei Totschlag in über 37 Prozent der Fälle länger als ein Jahr. Eine gesetzliche Begrenzung der Haftdauer gibt es nicht. Haftzeiten von zwei, drei oder fünf Jahren sind von der Strafprozeßordnung nicht ausgeschlossen; sie kommen auch in der Praxis vor18. Daher wird teilweise eine Haftbegrenzung auf maximal 6 Monate gefordert, nach deren Ablauf der Untersuchungsgefangene in jedem Falle zu entlassen sei. Eine solche Regelung freilich dürfte wenig praktikabel sein, da der Untersuchungsgefangene geradezu aufgefordert würde, mit allen Mitteln das zu erwartende Strafverfahren zu verzögern. Weiterhin ist die chronische Überbelegung der Untersuchungshaftanstalten zu beklagen. Leicht wird dadurch die Untersuchungshaft zu einem größeren Übel als die Verbüßung von Freiheitsstrafe. Der Untersuchungsgefangene befindet sich meist in einer schwierigen psychischen Lage. Auf ihm lasten oft Sorgen um seine bürgerliche Existenz, seine familiären Bindungen und seine berufliche und soziale Stellung. Hinzu kommt auch die Ungewißheit des weiteren Verfahrens. In dieser Situation bietet die Untersuchungshaftanstalt wenig Hilfe. Anstaltsleiter und Vollzugsbedienstete haben für Gespräche mit dem Untersuchungshäftling kaum Zeit. Kontakte findet der „Neuling" in der U-Haft hingegen bei den hafterfahrenen Mitgefangenen, die als Hausarbeiter oder auf andere Weise die Trennungsvorschriften zu überspielen wissen. Ein Teil der „Neulinge" lernt daher von den „Alten", paßt sich an und wächst so in 17 18
Jehle, a . a . O . (Fn. 8), 41. Wolter, a . a . O . (Fn.16), 459.
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die Insassenkultur der Anstalt hinein. Das Ergebnis solch ungünstiger Einflüsse wird mit dem Stichwort der „kriminellen Infektion" oder „Prisonisierung" treffend gekennzeichnet". Gesellschaftlich droht dem Untersuchungsgefangenen bereits durch die bloße Einweisung in eine Haftanstalt Gefahr, als „kriminell" abgestempelt zu werden. Derartige Stigmatisierungswirkungen ließen sich nur durch ambulante Alternativen zur Untersuchungshaft abfangen. Wenn die Untersuchungshaft länger andauert, stellt sich bereits hier das Problem der Resozialisierung. 3. Folgen, insbesondere Auswirkungen auf das Ziel des Strafvollzugs Während der Vollzug der Freiheitsstrafe ausdrücklich dem Ziel dient, den Verurteilten zu befähigen, künftig ein Leben ohne Straftaten zu führen (§ 2 StVollzG), soll die Untersuchungshaft vor allem das Strafverfahren absichern. Die Unschuldsvermutung verbietet es grundsätzlich, mit der U-Haft bereits Strafzwecke (z.B. Resozialisierung!) zu verfolgen. Regelmäßig wird gemäß §51 StGB die U-Haft auf die eigentliche Freiheitsstrafe angerechnet, womit häufig bereits der größte Teil der Freiheitsentziehung erledigt ist. Wenn die Untersuchungshaft länger andauert, wird der Gefangene immer mehr aus den Beziehungen zu seiner bisherigen Umwelt herausgelöst, „entsozialisiert", ohne daß - wie etwa beim Strafvollzug schädlichen Folgen des Vollzuges entgegengewirkt werden kann. Insofern besteht das Risiko, daß das Behandlungsziel des Strafvollzuges leerläuft. Trotz der Unschuldsvermutung sollte daher sichergestellt werden, daß mindestens beim resozialisierungswilligen und kooperativen Untersuchungshäftling die Möglichkeiten für Resozialisierungsarbeiten geschaffen werden. IV. Bestrebungen zur Reform Aufgrund des skizzierten Mängelprofils der Untersuchungshaft zielen die Reformvorschläge vor allem in die folgende Richtung: 1. Neue, sinnvolle Kompetenzverteilung zwischen Richter, Staatsanwalt und Anstaltsleiter; 2. Verbesserung der Rechtsstellung des Untersuchungsgefangenen und 3. Einbindung der Untersuchungshaft in ein behandlungsorientiertes Gesamtkonzept der Freiheitsentziehung.
1. Entwurf Baumann 1981 Die allgemein in der Diskussion befindlichen Reformüberlegungen hat zuerst der Tübinger Strafrechtler Baumann aufgegriffen und 1981 in einen Gesetzesentwurf zur Untersuchungshaft verarbeitet20. " Rotthaus, Unzulänglichkeiten der heutigen Regelung der Untersuchungshaft. N J W 1973, 2269 ff., 2271. 20 Baumann, Entwurf eines Untersuchungshaftvollzugsgesetzes. Tübingen 1981.
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In formeller Hinsicht lehnt sich der Entwurf sowohl hinsichtlich der Gegenstände als auch ihrer Reihenfolge weitgehend an den Aufbau des geltenden Strafvollzugsgesetzes an. Außerdem hat sich Baumann des besonders notleidenden Untersuchungshaftvollzugs an jungen Gefangenen angenommen (§§67 ff. E). Die Beschränkungen der Rechtsstellung des Gefangenen sollen nach diesen Reformvorstellungen auf das verfahrensmäßig und institutionell notwendige Mindestmaß zurückgeführt werden. Die bisherige Eingriffsvoraussetzung „Ordnung in der Vollzugsanstalt" hat Baumann dahingehend präzisiert, daß dem Gefangenen nur solche Beschränkungen auferlegt werden dürfen, welche die Sicherheit der Vollzugsanstalt oder das Zusammenleben in dieser erfordert (§ 3 Abs. 1 E). Durch die Einfügung des Begriffes der „Sicherheit" soll einer unnötigen Ausdehnung des Ordnungsbegriffs entgegengewirkt und größere Rechtssicherheit erreicht werden. Beibehalten wurde allerdings die Eingriffsvoraussetzung „Zweck der Untersuchungshaft". Außerdem gewährleistet der Entwurf das Recht auf Einzelunterbringung, wobei der Gefangene mit anderen Untersuchungsgefangenen zusammen untergebracht werden kann, wenn er nicht einen anderslautenden Antrag gestellt hat (§ 12 Abs. 1 E). Nach bisheriger Regelung ist eine Zusammenlegung nur auf ausdrücklichen Antrag des Gefangenen möglich. Die gemeinschaftliche Unterbringung wird daher vereinfacht. Verbrieft werden ferner das Recht auf eigene Ausgestaltung des Haftraumes (§15 E), eigene Kleidung (§16 E), Bezug von Büchern, Zeitungen und Zeitschriften (§ 42 E), freie Arztwahl (§ 37 II E) und der Grundsatz der Selbstverpflegung (§17 E). Vorgesehen ist auch eine großzügigere Besuchsregelung. Grundsätzlich soll der Untersuchungsgefangene regelmäßig Besuch empfangen dürfen (§20 E). Als Lockerungen des Vollzuges kann die Anstalt anordnen, daß der Gefangene Außenbeschäftigung leistet (Beschäftigung unter Aufsicht) oder unter Aufsicht ausgeführt wird (§9 E). Ausführlich werden in dem Baumannschen Reformvorschlag die Sozialisierungsangebote geregelt. Der Hauptgrund besteht in der schon erwähnten Tatsache, daß durch die länger werdende Untersuchungshaft wertvolle Zeit für Resozialisierungsmaßnahmen verstreicht, die später der Strafhaft verloren geht. So wird dem Gefangenen ein Anspruch auf Teilnahme an Ausbildungs-, Fortbildungs- und Therapiemaßnahmen eingeräumt (§ 4 E). Freilich muß der Gefangene davon nicht Gebrauch machen. Es handelt sich nur um die Sicherstellung und Nutzungsmöglichkeiten von Angeboten. Hinsichtlich der Neuordnung der Kompetenzverteilung folgt der Entwurf weitgehend den Anforderungen der Vollzugspraxis, die aus pragmatischen Gründen eine stärkere Verlagerung anstaltsbezogener
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Entscheidungen auf den Anstaltsleiter verlangen. Hingegen verbleiben dem Haftrichter nur die verfahrensbezogenen Entscheidungen. Dies äußert sieht ζ. B. bei der Übertragung der Disziplinarbefugnisse auf den Anstaltsleiter (§61 I E), aber auch bei der Gewährung von Vollzugslokkerungen soll die Entscheidungskompetenz auf ihn übergehen (§9 E). Gegenstand der richterlichen Entscheidung soll mithin nur die Frage sein, ob die Freiheitsentziehung angeordnet und fortgesetzt, nicht aber, wie die Freiheitsentziehung dann vollzogen werden soll. Die richterliche Zuständigkeit wird auf diese Weise bei der Anordnung der Verlegung (§ 8), der Entlassungsanordnung (§ 10), der Überwachung von Besuchen und des Schriftwechsels (§§22 ff.) vorgesehen. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die Vorzüge des Entwurfs vor allem in der Aktualisierung der sozialstaatlichen Komponente sowie in der stärkeren Herausarbeitung rechtsstaatlicher Gesichtspunkte zu erblicken sind. 2. Entwurf der Bundesvereinigung der Anstaltsleiter (1982) Die Vereinigung der Anstaltsleiter hat 1982 einen eigenen Reformvorschlag vorgelegt21, der weitgehend dem Entwurf Baumann entspricht. Er beschränkt sich allerdings auf eine Regelung des Vollzuges an Erwachsenen (§1). Der Untersuchungshaft soll zusätzlich die Aufgabe der Verhinderung weiterer Straftaten gestellt werden (§2). Kritisch ist zu vermerken, daß dadurch praktisch der Haftgrund der Wiederholungsgefahr zur allgemeinen Vollzugsaufgabe erklärt wird. Eine Schlüsselfunktion kommt vor allem der Zuständigkeitsregelung in § 6 Ε zu. Danach sollen dem Richter sämtliche verfahrenssichernden, dem Anstaltsleiter alle übrigen, insbesondere anstaltsbezogenen Entscheidungen zugewiesen werden. Die Verbesserung der Behandlungsangebote bleibt hingegen hinter dem Entwurf Baumann zurück, da nur die klassischen Angebote Arbeit, Unterricht, Weiterbildung und soziale Hilfe geregelt werden (§§31, 49, 53 ff.), von möglichen Therapiemaßnahmen aber abgesehen wird. 3. Vorschläge des Bundeszusammenschlusses (Jung u. a.) 1983
für
Straffälligenhilfe
Der Fachausschuß I „Strafrecht und Strafvollzug" des Bundeszusammenschlusses für Straffälligenhilfe hat zur Diskussion um die Untersuchungshaft thesenartige Materialien und Vorschläge beigetragen22. 21 Döschl/Herrfardt/Nagel/Preusker, Entwurf eines Gesetzes über den Vollzug der Untersuchungshaft, hrsg. v. Bundeszusammenschluß für Straffälligenhilfe. Bonn 1982. 22
1983.
Jung/Müller-Dietz,
Reform der Untersuchungshaft. Vorschläge, Materialien. Bonn
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Danach müßte eine Reform über den Rahmen eines U-Haftvollzugsgesetzes hinausgehen sowie das Jugend- und Sozialrecht erfassen. Zielvorstellungen sind die Vermeidung und Verkürzung der U-Haft sowie deren Ersetzung und Ergänzung durch soziale Hilfen. In Übereinstimmung mit dem Schrifttum führt die Situationsanalyse den Fachausschuß zu der Feststellung, daß die Untersuchungshaft ein besonders schwerwiegendes, sozial und individuell diskriminierendes, isolierendes und Abstumpfung provozierendes Eingriffsmittel sei, so daß über die negativen Auswirkungen während und nach der Untersuchungshaft keinerlei Zweifel bestünden. Überdies zeichne sich die Untersuchungshaftpraxis in der Bundesrepublik Deutschland im internationalen Vergleich dadurch aus, daß zu viel verhaftet werde und die Untersuchungshaft zu lange dauere. Sicherlich trügen zur Verlängerung der Untersuchungshaft auch Besonderheiten unseres Strafverfahrens bei. Namentlich führten Legalitätsprinzip und Amtsermittlungsgrundsatz zu einem Perfektionismus, der das Verfahren verzögere und die Untersuchungshaft verlängere (S. 13). Daher ginge es darum, Alternativen zur Untersuchungshaft zu entwickeln und Angebote zur Beseitigung von Haftgründen zu machen und dadurch, daß man den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit stärker konkretisiere und schließlich das Verfahren beschleunige.
In deutlicher Unterscheidung zu den bisherigen Reformentwürfen meint der Fachausschuß, von einer Konzentration von Machtbefugnissen in der Vollzugsanstalt absehen zu sollen. Was aus pragmatischen Gründen verlockend erscheine, berge die Gefahr, daß vordergründig anstaltsbezogene Effizienzüberlegungen verabsolutiert würden und die Rechtsstellung des Beschuldigten hinsichtlich der Rechtsbeschränkungen zu sehr an diejenige des Strafgefangenen angeglichen werde (S. 29). Erwägenswert erscheine hingegen eine widerrufliche Delegation der Kontrolle des Brief- und Besuchsverkehrs. 4. Reformvorschlag
des Arbeitskreises Strafprozeßreform (Amelung u. a.) 1983 Die zehn Mitglieder des Arbeitskreises Strafprozeßreform lassen sich von der Auffassung leiten, die Untersuchungshaft stelle die Errungenschaften eines modernen Strafverfahrens fortwährend in Frage23. Der Beschuldigte drohe zum bloßen Objekt staatlicher Inquisition zu werden. Seine Verteidigungsrechte würden durch das staatliche Interesse an effektiver Verfolgung und „Uberführung" Verdächtiger bedroht. Leicht erhalte die U - H a f t die Funktion einer Verdachtsstrafe (Vorbem. 49). Unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit sei U-Haft nur dann zulässig, wenn sie als das mildeste aller in Betracht kommenden Mittel gerade noch geboten sei. Insgesamt fordere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, die Dauer der U-Haft nicht mehr an den Arbeitsbedingungen und der Bereitschaft eines schwerfälligen Justizapparates auszu25 Arbeitskreis für Strafprozeßreform: Die Untersuchungshaft. Gesetzentwurf mit Begründung. Heidelberg, Karlsruhe 1983.
Vollzug der Untersuchungshaft und ihre Reform
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richten, sondern umgekehrt der Justiz durch klare Begrenzung der U Haft den Zeitraum zur Durchführung des Verfahrens vorzugeben (Vb 55 b). Der Entwurf konzentriert sich daher auf Beschränkung und Präzisierung der Haftzwecke, Erhöhung der Haftschwelle, individuell-konkrete Haftzeitbemessung, Bestimmung einer absoluten Höchstdauer, Beschleunigungsgebot, Entwicklung eines milderen Maßnahmensystems und verbessertes Haftprüfungsverfahren. Bewußt vernachlässigt wird eine ausführliche Regelung des Untersuchungshaftvollzuges (Vb 38). 5. Kritische Stellungnahme
zu den Vorschlägen und
Entwürfen
5.1 Kompetenzverteilung Die in der Diskussion befindlichen Vorschläge - ausgenommen jene des Arbeitskreises Strafprozeßreform - beabsichtigen ein Übertragen bestimmter Entscheidungsbefugnisse vom Haftrichter auf den Anstaltsleiter. Für einen solchen Vorschlag spricht einerseits die hohe Arbeitsbelastung des Richters und andererseits die größere Praxisnähe des Anstaltsleiters. Entscheidungen durch den Anstaltsleiter können schneller getroffen werden und versprechen zumindest innerhalb einer Vollzugsanstalt eine gleichförmige Handhabung. Allerdings besteht die Gefahr, daß sich durch die geplanten Kompetenzverlagerungen erhebliche Machtbefugnisse in der Vollzugsanstalt konzentrieren. Die Interessenabwägung zwischen wirksamer Strafverfolgung und Anspruch auf Schutz der persönlichen Freiheit könnte durch vordergründige anstaltsbezogene Effizienzüberlegungen verkürzt werden. Fraglich ist überdies, ob sich zwischen anstalts- und verfahrensbezogenen Entscheidungen überhaupt eindeutig abgrenzen läßt, wie dies vorgeschlagen wird. Erwägenswert erscheint hingegen der Vorschlag des Bundeszusammenschlusses für Straffälligenhilfe (S.30), nur einzelne Kontrollkompetenzen widerruflich auf den Anstaltsleiter zu übertragen, so daß der Richter letztlich die Möglichkeit zu Kontrolle und Entscheidung im Einzelfall behält. 5.2 Behandlungsangebote Lange Zeit wurde unter Berufung auf die Unschuldsvermutung die Ansicht vertreten, soziale Hilfen, berufliche und schulische Förderung sowie therapeutische Behandlung könnten für Untersuchungsgefangene nur sehr eingeschränkt oder gar nicht angeboten werden. Auf diese Weise wurde nicht selten der Schlechterstellung des Untersuchungsge-
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fangenen gegenüber dem Strafgefangenen ein „normatives Alibi" verschafft 24 . Die Sozialisierungsangebote auf freiwilliger Grundlage bringen daher eine erhebliche Verbesserung für ein behandlungsorientiertes Gesamtkonzept. Unklar bleibt freilich, wie angesichts der hohen Mobilität und der Sicherheitserfordernisse der Anstalt ausreichende soziale Hilfen und sinnvolle Beschäftigungsangebote geleistet werden können. Zudem besteht aufgrund umfangreicher Ansprüche des Untersuchungsgefangenen auf Arbeit, Ausbildung und soziale Betreuung die Gefahr, daß dadurch Erwartungen geweckt werden, die später nicht erfüllt werden können. Im übrigen ist nach den bisherigen Erfahrungen nur eine geringe Zahl von Untersuchungsgefangenen an Resozialisierungsangeboten interessiert, weil sie dadurch Nachteile für ihr Strafverfahren befürchten 25 . Deshalb muß auch gewährleistet werden, daß keinem Betroffenen im Verlauf des Verfahrens aus der Ablehnung eines Hilfsangebotes Nachteile entstehen. Nur dann kann wirklich von freiwilligen Angeboten gesprochen werden. 5.3 Alternativen
zur
Untersuchungshaft
Unter Berücksichtigung von Unschuldsvermutung und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kann die Untersuchungshaft nur als „ultima ratio" gelten. Herkömmliche Alternativen der Verfahrenssicherung sind beispielsweise Meldepflicht, Aufenthaltsbeschränkung, Hausarrest und Sicherheitsleistung. Diese Maßnahmen setzen jedoch eine gewisse soziale Integration, individuelle Stabilität bzw. finanzielle Ausstattung des Betroffenen voraus. Umstritten ist, ob mit den derzeitigen rechtlichen Möglichkeiten der Anwendungsbereich der Untersuchungshaft wirkungsvoll eingegrenzt werden kann. Diskutiert werden zur Zeit Institute wie die Soziale Bürgschaft, die es auch ohne Kaution Dritten ermöglicht, sich für den Tatverdächtigen gegenüber dem Richter zu verbürgen, sowie die Vorwegnahme der Bewährungshilfe und des Strafvollzuges mit Einwilligung des Tatverdächtigen. Erscheint die spätere Verbüßung einer Freiheitsstrafe nicht vermeidbar, so könnte nach schweizerischem Vorbild auch mit dem Betroffenen überlegt werden, ob mit seiner Zustimmung nicht der Strafvollzug vorweggenommen werden soll. Auf diese Weise könnte bereits der Beschuldigte voll in die Resozialisierungsarbeit einbezogen werden. Zu bedenken ist allerdings, inwieweit sich diese Überlegungen mit der Rechtsstellung des Untersuchungsgefangenen vereinbaren lassen. Richt24 25
Müller-Dietz, Besprechung von Entwurf Baumann. J Z 1982, 223. Herrfardt, Besprechung von Entwurf Baumann. MschrKrim 1982, 191.
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schnür sämtlicher Reformen muß das Wohl des Beschuldigten sein. Dies kann auch den Verzicht auf reformerische Vorstellungen gebieten, wenn die rechtliche Stellung des Gefangenen zu stark eingeschränkt, verunsichert und damit im Ergebnis verschlechtert wird.
V. Zusammenfassung und Folgerungen Wohl kein Staat kann auf Untersuchungshaft als kriminalpolitisches Gestaltungsmittel im Vorfeld der gerichtlichen Klärung des Schuldvorwurfs verzichten. Dennoch unterscheiden sich Anwendungsbereich und Ausgestaltung im einzelnen von Land zu Land. Die vergleichende Betrachtung zeigt allerdings gewisse Ubereinstimmungen der Tendenzen und Gestaltungsprobleme der Untersuchungshaft im westeuropäischen Ausland mit jenen in der Bundesrepublik Deutschland. So werden überall mit der Untersuchungshaft Zwecke verfolgt, die über die reine Verfahrenssicherung hinausgehen. D i e bei uns unterschwellig anzutreffende Neigung, bei der Verhängung von Untersuchungshaft auf die Öffentlichkeit zu „schielen", ist in den ausländischen Rechtsordnungen z u m Teil gesetzlich sanktioniert. Jedoch sollte die Zulässigkeit der Verhängung von Untersuchungshaft im deliktischen Bagatellbereich an eine konkrete Straferwartung geknüpft werden. E s sollte sichergestellt sein, daß eine Verhaftung nicht in Betracht kommt, wenn nur Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr zu erwarten ist26. Anlaß zu Reformbemühungen gibt vor allem die Beobachtung, daß sich fast alle westeuropäischen Staaten mit steigenden Zahlen von Untersuchungshäftlingen konfrontiert sehen 27 . In der Bundesrepublik Deutschland ist die Notwendigkeit zu einem Untersuchungshaftvollzugsgesetz gegenwärtig so gut wie unbestritten. Sie ist es vor allem deshalb, weil das geltende Recht der Untersuchungshaft ebenso wie die Praxis des Vollzuges in rechts- und sozialstaatlicher Hinsicht vielfach anstößig und defizitär erscheint. Z u den wichtigsten kriminalpolitischen Forderungen gehört die Verkürzung der Untersuchungshaft. Vor allem das Legalitätsprinzip als Vorgabe unseres Strafrechtssystems verpflichtet die Strafrechtspflege zu einer Vollständigkeit der Ermittlungen, die sich als verzögerndes Element auswirken muß. Hier sollte der Gesetzgeber ein deutliches Signal setzen. N u r so kann die Strafrechtspflege zu einer Beschleunigung veranlaßt werden 28 . Ferner bleibt die Untersuchungshaft bezüglich etwaiger Behandlungsangebote durchweg hinter dem Strafvollzug
26
Jung,
27
Jung, Jung,
28
in: Jung/Müller-Dietz,
a . a . O . (Fn.26), 95. a . a . O . (Fn.26), 93.
a.a.O. (Fn.22), 92.
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zurück. Die Forderung nach einem besonderen Gesetz zum Vollzug der Untersuchungshaft wird gerade auf eine gewandelte Zielsetzung zurückgeführt, welche zumindest die freiwillige Behandlung der Gefangenen nicht ausschließt, sondern ermöglicht. Allerdings verbietet es die Sonderstellung des U-Gefangenen, sich allzu eng an die Rechtsposition des Strafgefangenen anzulehnen. Auch darf nicht verkannt werden, daß es nicht allein um die Neugestaltung des Vollzuges der Untersuchungshaft gehen kann. Wesentliche Ursachen und Gebrechen der aktuellen Vollzugssituation liegen bereits in den vorgelagerten Bereichen: in den Zulässigkeitsvoraussetzungen für die Anordnung von Untersuchungshaft überhaupt, in den bisher beschränkten Möglichkeiten zur Haftvermeidung sowie in der Häufigkeit und Dauer der Anordnung von Untersuchungshaft. Da eine Reihe gravierender Mängel der Untersuchungshaft bereits im Haftrecht und seiner Anwendung ihre Ursache hat, wird man auch die schärfere Begrenzung des Haftrechts und seine Anreicherung durch funktionsfähige Alternativen in die Reformüberlegungen einbeziehen müssen. Diese Aufgabe wird zum Teil derart vordringlich erachtet, daß sie in der Reformdiskussion geradezu den Vorrang gewinnt und den Vollzug der Untersuchungshaft zurücktreten läßt (so etwa in den Bestrebungen des Arbeitskreises Strafprozeßreform). Hier erschöpft sich das Reformziel zunächst in der haftrechtlichen Zulässigkeitsproblematik. Vorrang und Dringlichkeit sind nicht zu bezweifeln. Weiterer Überlegung und Klärung bedürftig erscheinen hingegen die gesetzestechnischen Lösungsvorschläge. Zwei unterschiedliche Untersuchungshaftgesetze zu schaffen - differenziert nach Zulässigkeits- und Vollzugsfragen - , erscheint nicht sinnvoll. Zu erwägen ist entweder die Regelung der Gesamtmaterie in einem einheitlichen Gesetz zur Regelung der Untersuchungshaft oder die Novellierung des geltenden Haftrechts in der Strafprozeßordnung sowie die Schaffung eines auf den Vollzug der Untersuchungshaft beschränkten Gesetzes. In jedem Falle aber muß sich der Blick auf eine Reform der gesamten Verfahrensstruktur richten, also von der Zulässigkeit und den Alternativen bis zum Vollzug der Untersuchungshaft. So gesehen kann noch keiner der ausgearbeiteten Vorschläge und Entwürfe voll befriedigen. Überdies ist zu beachten, daß neue Gesetze allein die tatsächlichen Verhältnisse noch nicht verändern. Vielmehr kommt es auch hier darauf an, daß diejenigen, denen die Umsetzung des Gesetzes in die praktische Arbeit anvertraut ist, vom Sinn der neuen Aufgabe überzeugt sind.
Zur Zulässigkeit der Bescheidlösung im Abwasserabgabengesetz* MICHAEL KLOEPFER
I. Problematik 1. Wesen der Bescheidlösung Nach § 1 Satz 1 AbwAG ist für das Einleiten von Abwasser in ein Gewässer eine Abwasserabgabe zu entrichten. Gemäß § 3 Abs. 1 AbwAG richtet sich die Abwasserabgabe nach der Schädlichkeit (einschließlich Menge) des Abwassers, wobei die Schädlichkeit nach Schadeinheiten bestimmt wird. Damit scheint eine Anknüpfung an Menge und Schädlichkeit des tatsächlich eingeleiteten Abwassers gemeint zu sein. Eine solche Wirklichkeitsveranlagung sieht das Abwasserabgabengesetz jedoch nur in Ausnahmefällen vor (§§4 Abs. 4 und 5, 5 Abs. 1, 6 AbwAG). Die Regel ist vielmehr die in §4 Abs. 1 AbwAG vorgesehene Bescheidveranlagung1. Diese sog. Bescheidlösung fordert, daß die Werte für die Ermittlung der die Abwasserabgabe bestimmenden Schadeinheiten grundsätzlich dem wasserrechtlichen Bescheid zu entnehmen sind, der die Einleitung zuläßt. Dies bedeutet, daß die Abgabe regelmäßig nicht danach zu bemessen ist, was tatsächlich eingeleitet wird, sondern danach, was aufgrund des wasserrechtlichen Bescheides eingeleitet werden darf. Begründet wird die Bescheidlösung vor allem mit dem Ziel einer Verringerung des Verwaltungsaufwandes, insbesondere der Reduzierung administrativer Kontrollen, weil die Veranlagung zur Abwasserabgabe an den regelmäßig vorhandenen Abwasserbescheid anknüpfen könne, der ohnehin überwacht werden müsse2. Überdies soll die Bescheidlösung einen gewissen Druck auf die Wasserbehörden zur
* Meinem wissenschaftlichen Mitarbeiter, Herrn Assessor Klaus Meßerschmidt, danke ich f ü r seine Unterstützung. ' Zum Gegensatz von Bescheid- und Wirklichkeitsveranlagung vgl. Salzwedel, in: ders., Grundzüge des Umweltrechts, 1982, S.628f. 2 Vgl. etwa Berendes/Winters, Das neue Abwasserabgabengesetz, 1981, S.56; Hartkopf/Bohne, Umweltpolitik 1, 1983, S. 402; Hemeler, Das Recht der Abwasserbeseitigung, 1983, S. 202, m . w . N . ; Roth, in: W ü s t h o f f / K u m p f , Handbuch des Deutschen Wasserrechts, Stand 1982, C 30 E, Rdn. 1.
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laufenden Bescheidanpassung an den technischen Fortschritt erzeugen3. Schließlich soll eine Vollzugsverbesserung dadurch erreicht werden, daß die Wirksamkeit wasserrechtlicher Ge- und Verbote durch den wirtschaftlichen Anreiz der Abgabe erhöht wird4. 2. Kritik an der Bescheidlösung Die Bescheidlösung gehört freilich zu den umstrittensten Konstruktionsmerkmalen des Abwasserabgabengesetzes. Die Kritik5 setzt vor allem daran an, daß die Abgabe sich nicht nach der tatsächlich eingeleiteten Schadstoffmenge richtet. Ein Anreiz, den wasserrechtlichen Bescheid (durch Einleitungsreduzierung) nicht voll auszunutzen, bestehe somit nicht. Was man bezahlt habe, müsse man gewissermaßen auch ausnutzen. Durch das Abweichen von den tatsächlichen Einleitungen werde auch der umweltrechtliche Verursachergrundsatz verletzt, weil der Abgabeschuldner für Einleitungen zahlen müsse, die ihm zwar erlaubt worden seien, die er aber gar nicht vorgenommen habe. An diese eher gewässerpolitischen Einwände knüpfen nun rechtliche Bedenken an, die freilich auch darüber hinausgehen. Sie lassen sich im wesentlichen zu den Fragen bündeln, ob die Bescheidlösung - erstens nicht in unzulässiger Weise vom Prinzip der abgabenrechtlichen Einleitungsbelastung abweicht und - zweitens - ob sie als solche überhaupt verfassungsmäßig ist. Dem ist im folgenden nachzugehen. II. Vereinbarkeit der Bescheidlösung mit dem Prinzip der Einleitungsbelastung 1. Einleitungsbelastung und Bescheidlösung Das als „Grundsatz" in § 1 AbwAG ausgesprochene Prinzip der Abgabebelastung für Einleitungen harmoniert mit §4 Abs. 1 AbwAG nur unvollkommen. Die in §4 Abs. 1 AbwAG für die Abgabeermittlung getroffene Bescheidlösung modifiziert das auf dem Verursacherprinzip fußende Steuerungsmodell des Abwasserabgabengesetzes stark, das an sich durch eine unmittelbare Verknüpfung von Abgabelast und tatsächlichem Einleitungsvolumen am konsequentesten zur Geltung käme. Zwischen Zielvorgabe des Gesetzes und Bescheidsystem besteht unbestritten ein Spannungsverhältnis 6 . 3 Siehe z.B. Berendes/Winters, a . a . O . (Anm.2), S.56; Dahme, Abwasserabgabengesetz, 1976, S. 34. 4 Hartkopf/Bohne, a . a . O . (Anm.2), S.398. 5 Siehe die Schilderung bei Berendes/Winters, a. a. O . (Anm. 2), S. 57. 6 Vgl. Berendes/Winters, a . a . O . (Anm.2), S.57f.; HonertlRüttgers, ABC der Abwasserabgabe, 1980, S. 47. Es darf freilich im übrigen nicht übersehen werden, daß auch die Möglichkeit der Schätzung (§ 6, sowie indirekt die geschätzte Vorbelastung nach § 4 Abs. 3
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Ein solches Spannungsverhältnis ist jedoch nicht von vornherein gleichbedeutend mit einem unzulässigen Normwiderspruch. Ein solcher läge erst dann vor, wenn zwischen dem Prinzip der Einleitungsbelastung in § 1 Satz 1 A b w A G und der Bescheidlösung in §4 Abs. 1 A b w A G ein unauflöslicher Widerspruch bestünde (unten II 2), der von der Rechtsordnung, insbesondere von der Verfassung, nicht mehr geduldet würde (unten II 3). Von einer solchen denkbaren Verfassungswidrigkeit wegen Widersprüchlichkeit oder Systembruchs ist die Frage zu unterscheiden, ob die Bescheidlösung als solche (d. h. ohne Rücksicht auf § 1 Satz 1 A b w A G ) verfassungsmäßig ist (unten III). 2. Existenz eines
Normwiderspruchs
Ein wesentlicher Normwiderspruch zwischen dem Prinzip der Einleitungsbelastung und der Bescheidlösung läge vor, wenn § 1 Satz 1 A b w A G und §4 Abs. 1 A b w A G für gleiche Sachverhalte unterschiedliche (miteinander unvereinbare) Rechtsfolgen anordneten 7 . Dies wäre der Fall, wenn § 1 Satz 1 A b w A G ein bestimmtes, der Bescheidlösung nach §4 Abs. 1 A b w A G auf jeden Fall widersprechendes Verfahren der Abgabebemessung entnommen werden müßte. § 1 Satz 1 A b w A G bezeichnet mit dem „Einleiten von Abwasser in ein Gewässer" zunächst nur den grundsätzlichen Sachverhalt, an den die Abgabepflicht geknüpft ist, den sog. Abgabetatbestand. Hierdurch wird keine bestimmte Abgabebemessung präjudiziert, sondern lediglich aus der Vielzahl von Gewässerbenutzungen die für den Gewässerschutz besonders wichtige Direkteinleitung von Abwasser ausgegrenzt und zum Anknüpfungspunkt der Abgabepflicht gemacht. Die Stellung der Vorschrift und ihre Bezeichnung als „Grundsatz"N o r m mag jedoch den Gedanken wecken, ihr eine weiterreichende, die Interpretation des Abwasserabgabegesetzes entscheidend prägende Bedeutung beizumessen. So könnte die Formulierung, daß die Abgabe für das Einleiten von Abwasser zu entrichten ist, implizieren, daß sich die Abgabe prinzipiell nach der tatsächlich eingeleiteten Abwassermenge zu richten habe. Teilweise wird dementsprechend auch argumentiert, da § 1 A b w A G für das Einleiten von Abwasser und nicht für das Recht auf Einleiten von Abwasser die Abgabepflicht statuiere, müsse die Bescheidlösung an die tatsächlichen Einleitungswerte angepaßt werden 8 . S. 1 AbwAG) das Einleitungsprinzip nicht rein verwirklicht. Insbesondere bei großzügigen Schätzungen kann diese Form des Vorgehens im Effekt (nicht aber im gedanklichen Ansatz) ähnliche Wirkungen zeigen wie das Bescheidsystem. 7 Vgl. allgemein zum Normwiderspruch auch Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Aufl. 1979, S. 250 f. 8 Richter, Der Bescheid als Grundlage der Abwasserabgabe - aus der Sicht der Gemeinden, in: Berichte der abwassertechnischen Vereinigung Nr. 31, 1979, S.403 ff.,
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Bei einer solchen Auslegung des § 1 AbwAG ist indes Zurückhaltung geboten. Zunächst bezeichnet der vom Gesetz gebrauchte Begriff „Grundsatz" bei der Bezeichnung von § 1 AbwAG nicht den strengen rechtsphilosophisch-erkenntnistheoretischen Terminus des Grundsatzes i. S. einer unbestreitbaren Wahrheit als axiomatischen Anfangspunkt für weitere Betrachtungen. Er ist vielmehr ähnlich wie im allgemeinen Sprachgebrauch lediglich als konkretisierbares (oder auch durchbrechbares) Prinzip zu verstehen oder noch eher als Bezeichnung für eine bloße Regelentscheidung, die Ausnahmen zuläßt. Im übrigen ist festzuhalten, daß § 1 AbwAG eine ausdrückliche Aussage zur Abgabebemessung oder -ermittlung nicht enthält. Sinn der Auslegung eines Gesetzes ist es nicht, Normwidersprüche erst zu entfalten und auszubreiten, sondern solche - im Rahmen der Norminterpretierbarkeit - zu vermeiden'. Insoweit hat also eine harmonisierende Interpretation Vorrang gegenüber einer gegensatzentfaltenden Auslegung. Da die Abgabebemessung speziell in den - bezüglich der grundsätzlichen Festsetzung der Bemessungskriterien nicht auslegungsfähigen - Vorschriften der §§4 ff. AbwAG geregelt ist, bestehen weder ein Bedürfnis noch eine Berechtigung für eine Extension des § 1 AbwAG: ein Bedürfnis nicht, weil die Bemessungskriterien vom Gesetzgeber detailliert festgelegt werden; eine Berechtigung nicht, weil dies zur vermeidbaren - Entfaltung von Normwidersprüchen führen würde. Daß §1 AbwAG an das Einleiten von Abwasser und nicht an behördlich genehmigte Einleitungsrechte anknüpft, erklärt sich vornehmlich daraus, daß ungenehmigte Nutzungen abgabenrechtlich nicht privilegiert werden sollten. Im übrigen entspricht die grundsätzliche Unterscheidung von Abgabetatbestand und Abgabebemessung einer im Abgabenrecht üblichen Gesetzesstruktur 10 . Die auf den Abgabetatbestand bezogene Vorschrift des § 1 AbwAG, die im terminologischen Zusammenhang mit § 1 Abs. 1 W H G und § 2 A b w A G das „Ob" der Abgabeerhebung bestimmt, und die Bescheidlösung, die - um bei der etwas plakativen Unterscheidung zu bleiben - das „Wie" der Abgabeerhebung ausmacht, stehen daher im Prinzip rechtlich S. 404. Richter will dies durch Ergänzung der im Abwasserabgabenbescheid enthaltenen Werte erreichen. Dieser müsse neben den Erlaubniswerten Werte ausweisen, die das Volumen der tatsächlichen Abwassereinleitungen möglichst genau wiedergeben. Hierbei handelt es sich jedoch um eine contra-legem-Auslegung, da die Bescheidlösung gerade auf der Verzahnung von Einleitungserlaubnis und Abgabenbemessung beruht und der Lenkungseffekt des Abwasserabgabengesetzes nur bei Identität der Werte eintreten kann (vgl. BT-Drucks. 7/5183, S.3). 9 Larenz, a.a.O. (Anm. 7), S.312. 10 Vgl. Wilke, Gebührenrecht und Grundgesetz, 1972, S. 192f.; Bauernfeind/Zimmermann, Kommunalabgabengesetz Nordrhein-Westfalen, 2. Aufl. 1979, §2 Rdn. 12 f.
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im Einklang miteinander" oder lassen sich jedenfalls harmonisierend interpretieren.
3. Verfassungsfragen zum Verhältnis zwischen §1 und §4 Ahs.l AhwAG a)
Normwiderspruch
D a somit kein unvermeidbarer (weil durch Interpretation abschleifbarer) Normwiderspruch zwischen § 1 und § 4 Abs. 1 A b w A G vorliegt, erübrigen sich hier folgerichtig an sich allgemeine Erörterungen über die verfassungsrechtlichen Schranken von Normwidersprüchen. Gleichwohl sei rein vorsorglich - unter Fingierung eines Normwiderspruchs zwischen Einleitungsprinzip und Bescheidlösung - folgendes bemerkt: Nicht jeder Widerspruch oder gar jede Widerläufigkeit in einem Gesetz verletzen die Verfassung. Die völlige innere Harmonie und InSich-Stimmigkeit ist eine rechtspolitische Forderung, die in der Gesetzgebungslehre, nicht aber im geltenden Verfassungsrecht ihre Grundlage findet. Als ein - aus dem Zeitalter der Kodifikationen - überkommenes gesetzgebungstechnisches Ideal gilt es, daß sich ein Gesetz aus den in ihm enthaltenen allgemeinen Prinzipien heraus entwickelt und daß seine Detailregelungen nur Konkretisierungen homogener gesetzlicher Leitprinzipien sind12. Indessen ist dieses Ideal im Zeichen demokratischer Gesetzgebung mit ihrem Prinzip der kompromißhaften Entscheidungsfindung verblaßt und in seiner Verbindlichkeit relativiert 13 . Für die demokratische Gesetzgebung ist der punktuelle Interessenausgleich und nicht die normative Prinzipientreue, nicht das gedanklich Wahre und Beste, sondern die Mehrheitsfähigkeit, d . h . das durch Kompromiß Erreichbare typisch 14 . Die Verfassung eines demokratischen Rechtsstaates fordert deshalb auch nicht eine völlige In-Sich-Stimmigkeit eines Gesetzes, sondern duldet in gewissen Grenzen auch Unstimmigkeiten, Ungereimtheiten und Spannungen innerhalb eines Gesetzes und erst recht zwischen 11 So ausdrücklich Berendes/Winters, a.a.O. (Anm.2), S.29; andere Autoren gehen unausgesprochen von der Vereinbarkeit von § 1 AbwAG und Bescheidlösung aus, vgl. nur Dahme, a. a. O. (Anm. 3), S. 14. 12 Besonders deutlich tritt dies in der Konzeption der abstrahierenden klassischen „Allgemeinen Teile" von Gesetzen zu Tage; vgl. dazu Kloepfer, Systematisierung des Umweltrechts, 1978, S. 101. 13 Kühler, JZ 1969, 645ff.; Esser, Gesetzesrationalität im Kodifikationszeitalter und heute, in: H.J.Vogel/Esser, 100 Jahre Oberste deutsche Justizbehörde, Vom Reichsjustizamt zum Bundesministerium der Justiz, 1977, S. 13 ff.; ferner Kloepfer, a. a. O. (Anm. 12), S. 89. 14 Siehe dazu auch Kloepfer, Verw. Arch. 1983, 219; - zum Kompromißcharakter der Bescheidlösung siehe unten III 2 a.
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Gesetzen. Neben dem noch zu erörternden Aspekt der Systemgerechtigkeit stellt die Verfassung durch ihr Rechtsstaatsgebot solchen Gesetzen nur dann unüberwindliche Hürden entgegen, wenn die N o r m in ihrer Widersprüchlichkeit vom Adressaten ein konträres Verhalten verlangt (ζ. B. in dem - eher theoretischen - Fall, daß ein Gesetz eine Handlung gleichermaßen gebietet und verbietet), rechtlich unerfüllbar bzw. sinnlos wird oder wenn die Widersprüchlichkeit der Gerechtigkeits- und O r d nungsfunktion der Rechtsordnung schlechterdings zuwiderläuft. Davon kann aber bezüglich des hier interessierenden Verhältnisses der §§ 1 und 4 Abs. 1 A b w A G zueinander keine Rede sein. Das Rechtsstaatsgebot in den Ausprägungen der Rechtssicherheit und Bestimmtheit 15 - verbietet ferner ein Gesetz, das inhaltlich so widersprüchlich ist, daß der Bürger nicht mehr zu erkennen vermag, was von ihm gesetzlich verlangt wird. Auch dies kann vom Abwasserabgabengesetz in dem erörterten Zusammenhang nicht behauptet werden, da klar ist, daß und wie die H ö h e der Abwasserabgabepflicht nach den §§ 4 ff. A b w A G zu bestimmen ist. Deshalb kann hier auch dahinstehen, ob die Existenz eines verfassungswidrigen Normwiderspruchs allgemein zu der Aufhebung des gesamten Gesetzes führt, oder ob nur eine der widersprüchlichen Bestimmungen als nichtig erklärt werden kann, um so den Widerspruch zu beseitigen. Führen innere Widersprüche eines Gesetzes zwar nicht zur Unerkennbarkeit des hiernach rechtlich Gebotenen, aber doch zu erheblichen Unklarheiten und Verwirrungen, so ist die Rechtsfolge nicht die Nichtigkeit, sondern nur eine gewisse Geltungslabilität, die etwa eine Beseitigung durch ein korrigierendes, echt rückwirkendes Gesetz erlauben". Die Spannung zwischen dem Prinzip der Abgabebelastung für tatsächliche Einleitungen und der Bescheidlösung stiftet freilich keine Unklarheiten und Verwirrungen darüber, wonach sich die Höhe der individuellen Abgabeschuld eigentlich bemißt. Es gelten nach § 4 Abs. 1 A b w A G regelmäßig die Werte des die Abwassereinleitung zulassenden Bescheides, auch wenn § 1 A b w A G als Gesetzesgrundsatz die Abwasserabgabepflicht an das Einleiten von Abwasser knüpft.
15 Zur notwendigen Bestimmtheit von Gesetzen: BVerfGE 1, 14 (45); 17,67 (82); 19,166 (177); 21,245 (261); namentlich im Abgabenwesen: BVerfGE 19,253 (267); 21,209 (215); 34,348 (365); 49,343 (362). " BVerfGE 11,64 (72f.); 13,261 (272); 19,187 (195); siehe dazu Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, 1981, S. 57f.; Kloepfer, Vorwirkung von Gesetzen, 1974, S. 104, m . w . N . , sowie dem., W D S t R L 40 (1982), 63 (80), mit Hinweis auf hierdurch verursachte verminderte Verbindlichkeit von Rechtslagen.
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b) Systemwidrigkeit Ist somit auch kein unvermeidbarer und verfassungswidriger Normwiderspruch zwischen den §§ 1 und 4 Abs. 1 AbwAG festzustellen, bleibt doch die Frage, ob die Spannung zwischen dem Prinzip der Abgabebelastung für Einleitungen und der Bescheidlösung nicht einen unzulässigen, verfassungswidrigen Systembruch darstellt. Dies könnte eine Verletzung des Gebots der Systemgerechtigkeit sein, das nach freilich nicht unbestrittener - h. M. Verfassungsrang besitzt' 7 . Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach Einzelnormen, die in eine Gesamtregelung eingebettet waren, auf ihre Systemgerechtigkeit hin überprüft. Dabei hat es den objektiven Sinn und Zweck der Gesamtregelung ermittelt und dann untersucht, ob die jeweils in Frage stehende, systemdurchbrechende Einzelregelung sich unter diesem Blickpunkt als „sachlich gerechtfertigt", „sachgemäß" bzw. „sachgerecht" qualifizieren ließ oder ob die Einzelnorm die „vom Gesetz selbst statuierte Sachgesetzlichkeit" in willkürlicher Weise durchbrach18. Der hier anzulegende Gleichheitsmaßstab" ergibt sich im wesentlichen aus der „inneren" Gesetzlichkeit normativer Ordnungssysteme, wobei entscheidend auf das Gesetz abgehoben wird, um dessen Einzelregelung es geht20. Ein solches „System" könnte in der Grundsatzentscheidung des § 1 AbwAG für das Prinzip der Einleitungsbelastung liegen, das möglicherweise durch die Bescheidlösung von §4 Abs. 1 AbwAG durchbrochen würde. Dies wäre allerdings nur anzunehmen, wenn das Prinzip der abgabenrechtlichen Belastung für Einleitungen wirklich als gesetzgeberisches System - gewissermaßen als Regelprinzip und -entscheidung ausgestaltet worden wäre, in der dann die Bescheidlösung als systemdurchbrechende Ausnahme einer sachlichen Legitimation bedürfte. Dies ist aber nach dem Abwasserabgabengesetz wohl kaum der Fall, obwohl § 1 AbwAG das Einleitungsprinzip als „Grundsatz" bezeichnet. Ein solches Prinzip ist jedoch kein durchgeformtes normatives „System", wenn es sich nicht oder kaum in konkreten gesetzlichen Entscheidungen niederschlägt. Die Ausprägungen des Einleitungsprinzips in § 9 Abs. 1 AbwAG (zur Bestimmung des richtigen Abgabepflichtigen) sowie in den - als Ausnahmevorschriften gefaßten §§ 4 Abs. 4 und 17 Vgl. z.B. BVerfGE 15,313 (318); 18,366 (372f.); 20,374 (377); 34,101 (115); allgemein zur Systemgerechtigkeit etwa: Battis, Ipsen-Festschrift, 1977, S. 11; Degenhart, Selbstbindung als Verfassungspostulat, 1976; K. Lange, Die Verwaltung 1971, 259 ff., m. w . N . ; ferner Kloepfer, Verw. Arch. 74 (1983), 218 f. 18 BVerfGE 15,313 (318); ähnlich BVerfGE 18,353 (372); 36,383 (394). " Zur Systemwidrigkeit als Gleichheitseingriff Kloepfer, Gleichheit als Verfassungsfrage, 1980, S. 57. 20 Für das Steuerrecht: BVerfGE 12,341 (349); 15,313 (318); 34,103 (115); im übrigen BVerfGE 18,353 (372 f.); 20,374 (377); 25,236 (251 f.); 36,321 (336); 36,383 (394).
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5, 5, 6 AbwAG - sind recht schwach und rechtfertigen kaum die Einschätzung des Einleitungsprinzips als tragendes System des Abwasserabgabengesetzes. Eher könnte man umgekehrt daran denken, daß die Bescheidlösung als Regelentscheidung des Abwasserabgabengesetzes durch Einzelausprägungen des Einleitungsprinzips (§§4 Abs. 4 und 5, 5, 6 AbwAG) durchbrochen wird. Da die Bescheidlösung das Abwasserabgabengesetz geradezu entscheidend prägt, kann sie nicht als „Durchbrechung selbststatuierter Sachgesetzlichkeit" des Abwasserabgabengesetzes gelten. Daß die Bescheidlösung in einer Spannung zum „Grundsatz" von § 1 AbwAG steht, ist allenfalls eine Frage der inneren Folgerichtigkeit und Konsequenz eines Gesetzes - Gesetzgebungsmaximen, die als solche keine Verfassungsgebote sind. Anderes gilt für die Systemgerechtigkeit, die nach h. M. eine Ausprägung des Gleichheitssatzes darstellt21. Wie dargelegt, stellt aber die Bescheidlösung gerade keinen solchen Systembruch dar. Aber selbst wenn man die Grundsatzwidrigkeit der Bescheidlösung als Systemwidrigkeit im Rechtssinne werten wollte, wäre damit noch keineswegs ihre Verfassungswidrigkeit erwiesen. Denn nach h. M. verbietet die Verfassung gerade nicht jede Systemwidrigkeit als solche, sondern dies nur dann, wenn die Durchbrechung vorgegebener Systementscheidungen ohne sachlichen Grund erfolgt. Konkret würde dies zu der Frage führen, ob die Abweichung des § 4 Abs. 1 AbwAG vom Einleitungsprinzip in § 1 Satz 1 AbwAG auf sachlichen Gründen beruht. Das ist an sich von der Frage zu trennen, ob die Bescheidlösung als solche willkürfrei ist (dazu unten III). Immerhin werden die hier tragenden Praktikabilitätserwägungen auch als wichtige Legitimationsstütze für die Durchbrechung des Einleitungsprinzips zu benutzen sein. Gerade wenn und weil das Einleitungsprinzip unpraktikabel ist bzw. zu unvertretbar hohen Uberwachungskosten führt, ist eine Prinzipiendurchbrechung nicht unsachlich. Allenfalls könnte dann gefragt werden, inwieweit die Einführung des Einleitungsprinzips überhaupt vertretbar war. Immerhin beruhen die Ausprägungen dieses Prinzips in den §§4 Abs. 4 und 5, 5, 6 AbwAG durchweg auf sachlichen Gründen, insbesondere weil die Diskrepanz zwischen den Bescheidwerten und den tatsächlichen Einleitungswerten zu groß bzw. problematisch wird oder weil im konkreten Fall keine Bescheidwerte vorhanden sind. Zum anderen ist darauf hinzuweisen, daß die das Einleitungsprinzip durchbrechende Bescheidlösung des § 4 Abs. 1 AbwAG u. a. dazu dient, das häufig beklagte Koordinationsdefizit zwischen dem traditionellen imperativen Wasserrecht und dem influenzierenden Abwasserabgaben-
21
Siehe dazu Kloepfer, a. a. O. (Anm. 19), S. 57.
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gesetz zu beseitigen22. Die Erstellung von Systemgerechtigkeit zwischen verschiedenen Gesetzen (intergesetzliche Systemgerechtigkeit) kann vielfach dazu führen, die Systemgerechtigkeit in den einzelnen Gesetzen (intragesetzliche Systemgerechtigkeit23) zu durchbrechen: der Abbau intergesetzlicher Systembrüche kann die Durchbrechung intragesetzlicher Systemgerechtigkeit verursachen. Umgekehrt bedeutet dies, daß eine strikte Handhabung des Prinzips intragesetzlicher Systemgerechtigkeit Brüche zu solchen Gesetzen, die anderen Systemen verpflichtet sind, vertiefen muß. Dies bedeutet für den vorliegenden Fall: je rigider das Abwasserabgabengesetz das Einleitungsprinzip durchgeführt hätte, desto tiefer wäre die Kluft zum herkömmlichen Wasserrecht, insbesondere zum Wasserhaushaltsgesetz geworden, weil das dort grundlegende Kriterium wasserrechtlicher Legalität von Einleitungen für das Abwasserabgabenrecht vollständig irrelevant würde. Die Erstellung intergesetzlicher Systemgerechtigkeit (oder gar Widerspruchsfreiheit) ist aber ein sachlicher Grund für die Gestaltung eines Gesetzes, selbst wenn es dadurch zu intragesetzlichen Spannungslagen kommt. Intergesetzliche und intragesetzliche Systemgerechtigkeit führen somit zu teilweise widersprüchlichen Forderungen, die schonend aufeinander abgestimmt werden müssen, wobei sie sich regelmäßig wechselseitig abschwächen. Insoweit ist die Spannung zwischen den §§ 1 und 4 Abs. 1 Satz 1 AbwAG verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. III. Verfassungsmäßigkeit der Bescheidlösung als solcher 1. Allgemeine Verfassungsanforderungen
an Abgaben
Die Frage, ob die in § 4 Abs. 1 AbwAG enthaltene Bescheidlösung als solche (d. h. unabhängig von ihrer Spannungslage zu § 1 AbwAG) der Verfassung gemäß ist, führt zu der grundsätzlichen Problematik der allgemeinen verfassungsrechtlichen Grenzen, an die der Gesetzgeber bei der Bemessung von - dem Grunde nach zulässigen - Abgaben gebunden ist. Hierauf kann im Prinzip keine für alle Abgabearten einheitliche Antwort gegeben werden. Rechtsprechung und Schrifttum sehen vielmehr zu Recht Abgabeart und Abgabebemessung in grundsätzlicher wechselseitiger Abhängigkeit24. Dies kann hier nur mit einigen Strichen skizziert werden. Ein besonderer Augenmerk hat dabei dem abgaberechtlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstab zu gelten, weil die Bescheidver22 Hartkopf/Bohne, a. a. O. (Anm. 2), S. 398, sprechen sogar von eimm „Instrumentenverbund" zwischen beiden Gesetzen. 23 Zu beiden Formen der Systemgerechtigkeit (sowie zum folgenden): Kloepfer, W D S t R L 40 (1982), 63 (84); den., Verw. Arch. 74 (1983), 218 f. 24 BVerfGE 9,291 (298f.); Kloepfer, AöR 97 (1972), 232ff., 269; Mike, a.a.O. (Anm. 10), S. 194 ff.
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anlagung maßgeblich auf der Annahme beruht, daß derjenige, der die wasserrechtliche Erlaubnis für die Abwassereinleitung beantragt und erhält, von dem Bescheid auch im vorgesehenen Umfang tatsächlich Gebrauch machen wird.
a) Steuern und
Gebühren
Während im Steuerrecht der Gesetzgeber - wie schon bei der Grundentscheidung über die Abgabeerhebung - bei der näheren Ausgestaltung einen sehr weiten Gestaltungsfreiraum besitzt, der im wesentlichen lediglich durch die Grundsätze der Typengerechtigkeit und das Verbot konfiskatorischer Abgaben begrenzt wird 25 , tritt nach überwiegender Ansicht im Gebührenrecht eine vergleichsweise stärkere Bindung an Bemessungsmaßstäbe ein26. Diese Stufung erklärt sich u. a. aus der prinzipiellen „Vorausetzungslosigkeit" der Steuer einerseits gegenüber der „Vorzugsbezogenheit" der Gebühren und Beiträge (als Vorzugslasten) andererseits. So sind im Steuerrecht Typisierungen und Pauschalisierungen weitestgehend zulässig. Ihre Grenze finden sie regelmäßig erst im Gleichheitsgrundsatz von Art. 3 Abs. 1 G G , wenn die Vorteile der Typisierung im Mißverhältnis zu der mit der Typisierung notwendig verbundenen Ungleichheit der steuerlichen Belastung stehen 27 .
b) Zum gebührenrechtlichen
Wahrscheinlichkeitsmaßstab
Im Gebührenrecht kommen für die Gebührenfestsetzung in Verbindung mit dem - freilich nicht verfassungsvorgegebenen 28 - Kostendekkungs- und Äquivalenzprinzip sowohl der sog. Wirklichkeitsmaßstab als auch der sog. Wahrscheinlichkeitsmaßstab in Betracht. Vom Wirklichkeitsmaßstab spricht man, wenn die konkret ermittelte oder gemessene Inanspruchnahme eines Leistungsangebots oder einer Nutzungs-
25 Maunz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 14 Rdn. 50; Papier, DVB1. 1980, 787ff.; Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, 1972, passim; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd.2, 1980, S. 1109f.; Tipke, Steuerrecht, 9. Aufl. 1983, S. 19ff., 37f.; Wendt, N J W 1980, 2111 ff., jeweils m . w . N . 26 Vgl. etwa BVerfGE 9,291 (299) einerseits, BVerfGE 50, 217 (225 f.) andererseits; zur Frage eines verfassungsrechtlichen Gebührenbegriffs allgemein Kloepfer, AöR 97 (1972), 232, 239 ff.; Wendt, Die Gebühr als Lenkungsmittel, 1975, S. 42 ff.; F. Kirchhof, Die Höhe der Gebühr, 1981, S.41 ff., insbes. S.60. 27 BVerfG in st. Rpr., siehe etwa BVerfGE 13,331 (341); 31,119 (130f.); vgl. im Schrifttum insbesondere Isensee, Die typisierende Verwaltung, 1976, insbes. S. 101 ff.; P. Kirchhof, W D S t R L 39 (1981), S. 264 ff. 28 Gegen den Verfassungsrang dieser Gebührenbemessungsprinzipien Kloepfer, AöR 97 (1972), 232ff., 269; Wendt, a . a . O . (Anm.26), S.59ff., insbes. S.64f.; Wilke, a . a . O . (Anm. 10), S. 244 ff.; F. Kirchhof, a. a. O. (Anm. 26), S. 60.
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möglichkeit die Gebührenhöhe bestimmt29. Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab stellt demgegenüber auf den Durchschnitts- oder Regelfall ab und schließt von bestimmten Indikatoren auf die wahrscheinliche Inanspruchnahme30. In den Kommunalabgabengesetzen der Länder wird dem Wirklichkeitsmaßstab im allgemeinen der Vorzug gegeben, sofern nicht seine Anwendung besonders schwierig oder wirtschaftlich unvertretbar ist (vgl. ζ. B. § 6 Abs. 3 KAG NW). Für Abweichungen vom Wirklichkeitsmaßstab bedarf es hiernach eines sachgerechten Grundes31. O b dieses Primat des Wirklichkeitsmaßstabs gegenüber dem Wahrscheinlichkeitsmaßstab aber für das Gebührenrecht oder gar für das Recht anderer Abgaben Verfassungsrang besitzt, ist zweifelhaft. Das Bundesverfassungsgericht hat den weiten Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum auch des Gebührengesetzgebers betont32. Als allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen der Gebührenbemessung nennt es nur den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 G G und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (im engeren Sinn), demzufolge die mit der Gebührenregelung verfolgten Zwecke nicht außer Verhältnis zu der dem Bürger auferlegten Gebühr stehen dürfen. Dabei sind alle mit einer Gebührenregelung verfolgten, verfassungsrechtlich zulässigen Zwecke als Abwägungsfaktoren in die Verhältnismäßigkeitsprüfung einzubeziehen". Danach gibt es jedenfalls keinen verfassungskräftigen Grundsatz des Abgabenrechts, wonach nur absolut genaue, verursachergerechte Veranlagungsmethoden zulässig sind34. c) Anforderungen
an Sonderabgaben
Die Sonderabgaben, zu denen die Abwasserabgabe gehört35, stehen unter dem hier interessierenden Aspekt der zulässigen Maßstäbe vereinfachend gesagt - in gewisser Hinsicht zwischen Steuer und Gebühr, da bei ihnen die Vorzugsbezogenheit weder völlig fehlt (wie bei einer Steuer) noch so verdichtet ist wie bei der Gebühr. Hinzu kommt ihr häufig primärer Lenkungscharakter, der die Abgabebemessung ver-
" Bauernfeind/Zimmermann, a.a.O. (Anm. 10), §6 Rdn.43; Wilke, a.a.O. (Anm.10), S.209. 30 Wilke, a.a.O. (Anm.10), S.213. 31 Vgl. Bauernfeind/Zimmermann, a.a.O. (Anm.10), § 6 Rdn.42, m.w.N.; Wilke, a.a.O. (Anm.10), S.214. 52 Vgl. BVerfGE 50,217 (226); Kloepfer, AöR 97 (1972), 232, 269. 53 BVerfGE 50,217 (227); vgl. auch schon Wendt, a.a.O. (Anm.26), S. 105ff. 34 So ausdrücklich Betendes, DÖV 1981, 747, 749. 35 Unterdessen wohl herrschende Meinung; vgl. zuletzt Kloepfer, JZ 1983, S. 745 ff., m. w. N.
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Michael Kloepfer
stärkt dem Geeignetheitsgebot unterwirft 36 . Von daher wird der Gestaltungsraum des Gesetzgebers bezüglich der Maßstabbestimmung regelmäßig weiter sein als bei Gebühren, zumal bei Sonderabgaben der Bezug zu einzelnen Verwaltungshandlungen fehlt und darüber hinaus etwa die Ausgleichsabgaben umverteilenden Charakter haben. Das schließt nicht aus, daß Sonderabgaben anderen sonderabgabenspezifischen Begrenzungen ( z . B . Gruppenverantwortung, Gruppenhomogenität etc. 37 ) unterworfen werden. Diese primär zur Abgrenzung von den Steuern entwickelten Kriterien haben jedoch regelmäßig keinen Bezug zu der hier vor allem interessierenden Frage, ob Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe im Sonderabgabenrecht erlaubt sind. Soweit ersichtlich, fehlen hierzu bislang allgemeingültige Erkenntnisse und Ableitungen in der Rechtsprechung sowie im Schrifttum. Von dem oben skizzierten Ausgangspunkt wird aber wohl im Prinzip gefolgert werden können, daß dann, wenn Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe schon im Gebührenrecht zulässig sind, sie erst recht im Sonderabgabenrecht erlaubt sein müssen. Allerdings werden hierbei das Ubermaßverbot und die allgemeinen Grenzen zulässiger Gleichheitseingriffe 38 zu beachten sein. D a dem Wahrscheinlichkeitsmaßstab stets auch eine typisierende Prognose zugrundeliegt, werden überdies die einschlägigen allgemeinen Verfassungsanforderungen gesetzgeberischer Entscheidungsfindung 3 ' einzuhalten sein.
2. Bescheidlösung und Verfassung Die grundsätzliche Frage der verfassungsrechtlich zulässigen Bemessungsmaßstäbe bei Sonderabgaben im allgemeinen und der Zulässigkeit von Sonderabgabenbemessungen nach Wahrscheinlichkeitsmaßstäben im besonderen braucht hier jedoch nicht abschließend beurteilt zu werden, da selbst bei Zugrundelegung strengster Anforderungen die im Abwasserabgabengesetz vorgesehene Bescheidlösung als Abgabebemessungsmaßstab verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist:
a) Bescheidlösung und
Wahrscheinlichkeitsmaßstab
Wie erwähnt, liegt der Bescheidveranlagung auch die typisierende Annahme zugrunde, von einem die Abwassereinleitung zulassenden Bescheid werde in dem dort vorgesehenen Umfang auch tatsächlich Gebrauch gemacht. Insoweit nähert sich die Bescheidlösung einer Abga-
So für wirtschaftslenkende Steuergesetze Kloepfer, NJW 1971, 1585. Siehe dazu insbes. BVerfGE 55,274 (305 ff.); 57,139 (167ff.). - Zur Anwendung der dort entwickelten Maßstäbe auf die Abwassergabe siehe Kloepfer, J Z 1983, S. 747 f. 38 Dazu Kloepfer, a . a . O . (Anm. 19), S.58ff. " Hierzu Kloepfer, W D S t R L 40, 63 (90 f.) m . w . N . 34 37
Zur Zulässigkeit der Bescheidlösung im Abwasserabgabengesetz
327
bebemessung nach dem Wahrscheinlichkeitsmaßstab 40 , was auch durch sachgerechte Gründe legitimiert wird. Als sachgerechte Gründe werden im Gebührenrecht insbesondere Praktikabilitätserwägungen wie Verwaltungsvereinfachung, Rationalisierung und Kostenökonomie anerkannt 41 . Dies muß entsprechend für solche Sonderabgaben gelten, die (u.a.) nach dem Wahrscheinlichkeitsmaßstab bemessen werden. Maßgebliches Motiv für die Übernahme der Bescheidlösung in das tatsächlich verabschiedete Abwasserabgabengesetz - im Unterschied zum Regierungsentwurf, der weitgehend Einzelmessungen vorgesehen hatte42 - war die Senkung des Verwaltungsaufwandes, der bei einer Abgabebemessung auf der Grundlage von Einzelmessungen das Abgabeaufkommen aufgezehrt hätte43. Der Bundesrat empfahl deshalb sogar eine weitgehende Pauschalierung der Abwasserabgabe 44 . Das Bescheidsystem stellt insoweit einen Kompromiß dar. Wird die Bescheidlösung als eine dem Wahrscheinlichkeitsmaßstab verpflichtete Konstruktion angesehen, dann ist die darin enthaltene Prognose, der Einleiter werde regelmäßig legal, d.h. bescheidgemäß handeln, in einem Rechtsstaat legitim, zumal das Abwasserabgabengesetz auch die Fälle illegalen Einleitens im Rahmen der Bestimmungen von § 4 Abs. 4 sowie § 6 A b w A G abgaberechtlich greifbar macht. Die legitime Annahme wasserrechtlich legalen Verhaltens deckt allerdings nur die Prognose, das tatsächlich eingeleitete Abwasser werde die im Bescheid zugelassene Menge und Schädlichkeit nicht überschreiten. Die Annahme, daß der Einleiter die Bescheidwerte nicht unterschreitet, wird durch die Legalitätsprognose als solche jedoch nicht gedeckt, weil die Unterschreitung der Bescheidwerte gleichfalls legal ist. Dennoch ist auch die gesetzgeberische Annahme fehlender Bescheidunterschreitung zulässig, weil der dem Bescheid zugrundeliegende Antrag die Annahme deckt, der Antragsteller werde so wie beantragt einleiten. Zu beachten ist schließlich, daß das Abwasserabgabengesetz die Bescheidlösung keineswegs ausnahmslos anordnet, sondern vielmehr durch die mehrfache Zulassung von Wirklichkeitsveranlagungen 45 korri40 Vgl. Gassier, in: Berichte der abwassertechnischen Vereinigung Nr. 31 (1979), S. 409 ff., 412 („Quasi"-Wahrscheinlichkeitsmaßstab). 41 Bauernfeind/Zimmermann, a. a. O. (Anm. 10), § 6 Rdn. 42 m. w. N. § 5 Regierangsentwurf nur mit einer Ausnahmeregelung (Pauschalierung) für Kleineinleitungen (BT-Drucks. 7/2272, S. 8, 23). 43 BT-Drucks. 7/5183, S.4 (Bericht des Innenauschusses). Vgl. ferner Berendes, DÖV 1981, 749 (750); Berendes/Winters, a.a.O. (Anm.2), S.48; Dahme, in: Berichte der abwassertechnischen Vereinigung Nr. 32 (1980), S. 41 ff. 44 BT-Drucks. 7/2272, S.43, S. 58. Zur Gesetzgebungsgeschichte vgl. im übrigen Berendes/Winters, a. a. O. (Anm. 2), S. 5 f. 45 Siehe dazu Salzwedel, a. a. O. (Anm. 1), S. 629.
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gierend durchbricht. Zu erwähnen sind insbesondere die Möglichkeiten zur Verminderungserklärung des Einleiters nach § 4 Abs. 5 A b w A G sowie zur Ermittlung aufgrund von Einzelmessungen nach § 5 A b w A G . Die Veranlagung zur Abwasserabgabe erfolgt demnach nicht allein nach einem reinen Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der grundsätzlich durch Unwiderleglichkeit gekennzeichnet ist'"', sondern nach einem Kombinationsprinzip mit Bemessungsalternativen, die freilich nicht ranggleich sind.
b) Bescheidlösung und
Gleichheitssatz
Die Bescheidlösung führt auch nicht zu einer wesentlichen Ungleichbehandlung einzelner Abgabepflichtiger ohne sachlichen Grund. Zwar ist nach der Bescheidlösung nicht auszuschließen, daß für tatsächlich gleiche Einleitungsvolumen verschieden hohen Abgaben erhoben werden, dies verletzt das Verfassungsgebot der Abgabengleichheit in der Ausprägung der Lastengerechtigkeit jedoch nicht. Zum einen haben es die Abgabepflichtigen selbst in der Hand, die Antragswerte eng am voraussichtlichen Bedarf auszurichten, zum anderen sind die Vorschriften der § § 4 Abs. 5, 5 A b w A G zu berücksichtigen, die eine spätere oder nachträgliche Anpassung der Abgabelast an verminderte Abwassereinleitungen bzw. geringere Schädlichkeitswerte etc. ermöglichen. Daß diese Korrekturen an einen Schwellenwert gebunden sind (Mindestabweichung von 25 % - hinzu kommt bei § 4 Abs. 5 A b w A G noch eine Mindestfrist von drei Monaten - ) , ist sachgerecht und verfassungsrechtlich hinzunehmen, da sonst die angestrebte Verwaltungsvereinfachung hinfällig würde. Durch diese Grenzschwelle ist jedenfalls sichergestellt, daß etwaige Ungleichbehandlungen sich in einem vertretbaren Rahmen halten. Im übrigen sind Härten gesetzgeberischer Grenzziehungen unvermeidbar und insoweit regelmäßig hinzunehmen 47 .
c) Bescheidlösung und
Geeignetheitsprinzip
Das Rechtsstaatsprinzip verbietet nach h. M. nur solche belastenden Gesetze, die zur Erreichung des Gesetzeszwecks schlechthin untauglich sind. Dabei ist nach überwiegender Ansicht die Frage der Zwecktauglichkeit aus der Sicht des Gesetzgebers zu beurteilen, dem ein weiter Beurteilungsspielraum eingeräumt sei48. Auch die schärfsten Kritiker der Bescheidlösung halten ihr aber - zu Recht - nicht eine völlige Wirkungs-
« Vgl. Wilke, a . a . O . (Anm. 10), S.211. 47 Zum Beispiel der Stichtagsregelungen vgl. Kloepfer, D Ö V 1978, 226 ff., insbes. S. 230. 48 BVerfGE 30,250 (263) m . w . N . ; 33,171 (189); 37, 104 (118); kritisch Kloepfer, NJW 1971, 1585 ff. (1586).
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329
losigkeit oder gar eine Schädlichkeit in bezug auf den Abgabezweck vor 4 '. Die Verknüpfung von Einleitungserlaubnis und Abgabebemessung ist nicht evident ungeeignet, Einleiter zu einer Reduzierung der Schadstofffrachten anzuhalten. Jedenfalls führt die Bescheidlösung näher zum Gesetzesziel, d.h. zur Verminderung des Einleitens schädlicher Abwässer. Die Sorge, das Bescheidsystem verführe dazu, die vorab „bezahlten" Erlaubniswerte auch auszuschöpfen, stellt seine Tauglichkeit zur Zielerreichung nicht grundsätzlich in Frage, zumal u.a. die Möglichkeit der Verminderungserklärung nach § 4 Abs. 5 A b w A G insoweit jeweils partiell einschlägige Abhilfe schaffen kann50. Im übrigen wäre es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei einem komplexen Sachverhalt wie der Bescheidlösung Sache und Pflicht des Gesetzgebers, nach angemessener Zeit sowie nach Sammlung ausreichender Erfahrungen seine Regelung zu überprüfen und ggf. zu ändern51. Da das Abwasserabgabengesetz aber erst am 1. Januar 1978 in Kraft getreten ist und Abgaben erst seit dem 1. Januar 1981 erhoben werden können ( § 9 Abs. 4 AbwAG) und die notwendige Umstellung der wasserrechtlichen Bescheide noch nicht abgeschlossen ist, wäre eine solche Beurteilung derzeit ohnehin verfrüht. IV. Zusammenfassung
1. Die Bescheidlösung steht nicht in einem unzulässigen zum Einleitungsprinzip:
Gegensatz
a) Die Bescheidlösung gem. § 4 Abs. 1 AbwAG steht im Einklang mit dem Grundsatz des § 1 Satz 1 AbwAG, weil u. a. das „Einleiten von Abwasser" lediglich den Abgabetatbestand bezeichnet, während die §§ 4 ff. A b w A G speziell die Abgabebemessung regeln. b) Die Spannung zwischen dem Einleitungsprinzip und der Bescheidlösung stellt weder einen verfassungswidrigen Normwiderspruch noch eine unzulässige Systemwidrigkeit dar.
49 Vgl. Hansmeyer, Umwelt 1978, 15 ff. (19), der erste empirische Untersuchungen zur Wirkungsanalyse des Abwasserabgabengesetzes referiert, wonach bereits zum damaligen Zeitpunkt Signalwirkungen auf die Investitionstätigkeit der Einleiter nachgewiesen werden konnten; vgl. auch Hartkopf/Bohne, a.a.O. (Anm.2), S.399. Die Kritik von einigen Seiten geht eher dahin, daß das Abwasserabgabengesetz nicht weit genug gehe. Vgl. im übrigen Winter, DVB1. 1978, 523; Dahme, ZfW 1980, 278ff.; positiv H.P.Sander, DB 1978, 194 ff., 196, der gegenüber der „reinen Grenzkostenbetrachtung" der Kritiker die indirekten Wirkungen des Abwasserabgabengesetzes betont. 50 Zu weiteren Möglichkeiten, die Nachteile des Bescheidsystems auszugleichen, Berendes/Winters, a.a.O. (Anm.2), S.57f. 51 Vgl. BVerfGE 25,1 (13); 33,171 (189f.); 37,104 (118); 39,169 (194); 43,291 (321); 50,290 (332ff., 377f.); 55,274 (308,317); 56,54 (78 ff.); 57,139 (162ff.).
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2. Die Bescheidlösung als solche ist verfassungsgemäß: a) Eine Verpflichtung zu einer dem tatsächlichen Einleitungsvolumen genau entsprechenden Abgabebemessung besteht kraft Verfassungsrechts nicht. Selbst im Gebührenrecht besteht keine unbedingte Bindung an den Wirklichkeitsmaßstab. Im übrigen wäre die Bescheidlösung wegen der Unpraktikabilität durchgängiger Einzelmessungen hinreichend legitimiert. b) Die Bescheidlösung verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG und den Grundsatz der Lastengerechtigkeit im Abgabenrecht, zumal §4 Abs. 5 und § 5 AbwAG bei erheblichen Abweichungen der tatsächlichen Einleitungen von den Erlaubnis werten ein Korrektiv bilden. c) Die Bescheidlösung ist im Hinblick auf den Lenkungszweck des Abwasserabgabengesetzes jedenfalls nicht schlechthin untauglich.
Juristische Aspekte von Gründung und Arbeit der Stiftung Preußischer Kulturbesitz WERNER KNOPP
I. Der Weg zur Stiftung Preußischer Kulturbesitz Am 21. Februar 1957 verabschiedete der Deutsche Bundestag das „Gesetz zur Errichtung einer Stiftung preußischer Kulturbesitz' und zur Übertragung von Vermögenswerten des ehemaligen Landes Preußen auf die Stiftung"'. Damit hatten die langjährigen Streitigkeiten innerhalb der Bundesrepublik Deutschland um den dort belegenen „preußischen Kulturbesitz" ein vorläufiges Ende gefunden. Preußen als ehemaliger Staat innerhalb des Deutschen Reiches hatte bis zur bedingungslosen Kapitulation am 8. Mai 1945 noch nicht zu bestehen aufgehört2. Es verfügte als eine Art höherer Verwaltungsbezirk des Reiches bis Kriegsende über eine durchaus intakte Verwaltung mit zuletzt 8 Ministerien; das letzte im Preußischen Gesetzblatt veröffentlichte Gesetz ist das „Gesetz über die Feststellung des Haushaltsplanes für das Rechnungsjahr 1945" vom 31. März 19453. Formell wurde Preußen erst durch das „Gesetz Nr. 46" des Alliierten Kontrollrates vom 25. Februar 19474 aufgelöst. Artikel I dieses Gesetzes lautet lapidar:
1 BGBl. 1957 I, S.841; vgl. über die Stiftung Preußischer Kulturbesitz etwa: Gussone, Der Weg zur Stiftung Preußischer Kulturbesitz in: Jahrbuch der Stiftung Preußischer Kulturbesitz 1962, S. 79 ff.; Hofmann, Die Stiftung „Preußischer Kulturbesitz" in Berlin, in: Rüth, Hauer, v. Pölnitz-Egloffstein (Hrsg.), Lebensbilder Deutscher Stiftungen, 3 Bd., 1974, S. 163; ders., Aufgabe und Grenzen, in: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz, 1970, S. 17; Knopp, Preußischer Kulturbesitz in Berlin - Aufgaben und Wirkungsweise einer Stiftung als Instrument gemeinsamer Kulturpolitik von Bund und Ländern, in: Hauer, Roßberg, v. Pölnitz-Egloffstein (Hrsg.), Lebensbilder Deutscher Stiftungen, 4. Bd., 1982, S. 63; Leibholz-Rinck, Grundgesetz, 5. Auflage 1975, Rdn. 5 zu Art. 135; Maunz-DürigHerzog-Scholz, Grundgesetz, 18. Lieferung 1980, Rdn. 8-14 zu Art. 135; Ule, Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Rechts- und Verwaltungsprobleme, in: Jahrbuch der Stiftung Preußischer Kulturbesitz IV, 1966, S. 29; Wormit, Die gesamtdeutsche Bedeutung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, DVB1. 1967, S. 673; ders., Stiftung Preußischer Kulturbesitz - Ein Stück lebendiges Preußen in Berlin, DVB1. 1981, S. 752. 2 5 4
Vgl. Heinrich, Geschichte Preußens, Propyläen, 1981, S. 466 ff. Preußische Gesetzsammlung 1945, S. 1. Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland, Nr. 14, 31. März 1947, S.262.
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Werner Knopp
„Der Staat Preußen, seine Zentralregierung und alle nachgeordneten Behörden werden hiermit aufgelöst" (The Prussian State . . . is abolished).
Welche Auswirkungen hatte dies auf das Eigentum des Staates Preußen? Der Staat Preußen verfügte etwa - und darum geht es hier - über unschätzbare Bestände an Kulturgut, wie die berühmte Kalksteinbüste der ägyptischen Königin Nofretete aus dem Jahr 1350 v.Chr. Diese Kulturgüter waren teils vom Reichs- und Preußischen Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, teils vom Preußischen Ministerpräsidenten verwaltet worden. Artikel III des Gesetzes N r . 46 gibt keine eindeutige Antwort: „Staats- und Verwaltungsfunktionen sowie Vermögen und Verbindlichkeiten des früheren Staates Preußen sollen auf die beteiligten Länder übertragen werden, vorbehaltlich etwaiger Abkommen, die sich als notwendig herausstellen sollten und von der Alliierten Kontrollbehörde getroffen werden."
Die Regelung der Rechtsverhältnisse an dem Eigentum des preußischen Staates war damit ausdrücklich späteren Maßnahmen vorbehalten worden. Diese ergingen überwiegend im Jahr 1949, allerdings nicht durch die Alliierte Kontrollbehörde, sondern - getrennt nach den Besatzungszonen - durch die jeweiligen Militärregierungen. So übertrug etwa das Gesetz N r . 19 der Amerikanischen Militärregierung vom 20. April 19495 für die Amerikanische Zone und den Amerikanischen Sektor von Berlin das Eigentum an dem dort befindlichen preußischen Kulturbesitz auf das Belegenheitsland, das jedoch dieses Vermögen nur als Treuhänder für einen noch zu bildenden, den Ländern übergeordneten deutschen Staat zu verwalten hatte. Das Gesetz ermächtigte ferner den zu bildenden deutschen Gesamtstaat, nach Inkrafttreten seines Grundgesetzes jede auf diesem Gesetz beruhende, mit dem Grundgesetz in Widerspruch stehende Verfügung außer Kraft zu setzen. Am 23. Mai 1949 verkündete der Vorsitzende des Parlamentarischen Rates, Konrad Adenauer, das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Das Grundgesetz trifft in Artikel 135 Abs. 2 eine Bestimmung über das „Vermögen nicht mehr bestehender Länder": „Das Vermögen nicht mehr bestehender Länder und nicht mehr bestehender anderer Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts geht, soweit es nach seiner ursprünglichen Zweckbestimmung überwiegend für Verwaltungsaufgaben bestimmt war, oder nach seiner gegenwärtigen, nicht nur vorübergehenden Benutzung überwiegend Verwaltungsaufgaben dient, auf das Land oder die Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts über, die nunmehr diese Aufgaben erfüllen."
5
Hessisches Gesetz- und Verordnungsblatt 1949 Beilage Nr. 6.
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In Artikel 135 Abs. 4 G G heißt es ergänzend: „Sofern ein überwiegendes Interesse des Bundes oder das besondere Interesse eines Gebietes es erfordert, kann durch Bundesgesetz eine von den Absätzen 1 bis 3 abweichende Regelung getroffen werden."
Damit war die Frage offen, ob der „preußische Kulturbesitz" in die Zuständigkeit der Länder oder in die Zuständigkeit des Bundes fiel. Dies hatte die Konsequenz, daß zunächst die Länder und der Bund parallel an Kodifikationen bezüglich des „preußischen Kulturbesitzes" arbeiteten. Dabei waren die Länder zunächst insofern im Vorteil, als sie im Besitz der preußischen Kulturgüter waren 6 . Am 7. Juli 1955 schlossen sie (Baden-Württemberg, Berlin, Hessen, Niedersachsen, NordrheinWestfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein) - also zu einer Zeit, als die Vorarbeiten des Bundes zu seinem Gesetz bereits in vollem Gange waren - , eine „Vereinbarung über die Verwaltung des Kulturbesitzes des ehemaligen Landes Preußen" 7 . Damit bestritten die Länder unter Berufung auf Art. 135 Abs. 2 G G die Kompetenz des Bundes zur Regelung dieser Materie. Die Verwaltungsvereinbarung vom 7. Juli 1955 sah vor, daß „Bibliotheken, Archive, Museen und sonstige Sammlungen des ehemaligen Landes Preußen" von den Ländern zu verwalten seien, in denen sie sich befinden. Sie wurde erst durch das Gesetz vom 25. Juli 1957 außer Kraft gesetzt. Parallel zu diesen Bestrebungen der Länder hatte der Bund schon seit den frühen 50er Jahren mit den Vorarbeiten zu einem „Gesetz zur Errichtung einer Stiftung Preußischer Kulturbesitz und zur Übertragung von Vermögenswerten des ehemaligen Landes Preußen auf die Stiftung" begonnen. Dieses „Errichtungsgesetz" wurde am 5. August 1957 im Bundesgesetzblatt verkündet 8 . Dabei beruhte die Wahl des Namens „Preußischer Kulturbesitz" nicht auf einem Zufall. In ihm sollte preußischer Kunstliebe und preußischem Kunstgeist gewissermaßen ein Denkmal gesetzt werden. Es erschien als ein Akt historischer Gerechtigkeit hervorzuheben, daß Preußen auch kulturelle Werte geschaffen hat, die unvergänglich sind und noch heute unser Gemeinschaftsleben beeinflussen'. Allerdings war der Name „Preußischer Kulturbesitz" bereits seit Kriegsende verwaltungsintern als Arbeitstitel gebräuchlich gewesen. 6 Die über die verschiedenen Auslagerungsorte verstreuten Kulturgüter wurden nach dem 2. Weltkrieg von den Alliierten in sog. Central Collecting Points (ζ. B. Wiesbaden, Celle) zusammengefaßt, die noch vor Inkrafttreten des Grundgesetzes in die Verwaltung des jeweiligen Belegenheitslandes übergingen. 7 Nicht veröffentlicht; abgedruckt in: Jahrbuch der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, 1962, S. 91. 1 BGBl. 1957 I, S.841. 9 Deutscher Bundestag, Stenographische Berichte, 103. Sitzung vom 29.9.1955, 2. Wahlperiode, S.5702.
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Die Bestrebungen der Länder zur Ausübung von Hoheitsgewalt über den „Preußischen Kulturbesitz" fanden aber auch damit kein Ende. Am 24. Januar 1958 erhoben die Landesregierungen von Baden-Württemberg, Hessen und Niedersachsen Klage vor dem Bundesverfassungsgericht mit dem Antrag, die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes vom 25. Juli 1957 festzustellen. Begründet wurde diese Klage in erster Linie damit, daß dem Bund die Gesetzgebungskompetenz zur Regelung dieser Materie fehle und daß das Gesetz mit der vom Grundgesetz vorgeschriebenen Aufteilung der Verwaltungskompetenzen zwischen Bund und Ländern unvereinbar sei. Art. 135 G G gebe dem Bund nicht die Befugnis, einen neuen öffentlichrechtlichen Rechtsträger auf Bundesebene ins Leben zu rufen. Eine Analyse der einzelnen Bestimmungen des Art. 135 G G und deren Entstehungsgeschichte ergebe, daß der Bund nur eingreifen könne, wenn bei der von der Verfassung selbst vorgesehenen Rechtsnachfolge Schwierigkeiten oder Unklarheiten auftauchten. Der Bund habe nur das Recht, zwischen den bereits vorhandenen Rechtsträgern zu wählen und die Vermögensgegenstände einem oder mehreren von ihnen zuzuweisen. Dagegen fehle ihm die Befugnis, sie auf einen ad hoc geschaffenen Rechtsträger auf Bundesebene zu übertragen. Darüber hinaus widerspreche die im Stiftungsgesetz getroffene Regelung der vom Grundgesetz vorgeschriebenen Aufteilung der Verwaltungskompetenzen zwischen Bund und Ländern. Es werde durch das Stiftungsgesetz eine bundesunmittelbare Stiftung des öffentlichen Rechts errichtet, welche Verwaltungstätigkeit im Bereich der Kultur ausüben solle. Die Zulässigkeit dieses Vorhabens sei allein anhand der Vorschriften des VIII. Abschnittes des Grundgesetzes zu entscheiden. Hier seien der bundeseigenen Verwaltung jedoch besonders enge Grenzen gezogen. Am 14. Juli 1959 erging das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, wonach das Gesetz vom 25.Juli 1957 mit dem Grundgesetz vereinbar ist10. Die Entscheidung wird von dem Gedanken getragen, daß der ehemals Preußische Kulturbesitz zum Vermögen eines nicht mehr bestehenden Landes gehört. Es finde daher grundsätzlich Art. 135 Abs. 2 G G Anwendung. Der vom Stiftungsgesetz erfaßte ehemalige Preußische Kulturbesitz gehöre zu dem in Art. 135 Abs. 2 G G umschriebenen Verwaltungsvermögen eines nicht mehr bestehenden Landes. Im Falle des Preußischen Kulturbesitzes komme ferner die Ausnahmevorschrift des Art. 135 Abs. 4 G G zum Tragen. Der Preußische Kulturbesitz habe, soweit er vom Stiftungsgesetz erfaßt und auf die Stiftung übertragen worden sei, zumindest seit der Reichsgründung einer Aufgabe gedient, die weit über dem Bereich des ehemaligen Landes Preußen hinausgewie10
BVerfGE 10, 20.
Juristische Aspekte der Stiftung Preußischer Kulturbesitz
335
sen und den preußischen Sammlungen in der Reichshauptstadt einen gesamtdeutschen, national-repräsentativen Charakter verliehen habe. Dem Bund könne aus diesem Grunde ein legitimes Interesse an einer von den Absätzen 1 - 3 des Art. 135 G G abweichenden Regelung, deren Ziel es sei, die nationalrepräsentative Funktion der ehemals preußischen Sammlungen über die gegenwärtige Spaltung Deutschlands hinaus dem gesamtdeutschen Kulturleben zu erhalten, nicht abgesprochen werden". Unter die seit dem Erlaß des Gesetzes Nr. 46 des Alliierten Kontrollrates und der Verkündung des Grundgesetzes schwebenden Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern war damit der endgültige Schlußstrich gezogen. In Fortführung und in Ubereinstimmung mit der Gesetzgebungstätigkeit der Alliierten Siegermächte hatte der Bundesgesetzgeber eine überzeugende Lösung gefunden, wie der „Preußische Kulturbesitz", das kulturelle Erbe des nunmehr aufgelösten Landes Preußen, künftig zu verwalten sei. Das im Hinblick auf die national-repräsentative Funktion des Preußischen Kulturbesitzes übergreifende Interesse des Bundes hatte über die mehr regional ausgerichteten Interessen der Länder den Sieg davongetragen. Von der Gesetzgebungstätigkeit der Alliierten über die Regelungen des Grundgesetzes führt eine lückenlose und rechtsdogmatisch einwandfreie Kette zum „Errichtungsgesetz" vom 25.7.1957. Am 25. September 1961 - kurz nach dem Bau der Berliner Mauer am 13. August - konstituierte sich der Stiftungsrat; erster Vorsitzender wurde Staatssekretär Dr. Anders vom Bundesministerium des Innern 12 . Erste und wichtigste Aufgabe des Stiftungsrates war es, aus der Vielzahl von Anwärtern für das Amt des Kurators der Stiftung eine Auswahl zu treffen. Nach langem und gründlichem Abwägen fiel die Wahl auf das geschäftsführende Präsidialmitglied des Deutschen Landkreistages, Staatssekretär a. D. Hans-Georg Wormit. Hans-Georg Wormit trat sein Amt am 1. April 1962 an13. II. Grundsätzliche und praktische Rechtsprobleme der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz ist ein so vielschichtiger Komplex, daß eine auch nur annähernd erschöpfende Darstellung ihrer aus der täglichen Arbeit erwachsenden Probleme im Rahmen dieser Abhandlung nicht tunlich ist. Es sollen daher im folgenden zwei Problemkreise behandelt werden, die als spezifische Fragen gelten können: BVerfG a . a . O . S.41. Vgl. Ergebnisprotokoll über die konstituierende Sitzung des Stiftungsrates vom 2 5 . 9 . 1 9 6 1 , S. 2 - nicht veröffentlicht. 13 Siehe hierzu Jahrbuch der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, 1962, S. 152 ff. 11
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1. Strukturbedingte Probleme 2. Probleme im Zusammenhang mit dem Eigentum der Stiftung 1. Strukturbedingte
Probleme
a) Anstalt oder Stiftung? Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz ist eine bundesunmittelbare Stiftung des öffentlichen Rechts. So steht es in § 1 des Gesetzes vom 25. Juli 1957. Legt man indes die Regeln und Grundsätze des herkömmlichen Stiftungsrechts zugrunde14, so ist man geneigt, die Stiftung trotz ihrer Bezeichnung im Gesetz nicht als Stiftung anzusehen: Wesentliche Elemente ihrer Organisation sind dem Stiftungswesen fremd; so fehlt es beispielsweise fast völlig an einem „werbenden" Vermögen, aus dessen Erträgnissen der Zweck der Stiftung finanziert würde15. Das Vermögen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz besteht vielmehr zum weitaus überwiegenden Teil aus dienendem Grundbesitz und eben den überkommenen kulturellen Werten des Staates Preußen. Es sind dies in erster Linie 16 - die Bestände der Staatlichen Museen - die Bestände der Staatsbibliothek - die Bestände des Geheimen Staatsarchivs - die Bestände des Ibero-Amerikanischen Instituts - die Bestände des Staatlichen Instituts für Musikforschung. Die Stiftung lebt von jährlich laufenden Beiträgen seitens ihrer Unterhaltsträger, des Bundes und aller Länder. Diese Beiträge, die in den Haushaltsplänen des Bundes und der Länder jeweils ausgewiesen sind, betrugen etwa im Jahr 1982 insgesamt 145 Mio DM 1 7 . Damit liegt es nahe, in der Stiftung Preußischer Kulturbesitz einen „aus der allgemeinen Verwaltung ausgegliederten Bestand an sächlichen und personellen Mitteln zu sehen, der einem besonderen Zweck dauernd zu dienen bestimmt ist" 18 , also eine Anstalt. Anstalten und Stiftungen sind eng miteinander verwandt. Die Stiftung unterscheidet sich von der Anstalt vor allem dadurch, daß ihr fremdnütziger Zweck, ihre Verfassung, ihre Vermögensverwaltung und -Verwendung durch den Stifter im Grundlegend Ebersbach, Handbuch des Deutschen Stiftungsrechts, 1962. So auch Hofmann, Die Stiftung „Preußischer Kulturbesitz", S. 163. " Vgl. hierzu sehr instruktiv Amtliche Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung Preußischer Kulturbesitz, BT-Drucksache 1670. 2. Wahlperiode 1953; Wormit, Hofmann, Knopp a. a. O., über die Arbeit dieser einzelnen „Einrichtungen" berichtet seit 1962 das Jahrbuch der Stiftung Preußischer Kulturbesitz" in regelmäßiger Folge, bislang sind 18 Bände (und ein Sonderband) erschienen. 17 Davon entfallen 31 Mio DM auf den sog. Bauhaushalt, 114 Mio DM auf den sog. Betriebshaushalt. Allein die Personalausgaben betragen etwa 70 Mio DM. 18 So die klassische Definition von Otto Mayer. 14
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Stiftungsgeschäft mit dauernder Wirkung bestimmt wird, während Zweckbestimmung, Organisation, Verwaltung und Fortbestand einer Anstalt der andauernden Einflußnahme und Dispositionsbefugnis des Trägers unterworfen bleiben". O b aber überhaupt der rechtsfähigen Stiftung des öffentlichen Rechts neben der öffentlichen Anstalt die Bedeutung eines besonderen Rechtsbegriffs zukommt, ist bestritten 20 . Es fällt auch schwer, ein „griffiges" Unterscheidungsmerkmal zwischen Stiftung des öffentlichen Rechts und öffentlicher Anstalt herauszuarbeiten. Weder der öffentliche Zweck noch die Art des Vermögens noch die Art des organisatorischen Zusammenhangs mit dem Staat oder einer anderen juristischen Person des öffentlichen Rechts geben ein zuverlässiges Unterscheidungsmerkmal: Dies kann gleichermaßen bei einer öffentlichen Anstalt als auch bei einer Stiftung des öffentlichen Rechts gegeben sein. Die herrschende Meinung 21 nimmt daher eine Unterscheidung nach zwei verschiedenen Gesichtspunkten vor: nach einem formellen und einem materiellen. Formell ist danach die Deklaration maßgebend also bei einer Anstalt deren Bezeichnung im Organisationsakt, oder bei der Stiftung deren Deklaration durch das Gesetz. Materiell kommt es nicht auf die Deklaration im Errichtungsakt, sondern darauf an, wie die Einrichtung ihren Zweck verfolgt 22 . So haben Anstalten häufig Benutzer, während normalerweise es bei der Stiftung im materiellen Sinne keine Benutzer gibt, die mit dem Vermögen in Verbindung kämen 23 . Gerade hier zeigt sich nun die Besonderheit der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Wie bei jeder anderen Stiftung steht auch bei ihr das Stiftungsvermögen im Mittelpunkt. Ihr Stiftungsvermögen besteht nun aber nicht aus einer Summe Geldes, welches bestimmte Erträgnisse abwirft, die zur Erfüllung des Stiftungszwecks verwendet werden, sondern die Stiftung Preußischer Kulturbesitz verwendet ihr Stiftungsvermögen direkt zur Erfüllung des Stiftungszwecks. Zweck der Stiftung ist nämlich, bis zu einer Neuregelung nach der Wiedervereinigung die ihr übertragenen preußischen Kulturgüter für das deutsche Volk zu bewahren, zu pflegen und zu ergänzen, unter Beachtung der Tradition den sinnvollen Zusammenhang der Sammlungen zu erhalten und eine Auswertung dieses Kulturbesitzes für die Interessen der Allgemeinheit in Wissenschaft und Bildung und für den Kulturaustausch zwischen den Völkern zu gewährleisten24.
" Wolff-Bachof, Verwaltungsrecht II, 4. Auflage 1976, §102 II a. Vgl. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, l.Band: Allgemeiner Teil, 9. Auflage 1966, §24, 4 (S. 472). 21 Etwa: Ebersbach, Handbuch des Deutschen Stiftungsrechts, 1972, I 13.02 (S. 186). 22 Ebersbach I 13.02 (S. 188). 23 Ebersbach a. a. O. 24 Gesetz zur Errichtung einer Stiftung Preußischer Kulturbesitz, §3 Abs. 1. 20
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Während bei einer Stiftung im herkömmlichen Sinne das Stiftungsvermögen dem Stiftungszweck nur mittelbar dient, ist es bei der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Wie schon erwähnt, besteht das Vermögen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz zum weitaus überwiegenden Teil aus Grundbesitz und eben den überkommenen kulturellen Sammlungen des ehemaligen Staates Preußen. Diese Kulturgüter sind in den oben erwähnten Einrichtungen ausgestellt oder benutzbar und werden z . B . von den Museumsbesuchern oder den Benutzern der Staatsbibliothek rege in Anspruch genommen25. Erträgnisse im herkömmlichen Sinne wirft dieses Vermögen nicht ab, sieht man im Einzelfall von geringfügigen Sondernutzungsgebühren ab. Erfüllen kann die Stiftung ihren Zweck lediglich aufgrund der jährlichen Zuwendungen seitens ihrer Unterhaltsträger; damit rückt die Stiftung Preußischer Kulturbesitz jedoch in die Nähe der Anstalt, zumindest ist sie danach als atypische Stiftung anzusehen26. Anstaltsähnliche Züge lassen sich auch darin sehen, daß es sich bei der Verwaltung der Stiftung ohne Zweifel um mittelbare Bundesverwaltung handelt; die Beamten der Stiftung sind mittelbare Bundesbeamte27. Die Bundeshaushaltsordnung findet auf die Stiftung Preußischer Kulturbesitz analoge Anwendung28. Letztlich wird man im Fall der Stiftung Preußischer Kulturbesitz jedoch auf das formelle Abgrenzungskriterium der Deklaration im Errichtungsakt abstellen müssen. Eine andere vom Bundesgesetzgeber ins Leben gerufene Stiftung des öffentlichen Rechts ist etwa die Stiftung „Bundeskanzler-AdenauerHaus" 2 '. Öffentlich-rechtliche Stiftungen nach Landesrecht sind demgegenüber recht häufig. b) Haushaltsrechtliche
Probleme
Wie bereits erwähnt, kann die Stiftung Preußischer Kulturbesitz ihrer Aufgabe nur nachkommen aufgrund jährlicher Zuwendungen ihrer Unterhaltsträger. Dies waren von der Gründung der Stiftung an bis zum Jahr 1975 allein der Bund sowie die Länder Baden-Württemberg, Berlin, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein. Diese Länder waren sämtlich Nachfolgeländer in das Gebiet des Landes Preußen; die Verflechtung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz mit Preußen kam somit ursprünglich auch äußerlich sehr deutlich zum Ausdruck. Seit dem Jahr 25 Staatliche Museen 1982: 1,4 Millionen Besucher; Staatsbibliothek 1982: 200000 Lesesaalbenutzer, 400 000 Ausleihen. 26 So auch Hofmann, Die Stiftung „Preußischer Kulturbesitz", S. 167. 27 Gesetz zur Errichtung einer Stiftung „Preußischer Kulturbesitz", § 13 Abs. 1. 28 Satzung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz § 1 4 Abs. 1, BGBl. 1961 I, S. 1709. 2 ' Vgl. BGBl. 1978 I, S. 1821.
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1975 wird die Stiftung vom Bund und allen Ländern finanziert und getragen50, wobei der Bund 75 % und die Länder 25 % der laufenden Kosten tragen. Der Beitrag der Länder wiederum richtet sich nach dem sog. „Königsteiner Schlüssel"31. Allerdings trägt das Land Berlin zusätzlich zu seinem prozentualen Anteil einen Festbetrag in Höhe von 25 % des gesamten Länderanteils als sog. „Sitzlandquote"; und das Land Nordrhein-Westfalen beteiligt sich freiwillig über seinen prozentualen Anteil hinaus mit 12,5 Mio D M an dieser Finanzierung 32 . Dieses System hat - von den unvermeidlichen Auseinandersetzungen bei der Haushaltsaufstellung abgesehen - bis zum Jahr 1981 nahezu reibungslos funktioniert. Im Jahr 1981 hat die Tatsache, daß die Stiftung Preußischer Kulturbesitz finanziell vom Bund und den Ländern getragen wird, erstmals seit Bestehen der Stiftung zu Meinungsverschiedenheiten geführt: Der Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages hatte zur Mitte des Jahres 1981 eine Kürzung aller Zuwendungen des Bundes um 10 % beschlossen. Der Haushalt der Stiftung sollte nach dem Willen des Haushaltsausschusses ebenfalls in dieser Weise betroffen sein. N u n wird gemäß §4 der Satzung33 der Haushalt der Stiftung aber vom Stiftungsrat festgestellt und gemäß §10 des Errichtungsgesetzes vom Bundesminister des Innern genehmigt. Auf diese satzungsmäßig gewährte Autonomie in Haushaltsfragen beriefen sich sämtliche Länder, als von der Bundesseite die 10%ige Sperre verfügt wurde, und protestierten damit gegen das einseitige Vorgehen des Bundes. Der Stiftungsrat hatte nämlich mit den Stimmen des Bundes und aller Länder den Haushalt 1981 bereits am 19. Dezember 1980 verbindlich festgestellt. Die Länder sahen in der einseitig von Bundesseite nachträglich verfügten Kürzung des Haushalts einen Eingriff in ihre satzungsmäßigen Rechte. Auch die Stiftung Preußischer Kulturbesitz sah sich - abgesehen von der unerfreulichen Auswirkung auf den Haushalt - durch diese Maßnahme in ihren Rechten verletzt. Die Mitglieder des Haushaltsausschusses hatten nämlich lediglich die sog. „Zuwendungsempfänger" des Bundes im Sinn, und zu diesen Zuwendungsempfängern hatte man die 30
Bund-Länder-Abkommen über die „gemeinsame Finanzierung der Stiftung p r e u ß i scher Kulturbesitz' vom 18. Oktober 1974", BAnz. N r . 218 v. 23.11.1974; Rechtsverordnung der Bundesregierung (mit Zustimmung des Bundesrates) zur Änderung der Satzung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz vom 20. Dezember 1974, BGBl. 1974 I S. 3710; Wormit, Weiter mit allen Ländern, in: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz, 1973, S. 11; ders., Die Arbeitsjahre 1974 und 1975 der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz, 1974/75, S. 11. 31 Dieser wird von der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung - Bonn - berechnet und als Drucksache herausgegeben. 32 Bei den Baukosten gilt allerdings ein anderer Schlüssel: diese tragen allein der Bund und Berlin je zur Hälfte. 33 BGBl. 1974 I S. 3710.
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Stiftung kurzerhand geschlagen. Die Stiftung ist aber kein Zuwendungsempfänger des Bundes. Der Begriff „Zuwendungen" erscheint in §23 der Bundeshaushaltsordnung und ist in der dazu ergangenen vorläufigen Verwaltungsvorschrift näher erläutert: Danach sind keine Zuwendungen insbesondere „Leistungen, auf die der Empfänger einen dem Grund und der Höhe nach unmittelbar durch Rechtsvorschriften begründeten Anspruch hat". Einen solchen Anspruch hat die Stiftung aber aus dem im Jahr 1974 zwischen Bund und allen Ländern geschlossenen „Abkommen über die gemeinsame Finanzierung der ,Stiftung Preußischer Kulturbesitz' vom 18. Oktober 1974". Außerdem ist zu beachten, daß die von §23 der Bundeshaushaltsordnung erfaßten Zuwendungen lediglich an Stellen außerhalb der Bundesverwaltung geleistet werden. Zur Bundesverwaltung rechnet die gesamte unmittelbare und mittelbare Bundesverwaltung, die Stiftung Preußischer Kulturbesitz als rechtsfähige Körperschaft des öffentlichen Rechts zählt zur mittelbaren Bundesverwaltung. Beiträge und Leistungen an die Stiftung rechnen somit nicht zu den Zuwendungen nach §23 BHO 34 . Des weiteren war zu beachten, daß die von den Mitgliedern des Haushaltsausschusses verfügte l%ige Kürzung aller laufenden Ausgaben bei echten Zuwendungsempfängern durchaus sinnvoll war. Da die Stiftung Preußischer Kulturbesitz aber nach einem festen Schlüssel finanziert wird, vermöge dessen der Länderanteil sich nach dem Bundesanteil richtet, hätte eine Kürzung der Ausgaben des Bundes zusätzlich eine Kürzung der Länderausgaben nach sich gezogen. Während die Länder in dem einseitigen Vorgehen des Bundes einen Verstoß gegen die Autonomie des Stiftungsrates in Haushaltsfragen sahen, ging es für die Stiftung Preußischer Kulturbesitz um die korrekte Einordnung innerhalb des Staatsgefüges. Auch auf die lebhaften Proteste im Jahr 1981 ist es zurückzuführen, daß die Kürzungen in den nachfolgenden Jahren merklich schwächer ausfielen. Daß die Stiftung überhaupt zu den Zuwendungsempfängern geschlagen wurde, liegt überdies lediglich an der Systematik des Bundeshaushaltsplanes : Danach ist der Beitrag des Bundes zur Stiftung Preußischer Kulturbesitz in der Hauptgruppe 6 - Ausgaben für Zuweisungen und Zuschüsse mit Ausnahme für Investitionen - veranschlagt. Lediglich diese Einordnung hat die Einbeziehung der Stiftung unter die Zuwendungsempfänger bewirkt. Sie ist aber keineswegs zwingend.
34 So v. Köckritz, zu §23.
Ermisch, Maats, Bundeshaushaltsordnung, 9. Lieferung 1983, Rdn. 5
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c) Weisungsrecht und
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Kunstfreiheit
Auch die interne Struktur der Stiftung Preußischer Kulturbesitz bringt Rechtsprobleme mit sich. Die Stiftung ist hierarchisch gegliedert; politische Spitze ist der Stiftungsrat. Sein ausführendes Organ (und zugleich der Repräsentant der Stiftung) ist der Präsident, der mit der „Hauptverwaltung" die laufenden Geschäfte der Stiftung als Ganzes wahrnimmt. Dem Präsidenten nachgeordnet sind die Generaldirektoren der Staatlichen Museen und der Staatsbibliothek sowie die Leiter der übrigen Einrichtungen. Wieweit reicht nun die Einflußnahme des Stiftungsrates oder des Präsidenten als der leitenden und gegenüber der Öffentlichkeit verantwortlichen Organe? Sicherlich sind der Stiftungsrat und der Präsident in rein administrativer Hinsicht gegenüber allen Mitarbeitern weisungsberechtigt; dieses Weisungsrecht ist das Korrelat zur Verantwortlichkeit (vgl. Art. 33 Abs. 5 G G in Verbindung mit §55 BBG, §8 Abs. 6 BAT, wonach dienstliche Anordnungen befolgt werden müssen). N u n sind aber vor allem die etwa 200 Wissenschaftler der Stiftung nicht in erster Linie in der Administration, sondern in den Bereichen Kunst und Kunstvermittlung, vor allem aber auch in der Forschung tätig. Gilt der Grundsatz der Weisungsgebundenheit auch hier unbeschränkt, oder kann der einzelne Wissenschaftler sich jetzt erfolgreich auf die Grundrechte aus Art. 5 G G berufen und etwa Sammlungspolitik oder einzelne Ankäufe gegen den ausdrücklichen Willen des Stiftungsrates und des Präsidenten durchsetzen? Wer setzt hier die Schwerpunkte? Es ist nicht zu bestreiten, daß der Stiftungsrat und der Präsident schon aus rein fachlichen Gründen nur begrenzte Einflußmöglichkeiten haben: Die einzelnen Wissenschaftler verfügen über eine „Autonomie kraft Fachverstandes". Im übrigen stehen ihnen auch die Grundrechte aus Art. 5 G G zur Seite. Die Frage aber, wie ein möglicher Konflikt zwischen Weisungsgebundenheit und Kunstfreiheit im Einzelfall zu lösen ist, ist - soweit ersichtlich - bislang erst wenig erörtert worden 35 . Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem berühmten Urteil zum Roman „Mephisto" von Klaus Mann34 erstmals grundlegende Ausführungen zum Begriff „Freiheit der Kunst" gemacht. Danach ist der „Lebensbereich Kunst" durch die vom Wesen der Kunst geprägten, ihr allein eigenen Strukturmerkmale zu bestimmen. Die Kunstfreiheitsgarantie betreffe in gleicher Weise den „Werkbereich" und den „Wirkbe35
Vgl. insbesondere Ipsen, Mitbestimmung im Museum DVB1. 1982, S. 112; Ossen-
bühl, Mitbestimmung in der Kunst, D O V 1983, S. 785; siehe auch Kunig, Bühnenleiter und Kunstfreiheitsgarantie, D Ö V 1982, S.765. 36 BVerfGE 30, 173; zur Kunstfreiheit umfassend Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, 1967.
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reich" des künstlerischen Schaffens. Beide Bereiche bildeten eine unlösbare Einheit. Nicht nur die künstlerische Betätigung (Werkbereich), sondern darüber hinaus auch die Darbietung und Verbreitung des Kunstwerks (Wirkbereich) seien sachnotwendig für die Begegnung mit dem Werk als eines ebenfalls kunstspezifischen Vorgangs; dieser Wirkbereich, in dem der Öffentlichkeit der Zugang zu dem Kunstwerk verschafft werde, sei der Boden, auf dem die Freiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 G G vor allem erwachsen sei. Die Freiheitsgarantie erstrecke sich auch auf die unentbehrliche Mittlerfunktion zwischen Künstler und Publikum. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Ausführungen zu der Tätigkeit eines (unabhängigen) Verlegers gemacht. Gelten diese Ausführungen in gleicher Weise für die Tätigkeit eines (abhängigen) Wissenschaftlers? Die Wissenschaftler der Stiftung Preußischer Kulturbesitz sind in der Regel Beamte im Sinne der Vorschriften des Bundesbeamtengesetzes. Als solche sind sie gemäß §55 BBG den Vorgesetzten zum Gehorsam verpflichtet. Wie ausgeführt, läßt sich diese Weisungsgebundenheit unmittelbar aus Art. 33 Abs. 5 des Grundgesetzes herleiten. Wenn nun etwa ein Museumsdirektor das Grundrecht aus Art. 5 Abs. 3 G G aufgrund seiner Mittlerfunktion zwischen Künstler und Publikum für sich in Anspruch nimmt, kollidiert dieses Grundrecht mit dessen Gehorsamspflicht aus Art. 33 Abs. 5 G G in Verbindung mit § 55 BBG37. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem „Mephisto-Urteil" grundsätzliche Ausführungen zur Lösung eines solchen Konfliktes zweier Grundrechtsnormen gemacht. Danach „ist ein im Rahmen der Kunstfreiheitsgarantie zu berücksichtigender Konflikt nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter Berücksichtigung der Einheit dieses grundlegenden Wertesystems durch Verfassungsauslegung zu lösen". Danach wird der hier beschriebene Konflikt sich nicht generell, sondern immer nur bezogen auf den Einzelfall lösen lassen. So kann sich im engeren Bereich der Wissenschaft der einzelne Wissenschaftler auf seinen Sachverstand berufen und ist etwa in der Frage der Zuschreibung eines Gemäldes zu einem bestimmten Künstler frei. Andererseits kann im eher museumsorganisatorischen Bereich das Weisungsrecht des Stiftungsrates und des Präsidenten etwa in Form einer Mißbrauchskontrolle eindeutig den Vorrang gegenüber Freiheitsrechten des Museumsdirek37 Vgl. dazu Ule, Der öffentliche Dienst, in: Bettermann-Nipperdey, Die Grundrechte, 4. Band, 2.Halbband; S.619; Stein, Die Grenzen des dienstlichen Weisungsrechts, 1965; Maunz-Dürig-Herzog-Scholz, Grundgesetz, 18. Lieferung 1980, Rdn. 64ff. zu Art. 5, Rdn. 72 ff. zu Art. 33.
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tors haben. Wenn ein Museumsdirektor etwa die Aufgabe hat, Kunst des 20. Jahrhunderts zu sammeln, aber beharrlich „nach hinten" - tief in das 19. Jahrhundert hinein - sammelt, so verstößt er damit gegen den ihm vom Staat vorgegebenen Sammlungsauftrag. Hier muß die Freiheit der Kunst(-vermittlung) gegenüber dem allgemeinen Grundsatz der Ordnung allen staatlichen Handelns zurückstehen. Gleiches würde für das zugegebenermaßen bizarre Beispiel gelten, daß der Direktor eines Museums für Moderne Kunst sich zu einer „Aktion" bereit erklärt, mittels derer Teile der Galerie verbrannt werden sollen. Obwohl es sicherlich zeitgenössische Strömungen gibt, die in einer solchen Aktion die Darbietung von Kunst sehen wollen, könnte sich der Direktor der Galerie hier nicht auf die Freiheit der Kunst berufen, sondern könnte angewiesen werden, diese Aktion zu unterlassen. Alle praktische Erfahrung aus der Vergangenheit zeigt aber, daß die Exekutive gut daran tut, nicht reglementierend in die Museen hineinzuregieren. Es hat sich in fast allen Fällen langfristig der Sachverstand der Museumsleute gegenüber den Eingriffen übergeordneter administrativer oder politischer Instanzen als das bessere Prinzip erwiesen. So ist es auch im Bereich der Stiftung Preußischer Kulturbesitz von ihrer Gründung an niemals zu ernsthaften Konflikten in diesem delikaten Bereich gekommen. Unbestritten ist auf jeden Fall das Recht der Kontrollinstanzen, bei Ankaufsentscheidungen Höhe und Angemessenheit des Preises zu überprüfen und über die Bereitschaft des Staates, den vorgeschlagenen Preis aufzuwenden, auch aus eigener Verantwortung zu entscheiden. Nur darf auch dieses Recht nicht zu auf eigene Sammlungsvorstellungen gegründeten Eingriffen in den Sammlungsauftrag und das entsprechende Fachermessen des Museumsdirektors mißbraucht werden (so schwer ein solcher Mißbrauch im Einzelfall auch nachweisbar wäre). 2. Probleme
im Zusammenhang
a) Eigentum an früherem
mit dem Eigentum der Stiftung
Inventar von Schlössern in Berlin (Ost) und der DDR Diesem Problem liegt eine gerichtliche Auseinandersetzung zwischen der Stiftung und dem Land Berlin zugrunde. Es ging um die rechtliche Zuordnung von Inventar aus preußischen Königsschlössern auf dem heutigen Gebiet von Ost-Berlin und der DDR, welches im Zuge der kriegsbedingten Verlagerungen auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland einschließlich Berlin (West) gelangt war. Während die Stiftung mit Rücksicht auf §2 Abs. 1 des Errichtungsgesetzes das Eigentum an diesen Gegenständen für sich beanspruchte, berief sich das Land Berlin auf §2 Abs. 2 Ziffer 2, 3 des Gesetzes. Danach ist das Inventar solcher Grundstücke vom Eigentumsübergang
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auf die Stiftung ausgeschlossen, welche der Verwaltung der Preußischen Staatlichen Schlösser und Gärten unterstanden. Das Land Berlin und die Stiftung Preußischer Kulturbesitz wählten schließlich fünf Kunstgegenstände aus der strittigen Zahl aus und führten einvernehmlich einen Musterprozeß. In letzter Instanz, vor dem Bundesgerichtshof, obsiegte die Stiftung Preußischer Kulturbesitz im wesentlichen. Tenor der Entscheidung des Bundesgerichtshofes vom 7. Februar 197338 ist die Aussage, daß die Vorschriften des Errichtungsgesetzes (und mithin auch dessen Ausnahmeregelungen) sich vom Geltungsbereich her nur auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland einschließlich Berlin (West) erstrecken. Die Macht des Gesetzgebers der Bundesrepublik Deutschland ende an den Grenzen dieses Gebietes. Damit könnten sich aber auch die Ausnahmetatbestände des §2 Abs. 2 Ziffer 2 und 3 des Errichtungsgesetzes nur auf solche Grundstücke einschließlich ihres Inventars beziehen, welche im Geltungsbereich des Stiftungsgesetzes belegen seien. Daher sei das in die Bundesrepublik Deutschland ausgelagerte Inventar der in der heutigen D D R belegenen Schlösser nach §2 Abs. 1 des Stiftungsgesetzes in das Eigentum der Stiftung Preußischer Kulturbesitz gefallen. Eine Entscheidung, der auch f ü r das Verhältnis der Stiftung Preußischer Kulturbesitz zur D D R erhebliche Bedeutung zukommt, vgl. unten 2. c). b) Öffentlich-rechtlicher
Herausgabeanspruch
Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz ist Rechtsträger des „Preußischen Geheimen Staatsarchivs", das unter diesem Namen bis zum 8. Mai 1945 eine preußische Behörde war, die beim preußischen Ministerpräsidenten ressortierte. Das Preußische Geheime Staatsarchiv hatte bis Kriegsende die Aufgabe, das amtliche Schriftgut der preußischen Zentralbehörden und der brandenburgischen Provinzialbehörden zu übernehmen und zu verwahren sowie für die Forschung und Verwaltung aufzubereiten. Als im Zweiten Weltkrieg erkennbar wurde, daß auch Berlin Kriegsschauplatz werden würde, begann man, das wertvollste Archivgut nach bombensicheren Bergungsorten auszulagern; man wählte meist stillgelegte Salzbergwerke, in deren Stollen die Archivalien kistenweise deponiert wurden. O b w o h l diese Salzbergwerke auch nach der Kapitulation durchgehend bewacht wurden, ist es nachweislich an diesen Auslagerungsorten zu massiven Plünderungen gekommen. Jedenfalls tauchen auf dem Auktionsmarkt immer wieder mehr oder weniger wertvolle Urkunden und Archivalien auf, welche nachweislich zum Bestand des Geheimen 38
Urteil des Bundesgerichtshofs vom 7. Februar 1973, DVB1. 1974, S.38.
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Staatsarchivs gehört haben. Diese Urkunden und Archivalien sind ganz sicher als ehemaliges Eigentum des Staates Preußen gemäß § 2 Abs. 1 des Errichtungsgesetzes auf die Stiftung Preußischer Kulturbesitz übergegangen. Problematisch ist indes die Realisierung dieses Eigentums. Der Eigentumsherausgabeanspruch nach §985 BGB unterliegt der regelmäßigen Verjährungsfrist gemäß § 195 BGB. Wenn man davon ausgeht, daß die Archivalien unmittelbar nach Kriegsende geplündert wurden, also abhanden gekommen sind, so steht dem Anspruch aus §985 BGB jedenfalls im Jahre 1984 die Einrede der Verjährung entgegen. Auf diese berufen sich auch nahezu alle Einlieferer von Archivalien, wenn die Stiftung Preußischer Kulturbesitz die Herausgabe der Archivalien beansprucht; teilweise wird auch Ersitzung gemäß §937 BGB eingewandt. Man kann aber nun die Frage stellen, ob neben dem zivilrechtlichen Herausgabeanspruch, der der 30jährigen Verjährungsfrist unterliegt, auch ein im öffentlichen Recht wurzelnder Anspruch auf Herausgabe besteht. Dem liegt der Gedanke zugrunde, daß die Archivalien des Preußischen Geheimen Staatsarchivs als öffentliche Sachen dem Gebrauch durch die Verwaltung und Archive gewidmet waren. Diese Widmung ist bis heute nicht erloschen, weder durch ausdrückliche Entwidmung noch durch konkludentes Handeln. Ergibt sich aus dieser öffentlich-rechtlichen Zweckbindung ein öffentlich-rechtlicher Anspruch auf Herausgabe der Sache? Wenn ja, unterliegt auch dieser öffentlich-rechtliche Anspruch auf Herausgabe der Sache einer Verjährung, oder gehört er vielleicht zu den wenigen Ansprüchen des Zivilrechts und des öffentlichen Rechts, die keiner Verjährung unterliegen? Das Problem ist in Rechtsprechung und Literatur, soweit ersichtlich, noch nicht ausgiebig behandelt worden". Dagegen ist die Frage wohl geklärt, daß öffentlich-rechtliche Zweckbindung und privatrechtliches Eigentum auseinanderfallen können 40 . Die öffentlich-rechtliche Zweckbindung lastet auf der Sache wie eine privatrechtliche Dienstbarkeit gemäß den §§ 1027, 1065,1090 Abs. 2 BGB 4 '. Diese öffentlich-rechtliche Zweckbindung lastet solange auf der Sache, wie ihre Widmung zum Gebrauch durch Allgemeinheit und Verwaltung andauert. Konsequent ist es, den aus der öffentlich-rechtlichen Zweckbindung fließenden Herausgabeanspruch ebenfalls dergestalt zu begrenzen. Das würde bedeuten, daß der öffentliche Sachherr aufgrund der öffentlich-rechtlichen Zweckbindung der Sache solange einen im öffentlichen Recht 39 Vgl. aber Frotscher, Probleme des öffentlichen Sachenrechts, VerwArch. 1971, S. 153. 40 Wolff-Bachof, Verwaltungsrecht I, 9. Aufl. 1974, §57. 41 Frotscher, S. 158.
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wurzelnden Herausgabeanspruch geltend machen kann, wie die öffentlich-rechtliche Zweckbindung oder Widmung andauert. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz hätte demnach trotz zivilrechtlicher Verjährung einen durchsetzbaren Anspruch auf Herausgabe der Archivalien. Allerdings ist der Fall zu bedenken, daß ein Dritter inzwischen Eigentum an diesen Archivalien ersessen hat. Der öffentlichrechtliche Anspruch auf Herausgabe der Sache ergibt sich lediglich aus der öffentlich-rechtlichen Zweckbindung und läßt die Frage nach dem privatrechtlichen Eigentum völlig ausgeklammert42, doch stellt sich hier wohl die Frage einer Entschädigungspflicht nach Art. 14 des Grundgesetzes. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz hat es bislang unterlassen, dieserhalb eine gerichtliche Klärung herbeizuführen. Sie verfolgt in Verhandlungen mit den jetzigen Besitzern der Archivalien die Linie, gegen Zahlung einer Abstandssumme erheblich unter dem jeweiligen Marktwert den Besitz zurückzuerlangen. Es ist dies eine pragmatische, nicht rechtsdogmatisch orientierte Lösung. c) Verhältnis zur DDR Es ist auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, daß die D D R Anspruch erhebt auf Teile des sog. Altbestandes der Sammlungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Sie begründet dies damit, dieser Altbestand würde der D D R bzw. ihren Museen und Bibliotheken rechtswidrig vorenthalten, da er sich vor der Auslagerung im 2. Weltkrieg in Gebäuden auf dem Gebiet des heutigen Ost-Berlin oder der heutigen D D R befunden hat. Verhandlungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der D D R über ein Kulturabkommen sind in der Vergangenheit immer wieder an dieser Forderung der D D R gescheitert. Erst als die D D R die „Rückgabe" dieser Sammlungen nicht mehr zur Vorbedingung gemacht hat, sind solche Gespräche in Gang gekommen. Die Frage des „Preußischen Kulturbesitzes" soll hierbei ausgeklammert werden. Mit Rücksicht auf diese Verhandlungen soll dieser Komplex hier nicht weiter vertieft werden; im übrigen hat sich die Stiftung mehrfach zu dieser Frage geäußert43. 42
Frotscher S. 159.
Siehe etwa: Wormit, Die Arbeitsjahre 1974 und 1975 der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, in: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz 1 9 7 4 / 1 9 7 5 , S. 13 ff.; auch: Mußgnug, Die Ansprüche der D D R auf den in Berlin (West) befindlichen vormals preußischen Kulturbesitz, in: Königsteiner Kreis, 1981, S . 9 , ders., W e m gehört Nofretete?, 1 9 7 7 ; ferner: Murawski, Die Verlagerung von Kulturgütern in Deutschland im Zweiten Weltkrieg und die damit zusammenhängenden aktuellen Fragen, in: Königsteiner Kreis, 1981, 45
S.l.
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III. Rückblick und Ausblick Mit dieser beispielhaften Aufzählung von Problemen aus der täglichen Arbeit der Stiftung Preußischer Kulturbesitz sei dem Leser gleichwohl ein kleiner Einblick in das Dasein dieses vielschichtigen Komplexes gegeben. Zum Schluß sei ein Rückblick auf die zurückliegenden und ein Ausblick auf die kommenden Jahre gestattet: Die Existenz der Stiftung Preußischer Kulturbesitz wurzelt in der Gesetzgebungstätigkeit der Alliierten Siegermächte. Das Grundgesetz knüpfte in Art. 135 G G an diese Gesetzgebungstätigkeit an. Allerdings wird in Art. 135 Abs. 2 das Belegenheitsprinzip durch das Prinzip der Funktionsnachfolge ergänzt. Dies wiederum wird durch das Kriterium des „überwiegenden Interesses" in §135 Abs. 4 erneut modifiziert. Das Gesetz vom 25.7.1957 gründet sich auf die Gesetzgebungstätigkeit der Alliierten und auf die ausdrückliche und präzise Regelung im Grundgesetz. Die Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung ist vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich bestätigt worden. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz hat ihre Arbeit mit der Amtsaufnahme des ersten Kurators am 1. April 1962 aufgenommen. In diesem ersten Jahr ihres Bestehens zählte sie 685 Mitarbeiter, von denen zudem 147 noch außerhalb Berlins tätig waren. Das Haushaltsvolumen betrug im Haushaltsjahr 1962 14 Mio DM. Seither ist die Stiftung in nahezu jeder Hinsicht unaufhörlich gewachsen. Im Haushaltsjahr 1982 zählte sie rd. 1500 Mitarbeiter, davon etwa 200 wissenschaftlich ausgebildete. Das Haushaltsvolumen betrug im Jahr 1982 145 Mio DM. Wie bereits erwähnt, wurde die Stiftung bis zum Jahr 1975 lediglich vom Bund sowie den Ländern Baden-Württemberg, Berlin, NordrheinWestfalen und Schleswig-Holstein getragen. Seit 1975 sind der Bund und alle 11 Länder im Stiftungsrat vertreten. Der Stiftungsrat ist bislang 72mal zusammengetreten; er tagt in der Regel 2mal im Jahr. Vorsitzende des Stiftungsrates waren bislang die Staatssekretäre Dr. Anders, Professor Dr. Hölzl, Professor Dr. Ernst und die Bundesminister Benda, Genscher, Professor Dr. Maihofer, Baum und der gegenwärtige Vorsitzende, Bundesminister Dr. Friedrich Zimmermann. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz sah sich von Anbeginn ihrer Tätigkeit an vor die Aufgabe gestellt, für den lange Jahre heimatlosen „Preußischen Kulturbesitz " neue Heimstätten zu errichten. Im vom Krieg zerstörten Berlin standen im Jahr 1957 nur sehr wenige als Museum geeignete Räumlichkeiten zur Verfügung. Das Errichten von Neubauten war daher von Anbeginn an einer der brennendsten Aufgaben. Hier kann die Stiftung Preußischer Kulturbesitz heute mit Stolz etwa auf die gelungenen Bauten für die Nationalgalerie und die Staatsbibliothek, um nur wenige zu nennen, verweisen.
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Was wird die Zukunft bringen? Wichtigste Aufgabe für die nähere Z u k u n f t ist sicherlich die Fortführung der eben erwähnten Neubauvorhaben. So wird die Stiftung Preußischer Kulturbesitz über das Jahr 2000 hinaus mit einem umfangreichen Vorhaben beschäftigt sein: der Errichtung von Neubauten für die „Museen der europäischen Kunst" im sog. Kulturforum am Südostrand des Tiergartens 44 . Daneben gilt es das Erreichte zu sichern. Die Stiftung hat sich in den ersten 20 Jahren ihres Bestehens konsolidiert und internationales Ansehen erlangt. Die Gemäldegalerie, die Kalksteinbüste der ägyptischen Königin Nofretete, das einzigartige Völkerkundemuseum, um nur etwas zu nennen, sind heute untrennbar mit dem Namen „Stiftung Preußischer Kulturbesitz" verknüpft. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz ist der vielschichtigste zusammenhängende „Kulturkomplex" in Deutschland, ja vielleicht in Europa. Angesichts der Tatsache, daß sie im geteilten Berlin beheimatet ist, kommt ihr daher für das Selbstverständnis des westlichen Teils dieser Stadt eine kaum zu überschätzende Bedeutung zu. Kaum ein kulturell interessierter Besucher Berlins, der nicht mit einer Einrichtung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berührung käme. Das Selbstverständnis und die Rolle des westlichen Berlin wird in der Zukunft zu einem ganz wesentlichen Teil von seiner kulturellen Ausstrahlung geprägt sein. Hier gehört die Stiftung Preußischer Kulturbesitz mit zum Fundament für die Lebensfähigkeit der Stadt. Damit ist die Stiftung sowohl in die Vergangenheit als auch in die Z u k u n f t orientiert. Sinnfällig kommt dies im Wahlspruch aus dem ersten Band des Jahrbuchs 45 zum Ausdruck: Vermächtnis und Verpflichtung.
" Kunstgewerbemuseum, Kupferstichkabinett, Skulpturengalerie, Kunstbibliothek, Gemäldegalerie; vgl. hierzu etwa Conrads, Standortbestimmung - ein städtebaulicher Prozeß. Zu den Bauentscheidungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, in: Jahrbuch der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Berlin, 1966, S. 51 ff. 45 Jahrbuch Stiftung Preußischer Kulturbesitz, 1962.
Gesetzentwurf und Revisionsurteil* H O R S T KONZEN
I. Gesetz und Richterspruch Die Zeitspanne seit dem Geburtsjahr der Berliner Juristischen Gesellschaft umfaßt nicht nur einen ungeheuren Wandel in Technik, Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Staat. Auch der Rechtsstoff und seine Systematik haben sich seit diesem Datum eminent verändert. Die Verfassungen wechselten mit den Staatsordnungen. Die grundlegenden bürgerlichen Kodifikationen, das BGB, das HGB, das StGB und die Reichsjustizgesetze waren erst nach der Reichsgründung möglich. Selbst die vom Handelsverkehr erzwungene Vereinheitlichung des Handelsrechts im A D H G B , dem Vorläufer des H G B , ist jünger als die Jubilarin1. Das moderne Arbeitsrecht war bei ihrer Gründung in seinen Grundstrukturen noch gar nicht vorstellbar. Lotmar und Sinzheimer haben ihre grundlegenden Arbeiten fast fünfzig Jahre später publiziert2. Erst drei Jahre vor dem Gründungsdatum löste Windscheid die von der historischen Rechtsschule geknüpfte Einheit von subjektivem Recht und Aktionenrecht. Während man zuvor die actio als das subjektive Recht im Zustand der Verteidigung gegen den Verletzer verstand und dem Privatrecht zuordnete3, löste Windscheid das Element des Gerichtsschutzes aus dem Anspruchsbegriff4 und konzedierte ein Jahr später ein Klagrecht auf „Hülfe des Staates", das er in das Prozeßrecht verwies5. Die Dynamik der seitherigen Rechtsentwicklung kontrastiert mit zeitlosen Grundfragen, die die Jubilarin durch die Jahre begleitet haben. Das Nachsinnen über das Verhältnis von Gesetz (Recht) und Richterspruch war im vorigen Jahrhundert so aktuell wie gegenwärtig. Es prägt bei* Unter Mitwirkung von Wiss. Mitarbeiter Innozenz Heintz, Mainz. ' Die Arbeiten der HGB-Kommission wurden 1861 abgeschlossen. Der Bundestag, der damals noch keine gesetzgeberische Gewalt hatte, empfahl den Einzelstaaten durch Beschluß vom 31. Mai 1861 die Einführung. 1869 wurde das allgemeine deutsche Handelsgesetzbuch zum Gesetz des Norddeutschen Bundes und später zum Reichsgesetz erhoben. 2 Lotmar, Der Arbeitsvertrag nach dem Privatrecht des Deutschen Reiches, 2 Bände, 1902/08; Sinzheimer, Der korporative Arbeitsnormenvertrag, 2 Bände, 1907/08. 3 Savigny, System des heutigen römischen Rechts, 5. Band, 1841, S. 1 f., 5. 4 Windscheid, Die Actio des römischen Zivilrechts vom Standpunkt des heutigen Rechts, 1856, S.6. 5 Windscheid, Die Actio, Abwehr gegen Dr. Theodor Muther, 1857, S.26.
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spielsweise die von Windscheid bewirkte Abspaltung des Rechtsschutzelements aus dem Anspruch. Das Gericht stehe anders als der römische Praetor, der trotz eines vom ius civile gewährten Rechts die actio habe verweigern und ohne Recht eine actio habe zusprechen können 6 , unter dem Recht; es sei also nichts als der Diener des Rechts 7 . Die Gewaltenteilung und Gesetzesbindung als Prämisse dieser Position sind ein wesentlicher Bestandteil des demokratischen Staates (Art. 20 Abs. 3 G G ) und prägen die traditionelle juristische Methodenlehre 8 . Neben dieser Linie findet sich nicht weniger kontinuierlich die Betonung der rechtsschöpfenden Funktion des Richters'. Sie gipfelt in einer Zeit, in der neben die Flucht in die Generalklausel 10 die Flucht des Gesetzgebers aus der politischen Verantwortung 11 getreten ist und partiell die Krise der Gesetzgebung als die Normalität einer demokratischen Industriegesellschaft gilt12, in der Kreation eines gesetzesvertretenden Richterrechts, das neben das Gesetzesrecht tritt13. Gesetz und Richterspruch ist daher noch immer ein Modethema. Einen Ausschnitt, dessen Analyse den gedanklichen Brückenschlag von der Gründung zum Jubiläum der Juristischen Gesellschaft symbolisieren mag, bildet die noch wenig geklärte Bedeutung von Gesetzentwürfen auf die richterliche Rechtsfortbildung in Fällen, die das Gesetz nicht ausdrücklich regelt, für die es aber einen Gesetzentwurf gibt. Muß das Gericht oder darf es zumindest das „Gesetz im Werden" beachten? Ist es wegen des Entwurfs an einer abweichenden Rechtsfortbildung im Streitfall gehindert? Durfte zum Beispiel das B A G , als das Gesetz in §613 a B G B allein die individualrechtlichen Folgen eines Betriebsübergangs regelte, die Nachwirkung der beim früheren Arbeitgeber geltenden Tarifnormen gegenüber dem neuen, insoweit nicht tarifgebundenen Arbeitgeber - also die entsprechende Anwendung des §4 Abs. 5 T V G - im Hinblick auf den im Entwurfsstadium befindlichen heutigen §613 a Abs. 1 S. 2—4 B G B offen lassen 14 ? War deshalb, wie das B A G meint, eine richterliche Rechtsfortbildung nicht mehr möglich 15 ? Die Zwecke der Revision 16 , nämlich die
Windscheid„ Actio (Fn. 4), S. 4. Windscheid, Actio (Fn.4), S.4; ders., Abwehr (Fn.5), S.25. 8 Vgl. nur Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (5. Aufl.) 1983, S. 150 f. ' Vgl. etwa Bülow, Gesetz und Richteramt, 1885. 10 Hedemann, Die Flucht in die Generalklauseln, 1933. 11 Diederichsen, Die Flucht des Gesetzgebers aus der politischen Verantwortung im Zivilrecht, 1974. 12 Kühler, J Z 1969, 651. 13 Vgl. näher unten IV. " B A G SAE 1980, 63, 65 f. 15 B A G SAE 1980, 63, 66. 16 Vgl. näher unten V. 6
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Gewährung von Einzelfallgerechtigkeit und die Schaffung einer Rechtsvereinheitlichung, lenken dabei primär den Blick auf die Bedeutung des Gesetzentwurfs für das Revisionsurteil. II. Gesetzentwurf und richterliche Rechtsfortbildung Die Rechtsprechung ist nach Art. 20 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht gebunden. Vom Gesetzentwurf ist nicht die Rede. Dennoch werden Entwürfe in zahlreichen Gerichtsentscheidungen beachtet; regelmäßig freilich zur Interpretation des noch geltenden Gesetzes und als ein (nicht tragendes) Argument unter anderen17. Bisweilen dient ein Entwurf als Indiz für geänderte Wertvorstellungen und eine daraus gefolgerte Lücke im Sanktionensystem des geltenden Rechts18. Dessen Fortbildung ist, soweit sich der Richter dabei an die vom seither geltenden Recht gesteckten Grenzen hält, auch mit Inhalten möglich, die im Weg der „Vorberücksichtigung" 19 dem Entwurf entnommen werden. Problematisch ist primär die vom BAG im Urteil über die tarifrechtlichen Folgen des Betriebsübergangs20 erwogene Rechtsfortbildungsschranke im Hinblick auf einen bestehenden Gesetzentwurf. Das Urteil steht nicht allein. In diese Richtung weist eine Reihe von Entscheidungen, die freilich über Fälle befinden, die untereinander recht verschieden sind. Das BVerfG grenzt immerhin den Problemsektor negativ dahin ab, daß eine zivilrechtliche Rechtsfortbildung nicht bei einer noch ganz ungewissen künftigen Intervention des Gesetzgebers unterbleiben müsse21. Den Anlaß bildeten vorerst gescheiterte Gesetzesinitiativen. Es hält außerdem in der Transsexuellenentscheidung jedenfalls eine verfassungskonforme Gesetzesauslegung trotz eines vorliegenden Gesetzesentwurfs für geboten211. Sonderfälle, die möglicherweise gleichwohl verallgemeinerungsfähige Aussagen enthalten, sind die Erkenntnisse des BVerfG22 oder des BAG23, in denen ein Gesetz wegen Verstoßes gegen Art. 3 GG für verfassungswidrig und damit unanwendbar, aber nicht für nichtig erklärt und eine Aussetzung des Rechtsstreits angeordnet wird. Auf diese Weise erhält der Gesetzgeber, da dem Gleichheitssatz der Verfassung auf unterschiedliche Art entsprochen werden kann, den Primat und einen Ent-
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Vgl. vor allem Kloepfer, Vorwirkung von Gesetzen, 1974, S. 168. BVerfGE 34, 269, 290 (Soraya). " Vgl. näher Kloepfer (Fn. 17), S. 161 ff. 20 Vgl. Fn. 14. 21 BVerfGE 34, 269, 291 f. 2U BVerfGE 49, 286, 301, 303; der B G H hatte eine Rechtsfortbildung für verwehrt gehalten, allerdings den Gesetzentwurf nicht erwähnt; B G H Z 57, 63, 70ff. 22 BVerfGE 8, 1, 10; 15, 46, 76; 22, 349, 363; 52, 369f.; 55, 100, l l O f . 23 B A G D B 1982, 1014. 18
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scheidungsspielraum für eine rückwirkende Regelung24. Dieser Primat eines künftigen rückwirkenden Gesetzes, zugleich aber auch die durch die Verfassungswidrigkeit bewirkte Unanwendbarkeit des gleichheitswidrigen Gesetzes führen zu einer Rechtsfortbildungssperre 25 . Die Rückwirkung und der intendierte Spielraum des Gesetzgebers sind allein durch eine Aussetzung zu erreichen. Allerdings ist in diesen Fällen zu beachten, daß die Unanwendbarkeit des verfassungswidrigen Gesetzes, die gegenüber sonstigen Fällen von Gesetzes-26 oder Rechtslücken 27 ein eigenständiger Wertungsfaktor ist, eine Rechtsfortbildungssperre bereits für sich allein legitimieren kann. Dennoch veranlassen die Entscheidungen zu prüfen, ob ein anderweitig begründeter Primat des Gesetzgebers nicht ebenfalls durch eine Aussetzung des Verfahrens zu gewährleisten ist. Nach dem Maßstab der Beschlüsse des BVerfG gilt dies allerdings nur für künftige rückwirkende Gesetze28. Diese Eingrenzung bestätigt die weithin vertretene Ablehnung einer Aussetzung in den Fällen, in denen eine Ehescheidung - da das neue Ehe- und Familienrecht erst nach einer langen Übergangszeit am 1.7.1977 in Kraft treten sollte - noch nach dem alten Scheidungsrecht erfolgen konnte 29 . Der Gesetzgeber gebietet nämlich durch diesen Stichtag eine unterschiedliche Behandlung der Fälle, die vor bzw. nach dem 1.7.1977 entscheidungsreif waren. Die Beseitigung der Verbindlichkeit dieses Stichtags durch eine Aussetzung bedeutete ein Abstreifen der Gesetzesbindung und eine Korrektur des Gesetzes. Die Aussetzung war daher ebenso verwehrt, wie eine seinerzeit in der Praxis sicher nicht seltene - Verzögerung des Entscheidungstermins. Immerhin geben die bislang referierten Entscheidungen erste Wertungskomponenten für die Problematik. Weitere Bausteine finden sich beim B G H und beim BAG. Der B G H konstatiert die fehlende Bindung des Richters an einen von der Bundesregierung beschlossenen Gesetzentwurf, der - wohl ohne Rückwirkung - die Koppelung von Wohnungsvermittlung und Möbelverkauf verbieten sollte30. Zentraler sind neben dem bereits mehrfach erwähnten Urteil über die tarifrechtlichen Folgen des Betriebsübergangs weitere Urteile des BAG zu zwei Problemkomplexen, die zugleich die Unzuverlässigkeit eines „Vorgriffs" auf Gesetzentwürfe sowie eine gewisse Ungleich24
Vgl. Fn. 22. Vgl. BAG DB 1982, 1014. 26 Latenz (Fn.8), S.354f. 27 Larenz (Fn. 8), S. 360. 2 « Vgl. Fn.22. 29 OLG München NJW 1976, 1850; Luke, NJW 1976, 1826; OLG Hamm NJW 1976, 2352; a. A. LG München NJW 1976, 1637; in der Tendenz wohl auch BVerfG NJW 1977, 31. 30 BGH NJW 1970, 2017, 2018. 25
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mäßigkeit bei der Berücksichtigung von Gesetzesinitiativen erweisen. Beim bedingten Wettbewerbsverbot durchkreuzt das BAG zwar die intendierte Umgehung des § 74 Abs. 2 H G B partiell, indem es von der Unverbindlichkeit der Abrede ausgeht. Aber es läßt den gleichwohl Vertragstreuen Arbeitnehmer ohne den Schutz durch eine Entschädigung, da im Bundesarbeitsministerium eine Neuregelung der Materie im Rahmen eines zweiten Arbeitsrechtsbereinigungsgesetzes vorbereitet werde31. Obwohl ein solches Wettbewerbsverbot die Konkurrenztätigkeit eines ausgeschiedenen Arbeitnehmers dadurch erschweren will, daß es diese von der Zustimmung des seitherigen Arbeitgebers abhängig macht, und in dieser Weise einen entschädigungslosen Verzicht auf eine Konkurrenztätigkeit zu erreichen sucht, indem es auf die Neigung des Arbeitnehmers spekuliert, eine solche Tätigkeit wegen der möglichen Verweigerung der Zustimmung gar nicht erst zu erwägen, billigt das BAG wegen der ministeriellen Vorbereitung einer Neuregelung nicht im Wege der Rechtsfortbildung praeter legem32 einen Anspruch auf Karenzentschädigung zu. Prompt ist die Neuregelung dann später gescheitert. Anders verfährt der 3. Senat in seinem spektakulären Urteil vom 10.3.1972 bei der richterlichen Schaffung einer unverfallbaren Anwartschaft auf eine betriebliche Altersversorgung. Obwohl der Senat sich für die Rechtsfortbildung explizit auf die gegebene Rechtsnot beruft33 und sicher nicht praeter legem eine planwidrige Unvollkommenheit des Gesetzes beseitigt, läßt das Urteil mangels einer arbeitsrechtlichen Lösung einen in einem Referentenentwurf zum EStG vorgesehenen mittelbaren Weg zur unverfallbaren Ruhegeldanwartschaft unbeachtet34. In diesem Fall kam es dann nicht zuletzt aufgrund der Judikatur anstelle der steuerlichen zu einer arbeitsrechtlichen Lösung im BetrAVG. Aber gerade daran zeigt sich die Brisanz. Das Gewicht des vorpreschenden Richterspruchs hat bei der Altersversorgung den Gesetzgeber fixiert; beim bedingten Wettbewerbsverbot ist dagegen eine sehr viel näherliegende Rechtsfortbildung im Hinblick auf einen noch ziemlich unverbindlichen Kodifikationsplan unterblieben. Die Praxis braucht ersichtlich, auch wenn sie sich sicher oft durch eine pragmatische Prozeßtaktik zu helfen weiß, präzisere Kriterien. Das Schrifttum hilft allerdings nur sehr begrenzt, da es meist nur Bruchstücke erörtert. Vor allem das Problem einer vom Gesetzentwurf 31 BAG AP Nr. 27 zu § 7 4 HGB, Bl. 2 R (Hervorhebung v. Verf.); ebenso BAG AP Nr. 29 zu § 7 4 HGB, B1.2. 32 Buchner, Anm. AP N r . 2 6 zu § 7 4 HGB, B1.7; Canaris, SAE 1973, 69; a.A. z . B .
Mayer-Maly, SAE 1972, 165. 33 34
BAG AP Nr. 156 zu §242 BGB Ruhegehalt, Bl. 8. BAG (Fn. 33), B1.7.
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abweichenden richterlichen Rechtsfortbildung wird entweder nur im Hinblick auf eine einzelne gerichtliche Entscheidung analysiert oder in übergreifenden verfassungsrechtlichen oder methodologischen Abhandlungen meist nur gestreift. Deshalb finden sich Einzelaspekte des Problemkreises an verschiedenen Stellen, ohne daß sie zu einem Gesamtbild zusammengefügt wären. Die Argumente entstammen so in recht unsystematischer Weise einer Gemengelage von verfassungsrechtlichen, methodologischen und, wie zu zeigen ist, auch verfahrensrechtlichen Quellen. Das Verfassungsrecht setzt mit der Gewaltenteilung und der Gesetzesbindung den Startpunkt der Analyse. Jeder „Vorgriff" auf einen Gesetzentwurf bedarf angesichts der Bindung des Richters an das (noch) geltende Recht der Legitimation. Freilich wird die Gesetzesbindung angesichts der von niemandem bestrittenen Unvollständigkeit der Rechtssätze von vornherein durch die Betonung des schöpferischen (volitiven) Charakters des Richterspruchs relativiert, zumal der Wertungsspielraum des Richters schon bei der Auslegung der Gesetze kaum zu leugnen ist. Auch auf der Grundlage der traditionellen Methodenlehre, die das gestaltende Element des Richterspruchs keineswegs leugnet", schließt sich das Gesamtspektrum der Rechtsfortbildung des Richters nicht nahtlos an dessen Gesetzesbindung an. Während die gesetzesimmanente Rechtsfortbildung auf einer Verpflichtung des Richters zur Lückenausfüllung beruht36, gibt es eine allgemeine Befugnis oder gar Verpflichtung der Rechtsprechung zu einer gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung 37 nicht. Merkwürdigerweise trägt nun gerade die verfassungsrechtliche Literatur mit Blick auf Gesetzentwürfe zu einer Lokkerung der Gesetzesbindung bei, indem sie im Weg der Aussetzung oder Voranwendung einem werdenden Gesetz - allerdings nur, wenn dieses Rückwirkung haben soll - eine Vorwirkung beimißt38. Allerdings wird dadurch keine Ablehnung einer richterlichen Rechtsfortbildung im Weg der Sachentscheidung legitimiert. Umgekehrt unterscheidet das Methodenschrifttum, das die Ablehnung einer richterlichen Rechtsfortbildung mit Rücksicht auf den Vorrang des Gesetzgebers jedenfalls beim Problem der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung kennt39 und diese insoweit bisweilen von der gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung Larenz (Fn. 8), S.388. Larenz (Fn. 8), S. 352. 37 Larenz (Fn. 8), S.361, 397 ff. 38 Vgl. anschließend III. 39 Larenz (Fn. 8), S. 397ff.; weiterhin Fischer, Die Weiterbildung des Rechts durch die Rechtsprechung, 1971, S.36; Heusinger, Rechtsfindung und Rechtsfortbildung im Spiegel richterlicher Erfahrung, 1975, S.98; Lieb/Westhoff, D B 1973, 74f.; Pawlowski, ZfA 1974, 411; Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfonbildung, 1978, S. 229f.; ders., JuS 1980, 551; Adomeit, SAE 1972, 200. 35
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abhebt*0, nicht zwischen rückwirkenden und sonstigen Entwürfen. Die Unterscheidung nach den Arten der Rechtsfortbildung deckt sich allerdings wiederum nicht mit der Rechtspraxis. Im Gegenteil, das BAG hat bei den tarifrechtlichen Folgen des Betriebsübergangs und dem bedingten Wettbewerbsverbot weit mehr Skrupel als bei der Schaffung unverfallbarer Ruhegeldanwartschaften. Überdies dürfte die Problembeurteilung auch von der Würdigung des Zwecks der gerichtlichen Entscheidung, vor allem in der Revisionsinstanz, abhängen. Wer die richterliche Streitentscheidung im Einzelfall betont 4 ', ist für die Rechtsfortbildung offener als Autoren, die auf die Rechtsvereinheitlichung blicken; denn diese kann durch das Gesetzesvorhaben erreicht werden. Auch der Gedanke einer Normsetzung durch Richterrecht spricht, soweit er von einer Normsetzungsprärogative des Gesetzgebers und vom Richter als Ersatzgesetzgeber ausgeht42, eher gegen eine Rechtsfortbildung. Der Entwurf kann dann, wenn der Gesetzgebungsakt wahrscheinlich ist, eine richterliche Normsetzung entbehrlich machen. In diese Richtung weist auf der Basis des Richterrechts auch das Institut des judicial selfrestraint, das nicht nur in der Verfassungsgerichtsbarkeit die politicalquestion-Doktrin 43 wahren kann, sondern schlechthin die Usurpation quasi-legislatorischer Befugnisse durch die Gerichte abwehrt 44 . Der judicial self-restraint dient deshalb auch dazu, den Übergriff der Gerichte in die materiell gesetzgeberische Funktion in Fällen der gesetzgeberischen Initiative zu verhindern 45 . Die fehlende Synthese der verstreuten Ansätze bewirkt insgesamt, daß Teilaspekte wie die Relevanz eines Gesetzentwurfs mit Rückwirkung nur in Teilbereichen berücksichtigt werden; etwa bei der Zulässigkeit der Voranwendung eines künftigen Gesetzes, aber nicht bei der Frage, ob das zukünftige Gesetz den Richter an einer eigenen Rechtsfortbildung hindert. Zum anderen führen die unterschiedlichen Ansätze dazu, daß Wertungsgrundlagen wie das Gewaltenteilungsprinzip und daraus abgeleitete Wertungsfaktoren wie die Untersagung eines richterlichen Vorgriffs in die Kompetenz des Gesetzgebers46 in unterschiedlichen Rechtsfiguren auftauchen. Notwendig ist daher eine exaktere Problemstrukturierung, bei der irrelevante Aspekte 40
Canaris, SAE 1973, 69. Buchner, Anm. BAG AP Nr. 26 zu § 74 H G B , Bl. 5 R; Grunsky, Festschrift 25 Jahre BAG, 1979, S. 158, Konzen, SAE 1980, 67. 42 Vgl. anschließend IV. 43 Vgl. etwa Dolzer, Die staatstheoretische und staatsrechtliche Stellung des Bundesverfassungsgerichts, 1972, S. 106 u . ö . 44 Birk, J Z 1974, 742. 45 Birk, JZ 1974, 742. 44 Vgl. in unterschiedlichen Zusammenhängen Birk, JZ 1974, 742; Fischer (Fn.39), S. 36f.; Pawlowski, ZfA 1974, 411. 41
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abgeschichtet und übersehene Zusammenhänge hervorgehoben werden. Zu diesem Zweck sind nacheinander die Vorwirkungslehre sowie die Grundsätze über die richterliche Rechtsfortbildung auf Wertungskomponenten durchzumustern, die das Verhältnis von Gesetzentwurf und richterlicher Rechtsfortbildung in ein stimmiges Konzept bringen können. Der fragmentarische Diskussionsstand und der knappe Raum erlauben allerdings - zumal bei Grundfragen - nur eine skizzenhafte, ergänzungsbedürftige Darstellung, die primär nur die Systemzusammenhänge herstellen kann, auf denen die Einzelresultate beruhen. Das gemeinsame Problem aller Ansätze für eine Berücksichtigung von Gesetzentwürfen ist allerdings der Zeitpunkt im Gesetzgebungsverfahren, von dem ab ein Entwurf beachtet werden kann. Der Blick in die einschlägige Judikatur warnt insoweit vor Generosität. Das B V e r f G läßt den gescheiterten Entwurf, auch wenn das Gesetzesvorhaben noch nicht endgültig aufgegeben worden ist, nicht genügen47. Ebenso zeigt das Scheitern des 2. Arbeitsrechtsbereinigungsgesetzes, durch dessen Vorbereitung sich das B A G an der Fortentwicklung des § 74 H G B gehindert sah, die zweifelhafte Verläßlichkeit einer Orientierung an Entwürfen. Aus diesem Grund mußte der 3. Senat des B A G bei seinem Urteil über die unverfallbare „Ruhegeldanwartschaft" den Referentenentwurf zum E S t G nicht unbedingt beachten 48 . Sowohl bei rückwirkenden als auch bei sonstigen Gesetzentwürfen geht es beim Problem der Zulässigkeit einer richterlichen Rechtsfortbildung darum, daß eine nach allgemeinen Grundsätzen gebotene oder zumindest erlaubte Rechtsfortbildung ausschließlich an einer Gesetzesinitiative scheitert. Die Geltung des künftigen Gesetzes muß daher nach richterlicher Uberzeugung in absehbarer Zeit wahrscheinlich sein49 und zudem das gesetzgeberische Vorhaben „greifbare Formen" angenommen haben 50 , also der künftige gesetzliche Inhalt bereits im wesentlichen erkennbar sein. Die Konkretisierung dieser vagen Formel hängt von einer Vielzahl von Einzelfaktoren ab. Im allgemeinen wird die Erarbeitung eines Gesetzentwurfs ebensowenig genügen wie dessen Fertigstellung und Bekanntmachung. Auch die Kabinettsvorlage dürfte ohne weitere Anhaltspunkte nicht ausreichen. Anders ist das mit der Einbringung in das zuständige Parlament, soweit der Entwurf von den Mehrheitsfraktionen getragen wird 51 . Inwieweit in 47
B V e r f G E 34, 269, 292.
Vgl. aber Lieb/Westhoff, D B 1973, 7 4 f . ; Pawlowski, Z f A 1974, 411 Adomeit, S A E 1972, 2 0 0 ; die hier eingenommene Gegenposition nimmt den Kritikern des B A G allerdings nur eines ihrer Argumente und läßt im übrigen die Frage der Zulässigkeit der seinerzeit v o m B A G vorgenommenen Rechtsfortbildung offen. 49 Kloepfer (Fn. 17), S. 76, 108. 50 B A G A P N r . 156 zu § 2 4 2 B G B Ruhegehalt. 51 Kloepfer (Fn. 17), S. 77. 48
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den vorhergehenden Phasen infolge zusätzlicher Umstände eine Berücksichtigung von Entwürfen geboten oder zulässig ist, läßt sich wiederum nur beispielhaft andeuten. Konkrete Absprachen der Regierungsparteien in einer Koalitionsvereinbarung, die Weiterverfolgung eines in der vergangenen Legislaturperiode bei ähnlichen Mehrheitsverhältnissen nur aus Zeitgründen gescheiterten Entwurfs oder auch verbindliche, beispielsweise europarechtliche 52 Verpflichtungen des Gesetzgebers können solche Umstände sein. Umgekehrt kommen umfängliche Kodifikationsvorhaben, die eine erhebliche Dauer beanspruchen werden, als Hindernisse einer richterlichen Rechtsfortbildung nicht in Betracht". Der Verzicht auf eine andernfalls indizierte richterliche Rechtsfortbildung mit Rücksicht auf einen Vorrang des Gesetzgebers beläßt es während des Entwurfsstadiums bei einem Schwebezustand. Die künftige Rechtslage ist wahrscheinlich, aber nicht sicher und daher gegenwärtig ungeklärt. Die Unklarheit kann, beispielsweise bei einer Aussetzung eines Rechtsstreits, nur eine begrenzte Zeit hingenommen werden. Ein gewisses Indiz bildet insoweit § 58 II V w G O . Länger als ein Jahr sind ungeklärte Rechtslagen im allgemeinen nicht hinzunehmen 54 . Fraglos lassen alle diese Daten dem streitentscheidenden Richter im Einzelfall einen erheblichen Entscheidungsspielraum. Aber dieser ist mangels exakterer Direktiven unvermeidlich und wird sich noch an weiteren Stellen des Problemkreises zeigen. Der Grundsatz der Gewaltenteilung, um dessen Konkretisierung es letztlich geht, erlaubt auch an anderen Stellen nur eine Eingrenzung des Wertungsspielraums, die die Gleichförmigkeit und Berechenbarkeit der gerichtlichen Entscheidungen erleichtern kann. Mehr ist weder möglich noch einer in Grenzen notwendigerweise flexiblen und verantwortlichen Reaktion des unabhängigen Richters angemessen. III. Rechtsfortbildung und Vorwirkung von Gesetzen Die Bedeutung von Gesetzentwürfen für die Zulässigkeit einer richterlichen Rechtsfortbildung scheint mit dem Gedanken einer „Vorwirkung von Gesetzen", der Kloepfer vor einem Jahrzehnt in seiner Habilitationsschrift nachgegangen ist, in umfassender Weise angesprochen zu sein. Aber die Abhandlung, die faktische und normative Elemente der Vorwirkung mischt, ist einerseits nicht auf den Richterspruch begrenzt, beantwortet aber andererseits die Legalität der gerichtlichen Entschei52 Vgl. BAG SAE 1980, 63 ff. m. Anm. Konzen a. a. O., 66; EG-Richtlinie Nr. 77/1871 EWG v. 14.12.1979 (ABl. EG Nr. L 61, S.26). 53 Wank, Grenzen (Fn.39), S.231. 54 Kloepfer (Fn. 17), S. 108, der noch auf die inzwischen außer Kraft getretene Regelung des § 76 VwGO verweist, die aber nach ihrem Zweck dem § 58 II VwGO vergleichbar ist.
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dung über eine Rechtsfortbildung nicht abschließend. Die Frage, ob das B A G im Urteil über den Betriebsübergang die Fortbildung des Tarifrechts sowie beim bedingten Wettbewerbsverbot eine Karenzentschädigung im Hinblick auf Gesetzesinitiativen ablehnen dürfte 55 , findet keine eigenständige Antwort 5 '. Die Formen der Vorwirkung und ihre Auswirkungen auf die Rechtsanwendung sind im wesentlichen auf die Aussetzung des Verfahrens 57 , die Voranwendung 58 sowie die Vorberücksichtigung 5 ' begrenzt. Von diesen „Vorwirkungen" ist die Vorberücksichtigung, da sie nur zur Interpretation des Altrechts herangezogen wird und an dessen Legalität teilhat60, durchaus unproblematisch; beispielsweise wenn ein Gesetzentwurf das geltende Gesetz präzisiert und der Richter diese Präzisierung im Rahmen des gesetzlichen Normzwecks bei der Interpretation des geltenden Gesetzes nutzt. Der Gesetzentwurf bleibt insoweit ziemlich unverbindlich, zumal er nur ein Orientierungsmittel neben anderen ist61. Einschneidender sind die von Kloepfer befürwortete Aussetzung des Rechtsstreits wegen vorliegender Gesetzentwürfe sowie deren Voranwendung. Beide „Vorwirkungen" werden auf ein entstehendes Gesetz beschränkt, das sich Rückwirkung beilegen wird 62 . Auch wenn in beiden Fällen nur die Zulässigkeit der Vorwirkungen (Aussetzung, Voranwendung) bejaht wird 63 , stößt dieses Konzept doch auf die Gesetzesbindung an das Altrecht, das prinzipiell bis zu seiner Aufhebung oder Ersetzung in Kraft bleibt. N u r wenn diese Gesetzesbindung aufgrund eines in das Parlament eingebrachten Gesetzentwurfs 64 mit intendierter Rückwirkung abstreifbar ist, kann es zur Aussetzung oder Voranwendung des Entwurfs kommen. N u r in diesem Fall ist das bevorstehende rückwirkende Gesetz ein „spezieller Rechtsfortbildungsgrund" 6 5 . Nach dem Verständnis Kloepfers kann die Bindungslockerung 66 an das geltende Recht allein auf der rückwirkenden Kraft des bevorstehenden Gesetzes beruhen. Die Loyalität gegenüber diesem verVgl. oben I. zu Fn. 14; II. zu Fn.31. Kloepfer (Fn. 17), S. 164 verweist insoweit nur auf die Ergebnisse des Methodenschrifttums. 57 Kloepfer (Fn. 17), S. 65 ff. 5 ! A . a . O . , S.94ff. 59 A . a . O . , S. 161 ff. 60 A . a . O . , S. 167. " A . a . O . , S. 167. 62 A . a . O . , S.9, 56, 99. 65 A . a . O . , S.65ff., 94ff. 64 A. a. O., S. 16, 77, 108; eine Vordatierung lehnt Kloepfer ab. Vgl. auch oben II. a. E. 65 A . a . O . , S. 164. " A. a. O., S. 116; in diesem Zusammenhang spricht Kloepfer auch von dem geltungslabilen alten Recht, von der Überlagerung des Geltungsanspruchs sowie von einem Verlust an Geltungsintensität. 55
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dränge die Loyalität gegenüber dem alten Gesetz67. Folgerichtig kann dann der tragende Grund für die „Bindungslockerung" allein in der Gefahr liegen, daß der Richterspruch dem später in Kraft tretenden rückwirkenden Gesetz nicht mehr entspricht 68 . Überlegungen 6 ', die solche Vorwirkungen mit dem zeitgerechteren Zuschnitt des neuen Rechts oder der Gleichbehandlung legitimieren wollten, nach der die Anwendbarkeit des alten oder neuen Rechts nicht vom Zufall des Prozeßverlaufs abhängen dürfe, blieben ebensowenig auf ein künftiges rückwirkendes Gesetz begrenzt wie das Ziel der Verhinderung korrekturbedürftiger Entscheidungen, das darauf spekuliert, in der Revisionsinstanz sei bereits das neue Recht anwendbar 70 . Prinzipiell ist das zur Zeit der gerichtlichen Entscheidung geltende Recht anzuwenden. Davon gibt es keine Dispension. Es ist nicht sicher, daß es zu Rechtsmitteln kommt. Und eine Ungleichbehandlung je nach dem Entscheidungszeitpunkt liegt in der Intention eines Gesetzgebers, der neues Recht mit exnunc-Wirkung in Kraft setzt71. Es bleibt daher für die „Bindungslockerung" allein die Erwägung, daß eine gerichtliche Entscheidung, die aufgrund des Altrechts ergeht, rechtskräftig werden und damit die bevorstehende Rückwirkung des Gesetzes unterlaufen kann. Indessen gilt diese Erwägung bereits aus verfahrensrechtlichen Gründen nicht in allen Fällen. Grundsätzlich greift zwar ein rückwirkendes Gesetz nicht in ein rechtskräftiges Urteil ein. Das ergibt sich mittelbar aus § 79 Abs. 2 S. 1 BVerfGG. Danach bleiben prinzipiell Hoheitsakte, insbesondere rechtskräftige Zivilurteile, unberührt, wenn das BVerfG die dem Urteil zugrundeliegende Norm im Rahmen des § 78 BVerfGG für nichtig erklärt. Ein solcher Spruch des BVerfG erwächst gemäß §31 Abs. 2 BVerfGG in Gesetzeskraft. Daraus folgt, daß die dem Urteil zugrundeliegende Norm mit „Gesetzeskraft" rückwirkend beseitigt wird. Folgerichtig ist dies dann auch für die Parallelfrage anzunehmen, daß die Beseitigung der dem Urteil zugrundeliegenden Gesetzesvorschrift auf einem rückwirkenden Gesetz des parlamentarischen Gesetzgebers beruht 72 . Aber es ist, wie auch Kloepfer
" A.a.O., S. 116. 68 A.a.O., S.69; freilich wird diese Rückwirkung, solange eine Vorwirkung lediglich zulässig ist, zur Disposition des Richters gestellt. " A.a.O., S.57ff. 70 Gesetzesänderungen sind in der Revisionsinstanz auch dann zu berücksichtigen, wenn sie nach einem Urteil der Vorinstanz eintreten; vgl. dazu Gottwald, Die Revisionsinstanz als Tatsacheninstanz, 1975, S. 245, 247. 71 Vgl. dazu oben II. Fn.29. 72 Gaul, Die Grundlagen des Wiederaufnahmerechts und die Ausdehnung der Wiederaufnahmegründe, 1956, S.213 f.
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sieht73, durchaus denkbar, daß ein Gesetz die rechtskräftig entschiedenen Fälle rückwirkend anders regelt. Ein Beispiel ist Art. 12 § 14 NEhelG. Auch im übrigen hängt die verfahrensmäßige Durchsetzung eines rückwirkenden Gesetzes von seinem Inhalt und demjenigen der beseitigten Vorschrift ab. Beispielsweise erweiterte §1708 BGB in der bis 1969 geltende Fassung74 die vorher auf das vollendete 16. Lebensjahr begrenzte Unterhaltspflicht des nichtehelichen Vaters für das Kind auf die Vollendung des 18. Lebensjahrs. Die Vorschrift hatte insoweit Rückwirkung, als die Erweiterung auch die nichtehelichen Kinder erfaßte, die bereits aufgrund der abgelösten Vorschrift unterhaltsberechtigt waren75. Verfahrensrechtlich ließ sich diese Erweiterung mithilfe von § 258 Z P O durchsetzen, so daß die Rechtskraft eines alten Urteils unberührt bleiben konnte. Dieses Beispiel einer „Aufstockung" des Unterhaltsanspruchs zeigt zugleich, daß auch materiellrechtlich ein Entwurf keineswegs notwendigerweise eine „Bindungslockerung" gegenüber dem seitherigen Recht bewirkt. Der Rechtsvorgänger des § 1708 BGB war bis zu dessen Geltung unverändert anwendbar, der Richter unverändert an ihn gebunden. Die „Bindungslockerung" läßt sich daher allenfalls aufgrund einer Detailanalyse ermitteln. Natürlich kann der Gesetzentwurf ein Indiz für einen Wertungswandel sein, der die verbindliche Anwendung des geschriebenen Rechts ausschließt76. Aber diese Wirkung ist dann nicht die Folge einer Vorwirkung des Entwurfs, sondern eines Wertungswandels, den der Entwurf bestätigt. Gibt es keinen derartigen Anhaltspunkt, so ist ein Verlust an Geltungsintensität des Altrechts nicht zu erkennen. Es kommt möglicherweise zu einer Kollision gesetzgeberischer Intentionen. Dem geltenden Gesetz steht ein wahrscheinliches künftiges Gesetz gegenüber, das sich Rückwirkung beilegt, aber immerhin erst im Entwurfsstadium und deshalb noch vom Scheitern bedroht ist. Der Sinn der Vorwirkung soll nach Kloepfer in solchen Fällen darin bestehen, daß der Streitfall dem rückwirkenden Gesetz nicht entzogen wird. Diese Wirkung verlangt von vornherein keine Orientierung an dem noch abänderbaren Entwurf. Eine Voranwendung ist deshalb nicht angezeigt. Sie würde, wenn sie die Bindung an das seitherige Gesetz wirklich lockern könnte, das Gesetzgebungsverfahren entwerten und die sichere Rechtsgrundlage eines formell geltenden Gesetzes durch eine unsichere ersetzen. Aber auch die Aussetzung verschiebt, wenn die Bindung an das „Altrecht" nicht durch erkennbare Umstände gelockert ist, die 73
Kloepfer (Fn. 17), S.60. Abgelöst durch das N E h e l G . 75 A r t . 9 II N r . 2 FamRÄndG v. 11.8.1961, B G B l . I 1221; LG Mönchengladbach FamRZ 1962, 314; A G Frankfun FamRZ 1963, 372; Bosch, FamRZ 1962, 137. 76 BVerfGE 34, 269, 290 f. 74
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Gewichte. Solange keine Gründe entgegenstehen, ist das formell geltende Gesetz vorrangig, nicht der Entwurf. Die Gesetzesbindung ist aufgrund der Vorwirkung nicht abstreifbar. Der Richter hat sich an das geltende Recht zu halten; auch bei der Rechtsfortbildung, soweit diese auf der Gesetzesbindung beruht. Einen Sonderfall bildet allerdings der von Kloepfer eher beiläufig erwähnte Sachverhalt, der bislang gesetzlich nicht geregelt ist77. Dabei geht es ersichtlich um das Problem der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung, zu der der Richter jedenfalls nicht verpflichtet ist78. Insoweit trifft ihn mithin keine Gesetzesbindung, die der Vorwirkung eines „rückwirkenden" Gesetzentwurfs entgegenstehen könnte. Daher steht nun in der Tat zur Debatte, ob ein Sachverhalt dem künftigen rückwirkenden Gesetz entzogen werden darf. Zwar deckt diese Überlegung auch in diesem Fall nicht die Voranwendung des Gesetzes 7 '. Aber es ist möglicherweise zu wenig, wenn Kloepfer auch hier nur die Zulässigkeit einer Aussetzung erwägt. Inwieweit in diesem Fall die richterliche Rechtsfortbildung zurückgedrängt wird, richtet sich freilich zunächst nach deren prinzipieller Legitimation. Die Frage ist daher erst nach einem Blick auf die Grundsätze der richterlichen Rechtsfortbildung endgültig zu beantworten.
IV. Rechtsfortbildung und Richterrecht Das Leitbild der Gesetzesbindung ist eine klare Kompetenzverteilung zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung. Das Gesetz ordnet an, der Richter vollzieht die Anordnung im Einzelfall. Die Prämisse dieses Leitbilds wäre freilich, daß die Gesetze den gesamten Rechtsstoff vorgeordnet hätten und die Gerichte das richtige Recht nur erkennen müßten. Der Blick in die Rechtspraxis zeigt indessen, daß sich die Grundlagen des Urteilsspruchs nicht in verstehendem Erkennen durch den Richter erschöpfen. Die Entwicklung der Sicherungsübereignung, die Regelbildung über die Anwartschaft im Zivilrecht80, aber auch die Judikatur des B A G zur Gratifikationsrückzahlungsklausel81 und zur unverfallbaren Ruhegeldanwartschaft82 belegen beispielhaft das volitive Element des
77 78 75
80 81 82
Kloepfer (Fn. 17), S. 114, 164. Vgl. oben II. zu Fn. 37. Vgl. auch Wank, Grenzen (Fn.39), S.229. Larenz (Fn. 8), S. 398. B A G A P Nr. 22 zu §611 B G B Gratifikation. B A G AP N r . 156 zu §242 B G B Ruhegehalt.
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Richterspruchs 83 . Seine Entscheidung ist auch dezisionistisch 84 . Der Richter gestaltet den Rechtsstoff mit85. Das hat die Vorstellung eines eigenständigen Richterrechts genährt, das neben das Gesetzesrecht tritt. Allerdings besteht eine Normsetzungsprärogative des Gesetzgebers 86 . Der Richter schafft als „Ersatzgesetzgeber" lediglich „gesetzesvertretendes Richterrecht". Dieses Verständnis findet sich in der Judikatur hauptsächlich beim BAG 8 7 , wird im Grundsatz so aber auch in Teilen des Schrifttums vertreten 88 . Wie dargelegt, kann diese Deutung auch das Verhältnis von Gesetzentwurf und Rechtsfortbildung beeinflussen. Wenn der Akzent des streitentscheidenden Rechtsakts primär auf der richterrechtlichen Rechtsetzung für künftige Fälle läge, wäre die Rechtsfortbildung bei Gesetzesinitiativen weniger dringlich. Darauf zielt auch der judicial self-restraint ab 8 '. Faktisch ist eine derartige Rechtsschöpfung durch „Richterrecht" kaum zu bestreiten. Das Gericht entscheidet zwar den Einzelfall, stellt aber damit zugleich eine Maxime für die Entscheidung gleichartiger Fälle auf90. Da das oberste Gericht sich oft nach seinen Präjudizien richtet und die Vorinstanzen schon wegen der Rechtsmittel gleichfalls dazu angehalten werden, kommt es faktisch zu einer Präjudizienbindung. Die Präjudizien werden wie geltendes Recht behandelt 91 . Dennoch ist eine „Rechtssetzung durch Richterrecht" nicht akzeptabel. Der Richter ist bei der Rechtsfortbildung an die Wertungen des geltenden Rechts gebunden; auch an die „Fernwirkungen"' 2 des Gesetzes. Auch die gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung vollzieht sich, schon wegen der Usurpation gesetzgeberischer Funktionen, nicht ungebunden. Das Verständnis eines eigenständigen Richterrechts droht diese Bindungen zu vernachlässigen. Zudem ist nur der Gesetzgeber demokratisch legitimiert. Die Tätigkeit des Richters, auch seine Rechtsschöpfung, beruht auf einer abgeleiteten Legitimation. Davon wird die 85 Zippelius, N J W 1964, 1981; Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit 1969, S. 104ff.; Preis, ZfA 1972, S.271 ff.; a.A. Schneider, Richterrecht, Gesetzesrecht und Verfassungsrecht 1969, S. 38. 84 Vgl. Lieb, DB 1973, 73 m . N . in Fn.42. 85 Larenz (Fn. 8), S.397f. 86 Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 1967, S.60ff.; Säcker (Fn. 83), S. 101. 87 B A G AP Nr. 43 zu Art. 9 GG Arbeitskampf, Bl. 12 R. 18 Vgl. Säcker (Fn. 83), S. 116 m. N. " Birk, J Z 1974, 742. 90 Larenz (Fn. 8), S. 412. " Larenz (Fn.8), S.413, wobei er klarstellt, daß nicht das Präjudiz als solches bindet, sondern die darin richtig ausgelegte oder konkretisierte Norm; Kriele (Fn. 86), S. 160 ff., 258 ff. spricht von einer Vermutung der Richtigkeit von Präjudizien, die sich im Verlauf seiner Darlegungen zur präsumtiven Bindung der Gerichte an Präjudizien steigert. '2 Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, 1914, S.230ff.; Scholz, DB 1972, 1772 ff.; Konzen, ZfA 1980, S.95.
Gesetzentwurf und Revisionsurteil
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juristische Wertung der Gerichtsentscheidung bestimmt. Sie ist ein individueller und konkreter streitentscheidender Rechtsakt, dagegen keine abstrakte und allgemeine Rechtssetzung. Rechtlich gibt es daher vor allem für die Unterinstanzen auch keine Präjudizienbindung. Jeder Richter ist befugt, eine Rechtsfrage nach seiner Uberzeugung zu entscheiden und von einem Präjudiz abzuweichen". Die Bindung ist auf das Gesetz reduziert. Soweit mit Rücksicht auf den Vertrauensschutz des Bürgers die obersten Gerichte eine prinzipielle Bindung an ihre eigenen Präjudizien erwägen94 und diesen Vertrauensschutz erst durch die Ankündigung einer künftigen Änderung der Rechtsprechung (prospective overruling) beseitigen wollen, ist diese Teilbindung auch auf der Grundlage einer allein faktischen richterlichen Rechtsschöpfung denkbar. Ihre Haltbarkeit ist zumindest für den Zivilrechtsstreit anzuzweifeln. Sie führt dazu, daß eine Partei ihren Rechtsstreit verliert, obwohl sie nach der geänderten Meinung des Gerichts im Recht ist95. Mehr noch: Der Bürger, der einen Judikaturwandel erkämpft, täte dies für den nächsten Kläger, der in einer gleichartigen Lage ist. Der Wunsch nach Kontinuität, der bei dem Vertrauensschutzgedanken sicher mitschwingt, bedarf keiner rechtsverbindlichen Absicherung. Die Kontinuität kann der richterlichen Verantwortung überlassen bleiben. Die schöpferische Gestaltung des Rechts durch den Richter nötigt nicht zu einem eigenständigen Richterrecht. Der Richter hat beim Urteil den Vorrang des Gesetzes zu wahren. Daraus - nicht aus einer rechtssetzenden Wirkung des Richterspruchs — ist die Bedeutung des Gesetzentwurfs für die richterliche Rechtsfortbildung abzuleiten. V. Gewaltenteilung, Rechtsfortbildung und Gesetzentwurf 1. Gesetzesimmanente
Rechtsfortbildung
Der Blick in die Praxis der richterlichen Rechtsfortbildung läßt unter dem Blickwinkel des Vorrangs des Gesetzgebers unterschiedliche Formen erkennen. Der Vorrang des Gesetzes äußert sich einmal in der Gesetzesbindung des Richters. Sie reicht über den Wortsinn des Gesetzes hinaus und erfaßt auch Fälle, in denen das Gesetz eine Gesetzeslücke enthält. Der Begriff" bezieht sich auf die jeweilige Teleologie des Gesetzes, meint also im Unterschied zu einem rechtspolitischen Fehler des Gesetzes nicht schlechthin eine Unvollständigkeit, sondern eine
Larenz (Fn. 8), S.413. Birk, J Z 1974, 739, 740. 95 Konzen, SAE 1981, 212. * Vgl. zu den einzelnen Unterarten einer Gesetzeslücke vor allem Canaris, Feststellung von Lücken im Gesetz (2. Aufl.), 1983, S. 24 ff., 40 ff., 55 ff., 129 ff. 93 94
Die
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Horst Konzen
nach der eigenen Regelungsabsicht des Gesetzgebers planwidrige Unvollkommenheit des Gesetzes97. Der Wertungsmaßstab entstammt mithin nicht der rechtspolitischen Wünschbarkeit, sondern der immanenten Regelungsabsicht des Gesetzgebers. Gleichwohl ist die Lückenfeststellung wiederum nicht allein ein Erkenntnis-, sondern ein Wertungsvorgang. Eine der Ursachen für eine (nachträgliche) Gesetzeslücke ist beispielsweise die gesetzliche Schaffung neuer Rechtsfiguren, ohne deren Auswirkungen für eine seither umfassend geregelte Rechtsmaterie zu bedenken. Es liegt nahe, in diesen Zusammenhang die tarifrechtlichen Folgen des Betriebsübergangs einzuordnen, bevor diese von der Neukodifikation in §613 a Abs. 1 S.2-4 BGB erfaßt worden sind. Das TVG sucht nämlich ersichtlich die potentielle Beendigung der tarifvertraglichen Normenwirkung (§ 4 Abs. 1 TVG) beim Fortfall einer ihrer Prämissen - Tarifgebundenheit und Geltungsbereich - abschließend zu regeln. Es wehrt eine einseitige Manipulation der Tarifgebundenheit durch einen Verbandsaustritt mithilfe einer Fortdauer der Tarifgebundenheit (§3 Abs. 3 TVG) ab". Es gibt mit der Nachwirkung des §4 Abs. 5 TVG beim Ablauf des zeitlichen Geltungsbereichs ein Modell für den Wegfall des örtlichen oder betrieblichen Geltungsbereichs. Das TVG konnte allerdings den Betriebsübergang auf einen nicht tarifgebundenen Arbeitgeber, den § 613 a BGB erst viel später zugelassen hat, nicht regeln, obwohl sich aufgrund der Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit dem seitherigen Arbeitgeber ebenfalls das Problem einer Beendigung der Normenwirkung stellt. Da § 3 Abs. 3 TVG auf die seitherige Verbandsmitgliedschaft abstellt, paßt die Vorschrift auf den neuen Arbeitgeber nicht, wenn dieser dem Arbeitgeberverband nicht angehört hat. Aber der Zweck des § 4 Abs. 5 TVG, nämlich den Tarifinhalt nach Tarifbeendigung für eine Ubergangszeit bis zu einem neuen Tarifvertrag als abdingbare Gestaltung der Arbeitsbedingungen zu erhalten95, paßt auch hier. Als Lösung bot sich zur Beseitigung einer planwidrigen Unvollkommenheit daher eine Analogie zu §4 Abs. 5 TVG an. Es geht um eine Rechtsfortbildung praeter legem. Deren Grundlage ist die Gesetzesbindung des Richters. Der Richter ist zur Rechtsfortbildung nicht nur befugt, sondern verpflichtet100. Das gilt auch für das Revisionsgericht. Auch wenn der Revisionszweck neben der Einzelfallgerechtigkeit - teilweise sogar dominant - in der Rechtsvereinheitlichung gesehen wird101, so erklärt dies nur den Sinn der Einrichtung einer dritten 97
Latenz (Fn.8), S.358. Vgl. näher Konzen, ZfA 1975, 408 ff. 99 Wiedemann/Stumpf, TVG, (5. Aufl.) 1977, §4 Rdn. 185. 100 Vgl. oben II. zu Fn. 36. 101 Gottwald (Fn. 70), S.82; Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht (13. Aufl.), 1981, S. 814. 98
Gesetzentwurf und Revisionsurteil
365
Instanz 102 , entbindet aber auch das Revisionsgericht keineswegs von der Pflicht zur gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung. Diese ist Ausdruck der Gesetzesbindung. Deshalb kann auch eine gesetzliche Neuregelung im Entwurfsstadium nicht von einer Rechtsfortbildung praeter legem entbinden 103 ; mangels einer „Bindungslockerung" gegenüber dem formell geltenden Gesetz auch dann nicht, wenn der Entwurf eine rückwirkende Regelung vorsieht 104 . Tritt das im Entwurfsstadium existente Gesetz später in Kraft, so mag die zwischenzeitlich vorgenommene Rechtsfortbildung die Kontinuität der Judikatur stören. Aber dieses Manko ist dann vom Gesetzgeber selbst verursacht, an dessen Entscheidung der Richter gebunden ist. Es läßt sich unter Umständen im Rahmen der Normzwecke des fortzubildenden Rechts durch eine Vorberücksichtigung des Entwurfs mildern, die freilich nur eine Interpretationshilfe sein kann. Die gesetzesimmanente Rechtsfortbildung ist auf den Einzelfall ausgerichtet. Sie beruht ebenso auf der Gesetzesbindung wie die umgekehrte Feststellung einer bewußt abschließenden Regelung, die eine Rechtsfortbildung („contra legem") verbietet. 2. Gesetzesübersteigende
Rechtsfortbildung
Zwischen die gebotene Rechtsfortbildung praeter legem und die verbotene Entscheidung contra legem treten die Fälle, in denen eine Entscheidung weder aus der gesetzlichen Teleologie ableitbar ist noch eindeutig feststeht, daß der Gesetzgeber eine bestimmte Entscheidung hat ausschließen wollen 105 . Es ist nur feststellbar, daß eine bestimmte Frage nicht gesetzlich geregelt ist. Soweit es ein „unabweisbares Verkehrsbedürfnis" 1(* dafür gibt, ist unter bestimmten Prämissen eine richterliche Rechtsfortbildung extra legem gleichwohl nicht verschlossen. Man kann, bezogen auf dieses unabweisbare Verkehrsbedürfnis, in solchen Fällen von einer „Rechtslücke" 107 sprechen. Auch wenn die Feststellung einer planwidrigen Unvollkommenheit im Gesetz ein Wertungsvorgang ist und deshalb die Abgrenzung zwischen gesetzesimmanenter und gesetzesübersteigender Rechtsfortbildung im Einzelfall unscharf sein kann, rentiert es, die gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung als eigene Systemgruppe abzusondern. Bei ihr stellt sich nämlich das Problem des Verhältnisses von richterlicher Rechtsfortbildung und Gesetzgebung anders als bei der Schließung von Gesetzeslücken. Während die gesetzesimmanente Rechtsfortbildung der Gesetzesbindung 102
,05 104
105 106 107
Stein/Jonas/Grunsky,
Z P O (20. Aufl.), Vor §545 Rdn.3.
Canaris, SAE 1973, 69.
Vgl. oben III.
Urenz (Fn. 8), S. 398. Urem (Fn. 8), S. 360. Larenz (Fn. 8), S. 360.
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entspricht, stößt die Rechtsfortbildung extra legem auf den Sektor des Gesetzgebers vor. Die gerichtliche Entscheidung vollzieht sich in einem Raum, in dem der Gesetzgeber untätig geblieben ist, aber nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung den Regelungsvorrang hat. Dieser Übergriff in die gesetzgeberische Funktion wird dadurch unterstrichen, daß die gerichtlichen Entscheidungen schon im Hinblick auf das „unabweisbare Verkehrsbedürfnis" zwar rechtlich verbindlich nur den Einzelfall entscheiden, aber im Akzent die Rechtsfortbildung wegen der faktischen Präjudizienwirkung für eine Vielzahl von Vergleichsfällen erfolgt. Die Rechtsfortbildung ist insofern in der Intention weniger einzelfallorientiert, als auf eine abstrakte Regelung von Verkehrsbedürfnissen ausgerichtet. Die bereits angeführten Beispiele der Sicherungsübereignung, des dinglichen Anwartschaftsrechts, der Gratifikationsrückzahlungsklauseln und der unverfallbaren Ruhegeldanwartschaften bilden dafür eindrucksvolle Belege. U m so mehr gilt es freilich, den Vorrang des Gesetzgebers zu wahren. Beide Faktoren - der Vorrang des Gesetzgebers und das „unabweisbare Verkehrsbedürfnis" - gebieten an sich eine restriktive Handhabung der Rechtsfortbildung extra legem. Jedoch hat die Enthaltsamkeit des Gesetzgebers bei vielen brisanten Regelungsproblemen unvermeidlich eine Ausdehnung der Richtertätigkeit bewirkt. Die Gewaltenteilung und die ausschließliche Kompetenz des Gesetzgebers zur Rechtssetzung setzen der gerichtlichen Entscheidung aber Grenzen. Der Gesetzgeber hat den Primat. Der Richter darf die Kompetenz des Gesetzgebers nicht verletzen.
a) Rückwirkender
Gesetzentwurf
An dieser Stelle ist der Gesetzentwurf zu beachten. Zwar ist der Richter nicht an den Entwurf gebunden, so daß eine Voranwendung ausscheidet 108 ; aber der Gesetzgeber kann, soweit er einer Regelung in zulässiger Weise eine rückwirkende Kraft beilegen kann, in einem später in Kraft tretenden Gesetz exakt den Sachverhalt regeln, über den der Richter zu entscheiden hat. D a eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung grundsätzlich auch gegenüber einer rückwirkenden Gesetzesänderung Bestand hat109, entzieht die Rechtsfortbildung extra legem in solchen Fällen den Sachverhalt dem (künftigen) Gesetz. Es gibt zwar im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch kein Gesetz, gegen das die Rechtsfortbildung explizit verstößt. Aber die gerichtliche Entscheidung maßt sich mit Blick auf das Verkehrsbedürfnis eine Kompetenz an, die bei zulässiger Rückwirkung dem Gesetzgeber zusteht. Es geht bei der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung um eine Regelung in 108 109
Wank, Grenzen (Fn. 39), S.229 gegen Kloepfer (Fn. 17), S. 123, 164. Vgl. oben III. zu Fn. 72.
Gesetzentwurf und Revisionsurteil
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einem Bereich, in dem die Kompetenz beim Gesetzgeber liegt. Deshalb kann es auch keinen „Wettlauf" um Kompetenzen für den Einzelfall geben. Soweit der Gesetzgeber den Sachverhalt regeln will, also jedenfalls bei einem rückwirkenden Regelungsinhalt, hat er aufgrund der Gewaltenteilung den Vorrang. Daher ist auch ein rückwirkender Gesetzentwurf eine prinzipielle110 Sperre für eine inhaltlich abweichende Rechtsfortbildung. Das Problem liegt allein in der rechtstechnischen Umsetzung dieser Maxime. Einen Anhaltspunkt dafür bildet die oben referierte Judikatur des BVerfG zur Aussetzung des Verfahrens bei verfassungswidrigen Gesetzen, für deren Ersetzung oder Angleichung an die Verfassung die rückwirkende Kompetenz des Gesetzgebers besteht111. Das BVerfG unterstreicht die Unanwendbarkeit des verfassungswidrigen Gesetzes. Bis zur rückwirkenden Regelung durch den Gesetzgeber gibt es also ebensowenig eine gesetzliche Grundlage wie in den Fällen, in denen eine gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung zur Debatte steht. Daher liegt es in der Konsequenz der Judikatur des BVerfG, auch in diesen Fällen bei Vorliegen eines rückwirkenden Gesetzentwurfs dem Gesetzgeber den Vorrang zu lassen und das Verfahren auszusetzen. Die Prämisse ist die oben beschriebene Wahrscheinlichkeit der künftigen gesetzlichen Regelung112. Die Aussetzung ist im übrigen nicht nur zulässig113, sondern nach dem Maßstab der Judikatur des BVerfG notwendig. Problematisch ist allerdings die Dauer der Aussetzung, die regelmäßig nicht länger als ein Jahr akzeptabel ist114. b) Gesetzentwurf ohne Rückwirkung Anders ist es bei Gesetzentwürfen, die dem geplanten Gesetz aus Rechtsgründen oder aufgrund des gesetzgeberischen Willens keine Rückwirkung beilegen. Bei ihnen ist zu differenzieren, da das künftige Gesetz nach seinem Inhalt eine Negativregelung für die Vergangenheit und insoweit eine Rechtsfortbildungssperre enthalten kann, andererseits aber auch die Zeit bis zu seinem Inkrafttreten ungeregelt lassen kann. Eine Negativregelung lag beispielsweise in der - freilich noch nicht in das Gesetzgebungsverfahren eingebrachten - steuerlichen Regelung über die Unverfallbarkeit der Ruhegeldanwartschaft. Diese Regelung hätte wäre sie im Gesetzgebungsverfahren weiter gediehen und als wahrscheinliche gesetzliche Regelung anzusehen gewesen - die richterliche Schaffung der Unverfallbarkeit durch das B A G verhindern müssen115. 110 111 112 113 1M 1,5
Etwas anderes gilt bei einem echten Rechtsnotstand; vgl. Larenz (Fn. 8), S. 411. Vgl. oben II. zu Fn. 22-25. Vgl. oben II. a. E. Vgl. aber Kloepfer (Fn. 17), S. 65 ff. Vgl. oben II. zu Fn. 54. B A G AP Nr. 156 zu Fn.242 B G B Ruhegehalt.
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Soweit andererseits der Gesetzentwurf auf eine Regelung für die Zwischenzeit verzichtet, bleiben die allgemeinen Grundsätze für die Rechtsfortbildung extra legem bestehen. Dabei kann das „unabweisbare Verkehrsbedürfnis" angesichts der bevorstehenden Regelung weniger dringlich sein. Aber diese Erwägung ist nicht generalisierbar. Dem Richter bleibt ein Wertungsspielraum, der auch an vielen anderen Punkten nachweisbar ist: bei der Prognose über den Entwurf und dessen Interpretation, bei der Grenzziehung zwischen gesetzesimmanenter und gesetzesübersteigender Rechtsfortbildung sowie bei den Grenzen einer Rechtsfortbildung extra legem. Dieser Wertungsspielraum ist nicht außergewöhnlich. Die Gewaltenteilung, der das Nachsinnen über die Relation von richterlicher Rechtsfortbildung und Gesetzentwurf gilt, ist ihrerseits ein konkretisierungsbedürftiger Grundsatz. A n seiner Konkretisierung w i r k t notwendigerweise auch der Richter mit. Er w i r d dabei im Rahmen der gesetzlichen Wertungen rechtsschöpferisch tätig und ist in diesem Sinn, anders als es Windscheid wenige Jahre vor Gründung der Jubilarin formuliert hat 11 ', mehr als nur der Diener des Rechts.
116
Windscheid,
Actio (Fn. 4), S. 4; den. Abwehr (Fn. 5), S. 25.
Aspekte verfassunesgerichtlicher Subsidiarität in Deutschland und Österreich PETER LERCHE
I. Die jüngere und jüngste Judikatur des Bundesverfassungsgerichts hat das Prinzip der Subsidiarität im Bereich der Verfassungsbeschwerde im Kern bestätigt; zugleich hat das Gericht dieses Prinzip in einigen Beziehungen mit schärferen Konturen versehen, in anderen Beziehungen indessen mit neuen Fragen bepackt und gelegentlich auch Thesen entworfen, die überdenkenswert erscheinen. Zudem stellen sich interessante Beziehungen zu gewissen ausländischen Entwicklungen ein, wie z.B. der jüngeren österreichischen Ausbildung der Individualbeschwerde gegen Normen. II. 1. In der Gesamtarchitektur des Prozeßrechts können in dieser Hinsicht drei Schichten unterschieden werden; das Prinzip der Subsidiarität findet seinen Platz in der mittleren. Es verdichtet die in einer ersten Schicht belegene allgemeine und eher amorphe Vorstellung des gebotenen „Rechtsschutzbedürfnisses" 1 im Bereich der Verfassungsbeschwerde auf folgenden Gehalt: Die Verfassungsbeschwerde müsse „erforderlich" sein, um eine Grundrechtsverletzung auszuräumen. Dieser vom Bundesverfassungsgericht 2 formulierte Satz eröffnet eine zweite Schicht des Vorstellungsgefüges. Er ist zwar ebenfalls noch sehr allgemein gehalten. Aber nur in dieser Allgemeinheit kann er als befriedigende Definition des Subsidiaritätsgedankens im Bereich der Verfassungsbeschwerde begriffen werden. Dies sowohl gegenüber früherer wie gegenüber späterer Rechtsprechung. Wenn etwa das Gericht schon zu Beginn seiner Judikatur bemerkt hatte, die Verfassungsbeschwerde solle nur dann zulässig sein, „wenn sie trotz Erschöpfung der regelmäßigen verfahrensrechtlichen
' Zum Zusammenhang von Subsidiarität und Rechtsschutzbedürfnis bes. Zacher in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, BVerfG-Festgabe, I, 1976, s. 396 ff. (409). 2 Etwa BVerfGE 51, 130 (139).
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Peter Lerche
Möglichkeiten zur Verhinderung einer Grundrechtsverletzung erforderlich wird" 3 , so ist dies zu eng; denn das Subsidiaritätsprinzip muß auch außerhalb der Erschöpfung regelmäßiger verfahrensrechtlicher Möglichkeiten zur Wirkung gelangen können. Nichts anderes gilt für die Definition des Subsidiaritätsprinzips in einer jungen Entscheidung4, in der es in Anknüpfung an frühere Rechtsprechung5 - heißt, der Grundsatz besage, „daß die behauptete Grundrechtsverletzung im Interesse einer ordnungsgemäßen Vorprüfung der Beschwerdepunkte zunächst in dem mit der gerügten Beeinträchtigung unmittelbar zusammenhängenden sachnächsten Verfahren geltend gemacht werden muß". In Wirklichkeit sind dies nur einzelne Ausformungen des Subsidiaritätsgedankens, denen daher weitere Ausformungen zur Seite treten; ζ. B. das Gebot, bei Möglichkeit und in zumutbarem Rahmen die Grundrechtsverletzung auch außerhalb des Rechtsschutzes zu beseitigen, also ohne Inanspruchnahme des Bundesverfassungsgerichts im praktischen Ergebnis dasselbe zu erreichen6. Das weist schon darauf hin, daß sich alle derartigen Konkretisierungen in einer dritten Schicht des Gesamtgebäudes sammeln werden. 2. Die erwähnte allgemeine Definition des Subsidiaritätsgebots der Verfassungsbeschwerde umschreibt ihrerseits nur einen Teilinhalt der zweiten Schicht. In sie finden sich auch weitere Ausbildungen des allgemeinen Gedankens des Rechtsschutzbedürfnisses eingebettet; diese Rechtsaussagen erhalten dadurch eine gewisse, relative Selbständigkeit gegenüber dem Subsidiaritätsprinzip7. Doch sollte nicht verkannt werden, daß alle diese Aussagen ihre gemeinsame Wurzel im Erfordernis eines allgemein verstandenen Rechtsschutzbedürfnisses (im Sinne der ersten Schicht) besitzen. Das ist für spätere Konsequenzen relevant; denn nur so kann befriedigend erklärt werden, warum alle näheren Ausformungen der weiteren Schichten teilhaben an den allgemeinen Strukturen jener
3 B V e r f G E 1, 97 (103). Diese Aussage wurde häufig wiederholt. (Schmidt-Bleibtreu in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer, BVerfGG, Rdn. 18 zu § 9 0 , bezeichnet sie als ständige Rechtsprechung). 4 B V e r f G E 59, 63 (83); die Entscheidung wiederholt jedoch zugleich den aus B V e r f G E 51, 130 (139) zitierten zutreffenden Satz. 5 B V e r f G E 31, 364 (368); 39, 2 7 6 (291); 42, 2 4 3 (247).
' Die zitierte Entscheidung B V e r f G E 59, 63, 83 weist selbst auf diese Möglichkeit hin, allerdings ohne ausdrücklichen Bezug auf die Grenzen der Zumutbarkeit (im übrigen unter Anführung von B V e r f G E 33, 247, 2 5 8 ; 51, 130, 1 3 9 f . ; 22, 287, 2 9 0 f . und der ständigen Rechtsprechung). 7 In diesem Sinne trennt das Bundesverfassungsgericht häufig die Prüfung des Rechtsschutzbedürfnisses als selbständige Prüfung ab von der Prüfung unter Subsidiaritätsgesichtspunkten (vgl. z . B . B V e r f G E 53, 30, 52ff. sowie Ε 5 9 , 63, 82f.). Bisweilen wird aber auch beides zusammengezogen, siehe zuletzt B V e r f G E 62, 169 (181).
Verfassungsgerichtliche Subsidiarität in Deutschland und Österreich
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Grundvorstellung des Rechtsschutzbedürfnisses: insbesondere an den beiden diese Vorstellung im Verfassungsprozeß durchwaltenden8 Gedanken, daß einmal dem Beschwerdeführer nur ihm Zumutbares angesonnen werden kann, und zum anderen', daß bei besonderem Allgemeininteresse an alsbaldiger verfassungsrichterlicher Entscheidung des Falls die prozessualen Barrieren schwinden. 3. Der genannte Satz als allgemeine Definition der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde enthält zugleich, wie schon angedeutet, den Schlüssel für die dritte Schicht; denn er zeigt sich seinerseits konkretisierungsbedürftig und wird daher zu einem Quell konkreterer Rechtsgrundsätze, die sich in jene dritte Schicht einordnen lassen. Wichtigste Ausformung dieser dritten Schicht ist das Prinzip der Rechtswegerschöpfung (§90 Abs. 2 BVerfGG); sie ist aber nicht die einzige. Das kommt in den generalklauselartig formulierten Konsequenzen zum Ausdruck, mit denen das Bundesverfassungsgericht den Subsidiaritätsgedanken versieht. Wenn das Gericht den Beschwerdeführer insbesondere auf anderweitige Möglichkeiten verweist, die Grundrechtsverletzung zu beseitigen10, so bestätigt sich, daß eine solche anderweitige Möglichkeit nicht allein in der Erschöpfung anderweitiger („fachgerichtlicher") Rechtsschutzmöglichkeiten bestehen muß". Die hieraus entspringenden Konkretisierungen des Prinzips der Subsidiarität stehen daher dogmatisch in derselben (dritten) Schicht wie die Anordnung der Rechtswegerschöpfung.
III. Vor allem in ihrer jüngsten Judikatur hat die verfassungsgerichtliche Hand Verflechtungen zwischen diesen jeweiligen Konkretisierungen der 8 Zur (späteren) Neigung der Judikatur, in den Kriterien der objektiven und subjektiven Wichtigkeit unmittelbar Elemente des Rechtsschutzbedürfnisses zu sehen, siehe Zacher a. a. O. S.417 mit Nachw. ' Folgerichtigerweise wird das Rechtsschutzbedürfnis insofern großzügig bemessen, als die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde auch dann bejaht wird, wenn sich die Beschwer faktisch erledigt hat, sofern dies auf den Zeitablauf zurückzuführen ist (auf den der Beschwerdeführer keinen Einfluß hatte); siehe etwa BVerfGE 53, 30 (55) unter Hinweis auf Ε33, 247 (257f.); 50, 244, (247f.). Verwaltungsgerichtliche Parallelen (etwa zur Fortsetzungsfeststellungsklage) lassen sich hier nur mit Vorsicht ziehen; ob z.B. Wiederholungsgefahr besteht oder nicht, scheint verfassungsgerichtlich nicht zu interessieren. Mit dem Zumutbarkeitsgedanken verwandt ist die ebenfalls allgemeinere Vorstellung des „Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz" im hiesigen Bereich (siehe etwa BVerfGE 51, 130, 141); hinzutritt die noch zu berührende Vorstellung der gebotenen Spruchreife.
BVerfGE 59, 63 (83); 51, 130 (139f.), beide unter Hinweis auf E33, 247 (258). Siehe in ähnlichem Zusammenhang auch Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, 2. Aufl. 1982, S. 120 f. 10 11
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dritten Schicht aufgespürt und aufgewiesen oder doch als Frage aufgeworfen. 1. Dazu muß zunächst die praktische Bedeutung derartiger Konkretisierungen außerhalb des Gebots der Rechtswegerschöpfung dargestellt werden. Ihre Relevanz zeigt sich insbesondere (nicht nur) bei Verfassungsbeschwerden gegen verwaltungsgerichtliche Entscheidungen, die im Bereich des vorläufigen Rechtsschutzes ergangen sind. Hier gerät das Verhältnis zu dem noch nicht erledigten Hauptsacheverfahren ins Schillern. Das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ist im Prinzip gegenüber dem Hauptsacheverfahren selbständig12. Trotz dieser Selbständigkeit hat das Bundesverfassungsgericht in neueren Erkenntnissen die Zulässigkeit von Beschwerden gegen gerichtliche Entscheidungen in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes einschränkend beurteilt: Je nach der Eigenart des Verfahrensgegenstands könne der Beschwerdeführer gehalten sein, vor Inanspruchnahme des Bundesverfassungsgerichts das verwaltungsgerichtliche Hauptsacheverfahren durchzuführen 13 . Diese prinzipielle Einschränkung ist nur zu verständlich. Namentlich waren es Verfahren der Großtechnik, die hierzu den Anstoß gaben. Das Gericht selbst hat dies bloßgelegt: Im Bereich der atomrechtlichen Massenverfahren könnte - so sagt das Gericht14 - diese Einschränkung schon deshalb unerläßlich werden, weil hier die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit praktisch zur Regel geworden ist und weil die Genehmigungen häufig in mehrere anfechtbare Teilakte zerlegt werden, so daß in erheblicher Zahl verwaltungsgerichtliche Entscheidungen im Verfahren gemäß §80 VwGO ergehen. Wäre die Zulässigkeit der gegen sie gerichteten Verfassungsbeschwerden uneingeschränkt zu bejahen, könnte das Bundesverfassungsgericht unter Ausschaltung des Bundesverwaltungsgerichtes - in die Rolle einer Superinstanz geraten. Dies erschiene um so problematischer, als vielfach technisch-naturwissenschaftliche Sachverhalte strittig sind, die von den Verwaltungsgerichten im summarischen Verfahren in der Regel nur kursorisch erörtert werden, so daß das Bundesverfassungsgericht genötigt sein könnte, auf ungesicherten tatsächlichen Grundlagen weitreichende Entscheidungen treffen zu müssen - eine Gefahr, die das Gericht bekanntlich auch in sonstigen Fällen und auch in anderen Beziehungen zu Recht zur Zurückhaltung gemahnt hat; und dort, wo es in früherer
Zahlreiche Nachweise in B V e r f G E 53, 30 (52) sowie Ε 59, 63 (82). B V e r f G , Beschl. v. 4 . 1 0 . 1 9 8 2 - 2 B v R 390/81 - N V w Z 1983, 29 unter Hinweis auf B V e r f G E 51, 130 (138 ff.), 53, 30 (52 ff.), 59, 63 (82 ff.). 14 B V e r f G E 53, 30 (52 f.). 12 13
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Rechtsprechung gelegentlich dieser Gefahr doch erlegen war 15 , hatte dies ebenso berechtigte Kritik hervorgerufen. 2. Eine abschließende Klärung des Ausmaßes dieser mit Blick auf den Grundsatz der Subsidiarität gewonnenen Einschränkung ist bisher nicht erfolgt". Gleichwohl hat das Gericht einige indizielle Maßstäbe erkennen lassen. So etwa könne von Bedeutung sein, ob die angegriffene verwaltungsgerichtliche Entscheidung die Hauptsache vorwegnimmt oder nicht 17 . Auch könne (nicht müsse) eine Rolle spielen, ob die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Entscheidung im Verfahren nach § 80 (Abs. 5) V w G O oder in jenem nach § 123 V w G O ergangen ist; denn während die Möglichkeit einer einstweiligen Anordnung den Rechtsschutz um ein zusätzliches Eilverfahren verstärkt, bewirkt die sofortige Vollziehung und die damit möglicherweise verbundene Herbeiführung vollendeter Tatsachen eine Verkürzung des Rechtsschutzes 18 . Allerdings wird bedacht sein wollen, daß zwischen diesen beiden verwaltungsgerichtlichen Bahnen vorläufigen Rechtsschutzes praktisch u . U . nur ein hauchdünner Unterschied bestehen kann; wie etwa der Streit um die Frage gezeigt hat, in welchem Verfahren auf Verwaltungsakte mit Drittwirkung zu reagieren ist". Als weiteres Indiz hat sich in der Judikatur ζ. B. die Frage niedergeschlagen, ob sich die Begründung der angegriffenen verwaltungsgerichtlichen Entscheidung nur auf eine kursorische Prüfung und Beurteilung beschränkt hat oder ob eine (quasi-)definitive Aussage gemacht worden ist, jedenfalls mit einer veränderten verwaltungsgerichtlichen Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr zu rechnen ist20. Auch sonstige Umstände, wie etwa die lange Dauer des gerichtlichen Eilverfahrens sowie des Verfahrens in der Hauptsache, wurden vorsichtig als möglicherweise relevant in Betracht gezogen 21 . Ohnehin leuchtet ein, daß in jenen Fällen, bei denen die verfassungsrechtlichen Angriffe gerade (nur) das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes betreffen, nicht aber das in
Siehe etwa das Diäten-Urteil B V e r f G E 40, 296. " Siehe B V e r f G E 53, 30 (53); 59, 63 (83); Beschl. v. 4 . 1 0 . 1 9 8 2 a . a . O . 17 Hierzu insbes. B V e r f G E 47, 198 (224); vgl. auch die Einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichtes v o m 2 8 . 2 . 1 9 8 3 - 2 BvR 3 4 8 / 8 3 - (Wahlspots); an letzterem Verfahren ist Verf. auf der Seite der Beschwerdeführerin beteiligt. 15
18 Siehe etwa B V e r f G E 53, 30 (53), worin zugleich aber auch die bloße Relativität dieser Unterschiedlichkeit deutlich wird; ebenso B V e r f G E 59, 63 (83).
" Dazu etwa B V e r f G E 51 (268), 281 f. mit zahlr. Nachw. Vgl. bes. B V e r f G E 59, 63 (84 f., sogar zu einer bloßen summarischen Prüfung) sowie Beschl. v. 4 . 1 0 . 1 9 8 2 a. a . O . 21 Siehe Beschl. v. 4 . 1 0 . 1 9 8 2 a. a. O . 20
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der Hauptsache zu beurteilende behördliche Vorgehen, der Subsidiaritätsgedanke keinen Ansatz findet22. 3. Vor allem aber wurde eine Verbindung zu den Strukturen des Gebots der Rechtswegerschöpfung gezogen, genauer gesagt zu den Ausnahmetatbeständen des §90 Abs. 2 BVerfGG. Zu einer Verfassungsbeschwerde, die gegen eine im Verfahren nach §80 VwGO ergangene atomrechtliche Entscheidung gerichtet war, hat der Erste Senat festgestellt: Auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Subsidiarität seien Verfassungsbeschwerden dieser Art „ausnahmsweise dann als zulässig zu behandeln, wenn die Entscheidung von keiner weiteren tatsächlichen Aufklärung abhängt und wenn diejenigen Voraussetzungen gegeben sind, unter denen gemäß § 90 Abs. 2 BVerfGG vom Erfordernis der Rechtswegerschöpfung abgesehen werden kann"23. Einsichtig ist, daß stets dann, wenn einer dieser Ausnahmetatbestände des § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG gegeben ist (allgemeine Bedeutung der Sache, schwerer und unabwendbarer Nachteil für den Beschwerdeführer bei Verweisung auf den anderweitigen Weg), der Grundsatz der Subsidiarität, so die Sache spruchreif ist, dem Beschwerdeführer nicht entgegengehalten werden kann. Das ist streng genommen keine bloße Analogie zu § 90 Abs. 2 BVerfGG, sondern ein Zurückgreifen auf den gemeinsamen Boden, d. h. Strukturverwandtschaft angesichts gleicher Abstammung. Das rechtfertigt sich aus der oben dargelegten Dogmatik: Es bestätigt dies nur die Ähnlichkeit zwischen den Geboten der Rechtswegerschöpfung und jenen sonstigen Ausprägungen des allgemeineren Subsidiaritätsprinzips bei der Verfassungsbeschwerde. Diese sonstigen Ausprägungen wurzeln ihrerseits in einer - oben als ersten bezeichneten gemeinsamen Schicht, welche wiederum, wie dargetan, mitgeformt wird durch die Gedanken der Zumutbarkeit (hier sich spiegelnd in der Rechtsfigur des schweren und unabwendbaren Nachteils) sowie des Allgemeininteresses (hier sich spiegelnd in der Rechtsfigur der allgemeinen Bedeutung). Auch der Blick auf die vergleichbar gebildeten Voraussetzungen im Annahmeverfahren (§ 93 a Abs. 4) BVerfGG lehrt, daß es sich um allgemeinere Aspekte handelt, die an verschiedenen Stellen zur Oberfläche gelangen. Sie müssen dann jeweils sachgerechte Anwendung und damit u. U. Modifikationen erfahren. Auch dies wird hier wichtig; denn die Verneinung einer bloßen Analogie zu §90 Abs. 2 BVerfGG ist zugleich von praktischer Bedeutung: Aus den aufgeführten, dieser Sicht zugrundeliegenden Umständen folgt, daß hier anders als bei §90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG das Vorliegen 22 23
Siehe BVerfGE 53, 30 (54); 59, 63 (83f.); Beschl. v. 4.10.1982 a.a.O. BVerfGE 53, 30 (53 f.).
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der Ausnahmetatbestände das Gericht nicht nur in Gestalt einer Ermessensentscheidung („kann") zur Bejahung der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (in der hier interessierenden Hinsicht) berechtigt, diese Bejahung vielmehr erzwingt. Das scheint im Ergebnis auch die Auffassung der erwähnten Entscheidung des Ersten Senats zu sein24. 4. So einleuchtend daher dieses vom Ersten Senat herausgestellte Ergebnis ist, so wenig wollte es überzeugen, wenn seine zitierte Aussage apodiktisch gelesen werden würde, d. h. in dem Sinne, daß für Verfassungsbeschwerden dieser Art stets zu fordern sei, daß die Voraussetzungen des §90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG gegeben sind. Die Frage ist m. a. W., ob die zitierte Klausel dieser Entscheidung im Sinne von „nur dann zulässig", oder „jedenfalls dann zulässig" zu verstehen ist. Welche Lesart zutrifft, ist unsicher; für die erstere spricht die Art der (allerdings nicht eindeutigen) Formulierung des Satzes, zumal angesichts des Wortes „ausnahmsweise". Gegen sie spricht, wohl mit mehr Gewicht, die Zurückhaltung des Gerichts vor fallübergreifenden allgemeineren Aussagen, die in demselben Zusammenhang betont wird25. Der Zweite Senat jedenfalls hat es in der schon angeführten jüngeren Entscheidung vom 4.10.1982 ausdrücklich dahinstehen lassen, „inwieweit in diesem Zusammenhang auf die Bestimmung des § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG zurückgegriffen werden kann". Andererseits hat der Zweite Senat in der noch jüngeren Entscheidung BVerfGE 62, 338 (342) gegenüber dem Subsidiaritätseinwand bemerkt: „Das Bundesverfassungsgericht kann entsprechend § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG sofort entscheiden, weil die Verfassungsbeschwerde von allgemeiner Bedeutung ist". Μ. E. muß bei Spruchreife der Sache das Vorliegen der genannten Ausnahmetatbestände stets genügen, doch ist ihr Vorliegen andererseits nicht notwendig. Auch dies folgt aus den dargelegten allgemeineren Zusammenhängen sowie aus zusätzlichen Gründen: Namentlich wird bedacht werden müssen, daß im Falle jener apodiktischen Lesart das Prinzip der Subsidiarität ein Gewicht und eine Rigidität erhielte, wie sie vom positiven Gesetz nur dem Gebote grundsätzlicher Rechtswegerschöpfung beigemessen wurde. Auch insoweit zeigt sich die Unangemessenheit einer bloßen platten Analogie. Man kann nicht daran vorbeigehen, daß das BVerfGG, indem es die Rechtswegerschöpfung ausdrücklich als Verfahrensbarriere hingestellt hat, diese Barriere ausschließlich auf das jeweilige Verfahren beschränkt26. Zwar wird damit das Prinzip der Subsidiarität nicht verdrängt und behält seine unge24 25 26
Vgl. a . a . O . : „ . . . sind ausnahmsweise dann als zulässig zu behandeln". Siehe a. a. O . 53 („bedarf . . . keiner abschließenden Erörterung"). Vgl. in dieser speziellen Hinsicht auch BVerfGE 59, 63 (82 sub 2 a).
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schrieben wirkende Kraft. Doch ist es etwas anderes, darüber hinaus zu verlangen, daß Verfassungsbeschwerden dieser Art auch in Richtung der allgemeinen Subsidiaritätsvorstellungen stets die besonderen Befreiungsvoraussetzungen erfüllen müssen, wie sie so nur im Blick auf das begrenzte Territorium der Rechtswegerschöpfung positivgesetzlich formuliert worden sind. Beides kann man nicht über einen Kamm scheren, es sei denn, zwingende Sacherfordernisse aus dem Arsenal des Subsidiaritätdenkens deuteten ebenfalls auf dieses Ergebnis. Dies aber wird man kaum behaupten dürfen; denn daß derartige Verfassungsbeschwerden auch aus sonstigen guten (indiziellen) Gründen für zulässig gehalten werden können, folgt unmittelbar aus dem hierzu Gesagten. Allerdings reflektieren diese Gründe teilweise auch nichts anderes als das Gedankengut des § 90 Abs. 2 BVerfGG in etwas näherer Gestalt. Und andererseits bildet das beibehaltene zusätzliche Kriterium der Spruchreife27 ein wichtiges Regulativ; es erhält zusätzliche Farbe aus dem von Zacher2S konturierten allgemeineren Gesichtspunkt möglichster Bewahrung der „Integrität der je konkreten Sach- und Rechtszusammenhänge". Die Entfernung zu § 90 Abs. 2 BVerfGG wird also nicht zu groß. Es muß mithin zur Uberwindung des Subsidiaritätseinwands genügen, wenn eine der beiden Befreiungsvoraussetzungen (entsprechend § 90 Abs. 2 BVerfGG) gegeben ist; sie müssen aber nicht stets vorliegen, um gleichwohl je nach Eigenart des Falls eine Verfassungsbeschwerde dieser Art für zulässig halten zu können. IV. Anders gelagerte, jedoch im Subsidiaritäts-Grunde nicht unähnliche Fragen stellen sich für das österreichische Recht zusätzlich unter einem besonders delikaten Aspekt; und zwar angesichts der Einführung der Individualbeschwerde (Individualantrags) gegen Normen. Dieses Institut wurde durch die Bundesverfassungsgesetz-Novelle BGBl. 302/1975 mit Wirkung vom 1.7.1976 (Art. 140 Abs. 1 letzter Satz B-VG) geschaffen. Hierzu können natürlich nur Andeutungen erlaubt sein, ohne sich zu mehr als Hinweisen für mögliche Erkundungswege des österreichischen Rechts vermessen zu wollen. 1. Während früher in Osterreich keine Möglichkeit eines vollentsprechenden direkten Individualrechtsschutzes gegen Gesetze bestand, erkennt nunmehr der Verfassungsgerichtshof über die Verfassungs-
27 BVerfGE 59, 63 (84) sowie der Beschl. v. 4.10.1982 a. a. O . sprechen vom Erfordernis weiterer tatsächlicher Klärungen. 2 ' A . a . O . S.399ff., 418ff. Dazu auch Lerche in K.Vogel (ed.), Grundrechtsverständnis und Normenkontrolle, 1979, S. 24 ff. (27 ff.).
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Widrigkeit von Gesetzen (und Verordnungen) auf Antrag einer Person, die unmittelbar durch diese Verfassungswidrigkeit in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, sofern das Gesetz ohne Fällung einer gerichtlichen Entscheidung oder ohne Erlassung eines Bescheides für diese Person wirksam geworden ist. Diese Eröffnung der Individualbeschwerde gegen Gesetze wollte die Nachteile einer jedermann zustehenden Popularklage vermeiden, andererseits aber doch dann Individualrechtsschutz direkt gegen Gesetze lückenschließend gewähren, wenn ein anderer in Betracht kommender Rechtsweg ausscheidet29. Die ohne vollendete Durchsichtigkeit formulierte Bestimmung fand ihr ungefähres Vorbild in der deutschen Regelung (§§90ff. BVerfGG); genauer gesagt: in der Ausprägung, die die deutsche Regelung in der Hand der deutschen Verfassungsjudikatur gefunden hat30. Angriffe der Grundrechtsträger sind nach dieser deutschen Praxis bekanntlich dann unmittelbar gegen ein formelles Gesetz zulässig, wenn der Beschwerdeführer durch das Gesetz selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen ist31. Nach der deutschen Rechtslage kommt es also entscheidend (neben der gegenwärtigen Betroffenheit in eigenen Rechten) auf die unmittelbare Betroffenheit durch das Gesetz an. Ist sie gegeben, so erübrigt sich in der Bundesrepublik die Frage nach einem vorzuschaltenden Rechtsweg, da gegen Gesetze ohnehin ein anderer Rechtsweg nicht zur Verfügung steht. Auch in Osterreich gibt es unmittelbar gegen Gesetze kein anderes gerichtliches Verfahren des Bürgers. Dadurch nun, daß die österreichische Regelung einerseits selbständig von der Notwendigkeit „unmittelbarer" Rechtsverletzung spricht, andererseits jedoch zusätzlich auf die Notwendigkeit des Entfallens anderer Rechtsschutzmöglichkeiten verweist und dabei zugleich dem deutschen Vorbild folgen will, müssen sich infolgedessen erhebliche Auslegungsprobleme ergeben32. 2. Diese Probleme werden zunächst dann etwas vermindert, wiewohl nicht beseitigt, erblickt man im „Sofern-Satz" lediglich eine authentische 2 9 Hierzu die ausführliche Darstellung bei Herbert Haller, Die Prüfung von Gesetzen, Wien 1 9 7 9 ; siehe ferner besonders etwa Raschauer, Verfassungsbeschwerde gegen Rechtssätze D Ö V 1976, 6 9 8 f f . ; den., Unmittelbare Gesetzesanfechtung durch einzelne in Österreich, E u G R Z 1977, 2 6 2 f f . ; siehe auch Ermacora JB1 1976, 79ff. u . a . m .
So zu Recht Raschauer D Ö V 1976, 698. Vgl. zum Einfluß der deutschen Regelung insbes. Haller 232 f., 2 4 2 f . ; Raschauer D Ö V 1976, 698 ff. 30 31
a . a . O . , S . 2 1 1 , 217ff.,
32 Hinzukommt, daß, wie Walter-Mayer, Grundriß des österreichischen Bundesverfassungsrechts, 1976, 2 6 7 treffend formulieren, die Frage, wann die Voraussetzungen der Individualbeschwerde vorliegen, „nur nach eingehenden Überlegungen beantwortet werden" könne, „die von der - diesen Prüfungsfall einführenden - Gelegenheits-Verfassungsgesetzgebung, soweit ersichtlich, nicht vorgenommen wurden".
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Interpretation des Erfordernisses der unmittelbaren Betroffenheit". Damit würde sich zugleich das österreichische Verfassungsrecht der Praxis des deutschen Bundesverfassungsgerichts annähern34. Andererseits ist diese Deutung literarisch nicht unumstritten35. Vor allem vermag auch sie nicht zu erklären, was es näher bedeuten soll, daß die Individualbeschwerde an die mangelnde Möglichkeit der „Fällung einer gerichtlichen Entscheidung" geknüpft ist. Hält man sich aber an die konkreten Maßstäbe und Fingerzeige, die aus der österreichischen Praxis erkennbar sind und ergänzt sie durch weitere Überlegungen aus dem Munitionsdepot des Subsidiaritätsgedankens, so mag man einen Schritt weiterkommen: 3. Die für diesen Bereich zentrale Entscheidung des österreichischen Verfassungsgerichtshofes - der Beschluß ZfVB 1977/4/1761 - verlangt in der hier interessierenden Richtung zunächst, daß der Eingriff nicht nur „aufgrund" des angefochtenen Gesetzes erfolgt, sondern unmittelbar durch das Gesetz selbst bewirkt wird, wobei die Rechtssphäre des Antragstellers nicht bloß potentiell, sondern aktuell beeinträchtigt sein müsse. Einschränkend bemerkt der Beschluß: „Die Entstehungsgeschichte der B-VG-Novelle BGBl. Nr. 302/1975 läßt ferner den Schluß zu, daß der durch sie eingeführte Rechtsbehelf dazu bestimmt ist, Rechtsschutz gegen rechtswidrige Normen nur insoweit zu gewähren, als ein anderer zumutbarer Weg hierfür nicht zur Verfügung steht"36. Damit rückt der Verfassungsgerichtshof das Merkmal der Unzumutbarkeit anderweitiger Rechtsverfolgung in den Mittelpunkt37. Der Gerichtshof nimmt also in etwas modifizierter Gestalt in der Sache Gedanken auf, die in der deutschen Verfassungsrechtsprechung zu den beherrschenden Leitlinien der Handhabung des Subsidiaritätsgebots zählen und insbesondere im ausnahmsweisen Verzicht auf eine - an sich mögliche und notwendige - Rechtswegerschöpfung ihren Niederschlag gefunden haben. 4. Daraus läßt sich als erstes ableiten, daß der Zumutbarkeitsaspekt beide Voraussetzungstatbestände des maßgeblichen „Sofern"-Satzes zusammenschweißt, d. h. den Tatbestand „ohne Fällung einer gerichtlichen Entscheidung" mit dem Tatbestand „ohne Erlassung eines Beschei33 Raschauer D Ö V 1976, 702 und EuGRZ 1977, 263 mit Hinweis auf die sogleich zu referierende Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes. 34 Raschauer D Ö V 1976, 702. 35 Siehe nur Haller a. a. O. S. 239 mit Anm. 317, auch S. 232 f. 36 Dasselbe gilt für die Anfechtung von Verordnungen, vgl. Walter-Mayer, a. a. O., S.267, 272. 37 Ebenso die eigene Ansicht Hallers, a. a. O., S. 233. Kritisch Raschauer EuGRZ 1977, 263 f.
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des". Sie sind zwar etwas leichthändig durch das Wörtchen „oder" verbunden. Das deutet auf eine alternative Verbindung. Folgt man jedoch den Pfaden des in der zitierten Entscheidung herausgehobenen Grundgedankens, so kann nur eine kumulative Verbindung gemeint sein: Stets dann, wenn dem Beschwerten zugemutet werden kann, andere Entscheidungen abzuwarten, bevor der Angriff unmittelbar gegen das Gesetz erfolgt, soll er auch abwarten müssen. 5. Darüber hinaus läßt sich erkennen, was unter „Fällung einer gerichtlichen Entscheidung" zu verstehen ist. Nicht gemeint sein kann ein anderer Rechtsweg unmittelbar gegen das Gesetz als solches, da es auch in Osterreich, wie bemerkt, einen solchen Rechtsweg nicht gibt. Andererseits kann auch nicht gemeint sein, daß stets dann, wenn das (bereits unmittelbar eingreifende) Gesetz konkrete Rechtsverhältnisse in bezug auf den Beschwerten erzeugt, die anderweitiger gerichtlicher Klärung zugänglich sind, diese Prozesse durchgeführt werden müßten; denn gerichtliche Möglichkeiten dieser Art werden praktisch so gut wie stets möglich sein. Wollte man die Ausschöpfung dieser Möglichkeiten fordern, so wäre für die Individualbeschwerde kaum irgendein sinnvoller Raum. Also kann dies keine vernünftige Deutung abgeben38. Greift man aber in den Gedankenschatz des Subsidiaritätsprinzips und verbindet man dies insbesondere mit dem überwölbenden Aspekt der Zumutbarkeit, so zeigt sich: Gemeint sein dürfte, daß dann, wenn zur verfassungsgerichtlichen Beurteilung des Gesetzes anderweitige gerichtliche Klärungen sinnvoll und dem Beschwerdeführer gegenüber (auch in zeitlicher Hinsicht) zumutbar erscheinen, diese auch zunächst vorgenommen werden müssen. Diese Klärungen können sich freilich primär (als Streitgegenstand) nur auf die Beurteilung der durch das Gesetz ausgelösten konkreten Rechtsverhältnisse beziehen. Dabei kann namentlich der oben berührte Gesichtspunkt der (mangelnden) verfassungsgerichtlichen Spruchreife wichtig werden. Kann ζ. B. erst nach näherer (fach-)gerichtlicher Klärung die tatsächliche Tragweite des Gesetzes gegenüber dem Betroffenen erkannt werden, so wäre der sofortige Weg zum Verfassungsgerichtshof regelmäßig verfrüht. Vermutlich wird Entsprechendes nicht nur bei tatsächlicher, sondern auch bei rechtlicher Unausgereiftheit der Situation gelten. So verstanden wird der Fall ins Auge gefaßt werden müssen, daß das Gesetz über einen besonders breiten Interpretationsspielraum bzw. zahlreiche unterschiedliche Anwendungsmöglichkeiten verfügt. " Adamorich-Funk, Österreichisches Verfassungsrecht, 1982, S. 293 fassen die österreichische Praxis mit folgenden Worten zusammen: „Ein bereits laufendes Gerichts- oder Verwaltungsverfahren . . . schließt einen parallelen Individualantrag in der Regel (!) aus" (m. Nachw.).
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Dann kann es als sinnvoll und damit zugleich als notwendig erscheinen, zunächst die Fachgerichte mit dem Problem zu bemühen, inwieweit verfassungskonforme Handhabungen das Gesetz gewissermaßen zu entschärfen vermögen. Dafür gibt es auch in der deutschen Judikatur auffällige Parallelen 39 . Daß sich Gesichtspunkte der Zumutbarkeit zugleich mit solchen der allgemeinen Bedeutung (= bald zu erlangender Rechtssicherheit für eine Vielzahl von Fällen) verbinden können, dürfte ebenfalls zu honorieren sein. Dafür liefern die entstehungsgeschichtlichen Beratungen in Osterreich Illustrationen. So wurde ζ. B. im Verlauf der Entstehungsgeschichte der Novelle als Fall, für den ein Individualantrag in Betracht kommt, mehrfach die Legalenteignung genannt 40 . Daß hier weiche Grenzen bestehen, ist bedauerlich, aber überall dort nicht ungewöhnlich, wo der Zumutbarkeitsaspekt regiert und es gilt, Subsidiaritätsfragen zu bedenken.
" Siehe besonders die Kirchenmusik-Entscheidung B V e r f G E 49, 382 (405). Ä l t e r e Stimmen bei Raschauer E u G R Z 1 9 7 7 , 2 6 3 , A n m . 17. 40 Hinweise bei Haller a. a. O . 2 3 4 ; vgl. auch Ermacora a. a. O . 81.
Savigny und die Historische Schule U L R I C H VON L Ü B T O W *
Die Gründung der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin vor 150 Jahren in der Zeit tiefen politischen Niedergangs stand im Zeichen des Ringens um die geistige Freiheit. Nach den Worten ihres königlichen Gründers, Friedrich Wilhelms III., sollte „der Staat durch geistige Kräfte ersetzen, was er an physischen verloren" hatte. Der König stellte den Grundsatz „der Erhaltung und Gewinnung der ersten Männer jedes Fachs" ein für allemal an die Spitze. Dementsprechend hatte der geistige Schöpfer der Universität, Wilhelm von Humboldt, dem König Savigny als denjenigen empfohlen, „von welchem der König die Vertiefung des Rechtsbewußtseins, die richtige Behandlung und Leitung des ganzen Studiums der Jurisprudenz erwarten dürfe". Friedrich Carl von Savigny, geboren am 21. Februar 1779 in Frankfurt a. M., entstammte einem begüterten Geschlecht, das dem lothringischen Reichsadel angehörte und dann in westdeutschen Dynastendiensten stand. 1803 zum Professor für römisches Recht in Marburg ernannt, wurde er nach mehreren Studienreisen 1808 an die Universität Landshut berufen. Den Ruf an die neugegründete Universität Berlin erhielt er 1810. Er zögerte keinen Augenblick, ihm Folge zu leisten. 1811 trat er als ordentliches Mitglied in die historisch-philosophische Klasse der Akademie der Wissenschaften ein. Bald verband ihn echte Freundschaft mit Barthold Georg Niebuhr (1776-1831), der eine kritische Erforschung des Altertums begründete und dessen Vorlesung über römische Geschichte Savigny am Anfang seiner Berliner Zeit begeistert hörte. Nachdem der erste Rektor, der Philosoph Fichte, auf die Fortführung des Rektorats verzichtet hatte, wurde Savigny durch das besondere
* Den Vortrag „Savigny und die Historische Schule" habe ich auf Wunsch der Juristischen Fakultät der Freien Universität Berlin und der Juristischen Gesellschaft e. V. Berlin am 24. November 1961 im Auditorium Maximum zum Gedächtnis an den vor 100 Jahren verstorbenen großen Gelehrten gehalten. Der Vortrag wurde auch - in verkürzter Form - bei zwei Immatrikulationsfeiern unter dem Rektorat von Prof. Dr. Eduard Neumann gehalten. Der Umfang war genau beschränkt. Die Anmerkungen mußten fortbleiben, u m Raum zu gewinnen. Ich hoffe, es wird mir einmal vergönnt sein, den Umfang zu erweitern und dann die Anmerkungen hinzuzufügen. Z u r Zeit ist es mir unmöglich, das volle Spektrum wissenschaftlicher Meinungen wiederzugeben.
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Vertrauen seines Königs am 16. April 1812 zum Rektor berufen. Er bekleidete dieses Amt bis zum 18. Oktober 1813, dem Tage der Leipziger Schlacht, später niemals wieder „behufs Wahrung schönsten Gedächtnisses". Zur Erinnerung an das Rektorat ist ein Standbild Savignys aus der Meisterhand Hugo Lederers vor dem Aulagebäude der Universität aufgestellt worden. An der Berliner Universität hat Savigny mehrere Jahrzehnte eine hervorragende Lehr- und Forschungstätigkeit entfaltet. Zu seinen Ehren wurde später der Savignyplatz benannt. In Marburg war 1803 sein erstes Hauptwerk erschienen, das „Recht des Besitzes". Es erwies ihn mit einem Schlage als einen der bedeutendesten deutschen Zivilrechtler. In Berlin entstanden seine beiden anderen Hauptwerke: die „Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter" (8 Bände) und das „System des heutigen römischen Rechts" (8 Bände). Im Jahre 1814 formulierte er in der Schrift „Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft" das Programm der Historischen Schule, das sich gegen den Vorschlag des Heidelberger Professors Thibaut richtete, eine deutsche Privatrechtskodifikation zu schaffen. Im Hörsaal zeigte Savigny die Anwendbarkeit der römischen Rechtssätze für das praktische Rechtsleben. Sein Vortrag begeisterte die jungen Juristen immer wieder. Ihering vergleicht ihn dem Fluß in der Ebene, „durchsichtig, klar bis auf den Grund, nie ein Sprudeln und Schäumen wie beim Gebirgsbach". Mit dem Jahre 1842 schied Savigny aus der Fakultät aus, um das Amt des Ministers für Gesetzesrevision zu übernehmen. Im Sturmjahr 1848 legte er es nieder, kehrte aber nicht mehr auf seinen Lehrstuhl zurück, sondern nahm die Arbeit an seinem System wieder auf. Am 25. Oktober 1861 verstarb er in Berlin im Alter von 82 Jahren. Der hundertjährigen Wiederkehr seines Todestages zu gedenken, ist nicht nur ein Akt der Pietät, durch den der Juristenstand sich selber ehrt, wenn er die Erinnerung an Savigny wach erhält, sondern auch von unmittelbarer Bedeutung. Denn „die moderne Rechtswissenschaft beginnt mit Savigny und seinen Mitarbeitern und seinen Gegnern, weil alles, was vorangegangen ist, dadurch vermittelt wird. Das ist vornehmlich im Privatrecht und in der Rechtsgeschichte so . . . " . Mögen Savignys zahlreiche Schriften in Einzelheiten überholt sein, sie bleiben repräsentativ. Er bildet in der Entwicklung der Rechtswissenschaft einen kopernikanischen Wendepunkt und gehört zu den großen Führern der Jurisprudenz Kontinentaleuropas. Seine Wirkungen strahlen aber auch hinaus in den anglo-amerikanischen Rechtskreis. Bedeutsamer als alle Einzelergebnisse seiner Arbeit ist einmal seine großartige von der Entwicklungsidee beherrschte Lehre vom geschichtlichen Werden und Wandeln des Rechts, zum andern seine systematische Dogmatik geworden. In seiner
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berühmten Programmschrift wendet sich Savigny gegen den ungeschichtlichen und wirklichkeitsfernen Rationalismus des „selbstklugen" 18. Jahrhunderts und stellt das Recht mitten hinein in das geschichtliche Dasein des Volkes. Schon als Zwanzigjähriger hat Savigny den Plan gefaßt, „ein Reformator der Jurisprudenz, ein Kant in der Rechtsgelehrsamkeit zu werden". Friedrich Creuzer nennt ihn in einem Brief vom Jahre 1804 „eine durchaus systematische Natur, der sich sein ganzes wissenschaftliches Leben schon nach bestimmten Grenzen abgesteckt" habe. Alle seine literarischen Pläne seien schon entworfen. In der Tat hat Savigny diese Pläne mit größter Anspannung des Willens und zielbewußt in jahrzehntelanger Arbeit verwirklicht und zum Teil erst in hohem Alter vollbracht, was ihm schon in der Jugend vorschwebte. Auch Savignys Charakterbild hat sich erstaunlich früh vollendet. Seinem innersten Wesen entsprach die Hinwendung zur Antike, insbesondere zum römischen Recht. Die intensive Berührung mit der Welt der klassischen römischen Jurisprudenz und Goethe haben ihn entscheidend geformt. Die Auffassung der römischen Klassiker von ihrem Beruf als Gottesdienst am Recht wird von Savigny geteilt. Der Charakter der Klassiker ist schlicht und ernst, ein Bild männlicher Würde und Herbheit, äußerster Selbstbeschränkung, strengster Selbsterziehung, beruhend auf dem festen Grunde geistiger Selbstzucht. Ein tiefes Gefühl für Ernst und Würde erfüllte auch Savigny, ein Gefühl, das sich allmählich zur Feierlichkeit in Haltung und Sprechweise steigerte. Maßhalten und Harmonie bildeten sein ausgeglichenes Lebensgefühl. Ruhige Besonnenheit, Toleranz und menschliche Hilfsbereitschaft zeichneten ihn ebenso aus wie die völlige Hingabe an seine Wissenschaft und ein unbedingtes Wahrheitsstreben. Man kann Savigny nicht zu den Romantikern rechnen, obwohl er durch seine 1803 geschlossene Ehe mit Kunigunde Brentano zu den Häuptern der jüngeren Heidelberger Romantik, Clemens Brentano und Achim von Arnim, in nähere Beziehungen kam. Die Romantik war eine Bewegung, ein Lebensgefühl von schillernder Vielseitigkeit und erheblicher Spannweite. Ihre Idee des Organischen, das Erlebnis des Volkes und seines Geistes, ihre Ehrfurcht vor der Vergangenheit, vor der unzerreißbaren Kontinuität geschichtlichen Werdens als einer Emanation der Volksseele haben Savigny stark beeinflußt. Dagegen ließen ihn der Gefühlsüberschwung, das Flatterhafte und Phantastische, das Schwärmen für die „blaue Blume" und „mondbeglänzte Zaubernächte" unberührt. Seinem innersten Wesen nach war er ein humanistischer Klassizist, ein Geistesverwandter Goethes, mit dem man ihn oft verglichen hat. Dabei muß man bedenken, daß deutsche Klassik und deutsche Romantik keine schroffen Gegensätze sind, sondern ineinander überflie-
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ßen. Insbesondere bestand zwischen Savigny und der römischen Jurisprudenz eine Wahlverwandtschaft, die auf innigem, vertrauten Umgang mit ihr beruhte. Seiner konservativ-historischen Weltanschauung entsprechend verabscheut Savigny jede revolutionäre und reaktionäre Gewaltsamkeit, wird aber auch ein beredter Verteidiger der errungenen städtischen und der akademischen Freiheit in den kritischen Zeiten der dreißiger Jahre. Die Literatur zu Savignys Leben und Werk ist an Inhalt und Umfang ungemein reichhaltig; sie setzt sich bis in unsere Tage fort. Seine Lehren sind viel bewundert, aber auch viel gescholten worden. In den zahlreichen zur jeweiligen Wiederkehr seines Geburts- und Todestages gehaltenen Gedenkreden überwiegt das Lob den Tadel. Das außerdem erschienene Spezialschrifttum birgt aber manch herbe Kritik. In vielen grundlegenden Fragen herrscht bis heute keine Einigkeit. Wenn Savigny immer aufs neue hier Verehrung und Nachfolge, dort Gegnerschaft und Ablehnung findet, so zeigt diese Reaktion gerade die Größe seiner geschichtlichen Erscheinung. Nur durch Selbstzeugnisse aus seinen Werken und Briefen, und zwar möglichst mit seinen Worten, kann es gelingen, eindeutig aufzuhellen, was Savigny wirklich gedacht, gewollt und erstrebt hat, welche tragenden Gedanken für sein Forschen und Lehren in Berlin bestimmend gewesen sind. Zunächst muß dazu freilich ein Blick auf die Geistesgeschichte des 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts geworfen werden; denn nur auf diesem Hintergrund lassen sich Savignys Lehren verstehen. Das geistige Weltbild des 18. Jahrhunderts beruht überall auf rationalen Konstruktionen, die an den konkreten Besonderheiten, der Fülle und dem Reichtum des wirklichen Lebens in Vergangenheit und Gegenwart vorbeigehen. Die großen Bewegungen des Naturrechts, der Aufklärung und der liberalen Nationalökonomie legen das Bild des abstrakten Menschen zugrunde, der überall dasselbe ist, der seinen Trieben und Neigungen folgt, gezügelt und gelenkt von der ihm innewohnenden Vernunft. In der Staatslehre bekennt man sich zum Dogma des aus einem Vertrag der Individuen entstandenen Staates, im Recht erblickt man das Produkt der menschlichen Vernunft, das dem Anspruch auf Freiheit und Eigentum der einzelnen dient, der Bereich der Wirtschaft wird dem eigengesetzlichen Schalten und Walten des homo oeconomicus überlassen, der dort seinem Verlangen nach Gewinn und Erwerb folgt. Im ganzen gesehen bleibt trotz Voltaire, Montesquieu und Vico dem Zeitalter des Rationalismus der geschichtliche Sinn verschlossen; es erklärte die Vernunft zur einzig maßgebenden Norm der Bildung von Staat und Gesellschaft, Recht und Wirtschaft; es verwarf, soweit überhaupt Geschichtsforschung betrieben wurde, von der Geschichte alles, was vor dem Richtstuhl der eigenen Zeit nicht bestehen konnte. Es erhob den Anspruch auf
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Universalität seiner Vernunftkultur. Als grundlegende Rechtsquelle gilt der herrschenden Lehre des 18.Jahrhunderts die staatliche Gesetzgebung, von der ein rechtlicher Brauch erst sanktioniert werden müßte, um Geltung zu haben. Man glaubt, die menschliche Vernunft sei nunmehr dahin gelangt, ein schlechthin vollkommenes, ein für alle Menschen gleiches Recht zu schaffen. Der Gedanke eines Idealrechts, das nach den Worten Schillers droben im Himmel in makelloser Reinheit existiert, hat seiner Zeit segensreich gewirkt. An seinem Maßstab wurde alles Bestehende gemessen, es deckte seine Blößen und Schwächen auf, weckte das Gewissen der Regierungen, erzwang die Abschaffung veralteter Rechtsinstitute, nötigte zu zeitgemäßen Reformen. Seit Anfang des 19. Jahrhunderts begann die Entdeckung der geschichtlichen Welt der Reaktion gegen den dogmatischen Rationalismus des 18., seine willkürlichen Eingriffe, seine abstrakten Normungen. Ihm wird ein geschichtlich orientiertes Weltanschauungssystem von bestimmter Struktur entgegengesetzt. Die Geschichte gilt jetzt als ewiger Urgrund aller gesellschaftlichen und individuellen Existenz. Der Glorienschein der Vernunft verblaßt, es erhebt sich die Stimme der Geschichte. Es gilt, durch umfassende empirische Forschungen die geschichtlichen Fundamente der abendländischen Kultur zu enthüllen, ihr organisches Werden und Wachsen aufzuzeigen. Die Geschichte offenbart sich nicht in Manifestationen der Vernunft, sondern sie wächst aus den Emanationen des Geistes der Völker und Nationen empor. Das Bekenntnis zur Geschichte, ihrer Formen- und Farbenpracht, mündet ein in das Bekenntnis zum Volk. Aus seinen verborgenen, mit dem Verstände allein nicht faßbaren Anlagen entströmen die lebendigen Quellen des menschlichen Zusammenlebens. In solcher Hingabe an die Idee der Geschichte kündet sich „eine der größten geistigen Revolutionen an, die das Abendland erlebt hat". Sie verkörpert sich vor allem in der Historischen Rechtsschule und später der Historischen Schule der Nationalökonomie. Savigny, der Begründer der Historischen Rechtsschule, wird von dieser gewaltigen Geistesrichtung erfaßt, er hat nicht erst die Geschichtlichkeit der Welt entdeckt. „Geschichtlicher Sinn ist überall erwacht", so ruft er in seiner Programmschrift aus. Er verweist auf Gustav Hugo und Justus Moser, dessen Andenken hohe Ehre gebühre, da er „mit großartigem Sinn überall die Geschichte zu deuten suchte, oft auch in Beziehung auf bürgerliches Recht". Aber erst Johann Gottfried Herder (1744-1803) hat mit seinem Werk „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" den vollen Durchbruch zur geschichtlichen Welt vollzogen. Die Geschichte betrachtet er als Kontinuum, in dem vielfältige Fäden Gegenwärtiges und Vergangenes miteinander verknüpfen, als etwas Einmaliges und
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ohne Wiederkehr. Wenngleich der Gedanke des Geistes der Nationen schon vor Herder begegnet, vor allem bei Montesquieu, so hat doch der metaphysische Gehalt der Idee des Volkes und seines geschichtsbildenden Geistes nirgends eine derart tiefe Analyse gefunden wie bei Herder. Wie Sprache und Religion, so ist auch das Recht ein Erzeugnis der Uberlieferung, in fortwährender Um- und Neubildung begriffen, verschieden bei allen Völkern, abhängig von den verschiedenen natürlichen, sozialen und politischen Bedingungen. Herders Werk hat die Romantik tief beeindruckt. Auch sie wendet sich gegen das verstandesmäßig-nüchterne, mechanistische Wesen der Aufklärung. Sie stellt ihrem geschichtsfremden konstruktiven System das Prinzip des Gefühls, des intuitiven Erschauens, des Organischen und Mannigfaltigen, des Naturgemäßen und historisch Gewordenen, des Altertümlichen und Ehrwürdigen, des Volkstümlichen und Nationalen entgegen. Daraus erhellt, daß die geistesgeschichtlichen Wurzeln der Historischen Rechtsschule eng mit der Romantik verflochten sind. Savigny erwähnt Herder allerdings mit keinem Wort. Die Grundanschauungen des geschichtlichen Weltbildes Herders waren eben damals schon ins allgemeine Bewußtsein übergegangen, was durch Goethe bezeugt wird. Den äußeren Anlaß zur Gründung der Historischen Schule bot ein Streit zwischen Savigny und dem Heidelberger Professor Anton Friedrich Thibaut (1772-1840). Unter dem frischen Eindruck der Befreiungskriege, aus patriotischer Begeisterung veröffentlichte Thibaut im Jahre 1814 eine Schrift, betitelt „Über die Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland". Er forderte darin ein einheitliches Gesetzbuch für das Privat- und Strafrecht sowie den Prozeß. Thibauts Schrift hat ihren Zweck nicht erreicht. Infolge der Situation Deutschlands während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit seiner nationalen Zerrissenheit, seiner politischen Ohnmacht und wirtschaftlichen Verarmung konnte sie es auch nicht. Wenn ein deutsches Gesetzbuch damals ausblieb, so war das also nicht die Folge der historischjuristischen Argumentation Savignys, mit der er Thibauts Vorschlag widersprach. Nur literarisch hat Savigny mit seiner viel großartigeren und durchdachteren geschichtlichen Gesamtauffassung den Sieg davongetragen. Aber keine andere Zeit der deutschen Rechtsgeschichte hat eine so umfangreiche gesetzgeberische Tätigkeit erlebt wie die zweite Hälfte des 19.Jahrhunderts. Vielleicht würde Savigny diese Tatsache nicht als Widerlegung betrachten und die eifrige Gesetzesproduktion für abwegig halten. Jedenfalls blieb der Gedanke, im Wege der Gesetzgebung die deutsche Rechtseinheit zu schaffen, weiterhin im Vordringen. Am 1. Januar 1900, dem Tage des Inkrafttretens des Bürgerlichen Gesetzbuches, hat Thibaut über Savigny einen späten Sieg gefeiert.
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Dabei ist allerdings zu bedenken, daß die geistigen Vorbedingungen für das Gesetzgebungswerk erst durch die erneuerte Zivilrechtswissenschaft geschaffen worden sind, die ihre Blüte Savigny und seiner Schule verdankt. Ebenfalls noch im Jahre 1814 ließ Savigny eine Schrift „Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft" erscheinen, mit der er Thibauts Vorschlag ablehnte und nicht nur seiner, sondern jeder Zeit den Beruf zur Kodifikation absprach. Hier gibt er seine längst gefaßten und ausgereiften Gedanken über das geschichtliche Wesen des Rechts bekannt und skizziert die Hauptlinien seiner Entwicklung. Die Schrift bildet die Geburtsurkunde der Historischen Rechtsschule; sie wurde zu ihrem Glaubensbekenntnis. Schon in der einleitenden Kritik wendet sich Savigny scharf gegen die geschichtslose rationalistische Rechtsauffassung der überkommenen Epoche. Er weist darauf hin, daß sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts „ein völlig unerleuchteter Bildungsbetrieb" in ganz Europa geregt habe". „Sinn und Gefühl für die Größe und Eigentümlichkeit anderer Zeiten, so wie für die naturgemäße Entwicklung der Völker und Verfassungen, also (für) alles, was die Geschichte heilsam und fruchtbar machen muß, war verloren: an die Stelle getreten war eine grenzenlose Erwartung von der gegenwärtigen Zeit, die man keineswegs zu etwa geringerem berufen glaubte, als zur wirklichen Darstellung einer absoluten Vollkommenheit". Man verlangte neue lückenlose Gesetzbücher, die den Richter auf die buchstäbliche Anwendung beschränken, die sich aber gleichzeitig „aller historischen Eigentümlichkeit enthalten und in reiner Abstraktion für alle Völker und alle Zeiten gleiche Brauchbarkeit haben" sollten. Man überschätzte „in bodenlosem Hochmut" die Leistungsunfähigkeit des eigenen Zeitalters. Alles Recht leitet man aus Gesetzen ab. Lediglich mit ihnen hat sich die Rechtswissenschaft zu befassen. Demnach sind sowohl Gesetzgebung wie Rechtswissenschaft „von ganz zufälligem, wechselndem Inhalt, und es ist sehr wohl möglich, daß das Recht von morgen dem von heute gar nicht ähnlich sieht". Es liegt die Überzeugung zugrunde, „daß es ein praktisches Naturrecht oder Vernunftrecht gebe, eine ideale Gesetzgebung für alle Zeiten und alle Fälle gültig, die wir nur zu entdecken brauchten, um das positive Recht für immer zu vollenden". Diesem juristischen Rationalismus stellt Savigny nun die geschichtliche Entstehung des Rechts entgegen. Wie die urkundliche Geschichte zuerst zeigt, hat „das bürgerliche Recht schon einen bestimmten Charakter, dem Volk eigentümlich, so wie seine Sprache, Sitte, Verfassung". Sie alle „haben kein abgesondertes Dasein, es sind nur einzelne Kräfte und Tätigkeiten des einen Volkes, in der Natur untrennbar verbunden, und nur unserer Betrachtung als besondere Eigenschaften erscheinend.
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Was sie zu einem Ganzen verknüpft, ist die gemeinsame Überzeugung des Volkes, das gleiche Gefühl innerer Notwendigkeit, welches allen Gedanken an zufällige und willkürliche Entstehung ausschließt". „Das Recht lebt wie die Sprache im Bewußtsein des Volkes". Der „organische Zusammenhang des Rechts mit dem Wesen und Charakter des Volkes bewährt sich auch im Fortgang der Zeiten". Wie für die Sprache, so „gibt es auch für das Recht keinen Augenblick des absoluten Stillstandes, es ist derselben Bewegung und Entwicklung unterworfen, wie jede andere Richtung des Volkes" und „steht unter demselben Gesetz innerer Notwendigkeit". „Das Recht wächst also mit dem Volke fort", bildet sich mit ihm aus „und stirbt endlich ab", wenn „das Volk seine Eigentümlichkeit verliert". Savigny weist dann zwei grundlegende Stadien der geschichtlichen Rechtsentwicklung auf. In der Jugendzeit eines Volkes lebt das Recht „im Bewußtsein des gesamten Volkes. Bei steigender Kultur sondern sich alle Tätigkeiten des Volkes immer mehr, und was " früher „gemeinschaftlich betrieben wurde, fällt jetzt einzelnen Ständen anheim". Das Recht wird verwickelter. Es nimmt eine doppelte Gestalt an, einmal als Bestandteil des Volkslebens, was es zu sein nicht aufhört, sodann als Wissenschaft in den Händen der Juristen, die nunmehr das Rechtsbewußtsein des Volkes „repräsentieren". Savigny faßt das Ergebnis seiner Untersuchung dahin zusammen, „daß alles Recht auf die Weise entsteht, welche der herrschende, nicht ganz passende, Sprachgebrauch als Gewohnheitsrecht bezeichnet, d. h. daß es erst durch Sitte und Volksglaube, dann durch die Jurisprudenz erzeugt wird, überall also durch innere, stillwirkende Kräfte, nicht durch die Willkür eines Gesetzesgebers". Das Musterbeispiel seiner Ansicht von der Entstehung des Rechts und dem Wert von Gesetzbüchern erblickt Savigny in dem von ihm glänzend geschilderten Entwicklungsgang des römischen Rechts. Er lehnt die Ansicht ab, daß es „die ewigen Regeln der Gerechtigkeit in vorzüglicher Reinheit enthalte und so gleichsam selbst als ein sanktioniertes Naturrecht zu betrachten sei". Das eigentlich Wertvolle sieht Savigny in der Meisterschaft der Methode, das Recht zu finden und zu weisen, wie sie von den römischen Juristen des von Augustus begründeten Prinzipats (den Klassikern) gehandhabt wurde. Theorie und Praxis sind bei ihnen nicht verschieden. Sie gehen bei der Beurteilung eines Rechtsfalles von seiner lebendigen Anschauung aus. „In jedem Grundsatz sehen sie zugleich einen Fall der Anwendung, in jedem Rechtsfall zugleich die Regel, wodurch er bestimmt wird". Der Rechtsstoff wie die Methode der Klassiker wurzelt aber größtenteils schon in dem Schaffen der republikanischen Juristen. Denn Roms Größe beruht auf seinem regen, lebendigen, politischen Sinn. Es ist bestrebt gewesen, seine Verfassung
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und sein Recht stets zu verjüngen durch Entwicklung des Überkommenen. Dieses „richtige Ebenmaß der beharrlichen und der fortschreitenden Kräfte" wirkt im bürgerlichen Recht der Kaiserzeit noch Jahrhunderte lang fort. Das römische Recht hat sich fast ganz von innen heraus als Gewohnheitsrecht gebildet. Eine Kodifikation hielt man nicht für nötig, so lange das Recht lebendig fortschritt. Erst in der Zeit des Stillstandes und Verfalls ließ der Kaiser Justinian ein Gesetzbuch schaffen, in dem aber der Geist des römischen Rechts noch lebendig ist. Dann wendet sich Savigny gegen die Klagen, daß in Deutschland ein fremdes Recht gelte. Die Rezeption wäre „ohne innere Notwendigkeit nimmermehr geschehen oder doch nicht bleibend gewesen". Ist doch die ganze Kultur der modernen Völker im Gegensatz zur Antike eine internationale auf klassischen Vorbildern beruhend. Das neuere Recht kann ohne das römische gar nicht verstanden werden. Die Verschiedenheit der Landesrechte verdient gegenüber einer Gleichförmigkeit den Vorzug. Das gemeine Recht aber als Grundlage hat die deutschen Volksstämme stets an ihre unauflösliche Einheit erinnert. Den Mittelpunkt der Schrift bildet das 6. Kapitel „Unser Beruf zur Gesetzgebung". Die Fähigkeit zur gesetzgeberischen Reform hängt von der Ausbildung der juristischen Technik ab, die noch unvollkommen ist. Der für den Juristen zweifache Sinn, der historische und der systematische, war im 18. Jahrhundert selten. Eine gute Darstellung des Systems des römisch-deutschen Rechts, die vor allem die Methode der Klassiker erkennen läßt, ist bis jetzt nicht gelungen. Die deutsche juristische Literatur hat nämlich mit der allgemeinen literarischen Bildung nicht Schritt gehalten. Deshalb fehlt der Jetztzeit - trotz der Spuren eines „lebendigen Geistes" - die Fähigkeit, ein gutes Gesetzbuch zu schaffen. Zum Beweise dieser Theorie werden nun die drei neueren Gesetzbücher, der Code civil, das Allgemeine Preußische Landrecht und das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch einer scharfen Kritik unterzogen. Savigny kommt zu folgendem Ergebnis: Einigkeit herrscht darüber, daß der gegenwärtige Rechtszustand mangelhaft ist. Aber nicht durch Schaffung eines Gesetzbuches, sondern nur durch eine organisch fortschreitende Rechtswissenschaft, deren einigendes Band die Universitäten sind, kann dem Übel gesteuert werden. Es liegt nicht in den Rechtsquellen, sondern in uns selbst. Die Schrift schließt mit einem Zitat aus Melanchthon, das eine Lobpreisung der Rechtswissenschaft enthält. Als literarischen Mittelpunkt zur Förderung intensiver historischer Studien gründet Savigny im Jahre 1815 im Verein mit Eichhorn und Göschen die „Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft". In dem Einleitungsartikel führt er das Programm der Historischen Schule nach
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der methodologischen Seite hin aus. Danach gibt es in der Rechtswissenschaft zwei Hauptrichtungen. Die eine trägt den Namen der geschichtlichen Schule. Die andere dagegen tritt in den verschiedensten Formen auf, mag sie nun das Schwergewicht mehr auf Philosophie und Naturrecht oder auf den gesunden Menschenverstand legen. Einig ist sie sich im Widerspruch gegen die geschichtliche Schule und daher als ungeschichtliche zu bezeichnen. Die Historische Schule sieht in der Geschichte nicht bloß eine moralisch-politische Beispielsammlung, sondern „den einzigen Weg zur Erkenntnis unseres eigenen Zustandes". Die falsche Absonderung der Gegenwart von der Vergangenheit beruht darauf, daß viele, freilich ohne es selbst zu wissen, „ihre eigene, persönliche Betrachtung des Weltlaufs mit dem Weltlauf selbst verwechseln, und so zu dem täuschenden Gefühl gelangen, als habe mit ihnen und ihren Gedanken die Welt angefangen". Die geschichtliche Schule nimmt daher an, der Stoff des Rechts sei durch die gesamte Vergangenheit, aus dem innersten Wesen der Nation selbst und ihrer Geschichte hervorgegangen. Er muß „durchschaut, verjüngt und frisch erhalten" werden. Eine besondere Aufgabe ist es, die Geschichte des vaterländischen einheimischen Rechts zu ergründen. Gerade hier sind noch reiche Schätze zu heben. Eine „blinde Uberschätzung der Vergangenheit" liegt der geschichtlichen Schule fern. Sie ist „fast noch gefährlicher als jener eitle Dünkel", das Recht ohne seine Geschichte verstehen zu wollen. Denn sie „lähmt die Kräfte der Gegenwart völlig". Die ungeschichtliche Schule - sie nennt sich selbst die philosophische - vertritt dagegen die Ansicht, das Recht werde in jedem Augenblick durch die mit gesetzgebender Gewalt versehenen Instanzen willkürlich hervorgebracht, „unabhängig von dem Recht der vorhergehenden Zeit und nur nach bester Uberzeugung, wie sie der gegenwärtige Augenblick gerade mit sich bringe". Neben Savigny, den Führer des romanistischen Zweiges der Historischen Rechtsschule, trat Carl Friedrich Eichhorn (1781-1854) als Begründer ihrer germanistischen Richtung. Er wurde 1811 an die Berliner Fakultät berufen. In seiner „Deutschen Staats- und Rechtsgeschichte" (seit 1808) hat Eichhorn in synthetischer Schau zum ersten Mal die kaum übersehbare Mannigfaltigkeit der partikularen Erscheinungen des deutschen Rechts auf ihre gemeinsame Grundlage zurückgeführt, „ihre symphonale Klangfülle im einheitlichen Grundton des deutschen Volksbewußtseins" zusammenfassend. Savigny hat dieses Werk rühmend anerkannt und hervorgehoben, es habe ohne einen Vorgänger dem deutschen Recht zuerst die Bahn gebrochen und seiner Wissenschaft ein ganz neues Leben zugebracht.
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Es liegt auf der Hand, daß der zündende Funke des neu errungenen geschichtlichen Bewußtseins von der Historischen Schule auf andere Geisteswissenschaften überspringen mußte. Insbesondere erlebte die Geschichtsschreibung unter der Führung Leopold von Rankes (1795-1886) einen ungeahnten Aufschwung. Erkenntnistheoretisch trachtete er danach, so rein und tendenzlos wie nur irgend möglich Geschichte zu schreiben, die Vergangenheit ohne Anmaßung eines Richteramtes oder Beeinflussung durch Gegenwartsideale so aufzuzeichnen, wie sie wirklich gewesen ist. Jede Epoche soll aus ihrem eigenen Geist verstanden werden. Ranke prägte den monumentalen Satz: „Die Kenntnis der Vergangenheit ist unvollkommen ohne Bekanntschaft mit der Gegenwart, ein Verständnis der Gegenwart gibt es nicht ohne Kenntnis der früheren Zeiten". Die politische Entwicklung des 19. Jahrhunderts drängte allerdings nach Wertung und Stellungnahme, und so kam es, daß solche Tendenzen auch in die Historiographie eindrangen. Auch diese Richtungen legen aber die Erkenntnis der Historischen Rechtsschule von den unzerstörbaren Zusammenhängen zwischen Gegenwärtigem und Vergangenem zugrunde und führen ihr Werk auf breitester Basis fort. Die Brücke von der Historischen Rechtsschule zum Gebiet der Sprachwissenschaft stellen die Gebrüder Jakob und Wilhelm Grimm (1785-1863; 1786-1859) her. Sie verdanken ihrem Lehrer und Freunde Savigny entscheidende Anregungen. Wie er sich gegen eine Kodifikation des bürgerlichen Rechts verwahrte, so wandten sich die Gebrüder Grimm gegen jede Grammatik, die das Ziel erstrebe, die Sprache zu regeln, statt sich mit der liebevollen Bestandsaufnahme des geschichtlich gewordenen Sprachgebrauchs zu begnügen. Die Sprache ist kein Ergebnis grammatischer Regeln. Sie erwächst kraft göttlicher Schöpfung aus der Seele des Volkes. „Keinem Dichter gehörte das Lied; wer es sang, wußte es bloß fertiger und treuer zu singen", heißt es in der Abhandlung Jakob Grimms „Von der Poesie des Rechts". Vielmehr „die Sänger verwalteten das Gut der Lieder, die Urteiler verweseten Amt und Dienst der Rechte". Beide sind in den Anlagen des Volkes zutiefst verwurzelt. „Insgeheim ist alles Recht, gleich der Sage, an seinem Ort selbstgewachsen und in der Regel unentliehen"; in keinem ist „bloße Satzung noch eitle Erfindung zu Hause", wie es auch im Sachsenspiegel mit den Worten ausgesprochen wird: „Dies Recht hab' ich nicht erdacht, es haben's von Alter auf uns bracht unsere guten Vorfahren". Schließlich hat auch die Historische Schule der Nationalökonomie von Savigny und seinen Weggenossen wesentliche Anregungen empfangen. Sie ist ebenfalls als Gegenbewegung gegen den Rationalismus des verklingenden 18.Jahrhunderts entstanden, richtete sich gegen den abstrahierenden vereinfachenden und verallgemeinernden Dogmatismus der
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klassischen Nationalökonomie. Man kam jetzt zu der Erkenntnis, daß diese Ökonomik die Mannigfaltigkeit des wirtschaftlichen Lebens in Vergangenheit und Gegenwart übersah, daß vor allem ihre abstrakte Konstruktion des homo oeconomicus als eines universellen, ewig unveränderlichen Typus der geschichtlichen und der gegenwärtigen Wirklichkeit diametral zuwiderlief. Die Lehren Savignys und seiner Schule waren von Anfang an umstritten. Einen heftigen, ja feindseligen Angriff richtete gegen ihn bereits im Jahre 1815 Nicolaus Thaddäus von Gönner. Eine ausführliche Besprechung der Schrift Gönners durch Savigny gab diesem die Möglichkeit, die Grundlehren der Historischen Schule von neuem darzulegen. Gönner warnt die Regierungen vor der historischen Methode, deren Anhänger ihnen das Recht der Gesetzgebung entziehen und es in die Hände des Volkes und der Juristen als Volksrepräsentanten spielen wollen. Umgekehrt hat später Thibaut über die „Angst" der Historischen Schule „vor Revolutionen" gespottet. Savigny betont, die Aufgaben eines jeden Gesetzgebers, seien es nun die Monarchen oder das Volk, bestehe darin, „ohne Zutun einer Willkür" das im Volk lebende, allein vernunftmäßige Recht anzuerkennen und auszusprechen. Das ist eben der von der Verschiedenheit der Verfassungsnorm unabhängige Unterschied zwischen Despotismus und Freiheit, daß der Regent „dort eigenwillig und willkürlich schaltet, hier aber Natur und Geschichte in den lebendigen Kräften des Volkes ehrt, daß ihm dort das Volk ein toter Stoff ist, den er bearbeitet, hier aber ein Organismus höherer Art, zu dessen Haupt ihn Gott gesetzt hat, und mit welchem er innerlich eins werden soll". In einer großen literarischen Ubersicht „Stimmen für und wider neue Gesetzbücher" von 1817 setzt sich Savigny mit seinen Kritikern auseinander. Er führt das Bestreben, von oben her mit einer einzigen Maßnahme den geltenden Rechtszustand zu verbessern, auf die Sucht zurück, „alles zu regieren und immer mehr regieren zu wollen, die fast jeder schon recht schmerzlich und verbitternd empfunden habe". „Wichtiger als alle Vorschriften sein können, ist der Geist und die Bildung des Juristenstandes". Helfen kann „allein ein wissenschaftlicher Geist, der das ganze Geschäft des Juristen, auch das gewöhnliche praktische Geschäft, zu veredeln imstande ist". Savigny verneint die Fähigkeit zur Kodifikation allgemein für jedes Volk und jede Zeit, in besonderem Maße aber für seine Zeit. Er betrachtet die Kodifikation als einen schneidenden Eingriff in die organische Entwicklung des Rechts, der seiner nie ruhenden Beweglichkeit und Lebendigkeit willkürliche Grenzen setzt. Der £mze/gesetzgebung steht Savigny jedoch nicht ablehnend gegenüber. Sie mag eingreifen, wenn politische Zwecke die Abänderung des bestehenden Rechts for-
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dem, ferner „als ergänzende Nachhilfe für das positive Recht", und zwar zur Entscheidung von Streitfragen, oder wenn die Normen, wie etwa bei der Bestimmung der Verjährungsfrist, ganz sicher sein müssen. Schließlich hält Savigny eine staatliche Rechtsetzung auch „als Unterstützung des allmählichen Fortschreitens" des positiven Rechts für geboten, wenn es durch veränderte Sitten, Ansichten und Bedürfnisse eine Umgestaltung erfordert oder wenn die Schaffung neuer Rechtsinstitute im Fortschreiten der Zeit notwendig wird. Daher steht es nicht im Widerspruch zu Savignys Grundauffassung, daß er im jähre 1842 das Gesetzgebungsministerium übernahm; denn er wollte kein neues Gesetzbuch schaffen, sondern nur Einzelgesetze auf bestimmten Gebieten, beispielsweise dem des Eherechts. Savignys vorbereitende Arbeiten bewertet Stölzel als „Meisterleistungen an Gründlichkeit, Ideenreichtum und echt wissenschaftlichem Geiste". Wenn die Erfolge des Ministeriums Savigny trotzdem gering waren, so lag das einmal an jenen kleinen Machenschaften, Intrigen, Feindschaften, an dem bürokratischen Ressortgeist, die Savignys Bemühungen erschwerten. V o r allem aber trat hinzu, daß er seine ganzen Veranlagung nach mehr zu einem wägenden Erkennen als zu der wagenden Tat des Gesetzgebers neigte. Der „Fabius Cunctator im Reich der Gesetzgebung", wie Stölzel Savigny nennt, war eben nach einem Wort Jakob Grimms „mehr für ein Magisterium als für ein Ministerium" geeignet. Mit besonderer Schärfe hat Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770-1831) Savignys Ablehnung einer Kodifikation verworfen und als „einen der größten Schimpfe" bezeichnet, „der einer Nation oder jenem Stande (dem der Juristen) angetan werden konnte". Bei Hegel vereinigt sich die Idee des Rechts mit der Vernunft. Recht kann also nur sein, was der Vernunft entspricht. Für die irrationalen Urgründe des Rechts hat Hegel kein Verständnis. „Barbaren werden durch Triebe, Sitten, Gefühle regiert, aber sie haben kein Bewußtsein davon". Mit allem Nachdruck tritt Hegel für das „gesetzte" Recht ein. Die Ablehnung einer Kodifikation entsprach dem ureigensten Lebensgefühl Savignys. Sie ging parallel mit den Anschauungen der römischen Rechtswissenschaft, die er selbst so einfühlsam und glänzend geschildert hat. Als die angemessenste Art der Rechtsfortbildung erschien der republikanischen und der Kaiserzeit die Normenbildung durch die Jurisprudenz und eine von ihr geleitete Praxis des Prätors und der Richter. Die römischen Juristen standen einer Kodifikation ebenso feindlich gegenüber wie Savigny, wahrscheinlich aus ähnlichen Gründen: Die Ehrfurcht vor dem geschichtlich Gewordenen, vor dem von den Vorfahren in vielen Jahrhunderten überlieferten Rechtsgut, verbietet umfassende gesetzgeberische Eingriffe. Auch verführt eine Kodifikation leicht zur Buchstabeninterpretation und verhindert oftmals eine gerechte
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Entscheidung des Einzelfalls; sie täuscht eine Geschlossenheit und Vollständigkeit vor, die sie niemals haben kann; ihre notwendig abstrakte Formulierung der Rechtssätze ist gefährlich; sie legt die Rechtsordnung allzu starr für die Zukunft fest. Bedenken gegen Einzelgesetze sind weniger stark. Jedoch sollen Einzelgesetze nur erlassen werden, wenn es unbedingt notwendig ist. Auf solchen Gründen beruht auch die Kodifikationsabneigung der englischen Jurisprudenz. Es ist also nicht richtig, wenn man behauptet, das tiefere geschichtliche Verständnis für die Fortbildung des Rechts liege auf der Seite Thibauts. Die Vorstellung, die das Volk verbindende und verpflichtende Rechtsordnung sei etwas viel zu Heiliges und Hohes, als daß sie der „Willkür eines Gesetzgebers" unterstünde, ist in Savigny zutiefst verwurzelt. Er will das Recht nicht ausschließlich auf das schwankende Fundament wechselnder Befehle wechselnder Obrigkeiten stellen. Wieviel Wahres darin liegt, erkennt man an dem Skeptizismus, den Juristen später der Wissenschaftlichkeit ihres eigenen Faches entgegenbrachten. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts hielt Julius Hermann von Kirchmann einen berühmt gewordenen Vortrag über „Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft". Er stellte darin die These auf: „Drei berichtigende Worte des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden zur Makulatur". Savignys Erkenntnis, daß das Recht nicht eine formlose Masse von Satzungen sei, die oft einer launenhaften Willkür ihr Dasein verdankten, sondern ein Erzeugnis des in allen lebenden und wirkenden VOLKSGEISTES, die Erkenntnis der sittlichen Natur des Rechts, die Verbindung der Rechtswissenschaft mit Geschichte und Philologie, führte dazu, daß sich der Jurist jetzt wieder freudiger und liebevoller in seine Wissenschaft versenkte. Der Juristenstand wurde „nicht nur in der öffentlichen Meinung wieder auf die ihm gebührende Stufe der Achtung gehoben, sondern auch wahrhaft innerlich veredelt". Diesem Ziel diente Savignys ganzes Streben. Dabei mag ihm die hohe Wertschätzung und Ehrfurcht vorgeschwebt haben, die das römische Volk stets seinen Juristen entgegenbrachte. Mit ihrer grundsätzlichen Verneinung einer Kodifikation haben Savigny und seine Schule übertrieben, genau so wie der bekämpfte Rationalismus der Aufklärungszeit mit seiner Vorliebe für Gesetzesmacherei es getan hatte. Es scheint ein in der Geistesgeschichte waltendes Entwicklungsgesetz zu sein, daß auch gesunde Gegenbewegungen über das Ziel hinausschießen und mehr niederreißen, als wirklich abbruchwürdig ist. Im Mittelpunkt der Rechtsquellenlehre Savignys und seiner Weggenossen steht die Entstehung des Rechts aus dem nationalen VOLKSGEIST. Gegenüber dem Gesetzesrecht wird das sogenannte Gewohnheitsrecht betont, das „erst durch Sitte und Volksglaube, dann durch
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Jurisprudenz erzeugt wird, überall also durch innere, stillwirkende Kräfte, nicht durch die Willkür eines Gesetzgebers". Aber ein einwandfreier Aufbau der Rechtsquellenlehre durch Klärung der Begriffe „VOLKSGEIST" und „Gewohnheitsrecht" ist der Historischen Schule nicht gelungen. Das Schlagwort vom „VOLKSGEIST" begegnet in Savignys Programmschrift noch nicht. Dort wird vom „gemeinsamen Bewußtsein des Volkes als dem eigentlichen Sitz des Rechts" gesprochen. Aber sachlich ist dieser Ausdruck jedenfalls identisch mit dem „VOLKSGEIST". Savigny hat das Wort von Puchta übernommen, und auf diesem Wege ist es in sein „System des heutigen römischen Rechts" gelangt. Woher die Wendung letzten Endes stammt, wird sich schwerlich einwandfrei aufklären lassen. Es handelt sich um einen Ausdruck, der damals allgemein umlief, der gewissermaßen in der Luft lag. Die Anschauung vom VOLKSGEIST als stiller organisch schaffender Kraft entsprach dem romantischen Lebensgefühl der damaligen Zeit. Die Annahme eines real existierenden VOLKSGEISTES, der unsichtbar das positive Recht erzeugt, sagt nichts Deutliches. Er ist ein „mystisches Etwas", das so, wie es lautet, geheimnisvoll unklar bleibt. Es besteht aus zwei Faktoren, Volk und Geist. So wie die Seele nicht vom Körper getrennt werden kann, läßt sich der VOLKSGEIST nicht von seinem natürlichen Unterbau vieler Menschen mit ihrer eigenen Individualtität, ihrer kulturellen Entwicklung lösen. Ein Volk, eine Nation, ist keine zufällige Ansammlung von Einzelpersonen. Eine Nation ist vielmehr die Synthese aus Wort, Glauben, Gedanken, Traditionen, Zivilisation und Kultur. Ebenfalls ein Lieblingswort Savignys und seiner Schule ist das Wort organisch. Das organische Werden von Sprache und Pflanze bezieht sich wie das des Rechts nicht auf den Einzelfall, sondern auf die aufsteigende Linie von Fällen, die sich immer differenzierter entwickeln. In dem Wachstum des Rechts sind die gleichen Kräfte wirksam wie bei der Sprache oder Pflanze. Einem rückschauenden Betrachter der Romantik erscheint der Bildungsprozeß des Rechts als ein unbewußtes Wirken ohne menschliches Zutun, während er doch das auf rationalen oder irrationalen Gründen beruhende Handeln nicht nachweisen kann. Allerdings glaubt Savigny, für seine Ansicht auf die Analogie der Sprache verweisen zu dürfen. Letzten Endes hat aber auch er erkannt, daß in der Entwicklung des Rechtslebens nichts auf andere Weise gewachsen und geworden ist als durch des Menschen Tat. Nach Savigny „lebt das positive Recht in dem gemeinsamen Bewußtsein des Volkes, und wir haben es daher auch Volksrecht zu nennen". Es ist „der in allen Einzelnen gemeinschaftlich lebende und wirkende VOLKSGEIST, der das positive Recht erzeugt, das folglich für das Bewußtsein jedes Einzelnen, nicht zufällig, sondern notwendig, ein und
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dasselbe Recht ist". Savigny nimmt also „eine unsichtbare" — das bedeutet doch wohl unerkennbare — „Entstehung des positiven Rechts" an. An die Stelle der apriorisch alles konstruierenden Vernunft setzt Savigny somit den „unsichtbar arbeitenden VOLKSGEIST". Im Volke lebt ein gleiches Rechtsbewußtsein, das mit innerer Notwendigkeit das Recht erzeugt. Savigny geht demgemäß ebenfalls von einem allgemeinen obersten Begriff aus, einem „vorläufig ganz unbestimmbaren und dunkelen Etwas". Der VOLKSGEIST kann niemals anders als aus seinen Wirkungen und Offenbarungen bestimmt werden. Deshalb ist es unzulässig, ihn als oberste Quelle der Rechtserzeugung an die Spitze zu stellen. Es bleibt offen, was der VOLKSGEIST eigentlich ist und wie ein gemeinsames Rechtsbewußtsein zustande kommt. Aus der romantischen, dem naturrechtlichen Weltbild abgewandten Grundhaltung Savignys und der Historischen Schule erklärt sich ihre Vorliebe für das Gewohnheitsrecht als jene primäre Form der Rechtserzeugung, die nicht etwas Willkürliches sei, das vom Gesetzgeber beliebig bestimmt werde, heute so und morgen anders, sondern etwas Notwendiges, im Wesen und Charakter der Völker ursprünglich Gegebenes, das auch in seiner Fortbildung unabhängig sei vom Zufall und individueller Willkür. Savignys größter Schüler und sein Nachfolger auf dem Berliner Lehrstuhl, Georg Friedrich Puchta (1798-1846), hat ein umfangreiches Werk über „das Gewohnheitsrecht" verfaßt. Savigny und Puchta wollen vor allem lehren, wie das Gewohnheitsrecht entsteht, nicht wie es angewendet werden soll. Es bildet sich unsichtbar in der allgemeinen Volksüberzeugung, und aus keinem anderen Grunde gilt es. Die Übung, die Sitte, dient nur seiner Erkennbarkeit. Der Begriff des Gewohnheitsrechts ist weder von der Historischen Rechtsschule noch in der späteren Zeit einer einwandfreien Klärung entgegengeführt worden, so sehr man sich auch um ihn bemüht. Savigny selbst hat erklärt, das Wort „Gewohnheitsrecht" sei „nicht ganz passend". In der Tat ist der Begriff ein noch heute unsicherer und verschieden gedeuteter. Er wurde hauptsächlich dadurch veranlaßt, daß es durch die Logik geboten schien, alle Arten von Rechtssätzen, die nicht im Gesetz stehen oder aus ihm gewonnen werden, irgendwie unter einer Einheit zusammenzufassen. Savigny schildert, wie die Funktion, die er für die ältere Zeit dem Volksgewohnheitsrecht zuschreibt, mit fortschreitender wirtschaftlicher und geistiger Arbeitsteilung vornehmlich der Rechtswissenschaft zufällt. Es bildet sich das Juristenrecht. Die Erlernung, Anwendung und Fortbildung des Rechts wird jetzt Aufgabe eines besonderen Standes und zu dessen Lebensberuf. Mit der VOLKSGEISTlehre wäre die auf Gewohnheitsrecht zurückgeführte Rezeption des römischen Rechts im Mittelalter nur schwer
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vereinbar. Als Rechtfertigung der Aufnahme diente nun eben die Ansicht, das Volk nehme bei höherer Entwicklung nicht mehr wesentlich an der Rechtserzeugung teil, sondern werde dabei von den Juristen „vertreten". Leider versäumen es Savigny und Puchta aufzuzeigen, wie sich die Bildung des Rechts im Volksbewußtsein unmittelbar vollzieht, und vor allem, welche Methode bei der ursprünglichen Rechtsschöpfung durch die Jurisprudenz anzuwenden ist. Mit dem mystisch-romantischen Hinweis auf die „stete organische Entwicklung", auf die dem Recht „innewohnende organische Kraft", auf die „stillwirkenden" „inneren", unsichtbaren Kräfte des Volkes und der Jurisprudenz ist nichts gewonnen. Vielmehr begnügen sich die beiden Häupter der Schule damit, die Mittel anzugeben, wie man die Gesetze auslegt. Savigny und Puchta haben ihre Theorie der drei Rechtsquellen Gewohnheit, Gesetz und Wissenschaft weniger durch die Beobachtung tatsächlicher Lebensvorgänge als durch die Betrachtung des geschichtlichen Werdens des römischen Rechts gewonnen und darin eine allgemein gültige Entwicklung gesehen. In der Tat sind diese drei Quellen überall zu finden, wenn natürlich nicht immer in derselben Weise. Der römischen Königszeit ist eine Gesetzgebung noch fremd. Das Recht gilt zunächst als Offenbarung, als Geschenk der Götter. Es lebt in der Gewohnheit, es wird fortgebildet durch die Sprüche des Königsgerichts und die Gutachten der Priesterkollegien. Unbewußte und bewußte Rechtsschöpfung gehen Hand in Hand. Auch in der republikanischen Epoche und der Kaiserzeit haben nicht Kodifikationen das Recht weiter entwickelt. Die Zwölftafeln (um 450 v. Chr.) wollten und konnten kein umfassendes Gesetzbuch sein. Uberhaupt war es nicht römische Art, das Privatrecht im Wege der Gesetzgebung fortzubilden. Es ist im wesentlichen Juristenrecht. Die Juristen galten als „die wahren Vertreter ihres Volkes in rechtlichen Dingen". Immer und überall standen sie ihren Mitbürgern unentgeltlich mit Rat und Tat zur Seite. Cicero nennt sie daher das oraculum totius civitatis. Sie besaßen das „Charisma der Rechtsweisheit". Das römische Volk hatte vor ihnen die größte Achtung. So erklärt es sich, daß die herrschende Meinung der Juristen Bestandteil des im civile wurde, die auctoritas prudentium also eine Rechtsquelle bildete. Diese Anschauungen bieten den Schlüssel zur Rechtsquellentheorie der Historischen Schule. Nicht die unmittelbare Entstehung des Rechts im V O L K S G E I S T , nicht die Gesetzgebung steht im Vordergrund, sondern die rechtsschöpferische Tätigkeit der Juristen als Repräsentanten des Volkes. Ihnen wird als „Vorbild und Muster" die meisterhafte Methode der römischen Jurisprudenz, „das Recht zu finden und zu weisen", empfohlen.
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Im tiefsten Grunde entspricht die Auffassung Savignys und Puchtas den Anschauungen der Römer, des deutschen Mittelalters und der Engländer. Das Recht ist latent im Rechtsbewußtsein des Volkes vorhanden. Es muß nur zu Tage gefördert, entwickelt und formuliert werden. Das allmählich entstandene ius civile erscheint den römischen Rechtsgelehrten wie ihr Common Law den englischen Juristen und wie das mittelalterliche germanische Recht den damals lebenden Menschen als stetige Entfaltung der Gerechtigkeitsidee, als ewige unverbrüchliche Ordnung. Dies bedeutete indessen nicht starre Unabänderlichkeit. Ausnahmen wurden zugelassen. Eine solche stellt das Volksgesetz (lex rogata) dar, die das geltende Recht für den Einzelfall abändert. Die römischen Gesetze tragen wie auch die englischen Amendementscharakter. Aber eine Abänderung darf nur so selten wie möglich erfolgen. Vielmehr soll das gute alte Recht aus sich selbst heraus enthüllt, geklärt und gereinigt werden. Die vollkommene Ausprägung der in ihm dynamisch latenten Form aber ist die Aufgabe der Jurisprudenz.
Das letzte große Standardwerk Savignys, das achtbändige „System des heutigen Römischen Rechts" (1840-1849) ist leider ein Torso geblieben. Es behandelt nur den Allgemeinen Teil des Privatrechts. V o r allem die Lehre vom Irrtum, vom internationalen Privatrecht und von der Geldleistung ist hier auf eine neue Grundlage gestellt worden. Das Werk sollte die seither zwischen Theorie und Praxis entstandene, von Savigny stets bedauerte Kluft schließen und der Praxis ein Hilfsmittel an die Hand geben. In der Vorrede zum 1. Band hebt Savigny die Grundgedanken hervor, von denen er sich hat leiten lassen. Die Gegenwart darf nicht aus „Trägheit oder Eigendünkel versäumen", „mit der vereinigten Kraft vergangener Jahrhunderte zu arbeiten". Aber die Historische Schule will keineswegs, wie manche ihrer Gegner behaupten, „die Gegenwart, ihre Selbständigkeit verkennend, unter die Herrschaft der Vergangenheit beugen". Im Gegenteil: Die Masse der überlieferten „Begriffe, Regeln und Kunstausdrücke" soll „von Zeit zu Zeit neu geprüft, in Zweifel gezogen, um seine Herkunft befragt werden" - in „geistiger Freiheit", zu der jedoch das „heilsame Gefühl der Demut hinzutreten" muß. Immer wieder sieht sich Savigny zur Abwehr des Vorwurfes gezwungen, die Historische Methode bestehe in „ausschließlicher Anpreisung des römischen Rechts" oder verlange „die unbedingte Beibehaltung irgend eines gegebenen Stoffs". Da ihr der Entwicklungsgedanke zugrunde liegt, „geht ihr Bestreben vielmehr dahin, jeden gegebenen Stoff bis zu seiner Wurzel zu verfolgen, und so sein organisches Prinzip zu entdecken, wodurch sich von selbst das, was noch Leben hat, von demjenigen absondern muß, was schon gestorben ist und nur noch der Geschichte angehört". Insbesondere beabsichtigt daher die historischen Anschauung, so führt Savigny weiter aus, keineswegs dem römischen Recht eine ungebührliche Herrschaft einzuräumen, es gar als „sanktioniertes Natur-
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recht" zu betrachten. Vielmehr besteht die Hauptaufgabe darin, zunächst die römischen Elemente unseres Rechtszustandes festzustellen, damit wir nicht unbewußt davon beherrscht werden, und sodann dasjenige zu scheiden, was schon abgestorben ist, von dem, was noch fortlebt. „Hauptbedingung zur Lösung dieser Aufgabe ist ein reiner unbefangener Wahrheitssinn". Als letztes Ziel bezeichnet Savigny es, „den gegebenen Rechtsstoff mit derselben Freiheit und Herrschaft zu behandeln, die wir an den Römern bewundern". Wenn spätere Anhänger der Historischen Schule von diesen Auffassungen abgewichen sind, so ist das nicht Savignys Schuld. Die 1815 gegründete Zeitschrift nannte Savigny absichtlich „Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft", nicht Zeitschrift für Rechtsgeschichte, weil er nicht ein Archiv für antiquarische Gelehrsamkeit gründen wollte, sondern ein Organ für lebendige geschichtliche Rechtsanschauung, als Grundlage für eine richtige Auffassung und Erkenntnis des praktischen Rechts. Deshalb sollten „auch Dogmatik und Interpretation" Aufnahme finden, „sobald sie in geschichtlichem Sinn gehandelt werden". Es ist bezeichnend, daß später aus der Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft eine Zeitschrift für Rechtsgeschichte geworden ist. Seitdem haben sich Geschichte und Dogmatik des Rechts in steigendem Maße getrennt. Allein: seine wahre Erkenntnis ist nur dann möglich, wenn beide harmonisch zusammenwirken und sich nicht von einander isolieren. Die Historische Schule glaubte, das Naturrecht mit Stumpf und Stiel ausgerottet zu haben. Aber sie stand unbewußt unter seinen Nachwirkungen. Auch hier zeigt sich, wie so oft in der Geistesgeschichte, daß eine überwundene Richtung auf die neue gleichwohl einen Einfluß ausübt. Von Leibniz stammt der verhängnisvolle Ausspruch, Jurisprudenz bedeute ein Rechnen mit Begriffen. Diese juristische Begriffsmathematik begegnet auch bei Savigny, später in verstärktem Maße bei Puchta, Vangerow, Windscheid, Brinz und in seiner ersten Zeit bei Ihering. Savigny bestimmt den wissenschaftlichen Charakter der Jurisprudenz dahin, daß sie „leitende Grundsätze" zu finden habe, aus denen sich dann die Einzelheiten ergeben wie durch die Angabe zweier Seiten und des dazwischen liegenden Winkels das Dreieck. In der Zeit des späten Naturrechts war man der Ansicht, das gesamte Rechtsgebäude könne more geometrico errichtet werden. Christian Wolff, das Haupt der deutschen Aufklärungsphilosophie (1679-1754), der von Haus aus Mathematiker war, baute ein Rechtssystem bis in alle Einzelheiten aus lauter Obersätzen auf. Mit der historischen Methode ist diese Auffassung keineswegs notwendig verbunden. Die Größe der römischen Juristen sieht Savigny darin begründet, daß sie im Besitz der „leitenden
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Grundsätze" gewesen seien. „Die Begriffe und Sätze ihrer Wissenschaft erscheinen ihnen nicht wie durch ihre Willkür hervorgebracht, es sind wirkliche Wesen, deren Dasein und deren Genealogie ihnen durch langen vertrauten Umgang bekannt geworden ist. Darum eben hat ihr ganzes Verfahren eine Sicherheit, wie sie sich sonst außer der Mathematik nicht findet, und man kann ohne Ubertreibung sagen, daß sie mit ihren Begriffen rechnen". Savigny hat geirrt. Die römischen Klassiker betrieben keine Begriffsmathematik. Savigny unterscheidet scharf und zutreffend zwischen der Auslegung und der Fortbildung des Rechts. Bei der Auslegung müsse gefragt werden, was in dem Gedanken des Gesetzes enthalten sei, bei der Fortbildung handele es sich darum, was in den Gedanken folgerichtig hätte aufgenommen werden sollen, wenn sich der Gesetzgeber den Fall klar gemacht hätte. Die Fortbildung von Gesetz und Recht liege außerhalb der Befugnis des Richters. Eine Modifikation und Vervollkommnung der Gesetze könne nur durch den Gesetzgeber selbst vorgenommen werden. Rechts- und Gesetzeslücken dürfe der Richter jedoch im Wege der Analogie ausfüllen. Sie lasse sich nicht immer mit den Mitteln der reinen Logik bewirken, sondern müsse zugleich eine „organische" sein, d. h. eine solche, die „aus der Gesamtanschauung der praktischen Natur der Rechtsverhältnisse und ihre Urbilder hervorgehe". Savigny ist sich darüber klar, daß die Grenzen zwischen Auslegung und Forbildung des Rechts oft zweifelhaft sind. Deshalb wünscht er eine Übertragung der fortbildenden, d. h. neues Recht schaffenden Funktion auf eine zu diesem Zweck einzusetzende Staatsbehörde, zum Beispiel eine „aus gründlichen Gelehrten und erfahrenen Geschäftsmännern" gemeint sind juristische Praktiker - „gebildeten Gesetzeskommission, die in fortgesetzter lebendiger Verbindung mit den höheren Gerichten stehen und durch diese die Erfahrungen des im Leben vorkommenden Rechts einsammeln müßte". Diese Funktion könne aber auch einem dem französischen Kassationshof ähnlichen Gerichtshof übertragen werden. Er würde dann eine der rechtsschöpferischen Tätigkeit des Prätors und der römischen Juristen entsprechende Aufgabe haben. Der Hinweis auf die rechtsfortbildende Aufgabe des Prätors zeigt wiederum, welch tiefe Bezogenheit Savigny mit der römischen Rechtsanschauung verbindet. Das prätorische Edikt hat sich jahrhundertelang als elastische, steter Nachprüfung und Weiterbildung fähige Rechtsquelle erwiesen. Bewährte Grundsätze wurden übernommen und weiter gebildet, unbewährte fallen gelassen. So entstand eine Art Gesetzbuch des Privatrechts, das sich konservativ die Erfahrungen der Vergangenheit zu Nutze machte, gleichzeitig aber fortschrittlich neu sich bahnbrechenden Ideen rasch und leicht Aufnahme gewährte - ein ewiger Jungbrunnen des Rechts, der die Worte, mit denen Mephisto den Schüler
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verwirrten will: „Es erben sich Gesetz und Rechte wie eine ewige Krankheit fort" Lügen strafte. Niemals ist vom „Recht, das mit uns geboren" so viel die Rede gewesen wie in jenen Jahrhunderten - ein einzigartiges Beispiel, wie „Beweglichkeit" und „Festigkeit" des Rechts miteinander ausbalanziert werden können. Erst mit der um 130 n. Chr. erfolgenden Festlegung des Edikts verstummte die „lebendige Stimme des Zivilrechts", die ,νίνα vox iuris civilis', wie die römischen Juristen den Prätor nannten. Seit Savigny hat man immer wieder auf die „königliche" rechtsfortbildende Tätigkeit des Prätors hingewiesen und überlegt, ob nicht Ähnliches für unsere Zeit geschaffen werden könne. Es bleibt nur der Weg, die Rechtsfortbildung vertrauensvoll in die Hand des Richters, insbesondere des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs, zu legen und ihm so „Anteil am Imperium" zu gewähren, wie es der Bundesgesetzgeber getan hat. Aber auch wenn die Rechtsfortbildung einer Staatsbehörde übertragen wird, soll das kein Monopol bedeuten. „Jene innere, stille Rechtsbildung" durch Volksgewohnheitsrecht und vor allem durch die Rechtswissenschaft will Savigny dadurch nicht abgeschnitten wissen. Er erkennt das wissenschaftliche oder Juristenrecht geradezu als Rechtsquelle an, wenn er sagt, daß die „rechtserzeugende Tätigkeit des Volkes großenteils" dem „Juristenstand als dem Repräsentanten des Ganzen" obliege und „fortwährend von ihm geübt" werde. Es ist also ein Irrtum, wenn man annimmt, Savignys Rechtslehre beruhe auf dem Dogma von der Lückenlosigkeit oder logischen Geschlossenheit des positiven Rechts. Dieses Dogma würde mit dem von der Historischen Schule herausgearbeiteten Entwicklungsbegriff in unvereinbarem Widerspruch stehen. Savignys Rechtsauffassung ist dualistisch. Die Gesamtrechtsordnung setzt sich für ihn aus zwei verschiedenen Teilen zusammen - einmal aus den überlieferten, gesetzten positiven Rechtssätzen, zum andern aus solchen, die man unvorgreiflich gesprochen - als nicht überlieferte, originär entstehende bezeichnen kann. Dementsprechend manifestiert sich die Rechtsordnung im Einzelfall in verschiedener Art und Weise. Es handelt sich einmal um die Anwendung von Rechtssätzen, die nicht erst an Hand des konkreten Falles gefunden werden, sondern schon bekannt sind. Hier ergibt sich die Entscheidung durch logische Subsumtion der Tatbestandselemente des Falles unter den bereits vorhandenen Rechtssatz. Es tauchen aber immer wieder Fälle auf, die nicht deduktiv durch logische Subsumtion unter einen bereits bekannten Rechtssatz oder eine überlieferte Rechtsregel entschieden werden können. Hier stellt sich die ursprüngliche, induktive Art der Rechtsfindung als notwendig heraus, um zu einer gerechten Lösung des vorliegenden Interessenkonflikts zu gelangen. Solche Rechtsfindungen erfolgen - meist unbewußt - im
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täglichen Rechtsleben des Volkes, wofür Savigny den Ausdruck Gewohnheitsrecht gebraucht, den er selbst als nicht ganz passend bezeichnet. Vor allem gehört es zu den Aufgaben der Rechtswissenschaft, das in den Lebensverhältnissen keimhaft verborgene, noch nicht offenbar gewordene Recht zu entdecken, in die Sphäre des Bewußtseins zu erheben und ihm die gedankliche Form zu geben. In schroffstem Gegensatz zu Savignys juristischer Grundanschauung steht die positivistische Rechtsquellenlehre der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der Karl Bergbohm in seinem 1892 erschienenen Buch „Jurisprudenz und Rechtsphilosophie" eine folgerichtige und strenge Fassung gegeben hat: Geltendes und daher vom Richter anzuwendendes Recht sei nur das, was in dieser geschichtlichen Rechtsgemeinschaft zu einem bestimmten nachweisbaren geschichtlichen Zeitpunkt durch Gesetzesbefehl oder anerkannte langdauernde Übung als Rechtssatz in Erscheinung getreten sei. Wenn zu einer Entscheidung ein entsprechender Rechtssatz anscheinend fehle, so beweise das nur eine mangelhafte richterliche Rechtskenntnis, da die positive Rechtsordnung stets ein logisch geschlossenes und daher vollkommenes Ganzes bedeute.
Die Erkenntnis, daß es noch ein anderes geltendes Recht gibt als das gesetzte und das überlieferte, hätte Bergbohm gewiß als Rückfall in das überwundene Naturrecht bezeichnet. Savignys entgegengesetzte Rechtsquellenlehre selbst ist allerdings insofern unvollendet geblieben, als er, wie schon gesagt, zwar die Fortbildung des Rechts wünscht, nur eben nicht durch jeden Spruchrichter, sondern durch eine dazu einzusetzende staatliche Behörde oder durch einen höchsten Gerichtshof. Aber die „ursprüngliche", induktive Rechtsgewinnung gehört allgemein zur Aufgabe des Richteramtes. Es kommt immer wieder vor, daß der Richter die Aussage über Recht oder Unrecht in einem einzelnen Fall nicht mehr durch Subsumtion unter eine anerkannte positive Rechtsregel gewinnen kann, daß er einer neu auftauchenden Frage wie ein Gesetzgeber gegenübersteht. Dann bleibt kein anderer Weg, als auf die ursprüngliche Art der Rechtsfindung zurückzugehen. Das Schweizerische Zivilgesetzbuch von 1907 (Art. 1 Abs. 2) gestattet dem Richter hier, „nach der Regel" zu „entscheiden, die er als Gesetzgeber aufstellen würde". Es liegt dann eine schöpferische Rechtsgewinnung am Einzelfall aus dem ethischen Urerlebnis vor. Alle Regeln und Rechtssätze, soweit nicht rein technischer Art, sind einmal auf diesem Wege entstanden. Auch der Bundesgesetzgeber hat kürzlich ein Bekenntnis zur Rechtsfortbildung durch den Richter, insbesondere den Bundesgerichtshof, und damit zur ursprünglichen, induktiven Rechtsgewinnung am Einzelfall abgelegt, in der sich das spontane „Sicheinswissen mit anderen" bekundet. Der Richter handelt dabei als Vertreter seiner Zeit und seines Volkes, wie es Savigny vom
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Juristenstand gesagt hat. Er entscheidet nicht unter dem Einfluß des Zufalls oder subjektiver Willkür, sondern aus wohlerwogenen Gründen. Sein geschultes und geläutertes Rechtsgefühl, das von seinem sittlichen Empfinden untrennbar ist, bildet für ihn den Wegweiser zum richtigen Recht. Das gefühlsmäßige Erkennen, die Intuition, ist bei den Wertungen zwar unentbehrlich, jedoch nicht allein entscheidend. Stets muß ein gedankenmäßiges Verarbeiten des durch die Intuition Wahrgenommenen stattfinden. Savigny und seine Schule haben in ihrem Kampf gegen das Naturrecht das Recht zu einseitig als Erzeugnis des nationalen VOLKSGEISTES aufgefaßt. Savigny selbst hat zwar im Volksrecht ein zweifaches Element festgestellt: „ein individuelles, jedem Volk besonderes angehörendes, und ein allgemeines, gegründet auf das Gemeinsame der menschlichen Natur". Die Behandlung des besonderen Elements betrachtete er als Aufgabe der Rechtsgeschichte, die des allgemeinen wies er der Rechtsphilosophie zu. Ihr sich zu widmen hielt sich Savigny in weiser Selbstbeschränkung nicht für berufen. Er hat sich auch nicht an ein fremdes philosophisches System angeschlossen, weil ihm keines der seit Kant aufgestellten großen Systeme vollkommen befriedigend und abschließend zu sein schien. Aus dieser Trennung von Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie erwuchs die isolierte Betrachtung jeder einzelnen Rechtsordnung. Darüber kam die Rechtsvergleichung zu kurz. Sie öffnet den Blick für die Mannigfaltigkeit der Rechte der Völker, sie zeigt aber auch den möglichen Vorrat an Lösungen menschlicher Interessenkonflikte und untersucht, welche Erwägungen in den einzelnen Rechtssystemen zu der einen oder anderen Lösung geführt haben. Die Gleichheit der Rechtsgedanken, die Gleichheit der Lösungen tritt besonders in der Jugendperiode der Rechtsordnungen hervor. Je älter eine Nation wird, je differenzierter ihre Kultur, desto charakteristischer wird ihr Profil, ihre nationale Eigenart. Eine Rechtsvergleichung ist aber überhaupt nur möglich, weil in der Entwicklung einer bestimmten Rechtsordnung, beispielsweise der römischen oder griechischen oder germanischen, neben individuellen atypischen Faktoren auch solche allgemein-menschlicher, typischer Natur eine Rolle spielen. Der Zusammenhang mehrerer Rechtsordnungen kann nicht nur auf einer Stammesverwandtschaft oder Entlehnung durch Rezeption beruhen, sondern auch auf der elementaren Verwandtschaft der einzelnen Rechtsinstitute in den verschiedenen Rechten. Unter ähnlichen wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Verhältnissen bringt der Mensch immer wieder ähnliche Rechtsgestaltungen hervor. Deshalb vergleichen wir heute das römische und griechische Recht, die germanischen Rechte und die Rechte des alten Orients miteinander. Eine solche Vergleichung wäre unmöglich, wenn das Recht
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wirklich nur ein Erzeugnis des nationalen VOLKSGEISTES wäre und keine universalen Elemente enthielte. Es ist das unvergängliche Verdienst Savignys und seiner Schule, im Zusammenhang mit der damaligen naturwissenschaftlichen Evolutionslehre dem Entwicklungsgedanken Eingang in die Jurisprudenz verschafft zu haben, wenn er auch nicht in dem notwendigen Maße berücksichtigt worden ist. Er bedeutet, daß man das Gewordene nicht als etwas Ruhiges, Starres betrachtet, sondern es in Werdendes auflöst, die Frage nach dem Woher und Wohin der Rechtssätze, Rechtsbegriffe und Rechtseinrichtungen stellt. Savigny und seine Weggenossen haben erkannt, daß die historische Methode unentbehrlich ist, um den gegenwärtigen Rechtszustand zu begreifen. Das Heute ist das Ergebnis des Gestern, das Morgen das Ergebnis des Heute. Und so steht auch das Recht eines Volkes wie alle Kultur im Strom der Entwicklung. Mit Hilfe einer wertenden historischen Methode läßt sich erkennen, welche Rechtssätze, Begriffe und Regeln unrichtig sind oder sich im Absterben befinden und nur kraft des Trägheitsgesetzes noch fortgeführt werden, sowie welche Normen noch lebenskräftig genug sind, um weiterhin Bestand zu haben. Viele Rechtsprobleme der Gegenwart können durch die Rechtsgeschichte geklärt und gefördert werden. Erst der Längsschnitt durch die gesamte Rechtsentwicklung gibt das nötige geschichtliche Tiefenbewußtsein, während der Querschnitt durch das Recht des Heute leicht zu oberflächlichem Positivismus führt. Vor allem liefert rechtsgeschichtliche Betrachtung die nötigen Bausteine für eine Theorie des juristischen Denkens, die kein Geringerer als Ludwig Mitteis als die größte der Rechtswissenschaft überhaupt noch gestellte Aufgabe bezeichnet hat. Savigny war sich auch darüber klar, daß eine der Grundformen unseres Denkens darin besteht, alle Dinge nach ihrem Sein und ihrem Werden zu betrachten. Deshalb wollte er eine Trennung von Geschichte und Dogmatik, wie sie später leider eingetreten ist, verhüten und die historisch-genetische Methode mit der systematisch-dogmatischen harmonisch verbinden. Die Konzeption eines geschichtlichen Weltbildes braucht nicht zu einer Relativierung aller Lebenswerte zu führen. Die Meinung, geschichtliche Schau kenne keine absoluten Wahrheiten, sondern nur ein „ewig wechselndes Wahrsein", keine absoluten Werte, sondern nur Wertschätzungen, die zeitbedingt und überholbar seien, hat den Angriff gegen das historische Bewußtsein überhaupt veranlaßt. Diese Kritik klingt namentlich im Begriff „Historismus" durch, dem der negativistische Akzent der Grundsatzlosigkeit und des Quietismus anhaftet. Aber die notwendige Anerkennung absoluter Werte widerspricht nicht dem Gebot der historischen Weltansicht. Gegenüber den Gefahren des relati-
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vierenden Denkens lag dem Naturrecht ein wahrer Kern zugrunde. Der „Glaube an zeitlose Leitsterne für Erkennen und Handeln", die „Sehnsucht nach dem Unvergänglichen, Allgemeingültigen, Absoluten" ist zutiefst im menschlichen Geist verwurzelt - ebenso wie die Welt der Natur ewige Gesetze und ewige Wahrheiten kennt. Hinter der dauernden Veränderung einzelner Normen sind daher absolute Werte zu postulieren, an denen sich unser Recht ausrichten muß. Die Zeit des gesetzlich sanktionierten Unrechts, das unsere Rechtsordnung schwer erschütterte, hat dazu geführt, in diesem Sinne das Problem des Naturrechts erneut aufzugreifen. Im Bonner Grundgesetz (Art. 1 Abs. 1) wird die Würde des Menschen als unantastbar und als überpositiver oberster Wert anerkannt. Schließlich ist es aber gerade Savigny gewesen, der den Satz aussprach: „Alles Recht ist vorhanden um der sittlichen, jedem einzelnen Menschen innewohnenden Freiheit willen", und der die „sittliche Natur des Rechts" in der „Anerkennung der überall gleichen sittlichen Würde und Freiheit des Menschen" erblickt. Geschichtliche Betrachtung braucht auch keineswegs einen dumpfen Fatalismus auszulösen, der Einschläferung zu dienen und den Willen zur Gestaltung des eigenen Schicksals zu lahmen. Savigny stand wie die Römer der entpflichtenden Willkür eines wild bewegten Neuerungswillens feindlich gegenüber. Jedoch befürwortete er nicht eine selige Ruhe. Revolutionen, aber nicht Reformen lehnte er ab. „Durch freie Tätigkeit" gelte es „jene stille Reform herbeizuführen, die, ohne den hohen Preis der blutigen", zwar langsamer aber sicherer wirke". Savignys Dynamik war also konservativ getönt. Historischer Kontemplation widerspricht auch nicht die Bereitschaft zur historischen Kritik. Im Rechts- und Staatsleben ist nicht nur das historisch Begründete vernünftig. Auch die Geschichte und Dogmatik des Rechts sind auf Werturteile angewiesen. Die kritische Bewertung der Rechtsordnungen einer vergangenen Zeit erfolgt nach den jener Zeit immanenten Wertmaßstäben. Aber der Historiker darf die Vergangenheit auch an Hand seiner eigenen und seiner Gegenwart Wertungen überprüfen. Es besteht eine Wechselwirkung. Die Gegenwart kann man nie anders verstehen lernen als durch den Einblick in die Vergangenheit. Notwendig erscheint jedoch auch die Betrachtung der Vergangenheit unter dem Aspekt der Gegenwart. Savigny betont in der Vorrede zum „System" mehrfach, daß sein Werk kritischen Charakter tragen werde.
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Sein Ziel ist dasselbe, wie es Ludwig Mitteis in der „Festgabe der Deutschen Juristen-Zeitung zur Jahrhundertfeier der Friedrich-Wilhelms-Universität 1910" verkündet hat: „Aufgabe des Historikers ist nicht bloß, die Lehren, sondern auch die Irrlehren der Vergangenheit als solche zu erkennen und die Gegenwart von ihrer suggestiven Kraft zu befreien".
Savigny selbst hat diesen Gedanken in der Vorrede zu seinem „System" dahin formuliert: „Es ist nicht bloß die Masse der gewonnenen Wahrheit, die uns" aus der „reichen Erbschaft" vergangener Jahrhunderte „zufällt; auch jede versuchte Richtung der geistigen Kräfte, alle Bestrebungen der Vorzeit, mögen sie fruchtbar oder verfehlt sein, kommen uns zu gut als Muster oder Warnung".
Zum Stil sozialpolitischer Gesetzgebung1 BERND BARON VON MAYDELL
I. Das Thema und seine Begrenzung Trotz der immer wieder und mit Nachdruck geäußerten Klagen über die Gesetzesflut steigt die Zahl der Gesetze2 und Verordnungen beständig weiter. Das gilt insbesondere für das Sozialrecht, das sich in einem laufenden Wandlungs- und Erweiterungsprozeß befindet. Während die Klagen über diese Entwicklung schon beinahe zum Alltag gehören3, sind die Überlegungen, ob und gegebenenfalls wie man sie aufhalten kann, noch nicht bis zu konkreten Handlungsrezepten gediehen; man begnügt sich zumeist mit allgemeinen Appellen an die Gesetzgeber. Auch diese Untersuchung kann keine Patentlösung bieten. Sie soll jedoch deutlich machen, wo die Schwierigkeiten liegen und welche Wege überhaupt gangbar sind. Zu diesem Zweck soll zunächst der gegenwärtige Zustand der Sozialgesetzgebung analysiert werden, wobei insbesondere auf die Faktoren abzustellen ist, die zu einer ständigen Vermehrung der Rechtsnormen führen1. Im Anschluß daran soll der wichtigste Ansatz im Sozialrecht, die Schaffung eines einheitlichen Sozialgesetzbuches, daraufhin untersucht werden, inwieweit dieses Vorhaben geeignet ist, die Gesetzesflut einzudämmen. In dem Umfange, wie die Kodifikation
1 Erste Überlegungen zu diesem Thema - beschränkt auf die Kodifikationsproblematik - hat der Verfasser im Rahmen eines Vortrages vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 6.10.1976 entwickelt. Die vorgesehene Veröffentlichung in der Schriftenreihe der Gesellschaft ist aus vielerlei Gründen zunächst verschoben und dann ganz unterblieben. 2 Zu der veränderten Funktion des Gesetzes in der industriellen Massengesellschaft vgl. Schneider, Gesetzgebung, 1982, S. 1. 5 Vgl. z . B . Simon, Gesetzesflut, Gesetzgebungsperfektionismus. Verhandlungen des 53. Dt. Juristentages, Bd. 2 der Sitzungsberichte, Teil Q , 1981; ferner Schneider, Gesetzgebung, 1982, S.233 m . w . N . * Ausgeklammert bleibt die Frage, wie im übrigen der Stil der Gesetzgebung verbessert werden kann. Mit dieser methodischen Frage hat sich auch die Rechtswissenschaft in den letzten Jahren zunehmend befaßt; vgl. u.a. Müller, Handbuch der Gesetzestechnik, 2. Aufl. 1963; Rödig (Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, 1976; Schneider, Gesetzgebung, 1982; Kindermann, Gesetzgebungstheorie als Forschungsaufgabe, ZRP 1983, 204; siehe zu den politischen Bestrebungen in diesem Bereich Herles, Den Volksvertretern aufs Maul geschaut. Muß die Gesetzessprache so sein, wie sie ist? FAZ v. 25.7.1983, S.6.
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allein nicht genügt, wird zu fragen sein, welche sonstigen Mittel in Betracht kommen können. Die damit aufgeworfenen Fragen können nachfolgend natürlich nur skizziert werden; es geht im wesentlichen um die Fragen, mögliche Antworten können nur angedeutet und nicht im einzelnen vertieft werden. II. Der Zustand des gegenwärtigen Sozialrechts 1. Die wichtigsten Aspekte zur Beschreibung dieses Zustandes Die Aktivitäten des Gesetzgebers auf dem Gebiet der Sozialpolitik spiegeln sich im gegenwärtigen Sozialrecht wider; dieses Sozialrecht ist das Ergebnis der sozialpolitischen Bemühungen der Vergangenheit. Der Zustand des Sozialrechts sagt damit auch etwas aus über die Fähigkeit des Gesetzgebers, dieses Rechtsgebiet befriedigend zu regeln. Eine vollständige Zustandsbeschreibung 5 ist naturgemäß nicht möglich, es können nur einige wesentliche Aspekte herausgegriffen werden, die die Mängel der sozialpolitischen Gesetzgebung aufzeigen. a) Normen fülle Das Sozialrecht ist bis auf den heutigen Tag in zahlreiche Gesetze aufgespalten. Die Schätzungen belaufen sich auf ca. 800 Gesetze und Verordnungen'. Diese verschiedenen Rechtsquellen enthalten teilweise Parallelregelungen, teilweise werden aber auch vergleichbare Tatbestände - bisweilen aus historischen Gründen - in verschiedenen Gesetzen unterschiedlich geregelt. Dieser Zustand soll durch das SGB gebessert werden, auf das anschließend noch einzugehen sein wird. b) Fehlen einer durchgehenden Systematik Eine umfassende sozialrechtliche Systematik fehlt bislang. Das Sozialrecht hat sich als Praktikerrecht entwickelt, von dem die Rechtswissenschaft erst relativ spät Kenntnis genommen und mit dem sie sich lange Zeit nur am Rande beschäftigt hat. Das ändert sich nur allmählich. Das Fehlen einer Systematik hat dazu geführt, daß die einzelnen Gesetze nicht ihren festen Platz in einem Gesamtsystem haben. Das führt zusätzlich zur Unübersichtlichkeit und zu einer weiteren Zersplitterung des Sozialrechts7.
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Vgl. dazu V. Maydell in GK-SGB I, 2. Aufl. 1981, Einl. Rz. 10 ff. So Wertenbruch, ZSR 1968, 393. 7 Speziell zum Sozialversicherungsrecht vgl. Gitter, Zweckwidrige Vielfalt und Widersprüche im Recht der Sozialversicherung, Bd. VI der Schriftenreihe des Deutschen Sozialgerichtsverbandes, 1969. 6
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c) Häufige
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Änderungen
Die Unübersichtlichkeit des Sozialrechts wird dadurch gesteigert, daß Kernbereiche dieses Rechtsgebietes ständigen Änderungen unterliegen. Jede Veränderung der wirtschaftlichen Bedingungen führt dazu, daß auch im Sozialrecht neue Gesetze geschaffen oder/und die bestehenden geändert werden. Das gilt in besonderem Maße in Zeiten der Rezession, in denen einerseits ein besonderer Bedarf nach sozialem Schutz besteht, anderersetis aber die sinkende Wirtschaftskraft das Sozialsystem in erhebliche finanzielle Schwierigkeiten bringt 8 . Die zahlreichen Haushaltsdämpfungs-, Struktur- und Haushaltsbegleitgesetze belegen das ebenso wie die speziellen Kostendämpfungsgesetze in einzelnen Sozialleistungsbereichen. Unter dem Stichwort der Ausgewogenheit betreffen diese Gesetze regelmäßig nicht nur einzelne Leistungen sondern eine Vielzahl von Instituten. Sie verändern neben der Leistungshöhe und den Beitragsregeln häufig auch die Leistungsvoraussetzungen. Dadurch kann zwar erreicht werden, daß Sparmaßnahmen nicht nur einzelne treffen sondern auf eine möglichst große Zahl von Betroffenen verteilt werden. Gleichzeitig führt eine solche „Ausgewogenheit" jedoch dazu, daß eine Vielzahl von gesetzlichen Regelungen geändert werden muß'. Da solche umfassenden Eingriffe sich wiederholen können und tatsächlich in den letzten Jahren sich häufig wiederholt haben, können manche gesetzlichen Vorschriften nur noch mit dem Zusatz, der auf die jeweils geltende Fassung aufmerksam macht, zitiert und angewendet werden; die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, insbesondere zum Arbeitsförderungsrecht, belegt diese Entwicklung besonders eindrucksvoll 10 .
d) Rechtsprechung und
Normenflut
Die Rechtsprechung ist - ebenso wie die Verwaltung und die Bürger von dieser Entwicklung betroffen 11 , sie muß sich immer wieder mit neuen Rechtsgrundlagen auseinandersetzen und findet so kaum zu einer ständigen Rechtsprechung. Das wird besonders deutlich dann, wenn das
8 Siehe zu den verfassungsrechtlichen Implikationen dieser Schwierigkeiten Isensee, Der Sozialstaat in der Wirtschaftskrise, in: Demokratie in Anfechtung und Bewährung, Festschrift für Johannes Broermann, 1982, S. 365 ff. 9 Vgl. ζ. B. zu dem unter dem Stichwort „Operation 82" zusammengefaßten zahlreichen Gesetzesänderungen Pappai, Die sozialrechtliche Gesetzgebung, in: Jahrbuch des Sozialrechts der Gegenwart, Bd. 4, 1982, S. 23 ff. 10 Allein das AFG, ein modernes Gesetz, hat seit seinem Inkrafttreten im Jahre 1969 über 40 Änderungen erfahren. 11 Zu dem Verhältnis der sozialgerichtlichen Rechtsprechung zu der Gesetzgebung allgemein vgl. Langkeit, Sozialrecht in der Wechselwirkung der drei Gewalten, in: Die verfassungsrechtliche Relevanz des Sozialrechts, Bd. XIV der Schriftenreihe des Deutschen Sozialgerichtsverbandes, 1975, S. 147 ff.
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neue Gesetz sich ausdrücklich gegen eine von den Gerichten sanktionierte Gesetzesauslegung wendet. Ein Beispiel dafür ist die Regelung, wonach die Möglichkeit für den Bezug von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe während des Studiums für den Regelfall beseitigt worden ist12. Gleichzeitig tragen die Gerichte aber auch zum Anwachsen des Normenbestandes bei13, wobei im Rahmen dieser Untersuchung offen bleiben kann, wie dieser Umstand zu werten ist". Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang nur an die strengen Anforderungen für das Vorliegen einer ausreichenden Ermächtigung zum Erlaß von Rechtsordnungen, an die Anforderungen hinsichtlich der Eindeutigkeit und Klarheit von N o r m e n sowie an den Grundsatz, daß der Gesetzgeber die grundlegenden Fragen selbst regeln muß. Bei der Komplexität der zu regelnden Sachverhalte kann dies nur dazu führen, daß der Gesetzgeber zur Schaffung zusätzlicher N o r m e n verpflichtet wird. 2. Die Folgen der sozialrechtlichen
Normenflut
Wie gezeigt worden ist, wird der Zustand unseres Sozialrechts durch eine große Anzahl von Gesetzen und Verordnungen bestimmt. Die vorhandene Normenflut wird noch vermehrt durch die strikten rechtsstaatlichen Anforderungen der Rechtsprechung, insbesondere des Bundesverfassungsgerichts. Der Normenbestand ist mangels einer entwikkelten Systematik und wissenschaftlichen Dogmatik unübersichtlich und f ü r den Bürger kaum verständlich. Als besonders gravierend kommt die häufige Änderung des Sozialrechts hinzu, die durch die wirtschaftlichen, sozialen und finanziellen Bedingungen gefordert wird. Der so zu kennzeichnende Zustand hat für alle Beteiligten, die Bürger ebenso wie die Rechtsanwender, schwerwiegende Folgen 15 . Die Unübersichtlichkeit des bestehenden Rechts und der häufige Wechsel der N o r m e n führen dazu, daß der einzelne sein Recht nicht mehr kennt und die Entscheidungen 12
Vgl. einerseits BSG SozR 4100 §118 A F G N r . 5 und andererseits § 118 a AFG, der durch das 5. A F G - Ä n d G v. 23. 7.1979 (BGBl. I S. 1189) eingefügt wurde; siehe dazu jetzt auch Brocke, Studium und Verfügbarkeit nach § 103 AFG - Zur Verfassungsmäßigkeit des §118 a AFG, SGb. 1983, 417. 13 Insbesondere zur Rolle des Bundesverfassungsgerichts in dieser Hinsicht vgl. Katzenstein, Aktuelle verfassungspolitische Fragen des Sozialrechts und der Sozialpolitik, D R V 1983, 337, 341. 14 Zur Rechtsbildung im Bereich des Sozialrechts vgl. Band X der Schriften des Deutschen Sozialgerichtsverbandes „Rechtsfortbildung durch die sozialgerichtliche Rechtsprechung", 1973. 15 Auf diese Folgen weist ζ. B. die Vertreterversammlung der LVA Rheinprovinz in einer Resolution ausdrücklich und sehr eindringlich hin, vgl. Amtl. Mitt. LVA Rheinpr. 1983, 319.
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der Verwaltungsbehörden und Gerichte kaum verstehen kann. Während so einerseits nicht mehr gewährleistet ist, daß der einzelne seine Rechtsposition erkennen und durchsetzen kann, schafft der Wildwuchs von Regelungen andererseits gleichzeitig die Möglichkeit des Mißbrauchs". Unabhängig davon, inwieweit ein solcher Mißbrauch tatsächlich vorkommt, verstärkt die Unübersichtlichkeit der Materie das Gefühl, daß es einen solchen Mißbrauch geben könne, ohne daß der Umfang im einzelnen belegbar ist. Das Mißbrauchsargument erhält dadurch gerade in Zeiten der Rezession ein besonderes Gewicht, das allerdings stark emotional bestimmt ist und sich weitgehend rational nicht konkret belegen läßt. Daß ein solches Argument für eine geordnete Sozialpolitik gefährlich werden kann, ist offensichtlich. Hinzu kommt, daß ein sich laufend änderndes Recht nicht mehr berechenbar ist. Beständigkeit und Berechenbarkeit sind aber wesentliche und unverzichtbare Bestandteile einer Rechtsordnung'7. Der Verlust der Berechenbarkeit tangiert die Ordnungsfunktion des Rechts in seinem Kernbereich18. Daß damit auch eine verfassungsrechtliche Dimension angesprochen wird, hat jüngst Katzenstein deutlich gemacht".
III. Kodifizierung des Sozialrechts als Ausweg? 1. Das
Kodifizierungsvorhaben
Die Bestrebungen, das Sozialrecht in einem Gesetzbuch zusammenzufassen, gehen zurück auf die sogenannte Rothenfelser Denkschrift von vier Wissenschaftlern20. Dieser Vorschlag wurde jedoch seinerzeit von den gesetzgebenden Körperschaften nicht aufgegriffen; er geriet auch im Schrifttum und in der sozialpolitischen Diskussion zunächst in Vergessenheit. Die Forderung nach der Schaffung einer einheitlichen Ordnung der Sozialgesetze tauchte dann wieder im Bad Godesberger Grundsatzprogramm der SPD vom Jahre 1959 auf. Erst zehn Jahre später wurde sie " Siehe dazu ζ. B. Stettner, Schwachstellen der Gesetzgebung im Gesundheitswesen „Legale" Wege des Mißbrauchs VSSR 1983, 155. 17 Zutreffend weist Redeker (Gesetzesrationalität und verständliches Recht, N J W 1977, 1183) darauf hin, daß Gerechtigkeit Vertrauen voraussetzt, ein solches Vertrauen sich aber bei ständig sich verändernden Normen nicht herausbilden könne. 18 Rüdiger Altmann (Der Verfall der Legalität, FAZ v. 27.8.1983) spricht davon, daß durch die Gesetzesflut „die institutionelle Ordnung der Demokratie" überschwemmt werden. " Siehe Fn. 13; vgl. auch Zacher, Sozialstaat und Recht. Grundlagen-Entwicklungen-Krise, VSSR 1983, 119, 134, der den Mangel an Stetigkeit als zentrales Hindernis für die Realisierung sozialer Sicherheit bezeichnet. 20 Achinger/Höffner/Muthesius/Nenndörfer, Neuordnung der sozialen Leistungen, 1955, S. 132 ff.
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durch Bundeskanzler Brandt in seiner Regierungserklärung vom 28.10.1969 erneut aufgegriffen. Auf der Basis der Regierungserklärung beschloß die Bundesregierung am 19.3.1970 die Berufung einer Sachverständigenkommission; gleichzeitig wurde entschieden, daß zunächst der Allgemeine Teil des Sozialgesetzbuches erarbeitet und vorweg in Kraft treten sollte21. Die Sachverständigenkommission, der 30 Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Praxis angehörten, legte im Mai 1971 die Thesen für einen Allgemeinen Teil vor, die in einem Referentenentwurf verwertet wurden. Der am 16.5.1972 beschlossene Regierungsentwurf wurde - nach der vorzeitigen Auflösung des 6. Deutschen Bundestages nach der Neuwahl vom Herbst 1972 mit geringen Modifikationen erneut ins Gesetzgebungsverfahren eingebracht. In den Gesetzgebungsberatungen war vor allem die Einbeziehung der Jugendhilfe und des Wohngeldes in das Sozialgesetzbuch umstritten. Im wesentlichen unverändert wurde der Regierungsentwurf vom Bundestag in zweiter und dritter Lesung am 19.6.1975 verabschiedet und trat - nach einer Einschaltung des Vermittlungsausschusses - am 1.1.1976 in Kraft22. Dieser Allgemeine Teil enthält sehr verschiedenartige Vorschriften 23 . Er dient zunächst als eine Art innerstaatlicher Sozialcharta, durch die die Stellung des einzelnen im Sozialrecht verdeutlicht wird. Dieser Funktion dienen sowohl § 1 über die Aufgaben des Sozialgesetzbuchs wie auch die §§2 bis 10 über die sozialen Rechte. Auch die meisten Vorschriften des zweiten Abschnittes, nämlich die §§ 11-29 SGB-AT, die sogenannten Einweisungsvorschriften, kann man zu dem Komplex „SGB als Sozialcharta" zählen. Daneben kommt dem Allgemeinen Teil die Funktion zu, die für alle Bereiche des Sozialrechts gemeinsamen Vorschriften zusammenzufassen und einheitlich zu regeln. Dieser klassischen Funktion eines Allgemeinen Teils dienen die meisten Vorschriften des dritten Abschnitts, nämlich die §§33-67 SGB (z.B. die Vorschriften über Verzinsung, Übertragung, Pfändung und Vererbung von Sozialleistungen). Der nächste Kodifikationsschritt betraf das IV. Buch, in dem das Sozialversicherungsrecht zusammengefaßt werden soll. In Kraft getreten ist bislang allerdings nur das erste Kapitel, das die gemeinsamen Vorschriften für die Sozialversicherung enthält24. Dabei handelt es sich um einen weiteren allgemeinen Teil, dessen Geltung allerdings für die
21
Siehe dazu Hauck, in: Das neue Sozialgesetzbuch, 2. Aufl. 1975, S. 9ff. Zum Gesetzgebungsverfahren vgl. v. Maydell, in: GK-SGB I, 2. Aufl. 1981, Einl. Rz. 40 ff. 23 Siehe dazu v. Maydell, Der Allgemeine Teil des Sozialgesetzbuches, N J W 1976, 161 ff. 24 BGBl. 1976 I S.3845. 22
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Bereiche der Sozialversicherung, d. h. das IV. Buch des SGB, beschränkt ist25. Schließlich ist inzwischen auch - in zwei Schritten - das X. Buch des SGB in Kraft getreten, das im ersten Kapitel das Verwaltungsverfahren, im zweiten Kapitel Einzelheiten des Sozialdatenschutzes 26 und im dritten Kapitel die Regelungen der Beziehungen der Sozialleistungsträger zueinander und zu Dritten enthält27. Letztlich regelt auch dieses X.Buch allgemeine Fragen aller Sozialleistungsbereiche. Uberblickt man die bisherigen Gesetzgebungsschritte, so muß man feststellen, daß die bisher in Kraft getretenen Bücher neben das bisherige Sozialrecht getreten sind. Dieses Nebeneinander von Neuregelungen und altem Recht bedingt eine Koordination. Der Gesetzgeber hat dies dadurch erreicht, daß er in Artikel 2 § 1 SGB-AT alle die Gesetze, die später einmal in das Sozialgesetzbuch eingearbeitet werden sollen, zu besonderen Teilen des Sozialgesetzbuches deklariert hat. Die Weitergeltung der bisherigen sozialrechtlichen Einzelgesetze als besondere Teil des SGB bedingt eine Anpassung dieser Gesetze an den Allgemeinen Teil. Dies geschieht durch Artikel 2 §2-16 SGB-AT. Dennoch wird die Anwendung der in Kraft getretenen Teile des SGB weitere Koordinierungsfragen aufwerfen, die der Gesetzgeber nur zum Teil gesehen haben dürfte. Zumindest für die - hinsichtlich ihres Endes nicht abzusehende - Übergangszeit bis zur Ausarbeitung und zum Inkrafttreten der besonderen Teile des SGB ist insoweit mit einer zusätzlichen Komplizierung des Sozialrechts zu rechnen. 2. Die Bewertung des Kodifikationsvorhabens Will man das SGB werten, so muß man sich zunächst über den Wertungsmaßstab klar werden. So könnte man fragen, inwieweit das SGB die Sozialreform weiterbringt. Eine solche Fragestellung wird jedoch dem Gesetzesvorhaben nicht gerecht, weil der Gesetzgeber erklärtermaßen mit dem SGB, um ein Wort von Zacher21 zu gebrauchen, eine Kodifikation bei begrenzter Sachreform erstrebt. So soll z.B. die bisherige institutionelle Gliederung, d.h. die Vielzahl der Sozialleistungsträger, und die gerichtliche Zuständigkeit nicht geändert werden. Ziel des Gesetzgebers ist es also primär, eine Kodifikation des Sozialrechts zu schaffen; dadurch soll das Sozialrecht leichter verständlich und 25
Vgl. dazu Krause, in: GK-SGB IV, 1978, Einl. Rz. 9 ff. Erstes und zweites Kapitel sind gemeinsam am 1.1.1981 in Kraft getreten (BGBl. 1980 I S. 1469). 27 BGBl. 1982 I S. 1450. 28 Das Vorhaben einer Kodifikation des Sozialrechts in der Bundesrepublik Deutschland, Schweiz. Zeitschrift f. Sozialversicherung 1971, 209, 212. 26
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überschaubarer werden. Kodifikation bedeutet die „legislatorische Erfassung eines ganzen Rechtsgebietes uno actu"29. Sie unterscheidet sich von einer bloßen Gesetzessammlung dadurch, daß die Rechtsmaterie nach einheitlichen Kriterien strukturiert und in ein Gesetzbuch zusammengefaßt wird. Die systematische Durchdringung und Strukturierung einer Rechtsmaterie ist daher notwendige Voraussetzung für jede Kodifikation. Zu fragen ist also - und damit wird der gesetzgeberischen Intention Rechnung getragen - ob die bisherigen Schritte zur Realisierung des SGB die Hoffnungen rechtfertigen, daß am Ende der Gesetzgebungsarbeiten eine Kodifikation stehen wird, d.h. ein Gesetzesbuch, in dem das Sozialrecht nach einheitlichen systematischen Kriterien strukturiert und überschaubar zusammengefaßt wird. Der Gesetzgeber, der die Kodifikation eines Rechtsgebietes in Angriff nimmt, sieht sich einer Reihe von Schwierigkeiten gegenüber, die dazu geführt haben, daß die Kodifikationen in der Gegenwart seltener geworden sind. Dabei kann man zwischen allgemeinen und speziellen Schwierigkeiten unterscheiden. Von diesen Schwierigkeiten der Kodifikation ist auszugehen; daran sind die Gesetzgebungsarbeiten zu messen. Kühler hat nachgewiesen30, daß der demokratische Staat, der auf Offenheit und ständigen Ausgleich zwischen den Gruppen angelegt ist, im Gegensatz zum autoritären Staat kodifikationsfeindlich ist. Eine Kodifikation ist eine langfristige Aufgabe, die von einem vierjährigen Parlament nicht bewältigt werden kann. In diesem Parlament agieren Parteien, die sich regelmäßig um eine politische Bestätigung in Wahlen bemühen müssen. Dies zwingt die Parteien, in der Flut der Gesetzesinitiativen sich auf die Vorhaben zu konzentrieren, die besonders dringlich sind und deren politische Relevanz offensichtlich ist31. Diese Argumentation wird auch nicht dadurch widerlegt, daß dem Parlament eine starke Ministerialbürokratie gegenübersteht. Zwar ist offensichtlich, daß sich die Erarbeitung von Gesetzen, insbesondere soweit schwierige Materien betroffen sind, fast ganz auf die Bürokratie verlagert hat; die Entscheidung darüber, welche Vorhaben den beschwerlichen Gang durch das Gesetzgebungsverfahren absolvieren, fällt aber nach wie vor in den politischen Instanzen. Dies bedeutet, daß eine Kodifikation nur dann erfolgreich sein wird, wenn sie auch politisch, d.h. im Kampf um die Mehrheit, „verkauft" werden kann. Mit dem Sozialgesetzbuch ist dies versucht worden, indem daran die Erwartung eines für den Bürger überschaubaren und vereinfachten Sozial2'
So Kubier, Kodifikationen und Demokratie, JZ 1969, 645 ff. Siehe Fn. 29. 31 Ähnlich auch Zweigert/Puttfarken, Allgeraeines und Besonderes zur Kodifikation, in: Festschrift für Imre Zajtay, S. 569 ff. 50
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rechts geknüpft wurde, obwohl ganz sicher war und ist, daß die beste Kodifikationsarbeit nicht ein Gesetzbuch hervorbringen kann, in dem der Bürger nur zu blättern braucht, um seine Rechte zu ermitteln32. Ganz deutlich wird dies bei so komplizierten Materien wie z . B . der Rentenberechnung. Ein solches einfaches Gesetzbuch ist eine schöne Utopie. Mit dem Versuch, diese allgemeinen Schwierigkeiten einer Kodifikation im demokratischen Staat zu überspielen, hängt auch zusammen, daß der Allgemeine Teil des SGB zuerst bearbeitet worden und in Kraft gesetzt worden ist. Geht man davon aus, daß im Allgemeinen Teil die für alle Sozialleistungsbereiche gemeinsamen Vorschriften zusammengefaßt werden sollen, so hätte es nahegelegen, zunächst die besonderen Teile fertigzustellen, um dann festzustellen, welche gemeinsamen Regeln bestehen, die sinnvollerweise vor die Klammer gezogen werden können". Statt dessen stand im Zeitpunkt der Verabschiedung des Allgemeinen Teils noch nicht abschließend fest, wie viele Bücher das SGB haben und welche Einzelgesetze letztlich erfaßt werden sollten". Symptomatisch für die Schwierigkeiten des demokratischen Gesetzgebers in einer pluralistischen Gesellschaft ist auch die Zusammensetzung der Sachverständigenkommission für das Sozialgesetzbuch. Wurden in den Vorbereitungskommissionen für die Kodifikation des ^.Jahrhunderts Sachverständige allein aufgrund ihres Sachverstandes berufen, so ist die Sachverständigenkommission für ein Sozialgesetzbuch ein Spiegelbild der für den Bereich des Sozialrechts wirksamen Kräfte. Neben Richtern und Wissenschaftlern sowie Ministerialbeamten sind vor allem Vertreter aus den Verbänden und den Sozialleistungsträgern in die Kommission berufen worden. Sicherlich kann Hauckdem seinerzeit für das SGB zuständigen Referenten im Bundesarbeitsministerium, nicht widersprochen werden, wenn er auf die Sachkenntnis der Mitglieder der Kommission hinweist, ebenso sicher spricht jedoch diese Zusammensetzung auch für das Bemühen der Bundesregierung, nach Möglichkeit bereits in der Kommission eine Verständigung zwischen den verschiedenen interessierten Gruppen herbeizuführen. Daß eine so zusammengesetzte Kommission anders arbeitet, als eine streng nach dem Kriterium 32 So schon v. Maydell, Auf dem Wege zu einem besseren Sozialrecht, ZRP 1973, 115 ff. 3J In diesem Sinne auch Rüdig, Logische Untersuchungen zur Makrostruktur rechtlicher Kodifikationen, in: Rödig (Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, 1976, S. 592, 611. " Generell skeptisch gegenüber der Technik allgemeiner Teile Homann, Allgemeiner Teil oder allgemeine Vorschriften in der neueren Gesetzgebung, in: Rödig (Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, 1976, S. 328, 335. 35 Siehe Fn.21.
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des Sachverstandes zusammengesetztes Gremium, dürfte offensichtlich sein. Zu den allgemeinen Schwierigkeiten jeder Kodifikation in einem demokratisch verfaßten Staatswesen kommen spezifische Schwierigkeiten hinzu. Man denke nur an die Schwierigkeiten der Schaffung eines Arbeitsgesetzbuches, die vor allem im kollektiven Arbeitsrecht, insbesondere im Arbeitskampfrecht, liegen und darin bestehen, daß kein allgemeiner Konsens über die zu regelnden Rechtsfragen besteht, die bisher nur von der Rechtsprechung, nicht aber vom Gesetzgeber behandelt worden sind. Die spezifischen Schwierigkeiten der Kodifikation des Sozialrechts sind anders beschaffen. Sie haben ihre Ursache im gegenwärtigen Zustand des Sozialrechts. Jede Kodifikation setzt das Verständnis darüber voraus, was kodifiziert werden soll. Das Objekt wird beim Sozialgesetzbuch mit dem Begriff Sozialrecht gekennzeichnet. Was Sozialrecht jedoch ist und wie es gegenständlich abgegrenzt wird, darüber besteht kein allgemeines Einverständnis 36 . Da die soziale Zwecksetzung nicht für bestimmte Rechtsgebiete ausschließlich in Anspruch genommen werden kann, ist eine wissenschaftlich exakte Bestimmung des Begriffes Sozialrecht gar nicht möglich. Hinzu kommt, daß diesem Begriff international eine vom neueren deutschen Sprachgebrauch abweichende Begriffsdeutung beigelegt wird, man zählt dazu insbesondere auch das gesamte Arbeitsrecht. In Anbetracht dieser begrifflichen Schwierigkeiten bleibt dem Gesetzgeber nichts anderes übrig, als das Sozialrecht im Sinne des Sozialgesetzbuches durch eine Aufzählung der erfaßten Gesetze abzugrenzen. Es überrascht nicht, daß diese ad hoc Abgrenzung Probleme mit sich bringt und teilweise willkürlich erscheinen muß. So wird ζ. B. das Schwerbehindertengesetz als Teil des S G B aufgeführt, obwohl dieses Gesetz überwiegend arbeitsrechtliche Regeln enthält und das Arbeitsrecht insgesamt nicht in das S G B aufgenommen werden soll. Dagegen fehlt das Mutterschutzgesetz, das mindestens einen ebenso starken sozialrechtlichen Bezug hat wie das Schwerbehindertengesetz 37 . Ebenso wenig wie das Sozialrecht sich nach außen hin abgrenzen läßt, fehlt für dieses Rechtsgebiet eine innere Systematisierung. Es gibt bislang keine sozialrechtliche Dogmatik, die gewisse gemeinsame Grundlinien für die Kernbereiche des Sozialrechts herausgebildet hätte. Bislang sind, soweit überhaupt sozialrechtliche Forschung betrieben worden ist, 34 Vgl. nur Zacher, Einführung in das Sozialrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1983, S. 9; Schmid, Sozialrecht und Recht der sozialen Sicherheit. Die Begriffsbildung in Deutschland, Frankreich und der Schweiz, 1980. 37 Zu diesen Schwierigkeiten siehe v. Maydell, in: GK-SGB I, 2. Aufl. 1981, Einl. Rz. 23 ff.
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zumindest die einzelnen Bereiche isoliert untersucht worden. In Anbetracht dieser Gegebenheiten und des Umfanges des Sozialrechts hätte es nahegelegen, vor einer Gesamtkodifikation die Kodifikationen der sozialrechtlichen Teilbereiche anzugehen, nämlich des Sozialversicherungsrechts, des Sozialhilferechts und des Versorgungsrechts. Insbesondere das Sozialversicherungsrecht bietet sich für eine solche Zusammenfassung an, da sich hier zahlreiche Doppel- und Mehrfachregelungen befinden, ohne daß ein sachlicher Grund dafür besteht 38 . Der Gesetzgeber hätte hier anknüpfen können an frühere Kodifikationsbestrebungen, die 1911 zur Schaffung der Reichsversicherungsordnung geführt haben. Sicherlich wäre ein solches Vorhaben einer Teilkodifikation sehr viel bescheidener gewesen. Auch ist zuzugeben, daß bei diesem Vorgehen einzelne Gesetze selbständig geblieben wären. Das zeigt jedoch nur, welche großen und kaum überbrückbaren Unterschiede und Eigenständigkeiten in den einzelnen Sozialgesetzen bestehen, die man ohne grundlegende Harmonisierung nun in einem Gesetzbuch zusammenfassen will. Im übrigen muß bezweifelt werden, ob die Zusammenfassung in einem Gesetzbuch der Übersichtlichkeit und dem Verständnis des Einzelnen dient. Der einzelne Bürger wird sich nur ausnahmsweise gleichzeitig für mehrere Einzelbereiche des Sozialrechts interessieren. Im Regelfall wird er die ihn interessierende Regel leichter und schneller in dem einschlägigen Einzelgesetz finden 3 '. 3. Das SGB - ein Weg zur Eindämmung
der
Normenflut?
Es ist dargelegt worden, mit welchen Schwierigkeiten das Vorhaben der Kodifikation des Sozialrechts zu kämpfen hat. Immerhin ist die Kodifikation Anstoß dafür geworden, daß sich juristische Öffentlichkeit und Rechtswissenschaft intensiver mit dem Sozialrecht beschäftigen. Es ist zu hoffen, daß diese Bemühungen zu einer besseren Systematisierung des Sozialrechts führen werden, die sich auch auf die Gesetzgebung auswirken könnte. Allerdings ist, selbst wenn diese Erwartung langfristig in Erfüllung gehen sollte, nicht damit zu rechnen, daß durch das SGB bereits die Normenflut eingedämmt werden könnte 40 . Denn die Zusammenfassung des Sozialrechts in einem Gesetzbuch wird nichts 31 So bestand ursprünglich auch der Plan, eine Bundesversicherungsordnung zu schaffen, vgl. dazu Hauck, Zum Allgemeinen Teil der Sozialversicherung, in: Bd. VII der Schriftenreihe des Deutschen Sozialgerichtsverbandes, 1970, S. 79, 82. 39 Vgl. im einzelnen dazu v. Maydell, Kritische Anmerkungen zum Entwurf des Allgemeinen Teils eines Sozialgesetzbuches, BIStSozArbR 1974, 65 ff. 40 So auch Zweigert/Puttfarken (s. Fn. 31), S.578, die auch nach Gelingen einer Kodifikation - wegen der laufenden Gesetzesänderungen - von einer De-Kodifikation sprechen.
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daran ändern, daß der Gesetzgeber auch in Zukunft das Sozialrecht geänderten wirtschaftlichen und finanziellen Gegebenheiten anpassen wird. Vor allem aber diese laufenden Änderungen sind es, die die sozialrechtliche Gesetzesflut für den Bürger und Rechtsanwender so unerträglich machen. IV. Bestehen eines weiteren Handlungsbedarfs Wenn die Kodifikation allein nicht zu der notwendigen Beruhigung und zur Begrenzung der sozialpolitischen Gesetzgebungsaktivitäten führen kann, ist zu fragen, welche zusätzlichen Möglichkeiten in Betracht kommen. 1. Appelle an den Gesetzgeber? In der öffentlichen Debatte wird immer wieder an den Gesetzgeber appelliert, sich bei der Schaffung neuer Gesetze zurückzuhalten. Ganz abgesehen davon, daß gleichzeitig überall dort, wo soziale Defizite entstehen, nach eben demselben Gesetzgeber und seinen Aktivitäten gerufen wird, sind solche allgemeinen Forderungen wenig erfolgversprechend, weil sie den Ausgangspunkt für zahlreiche Gesetzesinitiativen unberücksichtigt lassen. Anlaß ist nämlich häufig, daß die Änderungen wirtschaftlicher und finanzieller Verhältnisse eine Anpassung des Sozialrechts erforderlich machen41. Da das Sozialrecht nicht isoliert, sondern nur im Rahmen der Gesamtwirtschaftsordnung gesehen werden kann, ist ein solcher Anpassungsbedarf vorhanden, ihm muß der Gesetzgeber Rechnung tragen. Es kann demnach nur darum gehen, in welcher Weise eine notwendige Anpassung erfolgen sollte, damit möglichst wenig Unruhe in das sozialrechtliche Gesamtsystem gebracht wird. 2. Erweiterung der Rechtssetzungsbefugnisse der Selbstverwaltung? Für den Bereich der Sozialversicherung, d. h. also nur einen Teil des Sozialrechts, könnte man daran denken, die Befugnisse der Selbstverwaltungsorgane zu erweitern. Für ein solches Vorgehen lassen sich sicherlich eine Reihe von guten Gründen anführen. Das gilt insbesondere für die Krankenkassen, deren Eigenverantwortlichkeit dadurch gestärkt würde. Das würde gleichzeitig der Idee der Selbstverwaltung zugute kommen, die gegenwärtig an dem Mangel von umfassenden Kompetenzen leidet. Eine Vereinfachung des Rechts durch weniger Normen wird man jedoch von einem solchen Schritt kaum erwarten können, da an die Stelle 41 Vgl. speziell für die Alterssicherung Schmähl, Anpassung der Alterssicherung an veränderte Bedingungen, in: List Forum, Bd. 11, 1981/82, S. 210 ff.
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der staatlichen Gesetze die von den Selbstverwaltungsorganen gesetzten Normen treten würden. In welchem Umfange und wie vielgestaltig schon gegenwärtig die eigenständige Rechtssetzung der gesetzlichen Krankenkassen ist, hat jüngst Kirchhof2 in einer präzisen Analyse dargestellt. 3. Schaffung von Generalklauseln Man könnte ferner daran denken, den Zuwachs von Gesetzen dadurch zu begrenzen, daß nicht jede Einzelfrage gesetzlich geregelt wird, sondern die Entscheidung der Sozialverwaltung überlassen bleibt, indem entsprechende Generalklauseln geschaffen werden. So hat z.B. Hauck vorgeschlagen43, durch eine verstärkte Verwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen und Generalklauseln der Verwaltung und der Rechtsprechung eine Anpassung des Rechts an veränderte gesellschaftliche Verhältnisse und an die Besonderheit des Einzelfalles zu ermöglichen. Dieser Weg, der auch von Hauck nur als einer neben anderen bezeichnet wird, dürfte jedoch nur beschränkt begehbar sein. Unbestimmte Rechtsbegriffe, und Generalklauseln sind sicherlich dort am Platze, wo der Gesetzgeber die Vielzahl unterschiedlicher Fallgestaltungen nur schwer in gesetzliche Tatbestände fassen kann. In diesem Bereich angewendet könnten Generalklauseln zu einer Entlastung des Gesetzesrechts werden. Allerdings muß man sich darüber im klaren sein, daß ein Weniger an gesetzlichen Normen durch ein Mehr an Kasuistik in der Rechtsprechung erkauft werden muß. Die kaum noch überschaubare Rechtsprechung und Literatur zu § 242 BGB ist insoweit ein anschauliches aber auch erschreckendes Beispiel. Vor allem aber erscheint fraglich, ob mit Hilfe von Generalklauseln die notwendigen Anpassungen an veränderte wirtschaftliche und finanzielle Verhältnisse vorgenommen werden können. Dadurch würden zentrale politische Entscheidungen auf die Ebene der Verwaltung verlagert44. 4. Notwendigkeit
der Entwicklung neuer
Anpassungsmechanismen
a) Grundgedanke Wie gezeigt worden ist, besteht für das Sozialrecht ein ständiger Anpassungsbedarf. Diese Tatsache kann nicht ignoriert werden, wenn 42
Die eigenständige Rechtsetzung der gesetzlichen Krankenkasse - Struktur, Rechtsquellen und Reichweite VSSR 1983, 175 ff. 45 Die Kodifikation des Sozialrechts als Beitrag zur sozialen Sicherung, in: Festschrift für Horst Peters zum 65. Geburtstag, 1975, s. 83, 92. 44 Diese Bedenken sieht im übrigen auch Hauck (s. Fn. 43), wenn er auf die sozial- und rechtsstaatlichen Anforderungen, die jede Regelung erfüllen muß, hinweist.
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man realistisch die Normenflut eindämmen will. Dies Ziel ist unter diesen Voraussetzungen nur erreichbar, wenn man im Sozialrecht die Möglichkeit schafft, daß eine Anpassung an veränderte Gegebenheiten ohne oder mit möglichst geringem gesetzgeberischem Aufwand vollzogen werden kann. Voraussetzung dafür wäre, daß man Mechanismen entwickelt, die auf Änderungen der wirtschaftlichen Gegebenheiten reagieren, ohne daß jeweils der Gesetzgeber in jedem Einzelfall tätig werden müßte. Daß ein solches Vorgehen nicht utopisch ist, beweisen konkrete Beispiele im gegenwärtigen Recht. Das wichtigste Beispiel ist die Rentenformel, wonach eine automatische Orientierung der Neurenten an die Entwicklung der Löhne und Gehälter erfolgt, ohne daß der Gesetzgeber jeweils, wie das vor 1957 der Fall war, eine Erhöhung von Fall zu Fall vornehmen muß. Bei den Bestandsrenten ist zwar noch ein besonderes Gesetz notwendig, dessen Inhalt jedoch durch die Anpassungsfaktoren weitgehend festgelegt ist45. Im Rahmen dieser Rentenformel könnten auch weitere Faktoren berücksichtigt werden, wie ζ. B. die demographische Entwicklung. Eine entsprechende Formel wird im Gutachten der Wissenschaftlergruppe des Sozialbeirates zu längerfristigen Entwicklungsperspektiven der Rentenversicherung 46 vorgestellt47. b) Mögliche Hindernisse für eine Realisierung Natürlich ist nicht zu verkennen, daß der Entwicklung solcher volloder halbautomatischer gesetzlicher Mechanismen erhebliche Schwierigkeiten entgegenstehen, die sowohl systematisch/technischer wie auch praktisch/politischer Art sind. (1) Voraussetzung für die Entwicklung von Anpassungsmechanismen ist, daß eine Beziehung zwischen den sich ändernden wirtschaftlichen Gegebenheiten, wie z . B . die Arbeitslosenquote, das Wirtschaftswachstum, das Steueraufkommen etc., und konkreten sozialrechtlichen Tatbeständen, wie z . B . die Höhe bestimmter Leistungen, die Höhe der Beiträge etc., bestehen und als solche anerkannt werden. Solche Bezie45 Siehe dazu v. Maydell/Schmähl, Die Anpassung von Sozialleistungen an wirtschaftliche Veränderungen in den verschiedenen Systemen der sozialen Sicherheit, ZVersWiss 1980, 225 ff. « BT-Drucks. 9/632. 47 Vgl. dazu Grohmann, Auswirkungen der Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland auf die gesetzliche Rentenversicherung, ZVersWiss. 1981, 49, 53; ders., Ist die Rentenformel reformbedürfig? in: Alterssicherung als Aufgabe für Wissenschaft und Politik, Helmut Meinhold zum 65. Geburtstag, 1980, S.413 ff.; Schmähl, Tendenzen und Aufgaben der Alterssicherungspolitik in Ländern Westeuropas, DRV 1983, 357.
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hungen sind nicht naturgesetzlich vorgegeben, sondern beruhen letztlich auf einem politischen Konsens, wie die Abhängigkeit der Rentenhöhe von der Entwicklung der Arbeitseinkommen, wobei dieser Konsens auf der Zielsetzung beruht, die Rentner an der Entwicklung des Lebensstandards zu beteiligen. Die Hauptaufgabe dürfte in dem Herstellen dieses Konsenses über die Frage liegen, wie sich vorstellbare wirtschaftliche und sonstige Änderungen auswirken sollen. Ohne einen solchen generellen Konsens ist es nicht möglich, zu einem von vornherein festgelegten System von Anpassungsmechanismen zu kommen. Hat man einen solchen Konsens erzielt, so ist es eine weitgehend technische Aufgabe, die Beziehungen zwischen wirtschaftlichen Faktoren und sozialrechtlichen Tatbeständen in einer Formel zum Ausdruck zu bringen. Gelingt dies nicht, so würde es bei dem gegenwärigen Zustand bleiben, daß die Anpassungen flächendekkend und unsystematisch je nach politischer Konstellation und Kassenlage erfolgen. (2) Die hier vorgeschlagenen Anpassungsmechanismen setzen eine weitgehende Systematisierung des Sozialrechts voraus. N u r so läßt sich erkennen, an welchen Stellen des Sozialrechtssystems bei Veränderung der wirtschaftlichen Gegebenheiten Anpassungen erfolgen sollen. Dafür ist es notwendig, daß die einzelnen Sozialleistungssysteme daraufhin untersucht und analysiert werden, von welchen variablen Faktoren die jeweiligen Regelungen abhängig sind. Auf dieser Grundlage sind Mechanismen zu entwickeln, durch die die Anpassung der Regelungen an die genannten Faktoren erfolgt. Dabei ist es durchaus möglich, daß eine Änderung der variablen wirtschaftlichen Faktoren zu einer automatischen Änderung verschiedener gesetzlicher Tatbestände des Sozialrechts führt, ζ. B. gleichzeitig auf der Beitrags- wie auf der Leistungsseite. (3) Eine erhebliche Schwierigkeit bei dem skizzierten Vorgehen liegt naturgemäß darin, daß eine vollständige Prognose über alle möglichen wirtschaftlichen und sonstigen Bedingungen, die sich auf das Sozialrecht auswirken können, kaum möglich ist. Außerdem könnten diese Änderungen auch Ausmaße annehmen, die völlig unerwartet sind. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, daß selbst bei Bestehen eines ausgeklügelten Systems von Anpassungsmechanismen der Gesetzgeber sich vor der Notwendigkeit sieht, auf eine extreme Entwicklung ad hoc zu reagieren. Auch unter Berücksichtigung dieses Vorbehalts können die vorgeschlagenen Mechanismen eine nicht unbeträchtliche Beruhigung in der sozialpolitischen Gesetzgebung bewirken. (4) Ein weiteres Problem könnte darin liegen, daß die Schaffung von Anpassungsmechanismen, die weitgehend automatisch wirken, dem Gesetzgeber die Möglichkeit zu regelmäßigen Aktivitäten nehmen könnte. Ein solches Hindernis besteht zwar nicht juristisch, da eine
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Selbstbindung des Gesetzgebers grundsätzlich zu verneinen ist, wohl aber aus Sinn und Zweck einer solchen Regelung. Vom Gesetzgeber würde erwartet, daß er eine einmalige Grundsatzentscheidung fällt, die Einzelanpassungen weitgehend überflüssig machen würde. Das System der Mechanismen würde nur funktionieren, wenn der Gesetzgeber sich an diese eigene Grundsatzentscheidung hält und sie nicht durch Modifikationen und Änderungen unterläuft. O b der Gesetzgeber diese Abstinenz üben wird, ist schwer vorauszusagen. Zumindest in Zeiten der Restriktion, in denen mit den einzelnen Spargesetzen kein öffentlicher Beifall zu erringen ist, dürfte ein System von automatischen Anpassungen allerdings auch für die Parteien einige Vorteile aufweisen. 5. Ausblick Durch die Untersuchung sollte deutlich gemacht werden, daß eines der zentralen Probleme der sozialpolitischen Gesetzgebung die N o r menflut ist. Die Zusammenfassung des Sozialrechts in einem Gesetzbuch allein ist keine ausreichende Maßnahme, um diese Normenflut einzudämmen. Auch Appelle an den Gesetzgeber zur Zurückhaltung genügen nicht. Selbst ein sehr sorgfältiger und verantwortungsbewußter Gesetzgeber muß heute einen erheblichen, regelmäßig anfallenden Anpassungsbedarf befriedigen. Abhilfe kann insoweit nur geschaffen werden, wenn neue Instrumente eingeführt werden, die diesen Anpassungsbedarf von vornherein berücksichtigen, ohne daß der Gesetzgeber jeweils einzuschreiten hätte.
Gesetzesflut und Gesetzesqualität heute THEO MAYER-MALY
Ein Übermaß an Gesetzen hat man schon in früheren Jahrhunderten beklagt. In den beiden letzten Jahrzehnten hat sich jedoch die Diskussion über die Zahl, zugleich auch über die Qualität der Gesetze in einer signifikanten Weise verdichtet1. Das Unbehagen über den Zustand der Gesetzgebung wird ja mehr durch schlechte als durch überflüssige Gesetze genährt. Das wichtigste Element in der neueren Diskussionsphase bilden aber die Ansätze zu einer Verteidigung der heutigen Gesetzgebungsweise2; diese lassen erkennen, daß die Vielzahl der Gesetze sowie ihr oft bedenklicher Stil nicht als Resultat des Unvermögens einzelner Legisten, sondern als Ausdruck einer neuen Rechtsgesinnung angesehen werden müssen. Wer die Schaffung von klaren Kodifikationen nicht als unrealistisch einschätzt, sondern als anachronistisch ablehnt, der offenbart ein tiefgreifend verändertes Verständnis des Rechts. Die Kodifikation ist viel mehr als ein Anliegen juristischer Ästhetik. Sie hat vor allem eine soziale Aufgabe: So weit als möglich soll sie das Recht den Reservaten der Experten entreißen und für den durchschnittlichen Normadressaten einschätzbar machen. Grundfalsch wäre es, aus dem Scheitern einzelner neuerer Kodifikationsvorhaben wie des deutschen Entwurfs eines allgemeinen Arbeitsvertragsgesetzes3 den pseudo-Savigny'schen Schluß zu ziehen, unsere Zeit sei zur Kodifikation nicht berufen. Der Schweiz ist die kodifikatorische Integration des Arbeitsrechts in den Titeln 10 und 10bis des O R sehr wohl gelungen; das deutsche Sozialgesetzbuch kann ebenso als Beispiel für die Lebenskraft des Kodifikationsgedankens angeführt werden wie das vorzügliche österreichische Strafgesetzbuch von 1974. 1 Vgl. besonders Winkler/Schilcher (Hrsg.), Gesetzgebung, 1981; Öhlinger (Hrsg.), Methodik der Gesetzgebung, 1982; weiterhin grundlegend Noll, Gesetzgebungslehre, 1973; aus den Anfängen der Diskussion verweise ich auf Mayer-Maly, Rechtskenntnis und Gesetzesflut, 1969; weiterführend H. Honseil, Vom heutigen Stil der Gesetzgebung, 1979; Heldrich, Festschr. Zweigert (1981), 811 ff. 2 Kühler, JZ 1969, 645 ff.; Esser, in: Vogel/Esser, 100 Jahre oberste deutsche Justizbehörde (1977) 13ff.; gegen beide Mayer-Maly, Rechtstheorie Beiheft 4 (1982), 201 ff. 3 Vgl. Dieterich, in: Berichte und Verhandlungen des 9. Internationalen Kongresses der Internationalen Gesellschaft für das Recht der Arbeit und der sozialen Sicherheit II/2 (1979), 786 ff.
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Theo Mayer-Maly
Die Schaffung einer klaren, konsequenten und daher auch beständigen Kodifikation ist aber nur der Schlußstein geglückter Gesetzgebung im gewaltentrennenden Rechtsstaat. Regelmäßig vorgelagert sind Gesetze mit bescheidenerem Anspruch, in zunehmendem Ausmaß auch große Rechtssprechungskomplexe. Das Unbehagen über Gesetzesflut und über Defekte der legistischen Qualität gilt durchwegs den Sondergesetzen - besonders denen, die beim besten Willen nicht als Vorstufe einer Kodifikation angesprochen werden können. In einem gewiß etwas grobschlächtigen Vorgehen lassen sich alle neueren Gesetze zum einen in gute und schlechte, zum andern in erforderliche und überflüssige einteilen. Es kann dabei nicht überraschen, daß die überflüssigen Gesetze zumeist auch schlecht sind. Ein Blick auf österreichische Erfahrungen mag zu allen derartigen Gruppierungen auch dann lehrreich sein, wenn man nicht jeder Bewertung folgt. Erforderlich und gut waren das schon erwähnte Strafgesetzbuch von 1974 (öBGBl. 1974/60), die Gewerbeordnung von 1973 (öBGBl. 1974/ 50), mit leichten Abstrichen auch das Arbeitsverfassungsgesetz vom 14.12.1973 (öBGBl. 1974/22) und das Gesetz über das internationale Privatrecht vom 15.6.1978 (öBGBl. 1978/304). Alle diese Gesetze haben kodifikatorischen Charakter und sind in jahrelangen Arbeiten von hochqualifizierten Expertenkommissionen sorgsam vorbereitet worden. Als überflüssig und schlecht gelungen muß ich dagegen die Einführung einer ausformulierten Haftung für Wege (§1319 a ABGB seit öBGBl. 1975/416 - mit wortreicher Legaldefinition des Weges!) sowie die rundfunkrechtliche Durchbrechung des Verbotes von Kettenarbeitsverträgen 4 bezeichnen. Den Schwerpunkt der Kritik an der Gesetzgebungspraxis bilden aber Gesetze, deren Erforderlichkeit nicht einfach bestritten werden kann, die aber als mißglückt bezeichnet werden müssen - entweder weil sie die vorgefundene Ordnungsaufgabe nicht bewältigen oder weil sie den Standard der Rechtssprache und der legislativen Gedankenführung unterschreiten 5 . So leidet das neue österreichische Mietrechtsgesetz (öBGBl. 1981/520) an drei gravierenden Defekten: Es liest sich schlecht und bleibt unübersichtlich; es versäumt das Anbieten von Alternativen zu den zwingenden Bestimmungen, die sich schon bisher als zu starr erwiesen haben; das führt im Ergebnis dazu, daß es - dies kann jetzt schon gesagt werden ziemlich wirkungslos geblieben ist. Weiterhin gibt es nahezu ebenso viel 4 öBGBl. 1982/48; dazu Mayer-Maly, Festschr. Strasser (1983), 87ff.; auffällig ist die Verwandtschaft der österreichischen Novelle mit BVerfG N J W 1982, 1447; dazu beachtenswerte Kritik bei Otto, ArbuR 1983, 1 ff. 5 Vgl. die harte Kritik von Koziol, Juristische Blätter 1976, 169 ff.
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Wohnungssuchende wie unbewohnten Wohnraum. Das Gesetz kann sie nicht zueinander führen. Zu den vor allem wegen unnötiger Kompliziertheit schlechten Gesetzen muß leider auch das österreichische Pendant zum A G B G , das Konsumentenschutzgesetz ( ö B G B l . 1979/140), gezählt werden. Seine Fassung (vgl. etwa seinen § 3) verschließt es gerade dem, dem es dienen soll: dem gewöhnlichen Verbraucher. Noch schlechter ist unter diesem Aspekt das Nachtschicht-Schwerarbeitsgesetz ( ö B G B l . 1981/354) ausgefallen: Es ist auch für den Experten unlesbar. Seine verwickelte Regelungstechnik (es besteht aus einem Bündel von Vorschriften, die Bestimmungen anderer Gesetze abändern) hat es mit sich gebracht, daß eine unbefangene Lektüre einzelner Passagen zur Annahme führen müßte, das Gesetz habe in einigen wichtigen Punkten die Position der Arbeitnehmerseite empfindlich verschlechtert. Lediglich die Gewißheit, daß das durchaus nicht beabsichtigt war, ermöglicht interpretative Anstrengungen, die dazu führen, daß man das offenbar Gemeinte auch dem Text entnehmen kann. Sowohl das Schulunterrichtsgesetz ( ö B G B l . 1974/139) wie das Universitäts-Organisationsgesetz (ÖBGBl. 1975/258) haben vorher eher lose geregelte Materien eindringlich verrechtlicht, dabei aber infolge vieler legistischer Schwächen nicht Rechtssicherheit, sondern ein Normengestrüpp geschaffen, das denen, denen es dienen sollte, mehr schadet als nützt. Die Liste der mißglückten Gesetze ließe sich unschwer verlängern 6 . Für die meisten anderen mittel- und westeuropäischen Staaten - wohl alle mit Ausnahme der Schweiz - lassen sich ähnliche Listen erstellen. Die Ursachen für Gesetzesflut und schlechte Gesetzesqualität liegen demnach nicht im persönlichen Versagen einzelner Legisten, sondern müssen von struktureller Art sein. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien einige herausgegriffen: Die Redaktoren von Gesetzentwürfen können sich dem allgemeinen Sprachverlust, der besonders im Mediendeutsch wahrnehmbaren Verwilderung des Sprachgebrauchs, kaum entziehen. In Kombination mit der immer schon verbogenen Bürokratensprache führt der Abbau der Sprachkultur dazu, daß sich der Gesetzgeber nicht mehr klar und kurz ausdrücken kann 7 . Es müssen aber auch die Rahmenbedingungen für die Auswahl der Redaktoren von Gesetzesentwürfen als ungünstig bezeichnet werden. Sie sind nicht dazu geeignet, verläßlich die jeweils besten Juristen eines 6 Vgl. etwa zum Mediengesetz (öBGBl. 1981/314) Mayer-Maly, Juristische Blätter 1981, 622 ff. 7 Zur Gesetzessprache noch immer beachtenswert Wolff, Die Gesetzessprache, 1952; aus neuerer Zeit vgl. besonders Schönherr, Österreichische Juristen-Zeitung 1980, 537ff.; Juristische Blätter 1982, 245 ff.
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Staates für die Gesetzesvorbereitung zu gewinnen (wie dies bei den Gesetzgebungsarbeiten bis zum Ende des 19. Jhs. noch durchwegs gelungen ist). Vor allem das Gewicht parteipolitischer Präferenzen in den Ministerien senkt deren legistisches Niveau. Daß es auf persönliche Gestaltungskraft und Sprachbeherrschung ankommt und technische Rezepturen nach der Art der österreichischen „legistischen Richtlinien des Bundes" 8 nicht genügen, muß deutlich gesehen werden. Eine dritte Ursache für die schlechte Qualität vieler Gesetze liegt in der Weitwendigkeit der vorparlamentarischen und parlamentarischen Auseinandersetzung mit einem zunächst oft recht passablen Entwurf. Nun wäre es aber völlig verfehlt, die Auseinandersetzungen eindämmen zu wollen, ihren Einfluß auf den Gesetzestext möglichst gering halten zu wollen. Die Suche nach dem Kompromiß, damit auch die Schaffung von Ausnahmen und schließlich auch noch deren Einschränkung gehören zur parlamentarischen Mehrparteiendemokratie. Es sollte aber nach der politischen Einigung nicht publizitätshaschende Geschäftigkeit, sondern die gewissenhafte Bemühung um eine saubere rechtssystematische und rechtssprachliche Endredaktion einsetzen. Bydlinskf, der diesen Gedanken ebenso wie ich aus der Erfahrung eigener Mitarbeit an Gesetzgebungswerken verficht, spricht von einem „zweiten juristischen Arbeitsgang". Ich meine, daß die Dreizahl der Lesungen eines Gesetzes im Parlament - eine der besten Traditionen des Parlamentarismus - weiterhelfen könnte. Der politische Kompromiß müßte zwischen einer ersten und einer zweiten Lesung gefunden werden, während die Spanne zwischen der zweiten und der dritten Lesung der rechtssystematischen und rechtssprachlichen Verbesserung des konsentierten Textes dienen könnte. Es wurden aber auch schon gute Erfahrungen mit einer begleitenden Betreuung der Verhandlungen durch legistisch versierte Experten gemacht. Dabei geht es am wenigsten um die Kürze und Korrektheit des Ausdrucks. Wie für die Bundesrepublik die gravierenden Gesetzgebungsfehler beim Versorgungsausgleich und beim Reisevertrag lehren, geht es vor allem um die Erfaßbarkeit von Regelungen und um die Vermeidung von Inkonsequenzen, Systembrüchen und Wertungswidersprüchen. Beträchtlichen Anteil an der Ausführlichkeit vieler Gesetze hat das Legalitätsprinzip, das man in Österreich noch penibler interpretiert10 als in der Bundesrepublik Deutschland. Sowohl der Art. 18 (Abs. 1 und 2) des österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes wie Art. 80 G G haben 8 Diese bei Ohlinger (Fn. 1) 232ff.; vgl. dazu aber Schelsky, Die Soziologen und das Recht (1980), 59 f. ' Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff (1982), 629 f. 10 Vgl. Bydlinski a.a.O. (Fn.9), 381 ff.
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ihren guten Sinn und verdienen vollen Respekt. Man darf aber auch die Augen nicht davor verschließen, daß sich die Gefahren, denen das Legalitätsprinzip entgegenwirken sollte, gewandelt haben. Zur Zeit der Honoratiorenparlamente und der eben erst durchgesetzten Gewaltentrennung sollte es verhindern, daß eine dem Staatsoberhaupt ergebene Beamtenschaft ohne gesetzliche Grundlage hoheitlich tätig werde. Heute sind jene Regierungen, die über einigermaßen stabile Parlamentsmehrheiten verfügen, in der Lage, sich die gesetzlichen Grundlagen für eine intendierte behördliche Aktivität oft sehr schnell zu beschaffen, so lange man ohne Grundrechtsverletzung auskommt. Nachdem in den ersten Nachkriegsjahren einige zu pauschal gehaltene Verordnungsermächtigungen an der Verfassungsgerichtsbarkeit gescheitert sind, haben fast alle Ministerialreferenten die Kunst erlernt, Gesetze so zu entwerfen, daß sie als Grundlage für allerlei Verordnungen taugen. Die Gesetze sind dadurch häufiger, länger und unübersichtlicher geworden. Für eine substantielle Zähmung der Verwaltung durch die Parlamente ist dadurch nichts gewonnen worden. Das ist überhaupt nicht verwunderlich: Es wird ja weniger danach gefragt, ob die Regierungen das Vertrauen der Parlamente haben, sondern mehr darauf geachtet, daß die Abgeordneten der Parlamentsparteien das Vertrauen der an einer Regierung beteiligten Parteiführer genießen und von Klubobmann und Parteisekretariat goutiert werden. In Osterreich ist diese Entwicklung durch einen sehr strikt gehandhabten Klubzwang noch weiter gediehen als in der Bundesrepublik. Unter diesen Umständen ist von einer strikten Handhabung des Legalitätsprinzips nur mehr eine Verschlechterung der Gesetzesqualität zu erwarten, ohne daß noch ein wesentlicher Beitrag zur parlamentarischen Steuerung der Vollziehung geleistet werden könnte. Daher sollte man zum einen eine vorsichtige Lockerung der verfassungsgerichtlichen Praxis zum Legalitätsprinzip erwägen, zum anderen aber nach wirksameren Kautelen für die Sicherung jener Anliegen Ausschau halten, denen das Legalitätsprinzip dienen soll. Zwei Sorgen sind es, die maßgeblich zur Gesetzesflut beitragen. Von der einen Sorge war gerade die Rede. Es ist die Befürchtung, ohne eine Bindung durch viele Gesetze würde die Verwaltung oft nach Gutdünken agieren. Die andere Sorge geht dahin, daß unter vom Gesetzgeber allein gelassenen Kontrahenten es regelmäßig zu einer Ausbeutung des Schwächeren durch den Stärkeren kommen würde". Mißtrauen gegenüber der Verwaltung und Mißtrauen gegenüber der Funktionsfähigkeit der Märkte erweisen sich als zwei Hauptursachen der Gesetzesflut.
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Hönn,
Zu den Möglichkeiten des Rechts, ein Kräfteungleichgewicht abzugleichen, vgl. Kompensation gestörter Vertragsparität, 1982.
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Die Einsicht, daß fehlendes Zutrauen zum Vertrag als Regelungsinstrument den Einsatz des Gesetzes so oft erforderlich macht, erschließt eine politische Dimension des Problems, die bisher nur selten erfaßt worden ist. Die Gesetzesflut ist eine typische Begleiterscheinung des Versuches, gesellschaftliche Verhältnisse durch den Einsatz von Parlamentsmehrheiten umzugestalten. Idealtypisch gesprochen, ist solches Vorhaben sozialdemokratisch, wenn die Umgestaltung der Verhältnisse durch Gesetz sozial schwachen Bevölkerungsgruppen helfen und Chancengleichheit ansteuern soll. In diesem Sinne sozialdemokratische Rechtspolitik betreiben allerdings auch - dies sei schon jetzt gesagt viele christdemokratische und andere „bürgerliche" Parteien. Anders steht es bei einem marxistisch-leninistischen, einem konservativen und einem klassisch-liberalen Verständnis von Recht und Gesetz wobei auch alle diese Etikettierungen nur als idealtypische angebracht werden, da das praktische Verhalten aller genannten Gruppierungen oft genug nicht von den eigenen, sondern von fremden Grundsätzen ausgeht (bald, weil man gar nicht an die eigenen Grundsätze glaubt, bald, weil man taktischen Gesichtspunkten den Vorzug gibt). Nach der Theorie des Marxismus-Leninismus führt der Weg zum Sozialismus nicht über eine Änderung der Gesetze, sondern über eine Änderung der Produktionsverhältnisse. Die Absage an eine Politik der Rechtsreform wurde vor allem in der Kritik am „Juristen-Sozialismus" von Anton Menger artikuliert 12 . Daß die Praxis der sozialistischen Staaten sich von ihrer Theorie auch in diesem Punkt deutlich unterscheidet und viel Regelungsoptimismus erkennen läßt, liegt offen zutage. Konservatives Verständnis von Recht und Gesetz will bestehende Strukturen und Ordnungen möglichst lange erhalten. Es liegt auf der Hand, daß solche Haltung vom Gesetzgeber nicht viel Aktivität fordert. Die Prüfung des Umfanges der Gesetzblätter von Staaten mit konservativen Regierungen ist ein interessanter Indikator dafür, wie ernst eine Regierung ihre eigene Programmatik nimmt. Für eine klassisch-liberale Auffassung 13 ist das Gesetz der Rahmen freier Betätigung, nicht aber ein alle Lebensbereiche durchdringendes Steuerungsinstrument. Dem Anwurf, diese Konzeption führe zum Nachtwächterstaat, kann diese Auffassung zumindest entgegenhalten, daß viele regelungsfrohe Sozialstaaten der Gegenwart nicht einmal jenen elementaren Rechtsgüterschutz präsentieren, für den sich der Nachtwächterstaat verbürgt hat. Hayek kommt der hier unternommenen
12 MEW Bd.21, 492ff.; vgl. dazu Ramm, Juristensozialismus in Deutschland, in: Quaderni Fiorentini 3/4, 1974/5, 7 ff. 13 Repräsentativ F.A. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1-3, 1980/81.
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politologischen Einschätzung der Gesetzesflut nahe, wenn er sagt, der Rechtspositivismus sei die Ideologie des Sozialismus14. Mir geht es allerdings weniger um Bewertung als um realistische Klassifikationen. Deren Ergebnis ist: Die Praxis der meisten europäischen Gesetzgeber stellt sich als eine sozialdemokratische heraus15. Weit über den Bereich hinaus, in dem es einen tatsächlichen Einfluß sozialdemokratischer Parteien auf Regierungen gibt, streben die europäischen Gesetzgeber nach Gesellschaftsgestaltung durch Recht. Der Staat der umfassenden Daseinsvorsorge kann ohne Gesetzesflut gar nicht auskommen. Daraus ergibt sich als wichtige Konsequenz: Die Gesetzesflut ist unentrinnbar, so lange die gesetzgeberische Gesinnung auf Gesellschaftsgestaltung durch Recht, auf umfassende Daseinsvorsorge und Lebenssteuerung zielt. Diese Diagnose gilt sowohl für Staaten mit sozialdemokratischer Rechtspolitik sozialdemokratischer Parteien wie auch für Staaten mit „bürgerlichen" Regierungen, die eine Rechtspolitik betreiben, die nach politologischer Klassifikation als eine sozialdemokratische zu qualifizieren ist. N u r unter diesem Vorbehalt 16 kann über Remedien gegen die Gesetzesflut nachgedacht werden. Ist man nicht bereit, das Recht bloß als Rahmen freier Betätigung anzusehen oder sich einem konservativen oder einem strikt marxistisch-leninistischen Gesetzesverständnis anzuvertrauen, wird man mit der Gesetzesflut konfrontiert bleiben. Sie mag unter diesem Aspekt vielen als das kleinere Übel erscheinen. Von den Remedien gegen die Gesetzesflut sind die bisher regierungsamtlich approbierten die schwächsten: Das gilt sowohl für legistische Richtlinien, die eher die Qualität der Gesetze heben als ihre Zahl reduzieren können, wie auch für den Gedanken der Rechtsbereinigung und für die Einführung einer Erforderlichkeitsprüfung vor jedem Gesetzgebungsakt. Der oben empfohlene „zweite juristische Arbeitsgang" vor der dritten parlamentarischen Lesung kann die Gesetze zwar straffen, aber nicht wesentlich verringern. Größere Erfolge kann eine Überprüfung der Alternativen zum Gesetz erbringen. Autonome kollektive Ordnungen funktionieren im Arbeitsrecht, sie sind auch für andere normenträchtige Rechtsgebiete - wie das Wohnungsrecht - denkbar. Ohne bestehende Strukturen im Grundsatz 14
Hayek a. a. Ο . (Fn. 13), Bd. 2, S. 79. Es ist kennzeichnend, daß sozialdemokratische Autoren wie Hans-Jochen Vogel QZ 1979, 321) lieber nur von der sogenannten Gesetzes- oder Normenflut sprechen (so auch Ohlinger a . a . O . , Fn. 1, 21). In fataler Weise erinnert diese Diktion an die lange Zeit beliebte Rede von der sogenannten D D R . Es ist aber die Gesetzesflut so real wie die D D R . 16 Er fehlt sowohl in meiner 1969 veröffentlichten Schrift „Rechtskenntnis und Gesetzesflut" wie bei Bydlinski a. a. O . (Fn. 9), 626 f. 15
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aufzugeben, kann man sowohl der Gesetzesvollziehung durch Verordnungen wie der privatautonomen Regelung durch Vertrag einen größeren Vertrauensvorschuß gewähren. Eminente Bedeutung kommt dem Bewußtseinswandel zu. Bisher haben es sich Minister und Parteien immer noch als Erfolg angerechnet, wenn sie irgendein Gesetz durchgesetzt haben. Könnte sich die Auffassung durchsetzen, daß die Verursachung von Gesetzen oft einen politischen Minuspunkt einbringt, hätte der Kampf gegen die Gesetzesflut eine größere Chance. Ein zusätzliches Motiv für eine Abkehr von der frohgemuten Gesetzesproduktion sollte die Einsicht in die überaus beschränkte Wirksamkeit17 vieler schnell fertiggestellter Gesetze erbringen. Sowohl in der Bundesrepublik Deutschland wie in Osterreich sind unter diesem Aspekt die Erfahrungen mit Gesetzen zur Bekämpfung der Korruption und anderen Formen der Wirtschaftskriminalität sowie mit Gesetzen gegen die nach wie vor bestehende Zurücksetzung der Frau im Arbeitsleben18 lehrreich. Der Irrglaube an die Allmacht der Gesetzgebung hat gerade bei diesen beiden Problemen dazu geführt, daß man den tieferen Ursachen der Mißstände und den Chancen zu ihrer Uberwindung nicht genügend nachspürt, sondern sich mit gesetzlichen Maßnahmen begnügt, die oft genug nur Alibifunktion haben. Ein Allheilmittel gegen die Gesetzesflut gibt es gewiß nicht. Selbst von einem weit ausgreifenden Maßnahmenbündel darf man nur bescheidene Erfolge erwarten. Um so eher sollte dieses mit Nachdruck in Angriff genommen werden. Ein Andauern der gegenwärtigen Ubelstände muß mit Sicherheit zum radikalen Abbau der Rechtsverbundenheit der Normadressaten führen.
17 Zu den Gründen für die Ineffektivität von Gesetzen vgl. Ryffel, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 3 (1972), 225 ff.; Noll, ebenda 259ff.; Mayer-Maly, in: Korruption und Kontrolle (hg. Brünner, 1981) 491, 504 ff. 18 Vgl. Mayer-Maly, Festschrift Herschel (1982), 257 ff.
Landesgesetzgebungspflichten kraft Bundesrahmenrechts ? DETLEF MERTEN
I. Einleitung 1. Innerhalb der dem Bund zustehenden Gesetzgebungskompetenzen ist die Rahmenkompetenz sicher nicht die hervorstechendste, spielt sie in dem von der Verfassung gesetzten „Gesetzgebungs-Quartett" des Bundes neben der ausschließlichen, der konkurrierenden und der Grundsatz-Gesetzgebung augenscheinlich nicht die „erste Geige". Dennoch kann sich auch dieses Gesetzgebungsinstrument - in dem aufeinander abgestimmten Konzert der Kompetenzen nach Umfang und Intensität in den Hintergrund gerückt - unvermittelt vordrängen, wie die Diskussion um ein Presserechtsrahmengesetz oder das Hochschulrahmengesetz gezeigt hat. Nicht hinreichend geklärt ist bisher, ob der Bund als Rahmengesetzgeber die Länder zur ausfüllenden oder anpassenden Gesetzgebung verpflichten kann. Nach Stern1 ist die Rahmengesetzgebung durch ein Nebeneinander von Bund und Ländern gekennzeichnet, „wobei der Bund den Rahmen . . . setzt, die Länder hingegen diesen Rahmen durch Landesgesetze ausfüllen können und müssen". Aber weshalb sollen die Länder eigentlich müssen müssen? 2. Der Bund hat eine solche Gesetzgebungspflicht der Länder in mehreren Fällen bejaht. So verpflichtet § 1 Satz 1 des Beamtenrechtsrahmengesetzes (BRRG) 2 die Länder, innerhalb einer bestimmten Frist „ihr Beamtenrecht nach diesen Vorschriften unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums und der gemeinsamen Interessen von Bund und Ländern zu regeln". Eine sinngemäße Vorschrift enthält § 72 Abs. 1 des Hochschulrahmengesetzes (HRG)\ Gesetzgebungspflichten der Länder statuieren auch das Wasserhaushaltsgesetz (WHG) 4 und das Gesetz zur Änderung des Gesetzes über 1
Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd.I, 1977, §19 III 3 b γ, S.512. In der Fassung der Bekanntmachung vom 3.1.1977 (BGB1.I S.21). Vom 26.1.1976 (BGBl. I S. 185). 4 Gesetz zur O r d n u n g des Wasserhaushalts in der Fassung der Bekanntmachung vom 16.10.1976 (BGBl. I S.3017), vgl. $§32 Satz 2 und 35 A b s . l des Gesetzes. 2
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Personalausweise und zur Regelung der Meldepflicht in Beherbergungsstätten 5 . Ahnliche Pflichten wiesen auch § 1 Satz 2 des Vorentwurfs eines Presserechtsrahmengesetzes (PRRG) 6 und § 3 Satz 2 des Entwurfs eines Gesetzes über das Meldewesen (MeldeG) 7 auf. Demgegenüber sehen § 5 Satz 2 des Bundeswaldgesetzes (BWaldG) 8 und § 4 Satz 2 des Bundesnaturschutzgesetzes (BNaturschutzG)' den Erlaß ausfüllenden Landesrechts bzw. dessen Anpassung nur als Soll-Vorschrift vor. Das Bundesjagdgesetz (BJagdG) 10 und das Raumordnungsgesetz 1 1 räumen den Ländern komplettierende, teilweise auch korrigierende Befugnisse ein, ohne sie expressis verbis zur Gesetzgebung anzuhalten. 3. D a die Verfassung eine Gesetzgebungspflicht der Länder im Zusammenhang mit der Rahmengesetzgebung nicht ausdrücklich regelt, könnte sich diese nur aus dem Inhalt der Rahmengesetzgebung (II), ihrem Zweck (III), dem System der Gesetzgebungskompetenzen (IV) u n d deren Rechtsnatur (V) oder aus der bundesstaatlichen O r d n u n g schlechthin (VI) ergeben.
II. Der Inhalt der Rahmengesetzgebung 1. Rahmengesetzgebung als „Nebeneinander" von Bundes- und Landesrecht a) Anders als die ausschließliche und die konkurrierende Gesetzgebungsbefugnis stellt das Recht zur Rahmengesetzgebung stets nur eine Teil- niemals eine Vo//kompetenz dar, was sie mit der Grundsatzgesetzgebung gemeinsam hat. Die Normierungsbefugnis des Bundes beschränkt sich auf den Erlaß von Rahmen- oder Leitvorschriften, von G r u n d z ü g e n und Umrissen 12 , die nach ihrem Inhalt und Zweck der Ausfüllung durch den Landesgesetzgeber fähig und bedürftig sein müssen 13 . 5 Vom 8.11.1978 (BGBl. I S. 1712), Art. 2 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3. Die Gesetzesüberschrift dieses Artikel-Gesetzes und ihr unproportionales Verhältnis zum Gesetzesumfang zeigen - einmal mehr - den Niedergang der Gesetzgebungstechnik. 6 Vom 25. 7.1974, abgedruckt in: RdA 1974, S. 303 ff.; vgl. in diesem Zusammenhang auch den von einem „Arbeitskreis Pressefreiheit" vorgelegten „Entwurf eines Gesetzes zum Schutze freier Meinungsbildung", hrsg. von Armbruster u.a., Tübingen 1972, der in Art. I § 1 Abs. 1 Satz 2 eine Ergänzungspflicht des Presse-Landesrechts vorsah. 7 Vom 4.10.1971 (BT-Drucks. VI/2654). 8 Vom 2.5.1975 (BGBl. I S. 1037). ' Vom 20.12.1976 (BGBl. I S. 3574), zul. geänd. d. G. v. 1.6.1980 (BGBl. I S. 649). 10 Vom 29.11.1952 (BGB1.I S.780, 843) i . d . F . der Bekanntmachung vom 29.9.1976 (BGBl. I S. 2849). 11 Vom 8.4.1965 (BGB1.I S.306), zul. geänd. d. G. v. 1.6.1980 (BGBl. I S. 649). 12 Vgl. Stern ( F n . l ) a . a . O . 13 Siehe statt aller BVerfGE 4, 115 (130).
Landesgesetzgebungspflichten kraft Bundesrahmenrechts?
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Die Abgrenzung der partiellen von einer totalen Gesetzgebungskompetenz kann allerdings auch mit Hilfe der insbesondere in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelten Unterscheidungsmerkmale im Einzelfall auf Schwierigkeiten stoßen14, zumal zusätzliche Kriterien weder aus dem Wortlaut noch aus der Entstehungsgeschichte des Art. 75 G G zu gewinnen sind. Weitgehende Einigkeit ist allerdings darin zu erzielen, daß für den Rahmencharakter von einer Global- und nicht von einer Detail-Betrachtung des Gesetzes auszugehen ist, so daß Beurteilungsgegenstand das Gesetz als Ganzes und nicht die einzelne Bestimmung ist. Nicht jede Gesetzesvorschrift muß eine Rahmenregelung, sondern nur das Gesetz in seiner Gesamtheit muß ein Rahmengesetz sein. Insbesondere wenn an einer einheitlichen Ausgestaltung ein besonderes „starkes und legitimes Interesse" besteht15, kann der Bundesgesetzgeber Einzelfragen so regeln, daß sie nicht mehr auszufüllen und zu ergänzen sind. Entscheidend für die Verfassungsmäßigkeit der Totalregelung in Teilbereichen einer Gesetzgebungsmaterie ist dann, daß das Gesetz als Ganzes noch einen hinreichenden Spielraum für den Landesgesetzgeber vorsieht". Die Eigenart eines Rahmengesetzes liegt also in dem Umstand, daß der Gesetzgebungsgegenstand vom Bund nicht voll ausgeschöpft, daß er nicht bis in alle Einzelheiten geordnet werden darf17. Dieses Detailregelungsverbot muß nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts18 den Ländern die Möglichkeit belassen, „die Materie entsprechend den besonderen Verhältnissen des Landes ergänzend zu regeln", wobei dies nicht auf die Wahl vorgegebener rechtlicher Möglichkeiten beschränkt werden darf, sondern „Raum für Willensentscheidungen in der sachlichen Rechtsgestaltung" enthalten muß. Quantitative Obergrenze eines Bundes-Rahmengesetzes stellt das Erfordernis einer für das Land verbleibenden Eigenregelung von „substantiellem Gewicht" dar 1 '. Zu der objektiven Ausfüllungsfähigkeit muß nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts20 ein subjektiver Ausfüllungsüberlassungswille hinzutreten: Das Bundes-Rahmengesetz muß auf Ausfüllung durch den Landesgesetzgeber angelegt sein, so daß es nicht ausreicht, wenn lediglich aufgrund eines gesetzgeberischen Verse-
" Vgl. hierzu insbesondere Bettermann, in: Bettermann/Goessl, Schulgliederung, Lehrerbildung und Lehrerbesoldung in der bundesstaatlichen Ordnung, 1963, S. 114 f£. 15 Vgl. BVerfGE 33, 52 (64 sub 3); vgl. auch BVerfGE 4, 115 (129); 7, 29 (42). 16 Vgl. BVerfGE 43, 291 (343); 36, 193 (202); 33, 52 (64); 25, 142 (152); 4, 115 (129f.). 17 So BVerfGE 4, 115 (129). 18 BVerfGE 4, 115 (129 f.). 19 BVerfGE 4, 125 (129). 20 Vgl. BVerfGE 4, 115 (129, 137); 7, 29 (41); 33, 44 (49).
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hens oder wegen der Entwicklung der Lebensverhältnisse Raum für die landesrechtliche Ausfüllung verbleibt21. b) Die quantitative Anforderung schlägt jedoch in eine qualitative um, wenn man mit dem Bundesverfassungsgericht22 verlangt, daß das Bundesgesetz ohne Landesgesetz nicht bestehen kann und daß der zu ordnende Gegenstand erst nach Ausfüllung durch Landesgesetze in sich geschlossen und vollziehbar werden darf. Zu Recht weist Bettermann25 darauf hin, daß das Ausfüllungserfordernis dann nicht mehr die „Unvollständigkeit, sondern die Unselbständigkeit" der Rahmenregelung meint. Eine über die Beschränkung des Regelungsumfangs hinausgehende Begrenzung des Regelungsinhalts läßt sich aus Art. 75 GG nicht gewinnen. Gerade wenn man mit dem Bundesverfassungsgericht24 die Zulässigkeit einer Totalregelung in Teilbereichen eines Rahmengesetzes bejaht, ist nicht einzusehen, weshalb der Rahmen dann trotz aller Ausfüllungsbedürftigkeit nicht als solcher tragfähig sein darf. c) In Wahrnehmung seiner Teilkompetenz kann der Bund nicht nur ländergerichtete Regelungen, sondern auch bürgergerichtete Rechtssätze mit Außenwirkung erlassen. Er kann sich also sowohl staatsintern mit Organgesetzen25 an die Länder wenden, als auch unmittelbar für den einzelnen verbindliches Recht setzen26, so daß es in diesem Fall keiner Transformation durch den Landesgesetzgeber bedarf und das Bundesrecht gleichsam „self-executing" ist. Letztere Befugnis war bei der Vorläuferin der Rahmengesetzgebung, der Grundsatzgesetzgebung nach Art. 10, 11 der Weimarer Reichsverfassung, umstritten gewesen27. Um jeden Zweifel an einer Rechtssetzungsbefugnis mit Außenwirkung zu beseitigen, hat der Parlamentarische Rat den Begriff „Grundsätze" durch den der „Rahmenvorschrift" ersetzt28. d) Für die Rahmengesetzgebung nach Art. 75 GG ist also ein „Nebeneinander" von Bund und Ländern charakteristisch2'. Die Teilkompetenz So BVerfGE 7, 29 (41). Vgl. BVerfGE 7, 29 (42); 4, 115 (130 sub Β II 4); kritisch hierzu Bettermann (Fn. 14) S. 116 ff. 23 A.a.O., S. 116 sub 3. 24 Siehe oben Fn. 15. 25 Hierzu Stern (Fn. 1) §20 IV 4 c α, S. 648 ff. 26 BVerfGE 4, 115 (128 f.); Maunz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 75 Rdn. 10. 17 Ablehnend Julius Hatschek, Reichsstaatsrecht, 1923, S.48ff.; BayObLG, DJZ 1932, S. 391; bejahend Gerhard Anschiitz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 14. Aufl. 1933, Art. 10, 11, Anm.5, S.93f.; ders., in: Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd.l, 1930, S. 295, 297; Gerhard Lassar, ebd., S.301, 306; vgl. auch BVerfGE 4, 115 (128 f.). 28 Vgl. Matz, in: JÖRN. F. Bd.l, S. 509 ff. und S. 555 ff.; BVerfGE 4, 115 (128 f.). 29 Vgl. auch Stern (Fn. 1) a.a.O.; BVerfGE 4, 115 (130 sub Β II 4). 21
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des Bundes in Gestalt der Rahmenkompetenz wird durch eine unentziehbare Teilkompetenz der Länder in Form der Detailkompetenz ergänzt, die den Ländern - im Unterschied zur „echten" konkurrierenden Gesetzgebung 30 - auch und gerade nach Erlaß eines Bundes(rahmen-) gesetzes verbleibt. Damit nimmt die Verfassung gleichzeitig bei den in Art. 75 G G aufgeführten Sachgebieten eine gewisse Rechtsverschiedenheit in Kauf31, die auch durch das Schlagwort der „Chancengleichheit" nicht überwunden werden kann32. 2. Entstehungsgeschichte Für die Ableitung einer Gesetzgebungspflicht der Länder ist die Entstehungsgeschichte des Art. 75 G G nicht sehr ergiebig, läßt jedenfalls keine eindeutigen Schlüsse zu. Bei den Beratungen des jetzigen Art. 74 N r . 8 G G im Zuständigkeitsausschuß hatte der Abg. Dr. Hoch (SPD) vorgeschlagen, dem Bund die Befugnis für eine rahmengesetzliche Regelung der öffentlichen Fürsorge zu übertragen. Rahmengesetz, so hatte er bemerkt, sei ein geltendes Gesetz, das in jedem Land unmittelbar gelte, bei dem der Rahmen noch ausgefüllt werden könne, ja, sogar durch die Landesgesetzgebung ausgefüllt werden müsse33. Dieser Vorschlag ist jedoch vom Ausschuß nicht angenommen worden 34 . Bei der Begründung seines Antrags, die Raumordnung und den Wasserhaushalt in den Katalog der Rahmengesetzgebung aufzunehmen, hatte der Abg. Dr. Seebohm (DP) im Hauptausschuß darauf verwiesen, daß eine „gewisse Koordination und Zusammenarbeit zwischen den Ländern unter behutsamer Mitwirkung des Bundes" erforderlich und daß eine Rahmenzuständigkeit des Bundes vorsorglich zu begründen sei, wobei die „Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern und zwischen den Ländern . . . dabei im Wege der Koordination zu erfolgen" habe35. 30 In diesem Zusammenhang bedarf es keiner Erörterung des Problems, ob die Rahmengesetzgebung (nur) eine Unterart der konkurrierenden Gesetzgebung oder eine dritte Art der Bundesgesetzgebung ist. Vgl. hierzu von Münch, Grundgesetzkommentar, Bd. 3, 2. Aufl. 1983, Rdn. 2 mit eingehenden Nachweisen. 31 So BVerfGE 8, 186 (193). 32 Hierzu Dürig, in: Maunz/Dürig, G G , Art. 3 Abs. 1, Rdn. 91 ff.; Benda, Der soziale Rechtsstaat, in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, 1983, S.541 ff.; Stern (Fn. 1) § 21 IV 4, S. 725 ff.; Merten/Frey, Umverteilung ohne Wirtschaftswachstum, 1982, S. 75 ff. 33 3. Sitzung vom 23.9.1948, Parlamentarischer Rat, Ausschuß für Zuständigkeitsabgrenzung, Wortprotokolle, S. 100; vgl. auch Matz (Fn. 28) S. 510. 34 Vgl. Parlamentarischer Rat, Ausschuß für Zuständigkeitsabgrenzung, Kurzprotokolle, S. 5; Matz (Fn.28) S. 511. Die Diskussion betraf zum einen nicht die Rahmengesetzgebung als solche, sondern die Kompetenz für die öffentliche Fürsorge. Zum anderen ergibt sich aus dem Zusammenhang nicht eindeutig, ob eine Ausfüllungsß/7»c/>t oder nicht vielmehr nur eine Ausfüllungsbedürftigkeit angesprochen wurde. 35 30. Sitzung vom 6.1.1949. Vgl. Matz (Fn. 28) S. 560 f.
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In dem Schriftlichen Bericht zum Entwurf des Grundgesetzes führte der Abg. Dr. Katz (SPD) als Berichterstatter des Hauptausschusses hinsichtlich der Rahmengesetzgebung aus: „Unter den gleichen Voraussetzungen hat der Bund das Recht, für die Länder Rahmenvorschriften zu erlassen, die diese später durch eigene Gesetzgebung auszufüllen haben36." Scheint der Wortlaut auch zunächst für eine Gesetzgebungspflicht zu sprechen, so ist dieser Schluß doch keineswegs zwingend. Die gesamte Passage des Berichterstatters ist von vornherein unvollständig und unklar. Der Satzbestandteil „unter den gleichen Voraussetzungen", der offensichtlich die Bedürfnisklausel des Art. 72 GG meint, findet in dem vorangegangenen Satz keine sinngeladene Stütze. Denn dort heißt es, daß im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung solange und soweit haben, wie der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht keinen Gebrauch macht. Aus logischen Gründen können das jedoch nicht die Voraussetzungen sein, die den Bund zur Rahmengesetzgebung ermächtigen. Ist die Textpassage aber unzulänglich abgefaßt, so ist sie nicht die geeignete Grundlage für eine exakte juristische Interpretation, die jedem einzelnen Wort stringente Bedeutung zumißt. Der Hinweis, daß die Länder „auszufüllen haben", kann eine Gesetzgebungspflicht meinen, kann aber auch lediglich eine konsekutive Verknüpfung, eine „Wenn-Dann-Regel" andeuten, die auf einen faktischen, nicht unbedingt einen verfassungsrechtlichen Zwang hindeutet, die deskriptiver, nicht zwingend auch normativer Art ist. Parlamentarische Berichte und Diskussionsbeiträge zeichnen sich nun einmal nicht durch jene Akribie aus, die für Gesetzesformulierungen aufgewendet wird oder aufgewendet werden sollte. So hat beispielsweise der Abg. Schmid (SPD) bei den Erörterungen des jetzigen Art. 71, letzter Halbsatz GG, argumentiert: „Die Verfassung bestimmt, wer bestimmte Gesetze erlassen darf. Damit verlangt sie auch, daß er sie erläßt; nur er und nicht ein anderer37." Der Zusammenhang ergibt, daß damit offensichtlich nur ein Delegationsverbot und nicht ein Gesetzgebungsgebot gemeint war. Nach allem ist aus den Materialien ein eindeutiger, auf eine Gesetzgebungspflicht der Länder gerichteter Wille des Gesetzgebers nicht zu entnehmen38. Die Meinung einer einzelnen, an der Gesetzgebung betei-
" Parlamentarischer Rat, Schriftlicher Bericht zum Entwurf des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, S. 34, 1. Sp. 37 ö.Sitzung vom 19.11.1948, Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, S. 77. 3 ' Zur Bedeutung der genetischen Interpretation und dem Erfordernis eines im Gesetz zum Ausdruck kommenden objektivierten Willens des Gesetzgebers vgl. BVerfGE 1, 299 (312); vgl. ferner BVerfGE 6, 389 (431); 39, 1 (40); 41, 291 (309); 45, 187 (227).
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ligten Person über Sinn und Bedeutung einer Norm ist für die Auslegung ohnehin unmaßgeblich39. 3. Wortlaut a) Aus dem Begriff „Rahmenvorschriften" läßt sich eine Ausfüllungspflicht der Länder nicht ableiten. Aus Art. 75 GG folgt lediglich, daß die Länder an das Bundes-Rahmenrecht gebunden sind, wenn und soweit sie ausfüllende und ergänzende Regeln erlassen. Für die Frage, ob die Länder Regeln erlassen müssen, gibt der Wortlaut der Verfassungsvorschrift jedoch nichts her4C. b) Dieses Schweigen des Gesetzgebers ist um so beredter, als einerseits Art. 70 Abs. 1 G G das „Recht" der Länder zur Gesetzgebung proklamiert, andererseits Art. 84 G G detaillierte Regelungen für den Fall vorsieht, daß Bundesgesetze durch die Länderverwaltungen mangelhaft ausgeführt werden, wozu erst recht die Nichtausführung gehört. Zu Recht weist von Münch41 darauf hin, daß der Verfassungsgesetzgeber es hätte klar zum Ausdruck bringen müssen, wenn er einen „derartig starken Eingriff in die Zuständigkeit der Länder" gewollt hätte, wie sie die Pflicht zur Ausfüllung von Rahmengesetzen darstellt. c) Eine explicite Regelung hätte auch deshalb nahegelegen, weil derartige Verfassungsbestimmungen im deutschen Rechtskreis nicht unbekannt sind. So statuiert Art. 15 Abs. 6 S. 1 des österreichischen BundesVerfassungsgesetzes42 für die Grundsätze-Gesetzgebung, daß „innerhalb des bundesgesetzlich festgelegten Rahmens die nähere Ausführung der Landesgesetzgebung" obliegt42', wofür eine Frist bestimmt werden kann. Im Falle der Nichteinhaltung geht gemäß Art. 15 Abs. 6 S. 3 B-VG „die Zuständigkeit zur Erlassung des Ausführungsgesetzes für dieses Land auf den Bund über". Ferner sieht Art. 15 Abs. 6 S.6 B-VG vor, daß nach der Aufstellung von Grundsätzen durch den Bund „die landesgesetzlichen Bestimmungen binnen der bundesgesetzlich bestimmten Frist dem Grundsatzgesetz anzupassen" sind. Eine ähnliche Anpas-
Vgl. BVerfGE 6, 55 (75). A . A . Friedrich Giese, Die Bundeskompetenz zur Regelung und Gestaltung der Raumordnung, Rechtsgutachten, 1952, S. 15; hingegen zu Recht Hans-Otto Heeger, Die Rahmengesetzgebung, ihr Inhalt und ihre Auswirkung, Diss., 1962, S. 75. 41 A . a . O . (Fn.30), Art.75 Rdn. 12a; Wernicke, BB 1951, 44; im Ergebnis ebenso Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 75 Rdn. 18. 42 Bundes-Verfassungsgesetz i.d.F. von 1929 (BGBl. 1930/1). *2' Allein deswegen und ohne Fristsetzung sind die Länder jedoch nicht verpflichtet, Ausführungsgesetze zu erlassen. Vgl. Adamovich/Funk, Österreichisches Verfassungsrecht, 1982, S. 153; VerfGH Slg. 3516/1959. 39 40
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sungspflicht hatte auch Art. 39 Abs. 3 S. 2 der österreichischen Verfassung von 193443 vorgesehen. Daß Verfassungsvergleichung im Parlamentarischen Rat stattgefunden hat, zeigen die Beratungen über den Verfassungsabschnitt „Der Bundespräsident". Hier hat der Abg. Dr. Seebohm (DP) im Hauptausschuß nicht nur auf die Situation in Osterreich hingewiesen, sondern sogar die Verfassungen von Estland und Lettland herangezogen 44 . 4. Gesetzgebungspflichten als geringerer Eingriff? Mitunter wird die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzgebungspflichten mit dem Hinweis begründet, daß ein Rahmengesetz unmittelbar geltende Vorschriften enthalten könne und der Bundesgesetzgeber aus diesem Grunde auch die Länder zur Gesetzgebung verpflichten dürfe45. An dieser a maiore ad minus-Argumentation ist nur richtig, daß der Bund sich im Wege der Rahmengesetzgebung sowohl mit Richtlinien an die Länder als auch unmittelbar an den Bürger wenden, daß er Organgesetze oder Gesetze mit Außenwirkung erlassen kann46. Aus der Befugnis, Regelungsnormen mit Außenwirkung zu erlassen, folgt aber nicht zwingend das Recht, Normierungsnormen für die Länder zu setzen. a) Die Argumentation ist zum einen allzu undifferenziert. Unbeschadet des Rechts des Bundes, in Einzelbereichen einer Gesetzgebungsmaterie Vollregelungen zu erlassen47, ist seine Kompetenz für das Gesetz als Ganzes auf eine Rahmen- und damit Teilkompetenz beschränkt. Im Bereich der den Ländern verbleibenden Teilkompetenz in Gestalt der Detailkompetenz - so schwierig die Abgrenzung im Einzelfall auch sein mag - ist dem Bund jede Gesetzgebung verwehrt. Da der Bund in diesem Detailbereich nicht normieren und damit auch kein Recht mit Außenwirkung setzen darf, kann mit dieser Begründung nicht auf die Befugnis geschlossen werden, Richtlinien mit Gesetzgebungspflichten für die Länder zu statuieren. Die Erst-Recht-Argumentation fällt hier in sich zusammen. In ähnlicher Weise ist es dem Bund verwehrt, den Ländern die Normsetzung auf den Gebieten der Rahmenkompetenz zu untersagen,
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BGBl. II 1934/1. Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, 10. Sitzung vom 30.11.1948, S. 119 r.Sp. 45 So Armbruster u. a., Entwurf eines Gesetzes zum Schutze freier Meinungsbildung, 1972, Begründung Β zu Art. I, S. 50 Fn. 15. 44 Siehe oben sub II 1 c. 47 Siehe oben sub II 1 a zu Fn. 16. 44
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wenn er selbst diese Materie nicht oder noch nicht regeln will48. Zu Recht weist das Bundesverfassungsgericht49 darauf hin, daß dem Landesgesetzgeber andernfalls mehr verboten werden könnte, als das bei Ausschöpfung der Rahmenkompetenz durch den Bund der Fall wäre. Da den Ländern bis zur Rahmengesetzgebung des Bundes ohnehin die Vollkompetenz zusteht, kann der Bund im Bereich des Art. 75 G G eine Teilsperre für die Länder nur dadurch verhängen, daß er von seiner Rahmenkompetenz Gebrauch macht. b) Die Argumentation a maiore ad minus überzeugt zum anderen jedoch auch nicht, soweit sie sich auf den Rahmenbereich des Bundes beschränkt. In diesem Kompetenzraum kann der Bund zwischen Organgesetzen und Gesetzen mit Außenwirkung wählen, wobei die Wahl durch die Gesetzgebung als solche geschieht50. Dabei kann jedoch nicht pauschal die Richtliniengesetzgebung als ein minus angesehen und daraus die Befugnis des Bundes abgeleitet werden, die Länder zur Gesetzgebung zu verpflichten. Eine solche Betrachtungsweise erschöpft sich im Theoretischen und setzt den Verfassungsrechtler unnötig dem Vorwurf aus, die Verfassungswirklichkeit nicht in seine Betrachtung einzubeziehen. Gewiß ist in der letzten Zeit aufgrund mannigfacher Ursachen eine Unitarisierung in der Bundesrepublik zu beobachten, die auch einen Aufgabenrückgang bei den Länderparlamenten mit sich gebracht hat51. Dennoch sind Gesetzgebungsbefugnisse nicht schon als solche vorteilhaft, weil die Lust an der Normsetzung auch zur Last werden kann. Das gilt insbesondere, wenn die Gesetzgebungsbefugnis gar keine echte Befugnis ist, die dem Kompetenzträger ein Tun oder Unterlassen gestattet, sondern zu einer Gesetzgebungspflicht verdichtet und verengt wird. Warum soll ein Landesparlament, das sich in einer Patt-Situation befindet oder das aufgrund einer bestimmten Sitzverteilung - durch Neuwahlen nicht abänderbar - handlungsunfähig ist52, eine ihm vom Bund auferlegte Gesetzgebungspflicht als minus gegenüber einer unmittelbar durch Bundesrecht erfolgenden Regelung empfinden? Warum sollen
48 Vgl. BVerfGE 7, 120 (127f.); siehe auch BVerfGE 34, 9 (28) zu Art. 72 Abs. 1 G G ; vgl. ferner Maunz, BayVBl. 1955, 4; Werner Weber, D Ö V 1954, 418; Bettermann (Fn. 14) S. 112. 49 BVerfGE 7, 120 (127 f.). 50 Ahnlich wie bei der Gläubigerwahl nach französischem und gemeinem Recht, vgl. Arwed Blomeyer, Allgemeines Schuldrecht, 3. Aufl. 1964, §10, II S.46; anders §263 Abs. 1 BGB. 51 Vgl. Merten, Zentralisation oder Dezentralisation aus der Sicht der Gesetzgebung, in: Städte- und Gemeindebund 1980, S. 138 ff. 52 Wie z.B. der hessische Landtag nach den Landtagswahlen von 1982 und 1983.
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Länder in einer Zeit der Daten-Angst" oder Daten-Hysterie Gesetzgebungsaufträge auf dem Gebiet des Meldewesens (Art. 75 Nr. 5 G G ) oder in einer Epoche studentischer Unruhen Normierungspflichten im Bereich eines Disziplinarrechts für Studenten (Art. 75 Nr. 1 a G G ) als vorteilhafter ansehen? Die Erst-Recht-Argumentation birgt die Gefahr, daß sachlich notwendige, wahltaktisch aber lästige Gesetzesregelungen vom Bund trotz vorhandener Kompetenz nicht erlassen und den Ländern als Pflichtaufgaben zugeschoben werden, wobei die politischen Folgen für das zu erlassende Landesrecht mit großer Wahrscheinlichkeit die jeweilige Landesregierung und die Parlamentsmehrheit treffen und durch den Hinweis auf bundesgesetzlich auferlegte Pflichten kaum zu mildern sind. Ein solches gesetzgeberisches „Schwarzer-Peter-Spiel" ist für die jeweilige Landesregierung (bzw. Parlamentsmehrheit) noch unerfreulicher, wenn sie sich politisch gegen entsprechende Gesetzesregelungen ausgesprochen oder sogar Gesetzesvorlagen im Land abgelehnt hat. Gleichgültig wie die Frage einer Gesetzgebungspflicht der Länder aufgrund der Verfassungsinterpretation letztlich beantwortet wird, zeigen die Darlegungen jedenfalls, daß Bundesrichtlinien mit Ausfüllungspflichten für die Länder kein minus gegenüber einer bundesunmittelbaren Regelung, sondern ein aliud sind, so daß die Erst-Recht-Argumentation auch für den Bereich der Rahmenkompetenz nicht schlüssig ist. III. Der Zweck der Rahmengesetzgebung 1. Ausfüllung durch freie
Willensentscheidung
Will man den Zweck der Rahmengesetzgebung ermitteln und daraus Schlüsse ziehen, so gilt es zunächst, den leicht begehbaren und oft begangenen Fehler zu vermeiden, in dieses Institut hineinzuinterpretieren, was hinterher herausinterpretiert werden soll. Aus der Kompetenzteilung zwischen Bund und Ländern in Art. 75 G G und dem von der Verfassung damit vorgesehenen „föderalistischen Zusammenspiel" 54 ergibt sich noch nicht, über welchen „Spielraum" 55 Mitspieler verfügen und ob für sie „Spielfreiheit" oder „Spielzwang" herrscht.
53 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts z u m Volkszählungsgesetz 1983 v. 1 5 . 1 2 . 1 9 8 3 (1 B v R 2 0 9 / 8 3 ) . Zu Beginn seiner Urteilsgründe behauptet das Gericht, die gesetzlich angeordnete Datenerhebung habe „Beunruhigung" auch in Kreisen loyaler Staatsbürger ausgelöst. Jeglicher rechtstatsächlicher Beleg über die G r ö ß e des „beunruhigten" Personenkreises und die Intensität der vom Gesetz ausgelösten „Furcht" fehlen jedoch. 54 So Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 3 7 II 3 f., S. 598. 55 So B V e r f G E 51, 43 (54); 43, 291 (343); 36, 193 (202); 7, 2 9 (42).
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Sicher ist nur, daß die Versagung einer Vollkompetenz für den Bund bei der Rahmengesetzgebung eine Stärkung der Länderkompetenzen bedeutet und die Teilnahme der Länder an der Gesetzgebung in den Bereichen des Art. 75 G G bezweckt. Daß die „Ausfüllungsbedürftigkeit" der vom Bund gesetzten Rahmenvorschriften eo ipso „Ausfüllungspflichtigkeit" sein soll, ist damit noch nicht dargetan. Eine unbesehene Gleichsetzung würde immerhin die dem Bund zu Gunsten der Länder gezogene (Rahmen-)Kompetenzschranke in eine für die Länder zu Gunsten des Bundes bestehende (Detail-)Kompetenzschranke - nämlich in Gestalt einer Rechtssetzungspflicht - verwandeln. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts deutet nicht in diese Richtung. So fordert das Gericht, daß Rahmengesetze nach ihrem Inhalt und Zweck „der Ausfüllung durch freie Willensentscheidung des Landesgesetzgebers fähig und bedürftig . . . sind"56, verlangt es im Falle einer Vollregelung einzelner Teile einer Gesetzgebungsmaterie, daß der Gesetzeszweck „ - als Ganzes gesehen - dem Landesgesetzgeber noch Spielraum läßt und darauf angelegt ist, von ihm aufgrund eigener Entschließung ausgefüllt zu werden" 57 , und sieht es eine Bestimmung nicht nur dann als ausfüllungsfähig an, wenn der Bundesgesetzgeber durch besondere Formulierungen wie „kann bestimmt werden" u. ä. dies zum Ausdruck gebracht hat58. Gerade der Hinweis auf den „Spielraum" für den Landesgesetzgeber legt - trotz aller Unterschiede zwischen der Staatsorganisation einerseits und dem Staat-Bürger-Verhältnis andererseits 5 ' - einen Vergleich mit den Grundrechten nahe, die das Bundesverfassungsgericht ebenfalls als „Spielraum" 60 oder „Freiheitsspielraum" 61 - an anderer Stelle auch als „Raum" 62 , „Rechtsraum," 63 , „Freiraum" 64 oder „Freiheitsraum" 65 für
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BVerfGE 4, 115 (130). Hervorhebung nicht im Original. BVerfGE 43, 291 (343); 36, 193 (202). Siehe auch BVerfGE 7, 29 (42). Hervorhebungen nicht im Original. Im Volkszählungs-Urteil (EuGRZ 1983, 577, 594) hat das Gericht in der dem Landesgesetzgeber eingeräumten „Möglichkeit des Melderegisterabgleichs" einen ausreichenden Regelungsspielraum gesehen, den der Landesgesetzgeber hätte ausfüllen können, aber nicht müssen. 5 » BVerfGE 25, 142 (152). 59 Siehe hierzu auch unten sub V 2. 60 BVerfGE 4, 7 (16); 12, 341 (347); 29, 260 (267). 61 BVerfGE 25, 1 (19 f.). 62 BVerfGE 7, 377 (404); 50, 290 (371). " BVerfGE 12, 1 (3); 32, 98 (106). 64 BVerfGE 35, 77 (112). 65 BVerfGE 24, 367 (389, 400); 30, 292 (334); 31, 229 (239); 35, 77 (112); 50, 290 (339, 348); BVerfG DVB1. 1980, 481. 57
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den Bürger umschreibt. Diesem raumhaften Denken" liegt die Vorstellung zu Grunde, daß die Grundrechte unbeschadet von Beschränkungsmöglichkeiten eine staatsfreie Sphäre ausgrenzen und dem Bürger die Freiheit der Entschließung in dem jeweiligen Bereich bewahren wollen67. Diese „Freiheit von Zwang" weist den Grundrechten die Funktion von Verhaltensgarantien zu, die sowohl das Tun als auch das Unterlassen sichern68. Dabei umfaßt die negative Komponente der Grundrechte, die Unterlassensfreiheit, grundsätzlich nicht nur die Befugnis, bestimmte Handlungen nicht vorzunehmen, sondern auch das Recht, ein Tätigwerden überhaupt zu unterlassen. Das Regel-Ausnahme-Verhältnis von grundsätzlicher Freiheit und spezieller Beschränkungsermächtigung wurde schon für das Allgemeine Landrecht populär dahin umschrieben: „Kein Mensch muß müssen, wenn es nicht im Allgemeinen Landrecht steht 69 ." Die entsprechende These für den Gesetzgebungs-Spielraum der Länder müßte lauten: Kein Land muß (Recht setzen) müssen, wenn es nicht in der Verfassung steht. 2. Rahmengesetzgebung als Gesetzgebungsfreiheit für Bund und Länder Ein auf eine Gesetzgebungspflicht der Länder gerichteter Zweck der Rahmengesetzgebung findet im Wortlaut des Art. 75 G G keine Stütze. Zwar weist diese Bestimmung ausdrücklich nur dem Bund das „Recht" zu, auf bestimmten Sachgebieten Rahmenvorschriften zu erlassen. Deutet man nun - vorbehaltlich einer näheren Betrachtung der Rechtsnatur der Kompetenzbestimmungen - dieses „Recht" als Zuständigkeitszuweisung, nicht aber gleichzeitig auch als Pflicht zur Aufgabenerledigung, so ist zumindest der Bund nicht zum Erlaß von Rahmengesetzen gehalten. Daß die Länder hieran wegen ihrer bis zum Kompetenzgebrauch des Bundes bestehenden Vollkompetenz auch kein Interesse hätten, ist kein überzeugender Einwand. Auf bestimmten Sachgebieten, beispielsweise dem des Wasserhaushalts (Art. 75 Nr. 4 GG), könnte auch für die Länder das Bedürfnis nach bundeseinheitlichem und damit länderübergreifendem Bundes-Rahmenrecht bestehen, das als Landesrecht nicht und auch als „allgemeines Landesrecht" nur schwierig zu erlassen wäre. 66 Hierzu Ludwig Schneider, Der Schutz des Wesensgehalts von Grundrechten nach Art. 19 Abs. 2 G G , 1983, S. 204 ff. 67 Merten, Handlungsgrundrechte als Verhaltensgarantien, in: VerwArch. 73, 1982, S. 104 mit Nachweisen. " Merten, a . a . O . , S. 106f. " Diesen Ausspruch zitiert Bill Drews, ZfgsStaatsW 1925, 586. Hierauf weist von Unruh hin, Art. Polizei, Polizeiwissenschaft, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. I, 1983, §7, VII 2, S.426.
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Hat demnach der Bund eine Entschließungsfreiheit hinsichtlich seiner Rahmengesetzgebung, so läßt sich eine korrespondierende Freiheit für die Länder aus Art. 70 Abs. 1 G G ableiten. Denn nach dieser Vorschrift haben nun wiederum die Länder das „Recht" der Gesetzgebung, soweit die Verfassung nicht dem Bund Gesetzgebungsbefugnisse verleiht. Eine einseitige Privilegierung des Bundes mit der Folge, daß für ihn eine Gesetzgebungsfreiheit, für die Länder aber eine der Rahmengesetzgebung akzessorische Ausfüllungs- und Ergänzungspflicht besteht, ist aus Art. 75 G G nicht zu entnehmen. 3. Kompetenzteilung als Effektivitätsverlust N u r wenn man den Zweck der Rahmengesetzgebung im Gesetzgebungserfolg sähe, wäre eine Gesetzgebungspflicht der Länder aus teleologischen Gründen zu rechtfertigen. Dieselbe Argumentation müßte dann allerdings auch eine Zustimmungspflicht des Bundesrates bei der Bundesgesetzgebung tragen. Trotz parteipolitischer Angriffe auf die Ländervertretung 70 und trotz der Versuche, ihre Entscheidungsfreiheit unter Hinweis auf eine im Vergleich zum Bundestag angeblich schlechtere demokratische Legitimation 71 oder auf eine sich in der Wahrnehmung von „ Länderinteressen" erschöpfende Funktion 72 zu begrenzen, ist eine so weitgehende These bisher ernsthaft nicht vorgetragen worden. Sie wäre im übrigen mit der Gegenthese zu entkräften, daß dann auch der Bundestag bei Gesetzesinitiativen des Bundesrates seine Zustimmung erteilen müßte 73 . Diese Überlegung zeigt die Unhaltbarkeit einer teleologischen Reduktion, die mit bloßer Gesetzgebungseffektivität argumentiert. Jede Kompetenzteilung bedeutet notwendig Kompetenzbeschränkung und Kompetenzverlust, die um der Machtkontrolle und Gewaltenbalance willen in Kauf genommen werden. Fürchtet man die Komplikationen einer Kompetenzdistribution, so muß man an einer Gewalteneinheit und Kompetenzkonzentration festhalten; bekennt man sich aber zu einer Kompetenzteilung, so ist der Effektivitätsverlust konsequent und kann nicht als Argumentation dafür dienen, die Kompetenzteilung rückgängig zu machen. Ebensowenig wie der Blick auf die Gesetzgebungseffektivität das freie „Miteinander" von Bundestag und Bundesrat in Gestalt der „duae n Rolf Seeliger (Hrsg.), Der Bundesrat als Blockadeinstrument der Union. Kritische Anmerkungen zur Obstruktionspolitik der CDU/CSU im Bundesrat, 1982. 71 Vgl. Merten, DVB1. 1980, S. 776. 72 Hierzu Hans H. Klein, AöR 108, 1983, S.359. 73 In den ersten acht Legislaturperioden fanden 66,9 vom Hundert der vom Bundesrat eingebrachten Gesetzesvorlagen nicht die Zustimmung des Bundestages. Angaben nach Hans H. Klein, a. a. O., S. 361 zu Fn. 188.
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conformes" bei der Zustimmungsgesetzgebung 74 beschränken kann, vermag er das freie „Nebeneinander" von Bundesgesetzgeber und Landesgesetzgeber im Falle des Art. 75 G G zu Lasten des einen oder anderen Teils zu verengen. 4. Rahmengesetzgebung
als
Gesetzgebungskooperation
Verneint man eine bereits aus dem Zweck der Rahmengesetzgebung folgende Gesetzgebungspflicht der Länder, so müßte dieses Ergebnis nur im Falle seiner Unhaltbarkeit oder Absurdität überprüft werden 75 . Unhaltbare Zustände drohen jedoch nicht, wenn den Ländern die Ausfüllung und Ergänzung des Bundes-Rahmenrechts frei steht, wie eine Reihe von Indizien zeigt. Trotz seiner Entscheidungsfreiheit hat der Bundesrat in weniger als in einem von hundert Fällen seine Zustimmung zu Bundesgesetzen versagt76, so daß das Schlagwort von dem „Blockadeinstrument" Bundesrat eindeutig politische Kampfformel und nicht rechtstatsächlicher Erfahrungssatz ist77. In den ländereigenen Gesetzgebungsbereichen, insbesondere dem Polizeirecht und dem Kommunalrecht, haben die Landesparlamente Gesetze erlassen, und ist es nicht zu Gesetzesnotständen gekommen. Selbst die „föderalistische Gesetzgebung", bei der „allgemeines" Recht durch inhaltlich übereinstimmende Gesetze des Bundes und der Länder geschaffen wird, hat trotz Gesetzgebungsfreiheit aller Beteiligten - jedenfalls auf dem Gebiet des Verwaltungsverfahrensrechts - weitgehend Erfolg gehabt, obwohl dieses Gesetzgebungsverfahren an der institutionellen Schwäche krankt, daß die Länderparlamente an der Ausarbeitung der entsprechenden „Musterentwürfe" nicht beteiligt und sie später faktisch auf eine Bestätigung verwiesen sind. Soweit der „Musterentwurf" eines einheitlichen Polizeigesetzes 78 bisher nicht bundeseinheitlich transformiert wurde, muß der Bund sich einen Vorwurf in gleicher Weise gefallen lassen wie einige Länder 7 '. 74 Hier ist der Bundesrat zweites Gesetzgebungsorgan des Bundes (arg. Art. 59 Abs. 2 GG); vgl. BVerfGE 24, 184 (197), aber auch BVerfGE 37, 363 (380f.); hiergegen überzeugend Stern, Die Ergebnisse der Enquete-Kommission Verfassungsreform und die verfassungsrechtliche Fortentwicklung der Bundesrepublik, 1977, S. 66 f. 75 Vgl. in diesem Zusammenhang Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 1.Halbband, 15.Aufl., 1959, §56 III, Fn. 11, S.334; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Aufl., 1979, S. 337. 76 Siehe die Angaben bei Hans H. Klein (Fn. 72) S. 362. 77 Hierzu Hans H. Klein, a. a. O., S. 361 ff.; vgl. auch Friedrich Karl Fromme, Gesetzgebung im Widerstreit, 1976, insbes. S. 78 f. 78 Vgl. hierzu Gerd Heise, Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes, 1976; Merten (Hrsg.), Aktuelle Probleme des Polizeirechts (unter Berücksichtigung des Musterentwurfs eines einheitlichen Polizeigesetzes des Bundes und der Länder), 1977. 79 So ist der Musterentwurf bisher von den Bundesländern Hamburg, Hessen, Saarland und Schleswig-Holstein noch nicht übernommen worden.
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Somit fehlt es an Anhaltspunkten, daß die Länder ohne entsprechende Pflichten ihrer Gesetzgebung gerade auf den Gebieten der Rahmengesetzgebung nicht nachkommen würden. Da zudem die Rahmenkompetenz des Bundes von der Detailkompetenz der Länder ohnehin nicht exakt abzugrenzen ist, kann der Bund durch eine Ausschöpfung seines Gesetzgebungsrechts zu erwartenden Schwierigkeiten begegnen, insbesondere wenn man die Verfassungsmäßigkeit eines schon als solchen tragfähigen Bundesrahmengesetzes bejaht 80 . Darüber hinaus hängt es oftmals allein von der Kunst der Gesetzgebungstechnik ab, die Länder zur Gesetzesausfüllung anzuregen. So werden die Länder unterschiedlich reagieren, je nachdem beispielsweise im Hochschulrahmenrecht die Öffentlichkeit oder die NichtÖffentlichkeit der Sitzungen der Hochschulgremien angeordnet und eine abweichende landesrechtliche Regelung gestattet wird81. Im übrigen hängt der Erfolg gerade bei einer Verteilung der Kompetenzen auf unterschiedliche Kompetenzträger von der Kooperation und Kompromißbereitschaft ab. Die Unhaltbarkeit eines Zustandes kann daher nicht ins Feld führen, wer durch sachliches Entgegenkommen den Erfolg maßgeblich beeinflussen kann. Das gilt nicht nur für die Zustimmungsgesetzgebung, sondern auch für die Rahmengesetzgebung. IV. System der Gesetzgebungskompetenzen Die karge Aussagekraft des Art. 75 G G läßt einen Rückgriff auf die verfassungsrechtliche Systematik der Gesetzgebungskompetenzen angezeigt erscheinen. Hierbei könnten sich einerseits aus der Gesamtverteilung der Kompetenzen und andererseits aus dem Vorhandensein oder Fehlen von Gesetzgebungspflichten für die Länder in anderen Gesetzgebungsarten Rückschlüsse auf Art. 75 G G ergeben.
1. Zuständigkeitsvermutung
für die Länder als für den Bund?
Kompetenzrestriktion
In Konkretisierung des Art. 30 G G haben die Länder gemäß Art. 70 Abs. 1 G G das Recht der Gesetzgebung, soweit die Verfassung nicht dem Bund Gesetzgebungsbefugnisse verleiht. Hierin wird vielfach eine „Zuständigkeitsvermutung" 82 zu Gunsten der Länder gesehen, mit deren Siehe oben sub II 1 b. " Vgl. in diesem Zusammenhang § 4 0 H R G . 82 Vgl. statt aller Maunz, in: Maunz/Dürig, G G A n . 30 R d n . 2 f f . ; BVerfGE 12, 205 (228); kritisch zu Recht Rupert Scholz, Ausschließliche und konkurrierende Gesetzgebungskompetenz in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Bd. II, 1976, S . 2 5 3 f f . ; überzeugend auch Rirtck, Festschrift für Gebhard Müller, 1970, 289 ff. 80
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Hilfe man dann auf eine enge Auslegung der Bundeskompetenzen schließen könnte. a) Aus Art. 70 Abs. 1 GG läßt sich jedoch eine Zuständigkeits„vermutung" zu Gunsten der Länder nicht entnehmen, auch wenn diese Auffassung schon im Parlamentarischen Rat vertreten wurde83. Vermutungen beziehen sich immer auf Tatsachen oder knüpfen an diese an. Auch bei sogenannten Rechtsvermutungen84 ist die Vermutungsbasis eine bestimmte Tatsache, z.B. Grundbucheintragung oder Grundbuchlöschung85, und die Vermutungsfolge das Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses8', weshalb Rosenberg/Schwab" zu Recht von „Rechtszustandsvermutungen" sprechen. Gesetzgebungskompetenzen gehen aber nicht von Tatsachen aus. Für sie können weder Beweise noch Gegenbeweise angetreten werden. Sie bedürfen auch keiner Vermutung, weil Gewißheit möglich ist. Die „Vermutung" ist daher eher Indiz für eine Interpretations- und Begründungsbequemlichkeit. Denn es gilt nicht nur: iura novit curia, sondern auch: constitutionem novit curia88. Die Ermittlung (inländischen) Verfassungsrechts bedarf keiner Beweisregeln und ist Beweisregeln auch nicht zugänglich. Eine Zuständigkeits„ Vermutung" zu Gunsten der Ländergesetzgebung ist daher im Ansatz ebenso unrichtig wie eine Freiheits„vermutung" zu Gunsten des Bürgers („in dubio pro übertäte"89). Ebenso wie bei der Relation von bürgerlicher Freiheit und staatlicher Beschränkung handelt es sich bei der Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen um ein Regel-AusnahmeVerhältnis.
So der Abg. Dr. Schwalber (CSU) in der 3. Sitzung vom 9.9.1948, Sten.Ber. S.37. Vgl. Rosenberg!Schwab, Zivilprozeßrecht, 13. Aufl., 1981, § 1 1 7 1 4 , S.679 L;Arwed Blomeyer, Zivilprozeßrecht, Erkenntnisverfahren, 1963, § 6 7 II 2, S. 335. 83 84
85 Vgl. §§891 Abs. 1, 1138, 1155 einerseits, 891 Abs.2 BGB andererseits; weitere Beispiele bei Rosenberg/Schwab, a. a. O. 86 Vgl. Rosenberg/Schwab, a . a . O . (Fn.84), § 1 1 7 I 4 b S.679. 87 A . a . O . 88 Arg. § 2 9 3 ZPO. 89 Diese Formel findet sich erstmals wohl bei Giesbert Uber, Freiheit des Berufs, 1952, S. 28; eingehend dann Peter Schneider, In dubio pro übertäte, in: Hundert Jahre deutsches Rechtsleben, Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages, Bd. II, 1960, S. 263 ff.; ders., Prinzipien der Verfassungsinterpretation, W D S t R L 20, 1963, S.31 ff.; Maihofer, Rechtsstaat und menschliche Würde, 1968, S. 126ff.; Ulrich Klug, Presseschutz im Strafprozeß, 1965, S. 27; Thilo Ramm, Der Wandel der Grundrechte und der freiheitliche soziale Rechtsstaat, J Z 1972, 138; Schwinge, in: Festgabe für Herrfahrdt, 1961, S. 187 sub IV 1 c; Wintrich, in: Staat und Bürger, Festschrift für Apelt, 1958, S.6.
Vgl. auch BVerfGE 17, 306 (313 f.) „allgemeine Freiheitsvermutung zugunsten des Bürgers"; BVerwGE 1, 303 (306); ähnlich schon Kitzinger, in: Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. II, 1930, S.450 („Zu vermu-
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b) Ist somit die verfassungsrechtliche, wenn auch nicht rechtstatsächliche Regel die Gesetzgebungszuständigkeit der Länder und die in der Verfassung besonders zu normierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes die Ausnahme, so darf aus diesem Regel-Ausnahme-Verhältnis jedoch nicht vorschnell eine restriktive Interpretation der Ausnahmebestimmungen gefolgert und bereits mit dieser Begründung eine Gesetzgebungspflicht der Länder bei der Rahmengesetzgebung abgelehnt werden. Denn auch die oft benutzte These, daß Ausnahmevorschriften eng auszulegen seien90, ist in dieser Undifferenziertheit unzutreffend". Ausnahmevorschriften sind weder eng noch weit, sondern richtig zu interpretieren. Hierfür sind Regelungszweck und Regelungsabsicht der N o r m entscheidend. Mit ihrer Hilfe muß der Inhalt der Ausnahmebestimmung ermittelt und insbesondere entschieden werden, ob nichterfaßte Sachverhalte wegen ihrer Ähnlichkeit und Vergleichbarkeit in die Ausnahmeregelung einzubeziehen sind' 2 . Dennoch lassen (echte) Regel-Ausnahme-Verhältnisse Rückschlüsse für die Interpretation zu. Wenn es bei der vom Gesetz gewollten Regel bleiben soll, dürfen Ausnahmen den Grundsatz jeweils nur in dem erforderlichen Ausmaß beschränken. Wie bei den Grundrechten aus der Relation von grundsätzlich geschützter Freiheit und spezieller Beschränkungsermächtigung das Gebot der Verhältnismäßigkeit - unter Einten ist die Freiheit, nachzuweisen die Unfreiheit"); fritz Fleiner, Institutionen des Verwaltungsrechts, 8. Aufl., 1928, 131 („Vermutung für die Freiheit der Bürger von staatlichem Zwang"). Entlarvend wird die Theorie, wenn ihre Urheber fordern, der Staat müsse sein Interventionsrecht „beweisen". So Franz L.Neumann, ZfgesStW 109, 1953, 28. Trefflich dagegen Thomas Würtenberger, Über Freiheit und Sicherheit, Welzel-Festschrift, 1974, S.29 („oberflächliche, im Grunde nichtssagende Formel"). BVerwGE 42, 79 (83); ferner Ebmke, W D S t R L 20, 1963, S. 86 ff.; auch Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland (Fn. 124), Rdn. 72, S.27; Scheuner, Pressefreiheit, W D S t R L 22, 1965, S.37; Hans Huber, ZSR 1936, S. 119 a.; ders., W D S t R L 20, 1963, S. 116; Geiger, in: Leibholz-Festschrift, Bd. 2, 1966, S. 190; Badura, JuS 1976, S.208 1. Sp.; Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, 1967, S. 58; Engisch, Einführung in das juristische Denken, 7. Aufl., 1977, S. 104; Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 538; Lerche, Ubermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 33 Fn. 18. Im Strafrecht ist der Grundsatz „in dubio pro reo" auf Prozeßvoraussetzungen nicht anwendbar, vgl. Sulanke, Die Entscheidung bei Zweifeln über das Vorhandensein von Prozeßvoraussetzungen und Prozeßhindernissen im Strafverfahren, 1974, 78 ff.; ferner O L G Hamburg J R 1979, 383 f. m. Anm. von Meyer-Goßner. *> Vgl. R G Z 153, 1 (23); B G H Z 4, 219 (222); 11, 135 (143); B S G E 26, 68 (72); Bayer. VerfGH, Urt. v. 24.4.1950, D Ö V 1950, 475; Österr. VerfGH, Slg. Nr. 6035, S.506; Eyermann/Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, 8. Aufl. 1980, §40 Rdnr.90, S. 183. " Hierzu Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (Fn. 75), S. 343 ff. Vgl. Larenz, a . a . O . , S.344; B G H , Urt. v. 13.1.1970, DVB1. 1970, 357 r.Sp.
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schluß der Erforderlichkeit - zu entnehmen ist93, so können auch die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes ihm nur das Recht verleihen, die jeweilige Materie in dem erforderlichen Umfang zu normieren. Für die konkurrierende und die Rahmengesetzgebung wird dies auch durch die „Bedürfnisklausel" des Art. 72 Abs. 2 GG deutlich, die als unbestimmter Verfassungsbegriff allerdings nicht der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen sein kann94. Die „Erforderlichkeit" als Topos für die Interpretation von Ausnahmevorschriften ist nun beileibe nicht nur eine neue Umschreibung für die überkommene These einer restriktiven Auslegung. Soweit der Zweck der Ausnahmeregelung es erfordert, ist auch eine ausdehnende Interpretation gestattet. So hat beispielsweise das Bundesverfassungsgericht95 die Ausnahmeregel des Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG nicht eng, sondern weit ausgelegt und auch eine Regelungsbefugnis hinsichtlich der Berufswahl bejaht, diese allerdings auf zwingende Erfordernisse begrenzt. Für die Interpretation des Art. 75 GG im systematischen Zusammenhang der Gesetzgebungskompetenzen folgt daraus, daß eine Gesetzgebungspflicht der Länder nicht von vornherein - wegen einer „Zuständigkeitsvermutung" zu Gunsten der Länder oder einer restriktiven Interpretation des Art. 75 G G - abzulehnen ist. Die Verfassungsinterpretation müßte eine Ausfüllungs- und Ergänzungspflicht der Länder bejahen, wenn der Zweck der Rahmengesetzgebung dies geböte und eine Regelungspflicht erforderlich wäre. Gerade an diesem Erfordernis fehlt es jedoch, weil der Zweck der Rahmengesetzgebung - wie dargelegt96 auch bei einem freiwilligen „Nebeneinander" von Bund und Ländern zu erreichen ist. 2. Landesgesetzgebungspflichten
im
Kompetenzsystem
Somit läßt sich aus dem System der Gesetzgebungskompetenzen eine Auslegungshilfe nur noch gewinnen, wenn Gesetzgebungspflichten für die Länder bei den übrigen Gesetzgebungsarten auftauchen. a) Im Bereich der ausschließlichen Gesetzgebung haben die Länder nach Art. 71 GG die Befugnis zur Gesetzgebung nur, „wenn und soweit sie hierzu in einem Bundesgesetze ausdrücklich ermächtigt werden". Würde man nun die bei Art. 75 GG benutzte a maiore ad minus-
Hierzu Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, 1975, S. 62. Merten, Zentralisation oder Dezentralisation aus der Sicht der Gesetzgebung, in: Städte- und Gemeindebund, 1980, S. 1 3 9 f . ; eingehend hierzu Rupert Scholz, a . a . O . (Fn. 82), S. 2 5 8 ff. 95 B V e r f G E 7, 377 (402 f.). % Siehe hierzu oben sub III. 93
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Argumentation'7 heranziehen, so ließe sich auch hier aus dem Gesetzgebungsrecht der Länder eine Gesetzgebungspflicht konstruieren. Die These würde dann lauten: Da der Bund zur Rechtssetzung mit Außenwirkung legitimiert ist, muß er auch die Länder zur Gesetzgebung verpflichten können, weil sich diese Pflicht im Vergleich mit einer unmittelbaren Regelung durch den Bund als ein „minus" darstellt. Diese Deduktion überzeugt jedoch hier ebensowenig wie bei der Rahmengesetzgebung. Schon der Begriff der „Ermächtigung" spricht für eine bloße Berechtigung und gegen eine gleichzeitige Verpflichtung. Das Ergebnis wird durch die genetische Interpretation bestärkt. Bei den Beratungen des Parlamentarischen Rates wurde aus dem Institut der ausschließlichen Gesetzgebung ein Delegationsverbot geschlossen". Nach Ansicht des Hauptausschusses bedurfte eine Delegation einer ausdrücklichen verfassungsgesetzlichen Regelung", die in das Grundgesetz im Unterschied zur Weimarer Verfassung aufgenommen wurde. Zu Recht wird daher die Möglichkeit für die Bundesgesetzgebung verneint, im Hinblick auf Art. 71 G G eine Pflicht zur Landesgesetzgebung zu statuieren100. b) Anders als bei der ausschließlichen Gesetzgebung bedarf es bei der konkurrierenden Gesetzgebung zunächst keiner Ermächtigung für die Länder. Ihnen steht eine Vollkompetenz zu, die solange und soweit reicht, wie der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht keinen Gebrauch macht (Art. 72 Abs. 1 GG). Tritt im Falle der Bundesgesetzgebung eine Gesetzgebungssperre für die Länder ein, so kann der Bundesgesetzgeber diese Sperre teilweise durch Vorbehalte für die Landesgesetzgebung durchbrechen. Auch hier darf er jedoch das Land zur Gesetzgebung nicht verpflichten, worauf Maunzm zutreffend hinweist. c) Nach allem sind Gesetzgebungspflichten für die Länder im System der Gesetzgebungskompetenzen unbekannt. Daher besteht kein systematischer Anhaltspunkt dafür, von den übrigen Gesetzgebungskompetenzen auf eine Gesetzgebungspflicht im Rahmen des Art. 75 G G zurückzuschließen. Dabei ist allerdings nicht zu verkennen, daß die Interessenlage nicht völlig identisch ist, weil der Bund bei der ausSiehe hierzu oben sub II 4. " So der Abg. Dr. Schmid (SPD) in der 6. Sitzung des Hauptausschusses vom 19.11.1948, Verhandlungen des Hauptausschusses, S. 77. 99 Vgl. Matz (Fn.28), S.463. 100 Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 71 Rdn. 10; v. Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd.2, 2. Aufl., 1964, Art. 71 Anm. IV 7 a, S. 1423; von Münch, a.a.O. (Fn.30), Art. 71 Rdn. 12; Walter Rudolph, Die Gesetzesermächtigung nach Art. 71 GG, AöR 88, 1963, S.159, 183. ,0' A . a . O . 97
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schließlichen und der konkurrierenden Gesetzgebung eine Vollkompetenz hat und daher auf eine Mitwirkung der Länder nicht angewiesen ist. V. Rechtsnatur der Gesetzgebungskompetenzen 1. Gesetzgebungskompetenzen als Zuständigkeitszuweisungen Aus den Gesetzgebungskompetenzen lassen sich Gesetzgebungspflichten nur herleiten, wenn man aus den Gesetzgebungsrechten eine immanente Pflicht der Kompetenzträger entnimmt, von den ihnen eingeräumten Befugnissen Gebrauch zu machen. Hierbei müßte es sich um eine über bloße politische Pflichten hinausgehende Rechtspflicbt handeln, die dann allerdings nicht nur die Länder, sondern auch den Bund träfe. Derartige Uminterpretationen sind aus der Grundrechtsinterpretation bekannt und laufen auf die These hinaus, daß Rechte und Pflichten einander bedingen und daß dem Recht auf Freiheit eine Pflicht zum Gebrauch der Freiheit entspreche102. Dieser apriorischen Gleichsetzung steht zunächst der Verfassungswortlaut entgegen. Bei den Kompetenzbestimmungen spricht die Verfassung ausdrücklich von Gesetzgebungsrechten und Gesetzgebungsbefugnissen103, während sie an anderer Stelle durchaus statuiert, daß eine bestimmte Materie „zu regeln ist"104. Zweck der Kompetenznormen der Art. 70 ff. G G ist es, im Bundesstaat die Gesetzgebung zwischen Bund und Ländern zu verteilen und bestimmte Befugnisse bestimmten Trägern oder Staatshoheiten (Bundes- und Landeshoheit) zuzuweisen. Dabei bleibt unentschieden, ob die verteilten Aufgaben auch besorgt werden müssen. Dieselbe Bedeutung der Kompetenzbestimmungen läßt sich bei rechtsvergleichender Betrachtung auch in anderen Bundesstaaten nachweisen105. Die Art. 70 ff. G G sagen nur etwas darüber aus, wer im Bundesstaat Gesetze erlassen darf, nicht aber darüber, ob und wie sie erlassen werden müssen106. Auch für die Weimarer Reichsverfassung war 102 Gebhard Müller, Die Menschenrechte in der Rechtsordnung, in: Freiheit und Verantwortung, Festschrift für E. Stein, 1969, S. 21; Ekkehard Kaufmann, JZ 1972, 46 sub II; hiergegen Merten, VerwArch. 73, 1982, 106 ff. 105 Vgl. Art. 70 Abs. 1, 71, 72, 75; vgl. Art. 98 Abs. 4 und Abs. 5 Satz 1. Vgl. Art. 33 Abs. 5, Art. 98 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 1; vgl. auch Art. 6 Abs. 5 („sind . . . zu schaffen"). 105 Vgl. für Österreich Robert Walter, Österreichisches Bundesverfassungsrecht, 1972, S. 104 Fn. 14; Karl Korinek, Die verfassungsrechtliche Grundlegung der österreichischen Sozial- und Wirtschaftsordnung, in: Mock/Schambeck, Verantwortung in Staat und Gesellschaft, 1977, S.252. 104 Η . M.: von Mangoldt/Klein (Fn. 100) Vorbem. II 7a vor Art. 70ff., S. 1343; Maunz, in: Maunz/Dürig, G G , Art. 70 Rdn. 14f.; Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum Grundgesetz, 6. Aufl. 1983, Vorbem. vor Art. 70, S. 749 a. E.; Stern, Staatsrecht, Bd. II, § 3 7 II 5 c, S. 609.
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anerkannt, daß in der Gesetzgebungszuweisung „keine Pflicht, nur ein Recht" zu erblicken sei107. Unbeschadet spezieller Normierungsaufträge folgt aus den Kompetenzbestimmungen als solchen keine Gesetzgebungspflicht - weder für den Bund, noch für die Länder. 2. Kompetenzen als objektive Berechtigungen oder subjektive Rechte? Dieses Ergebnis scheint einer Lehre zu widersprechen, die Zuständigkeiten oder Kompetenzen nicht als Rechte oder Befugnisse auffaßt108. Herbert Krüger109 sieht in der Gleichsetzung von „Kompetenz" und „Recht" einen „gefährlichen Sprachgebrauch", weil das „überwiegend im Privatrecht" verwendete „subjektive Recht" dort legitimerweise „Belieben und Eigennutz" gestatte, wofür in der staatlichen Tätigkeit jedoch kein Raum sei. Aus der Identität von „Zuständigkeit" und „Pflicht" folgert er, daß Zuständigkeiten nicht verzichtbar und nicht übertragbar seien; letzteres insbesondere, weil Zuständigkeiten nicht nur überhaupt, sondern auch von dem adäquaten Träger wahrzunehmen seien. a) Zunächst ist das subjektive Recht heutzutage ein dem privaten und dem öffentlichen Recht gemeinsames Institut, Bestandteil eines „gemeinen Rechts" 1 ' 0 , so daß seine „nichtöffentliche" Abstammung heute nicht mehr als illegitim erscheinen kann. „Belieben und Eigennutz", denen im übrigen im Zivilrecht Grenzen gezogen sind111, können auch die Ausübung subjektiver öffentlicher Rechte leiten. So muß der Staat es dulden, wenn der Bürger bei Ausübung seiner Eheschließungsfreiheit beliebig oder eigennützig handelt. Beliebig könnte schließlich auch der Bundeskanzler verfahren, weil sein Vorschlagsrecht nach Art. 64 Abs. 1 G G sachlich nicht eingeschränkt wird, wenngleich er in der Praxis ( p a r t e i politischen Sachzwängen unterliegt. Und hoffentlich wird der Bund bei der Pflege der Beziehungen zu auswärtigen Staaten gemäß Art. 32 Abs. 1 G G „eigennützig" und nicht „fremdnützig" handeln. Die Gegenüberstellung von privatem und öffentlichem Recht, von Gemeinnutz und Eigennutz trifft also den Kern des Problems nicht. b) Da Verzichtbarkeit und Ubertragbarkeit im Privatrecht keine essentialia subjektiver Rechte sind, können auch aus der Anerkennung bzw. 107
Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches (Fn. 27), Art. 6 Anm. 3, S. 74. Vgl. Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2.Aufl., 1966, S . l l O f . ; Manfred Goessl, Organstreitigkeiten innerhalb des Bundes, 1961, S. 54 ff.; siehe auch Bethge, Der Staat 10, 1971, 485f.; eingehend Rupert Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, 1983, insbesondere S. 64 ff. ,M A . a . O . (Fn. 108), S . l l O f . 1,0 Hierzu Bettermann, N J W 1977, 515 III. 111 Vgl. z.B. §§134, 138, 226, 242, 826 BGB, Art.30 EGBGB. 108
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Ablehnung subjektiver öffentlicher Rechte nicht schon begriffsnotwendig Verzichtbarkeit oder Unverzichtbarkeit, Übertragbarkeit oder Nichtübertragbarkeit folgen. So ist im Bürgerlichen Recht der Verzicht auf eine Forderung nur mit Zustimmung des Gläubigers möglich112 und der Verzicht auf den Unterhaltsanspruch für die Zukunft gemäß §1641 B G B ausgeschlossen, wie auch im öffentlichen Recht der Beamte auf die ihm zustehende Besoldung nicht verzichten darf113, und der Grundrechtsverzicht - im Gegensatz zum Grundrechtsausübungsverzicht - als unzulässig angesehen wird. Im Bürgerlichen Recht ist der Nießbrauch gemäß § 1059 S. 1 B G B nicht übertragbar, und im Sozialrecht ist die Ubertragbarkeit von Ansprüchen auf Dienst- und Sachleistungen und die des Anspruchs auf Sozialhilfe ausgeschlossen114. Wie im Bürgerlichen Recht, so sind auch im öffentlichen Recht bei Fehlen ausdrücklicher Regelungen für die Verzichtbarkeit oder Unverzichtbarkeit, die Abtretbarkeit oder Nichtabtretbarkeit Inhalt und Zweck der Norm, gegebenenfalls auch ihre systematische Stellung, nicht aber begriffliche Klassifizierungen entscheidend. Ob eine verfassungsrechtliche Zuständigkeit dem Aufgabenträger Handlungsfreiheit verleiht oder ihn zur Aufgabenbesorgung anhält, entscheidet sich durch Norminterpretation, nicht aber als begriffsjuristische Folge der Einstufung als einer bloßen „Kompetenz" oder eines „subjektiven Rechts". Die Anerkennung von Grundrechten als subjektiven öffentlichen Rechten sagt als solche über deren Verzichtbarkeit nichts aus, wie umgekehrt durch die Ablehnung eines Grundrechts Verzichts die Grundrechte ihren subjektivrechtlichen Charakter nicht verlieren. c) Der Streit um die objektiv-rechtliche oder subjektiv-rechtliche Klassifizierung von Kompetenzen gibt letztlich für das Problem etwaiger Handlungspflichten der Kompetenzträger nichts her. Bei objektiv-rechtlicher Betrachtung verleiht die Kompetenz die Rechtsmacht, rechtlich erhebliche Handlungen oder Unterlassungen vorzunehmen, ohne daß den Berechtigungen oder Verpflichtungen ein Gläubiger oder Schuldner gegenübersteht115. Bei subjektiv-rechtlicher Ausgestaltung bestehen im staatlichen Innenverhältnis subjektive Rechte und Pflichten, sind die Kompetenzträger Rechts- und Pflichtsubjekte, die einander auch in gerichtlichen Streitigkeiten gegenübertreten können116. In beiden Fällen besteht eine Verpflichtung auf das Gemeininter1,2 113 1,4 115 116
In der Form eines Erlaßvertrages (§ 397 BGB). § 2 Abs.3 BBesG i . d . F . vom 13.11.1980 (BGBl.I S.2081). § § 5 3 Abs. 1 SGB - Allg. Teil, 4 Abs. 1 Satz 2 BSHG. Vgl. Goessl, a . a . O . (Fn. 108) S.54. Vgl. Goessl, a . a . O . (Fn.108) S.54 ff.
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esse, und es ist - worauf Goessl117 zutreffend hinweist - letztlich nur eine Frage zweckmäßiger Staatsorganisation, ob staatlichen Institutionen „zur Durchführung ihrer Aufgaben im Rahmen des Gemeininteresses ein Spielraum eingeräumt" wird, „in dem sie nach ihrem Ermessen und Gutdünken walten können" und ihnen „zur Verteidigung dieses Spielraums" gerichtlicher Schutz gewährt wird. Ungeachtet dieser unterschiedlichen „Positionen und Begriffe" muß auch bei objektiv-rechtlicher Betrachtung geklärt werden, ob die Kompetenzen nur (objektive) Berechtigungen oder gleichzeitig (objektive) Verpflichtungen enthalten, ob ein Tun nur gestattet oder auch geboten, ein Unterlassen erlaubt oder aber verboten ist. Im übrigen geht es bei der Nichtbesorgung von Aufgaben gar nicht um einen Verzicht, wie Herbert Krüger118 offenbar meint, sondern um die Nichtausübung einer Berechtigung oder eines Rechts, so daß die dogmatische Polarität nicht zwischen Verzichtbarkeit und Unverzichtbarkeit, sondern zwischen Unterlassensrecht und Tätigkeitspflicht besteht. Folglich ist auch die Frage, ob Zuständigkeiten Rechte oder Pflichten sind, falsch, weil undifferenziert gestellt. Zum einen mag man darüber streiten, ob Kompetenzen objektive Berechtigungen und Verpflichtungen oder subjektive Rechte und Pflichten sind. Zum anderen muß jeweils zusätzlich geklärt werden, ob die objektive Berechtigung oder das subjektive Recht zugleich mit einer objektiven Verpflichtung oder einer subjektiven Pflicht einhergehen. Mit der Entscheidung der ersten Frage ist für die Beantwortung der zweiten Frage noch nichts gewonnen, weil einerseits eine Kompetenz als objektive Berechtigung keine (objektive) Verpflichtung zum Tun enthalten muß, während andererseits eine Kompetenz auch als subjektives Recht zugleich die subjektive Pflicht zum Handeln umschließen kann. Der Schluß von der objektiv-rechtlichen Zuständigkeit auf die Pflicht ist allzu pauschal und auch in der älteren Lehre in dieser Eindeutigkeit nicht gezogen worden. So meinen Meyer/Anschütz"* - allerdings bei der Erörterung der subjektiven öffentlichen Rechte, als die Herbert Krüger120 Kompetenzen gerade nicht ansehen will - , daß dem öffentlichen Recht regelmäßig eine öffentliche Pflicht entspreche, „welche freilich nicht immer die Ausprägung als Rechtspflicht erhalten hat". Triepelm vertritt bei der Erörterung der Aufsichtsfunktionen den allgemeinen Grundsatz, daß die Zuweisung einer Kompetenz im Zweifel zu ihrer 117 118
120 121
A . a . O . (Fn. 108) S.57. A . a . O . (Fn. 108) S. 111. Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts, 7. Aufl., 1919, §11, I, S.37. Allgemeine Staatslehre, S. 110; vgl. auch S. 111 in und zu Fn. 124. Die Reichsaufsicht, 1917, S.545.
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Ausübung verpflichtet, räumt aber gleichzeitig ein, daß „bei Aufsichtskompetenzen ebenso wie bei anderen Zuständigkeiten die Geltendmachung dem Ermessen des Berechtigten überlassen sein" kann122. Damit zeigt sich nach allem, daß über eine Pflicht zum Kompetenzgebrauch nur aufgrund der konkreten Kompetenznorm und ihrer Interpretation entschieden werden kann. VI. Die bundesstaatliche Ordnung 1. Die „Bundestreue" Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes setzt eine Kooperation und Koordination von Bund und Ländern voraus122'. Aus dem insbesondere vom Bundesverfassungsgericht123 entwickelten Gebot bundesfreundlichen Verhaltens, das allerdings nicht nur die Länder, sondern auch den Bund verpflichten muß, mag man zusätzliche „Nebenpflichten" in Gestalt gegenseitiger Information und Rücksichtnahme ableiten. Zu Recht warnt Hesse124 jedoch davor, auf den generellen und ungeschriebenen Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens zurückzugreifen, soweit spezielles und geschriebenes Verfassungsrecht besteht. Daher muß das Problem einer Gesetzgebungspflicht der Länder aus den Kompetenzvorschriften, insbesondere aus Art. 75 GG, nicht aber durch einen pauschalen Rückgriff auf die „Bundestreue" gelöst werden. Wären die Länder ohnehin nach Art. 70 ff. GG zur Ausfüllung oder Ergänzung bundesrechtlichen Rahmenrechts gehalten, bedürfte es der „Bundestreue" von vornherein nicht. Spricht ihnen die Verfassung aber Entschei-
A.a.O., Fn.l. ' Nach K.C. Wheare, Föderative Regierung, 1959, S. 16, werden beim föderativen Prinzip Machtbefugnisse so verteilt, „daß die Zentralregierung und die regionalen Regierungen in einem bestimmten Bereich einander gleichgeordnet und voneinander unabhängig sind." 122
122
123 B V e r f G E 12, 205 ( 2 5 4 f f . ) ; 13, 54 (75 ff.); siehe auch B V e r f G E 1, 117 ( 1 3 1 ) ; 1, 299 ( 3 1 5 ) ; 3, 52 (57); 4, 115 ( 1 4 0 ) ; 6, 3 0 9 (361 f.); 8, 122 (138 f.); 14, 197 (215); 21, 312 (326); 34, 2 1 6 ( 2 3 2 ) ; 61, 149 (205); ferner die abweichende Meinung des Richters Dr. Niebier zu B V e r f G E 55, 2 7 4 , abgedruckt S. 345 ff. (346); schließlich Hermann-Wilfried Bayer, Die Bundestreue, 1961. 124 Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 13. Aufl., 1982, § 7 II 3, R d n . 2 7 0 , S. 1 0 7 f . ; vgl. in diesem Zusammenhang auch Bernd-Christian Funk, Das System der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung im Lichte der Verfassungsrechtsprechung, 1980, S. 90 f.; Das Bundesverfassungsgericht sieht zwar die „Bundestreue" als Kompetenzschranke an, begrenzt dies jedoch auf eine länderübergreifende Auswirkung von Landesrecht und auf offenbaren Mißbrauch, vgl. B V e r f G E 4, 115 (140); 6, 309 (361). N a c h B V e r f G E 14, 197 (215) ist der Kompetenzgebrauch als solcher nicht „bundesunfreundlich" (vgl. auch B V e r f G E 2, 213, 224). Das muß dann auch für den Nichtgebrauch gelten.
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dungsfreiheit zu, dann kann es nicht „bundesunfreundlich " sein, wenn die Länder ihren „Spielraum" auch benutzen. Nur im Ausnahmefall, z.B. bei einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes kann sich die Gesetzgebungsfreiheit zu einer Gesetzgebungspflicht verdichten, wenn die Ländergesetzgebung (ζ. B. auf dem Gebiet des Melde- und Ausweiswesens) zur wirksamen Gefahrensbekämpfung unerläßlich ist. Allerdings folgt die Pflicht auch hier weniger aus dem allgemeinen Grundsatz der Bundestreue als vielmehr aus dem Grundgedanken des Art. 91 GG. 2.
Bundeszwang
Andererseits kann gerade die föderalistische Ordnung gegen das Bestehen von Landesgesetzgebungspflichten angeführt werden. Denn der Erlaß der Landesgesetze müßte notfalls im Wege des Bundeszwanges gemäß Art. 37 G G durchgesetzt werden125, so daß die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates die erforderlichen Landesgesetze zu erlassen hätte. Gegen diesen weitreichenden Eingriff in eine Parlamentskompetenz spricht jedoch der Umstand, daß bei Verwaltungsmängeln und deren Nichtbeseitigung gemäß Art. 84 Abs. 4 GG zunächst eine Entscheidung des Bundesrates darüber beantragt werden kann, ob das Land Recht verletzt hat. Es ist aber unwahrscheinlich, daß die bundesstaatliche Verfassung im Falle von Verwaltungsfehlleistungen ein subtileres und behutsameres Verfahren bereitstellt als bei Parlamentsfehlleistungen. Das Fehlen einer dem Art. 84 Abs. 4 G G entsprechenden Vorschrift bei den Gesetzgebungsbestimmungen ist daher ein starkes Indiz gegen eine Gesetzgebungspflicht der Länder. VII. Gesetzgebungspflichten und Gesetzgebungslasten 1.
Gesetzgebungspflichten
Fehlt es nach allem an einer generellen Gesetzgebungspflicht, so können die Länder nur aufgrund bundesverfassungsrechtlicher und auch landesverfassungsrechtlicher Einzelregelungen zum Tätigwerden gehalten sein. Solche speziellen Gesetzgebungspflichten enthalten Art. 33 Abs. 5 und Art. 98 Abs. 3 GG hinsichtlich des Berufsbeamtentums (im weiteren Sinne). Diese Materie hat der Verfassungsgesetzgeber offenbar für so vordringlich erachtet, daß er ausdrückliche Gesetzgebungsaufträge erteilt und in diesem Zusammenhang auch die Länder in Art. 98 Abs. 3 S. 1 GG ausdrücklich zur Regelung der Rechtsstellung der Richter verpflichtet hat. 125
Vgl. Ule, Beamtenrecht, 1970, § 1 BRRG Rdn. 8, S. 11.
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Daher ist auch § 1 Abs. 1 BRRG verfassungsrechtlich unbedenklich, weil die Länder einerseits bundesrechtliches Rahmenrecht zu beachten und andererseits gemäß Art. 33 Abs. 5 GG 126 und zusätzlich auf Grund landesverfassungsrechtlicher Bestimmungen 127 das Recht der Landesbeamten zu regeln haben. 2.
Gesetzgebungslasten
Auf Grund der Kompetenzvorschriften kann der Bund allenfalls Rechtssetzungslasten 128 für die Länder begründen. Eine solche Rechtssetzungslast, die nicht zur Normierung zwingt, an das Unterlassen jedoch Nachteile knüpft, kann in ihrem Umfang aber nie weiter reichen als die Rechtssetzungskompetenz des Bundes. Wenn der Bund die Länder gemäß Art. 71 G G zur Rechtssetzung im Bereich der ausschließlichen Gesetzgebung ermächtigt, so kann er damit eine Befristung mit der Folge verbinden, daß die Länder bei Unterlassung und Fristablauf die Rechtssetzungsbefugnis verlieren. Bei der Rahmengesetzgebung kann der Bund den Ländern eine Frist für die Rechtsangleichung an neues Rahmenrecht setzen. Auch hier entsteht eine Rechtssetzungslast, weil im Falle der Nichtanpassung das Bundesrahmenrecht dem Landesrecht derogiert. Allein für diese Fälle überzeugt auch das Argument a maiore ad minus. Denn wenn und soweit der Bund selbst Recht setzen und Landesrecht brechen kann, ist es ihm auch gestattet, Rechtssetzung zu delegieren (arg. Art. 71 G G ) oder die Derogation hinauszuschieben. Im Unterschied zu Rechtssetzungspflichten können Rechtssetzungslasten aber niemals zur Rechtssetzung zwingen. Sie belassen den Ländern die Entscheidungsfreiheit und knüpfen an das Unterlassen lediglich Folgen, die der Bund auf Grund seiner Kompetenzen ohnehin hätte herbeiführen können.
126 Zum Regelungsauftrag des Art. 33 Abs. 5 vgl. Maunz, in: Maunz/Dürig, G G , Art. 33 Rdn. 78; zweifelnd Bettermann, in: Bettermann/Goessl (Fn. 14), S. 133 Fn. 139. 127 Vgl. Art. 95 Abs. 1 S. 1 Bayer. Verf.; Art. 59 Abs. 2 S. 2 Hamb. Verf.; Art. 118 S. 1 Saarl. Verf. ,2 · Vgl. hierzu James Goldscbmidt, Der Prozeß als Rechtslage, 1925, S . 3 3 5 f .
Recht und Aphoristik HEINZ MÜLLER-DIETZ
I.
Das Thema „Recht und Aphoristik" ist neu und alt zugleich. Das Paradoxon löst sich, sucht man Aphoristik als Gegenstand von Rechtswissenschaft und Literaturwissenschaft, Recht als Gegenstand von Aphorismen vergleichend zu orten. Jede Wissenschaft wählt - so scheint es - die ihr gemäßen Themen, entwickelt die ihr zukommenden Fragestellungen. Was der einen zukommt, geht der andern ab. Worauf die eine zugeht, davon kommt die andere - sollte sie je darauf gekommen sein - oft genug ab. So nehmen Rechtswissenschaft und Literaturwissenschaft auch ein durchaus unterschiedliches Verhältnis zum Aphorismus ein. Was dort kein Gesicht hat, hat hier Gewicht. Für die Rechtswissenschaft sind Aphorismus und Aphoristik jedenfalls kein relevanter Gegenstand; im fachöffentlichen Bewußtsein fristen sie ein eher marginales Dasein. Die Zeugnisse und Belege dafür, daß man sich jener Themen überhaupt erinnert, bilden Raritäten. In der Tat hat sich Aphoristik als Gegenstand rechtswissenschaftlicher Analyse kaum Gehör zu verschaffen vermocht. Kein spezieller Beitrag dazu ist bekannt geworden, obwohl seit langem ein ganzes juristisches Schrifttum darum bemüht ist, die Darstellung von Rechtsfragen in literarischen Werken der je verschiedenen Gattungen - Roman, Novelle, Drama, Autobiographie usw. - aufzuspüren 1 . Ausnahmen, welche die Regel bestätigen, werden hin und wieder gemacht, finden jedoch in der rechtswissenschaftlichen Diskussion, wenn überhaupt, nur wenig Resonanz. Sie sind bezeichnenderweise vorrangig Sache von Rechtsphilosophen, die auf der Grundlage umfas1 Vgl. neuerdings A. Kaufmann, Beziehungen zwischen Recht und Novellistik, N J W 1982, 6 0 6 f f . ; O.Gritschneder, Ludwig Thoma und die Justiz, N J W 1982, 616ff.; B. Scblink, Gotthold Ephraim Lessing - bürgerliches Denken über Recht, Staat und Politik am Vorabend der bürgerlichen Gesellschaft, N J W 1983, 1137ff.; H. Rosendorfer, Leben und Wirken von drei Dichter-Juristen, N J W 1983, 1158 ff.; A. Frhr. v. Schimding, Recht und Richter im Spiegel der Literatur, in: Literatur und Recht. Hrsg. vom Bayer. Staatsministerium der Justiz, 1983, S. 152 ff.; H. Müller-Dietz, Strafrecht und Psychiatrie im Werk Robert Musils, in: FS f. H . Leferenz, 1983, S. 353 ff. Vgl. auch P.Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981.
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Heinz Müller-Dietz
sender philosophischer und literarischer Bildung Einsichten und Weisheiten in die Form des Aphorismus gegossen haben. Protagonisten jener Richtung sind namentlich Gustav Radbruch (1878-1949) und Carl August Emge (1886-1970), die beide - wohl nicht zufällig - in der Zeit der Barbarei und ihrem Ungeist trotzend als Juristen dem Aphorismus zugleich humane und Erkenntnisqualitäten abgewonnen haben. Mit der Herausgabe der „Aphorismen zur Rechtsweisheit" hat Arthur Kaufmann den lange schon gehegten Plan Wirklichkeit werden lassen, eine Sammlung von Aussprüchen und Sentenzen Radbruchs über Recht, Kultur und Leben zu veröffentlichen2; damit ist der Rechtsphilosoph, der mit dem „Kleinen Rechts-Brevier", dem „Spruchbuch für Anselm", ein Beispiel dafür gegeben hatte, was jene Literaturgattung für die Einsicht in das Recht und dessen Verständnis leisten kann3, selbst zu Wort gekommen". Die posthum erschienene Sammlung bezieht freilich als Teil einer „großen Konfession" die Erkenntnisse eines ganzen Lebens ein, ist also nicht allein vor dem Hintergrund jener zwölf Jahre zu sehen, während derer ihm der herrschende Ungeist öffentliches Wirken verwehrte. Der Titel selbst knüpft an Schopenhauers „Aphorismen zu Lebensweisheit" an5, die vielen ζ. B. für die reflexiven Möglichkeiten, die philosophische Aussagekraft jener Literaturgattung geworden sind6. Eine nähere Analyse würde ergeben, daß Radbruchs Sentenzen vorrangig eine bestimmte Form des Aphorismus repräsentieren. Hier wird jene Tradition aphoristischer Zuspitzung von Gedanken und Weisheiten unter rechtsphilosophischem Vorzeichen sichtbar, die aus umfassender humanistischer Bildung, geistesgeschichtlicher Kenntnis und lebenslanger Erfahrung zu schöpfen weiß. Die abgeklärte, besinnliche Art verleiht den „Aphorismen zur Rechtsweisheit" kontemplativen Charakter. Da weht der Atem einer ganzen Kultur- und Geistesgeschichte, breitet sich die Fülle eines bewußt gelebten Lebens aus. Insofern stehen jene Aphorismen in einer philosophischen und literarischen Denk- und Schreibtradition, die von der Grundhaltung der Menschlichkeit aus um die Erkenntnis des Rechts ringt, Recht in Kultur und Leben einbettet. Daß diejenigen „Aphorismen zur Rechtsweisheit", die in Radbruchs Sammlung mit der Uberschrift „Geduld und Ungeduld" versehen sind7, 2 G. Radbruch, Aphorismen zur Rechtsweisheit. Gesammelt, eingeleitet und hrsg. von A.Kaufmann, 1963. 3 Kleines Rechtsbrevier. Hrsg. von F. von Hippel, 1954. 4 A.Kaufmann, in: Radbruch (Fn.2), S.5. 5 A.Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit. Hrsg. von M.Brahn, 1920. Vgl. A.Kaufmann, in: Radbruch (Fn.2), S.5. ' Vgl. F. Riedinger, Schopenhauer und der Aphorismus, in: Kant-Studien 54 (1963), S. 22 Iff. 7 Radbruch (Fn.2), S.99ff.
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in der 1960 erschienenen Festschrift für Emge nochmals abgedruckt wurden®, scheint wiederum kein Zufall. Denn hier begegneten sich - bei aller Verschiedenheit des Denkens, Schreibens und persönlichen Temperaments - verwandte Geister. Emge teilte Radbruchs Vorliebe für die literarische Form des Aphorismus. Seine Aphorismen, die er 1942 unter dem ebenso anzüglichen wie charakteristischen Titel „Diesseits und jenseits des Unrechts" veröffentlichte', blieben freilich - anders als seine sonstigen Arbeiten 10 - weithin unbekannt. In seinem Fall scheiterte der Plan einer Neuauflage unter grundlegend veränderten Umständen". Dies wird man unabhängig vom geistigen Rang jener Aphorismen schon deshalb bedauern müssen, weil sie ein zeitgeschichtliches Ereignis verkörpern, das sich - in jedem Sinne des Wortes - über den praktizierten und personifizierten Unrechtsstaat zu erheben vermochte 12 . Daß hier eine aphoristische Begabung am Werke gewesen war, lassen auch spätere Arbeiten erkennen. 1957 hat Emge eine Studie veröffentlicht, die mit ihrem Titel „Diesseits und jenseits des Ernstes" gewiß nicht ohne Absicht an die Aphorismen des Jahres 1942 erinnert, aber zugleich auch den Wandel der Zeitläufte signalisiert". Auch in diesem Beitrag finden sich Aussprüche und Sentenzen, die zumindest der sprachlichen Form nach den ursprünglich erhobenen Anspruch einzulösen suchen. Weitere Beispiele aphoristischer Betätigung von Juristen gibt es sicher. Sie sind aber - zumindest was allgemein zugängliche, also veröffentlichte Arbeiten anlangt - ausgesprochen rar14. Dies gilt vor allem dann, wenn und soweit literarische Maßstäbe angelegt, stilistische Qualitäten vorausgesetzt werden und der landläufigen Verwechslung von Witz und Humor 1 5 eine Absage erteilt wird 16 . Gelegentlich wird in
Radbruch, Aphorismen - Uber die Ungeduld, in: Philosophie und Recht. FS f. C. A. Emge, 1960, S. 51 f. ' Emge, ARSP 1942, 185 ff. Dazu Müller-Dietz, Aphoristik und Recht im Werk Carl August Emges, ARSP 1984. 10 Vgl. z . B . H.Ryffel, ARSP 1958, 73ff., 1964, 433ff., 1972, 69ff. 11 Vgl. U. Klug, in: FS f. Emge (Fn. 8), S. 1 f. 12 Daß Emge damals diejenige Zeitschrift, das ARSP, leitete, die als einzige deutsche Fachzeitschrift Radbruch für Publikationen offenstand, hat dieser dankbar vermerkt. Vgl. Radbruch, Briefe. Hrsg. von E.Wolf, 1968, S. 139f., 164; G.Spendel, Jurist in einer Zeitenwende. Gustav Radbruch zum 100. Geburtstag, 1979, S. 20. Ein Beispiel: Radbruch, ARSP 1942, 143 ff. 13 Emge, Diesseits und jenseits des Ernstes, 1957. 14 Vgl. z . B . P. Bockelmann, Abgesang, 1978 (Eigenverlag). 15 Dazu F. Reichert-Facilides, Humor und Recht, FS f. K. Zweigert, 1981, S. 897ff.; A.G. Meier-Scherling, Witz, Humor und Recht, DRiZ 1983, 189 ff. Vgl. auch A.Keinath, Das Bild des Juristen im Spiegel neuerer Publikationen, NJW 1982, 626 ff. 16 Vgl. Müller-Dietz, Alltagsmoral und Alltagskriminalität. Zur skeptischen Weltsicht Johann Nestroys, in: FS f. P. Bockelmann, 1979, S. 21 ff. (24). 8
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solchen Versuchen die sprachspielerische Komponente bevorzugt 17 , wie sie etwa in Karl Kraus - vielfach unnachahmliche - Gestalt gewonnen hat18. Sie erzielen ihre Wirkung - anders als die älteren Rechts- und Lebensweisheiten - nicht selten durch Wortumstellungen und -ergänzungen, deren Grundlage bekannte Redewendungen, Sinnsprüche und Merksätze bilden. II. Die weitgehende rechtswissenschaftliche Abstinenz gegenüber dem Thema der Aphoristik mag wenigstens aus einem Grunde überraschen. Wenn die Zeichen der Zeit nicht trügen - was sie freilich oft genug tun - , dann werden Tendenzen sichtbar, sich nunmehr wieder stärker der Darstellung und Aufbereitung juristischer Sachverhalte und Fragestellungen in der schöngeistigen Literatur zuzuwenden. Eine zunehmende Diskussion läßt dies jedenfalls vermuten 1 '. Für jene Renaissance, die Wiederentdeckung des Rechts als Thema der Literatur mag es viele Gründe geben. An diesem Prozeß könnte die durch die Sozialwissenschaften geförderte Vorliebe für Grenzüberschreitungen beteiligt sein. Dafür könnten auch Bemühen um (Selbst-) Vergewisserung, Sinnsuche, ja das Bedürfnis nach Legitimation mitverantwortlich sein; dann wäre der Literatur neben und vor der Rolle des Kritikers von Recht20 Bestätigungsfunktion zugedacht, insofern als sie eben jenseits der Mängel von Rechtseinrichtungen deren grundsätzliche Notwendigkeit reklamiert. In Literatur könnten auch neue Erkenntnisse über das Recht und von ihm gesucht und gefunden werden. Es liegt nahe, gerade die rechtsphilosophische Reflexion auf Sinn und Zweck des Rechts am Beispiel literarischer Werke voranzutreiben. Ebenso drängt sich die Annahme auf, daß jene Entwicklung durch eine verstärkte Sensibilisierung für sprachliche Gestaltung und Ausdruckskraft neuen Auftrieb erfahren hat. Dafür spricht, daß das Verhältnis juristischer Texte zur Sprache, die Rechtssprache selbst Gegenstand nicht nur rechtswissenschaftlicher Untersuchungen geworden sind21. 17
Vgl. etwa Müller-Dietz, Alles was recht ist, 1983, S. 1, 4f., 21, 30, 37ff. Karl Kraus, Beim Wort genommen (3. Bd. der Werke, Hrsg. von H. Fischer), 1955. " Vgl. F n . l . 20 „Die Dichtung ist auf das Recht nicht eben gut zu sprechen - nicht nur, weil so viele Dichter entlaufene Jünger der Rechtsschule sind. Das Recht, das starrste unter den Kulturgebilden, und die Kunst, die wandlungsfähigste Ausdrucksform des wandelbaren Zeitgeistes, leben in einer natürlichen Feindschaft" (Radbruch, Fn.2, S. 21). 21 Vgl. ζ. Β. E. Oksaar, Sprache als Problem und Werkzeug des Juristen, ARSP 1967, 91 f f . ; / . Schmidt, Einige Bemerkungen zur Präzision der Rechtssprache, in: Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft (Jahrb. f. Rechtssoziologie und Rechtstheorie II), 1972, S. 390ff.; F. Müller, Recht - Sprache - Gewalt, 1975; Sprache und 18
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Eine andere Frage ist freilich, ob sich deshalb schon ein eigenes Formund Stilbewußtsein zu bilden beginnt. Unverkennbar zehrt hier manches von Anleihen an bestimmten sprachtheoretischen Ansätzen und Forschungsrichtungen, die per se und unmittelbar einen Umschlag in eine neue Qualität von Rechtssprache nicht bewirken können22. Gleichwohl ändert dies nichts an dem allgemeinen Eindruck, daß Literatur und Sprache vermehrt als Quellen oder Instanzen juristischer Einsichten fungieren. Um so mehr und eher hätte man dann auch eine Beschäftigung mit einer Literaturgattung erwarten sollen, die wie kaum eine andere aufgrund ihres stilistischen Zuschnitts, ihrer sprachlichen Knappheit und Kürze, ihrer gedanklichen Pointierung, aber auch ihres kontemplativbesinnlichen Charakters geeignet erscheint, Erkenntnisse über das Recht zutage zu fördern. Gerade die rechtsphilosophische Inspiration hätte dadurch - sollte man meinen - belebt werden können. Offenbar weisen Gegenstände und Fragestellungen der Rechtsphilosophie sowie sprachliche Formen des Aphorismus eine Affinität auf, die sich hinsichtlich anderer juristischer Objektbereiche jedenfalls in vergleichbarer Weise nicht konstatieren läßt. Die zitierten Beispielsfälle bieten dafür jedenfalls eindrucksvolle Belege23; und in der Tat hat man - unter Bezug auf das Beispiel Nietzsches - dem Aphorismus die Qualität einer „philosophischen Form" attestiert24. Dementsprechend wurde denn auch der Aphorismus als „eine Grenzform zwischen Dichtung und Philosophie" charakterisiert, die „weit mehr vom Intellekt als vom Gefühl bestimmt ist" 25 . Als Beleg für diese Nähe oder Verwandtschaft dient namentlich der gedankliche Ansatz, der den Aphorismus auszeichne. „Eigensinn des Denkers und Eigen-Sinn des Gedachten ermöglichen erst den Apho-
Recht (Loccumer Protokolle 31/1980); H. Rüßmann, Sprache und Recht. Sprachtheoretische Bemerkungen zum Gesetzesbindungspostulat, in: ]. Zimmermann (Hrsg.), Sprache und Welterfahrung, 1978, S.208ff.; Die Sprache des Rechts und der Verwaltung, bearb. von I. Radtke, 1981; F. Haft, Recht und Sprache, in: A. Kaufmann/W. Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 3. Aufl. 1981, S. 112 ff.; F. Schönherr, Recht und Sprache, ein altes Thema, aber aktueller denn je, JB1. 1982, 245 ff.; R. Nichterlein, Recht und Sprache - Versuch zur Verbesserung der richterlichen Schriftsprache im Zivilprozeß, DRiZ 1982, 241 ff. So etwa die Beiträge von J.Schmidt (Fn.21) und H. Rüßmann (Fn.21). Vgl. Fn.2 und 9. " H. Krüger, Studien über den Aphorismus als philosophische Form, Diss. phil. Frankfurt a.M. 1956. 25 W. Wehe, Geist und Form des deutschen Aphorismus, in: Der Aphorismus. Zur Geschichte, zu den Formen und Möglichkeiten einer literarischen Gattung. Hrsg. von G.Neumann, 1976, S. 130ff. (130). 22 23
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rismus"26. Damit stehe dieser „in der Mitte zwischen Wissenschaft und Kunst"27. Die Gemeinsamkeiten, welche sich durch die Koinzidenz von formaler Struktur und inhaltlicher Aussage zwischen Aphoristik und (Rechts) Philosophie herstellen, ließen sich bis zu einem gewissen Grade auch auf den Feldern der Literatur- und der Rechtsgeschichte dingfest machen. So könnte man diese selbst als Kronzeugen für die (sprachliche) Erfahrung benennen, daß sich zwischen Recht und aphoristischer Form Verbindungslinien ziehen lassen. Aus älteren Zeiten, in denen - wie etwa dem Frühmittelalter - Recht und Literatur weitgehend zusammenfielen, sind uns Rechtssprichwörter überliefert28, deren Sprachstruktur in manchem derjenigen des Aphorismus oder zumindest bestimmten aphoristischen Erscheinungsformen gleicht. Meist bringen diese Lebensregeln Weisheiten auf kurze Formeln, was langer geschichtlicher Erfahrung entspringt; nicht selten spiegeln sie in kondensierter Form ein Verständnis von Recht wider, das überzeitlichen Charakter trägt. Das läßt sich mühelos an einigen wenigen Beispielen veranschaulichen: „Je mehr Gesetze, je weniger Recht." „Eng Recht ist ein weit Unrecht." 2 ' „Wo Gewalt Recht ist, hat das Recht keine Gewalt."30 „Strenges Recht verlangt viel Milde."31 Freilich war, als Recht und Literatur in enger Symbiose lebten, der Aphorismus als literarische Gattung noch nicht entdeckt, sondern wurde lediglich, wenn überhaupt, unreflektiert gehandhabt. So ist auch dieser geschichtliche Strang weitgehend verschüttet geblieben. Daß die rechtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Literatur die Gattung des Aphorismus weitgehend ausspart, kann freilich auch mit dessen Eigenart selbst oder manchen seiner Spezifika zusammenhängen. Es muß zu denken geben, daß bisher praktisch so gut wie alle anderen Literaturformen thematisiert wurden. Zwar scheint auf der einen Seite eine Art Affinität zu (rechts-)philosophischen Aussagen zu existieren, wie sich an den Aphorismen-Sammlungen Radbruchs32 und Emges33 Wehe (Fn. 25), S. 131. Webe (Fn. 25), S. 134. 28 Vgl. z.B. Jakob Grimm, Von der Poesie im Recht, 1816 (1957); ders., Deutsche Rechtsaltertümer, 4. durch Heusler und Hübner bes. u. verm. Aufl. 1899 (Neudruck 1974); Grundmann/Strich/Richey, Rechtssprichwörter, 1980. 29 Grundmann et al. (Fn.28), S. 18. 30 Grundmann et al. (Fn. 28), S. 19. Vgl. als Gegenstück den Aphorismus von H. Kudszus (Jaworte, Neinworte. Aphorismen, 1970, S. 60): „Das Recht ist eine Gewalt, die der Gewalt das Recht streitig macht." 31 Grundmann et al. (Fn.28), S.25, 111. 32 Den rechts-, freilich auch lebensphilosophischen Charakter hebt A. Kaufmann in seiner Einleitung hervor (Fn. 2, S. 5 ff.). " Fragen der Gerechtigkeit, nach Sinn und Funktion von Recht und Gesetz, nach dem 24
27
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demonstrieren ließe. Indessen liefern diese auf der anderen Seite selbst Belege dafür, wie wenig Aphorismen sich in übergeordnete und umfassende Systeme fügen, weil im Grunde jeder für sich gleichsam als eigener Mikrokosmos von Einsichten figuriert. Jedenfalls lassen sie sich offenbar nicht bruchlos auf einen einheitlichen Nenner bringen. Dies gilt ungeachtet konziser geistiger Haltungen und Wertpräferenzen, die hinter ihnen stehen. So sehr jene Aphorismen-Sammlungen die Ubereinstimmung von Persönlichkeit und Werk, die Kontinuität von Entwicklungen dokumentieren, so sehr bilden die einzelnen Aussagen in der Summe die Brüche und Widersprüche in Recht und Kultur ab. Hier begegnen sich Sprachstruktur des Aphorismus und erkenntnisoffene, undogmatische Haltung, die sich so leicht dem Mißverständnis der Prinzipienlosigkeit ausgesetzt sieht. Auch dies meint anscheinend der Hinweis A. Kaufmannsdaß Radbruch sich immer wieder „zur Denkform der Widersprüchlichkeiten, der Antinomien, der Polaritäten bekannt" habe und daß davon seine Sammlung zeugen solle34; und davon handelt im weiteren Sinne Adornos Dictum, der Aphorismus ziele „auf die Negation abschlußhaften Denkens", das seit jeher „nichtkonformistisch" gewesen sei35. Ist diese Beobachtung aber richtig, dann ist zumindest eine psychische Hemmschwelle des dogmatisch geschulten und operierenden Juristen zu vermuten, sich mit jener „gefährlichen", weil scheinbar grundsatzlosen, ja anarchischen Literaturgattung einzulassen. III. Es fragt sich indessen, inwieweit solche Charakterisierung Form und Gehalt des Aphorismus schlechthin trifft. Was unter dieser Literaturgattung zu verstehen ist, glaubt jeder zu wissen; zumindest wird es vorausgesetzt. Auf die Frage, was Recht ist, gibt es bündige, weithin konsentierte Antworten - mögen sie auch aphoristischer Kritik nicht immer standhalten. Rechtsphilosophie und Rechtstheorie sind um Definitionen, die formale und inhaltliche Kriterien bereithalten, nicht verlegen. Ungleich schwieriger ist es um die Antwort auf die Frage bestellt, was es denn mit dem Aphorismus als literarischer Form auf sich habe. Die Literaturwissenschaft, die sich weit mehr und länger als die Rechtswissenschaft mit dieser Materie beschäftigt hat, tut sich schwer damit, prägnante und klare Begriffsbestimmungen zu liefern und jene Gattung auf einen einheitlichen Nenner zu bringen. Verhältnis von Rechtsphilosophie und Jurisprudenz stehen im Mittelpunkt seiner Aphorismen-Sammlung (vgl. Miiller-Dietz, Fn. 9). 54 Kaufmann (Fn.2), S.9. 35 Th. W. Adorno, in: Krüger (Fn.24), S.8.
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Dies hängt offenkundig mit der Varianz und Variabilität dessen zusammen, was literarisch und gattungsgeschichtlich als „Aphorismus" figuriert(e) und charakterisiert wurde. „Der Aphorismus als literarische Gattung" 3 6 hat viele Gesichter, ist ein facettenreiches, ja schillerndes Gebilde, das sich eindeutiger Ortsbestimmung zu entziehen scheint; er tritt in ganz unterschiedlichen Erscheinungsformen auf. N o c h 1976 hat G.Neumann in seinem literturwissenschaftlichen Resümee auf die „Beweglichkeit und Unzuverlässigkeit einer Gattungsbestimmung des Aphorismus" verwiesen 37 , obgleich doch F. Mautner in seiner gattungsgeschichtlichen Studie von 1933 insoweit bahnbrechende Arbeit geleistet hatte 38 . Offenkundig resultieren die Schwierigkeiten „aus einer Reihe widersprüchlicher Strukturen. Dazu gehören beispielsweise die Gegensätze von sprachlicher Kürze und gedanklich-ideenhafter Weite, von strenger pointierter Form und flüchtiger Notiz, von betont subjektiver Grundhaltung und Anspruch auf Allgemeingültigkeit, von einschränkender und verallgemeinernder Struktur, von ursprünglich wissenschaftlichem Lehrsatz und systemfreiem Einzelsatz, von Bindung an das Gesellschaftliche und einsamer Selbstaussprache" 39 . Dieser Vielfalt entsprechen immer wieder verschiedenartige literaturwissenschaftliche Ansätze zur Begriffsbestimmung: „Definition, Antithese, Proportion, Chiasmus und Paradox werden als Kategorien ebenso bemüht wie die Momente der Kürze, der Konzinnität, der Zusammenhanglosigkeit, der Einprägsamkeit und der Pointiertheit" 40 . So gewiß in allen diesen Charakterisierungen bestimmte Formelemente („rhetorische Figuren") des Aphorismus aufscheinen, so breit ist die gattungsgeschichtliche Palette, die darin zum Ausdruck kommt. Hier spiegelt sich wider, was durch die Jahrhunderte hindurch bereits im Gebrauch unterschiedlicher Bezeichnungen und Begriffe sichtbar geworden ist. Die aphoristische Tradition ist ja alt 41 ; sie findet sich schon bei Hippokrates und Plutarch, setzt sich etwa fort bei Erasmus und Bacon, Zincgref2 und Harsdörffer, dem spanischen Politiker Antonio Perez, dessen „AphorisF. Mautner, D e r Aphorismus als literarische Gattung, in: Neumann (Fn. 25), S. 19 ff. Neumann (Fn.25), S.3. 38 Mautners Beitrag (Fn. 36) war zuerst in der Ztschr. f. Aesthetik und Allgem. Kunstwissenschaft 1933, 132 ff. erschienen. 36
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G.Fiegutb, in: Deutsche Aphorismen. Hrsg. von G.Fieguth, 1980, S. 352. Neumann ( F n . 2 5 ) , S . 5 f . 41 Zur Gattungs- und Bedeutungsgeschichte (was ja nicht dasselbe ist) neben Mautner (Fn. 36, 38) z. B. J. v. Stackelberg, Zur Bedeutungsgeschichte des Wortes „Aphorismus", in: Neumann ( F n . 2 5 ) , S . 2 0 9 f f . ; G.Neumann, Ideenparadiese. Untersuchungen zur Aphoristik von Lichtenberg, Novalis, Friedrich Schlegel und Goethe, 1976, S. 17 ff., 3 9 f f . , 6 9 f f . ; Fieguth ( F n . 3 9 ) , S . 3 5 2 f f . " J. W. Zincgref, Der Teutschen scharfsinnige kluge Sprüch. Auswahl. Hrsg. von K.H. Klingenberg, 1982. 39 40
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men" gleichsam als „ein Vademecum pragmatischer Politik" des 16.Jahrhunderts verbreitet und gelesen wurden43, und mündet in die Maximen und Sentenzen der französischen Moralisten des 17. Jahrhunderts44. Welche immense Spannweite die politische Variante des Aphorismus aufzuweisen hat, wird etwa durch die Gegenüberstellung der Arbeiten von Perez45 und Stanislaw Jerzy Lee46 symbolisiert. Ungeachtet jener Vorläufer im 16. und 17. Jahrhundert lassen sich Beginn und Entwicklung der spezifisch deutschen Aphoristik47 offenbar ungleich präziser orten: Den Anfang ihrer Geschichte signalisiert der Name Georg Christoph Lichtenberg, dessen Sentenzen freilich so wenig wie die seiner Nachfolger bis hin zur Romantik als „Aphorismus" firmierten48. Er hat gleichsam die deutsche Tradition der Gattung begründet, genauer: zum Bewußtsein ihrer Existenz verholfen4'. Darauf verweisen auch Sentenzen Späterer50. Die literarische Form begegnet uns dann - in vielfältiger Weise - in den Werken Jean Paulsil,J. G. Seumes 43 Κ. A. Blüher, Gracians Aphorismen im ,oracula manual' und die Tradition der politischen Aphorismensammlungen in Spanien, in: Neumann (Fn. 25), S. 313 ff. (422); vgl. ferner G. Ungerer, Die politischen Aphorismen von Antonio Perez, in: Neumann (Fn. 25), S. 427 ff. 44 Dazu z.B. F.Schalk, Das Wesen des französischen Aphorismus, in: Neumann (Fn. 25), S. 75 ff.; Neumann, Ideenparadiese (Fn.41), S. 56 ff. 45 Vgl. Fn.43. 46 Stanislaw Jerzy Lee, Unfrisierte Gedanken, 1959; ders., Neue unfrisierte Gedanken, 1964; ders., Letzte unfrisierte Gedanken, 1968; ders., Spätlese unfrisierter Gedanken, 1976. Vgl. G. Bauer, Sprengstoff mit stilistischen Sicherheitsvorkehrungen. Zur Politisierung des Aphorismus bei Stanislaw Jerzy Lee, Sprache im technischen Zeitalter 1971, 68 ff.; K. Dedecius, Letztes Geleit. Für den ersten Aphoristiker unserer Zeit, in: Neumann (Fn. 25), S. 452 ff. 47 Dazu Wehe (Fn. 25). 48 Lichtenberg, Aphorismen. Hrsg. von M.Rychner, 1958; ders., Gedankenbücher. Hrsg. von F. H. Mautner, 1963. Die Arbeiten über Lichtenbergs aphoristisches Werk sind Legion. Vgl. ζ. Β. P. Requadt, Lichtenberg, 2. Aufl. 1964, S. 133 ff.; H. Gockel, Individualisiertes Sprechen. Lichtenbergs Bemerkungen im Zusammenhang von Erkenntnistheorie und Sprachkritik, 1973; Neumann, Ideenparadiese (Fn.41), S.86ff. Vgl. auch Fieguth (Fn. 39), S. 355 f. 49 Neumann (Fn.25), S.4. 50 „Lichtenbergs Schriften können wir uns als der wunderbarsten Wünschelrute bedienen: wo er einen Spaß macht, liegt ein Problem verborgen" (Goethe, Maximen und Reflexionen, dtv Gesamtausgabe 21, S. 86). „Lichtenberg gräbt tiefer als irgendeiner, aber er kommt nicht wieder hinauf. Er redet unter der Erde. Nur wer selbst tief gräbt, hört ihn" (Karl Kraus, Fn. 18, S. 127). „Für Lichtenberg. - Nach einem guten Aphorismus soll man kein Buch über den Gegenstand mehr aufschlagen wollen" (Hermann Schweppenhäuser, Verbotene Frucht. Aphorismen und Fragmente, 1966, S. 116). 51 Vgl. G. W.Fieguth, Jean Paul als Aphoristiker, 1969. 52 J. G. Seume, Apokryphen. Mit einem Essay von Hermann Schweppenhäuser, 1966. Vgl. I.Stephan, Johann Gottfried Seume. Ein politischer Schriftsteller der deutschen Spätaufklärung, 1973.
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GoethesF. v. Hardenbergs (Novalis)*, F. SchlegelsF. Hebbels*, Marie v. Ebner-Eschenbachs57. Philosophischen Zuschnitt gewann sie in den Studien Schopenhauers58 und Nietzsches". Unter den jüngeren Schriftstellern, die der Gattung zu literarischen Ehren verhalfen, ragen vor allem Karl KrausRobert Musil61 und Elias Canettikl heraus. Ihr philosophisches Pendant bilden etwa Walter Benjamin43, Theodor W. Adorno64 und Hermann Schweppenhausen. Die Namen jener Schriftsteller und Philosophen stehen für viele andere, die sich bis in die Gegenwart hinein des Aphorismus als Kunstform angenommen haben und (noch) annehmen. Dabei wird einmal mehr zweierlei deutlich: die bereits angemerkte Affinität philosophischer Reflexion zu dieser literarischen Gattung und die Formenvielfalt, die sich nicht zuletzt in einem außerordentlichen Reichtum an Bezeichnungen äußert. Auf der politisch-philosophischen Ebene wird die Spannweite etwa durch Seumes „Apokryphen"66 und 53 Goethe, Maximen (Fn. 50). Vgl. Tb. Würtenberger, Wahrheit und Rechtsgesetz in Goethes Weltbild, in: FS f. K. Engisch, 1969, S. 37ff.; Neumann, Ideenparadiese (Fn.41), S. 604 ff. 54 Vgl. Neumann, Ideenparadiese (Fn.41), S.265ff. 55 Vgl. Neumann, Ideenparadiese (Fn.41), S.417ff. 56 Hebbel, Tagebücher. Auswahl und Nachwort von A. Merz, 1963. Vgl. R. Bauer, Die Kunstform des Aphorismus in Hebbels Tagebuch, Diss. phil. Wien 1939. 57 Marie von Ebner-Eschenbach, Das Gemeindekind/Novellen/Aphorismen. (Nach dem Text der ersten Gesamtausgabe, 1893. Hrsg. von J. Klein), o.J. Die Dichterin wurde nicht ohne Grund als „bedeutendste unter den wenigen Aphoristikerinnen" bezeichnet (Webe, Fn. 25), S. 135. 58 Vgl. Riedinger (Fn. 6). 59 Vgl. Krüger (Fn.24), S. 81 ff.; B. Greiner, Friedrich Nietzsche: Versuch und Versuchung in seinen Aphorismen, 1972; P.Heller, „Von den ersten und letzten Dingen". Studien und Kommentar zu einer Aphorismenreihe von Friedrich Nietzsche, 1972. 60 Karl Kraus (Fn. 18). Vgl. W.Kraft, Karl Kraus. Beiträge zum Verständnis seines Werkes, 1956, S. 200 ff.; P. Kipphoff, Der Aphorismus im Werk von Karl Kraus, Diss, phil. München 1961; Ch. J. Wagenknecht, Das Wortspiel bei Karl Kraus, 1965; H.Amtzen, Aphorismus und Sprache. Lichtenberg und Karl Kraus, in: Amtzen, Literatur im Zeitalter der Information. Aufsätze, Essays, Glossen, 1971, S.323ff.; D.Simon, Literatur und Verantwortung. Zur Aphoristik und Lyrik von Karl Kraus, in: Karl Kraus (Text + Kritik. Sonderbd. Hrsg. von H. L.Arnold), 1975, S. 88ff.; ]. Quack, Bemerkungen zum Sprachverständnis von Karl Kraus, 1976, S. 64 ff. 61 Nachw. bei Müller-Dietz (Fn. 1). 62 Elias Canetti, Die Provinz des Menschen. Aufzeichnungen 1942-1972, 1973 (1976). 63 Walter Benjamin, Schriften Bd. 1, 1955. M Theodor W.Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, 1962. 65 Hermann Schweppenhäuser (Fn. 50). Auch Ludwig Wittgenstein (Über Gewißheit. Hrsg. von G. Ε. M. Anscombe und G. H. v. Wright, 1970) kann zur Ahnenreihe der Philosophen gerechnet werden, die sich einer aphoristischen Schreibweise befleißigten. 66 Vgl. Fn. 52.
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Adornos „Minima Moralia" 67 charakterisiert. Maximen, Fragmente, Splitter, Reflexionen, Sprüche und viele andere Begriffe umschreiben das, was allgemein als „Aphorismus" definiert wird' 8 .
IV. Als Form- und Strukturprinzipien des Aphorismus erscheinen vielfach „seine Knappheit und Kürze", „der Gegensatz von Begrenztheit der Form und Unbegrenztheit des Gedankens", die „Gespanntheit zwischen Gehalt und Gestalt"". Neben der pointierten Kürze figurieren vor allem Vereinzelung, d.h. Gestaltung eines Gedankens „in einer einmaligen Situation" durch einen „betont subjektiv gestimmten Autor", und Konzision, also „das Zusammendrängen, Verdichten eines meist höchst komplexen Gedankenbündels in einen knappen Satz" als spezifische Merkmale der Sprachstruktur 70 . Die sprachliche Form wird in Beziehung gesetzt zur Denksituation, zum Denkverfahren, ja sogar zur Wirkung auf den Leser 71 . Hiernach widerstrebt der Aphorismus offenbar der Tendenz (und Fähigkeit) dichterischer Texte, zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen zu vermitteln: „er insistiert vielmehr gerade auf der Darstellung des Konflikts zwischen dem Einzelnen, Beobachteten, Bemerkten, sinnlich Aufgenommenen einerseits und seiner Aufhebung im Allgemeinen, Merksatzhaften, Reflektierten, durch den Geist Abstrahierten andererseits. Individuelle Erfahrung und Denksystem, Gefühls- und Denkordnung, detaillierendes und abstrahierendes Vermögen stellen sich im Aphorismus in ihrer unauflöslichen Auseinander-Setzung dar" 72 . Namentlich der moderne Aphorismus figuriert als Ausdruck und Darstellung eines Konfliktbewußtseins, in dem „erlebte Einzelheit und denkbarer Zusammenhang" auseinandertreten73. Er steht zwischen den Ordnungen, fällt aus dem System heraus, ja scheint Gegenordnungen zu konstituieren 74 . Dem entspricht das Dictum Adornos, das dem Aphorismus Nichtkonformität attestiert75. Das erklärte zugleich eine besondere Tradition: die Hinwendung zur politischen Aphoristik, die gleichsam Vgl. Fn. 64. " Weitere Beispiele bei Mautner, Maxim(e)s, Sentences, Fragmente, Aphorismen, in: Neumann (Fn.25), S.399ff.; Fieguth (Fn.39), S.352f. " Wehe (Fn.25), S. 131. 70 Fieguth (Fn.39), S.385f. 71 Neumann (Fn.25), S . 4 f . 72 Neumann (Fn. 25), S. 5. 73 Neumann (Fn.25), S. 10. 74 „Aphorismen sollte man verbieten. Sie zerstören das System." (Müller-Dietz, in Almanach '73. Hrsg. vom Verband deutscher Schriftsteller im Saarland, 1974). 75 Vgl. Fn. 35. 47
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die Geschichte der Gattung durchzieht 7 '. Darauf verweisen etwa die zitierten Beispielsfälle - Perez' „Aphorismen" 77 , Seumes „Apokryphen" 78 und Lecs „Unfrisierte Gedanken" 79 - zurück. Insofern eignet solchen Aphorismen auch ein utopischer Grundzug, die Herausforderung des Noch-Nicht, der Gegenentwurf zur bestehenden Wirklichkeit80: „aphoristisches Denken soll eine neue, bessere Ordnung des Verstehens etablieren" 81 . Aphoristik wächst damit - „ganz im Sinn der langen moralistischen Tradition" - in die Rolle einer „Lehre vom richtigen Leben" hinein82. Von daher fällt auch Licht auf das immer wieder diskutierte Problem, ob und inwieweit der Aphorismus überhaupt mit dem System - wie es vielen (Rechts-)Philosophien, indessen nicht dem (rechts-)philosophischen Denken zugrundeliegt - vereinbar ist83. Die ursprüngliche Annahme, daß er der ihm innewohnenden undogmatischen, offenen Haltung wegen, sich per se mit dem System nicht vertrage, hat sich vor dem Hintergrund jener Überlegungen als korrekturbedürftig erwiesen. Am Beispiel des Aphoristikers Schopenhauer wurde recht bald deutlich, daß systematisches Denken sich durchaus in dieser besonderen literarischen Form zu äußern vermag84. Erst recht hebt die Erkenntnis, daß das System selbst die Unabgeschlossenheit teilt, die dem Aphorismus zugeschrieben wird, den behaupteten Gegensatz beider auf. Dem hat Friedrich Schlegel, dessen Anteil an der Entwicklung der deutschen Aphoristik unbestritten ist, mit dem Mittel des Aphorismus selbst Ausdruck gegeben85. Gleichwohl brauchte es seine Zeit, bis die Einsicht an Boden gewann, daß noch hinter der Absage an das „schlechte Bestehende" (Adorno) sich ein neuer System-Entwurf verbergen kann: der Aphorismus als Vorwurf und Verwerfung sowie Vor-Wurf und Vorausentwurf in einem86.
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Dazu Neumann, Ideenparadiese (Fn.41), S. 786 ff. Vgl. Fn. 43. 78 Vgl. Fn. 52. 79 Vgl. Fn. 46. 80 Neumann (Fn.25), S. 12 ff. " Neumann, Ideenparadiese (Fn.41), S.46. 82 Neumann (Fn.25), S. 14. 85 Dazu z.B. H. Margolius, System und Aphorismus, in: Neumann (Fn.25), S.280ff.; Neumann, Ideenparadiese (Fn.41), S.46, 762. 84 Margolius (Fn.83), S.283. 85 „Auch das größte System ist doch nur Fragment." „Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben, und keins zu haben. Er wird sich also wohl entschließen müssen, beides zu verbinden" (zit. nach Neumann, Ideenparadiese, Fn.41, S.447, 460). 84 Vgl. allgemein Literarische Utopie-Entwürfe. Hrsg. von H. Gnüg, 1982. 77
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V. Wenn es eine spezifisch deutsche Tradition der Aphoristik gibt87, so gewiß auch die einer aphoristischen Auseinandersetzung mit Recht und Rechtsdenken (der Zeit). Dies bedeutet freilich nicht, daß sich die thematisch einschlägigen Aphorismen hinsichtlich ihres Verständnisses von Recht und Staat auf einen gemeinsamen Nenner bringen ließen. Vielmehr partizipieren sie an den jeweiligen literarischen, sozialen und politischen Strömungen, sind Ausdruck der je besonderen Persönlichkeit und ihrer Sozialisation. Insofern lassen sich allenfalls bestimmte Grundtendenzen erkennen und geistige Landschaften ausmachen, in denen die Aphoristiker zu Hause sind. Nicht nur eine Frage des persönlichen Temperaments und Talents, der individuellen Schreibbegabung und -fähigkeiten ist es, ob der Autor der mehr kontemplativbesinnlichen oder der eher sprachspielerischen Komponente den Vorrang gibt. Die Herkunft aus dem Humanismus, der Aufklärung, dem Idealismus, dem Christentum und anderen philosophischen und religiösen Welt-Anschauungen läßt sich ebensowenig verleugnen wie subjektive Grundhaltungen des Relativismus, Skeptizismus oder des Utopismus. Da stößt man auf den rational-kritizistischen Gestus ebenso wie auf den kontemplativen, moderaten Ton, auf die eher philosophischreflektierende wie auf die sprachspielerische Komponente, die gewiß nicht als strenge Gegensätze, vielmehr als gegenseitige Ergänzung zu sehen und zu verstehen sind. Die Grundmuster des Aphorismus, Schärfe der Beobachtung, Radikalität der Position - im ursprünglichen Wortsinne - , Kürze des Ausdrucks, pointierte Zuspitzung eines Gedankens - aus durchaus subjektiver Perspektive - , treten allenthalben zutage. Freilich wirken sich persönliche Vorlieben, Interessen und Fähigkeiten, Einflüsse der Epoche, literarische und publizistische Zeiterscheinungen nicht nur auf Sprache und Stil aus; sie teilen sich auch der jeweiligen Thematik mit. So nehmen rechtsphilosophische und -praktische Grundfragen — wie etwa das Problem des Verhältnisses von Gerechtigkeit und Recht, Recht und Unrecht, Recht und Staat, Recht und Macht, der Entstehung und Geltung von Recht - unterschiedliches Gewicht im Werk der einzelnen Schriftsteller ein. Was für den einen zentrale Bedeutung hat, was ihn immer wieder beschäftigt, wovon er ein Leben lang nicht loskommt, das hat für den anderen eher peripheren Charakter - wenn es überhaupt in sein Blickfeld tritt. Es liegt nahe, daß vor allem philosophisch und politisch denkende Köpfe sich in ihrem aphoristischen Werk dem Recht zuwenden. 87 Vgl. Wehe (Fn.25); Neumann, S. 352 ff.
Ideenparadiese (Fn.41), pass.; Fieguth
(Fn.39),
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Die folgende Auswahl, die gewiß nicht minder subjektiv ist, als Aphorismen zum Recht, Rechtsdenken und Rechtswesen schlechthin es sind, will und kann nur als Versuch einer Annäherung an einen rechtswissenschaftlich bisher vernachlässigten Gegenstand verstanden werden. Er will und kann deshalb weder Vollständigkeit der Autoren und Texte noch auch nur deren Repräsentativität für sich in Anspruch nehmen 88 . Dagegen soll die Abfolge wenigstens in Bruchstücken die Entwicklungsgeschichte aphoristischen Denkens über das Recht in Deutschland sichtbar machen. 1. Der Reigen der Zitate setzt mit Notizen Lichtenbergs ein, dessen „Gedankenbücher" ja maßgeblich zur Entstehung und Ausbildung der deutschen Aphoristik beigetragen haben89. Die Dialektik von Recht und Unrecht war ihm geläufig: „So wie das höchste Recht das höchste Unrecht ist, so ist auch umgekehrt nicht selten das höchste Unrecht das höchste Recht"' 0 . Rechtstradition um ihrer selbst willen beurteilte Lichtenberg überaus kritisch: Recht muß dem geschichtlichen und gesellschaftlichen Wandel Rechnung tragen. „Der oft unüberlegten Hochachtung gegen alte Gesetze, alte Gebräuche und alte Religion hat man alles Übel in der Welt zu danken" 91 . „Es ist in vielen Dingen eine schlimme Sache um die Gewohnheit. Sie macht, daß man Unrecht für Recht und Irrtum für Wahrheit hält"92. „Dieses haben unsere Vorfahren aus gutem Grunde so geordnet, und wir stellen es aus gutem Grunde nun wieder ab"93. Verbrechen und deren Ahndung - vor allem durch die Todesstrafe beschäftigten Lichtenberg in besonderem Maße. Die Erkenntnisse, die er dazu formulierte, lassen ein Einfühlungsvermögen in sozialpsychologische Zusammenhänge und Verständnis für die Materie erkennen, wie es nur wenige besitzen: „Die Spitzbuben würden allerdings gefährlicher sein, oder es würde eine neue Art von gefährlichen Spitzbuben geben, wenn man einmal anfangen wollte, die Rechte zu studieren, um zu stehlen, als man sie studiert, um ehrliche Leute zu schützen; es muß unstreitig zur Vollkommenheit der Gesetze beitragen, wenn es Spitzbuben gibt, die sie studieren, um ihnen mit heiler Haut auszuweichen" 94 . „Wenn du die Geschichte eines großen Verbrechers liesest, so danke immer, ehe du ihn verdammst, dem gütigen Himmel, der dich mit 8!
Dies würde auch eine monographische Bearbeitung erfordern. Vgl. Fn. 48, 50. 90 Lichtenberg, Gedankenbücher (Fn. 48), S. 151. " Lichtenberg, Aphorismen (Fn. 48), S. 169. 92 Lichtenberg, Aphorismen (Fn. 48), S. 450. 93 Lichtenberg, Aphorismen (Fn. 48), S. 134. 94 Lichtenberg, Aphorismen (Fn. 48), S. 243 f. 89
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deinem ehrlichen Gesicht nicht an den Anfang einer solchen Reihe von Umständen gestellt hat"' 5 . „Es ist eine Frage, ob wir nicht, wenn wir einen Mörder rädern, gerade in den Fehler des Kindes verfallen, das den Stuhl schlägt, an dem es sich stößt"96. 2. Seume, der Aufklärer, „ Citoyen " und „politische Naturrechtler"' 7 , trat mit Emphase für Gleichheit als Grundlage von Gerechtigkeit und Recht ein; sein Plädoyer gegen das damals in Deutschland herrschende Privilegien(un)wesen läßt sich an Schärfe schwerlich überbieten. Recht wird als durchaus immanentes Phänomen begriffen. Der Satz „Gleiches Recht für alle" definiert zugleich dessen Wesen. „Das Recht ist für Alle, die an Gott glauben und die nicht an ihn glauben; folglich kann kein übersinnliches Princip desselben angenommen werden"98. „Du sollst, weil ich soll, ist ein richtiger Schluß und die Base des Rechts"99. „Gleichheit und Gerechtigkeit ist eins"100. „Gleichheit ist immer der Probestein der Gerechtigkeit, und beide machen das Wesen der Freiheit"101. „Die ewige Grundlage alles Rechts ist die Gleichheit; sobald sie verletzt wird, entsteht Verwirrung, und das Ende ist sinnlose Sclaverei"102. Gleichheit und damit Gerechtigkeit vermißte Seume indessen allenthalben: „Man giebt in unsern Staaten meistens der Gerechtigkeit eine Form, die schrecklicher ist als die Ungerechtigkeit selbst"103. „Wo man von Gerechtigkeiten und Freiheiten redet, soll man durchaus nicht von Gerechtigkeit und Freiheit sprechen"104. Die Härte seiner Kritik am geltenden Recht sah er durch Praxis und Folgen der Privilegien bestätigt. „Privilegium heißt eine Ausnahme vom Gesetz, und wo man sie macht, taugt das Gesetz nichts, oder die Ausnahme ist schlecht"105. „Das erste Privilegium ist die Thür zur letzten Schandthat". „Wo Privilegien gelten, muß man nicht von Gerechtigkeit sprechen. Es ist die Natur derselben, die Gerechtigkeit zu zerstören"106. 95 Lichtenberg, Aphorismen (Fn. 48), S. 320. * Lichtenberg, Aphorismen (Fn. 48), S. 376. 97 Schweppenhäuser, Citoyen in Deutschland. Zu Seumes Apokryphen, in: Seume (Fn. 52), S. 135 ff. (142). " Seume (Fn.52), S.26. " Seume (Fn. 52), S. 50. 100 Seume (Fn.52), S.26. Vgl. ferner a . a . O . , S.39, 103, 105. 101 Seume (Fn. 52), S. 6. 102 Seume (Fn.52), S.23. Vgl. ferner a . a . O . , S.51. 103 Seume (Fn.52), S. 19. Vgl. ferner a . a . O . , S.22, 28. 104 Seume (Fn.52), S.26. 105 Seume (Fn.52), S. 111. 104 Seume, (Fn.52), S.99. Vgl. ferner a . a . O . , S. 10, 11, 24, 25, 38, 62, 68, 100, 113, 120.
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Diese Einschätzung färbt auf Seumes Verhältnis zum Staat ab. „Das Wort Staatskörper ist sehr passend gewählt; denn man hat bis jetzt wenig daran gedacht, auch Seele hineinzubringen"107. Die Kritik steigert sich zum revolutionären Pathos. „Die meisten Regenten fürchten sich mehr vor den Bürgern als vor den äußern Feinden: ein Beweis, daß die meisten Staaten schlecht eingerichtet sind"108. „Es ist sehr gut, daß die Regierungen Rebellion und Empörung zu Verbrechen machen, aber es ist sehr schlecht, daß ihre meisten Maßregeln so geeignet sind, um diese Verbrechen zu Tugenden zu stempeln"109. Unter diesen Umständen überrascht das negative Urteil über das zeitgenössische Strafrecht nicht. „Wenn etwas hart bestraft wird, so beweist das gar nicht, daß es unrecht ist; es beweist blos, daß es dem Vortheil der Machthaber nachtheilig ist. Oft ist gerade die Strafe der Stempel der schönen That"110. 3. Goethe, der sich in zahlreichen seiner Werke zum Recht geäußert hat111, hat seinen einschlägigen Auffassungen nicht selten aphoristisches Gepräge gegeben. Sein Verhältnis zum Recht war deutlich anderer Art als das des „politischen Naturrechtlers" Seume. „Es gibt zwei friedliche Gewalten: das Recht und die Schicklichkeit"112. „Alle Gesetze sind Versuche, sich den Absichten der moralischen Weltordnung im Weltund Lebenslaufe zu nähern"113. Dem Traum von der gleichzeitigen Realisierbarkeit von Gleichheit und Freiheit brachte Goethe entschiedene Skepsis entgegen. „Gesetzgeber oder Revolutionärs, die Gleichsein und Freiheit zugleich versprechen, sind Phantasten oder Charlatans"114. Recht läßt sich ohne Selbstbehauptungswillen und Nachdruck nicht durchsetzen. „Wer das Recht auf seiner Seite fühlt, muß derb auftreten: Seume (Fn.52), S.105. Seume (Fn. 52), S. 104. Das erinnert an Brechts Gedicht über den 17. Juni 1953 („Die Lösung"), dessen denkwürdige Schlußzeilen lauten: „Wäre es da nicht einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?" (Zit. nach M. Esslin, Brecht. Das Paradox des politischen Dichters, 1970, S.242). 109 Seume (Fn.52), S.107. 110 Seume (Fn.52), S.37. Die Kritik an den Strafgesetzen, die „sehr kränklicher Vernunft sind" (a. a. O., S. 30), setzt nicht zuletzt am Mangel der Gleichbehandlung an, der namentlich bei der Geldstrafe fühlbar wird. Der Kern des Vorwurfs liegt in der Feststellung, daß der Reiche zahlen könne, während der Arme sitzen müsse (a. a. O., S. 30 f.). Da fließen Überlegungen ein, die geradezu an das heutige Tagessatzsystem gemahnen (vgl. Müller-Dietz, Strafbegriff und Strafrechtspflege, 1968, S. 64 f.). 107 108
111 Vgl. ζ. B. G. Müller, Das Recht in Goethes Faust. Bearb. u. hrsg. von E. Brautlacht, 1957; O. Badelt, Das Rechts- und Staatsdenken Goethes, 1966; Würtenberger (Fn.53); M. Heinze, Der Jurist Goethe oder „Ein höflich Recht will gar nichts heißen", N J W 1982, 622 ff. 1,2 Goethe, Maximen (Fn. 50), S. 65. 113 Goethe, Maximen (Fn.50), S. 100. ,M Goethe, Maximen (Fn.50), S. 110.
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ein höfliches Recht will gar nichts heißen"115. Dem stellte Goethe aber auch die Erkenntnis gegenüber: „Es ist besser, es geschehe dir unrecht, als die Welt sei ohne Gesetz. Deshalb füge sich jeder dem Gesetze." „Es ist besser, daß Ungerechtigkeiten geschehen, als daß sie auf eine ungerechte Weise gehoben werden"116. Nicht nur als Beitrag zur Psychologie der Generationen und Geschlechter will das Dictum verstanden werden: „Alle Gesetze sind von Alten und Männern gemacht. Junge und Weiber wollen die Ausnahme, Alte die Regel"117. Ausgesprochen modern mutet die Sentenz an, die auf die Fülle der Gesetze verweist: „Wenn man alle Gesetze studieren sollte, so hätte man gar keine Zeit sie zu übertreten"118. 4. Der aphoristische Duktus vieler Erkenntnisse, die sich in Hebbels Tagebüchern finden, ist unverkennbar11'. Noch unerschlossen sind seine Aussagen zum Recht. Hebbel begriff den Staat als existentielle Notwendigkeit für den einzelnen. „Der Staat beruht sowenig auf einem bloßen Vertrag als der Mensch"120. „Weil einer gegen alle nicht ausreicht, so verbanden sich alle gegen den einen, den Verbrecher. So entstand der Staat"121. „Im sittlichen Staat ist der Empörungsversuch immer zugleich auch ein Selbstmordversuch, denn da das Individuum nur durch den Staat existiert, so würde es sich in ihm vernichten"122. Naturrecht und geschichtliches Recht bildeten für Hebbel keineswegs Gegensätze: „Allem historischen Recht liegt das Naturrecht zugrunde, wie der Begriff des Menschen, als eines denkenden und empfindenden Wesens jedem empirischen Menschen, und alles Naturrecht existiert nur als historisches Recht, da es nur unter bestimmten Bedingungen und in bestimmten Grenzen hervortreten kann"123. In besonderem Maße beschäftigten Hebbel die Phänomene des Verbrechens und der Strafe. Das Strafrecht hatte für ihn einen archaischen Zug: er leitete es aus dem Selbsterhaltungstrieb der Gesellschaft ab. „Die Gesellschaft tötet den Verbrecher, um ihn zu verhindern, das Böse, was er möglicherweise noch verüben könne, wirklich zu verüben, und frägt nicht danach, daß sie so auf jeden Fall das Gute, das sich auch doch möglicherweise aus ihm noch entwickeln könnte, erstickt. Freilich kann
115
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Goethe, Goethe, Goethe, Goethe, Hebbel Hebbel Hebbel Hebbel Hebbel
Maximen (Fn. 50), Maximen (Fn. 50), Maximen (Fn.50), Maximen (Fn.50), (Fn. 56). (Fn. 56), Nr. 5183. (Fn. 56), Nr. 3947. (Fn. 56), Nr. 4882. (Fn. 56), Nr. 5184.
S. 136. S. 100. S.83. S.22. Dazu Würtenberger (Fn.53), S.53.
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sie nicht anders"124. Indessen hielt diese Einsicht Hebbel nicht von massiver Kritik an der Strafjustiz, namentlich der Todesstrafe ab. „Die Ausübung der Gerechtigkeit in ihrer jetzt schon seit Jahrtausenden bestehenden Gestalt ist die stete Anhäufung von Blutschuld auf unserm Geschlecht"125. Psychologisches Einfühlungsvermögen kennzeichnet das Verständnis der Tat. „Die Motive vor einer Tat verwandeln sich meistens während der Tat und scheinen wenigstens nach der Tat ganz anders"126. Die Dialektik von Verbrechen und Strafe scheint in einer geradezu psychoanalytischen Sentenz auf: „Es ist ein bedeutender tragischer Zug des Lebens, daß derjenige, der ein Verbrechen straft, dadurch meistens selbst zum Verbrecher wird"127. Von soziologischem Verständnis zeugt die Einsicht: „Es gibt Verbrechen, die von selbst straflos werden, wenn Tausende sie begehen"128. 5. Marie von Ebner-Eschenbachs Aphorismen enthalten viel Lebensphilosophie und -Weisheit129. Äußerungen über Recht und Staat stehen eher am Rande. Sie sind aber nicht minder scharfsichtig und an Prägnanz schwerlich zu übertreffen. Das hebt an mit einer skeptischen Würdigung der Staatsgewalt. „Alle irdische Gewalt beruht auf Gewalttätigkeit"130. Die Binsenweisheit, daß Recht in und nicht über der Zeit ist, findet pointierten Ausdruck. „Alle historischen Rechte veralten"131. Das übliche Verhältnis von Ausnahme und Regel kehrt sich in der Sentenz um: „Ausnahmen sind nicht immer Bestätigung der alten Regel, sie können auch Vorboten einer neuen Regel sein"132. An Seume gemahnt die Kritik an Privilegien: „Der größte Feind des Rechtes ist das Vorrecht"133. Das Sprachspiel, das auf die Begriffe von Recht und Unrecht rekurriert, wirkt erkenntnisfördernd: „Man kann nicht jedes Unrecht gut -, wohl aber jedes Recht schlecht machen"134. 124 Hebbel (Fn.56), Nr. 3222. Vgl. etwa Albert Camus, Tagebücher 1935-1951, 1972, S. 272: „Einen Menschen töten heißt, ihn der Möglichkeit berauben, sich zu vervollkommnen." 125 Hebbel (Fn. 56), Nr. 1902. 126 Hebbel (Fn.56), Nr. 1756. 127 Hebbel (Fn. 56), Nr. 1247. 128 Hebbel (Fn. 56), Nr. 4804. 129 v. Ebner-Eschetibach (Fn. 57). 130 v. Ebner-Eschenbach (Fn. 57), S. 889. 131 v. Ebner-Eschenbach (Fn. 57), S. 859. 152 v. Ebner-Eschenbach (Fn. 57), S. 877. Vgl. auch die Bemerkung E. Dürkheims (Regeln der soziologischen Methode, hrsg. u. eingel. von R.König, 2. Aufl. 1965, S. 161): „ Wie oft ist das Verbrechen wirklich bloß eine Antizipation der zukünftigen Moral, der erste Schritt in dem, was sein wird." Vgl. ferner Friedrich Georg Jünger (zit. nach Fieguth, Fn. 39, S. 268): „Das Werdende hat immer den Anschein des Gesetzlosen." 133 v. Ebner-Eschenbach (Fn. 57), S. 880. 134 v. Ebner-Eschenbach (Fn.57), S.873.
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6. Nietzsche setzte sich in seinem aphoristischen Werk - in durchaus kritischer Absicht - nicht zuletzt mit den Phänomenen Verbrechen und Strafe auseinander135. Den Verbrecher sah er hinter seiner Tat zurückbleiben: „Der Verbrecher ist häufig genug seiner Tat nicht gewachsen: er verkleinert und verleumdet sie" 1 ". Die Existenz von Schuld leugnete Nietzsche schlechthin. „Obschon die scharfsinnigsten Richter der Hexen und sogar die Hexen selbst von der Schuld der Hexerei überzeugt waren, war die Schuld trotzdem nicht vorhanden. So steht es mit aller Schuld"137. Berühmt geworden sind die Sätze, mit denen der Philosoph in geradezu psychoanalytischer Weise Straffunktionen gleichsam auf den Kopf stellte: „Zweck der Strafe. - Die Strafe hat den Zweck, den zu bessern, welcher straft, - das ist die letzte Zuflucht für die Verteidiger der Strafe"138. Die ihr zugedachte Aufgabe kann die Strafe Nietzsche zufolge überhaupt nicht erfüllen: „Ein seltsames Ding, unsre Strafe! Sie reinigt nicht den Verbrecher, sie ist kein Abbüßen: im Gegenteil, sie beschmutzt mehr als das Verbrechen selber"13'. 7. Eine Fundgrube an Einsichten in Recht und Rechtswesen bildet das aphoristische Werk von Karl Krausxv>. Sie stehen vorrangig unter dem Rubrum „Sittlichkeit und Kriminalität"141. Was der Satiriker in unnachsichtiger Abrechnung mit Gesellschaft und Zeitgeist formuliert hat, kann freilich - wie genüßlich und häufig es immer wieder zitiert werden mag - letztlich doch nicht auf breite Zustimmung rechnen. Vielfach gegen den Strich geschrieben, für den Karl Kraus plädierte, stellt es sich gegen die land-läufige Moral - des Rechts - , indem es sie bloßstellt. Das beginnt mit einer Karikatur von Gerechtigkeit: „Die Gerechtigkeit ist immer gerecht. Sie meint, daß das Recht ohnedies Recht habe; folglich gibt sie's dem Unrecht" 142 . Das Freiheitsverständnis des Bürgers wird attackiert: „Dem Bürger muß einmal gesagt worden sein, daß es der Staat mit der Weisung ,Rechts vorfahren, links ausweichen' auf seine Freiheit abgesehen habe"143. Den immer wieder berufenen Gegensatz von Gesetz und Leben kehrt Kraus um: „Der ,starre Buchstabe des Gesetzes'? Das Leben selbst ist zum Buchstaben erstarrt, und was 155 Vgl. etwa Nietzsche, Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile (2. Bd. der Werke. Hrsg. von K.Schlechta, 1980, S. 1009 ff.), Die fröhliche Wissenschaft (3. Bd., S. 7 ff.), Jenseits von Gut und Böse (4. Bd., S. 563 ff.). Vgl. ferner Fn.59. 134 Nietzsche, Jenseits etc. (Fn. 135), S. 631. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (Fn. 135), S. 156. 138 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (Fn. 135), S. 151. Nietzsche, Morgenröte (Fn. 135), S. 1169. 140 Kraus, Beim Wort genommen (Fn. 18). Vgl. ferner Fn.60. 141 Kraus, Sittlichkeit und Kriminalität (11. Bd. der Werke), o.J. 142 Kraus, Beim Wort genommen (Fn. 18), S.281. 145 Kraus, Beim Wort genommen (Fn. 18), S.214.
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bedeutet neben solchem Zustand die Leichenstarre der Gesetzlichkeit" 1 4 4 ! In Fragen der M o r a l und Sittlichkeit, zu denen der Gesetzgeber so häufig seine Zuflucht nimmt, kennt und gibt Kraus kein Pardon. „ D i e M o r a l ist ein Einbruchswerkzeug, welches den V o r z u g hat, daß es nie a m Tatort zurückgelassen wird" 1 4 5 . „Sittlichkeit ist das, was ohne unzüchtig z u sein mein Schamgefühl gröblich verletzt" 1 4 6 . „ D i e Sitte verlangt, daß ein L u s t m ö r d e r den M o r d zugebe, aber nicht die Lust" 1 4 7 . Solche Vorstellungen von Moral attestiert Kraus nicht zuletzt dem Sexualstrafgesetzgeber. „ A u f die Frage, o b er den wisse, was u n s c h i c k lich' sei, hat einmal ein kleiner J u n g e geantwortet: ,Unschicklich ist, wenn jemand dabei ist.' U n d der erwachsene Gesetzgeber möchte immer dabei sein! 1 4 8 " „Enthaltsamkeit rächt sich immer. Bei dem einen erzeugt sie Pusteln, beim andern Sexualgesetze" 1 4 '. Strafen haben in dieser Sicht eine andere Funktion, als ihnen gemeinhin zugeschrieben w i r d : „ D i e Strafen dienen zur Abschreckung derer, die keine Sünden begehen wollen" 1 5 0 . U m g e k e h r t verleiten Verbote leicht zu Grenzüberschreibungen: „ E s wäre eine interessante Statistik: Wie viel Leute durch Verbote dazu gebracht werden, sie zu übertreten. Wie viel Taten die Folgen der Strafen sind. Interessant wäre es zu erfahren, o b mehr Kinderschändungen trotz oder wegen der Altersgrenze begangen w e r d e n . " „Keine G r e n z e verlockt mehr z u m Schmuggeln als die Altersgrenze" 1 5 1 . Deshalb macht auch der „ L o l i t a - K o m plex" 1 5 2 zu schaffen: „ E r s t Schutz vor Kindern, dann Kinderschutz!" 1 5 3 D a s Verhältnis zur bürgerlichen Moral, die in besonders eindringlicher Weise an der (Rechts-)Stellung des Zuhälters in der Gesellschaft exemplifiziert wird' 5 4 , bestimmt auch die Charakterisierung des Polizeiverhaltens. „ D e r Skandal fängt an, wenn die Polizei ihm ein E n d e macht" 1 5 5 . „ D i e Sittenpolizei macht sich der Einmischung durch eine Kraus, Beim W o n genommen (Fn. 18), S. 171. Kraus, Beim Wort genommen (Fn. 18), S.43. lw Kraus, Beim Wort genommen (Fn. 18), S.39. 147 Kraus, Beim Wort genommen (Fn. 18), S.43. 148 Kraus, Beim Wort genommen (Fn. 18), S . 4 3 f. 149 Kraus, Beim Wort genommen (Fn. 18), S.44. 150 Kraus, Beim Wort genommen (Fn. 18), S.44. 151 Kraus, Beim Wort genommen (Fn. 18), S.44. 152 Vladimir Nabokov, Lolita. Roman, 1959. 153 Kraus, Beim Wort genommen (Fn. 18), S.47. 154 Kraus, Beim Wort genommen (Fn. 18), S . 4 9 f . „ . . . kein Witz von Karl Kraus zaudert in der Entscheidung darüber, wer anständig und wer ein Schurke, was Geist und was Dummheit, was Sprache und was Zeitung sei. Solcher Geistesgegenwart verdanken seine Sätze ihre Gewalt." ( A d o r n o , Fn.64, S.281). 155 Kraus, Beim Wort genommen (Fn. 18), S.45. Ludwig Thoma hat diesen vielzitierten 144 145
Recht und Aphoristik
477
Amtshandlung schuldig." „Ein Sittlichkeitsprozeß ist die zielbewußte Entwicklung einer individuellen zur allgemeinen Unsittlichkeit, vor deren düsterem Grunde sich die erwiesene Schuld des Angeklagten leuchtend abhebt" 15 '. Während die Polizei - so Kraus - hier nur stört, stört man sie selber, wo man sie wirklich einmal braucht. „Ein Polizist nimmt es meistens übel, wenn man ihn in eine Amtshandlung einmengt"157. „Besser, es wird einem nichts gestohlen. Dann hat man wenigstens keine Scherereien mit der Polizei"158. Kraus macht kein Hehl daraus, was er von der Strafjustiz - seiner Zeit - hält: „Sie richten, damit sie nicht gerichtet werden"15'. Sein Wortwitz zeigt, wo er die Probleme richterlicher Tätigkeit sieht: „Die bloße Mahnung an die Richter, nach bestem Wissen und Gewissen zu urteilen, genügt nicht. Es müßten auch Vorschriften erlassen werden, wie klein das Wissen und wie groß das Gewissen sein darf"160. Seine allgemeine Empfehlung, die geradezu 7vresiro;y'schem Geiste entstammt161, läßt sich auch auf richterliche Entscheidungen übertragen: „In zweifelhaften Fällen entscheide man sich für das Richtige"162. VI. Der Bogen der Aphorismen über Recht und Staat, der hier nicht zufällig von Georg Christoph Lichtenberg bis Karl Kraus gespannt wurde, ließe sich - wie angedeutet - unschwer bis in die Gegenwart hinein verlängern. Theodor W. Adornom, Hermann Schweppenhausen", Elias Canetti165, Hans Kudszusx Berlin inhaftierten deutschen Beschwerdeführers gegen Entscheidungen des AG Tiergarten und des LG Berlin betreff, die Berechtigung und die Dauer seiner Haft wird von der Kommission als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen. (36) Entscheidung vom 19.3.1981, Nr. 8819/79 (X v. BRD) 115 : Die Kommission weist die Beschwerde einer in Berlin lebenden Türkin gegen Entscheidungen des LG Berlins im Amtshaftungsprozeß, des VG und OVG Berlin im Rahmen einer Feststellungsklage als offensichtlich unbegründet zurück. 3.
Beschlüsse
des
Ministerkomitees
D a s M i n i s t e r k o m i t e e befindet u n t e r d e m 26. 6.1968,
daß im K o r n -
m a n n - F a l l (vgl. o b e n 2 [ 8 ] ) die M R K nicht v e r l e t z t w o r d e n ist. E r w ä g u n g e n z u m B e r l i n - S t a t u s finden sich nicht 1 1 4 . E b e n s o entscheidet es i m J e n t z s c h - F a l l (vgl. o b e n 2 [13]) 1 1 5 . 4. Entscheidungen a) I m
Urteil
vom
27.6.1968116
des
Gerichtshofs
(Nr. 2122/64 -
W e m h o f f v.
BRD)
v e r n e i n t d e r G e r i c h t s h o f eine V e r l e t z u n g der M R K . A u f die B e r l i n P r o b l e m a t i k g e h t er n i c h t ein. h)
I m Urteil
vom
23.10.1978117
( L u e d i c k e , B e l k a c e m , Κ ο ς ν. B R D ;
a.a.O., S.228. DR Bd. 11, S. 16 ff. "* Zur „schlichten" Aussetzung ohne Vorlage vgl. Pestalozza, in: Landesverfassungsgerichtsbarkeit, a.a.O. (o. Anm. 1), S.217ff. 1M Vgl. BVerfGE 49, 286. 110 Gesetz über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen, BGBl. I, S. 1654; GVB1. 1980, S. 1970/1971. 111 BVerfGE 60, 123: §8 1 Nr. 1 des Ges. verfassungswidrig und nichtig. 11! DR Bd. 25, S. 218 ff. 115 DR Bd. 24, S. 158 ff. 114 Yearbook 11 (1968), S. 1028 ff. 115 Yearbook 14 (1971), S. 876. 114 Entsch. des EuGHMR, Serie A Nr. 7 = Golsong/Petzold/Furrer (Hrsg.), Entscheidungen des EuGHMR (deutsche Übersetzung) Bd.l, S.208ff. 1,7 Entsch. des EuGHMR, Serie A Nr. 29 = EuGRZ 1979, 34. 106 107
Berlin unter Europäischem Rechtsschutz
567
vgl. oben unter 2 [32]) bejaht der Gerichtshof eine Verletzung der MRK (Art. 6 Ille) MRK). Die Bundesregierung hatte bereits in der mündlichen Verhandlung erklärt, sie werde einen Gesetzesentwurf zur Änderung des geltenden deutschen Rechts einbringen, der die Auffassung der Kommission berücksichtige, und die dem Beschwerdeführer entstandenen Nachteile bereinigen. Die Anpassung der Rechtslage erfolgte durch den neuen Abs. 2 der Nr. 1904 des Kostenverzeichnisses zum Gerichtskostengesetz118, der auch nach Berlin übernommen wurde11'. Der Präsident des AG Tiergarten hatte bereits zuvor nach Ergehen des Urteils die Niederschlagung der Dolmetscherkosten angeordnet, die schon bisher im Hinblick auf die ausstehenden Entscheidungen der Kommission und des Gerichtshofs nicht beigetrieben worden waren120. 5. Bilanz Insgesamt vermitteln die angeführten Entscheidungen und die daraus ggf. gezogenen nationalen Folgerungen den Eindruck, daß die Einbindung Berlins in das Rechtsschutzsystem der MRK nicht weniger intensiv und vorbehaltlos ist als die der (anderen) Bundesländer. Das Rechtsschutzsystem stößt anders als die nationale Bundesverfassungsgerichtsbarkeit auf keinen institutionellen (government-)Vorbehalt. Vom kompetentiellen Vorbehalt Gebrauch zu machen, hatten die Alliierten offenbar bisher keinen Anlaß. IV. Die Einbindung Berlins in den Rechtsschutz der Europäischen Gemeinschaften 1. Der Ausgangspunkt Der EuGH ist auch im Geltungsbereich Berlin (West) der Verträge zur Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge und der Durchführungsvorschriften aufgerufen. Art. 31 EGKSV, Art. 136 EAGV und Art. 164 EWGV gelten unvermindert auch für Berlin (West). Dementsprechend ist der EuGH auch zuständig zur Entscheidung über Sachverhalte, die eine persönliche oder/und sachliche Verknüpfung mit Berlin (West) aufweisen. Freilich steht auch seine Kompetenz unter dem Vorbehalt und Vorrang des Besatzungsstatus' der Stadt121. Die Alliierten sind bisher offenbar gegen Entscheidungen des EuGH in „Berliner Sachen" nicht eingeschritten. Art. 2 II Nr. des G. vom 18.8.1980, BGBl. I, S. 1503. GVB1. 1980, S. 1864/1897 (1900 f.). Urt. vom 10.3.1980, Entsch. des EuGHMR, Serie A Nr. 36. 121 Vgl .Jahn, EuR 1972,232 (246); von Meibom, NJW 1967,2096 (2097); Schumacher, EuR 1980, 183 (187: „auflösende Bedingung"). 1,9
568
Christian Pestalozza
Von seiner nach Maßgabe der Verträge gegebenen Zuständigkeit macht der EuGH offenbar auch in Berlin Sachen uneingeschränkten Gebrauch. Seine Judikatur zeigt dieselbe Selbstverständlichkeit, wie sie im Bereich der MRK beobachtet werden kann. Aus der Fülle der Verfahren und Fälle seien hier - wiederum ohne Anspruch auf Vollständigkeit - einige Vorabentscheidungen im Bereich der Wirtschaftsgemeinschaft herausgehoben. 2. Einzelne Vorabentscheidungen des EuGH nach Art. 177 EWGV (1) Urteil vom 17.6.1971 (Rechtssache 3/71)122: Die Vorlage des Finanzgerichts Berlin im Verfahren einer Berliner KG gegen das Hauptzollamt Berlin-Packhof betraf die Auslegung und Gültigkeit einer Verordnung. (2) Urteil vom 24.10.1973 (Rechtssache 5/73)123: Die Vorlage des Finanzgerichts Berlin im Verfahren einer Berliner GmbH gegen das Hauptzollamt Berlin-Packhof betraf die Auslegung einer Verordnung. (3) Urteil vom 11.12.1973 (Rechtssache 147/73)124: Die Vorlage des Finanzgerichts Berlin im Verfahren einer Berliner KG gegen das Hauptzollamt Berlin-Packhoff betraf die Auslegung des Art. 131 EWGV i. V. m. Anhang IV und einem Assoziierungsabkommen. (4) Urteil vom 23.10.1975 (Rechtssache 35/75)125: Die Vorlage des Finanzgerichts Berlin im Verfahren einer Bielefelder GmbH gegen das Hauptzollamt Berlin-Packhof betraf die Auslegung einer Verordnung. (5) Urteil vom 11.11.1975 (Rechtssache 37/75)12': Die Vorlage des Finanzgerichts Berlin im Verfahren einer Berliner KG gegen das Hauptzollamt Berlin-Packhoff betraf die Gültigkeit einer Verordnung und die Auslegung von Tarifnummern und -stellen des Gemeinsamen Zolltarifs. (6) Urteil vom 22.1.1976 (Rechtssache 55/75)127: Die Vorlage des Finanzgerichts Berlin im Verfahren einer Berliner GmbH gegen das Hauptzollamt Berlin-Packhof betraf die Gültigkeit von gemäß einer Verordnung erhobenen Währungsausgleichsbeträgen. (7) Urteil vom 26. 5.1976 (Rechtssache 103/75)'28: Die Vorlage des Landessozialgerichts Berlin im Verfahren eines in den Niederlanden ansässigen Deutschen gegen die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte betraf die Auslegung einer Verordnung.
122 123 124 125 126 127 121
Slg. Slg. Slg. Slg. Slg. Slg. Slg.
1971, 1973, 1973, 1975, 1975, 1976, 1976,
577. 1091. 1543. 1205. 1339. 19. 697.
Berlin unter Europäischem Rechtsschutz
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(8) Urteil vom 28.6.1977 (Rechtssache 118/76)12': Die Vorlage des Finanzgerichts Berlin im Verfahren einer Berliner GmbH gegen das Hauptzollamt Berlin-Packhof betraf die Frage, welche Vorschriften oder Rechtsgrundsätze für einen auf Billigkeitsgründen beruhenden Erlaß von Währungsausgleichsbeträgen für bestimmte Einfuhren gelten. (9) Urteil vom 8.11.1977 (Rechtssache 26/77)"°: Die Vorlage des Finanzgerichts Berlin im Verfahren einer Berliner GmbH gegen das Hauptzollamt Berlin-Packhof betraf die Auslegung und Gültigkeit von Verordnungsbestimmungen. (10) Urteil vom 29.5.1979 (Rechtssache 165/78)131: Die Vorlage des Bundesfinanzhofs im Verfahren einer Stuttgarter GmbH & Co gegen die Oberfinanzdirektion Berlin betraf die Auslegung von Zollbestimmungen. (11) Urteil vom 22.1.1980 (Rechtssache 30/79)152: Die Vorlage des Bundesverwaltungsgerichts im Verfahren des Landes Berlin gegen eine Münchner GmbH & Co KG betraf die Auslegung einer Richtlinie. (12) Urteil vom 20.3.1980 (Rechtssachen 87, 112 und 113/79)133: Die Vorlage des Bundesfinanzhofs im Verfahren einer Possenhofener KG gegen das Hauptzollamt Berlin-Packhoff und einer Berliner GmbH gegen westdeutsche Hauptzollämter betraf die Auslegung von Zollbestimmungen. (13) Urteil vom 14.7.1981 (Rechtssache 205/80)'34: Die Vorlage des Finanzgerichts Berlin im Verfahren einer Berliner KG gegen das Hauptzollamt Β erlin-Packhof betraf die Auslegung von Zollbestimmungen. (14) Urteil vom 27. 5.1982 (Rechtssache 113/81)135: Die Vorlage des Finanzgerichts Berlin im Verfahren einer Berliner GmbH gegen das Hauptzollamt Berlin-Süd betraf die Auslegung von Gemeinschaftsrecht, insbesondere einer Verordnung. In keinem Falle befand der EuGH eine vorgelegte Bestimmung des Gemeinschaftsrechts für ungültig. 3. Grundrechtssicherung und Rechtseinheitsstiftung durch den EuGH Die aufgeführten Entscheidungen des EuGH demonstrieren, daß das Gericht ohne Umschweife und Erläuterungen seine Zuständigkeit auch dann in Anspruch nimmt, wenn Berliner Gerichte vorlegen und/oder Berliner Unternehmen oder Behörden Kläger oder/und Beklagte sind. 150 131 132 133 134 135
Slg. Slg. Slg. Slg. Slg. Slg. Slg.
1977, 1977, 1979, 1980, 1980, 1981, 1982,
1177. 2031. 1837. 151. 1159. 2097. 1957.
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Christian Pestalozza
„Berliner Sachen" werden wie andere Rechtssachen auch behandelt. Damit ist der EuGH in der Lage, auch gegenüber Berlin im vorgegebenen Rahmen der Wirkung seiner Urteile für eine einheitliche Auslegung und Anwendung des Europarechts und für die Beachtung der Europäischen Grundrechte, so wie sie sich als allgemeine Rechtsgrundsätze im Rahmen der Verträge ergeben1", zu sorgen. Die letztere Funktion wird durch das Rechtsschutzsystem der MRK unterstützt und gefördert137. Dabei soll nicht übersehen werden, daß es, soweit es um Vorabscheidungen geht, auch die Berliner Gerichte bzw. die Bundesgerichte, die mit „Berliner Sachen" befaßt sind, in der Hand haben, über die Anrufung des EuGH in gewissem Umfange zu disponieren. Den Instanzgerichten räumen Art. 177 II EWGV und Art. 150 II EAGV ohnehin ein Vorlageermessen ein; legen sie nicht vor, ist wohl keine Abhilfe gegeben138. Aber auch die Gerichte, deren Entscheidung nicht mehr mit einem nationalen Rechtsmittel angegriffen werden kann, die also nach Art. 177 III EWGV, Art. 150 III EAGV zur Vorlage verpflichtet sind, beanspruchen bisweilen Steuerungsmöglichkeiten, z.B. indem sie abschließend Auslegungs- oder Gültigkeitszweifel verneinen. Auch wenn man139 einer Prozeßpartei über Art. 1011 2 GG (Anspruch auf den gesetzlichen Richter, hier: den EuGH) die Beschwerde zum BVerfG gegen die Nichtvorlage eröffnen wollte, so hülfe dies in „Berliner Sachen" wohl gerade nicht, jedenfalls wenn das als vorlagepflichtig erachtete Gericht ein Berliner Gericht ist140. V. Ausblick Die Einbeziehung Berlins in die MRK und die Gemeinschaftsverträge und ihr jeweiliges Rechtsschutzsystem verkleinert die im nationalen Rechtsschutz Berlins vorhandene Lücke. Die Europäischen Rechtsschutzinstanzen sind keine Verfassungsgerichte. Aber sie üben doch auch - am Maßstab des Europäischen Rechts - verfassungsgerichtsähnliche Funktionen aus. Sie können dies deshalb, weil die Vertragspartner sich einig sind in der Geltung der MRK und der Verträge für und in Berlin (West), weil der Bund und Berlin für die gehörige Transformation 154
Vgl. Schweitzer, JA 1982, 174ff.; Schwarze, EuGRZ 1983, 117ff. Dazu Schweitzer, a. a. O. (o. Anm. 136), S. 177 ff. Vgl. Schiller, NJW 1983, 2736 mit Anm. 2. Dazu etwa die vom Tagesspiegel vom 16.7.1983, S. 7 (Väter haben keinen Anspruch auf Mutterschaftsgeld) berichteten Erwägungen des Sozialgerichts Berlin: Es hielt die Vorlage deshalb für „unzweckmäßig", weil dieselbe Frage bereits beim BVerfG anhängig sei. 139 Mit Schiller, a.a.O. (o. Anm. 138). Zur acte clair Theorie vgl. zuletzt auch Sedemund, NJW 1983, 2739 (2745). 1M Vgl. Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, 2. Aufl. 1982, S.lOlf., 262f.; dem., in: Landesverfassungsgerichtsbarkeit, a.a.O. (o. Anm. 1), S.220f. 137
Berlin unter Europäischem Rechtsschutz
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in deutsches Recht gesorgt haben, und schließlich und hauptsächlich, weil die westlichen Alliierten gegen die Sowjetunion die Auffassung verteidigen, daß der Besatzungsstatus der Stadt keinen institutionellen Vorbehalt gegenüber den Europäischen Instanzen erfordert. Nur wenige vermissen den von der Berliner Landesverfassung ursprünglich einmal vorgesehenen Berliner Verfassungsgerichtshof. Der vorhandene Europäische Rechtsschutz für Berlin sollte nun auch einmal Überlegungen auslösen, ob die Zurückdrängung der bundesverfassungsgerichtlichen Zuständigkeiten für Berlin auf das von den westlichen Alliierten zugestandene Maß nicht auch für die Deutschen erträglich sein könnte.
Der schwierige Weg der Verfassungsgerichtsbarkeit G Ü N T E R PÜTTNER
I. Das Problem: Übergewicht des Verfassungsgerichts im Verfassungsgefüge Es ist sicherlich kein Zufall, daß die ersten Hefte der Schriftenreihe der Berliner Juristischen Gesellschaft nach dem Krieg dem Problem der Gewaltenteilung und der sie bedrohenden Entwicklung zum Richterstaat gewidmet waren 1 . Immer wieder ist seitdem das Gespenst eines „Justizstaates" 2 beschworen worden, in dem die Gerichte die Politik bestimmen; und von einem Ubergewicht der Verfassungsgerichte innerhalb der obersten Staatsorgane ist die Rede gewesen. Das Bundesverfassungsgericht hat erst jüngst wieder, die vorzeitige Bundestagsneuwahl gerade noch passieren lassend 3 , die Volksbefragung aber vorerst vom Staatsprogramm absetzend 4 , derartigen Befürchtungen neue Nahrung gegeben. Souverän ist, wer über die Verfassungsinterpretation gebietet so könnte man in Abwandlung einer berühmten Sentenz formulieren und damit das Ubergewicht der Verfassungsgerichte verdeutlichen, deren Macht darin besteht, letztverbindlich darüber zu befinden, was der Verfassung entspricht und was ihr zuwiderläuft. Aber es ist nicht nur diese, von der Verfassung letztendlich gewollte Vormacht der Verfassungsgerichte, an der sich die Kritiker reiben. Es geht ihnen um den Vorwurf, das BVerfG betreibe mit Hilfe seiner Befugnisse statt Rechtsprechung in Wahrheit Politik, wozu es nicht legitimiert sei, wozu ihm aber die vielen „offenen" Begriffe der Verfassung Gelegenheit böten; die Kritik richtet sich deshalb vielfach gegen das methodische Vorgehen des Gerichts 5 , wiewohl die Stellung des Gerichts im Gefüge der Staatsorgane den eigentlichen Grund für die Bedenken abgibt. 1 Vgl. Max Imboden, Montesquieu und die Lehre der Gewaltentrennung, Berlin 1959; Fntz Werner, Das Problem des Richterstaates, Berlin 1960 (beide Hefte, N r . 1 und 2, behandeln jedoch die hier aufgeworfene Problematik nicht). 2 Vgl. Günter Püttner, Politik durch Gerichte, Auf dem Wege zum Justizstaat, Troisdorf 1978 (Veröffentlichung der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft). 3 BVerfG N J W 1983, S.735. 4 BVerfG N J W 1983, S. 1307 (inzwischen hat das BVerfG in der Sache entschieden). 5 So schon Otto Bacbof, Der Verfassungsrichter zwischen Recht und Politik, in:
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Günter Püttner
Haben wir es also mit einer „Krise" oder „Methodenkrise" der Verfassungsgerichtsbarkeit zu tun, wie schon behauptet worden ist6? Der klassische Jurist wird dies eher für eine überzogene Betrachtungsweise halten und darüber hinaus so etwas wie Uberdruß verspüren, wenn er „schon wieder" von einer Krise hört. Zu oft hat er erleben müssen, daß ein vorübergehendes Problem sogleich zur Krise hochstilisiert wurde. Wie oft ist nicht schon von „Staatskrise" oder auch nur von „Regierungskrise" die Rede gewesen, wo es sich schlicht um einzelne Konflikte oder Schwierigkeiten bei der Lösung einzelner Probleme, wie sie durchaus zum Staatsalltag gehören, handelte. Gelegentlich ist in der Wissenschaft von einer Krise die Rede gewesen, die in der Praxis so gar nicht verspürt wurde 7 . Aber vielleicht kann man doch von einer „Krise" sprechen, wenn man das Wort in seiner eigentlichen Bedeutung versteht. „Krise" bedeutet, daß jemand am Scheideweg steht und sich mit weittragender Wirkung „entscheiden" muß. Nicht die Notlage als solche, sondern die Entscheidungslast, der Zwang zum Reagieren, kennzeichnet die Krise8. Man mag also, wenn man will, von einer „Krise" sprechen, sofern man damit nur das meint, worum es geht, nämlich um die Gefahr eines Abirrens der Verfassungsgerichtsbarkeit von dem Weg, den sie gehen sollte. Der Wissenschaftler sollte möglichst nicht im nachhinein über die Krise und über Fehlentwicklungen meditieren, sondern vorher rechtzeitig über den richtigen Weg nachdenken und zur Vermeidung einer bedrohlichen Krise beitragen. Es geht deshalb in den folgenden Überlegungen um die Frage, ob und in welcher Beziehung eine „Krise" der Verfassungsgerichtsbarkeit in Form eines Ubergewichts der Verfassungsgerichte im Staatsganzen sich abzeichnet und wie ihr begegnet werden sollte. Dazu erscheint es notwendig, sich auf den Grundgedanken der Verfassungsgerichtsbarkeit, auf die Gründe für den Ausbau dieser Institution nach 1945 zu besinnen und den Weg nachzuzeichnen, den die Verfassungsgerichte, insbesondere das BVerfG, seitdem gegangen sind.
Summum ius summa iniuria, Tübingen 1963, S. 41 (47f.); Reinhold Schlothauer, Zur Krise der Verfassungsgerichtsbarkeit, Frankfurt a. M. 1979. ' Vgl. Schlothauer a . a . O . , (S.47ff. zur „Methodenkrise"). 7 Als Beispiel sei die „Krise der kommunalen Selbstverwaltung" am Ende der Weimarer Republik genannt, wie sie insbesondere von Arnold Röttgen und Emst Forsthoff in Schriften von 1931/1934 skizziert wurde, aber in dieser Form faktisch nicht bestand (vgl. Wolfgang Hofmann, Städtetag und Verfassungsordnung, Stuttgart 1966, S.98ff.). ' Die Lexika (Brockhaus, Meyer) führen unter „Krise" sowohl die Unsicherheit bzw. zugespitzte Situation als auch die Entscheidungssituation, den „Wendepunkt" an.
Der schwierige Weg der Verfassungsgerichtsbarkeit
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II. Der Aufstieg der Verfassungsgerichtsbarkeit nach 1945 Es war bei der Schaffung des Grundgesetzes das erklärte Ziel, das Verfassungsgericht zum neuen „Hüter der Verfassung" zu machen und ihm sowohl im Verhältnis der Staatsorgane untereinander als auch im Verhältnis Staat - Bürger überragende Kompetenzen einzuräumen', und demgemäß wurde verfahren. Große Hoffnungen wurden auf diesen „krönenden Abschluß des Rechtsstaats"10, auf diesen „obersten Hüter der Verfassung", auf dieses „mit höchster Autorität ausgestattete Verfassungsorgan" 11 , die „Mitte des Gegenwartsstaates"' 2 gesetzt. Aber es standen von Anfang an „Glanz und Elend der Staatsgerichtsbarkeit"13 im Blickfeld, und es fehlte nicht an warnenden Stimmen vor der „Juridifizierung der Politik" und vor dem „anderen Weg der Gewaltentrennung" mit einem „neuartigen Gleichgewicht"14. Aus diesem Gleichgewicht ist ein im Grunde vorhersehbares Übergewicht geworden. Dem BVerfG wurden nicht nur die klassischen Kompetenzen eines Staatsgerichtshofs gegeben (Organstreitigkeiten, BundLänder-Streitigkeiten), sondern ihm wurden der letztinstanzliche Schutz des Bürgers gegen die Staatsgewalt und die Normenkontrolle auf Antrag bestimmter Staatsorgane, des betroffenen Bürgers (über die Verfassungsbeschwerde) und auf Vorlage der Gerichte anvertraut. Daraus ergab sich von vorn herein nicht nur eine dominierende Stellung des BVerfG innerhalb der Gerichtsbarkeit, die insbesondere zulasten des Bundesverwaltungsgerichts ging15, sondern auch eine Schlüsselstellung des BVerfG innerhalb der Staatsorganisation. Der Versuch nämlich, die Opposition nicht wie früher mehr oder weniger schutzlos (1933!) der politischen Mehrheit auszuliefern, sondern ihr einen spruchgewaltigen neutralen Richter zur Verteidigung und Wahrung ihrer Position an die Hand zu geben16, mußte notwendig in eine überragende Stellung des BVerfG münden, wenn die Opposition ihre Möglichkeiten gebührend nutzte,
' Vgl. Christian-Friedrich Menger, Der Begriff des sozialen Rechtsstaates im Bonner G G , Tübingen 1953, S. 16. 10 So Heinz Lauf er, Das demokratische Regime der Bundesrepublik, in: Beilage zu Das Parlament vom 28. 7.1965 (B 30/65), S. 16. " So Höpfker-Aschoff, Die Stellung des BVerfG, in: Die Rechtsstellung des BVerfG, 1953, S.3. 12 So Rene Marcic, Verfassung und Verfassungsgericht, Wien 1963, S. 207. 13 So der Titel eines Aufsatzes von Eduard Dreher in N J W 1951, S. 377 ff. 14 Statt vieler in Theodor Maunz, Dt. Staatsrecht, 1. Aufl. 1951, S. 156, genannt. 15 Die maßgebenden Urteile zum Schutz des Bürgers gegen Akte der Staatsgewalt stammten mehr und mehr aus Karlsruhe und nicht aus Berlin, vgl. etwa die Entwicklung von der Eliminierung der Bedürfnisprüfung durch das BVerwG (Ε 1, S. 92; 4, S. 51 usw.) bis zum Apotheken-Urteil des BVerfG (E 7, S. 377). " Vgl. Dreher a. a. O . S.381.
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Günter Püttner
was sie zunehmend tat. Die bedeutungsvollste Kompetenz in dieser Hinsicht war, so wird man heute resümieren können, die Normenkontrolle 17 , während die klassischen Organstreitkompetenzen eher in den Hintergrund traten. Diesen Befund bestätigt die relativ bescheidene Rolle vieler Staatsgerichtshöfe der Länder, und es verdient besonders vermerkt zu werden, daß sich aus dem immer noch währenden Fehlen eines Verfassungsgerichts in Berlin 18 keine ins Gewicht fallenden Unterschiede gegenüber anderen Bundesländern ergeben haben. W o es allerdings gesetzgeberische Aktivitäten umstrittener Art bei den Ländern gegeben hat und gibt wie hinsichtlich der Gebietsreform und neuerdings im Schulwesen, da hat sogleich auch die Verfassungsgerichtsbarkeit an Bedeutung gewonnen. In der Bundesebene mag man streiten, ob das erste Fernsehurteil (E 12, S. 205) oder andere Entscheidungen den Durchbruch zur dominierenden Rolle des B V e r f G gebracht haben. Als vorläufiger Höhepunkt der Entwicklung kann jedenfalls das Grundvertrags-Urteil des B V e r f G (E 36, S. 1 ff.) gelten. Legt man das Gewicht einmal nicht auf Verteidigung oder Kritik des gefällten Spruches 19 , sondern faßt man die Entscheidungssituation ins Auge, vor der das Gericht stand20, so wird die ganze Kalamität eines Gerichts mit Letztentscheidungsrecht in einer Schicksalsfrage der Nation offenbar: Der Grundlagenvertrag konnte als Vertrag nach außen nur entweder aufgehalten werden oder wie er war in Kraft treten; das Gericht konnte keinen Kompromiß schließen und nichts inhaltlich ändern, es mußte für oder gegen den Vertrag, für oder gegen die Regierung bzw. die Opposition entscheiden. Der Versuch, gleichwohl der Entscheidung auszuweichen und nachträglich durch Verkündung einer bestimmten Interpretation einen mittleren Weg zu gehen, ist mit Recht auf Kritik gestoßen. Aber niemand hat bislang aufgezeigt, was das B V e r f G hätte tun können, um die Situation sinnvoll zu meistern, wie es sich im Sinne des so arg strapazierten „judicial selfrestraint" (dazu unten sub IV) hätte verhalten sollen. Es war unmöglich, es beiden Seiten, der Regierung und der Opposition, gleichermaßen oder auch nur je zur Hälfte recht zu machen. 17 Vgl. Otto Bachof, D e r Richter als Gesetzgeber? in: Tradition und Fortschritt im Recht, Tübingen 1977, S. 177 ff.
" Vgl. Klaus Stem, DVB1. 1963, S. 6 9 6 ff.
Probleme der Errichtung eines Verfassungsgerichts in Berlin,
" Namentlich seien dazu genannt: Friesenhahn ( Z R P 1973, S. 188 ff.), Kimminich (DVB1. 1973, S. 6 5 7 ff.), Kriele ( Z R P 1973, S. 193 ff.) Oppermann (]Z 1973, S. 594 ff.), Scheuner ( D ö V 1973, S. 581 ff.) Tomuschat ( D ö V 1973, S. 801 ff.) und Wilke/Koch QZ 1975, S. 233 ff.); vgl. zusätzlich die Dokumentation der Bayerischen Staatsregierung zu diesem Verfahren. 20
Vgl. die Analyse Otto Bachofs a. a. O . (Anm. 5) zur Situation des Richters.
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Der Streit zeigte somit das BVerfG in seiner ganzen Machtfülle und zugleich in seinem Elend. So sehr die Regierung den Vorrang von Parlament und Regierung in Fragen der Politik beanspruchte, so wenig konnte übersehen werden, daß dem Gericht die Macht zustand, der Politik in den Arm zu fallen und die neue Ostpolitik ungeachtet der immensen politischen Folgen zum Scheitern zu bringen. Nie war deutlicher zu verspüren, was das Letztentscheidungsrecht eines Gerichts in Verfassungsfragen wirklich bedeutet. III. Das Unbehagen hinsichtlich der heutigen Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit Es besteht also das Unbehagen an der gegebenen Rolle des Bundesverfassungsgerichts, an seiner herausragenden, übermächtigen Position infolge des Letztentscheidungsrechts über die Verfassungsinterpretation und seines dadurch ermöglichten oder erzwungenen Eingreifens in die Politik. Wie aber bereits angedeutet, beruhen Unbehagen oder auch Vorwürfe gegen Stellung und Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts auf sehr unterschiedlichen Befunden und Eindrücken. Ein Vorwurf, der sonst gegen die Gerichtsbarkeit gern erhoben wird, scheint so gut wie ganz zu fehlen, der der Ineffektivität. Ineffektivität wäre auch das Gegenteil von Ubergewicht oder Ubermacht; ein darauf gerichteter Vorwurf würde also schlecht zu den geläufigen Angriffen gegen die heutige Verfassungsgerichtsbarkeit passen. Dennoch wäre es durchaus denkbar und gar nicht auszuschließen, daß die Kritik demnächst dahin überwechselt, dem Bundesverfassungsgericht Mangel an Effizienz vorzuwerfen. Zu denken ist hier weniger an die geläufigen Vorwürfe verspäteten oder unpraktischen Rechtsschutzes, sondern eher an Bedenken wegen mangelnden Schutzes der Opposition oder der Individuen, nämlich wenn sich das Gericht wegen der politichen Natur der Streitigkeiten zurückhalten sollte und damit die Betroffenen schutzlos ließe, oder an Bedenken hinsichtlich der ineffizienten Durchlöcherung einer in sich geschlossen konzipierten Politik. Indem das BVerfG nämlich aus einem in sich abgestimmten Regierungsprogramm einzelne Stücke herausbrechen (man unterstelle einmal, der Grundlagenvertrag mit der D D R wäre kassiert worden), aber die Lücke weder schließen kann noch schließen darf, ist die Gefahr der Unregierbarkeit heraufbeschworen. Bislang hat das BVerfG in hochpolitischen Fragen eine solche Zuspitzung vermieden, es hat den Grundlagenvertrag und jüngst die vorzeitigen Neuwahlen bestehen lassen. Die vom Gericht verhinderte Volkszählung hat, wie sich zeigt, nicht den nötigen politischen Stellenwert, um eine Krise zu erzeugen. Aber es läßt sich für die Zukunft nicht ausschließen, daß einmal Maßnahmen auf dem Prüfstand
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stehen, die für die Bewältigung der Staatsaufgaben unverzichtbar erscheinen und deren Verwerfung den Vorwurf der Herbeiführung von Unregierbarkeit provoziert. Noch ist das Verfahren hinsichtlich der Zulässigkeit der Staatsverschuldungspraxis der letzten Jahre anhängig, und es erscheint schwer vorstellbar, wie das Leben (heute) weitergehen soll, wenn das Haushaltsdefizit nicht im Wege der Kreditbeschaffung ausgeglichen werden darf21. Abgesehen davon zeigt sich auch in Einzelfragen immer wieder, daß Politik und Regierung nicht nur eine Frage des Verfassungsvollzugs oder des Vollzugs eines politischen Programms sind, sondern in unerwarteten Situationen Taktik, Geschick und Phantasie erfordern, alles Dinge, die ein Gericht nicht liefern kann. Schlaglichtartig hat sich dies im SchleyerFall gezeigt22: Das BVerfG konnte nicht über die zur Rettung Schleyers geeigneten Maßnahmen befinden. Anders gewendet: Wirklich Politik machen kann ein Gericht nicht, insoweit ist es „ineffizient". Gerade deshalb wiegt der vielfach erhobene Vorwurf, das Bundesverfassungsgericht betreibe im Gewände von Rechtsprechung in Wahrheit Politik, ohne dazu fähig und legitimiert zu sein, so schwer, wenn er zutrifft. Der Vorwurf richtet sich sicherlich gegen - vermeintliche oder wirkliche - Ubergriffe des Gerichts in politische Entscheidungen, für die nach der Verfassung andere Organe zuständig sind. Es schwingt aber ersichtlich, wenn beispielsweise von einer „Familienpolitik" des BVerfG die Rede ist23, noch etwas anderes mit, nämlich die Behauptung, das Gericht verfolge in der Rechtsprechung eine ganz bestimmte Richtung; es entscheide nicht konzeptionslos, sondern nach einer gewissen Leitlinie, verfolge also in diesem Sinne eine bestimmte „Politik". Zwar besagt auch dieser Vorwurf wie der erstgenannte, daß sich das Gericht entgegen seiner Aufgabe nicht ausschließlich an der Verfassung, sondern an weiteren, zusätzlichen, selbst entwickelten Leitlinien orientiere. Dieses auch anderen Gerichten immer wieder vorgeworfene Verhalten entspricht bis zu einem gewissen Grade der deutschen Rechtsprechungstradition, die Rechtsfortbildung, Rechtspolitik und das Verfolgen einer Rechtsprechungslinie immer mit zu ihren Aufgaben gerechnet hat. Die Problematik dieses Rechtsprechungsstils wird bei einem obersten Gericht und besonders einem Verfassungsgericht natürlich stärker als 21 Sehr fraglich ist übrigens, wie der gewaltige Schuldenberg des Staates ohne Verletzung von Art. 14 G G abgetragen oder auf Dauer „bedient" werden soll. Mit einer Rechtsprechung nach der Devise „Mark = Mark", wie sie das Reichsgericht seinerzeit vorexerzierte, wäre sicher die Staatskrise unvermeidlich. 22 BVerfGE 46, S. 160. 23 So bei Hans Erich Troje, Die Familienpolitik des Bundesverfassungsgerichts, in: Verfassung, Verfassungsgerichtsbarkeit, Politik, hrsg. von M. Tohidipur, Frankfurt a. M. 1976, S. 225 ff.
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sonst sichtbar. Man wird aber bei Prüfung der Vorwürfe diesen Anwurf nach Möglichkeit von dem Vorwurf eines „echten" Ubergriffs in die Regierungspolitik unterscheiden müssen. Daß das BVerfG bei seiner Rechtsprechung in den einzelnen Bereichen jeweils eine bestimmte Rechtsprechungslinie, eine bestimmte „Politik" verfolgt, ist sicherlich insoweit nicht zu beanstanden und unproblematisch, wie das Gericht sich lediglich bemüht, die einzelnen Fälle nicht isoliert zu behandeln, sondern sie im Zusammenhang zu sehen und eine widerspruchsfreie Spruchpraxis zu entwickeln. Geschähe das nicht, so würde sich nicht zu Unrecht der Vorwurf einer inkonsistenten und widersprüchlichen Urteilspraxis erheben, wie er ja auch in einigen Fällen zu vernehmen war. Widersprüche in der Rechtsprechung laufen meistens auf eine mehr oder weniger willkürliche Ungleichbehandlung bestimmter Beteiligter hinaus; nur ein Beispiel sei angeführt: Während das BVerfG beim rechtlichen Gehör vor Gericht (Art. 103 GG) einen strengen Maßstab anlegt und auch kleinste Verstöße nicht ungeahndet läßt24, ist das BVerfG über Anhörungsfehler bei der kommunalen Gebietsreform, wo es immerhin um das Schicksal von Gemeinden geht, sehr großzügig hinweggegangen und hat keine einschlägige Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung angenommen 25 . Eine einheitliche Linie, also wenn man so will, eine einheitliche Rechtsprechungs-„Politik", wäre demgegenüber gewiß vorzuziehen. Eine ganz andere Frage ist natürlich, ob man eine bestimmte Linie oder Politik für richtig oder falsch hält; aber auch insoweit werden Kritik und Uberprüfung durch eine konsequente einheitliche Linie wesentlich erleichtert. Von diesem Problem zu trennen ist die eingangs aufgeworfene Hauptfrage nach einem Ubergewicht der Verfassungsgerichte, insbesondere des BVerfG, innerhalb der Gewichtenbalance der obersten Staatsorgane. Ein solches „Übergewicht", nämlich ein größeres Gewicht als nach dem Grundgedanken der Gewaltenteilung angemessen, könnte das BVerfG infolge Zutreffens der oben genannten Vorwürfe, aber auch völlig unabhängig davon schlicht infolge „mißglückter" Gewichtsverteilung durch die Verfassungsväter oder infolge „übermäßiger" (gemessen am ursprünglich gedachten Normalmaß) Inanspruchnahme des Gerichts durch die Beteiligten erlangt haben. Wenn ein Vorwurf zu erheben ist, dann also eher einer gegen die Väter der Verfassung oder die Beteiligten als gegen das BVerfG, das die ihm zugewiesene Rolle spielen muß. Statt 24 Vgl. zuletzt BVerfG N J W 1983, S.2187 (Nichtweitergabe eines Schriftsatzes); im übrigen finden sich einschlägige Entscheidungen in großer Fülle in der amtlichen Entscheidungssammlung. 25 Nachweise bei Wolfgang Bott, Rechtsprechung und Gebietsreform, Speyerer Diss. 1977, S. 191 ff.
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von Vorwürfen wird deshalb hier von Unbehagen gesprochen; gleichwohl stellt sich die Frage, ob und was das BVerfG tun könnte, um des Problems Herr zu werden. IV. Der „judicial self-restraint" - die Lösung des Problems? Eine vielfach angebotene 26 und vom BVerfG 27 aufgegriffene Lösung des Ubergewichts- und des Politikproblems soll in der Anwendung der aus den U S A stammenden political-question-Doktrin bestehen. Das Gericht soll sich danach gegenüber der Politik zurückhalten, indem es „politische" Fragen bewußt nicht entscheidet, also „self-restraint" übt. Die bisherigen Versuche der Anwendung dieses Prinzips durch das BVerfG sind nicht ermutigend. Im zitierten Grundvertrags-Urteil hat das Gericht zwar mehrfach die Absicht bekundet, self-restraint walten zu lassen; die dann folgende Festlegung auf ein bestimmtes DeutschlandBild und auf eine bestimmte Auslegung des Vertrages lassen jedoch nicht viel von dieser Zurückhaltung erkennen28. Im Mitbestimmungsurteil stellt sich der self-restraint als ein Verzicht des Gerichts auf Äußerungen zur Zulässigkeit und Grenzen der Mitbestimmung ganz allgemein, also als Beschränkung auf die Entscheidung des konkreten Falles dar 2 '. Das aber ist eigentlich eine selbstverständliche Tugend jeder Gerichtsbarkeit, von der lediglich das BVerfG im Laufe der Jahre bedauerlicherweise abgekommen war. Ein echter self-restraint liegt darin nicht, und bei der Entscheidung über das konkret zur Prüfung gestellte Mitbestimmungsgesetz ist von einer besonderen Zurückhaltung nichts zu spüren. Und das mit vollem Recht! Das Gericht hat die Aufgabe, die ihm unterbreitete Frage der Vereinbarkeit eines Gesetzes mit dem Grundgesetz zu entscheiden. Dieser (allerdings auch nur dieser) Frage darf das Gericht nicht ausweichen, auch nicht unter Berufung auf den politischen Charakter des Gesetzes. Es ist der Sinn der Verfassung, der Politik bestimmte Grenzen zu setzen, und der Sinn der Verfassungsgerichtsbarkeit, die Einhaltung dieser Grenzen zu überwachen. Es ist deshalb Stern voll zuzustimmen, wenn er feststellt, daß sich die political-questionDoktrin mit dem deutschen Verfassungsrecht nicht in Einklang bringen 26 Vgl. Gerhard Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie, 2. Aufl. Karlsruhe 1967, S. 183 f. Im übrigen ist nicht leicht auszumachen, wer in Deutschland diese Lehre dezidiert empfiehlt; Stern (Staatsrecht, Bd.2, §44 II 3e, S.961) zitiert an dieser Stelle niemanden. Vgl. zur Problematik insbesondere Norbert Achterberg, Bundesverfassungsgericht und Zurückhaltungsgebote, DöV 1977, S. 649 ff. 17 Vgl. insbesondere das Grundvertragsurteil (BVerfGE 36, S. 1) und das Mitbestimmungsurteil (BVerfGE 50, S. 290). 28 Insofern ist die Kritik von Christian Tomuschat, Auswärtige Gewalt und verfassungsrechtliche Kontrolle, DöV 1973, S. 801 (807) durchaus berechtigt. 29 BVerfGE 50, S. 290 ff.
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lasse; der Richter habe die einschlägigen Rechtsnormen, wenn es sie gebe, anzuwenden und dürfe nicht unter Berufung auf den politischen Charakter der Frage „Justizverweigerung" üben30. Dem ist nichts hinzuzufügen; erinnert sei lediglich daran, daß die auf ähnliche Grundgedanken aufbauende französische Lehre vom „acte de gouvernement"31, die kurz nach dem Kriege im Deutschland als Lehre vom Regierungsakt oder „justizfreien Hoheitsakt" verschiedentlich vertreten worden ist32, sich ebenfalls nicht hat durchsetzen können. Die Unzulässigkeit des Operierens mit einem echten self-restraint besteht sogar dort, wo man auf den Blick ein Tor zu dessen Anwendung geöffnet sehen könnte, bei der Annahme von Verfassungsbeschwerden zur Entscheidung (§ 93 a Abs. 3,4 BVerfGG). Es wäre immerhin denkbar, daß das Gericht bei der Annahme „Zurückhaltung" übt und damit der Staatsgewalt die Angst vor dauernder Kontrolle nimmt. Aber auch eine solche Praxis liefe auf Rechtsschutzverweigerung hinaus und wäre mit den Grundsätzen des § 93 a BVerfGG nicht zu vereinbaren, der die Annahme oder Ablehnung der Verfassungsbeschwerden an bestimmte rechtliche Kriterien bindet (Unzulässigkeit, Erfolgsaussicht, Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage, schwerer und unabwendbarer Nachteil) und für eine extensive oder restriktive Annahmepraxis unter politischen Rücksichten keinen Spielraum läßt. Der Gedanke des „judicial self-restraint" führt also in die Irre und kann für die aufgeworfene Grundfrage keine Lösung und nicht einmal einen Lösungsansatz bieten. Verwertbar für das deutsche Verfassungsrecht ist allenfalls die diesem Prinzip zu entnehmende Mahnung, bei der Auslegung der Verfassung auf die Erhaltung des politischen Spielraums zu achten, der den obersten Staatsorganen bei politischen Führungsentscheidungen zustehen soll und zustehen muß. Insoweit ist allerdings ein mahnendes Wort immer wieder angebracht, neigt doch die deutsche Rechtsprechung vielfach dazu, durch Ausweitung der „Kontrolldichte" den Spielraum schöpferisch-politischen Handelns über Gebühr einzuengen bzw. an sich zu ziehen33. Richtig ist ferner, daß die Gerichte konkrete Streitfälle entscheiden und nicht aus Anlaß der Fallentschei30 A. a. O. Bd. 2, § 44 II 3 e ß, S. 962 unter Hinweis auch auf Untersuchungen über die Praxis des Supreme Court in den USA. 31 Vgl. Paul Duez, Les actes de gouvernement, Paris 1935. 52 Vgl. die Nachweise bei Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Rdn. 24 zu Art. 19 Abs. IV; bereits früher Hans Peter Ipsen, Politik und Justiz, Hamburg 1937. 35 Ein Beispiel bietet die Einbeziehung der „Abwägung" bei der Bauleitplanung in die gerichtliche Kontrolle (inzwischen durch §155 Abs. 1 BBauG gesetzlich anerkannt), was zu einer Letztentscheidung der Gerichte über die kommunale Bau-, Siedlungs-, Planungsund Verkehrspolitik geführt hat; vgl. als Beispiel einer Verkehrspolitik durch Gerichte VGH Bad.-Wü. in VB1 BW 1983, S.313.
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dung, und sei es auch nur in Form von obiter dicta, darüber hinaus (Verfassungs)recht dozieren sollen. Hier könnte eine gewisse Zurückhaltung des BVerfG im amtlichen Text und in den Sondervoten nützlich und für die Problemlösung hilfreich sein.
V. Andere Lösungsmöglichkeiten Die Überlegungen zum judicial self-restraint haben gezeigt, daß es bei der gegenwärtigen deutschen Verfassungslage zweifelhaft erscheinen muß, ob das BVerfG auch bei Beachtung der gerade genannten Grundsätze von sich aus zur Bewältigung des Grundproblems in der Lage ist. Das Gericht könnte immerhin durch eine auf Wahrung des politischen Handlungsspielraums bedachte Auslegung des Grundgesetzes diese oder jene Besserung schaffen (dazu unten), aber darüber hinaus ist nicht ersichtlich, wie das Gericht ohne Abstriche an der Rechtsschutzgewährung und ohne Rechtsverweigerung seine eigene Rolle sollte ändern können. Statt dessen, so könnte man folgern, wäre es Sache der Beteiligten, insbesondere von Parlament, Regierung und Opposition, durch Zurückhaltung bei der Stellung von Anträgen in „politischen" Fragen eine Überforderung des Gerichts und eine Einengung des politischen Handlungsspielraums zu vermeiden; und es wäre an eine Verfassungsrevision mit dem Ziel zu denken, allzu einengende und stringente Vorschriften zugunsten einer Betonung des Handlungsspielraumes vom Parlament (Parlamentsmehrheit) und Regierung aufzugeben. Einmal abgesehen davon, daß für eine Zurückhaltung der Betroffenen und für eine rechtsschutzmindernde Verfassungsrevision zur Zeit kaum Neigungen bestehen, muß es als fraglich gelten, ob diese Lösungwege empfohlen werden können. Von Fall zu Fall kann sicherlich den Betroffenen, insbesondere der Opposition, nahegelegt werden, auf die eine oder andere Klage lieber zu verzichten. Der Opposition kann dies beispielsweise deshalb geraten werden, weil sie mit einer Klage möglicherweise den Spielraum einengt, den sie demnächst als Regierungspartei selbst in Anspruch nehmen will. Ähnliche Überlegungen können sich einer Landesregierung im Verhältnis zum Bund aufdrängen. Im wirklich kritischen Fall (und der wird leicht zur Regel) werden sich aber solche Rücksichten kaum durchsetzen, und es läßt sich dann kaum plausibel machen, warum von einem verfassungsrechtlich oder gesetzlich eingeräumten Rechtsbehelf nicht sollte Gebrauch gemacht werden. Die für ihre Sache kämpfende politische Gruppierung wird sich im Gegenteil geradezu verpflichtet fühlen, im Sinne der Sache alle gegebenen Möglichkeiten auszuschöpfen. Eine wirkliche Lösung des Grundproblems erscheint deshalb auf diesem Wege nicht erreichbar.
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Ein ebenso skeptisches Urteil dürfte gegenüber einer Verfassungsrevision mit dem Ziel der Offenhaltung politischer Entscheidungen angebracht sein. Es könnte natürlich einer der vielen Enquete-Kommissionen, die wohl auch künftig zur Überarbeitung der Verfassung eingesetzt werden, der Auftrag zu einem solchen Revisionsversuch mit auf den Weg gegeben werden. Wie aber die Verfassung die Mehrheitsherrschaft rechtstaatlich einwandfrei und praktisch wirksam begrenzen und gleichzeitig in wichtigen Fragen mehr Spielraum für politisches Handeln eröffnen soll, ist nicht leicht auszudenken. Wie auch immer man die Akzente nach heutiger Sicht setzt - man könnte niemals sicher sein, ob man für die noch unbekannten künftigen Situationen die angemessene Balance zwischen Handlungsfreiheit und Sicherung der potentiell Beeinträchtigten trifft. Es würde voraussichtlich gerade gelingen, in bisher bekannten Konfliktfeldern eine ausgewogene Lösung anzubieten. Immerhin könnte in einem oder anderen Punkt eine Verbesserung erreicht werden, auch wenn die Generallösung ausbliebe.
VI. Was ist zu tun? Wenn sich nach den Darlegungen des letzten Abschnitts bei grundsätzlicher Wahrung eines umfassenden Rechtsschutzes auf der Verfassungsebene keine Möglichkeit abzeichnet, des aufgeworfenen Problems Herr zu werden, so wird man fragen müssen, was geschehen sollte, ob man die Dinge treiben lassen sollte (u. U. bis zu einer echten Krise), oder ob nicht wenigstens - bei grundsätzlicher Aufrechterhaltung der Problemlage - durch „kleine Schritte" erreicht werden kann, daß eine krisenhafte Zuspitzung vermieden wird und sich mit dem Problem leben läßt. Die „kleinen Schritte" können, da es eine „Patent"-Lösung nicht gibt, wohl nur kombinierte Schritte sein, die alles einschließen, was als Verbesserungsmöglichkeit genannt wurde, also gehörige Verfassungsinterpretation durch das Gericht, Mäßigung der potentiellen Kläger und die eine oder andere Verfassungsrevision bei sich bietender Gelegenheit. Der Blick des Juristen richtet sich dabei naturgemäß in erster Linie auf das, was das BVerfG selbst tun könnte, um zur Vermeidung einer Krise beizutragen. Vermieden werden sollte das erwähnte Ausgreifen über den konkreten Fall hinaus; insbesondere bergen akademische, lehrbuchartige Entscheidungsbegründungen die Gefahr in sich, unnötigerweise Festlegungen zu treffen, denen später nur schwer zu entrinnen ist. Aber diese Punkte betreffen im Grunde die Flanken; den Kern bildet die Verfassungsinterpretation, die stets den Blick auf die Eigengesetzlichkeit politischer Führungsentscheidungen richten muß.
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In diesem heiklen Bereich gewinnt, so will es jedenfalls dem Verfasser erscheinen, das traditionelle, über Jahrhunderte gewachsene Rollenverständnis des Richters" eine nicht unwichtige Bedeutung. Jeder Richter sollte sich der Tradition, deren Kind er ist, möglichst bewußt sein, um seine Rolle überdenken zu können. Das Bild des Richters hat sich in Deutschland nicht erst in den letzten Jahrzehnten ausgebildet, sondern geht auf viel ältere Wurzeln zurück. Zwar schweigt die staats- und verwaltungsrechtliche Literatur der früheren Zeit zu diesem Thema vielfach (oder genauer: sie spricht das Thema nicht in den heutigen Kategorien an), doch gibt es - wie Albrecht Wagner in einer Schrift aus dem Jahre 1936 über den „Kampf der Justiz gegen die Verwaltung der Preußen"35 ausführt - ein dauerndes Wachsen der richterlichen Macht seit 1750, u.a. genährt vom Kompetenzstreben der Richterschaft. Dieses Kompetenzstreben dürfte nicht richterlichem Arbeits-Eifer oder richterlicher Anmaßung entsprungen sein, sondern ging wohl mehr auf die Grundauffassung zurück, daß nur eine unabhängige Justiz ein Gegengewicht gegen die Allmacht des absoluten Fürsten schaffen könne. Der viel beschworene Müller-Arnold-Prozeß hat sicherlich ein Signal gesetzt und bei vielen Anhängern des liberalen Rechtsstaates diese Gegengewichtstheorie grundgelegt (man findet sie bei Otto Bahr 186436 vertreten: Nur Richtersprüche gewährleisten Recht und Gesetz). Freilich ist diese Tendenz auch bei Verfechtern des Rechtsstaatsgedankens auf Kritik gestoßen, etwa bei Rudolf von Gneist}7, der sich gegen den Schutz von Egoismus und Partikularismus durch die Justiz und für die rechtsstaatliche Wahrung des Gemeinwohls durch die Verwaltung ausgesprochen hat, oder in fast schon übersteigerter Form bei Lorenz von Stein™. Aber bei den Richtern setzte sich das Empfinden durch, Hüter der Rechtsordnung und — an der Spitze - oberster Hüter der Verfassung zu sein. Zu diesem Rollenverständnis der Richterschaft gehört auch das verbreitete Bewußtsein der Richter von ihrem besonderen Wert und ihrer besonderen Würde, auf deren Verletzung die Richter bis heute sehr empfindlich reagieren". In diesem gewachsenen Rollenverständnis liegt die Gefahr einer gewissen Selbstherrlichkeit des Richters begründet, die wiederum besonders in Deutschland leicht in eine Vgl. Püttner a. a. O . (Anm. 2), S. 18 f. Albrecht Wagner, D e r Kampf der Justiz gegen die Verwaltung in Preußen, Hamburg 1936, insb. S . 9 , 12. 34 35
D e r Rechtsstaat, Kassel 1864, S. 12 (auch S. 13 f.). Der Rechtsstaat, Berlin 1872, S. 155 ff. 38 Die Verwaltungslehre, Stuttgart 1866, 2. Teil, S. 22 ff. 39 Vgl. als Beispiel Theo Rasehorn, Z R P 1978, S. 1 (2), der bemängelt, daß in den meisten Koalitionskabinetten das Justizressort dem kleineren Koalitionspartner überlassen und damit die Zweitrangigkeit des Rechtswesens dokumentiert worden sei. 54 37
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dem Verfassungsleben wenig zuträgliche schulmeisterliche Haltung münden kann. Wie sich ein entsprechend geläutertes, „zurückhaltendes" Rollenverständnis auf die Verfassungsinterpretation auswirken könnte, läßt sich hier nur anhand eines Beispiels andeuten. Im Falle der vorzeitigen Auflösung des 9. Deutschen Bundestages stand das BVerfG vor der Frage der Auslegung des Art. 68 GG, wobei sich eine ganze Reihe von Interpretationsmöglichkeiten anboten. Eine nachträgliche Analyse der Entscheidung 40 zeigt, daß das Gericht zwar den moralisch überfrachteten Begriff des Vertrauens entmythologisiert (also nüchtern-sachlich gedeutet) hat, im übrigen aber der Versuchung nicht hat widerstehen können, in den Art. 68 G G ungeschriebene Tatbestandsmerkmale hineinzulesen. Bekanntlich waren die rein formellen Voraussetzungen für die Auflösung des Bundestages unstreitig gegeben; der Streit ging um die Frage, ob und welche zusätzlichen Anforderungen dem Sinn der Vorschrift zu entnehmen seien. Indem das Gericht hier eher extensiv interpretierte, Gebrauch und Mißbrauch der Auflösungsmöglichkeit unterschied, die dem Verfassungstext fremden Figuren des Mehrheitsund Minderheitskanzlers in die Begründung einführte und eine „politisch instabile Lage" zur Voraussetzung der vorzeitigen Parlamentsauflösung erklärte, hat es sich auf ein nicht unbedenkliches Feld vorgewagt. Was „politische Instabilität" ist, läßt sich nur wertend beantworten, und trotz des Ermessensspielraums, der dem Bundeskanzler und dem Bundespräsidenten nach der Entscheidung zustehen soll, muß das BVerfG letztlich die Lage beurteilen und einen Mißbrauch feststellen oder verneinen, also politisch werten. Mußte sich, so ist zu fragen, das BVerfG auf diesen schwierigen Weg begeben? Wäre nicht etwas mehr „theoretical self-restraint" 41 angemessen gewesen? Es sollte dem Wissenschaftler erlaubt sein, mit dieser Frage zu schließen, muß er doch ohnedies das Handeln anderen überlassen. Die Suche nach der richtigen, der angemessenen Verfassungsinterpretation muß und wird weitergehen.
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Vgl. die eingehende Analyse von Hans H. Klein, Zeitschrift für Parlamentsfragen 1983, S. 402 ff. (die Entscheidung ist in N J W 1983, S. 735 abgedruckt). 41 Vgl. Achterberg, a. a. O . S. 659.
Kriegsrecht und westliches Verteidigungskonzept Ein sicherheitspolitischer Preis für das Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte? ALBRECHT RANDELZHOFER
Α. Einleitung Am 23.9.1983 hat die Fraktion „Die Grünen" dem Deutschen Bundestag den Entwurf eines Gesetzes zum Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll I) zugeleitet1. Im Begleittext heißt es dabei: „Angesichts der gespannten internationalen Lage und der Schutzrolle, die das humanitäre Völkerrecht für ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland hat, ist die Ratifizierung des Protokolls I im Interesse der Existenzsicherung der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland von höchster Bedeutung." Das Protokoll I ist von der Bundesrepublik Deutschland am 23.12.1977 unterzeichnet, seither aber nicht ratifiziert worden. Es ist das Ergebnis einer vom Schweizerischen Bundesrat 1973 einberufenen, von 1974 bis 1977 in vier Sitzungsperioden in Genf tagenden Konferenz von mehr als hundert Staaten, der als Arbeitsgrundlage ein vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz ausgearbeiteter Entwurf vorlag2. ' Siehe BT-Drucks. 10/406. Nicht behandelt werden soll hier die verfassungsrechtliche Frage eines evtl. Monopols der Bundesregierung f ü r das Gesetzesinitiativrecht bei Zustimmungsgesetzen zu völkerrechtlichen Verträgen. Für ein solches Monopol Mosler, Die auswärtige Gewalt im Verfassungssystem der Bundesrepublik, in Festschrift für Carl Bilfinger, 1954, S.290; ihm folgend Klein in v. Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, 2. Auflage 1966, A n m . III 2 c zu Art. 76 G G und Bryde in v. Münch, Grundgesetzkommentar, Rdn. 5 zu Art. 76 G G . Mosler befürchtet, daß andernfalls die Bundesregierung in der Führung der Außenpolitik durch den Bundestag überspielt werden könnte. Dabei ist freilich zu beachten, daß das Zustimmungsgesetz zur Ratifikation des völkerrechtlichen Vertrages ermächtigt, aber nicht verpflichtet; ferner ist der Bundespräsident bei seiner Ratifikation an die Gegenzeichnung nach Art. 58 G G gebunden, wodurch gewährleistet ist, daß kein völkerrechtlicher Vertrag gegen den Willen der Bundesregierung wirksam wird. 2
Siehe dazu Randelzhofer, Entwicklungstendenzen im humanitären Völkerrecht für bewaffnete Konflikte, Die Friedenswarte, Bd. 58 (1975), S.23ff.; ders., Das Kriegsrecht zwischen Bewahrung und Veränderung, Europa-Archiv 1978, S. 725. Einen Kommentar
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Ziele des Entwurfs und der Konferenz waren es, die Grundsätze des geltenden Kriegsrechts neu zu bestätigen und damit ihrer drohenden Erosion entgegenzuwirken sowie das Kriegsrecht den neuen technischen, strategischen etc. Gegebenheiten anzupassen und damit effektiver zu machen. Im großen und ganzen sind diese Ziele in dem Protokoll I erreicht, das daher grundsätzlich positiv bewertet werden kann. Auf der anderen Seite darf nicht übersehen werden, daß diesem grundsätzlich positiven Aspekt in Einzelpunkten durchaus problematische Entwicklungen gegenüberstehen. Zu kritisieren ist insbesondere, daß es trotz der Bestätigung des wichtigen Prinzips der Nichtdiskriminierung 3 , d. h. der Neutralität des Kriegsrechts gegenüber der Legalität oder Illegalität beziehungsweise der Legitimität oder Illegitimität des Krieges, der gefährlichen Lehre vom gerechten Krieg gelungen ist, sich in einigen durchaus nicht unbedeutsamen Punkten durchzusetzen. Dies gilt etwa für die durch Art. 1 Abs. 4 erfolgte privilegierende Anwendung des Protokolls I auf bestimmte Arten von Bürgerkriegen 4 . Zu nennen ist hier grundsätzlich auch die durch Art. 47 erfolgte Versagung des Kombattanten- und Kriegsgefangenenstatus gegenüber Söldnern, auch wenn anerkannt werden kann, daß die engen Tatbestände des Art. 47 unter den Söldnerbegriff nur jene Abenteurer fallen lassen, die für Geld fast alles tun. Problematisch ist schließlich auch die durch Art. 43 und 44 vorgenommene Erweiterung des Kombattanten- und Kriegsgefangenenstatus auf Guerilleros, da durch diese Regelungen der Grundsatz, daß sich Kombattanten von der Zivilbevölkerung unterscheiden müssen, einen Einbruch erfahren hat, dessen Tiefe nicht mit Sicherheit auszumachen ist, der für den Schutz der Zivilbevölkerung aber jedenfalls in der Tendenz negativ ist5. Diese Negativpunkte werden - in dieser Hinsicht können hier freilich nur Vermutungen angestellt werden - beim Zögern der Bundesrepublik Deutschland, das Protokoll I zu ratifizieren, bestimmt auch eine Rolle spielen. Gewichtiger mag in diesem Zusammenhang aber noch sein, daß - jedenfalls auf den ersten Blick - einige seiner Bestimmungen so verstanden werden können, als wäre daraus die Völkerrechtswidrigkeit mancher westlicher Verteidigungskonzepte zu folgern. So scheint etwa der Wortlaut der Art. 51, 52 und 57 den Einsatz von Atomwaffen weitestgehend zu verbieten. Dieser Frage, die im Ergebnis zum gesamten Protokoll I bieten Bothe/Partsch/Solf, New Rules for Victims of Armed Conflicts, 1982. 3 Siehe dazu Randelzhofer, Europa-Archiv 1978, S.728. 4 Siehe dazu Randelzhofer, Europa-Archiv 1978, S. 729 f. 5 Siehe dazu Randelzhofer, Europa-Archiv 1978, S. 731 f.
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entgegen dem ersten Anschein zu entscheiden ist6, soll hier nicht weiter nachgegangen werden. Statt dessen soll einigen Problemen genauer nachgegangen werden, die sich im Rahmen des westlichen Verteidigungskonzepts mit sog. konventionellen Waffen stellen. B. Das Problem Im Falle eines umfassenden militärischen Konfliktes in Mitteleuropa sähe sich der Westen voraussichtlich u. a. mit gegnerischen Vorstößen massierter Panzerverbände konfrontiert. Neben der direkten Bekämpfung solcher Panzerverbände soll die Abwehr vor allem dadurch erfolgen, daß ganze Gebietsstreifen, durch welche die Vorstöße erwartet werden, vermint werden, und zwar vorwiegend durch fernverlegte Minen, d.h. durch solche, die durch Artillerie oder Flugzeuge verlegt werden. Bei der direkten Bekämpfung werden u.a. Störungsfeuer, unbeobachtetes Artilleriefeuer, Luftwaffeneinsatz ohne Sichtverbindung zum Ziel angewendet. Störungsfeuer richtet sich zwar gegen den Gegner, nicht aber gegen bestimmte Truppenteile. Uber den Zielraum des Störungsfeuers gibt es keine näheren Aufklärungsergebnisse. Unbeobachtetes Artilleriefeuer sowie ein Großteil der Luftwaffeneinsätze werden zwar in der Regel gegen bestimmte militärische Ziele geplant; Planung und Zeitpunkt der Waffenwirkung im Ziel fallen aber notgedrungen auseinander. Bei Zeitdifferenzen bis zu 1Ά Stunden muß häufig davon ausgegangen werden, daß die Waffenwirkung statt des bestimmten militärischen Ziels lediglich das Gebiet trifft, in dem das militärische Ziel sich vorher befunden hat. Minen richten sich nicht gegen bestimmte militärische Ziele; ihre Gewalt wird vielmehr von demjenigen freigesetzt, der die Zündung auslöst. Die Frage stellt sich, ob bzw. inwieweit diese Waffen und Kampfmethoden mit einer Reihe von Vorschriften des Protokolls I vereinbar sind. Bedenken können sich einmal aus der in Art. 48 niedergelegten Grundregel ergeben, wonach die am Konflikt beteiligten Parteien jederzeit zwischen zivilen Objekten und militärischen Zielen unterscheiden und daher ihre Kriegshandlungen nur gegen militärische Ziele richten. Diese Grundregel wird in den folgenden Artikeln konkretisiert und präzisiert: Art. 52 Abs. 1 verbietet den Angriff auf zivile Ziele; Abs. 2 schreibt vor, daß Angriffe streng auf militärische Ziele zu beschränken sind. Art. 51 Abs. 4 a und b verbietet Angriffe, bei denen Kampfmethoden oder -mittel angewendet werden, die nicht gegen ein bestimmtes ' Siehe dazu Randelzhofer, Europa-Archiv 1978, S. 734 f.
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militärisches Ziel gerichtet werden bzw. gerichtet werden können. Art. 57 Abs. 2 a schreibt vor, daß bei der Planung und Entscheidung über einen Angriff alles praktisch Mögliche getan werden muß, um sicherzustellen, daß das in Aussicht genommene Ziel ein militärisches ist. Stellt sich das Gegenteil heraus, muß der Angriff unterbleiben bzw. beendigt werden. Im Zweifelsfall spricht die Vermutung gegen das Vorliegen eines militärischen Zieles (Art. 52 Abs. 3). Was speziell die Verwendung von Minen angeht, so könnten sich Bedenken zusätzlich aus den Art. 35 Abs. 2 und Art. 37 Abs. 1 ergeben. Art. 35 Abs. 2 verbietet, Waffen und Methoden der Kriegführung zu verwenden, die geeignet sind, überflüssige Verletzungen oder unnötige Leiden zu verursachen. Art. 37 Abs. 1 untersagt, einen Gegner unter Anwendung von Heimtücke zu töten oder zu verwunden.
C. Die Lösung I. Die Verwendung fernverlegter
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1. Vereinbarkeit mit Art. 35 Abs. 2 des Protokolls I Art. 35 Abs. 2 des Protokolls I bringt keine Neuerung gegenüber dem bisher schon geltenden Völkerrecht. Er bestätigt den Art. 23 e der Haager Landkriegsordnung (HLKO), der den Gebrauch von Waffen, Geschossen oder Stoffen verbietet, die geeignet sind, unnötige Leiden zu verursachen. Uber diese Bestätigung schon geltenden Völkerrechts hinaus führt die Formulierung des Art. 35 Abs. 2 zur Klärung einiger Streitfragen, die sich bei der Auslegung des Art. 23 e H L K O ergeben haben. Zu gewissen Zweifeln ist es in diesem Zusammenhang dahingehend gekommen, ob der im französischen Originaltext der H L K O verwendete Begriff der „maux superflus" sich nur auf das subjektiv empfundene Leiden bezieht oder auch auf das objektive Ausmaß der Verwundung. Der Wortlaut des Art. 35 Abs. 2 stellt nun klar, daß beide Aspekte gemeint sind. In der englischen Übersetzung des Art. 23 e H L K O kam es zu einer erheblichen Veränderung des Verbotes, indem dort nur der Gebrauch solcher Waffen, Geschosse oder Stoffe „calculated to cause unnecessary suffering" verboten ist. Damit wäre das Verbot gegenüber dem im französischen Originaltext durch das Erfordernis eines zusätzlichen subjektiven, und damit schwer nachweisbaren Elements erheblich eingeschränkt. Art. 35 Abs. 2 des Protokolls I beweist, daß dieser Abweichung vom französischen Originaltext keine rechtsändernde Wirkung zugekommen ist. In einem Punkte, der aber praktisch keine größere Auswirkung haben wird, geht Art. 35 Abs. 2 über Art. 23 e H L K O hinaus. Er verbietet
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neben Waffen, Geschossen und Stoffen auch Methoden der Kriegführung, die geeignet sind, überflüssige Verwundungen und unnötige Leiden zu verursachen. Indem Art. 35 Abs. 2 eigentlich nur die schon bisher geltende Rechtslage bestätigt, ergibt sich aus ihm grundsätzlich kein Verbot der Verwendung von Minen, denn nach der bisher geltenden Rechtslage geht man eindeutig davon aus, daß Minen üblicherweise keine Waffen sind, die unnötige Leiden oder überflüssige Verletzungen verursachen7. Dem entspricht es auch, daß das ad hoc-Komitee auf der Genfer Konferenz, das sich mit der Frage beschäftigte, welche Waffenverbote in welchen konkreten Situationen sich aus dem Protokoll I ergeben, das Verbot von Minen überhaupt nicht unter dem Aspekt des Art. 35 Abs. 2 in Erwägung gezogen hat. Etwas anderes würde sich nur ergeben, wenn die Sprengsätze unübliche Materialien enthielten, die geeignet sind, unnötige Leiden und überflüssige Verletzungen zu verursachen. 2. Vereinbarkeit mit Art. 37 Abs. 1 des Protokolls I Auch Art. 37 Abs. 1 bestätigt grundsätzlich nur bereits geltendes Völkerrecht, wie es durch mehrere Einzelbestimmungen in der H L K O , nämlich Art. 23 b, 23 f, 33 Abs. 3, 34, 35, 40 und 41 geformt ist8. Man wird aber auch eine Weiterentwicklung in dieser Bestimmung sehen können, indem der bisher durch mehrere Einzelbestimmungen ausgeformte Perfidietatbestand präzisiert und auf einen einheitlichen Kern zurückgeführt wird. Dieser Kern besteht darin, daß es als perfide qualifiziert wird, wenn Kriegshandlungen unter Ausnützung eines dem Gegner vorgespielten Schutztatbestandes vorgenommen werden. Eine Präzisierung des Perfidieverbotes liegt auch in seiner Abgrenzung zu den erlaubten Kriegslisten. Da Art. 37 Abs. 1 Protokoll I grundsätzlich die schon bisher geltende Rechtslage bestätigt, ergibt sich aus ihm kein generelles Verbot der Verwendung von Minen. Es ist nämlich anerkannt, daß das Moment des Unerwarteten und Uberraschenden, das durch die verzögerte Wirkung von Minen hervorgerufen wird, nicht den Tatbestand der Perfidie erfüllt, weil es dazu an der Vorspiegelung eines Schutztatbestandes fehlt, den Art. 37 Abs. 1 verlangt. Dem Perfidieverbot unterfällt jedoch anerkanntermaßen die Verwendung solcher Minen, die sich als sogenannte 1 Siehe ζ. B. The Law of War on Land; Part III of the (British) Manual of Military Law, London 1958, Nr. 110: "The prohibition (23 e HLKO) is not, however, intended to apply to the use of explosives contained in m i n e s . . e b e n s o § 34 des Department of the Army Field Manual (USA), 1956. ' Siehe dazu ausführlich Fleck, Kriegslisten und Perfidieverbot, in Kewenig (Hrsg.), Beiträge zur Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts für bewaffnete Konflikte, 1973, S. 115 ff.
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versteckte Ladungen darstellen, ζ. B. in Spielzeug oder sonstigen Gegenständen des täglichen Gebrauchs verborgen sind (sogenannte booby traps). 3. Vereinbarkeit mit Art. 48, 52 Abs. 1, 51 Abs. 4 und, 57 Abs. 2 Die eigentliche Problematik der Verwendung fernverlegter Minen ergibt sich demnach nicht aus den Art. 35 Abs. 2 und 37 Abs. 1 des Protokolls I, sondern aus den Art. 48, 52 Abs. 1, 51 Abs. 4 und 57 Abs. 2. a) Dabei ist es von besonderer Wichtigkeit, von vornherein die Begrenzung des Anwendungsbereichs dieser Vorschriften und der aus ihnen unter Umständen fließenden Verbote der Verwendung von Minen und Ladungen deutlich zu sehen. Art. 49 Abs. 2 des Protokolls I bestimmt im englischen Originaltext: " T h e provisions of this Protocol with respect to attacks apply to all attacks in whatever territory conducted, including the national territory belonging to a Party to the conflict but under the control of an adverse P a r t y . "
Alle oben genannten Vorschriften sind solche „with respect to attacks" i. S. des Art. 49 Abs. 2. Daß die Verwendung von Minen typischerweise durch den Verteidiger erfolgt, ändert an der grundsätzlichen Anwendbarkeit der genannten Vorschriften nichts, da nach Art. 49 Abs. 1 " ' A t t a c k s ' means acts of violence against the adversary, whether in offence or in defence."
Die Anwendbarkeit dieser Vorschriften wird durch Art. 49 Abs. 2 jedoch auf solche „attacks", und damit auch auf die Verwendung von Minen und Ladungen, beschränkt, die in irgendeinem fremden Staatsgebiet erfolgt oder im eigenen Staatsgebiet, soweit es unter Kontrolle des Gegners ist, d. h. von diesem besetzt ist. Nicht anwendbar sind diese Vorschriften auf die Verwendung von Minen und Ladungen im eigenen, nicht vom Gegner besetzten Staatsgebiet. Nur so ist Art. 49 Abs. 2 zu verstehen. Sollte zum Ausdruck gebracht werden, daß das eigene Staatsgebiet zur Gänze mit einbezogen sei, dann hätten die Worte „but under the control of an adverse Party" in Art. 49 Abs. 2 wegfallen müssen. Die Deutung, daß dieser Passus besonders hervorheben soll, daß das eigene Staatsgebiet auch insoweit vom Anwendungsbereich der entsprechenden Vorschriften umfaßt wird, als es unter Kontrolle des Gegners steht, scheitert an dem einleitenden „but", das einen Gegensatz signalisiert. Für diesen Fall hätte der Passus mit „although" oder „though" oder einem vergleichbaren Wort eingeleitet werden müssen. Die hier vorgenommene Auslegung ist auch nicht mit dem Einwand in Zweifel zu
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ziehen, daß auf diese Weise, durch die Ausklammerung des eigenen Staatsgebietes, soweit es sich nicht unter gegnerischer Kontrolle befindet, die Bedeutung von „in whatever territory" nicht mehr verständlich wäre. Einmal reicht allein der Einschluß des eigenen Staatsgebietes unter gegnerischer Kontrolle aus, um diese Formulierung zu erklären, zum anderen tritt als Anwendungsbereich neben das Staatsgebiet des Kriegsgegners auch das der Verbündeten. Die auch im Völkerrecht vorrangige Auslegung aus dem Wortlaut führt also zu dem Ergebnis, daß das von einer Kriegspartei beherrschte eigene Staatsgebiet nicht unter den Anwendungsbereich der Vorschriften des I. Zusatzprotokolls „with respect to attacks" fällt. Ganz auf dieser Grundlage hat der australische Delegierte während der 4. Sitzungsperiode in Genf im Plenum zur Regelung des Art. 49 Abs. 2 erklärt, daß Australien den Konsensus bezüglich Art. 49 mittrage, sich bei einer Abstimmung aber der Stimme enthalten hätte, da es gegen die Anwendung des Protokolls I auf „attacks" im eigenen Staatsgebiet, das unter gegnerischer Kontrolle stehe, sei'. Australien ging bei dieser Erklärung offensichtlich von der hier entwickelten Auslegung des Art. 49 Abs. 2 aus, wonach ansonsten das Protokoll I auf „attacks" im eigenen Staatsgebiet grundsätzlich keine Anwendung findet. Von keiner Seite wurde diesem Verständnis des Art. 49 Abs. 2 widersprochen. Was den Anwendungsbereich der Minen und Ladungen berührenden Vorschriften des Protokolls I und damit daraus fließender Beschränkungen ihrer Verwendung betrifft, so ist demnach festzustellen: Für Minen und Ladungen, die bereits in Friedenszeiten auf dem eigenen Staatsgebiet, auf welche Weise auch immer, verlegt werden, ergeben sich aus dem Protokoll I schon deshalb keine Einschränkungen, da dieses nur im Falle eines internationalen bewaffneten Konflikts Anwendung findet. Aber auch im Falle eines internationalen bewaffneten Konflikts ergeben sich wegen Art. 49 Abs. 2 keinerlei Einschränkungen aus dem Protokoll I hinsichtlich der - wie auch immer - auf dem eigenen, unter eigener Kontrolle befindlichen Staatsgebiet verlegten Minen und Ladungen. Jedenfalls insoweit ist die mitunter geäußerte Ansicht, das Protokoll I beeinträchtige besonders den Verteidiger10 - Minen und Ladungen sind typische Waffen des Verteidigers - , nicht stichhaltig. An dieser Stelle ist gleich auf eine Frage einzugehen, die ganz grundsätzlicher Natur ist. Sind die Bestimmungen des Protokolls I, soweit sie ' Siehe C D D H / S R . 41, Annex, S. 2 f. Die australische Stellungnahme erfolgte zum Inhalt des Art. 49 noch unter der alten Numerierung als Art. 44. 10 Vor allem Frankreich hat seine Ablehnung, ζ. T. in Form der Gegenstimme, ζ. T. in Form der Stimmenthaltung, zentraler Vorschriften des Protokolls I „with respect to attacks" fast durchweg auf das Argument gestützt, daß sie die nationale Verteidigung in unzumutbarer Weise einschränken wurden; vgl. C D D H / S R . 41, S. 28, 35.
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überhaupt zur Anwendung kommen, gleichmäßig gegenüber der angreifenden wie der verteidigenden Partei anzuwenden, d. h. verpflichten und berechtigen sie beide Seiten in gleicher Weise, in gleichem Umfang? Anlaß für diese Frage ist die Existenz des Gewaltverbotes in Art. 2 Abs. 4 der Satzung der Vereinten Nationen (SVN) und die damit verbundene Vorstellung, daß der Krieg von einer Seite aus eine rechtswidrige Aggression, von der anderen Seite aus eine durch Art. 51 SVN legitimierte Selbstverteidigung sei. Der rechtmäßig handelnde Verteidiger dürfe aber in seiner Kriegführung nicht in dem gleichen Maße durch Rechtsregeln beschränkt sein wie der rechtswidrig handelnde Angreifer". Tatsächlich haben auf der Genfer Konferenz einige Staaten Vertreter zum Ausdruck gebracht, daß das Protokoll I nur den Angreifer voll binden könne, den Verteidiger dagegen nicht, jedenfalls nicht so weit, daß es ihm die wirksame Verteidigung unmöglich mache12. Diese Ansicht beruht auf einer unzulässigen Verquickung des ius ad bellum mit dem ius in bello und ist unvereinbar mit einem weiteren Fundamentalsatz des Kriegsvölkerrechts im engeren Sinne, nämlich dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung, wonach das ius in bello zugunsten und zu Lasten jeder Kriegspartei gilt ohne Unterscheidung nach der Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit der Kriegseröffnung13. Dieser gewohnheitsrechtliche Grundsatz wird in den Haager Abkommen von 1907 ohne weiteres vorausgesetzt, da es zu dieser Zeit noch kein Gewaltverbot gab. Er kommt aber auch in den Art. 1 und 2 der Genfer Rotkreuzabkommen von 1949 zum Ausdruck, wo es heißt, daß die Vertragsparteien sich verpflichten, die Abkommen unter allen Umständen" einzuhalten, bzw. daß die Abkommen in allen Fällen15 eines erklärten Krieges oder eines anderen bewaffneten Konfliktes Anwendung finden, ohne daß hier irgendeine Differenzierung nach der Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit des Krieges gemacht wird. Art. 1 Abs. 3 und indirekt auch Art. 3 (a) des Protokolls I verweisen für den Anwendungsbereich gerade auf den Art. 2 der Genfer Abkommen und bestätigen damit den Grundsatz der Nichtdiskriminierung. Eine weitere 11 Siehe dazu näher Randelzhofer, in Die Friedenswarte, 58 (1975), S. 30 f. mit Nachweisen. 12 Siehe z.B. die Erklärungen von Kamerun (CDDH/SR. 41, S.34), Rumänien (CDDH/SR. 41, Annex, S.19), Madagaskar (CDDH/SR. 42, S . l l f . ) und Jugoslawien (CDDH/SR. 42, Annex, S.23). 13 Siehe dazu vor allem Meyrowitz, Le principe d'egalite des belligerants devant le droit de la guerre, 1970; ferner Berber, Lehrbuch des Völkerrechts II, 2. Aufl. 1969, S.57ff.; von der Heydte, Völkerrecht II, 1960, S. 152; Greenspan, The Modern Law of Land Warfare, 1959, S.9 mit weiteren Nachweisen. 14 Hervorhebung von mir. 15 Hervorhebung von mir.
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Bestätigung liegt auch in Art. 49, wo die Vorschriften „with respect to attacks" ohne Differenzierung nach Angreifer oder Verteidiger für anwendbar erklärt werden. Die Beibehaltung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung ist uneingeschränkt zu begrüßen 16 . Abgesehen von der nicht nur tatsächlichen, sondern auch rechtlichen Schwierigkeit, den Angreifer zu bestimmen' 7 , würde die unterschiedliche Anwendung der Regeln des Kriegsrechts wegen der entscheidenden Rolle, die das Reziprozitätselement gerade dort spielt, nur zu einer Aufhebung des Kriegsrechts überhaupt führen. Das Gleichgewicht, die Reziprozität, würde sich in der Praxis wieder herstellen, allerdings auf einer tieferen Stufe. Das Kriegsrecht beschränkt den erlaubten und den verbotenen Krieg gleichmäßig oder es beschränkt ihn überhaupt nicht. Es ist wirklichkeitsfremd anzunehmen, daß der Angreifer weitergehenden Beschränkungen in der Kriegführung unterworfen werden kann als sie gegenüber dem Verteidiger gelten. b) Einschränkungen hinsichtlich der Verwendung von Minen und Ladungen können sich aus dem Protokoll I demnach insoweit ergeben, als diese Waffen außerhalb des eigenen Staatsgebietes verwendet werden oder innerhalb des eigenen, aber unter gegnerischer Kontrolle befindlichen Staatsgebietes. Insoweit sind mögliche Einschränkungen dem Verteidiger gegenüber in derselben Weise wirksam wie gegenüber dem Angreifer. Ein Verbot der Verwendung von Minen und Ladungen ergibt sich nicht bereits daraus, daß „attacks", als welche nach Art. 49 Abs. 1 sowohl offensive als auch defensive militärische Gewaltanwendung zu verstehen ist, nur gegen militärische Ziele gerichtet werden dürfen (Art. 52 Abs. 2 Satz 1) bzw. als „indiscriminate attacks" verboten sind, wenn dabei Waffen verwendet werden, die nicht auf ein spezielles militärisches Ziel gerichtet werden können (Art. 51 Abs. 4 a und b). Nichts in den genannten Vorschriften oder an einer anderen Stelle des Protokolls I zwingt zu der Auslegung, daß in diesem Sinne „gerichtet" nur ein „attack" durch eine Waffe ist, die ohne zeitliche Verzögerung sich ihr Ziel auf direktem Wege sucht, wobei dieses Ziel selbst in quasi passivem Zustand verbleibt. Gegen eine solche enge Auslegung spricht, daß nur im Art. 51 Abs. 4 a und b der Ausdruck „gerichtet" (directed, dirigees) verwendet wird, während in Art. 52 Abs. 2 Satz 1 der Vorschrift, die speziell für den Schutz ziviler Güter dem Art. 51 Abs. 4, der " Siehe dazu im einzelnen Randelzhofer, in Die Friedenswarte, 58 (1975), S. 37 ff. 17 Diese Schwierigkeit ist auch durch die von der Vollversammlung der Vereinten Nationen im Dezember 1974 angenommene Angreiferdefinition nicht geringer geworden; siehe dazu Randelzhofer, Die Aggressionsdefinition der Vereinten Nationen, in EuropaArchiv 1975, S. 621 ff.
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den speziellen Schutz der Zivilbevölkerung regelt, entspricht, der Ausdruck „gerichtet" nicht erscheint, vielmehr nur gefordert wird, daß „attacks" strikt auf militärische Ziele beschränkt (limited, limitees) sein müssen. Auch die Mine, die in einem Gebiet piaziert wird, in dem etwa ein Panzervorstoß erwartet wird, ist gegen Panzer, und damit gegen militärische Ziele, gerichtet im Sinne der genannten Vorschriften, auch wenn sie dieses Ziel nur auf die Weise erreicht, daß dieses durch eigene Bewegung mit der Mine zusammentrifft. Im anderen Falle, bei der erwähnten engen Auslegung, müßte die Verwendung von Minen generell als verboten angesehen werden, von der wenig bedeutsamen Ausnahme des Einzelkämpfers abgesehen, der in direkter Weise eine Haftmine am gegnerischen Panzer anbringt. Gegen eine solche enge Auslegung des „gerichtet" in Art. 51 Abs. 4 a, b spricht auch, daß weder im Ad-hoc-Komitee noch auf den Expertenkonferenzen von Luzern und Lugano, wo jeweils ausführlich gerade auch über Minen diskutiert wurde, irgendjemand davon ausging, daß Minen generell verboten seien, da sie nicht auf ein militärisches Ziel gerichtet werden könnten 18 . Diskutiert wurden die Einschränkungen, die sich aus dem Protokoll I für die Verwendung von Minen ergeben, ein generelles Verbot wurde nie als Konsequenz des Protokolls I angesehen. N o c h aus einem weiteren Grund scheitert die Verwendung von Minen nicht schon daran, daß sie überhaupt nicht gegen ein militärisches Ziel gerichtet werden könnten. Das Protokoll I, in diesem Zusammenhang insbesondere Art. 48, 51, Abs. 4, 52 Abs. 2 Satz 1, gestattet „attacks" nur auf „military objectives". Dieser Begriff des „military objectives" ist bewußt gewählt, und nicht etwa der des „military objects", weil als zulässige Ziele mehr als nur typische Militärobjekte in Frage kommen. „Military objective" ist gegenüber „military object" der weitere Begriff. So ergibt sich aus Art. 48 durch die dortige Gegenüberstellung von „civilian population" und „civilian objects" einerseits, deren Schutz als Ziel genannt wird, und „military objectives" andererseits, die als zulässige Ziele genannt werden, daß auch die Kombattanten unter den Begriff des „military objective" fallen, der also nicht nur Objekte umfaßt. Weiter ergibt sich aus Art. 52 Abs. 2 Satz 2, daß „military objective" nicht nur militärische Objekte umfaßt, d. h. Objekte, die aus der Natur der Sache militärisch sind, wie z . B . Panzer, Flugzeuge, Geschütze, Flugplätze, Stellungen (das wären military objects), sondern auch son18 Siehe die Berichte des Ad-hoc-Komitees bzw. von dessen Arbeitsgruppe: C D D H / 225, S.3ff.; CDDH/IV/224/Rev. 1, S.3ff.; CDDH/237/Rev. 1, S . 9 f „ 16; C D D H / 2 2 0 / Rev. 1, S. 14f.; CDDH/47/Rev. 1, S. 8 f.; siehe ferner Kussbach, Internationale Bemühungen um die Beschränkung des Einsatzes bestimmter konventioneller Waffen, Ö Z ö R 28 (1977), S. 1 ff., bes. S. 35 ff.
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stige Objekte, die durch den Gebrauch, der von ihnen gemacht wird, oder ihre Lage im konkreten Fall einen effektiven Beitrag zur militärischen Aktion leisten und deren Zerstörung, Wegnahme oder Neutralisierung einen definitiven militärischen Vorteil mit sich bringt. Unter „military objectives" fallen also neben „military objects" auch „civilian objects", soweit diese im konkreten Fall zur militärischen Aktion beitragen. In zweifacher Hinsicht ist demnach „military objective" ein weiter Begriff: Indem er nicht nur „objects" umfaßt, sondern auch Subjekte (die Kombattanten) und indem er nicht nur „military objects" umfaßt, sondern auch „civilian objects" unter den oben genannten Voraussetzungen". Eine zu weitgehende Auslegung wäre es aber, „military objective" in einem übertragenen, nichtgegenständlichen Sinn zu verstehen als militärisches Operationsziel. Diese Auslegung wäre unvereinbar mit den Bestimmungen des Protokolls I über die Identifizierung von „military objectives" (besonders Art. 57 Abs. 2) und der Vermutung zugunsten von zivilen Zielen (Art. 50 Abs. 1 Satz 2 und 52 Abs. 3), die bei einer solchen Auslegung keinen Anwendungsbereich hätten. Umfaßt „military objective" demnach unter bestimmten Voraussetzungen auch zivile Objekte, dann kann unter diesen Voraussetzungen auch ein Stück Land unter diesen Begriff fallen. Diese Auslegung wird besonders dadurch gestützt, daß in Art. 52 Abs. 2 Satz 2 ausdrücklich die Lage (location) als ein Umstand genannt wird, der dazu führen kann, daß ein „civilian object" zu einem „military objective" wird. Im ursprünglichen I K R K - E n t w u r f war dieses Kriterium „location" noch nicht enthalten gewesen, ist aber als Ergebnis der Beratungen im Dritten Komitee während der 2. Sitzungsperiode in den Text aufgenommen worden. Schon auf der Genfer Expertenkonferenz von 1972 ist allerdings bei der Frage nach der Definition des „military objective" auf die Bedeutung des Gebietes in bestimmten Situationen hingewiesen worden 20 . Die Hereinnahme von „location" in die Definition des „military objective" trägt gerade diesem Problem Rechnung. Und noch ein weiterer Terminus in der Definition des Art. 52 Abs. 2 Satz 2 bestärkt die Auslegung, daß auch ein Stück Land ein „military objective" sein kann. Es ist davon die Rede, daß die Zerstörung, Wegnahme oder Neutralisierung eines Objektes einen definitiven militärischen Vorteil mit sich " Im Bericht des Dritten Komitees über die 2. Sitzungsperiode heißt es zu Art. 47 Abs. 2, der dem jetzigen Art. 52 Abs. 2 entspricht: " A c c o u n t is taken of the fact that military objectives include objectives other than military o b j e c t s . . s i e h e C D D H / 2 1 5 / Rev. 1, S . 1 9 . 20 Siehe I C R C , Report on the W o r k of the Conference (3 May - 3 June 1972), Vol. I, Geneva 1972, S. 147.
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bringen muß, damit dieses Objekt ein „military objective" ist. Das Kriterium der Neutralisierung gibt gerade im Hinblick auf ein Stück Land einen Sinn, das gerade etwa durch Minen, aber auch etwa durch Sperrfeuer nicht zerstört und auch nicht weggenommen, wohl aber neutralisiert wird, d. h. für den Gegner unbenutzbar. Die Interpretationen, die eine Reihe von Staaten im Plenum der 4. Sitzungsperiode bei der Annahme des Art. 47 (jetzt 52) abgegeben haben, wonach „a specific area of land might be a military objective if, because of its location or for other reasons specified in the article, its total or partial destruction, capture or neutralization, in the circumstances ruling at the time, offered a definite military advantage"21, sind daher mit dieser Vorschrift vereinbar, daher wirklich Auslegung und nicht Vorbehalt. Aus dieser Auslegung ergibt sich aber auch, daß nicht beliebig irgendein Stück Land zum „military objective" erklärt werden kann, sondern nur ein solches Stück Land, das in einer bestimmten Situation vom Gegner militärisch genutzt wird oder in absehbarer Zeit genutzt werden wird22. Gegen die Möglichkeit, ein beliebiges Stück Land zum „military objective" zu erklären, spricht auch die Verpflichtung in Art. 57 Abs. 2 a (i) zur Verifizierung eines ins Auge gefaßten Zieles als „military objective", die Vermutungsregelungen in Art. 50 Abs. 1 Satz 2 und Art. 52 Abs. 3, sowie die Verpflichtung in Art. 57 Abs. 3 zur Beendigung eines im Gange befindlichen Angriffs, wenn sich herausstellt, daß das Ziel kein „military objective" ist. Auf der anderen Seite, und das ist nicht nur für die Verwendung von Minen bedeutsam, sondern für einen Angriff mit allen möglichen Waffen und Kampfesmethoden, dürfen an die Pflicht zur Identifizierung eines Zieles als „military objective" keine zu hohen Anforderungen gestellt werden. Der ursprüngliche IKRK-Entwurf zu Art. 50, der dem jetzigen Art. 57 entspricht, enthielt alternative Formulierungen bezüglich der Pflicht zur Identifizierung als „military objective". Der erste Vorschlag enthielt die uneingeschränkte Verpflichtung: „those who plan or decide upon an attack shall ensure that the objectives to be attacked are duly identified as military objectives". Der zweite Vorschlag enthielt 21 So die Erklärung des Vereinigten Königreichs; siehe CDDH/SR. 41, S.36. Solche Erklärungen haben noch abgegeben die Bundesrepublik Deutschland (CDDH/SR. 41, Annex, S. 2), Kanada (a. a. O., S. 12). Wie die hier vertretene Ansicht auch Solf, in Bothe/ Partsch/Solf, a.a.O. (Anm.2), S.325. 22 Art. 52 Abs. 2 Satz 1 spricht von „objects which by their . . . purpose or use make an effective contribution to military action." Der Kommentar zu Art. 47 des ursprünglichen IKRK-Entwurfs, der dann dem jetzigen Art. 52 entspricht, macht deutlich, daß „purpose" sich auf die künftige, „use" auf die gegenwärtige Funktion des Objektes bezieht; vgl. ICRC, Draft Additional Protocols to the Geneva Conventions of August 12, 1949, Commentary, S.61.
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dieselbe grundsätzliche Verpflichtung, aber mit der Einschränkung: „ . . . shall take all reasonable steps23 to ensure..." Im Kommentar zum ursprünglichen Text hieß es dazu: "The Parties to the conflict should, in a given case, refrain from planning, deciding or launching an attack in the absence of any24 information about the existence or whereabout of a military objective, as it is idle to claim that the civilian population is spared when non directed or random shooting is taking place25."
Angesichts dieser Begründung kann es nicht überraschen, daß die Staaten auf der Genfer Konferenz für das eingeschränkte Gebot waren, das sich in der jetzigen Formulierung niedergeschlagen hat, „shall do everything feasible26 to verify that the objectives to be attacked . . . are military objectives..." Diese Richtung hatte sich auch schon auf der Expertenkonferenz 1971 in Genf herausgeschält27. „Feasible" ist dabei, wie sich auch aus dem französischen Text, „tout ce qui est pratiquement possible", ergibt, im Sinne von „practically possible" zu verstehen28. Die Beschränkung auf das praktisch Mögliche erlaubt die Rücksicht auf die zur Verfügung stehende Zeit und die Mittel in einer konkreten militärischen Situation, die so sein können, daß sich eine Wahrscheinlichkeit, aber keine Gewißheit für das Vorliegen eines „military objective" ergibt29. Daß nicht letzte Gewißheit verlangt wird, ergibt sich im übrigen schon daraus, daß auch die erst bevorstehende militärische Nutzung eines grundsätzlich zivilen Objektes dieses zum „military objective" macht. Die künftigen Handlungen des Gegners können aber nie mit letzter Sicherheit festgestellt werden, sondern nur mit einem mehr oder weniger hohen Grad an Wahrscheinlichkeit. Auch hier ist demnach festzustellen, daß die Erklärungen einiger Staaten bei der Annahme des Art. 57 (damals 50) durch das Plenum während der 4. Sitzungsperiode, daß sie die Verpflichtung zur Identifizierung eines militärischen Ziels als
23
Hervorhebung von mir. Hervorhebung von mir. 25 Siehe ICRC, Commentary, S.65. 26 Hervorhebung von mir. 27 Siehe ICRC, Report on the Work of the Conference (24 May - 12 June 1971) Geneva, 1971, S.80. 28 So auch der Bericht des Dritten Komitees über die 2. Sitzungsperiode, auf der Art. 57 (damals 50) mit 66 Stimmen bei 3 Enthaltungen angenommen wurde; siehe CDDH/215/ Rev. 1, S. 27. " Blix, gewiß ein Vertreter der Linie, die einen größtmöglichen Schutz für die Zivilbevölkerung und zivile Objekte erreichen will, räumt ein: "Identification with full certainty may, indeed, be an unattainable standard and one that would not be accepted by governments. The expression 'everything feasible' does not point to such a rigid standard"; siehe Blix, Area Bombardements. Rules and Reasons, Typoskript, S. 24. 24
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durch das in der konkreten Situation praktisch Mögliche begrenzt ansehen30, durch den Wortlaut des Art. 57 Abs. 2 a (i) gedeckt sind. Diese Limitierung der Pflicht zur Identifizierung des Angriffszieles als „military objective" wirkt sich auf die in den Art. 50 Abs. 1 Satz 2 und 52 Abs. 3 niedergelegte Vermutung gegen das Vorliegen eines „military objectives" im Zweifelsfall aus. Diese Regelung kann nicht bedeuten, daß beim Vorliegen irgendwelchen Zweifels die Vermutung für ein ziviles Ziel spricht mit der Folge, daß kein Angriff stattfinden darf bzw. ein laufender Angriff abgebrochen werden muß. Jeglicher Zweifel kann aber nur bei absolut sicherer Feststellung eines „military objective" ausgeschlossen werden. So weit geht jedoch die Identifizierungspflicht nicht, wie gerade gezeigt. Die Vermutungsregel kann daher nur bei erheblichen Zweifeln zum Tragen kommen, d. h. jedenfalls dann nicht, wenn überwiegende Erkenntnisse für das Vorliegen eines „military objective" sprechen. Aus den bisherigen Ausführungen ergibt sich, daß die Verwendung von Minen nicht deshalb verboten ist, weil sie Waffen sind, die nicht gegen ein bestimmtes militärisches Ziel gerichtet werden können. Wird ein Gebietsstreifen vermint, durch den ζ. B. ein gegnerischer Panzervorstoß zu erwarten ist oder durch den der Gegner seinen Nachschub heranführt, dann ist dies eine Maßnahme gegen ein „military objective" 31 . Es bleibt aber noch die Frage, ob Minen nicht doch jedenfalls Waffen sind, deren Auswirkungen sich nicht auf militärische Ziele beschränken lassen und daher durch Art. 51 Abs. 4 c des Protokolls I verboten sind. Dabei muß aber beachtet werden, daß diese Vorschrift nicht so verstanden werden kann, daß sie jede Waffe verbietet, die überhaupt über das militärische Ziel hinaus Auswirkungen, und das kann nur bedeuten zivilen Begleitschaden, herbeiführt oder herbeiführen kann. In diesem Fall würde Art. 51 Abs. 4 c im Widerspruch zu Art. 51 Abs. 5 b stehen, der nur dann Waffen verbietet, wenn der durch sie möglicherweise verursachte zivile Begleitschaden in einem exzessiven Mißverhältnis steht zu dem direkten militärischen Vorteil, der durch die Verwendung der Waffe erreicht wird. Dieser Widerspruch besteht nicht wirklich, da sich aus der Stellung der Abs. 4 und 5 des Art. 51 zueinander ergibt, daß
30 Solche Erklärungen haben abgegeben: Indien ( C D D H / S R . 42, Annex, S.8), die Bundesrepublik Deutschland ( C D D H / S R . 42, Annex, S. 16); das Vereinigte Königreich ( C D D H / S R . 42, S. 14; Kanada ( S D D H / S R . 42, Annex, S.5). 31 Hinsichtlich eines Gebietes, durch das ein Panzervorstoß zu erwarten ist, wurde diese Ansicht ausdrücklich in der Arbeitsgruppe vertreten, die das Ad-hoc-Komitee während der 4. Sitzungsperiode der Genfer Konferenz eingesetzt hatte; siehe C D D H / I V / 224/Rev. 1, S. 7.
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Abs. 5 b die Präzisierung von Abs. 4 c ist. Aus Art. 51 Abs. 5 b ergibt sich kein absolutes Verbot irgendeiner Waffe, also auch nicht von Minen. Es ergibt sich daraus aber ein Verbot der Verwendung verschiedenster Waffen, also auch von Minen, in ganz bestimmten Situationen wegen Verstoßes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Bei der Verwendung von Minen ist die Möglichkeit zivilen Begleitschadens vor allem deshalb besonders gegeben, weil zwischen der Verlegung der Mine und ihrer Explosion eine gewisse Zeitspanne vergeht, während der sich die tatsächliche Lage so verändern kann, daß ζ. B. nicht, wie beabsichtigt, eine Panzerkolonne getroffen wird, sondern ein Flüchtlingstreck. Leichter als andere Waffen entziehen sich Minen in ihrer Auswirkung der Kontrolle derer, die sie eingesetzt haben. Hier wird man auch unterscheiden müssen: Bei handverlegten Minenfeldern ist dies weniger der Fall als bei durch Artillerie oder Flugzeuge verlegten (remotely delivered mines). Generelle Regeln lassen sich hier aber nicht aufstellen, es kommt auf die konkrete Situation an, in der sich auch der direkte militärische Vorteil als jeweils unterschiedlich erweisen wird. Die Diskussionen im Ad-hoc-Komitee und auf den Expertenkonferenzen bezüglich der Verwendung von Minen können einen Orientierungsrahmen abgeben, keinesfalls aber als verbindliche Auslegung des Protokolls I in Anspruch genommen werden. Gegenstand der Diskussionen war zum Schluß insbesondere ein Vorschlag, der von Osterreich, Dänemark, Frankreich, Mexiko, den Niederlanden, dem Vereinigten Königreich, Spanien, Schweden und der Schweiz eingebracht wurde32. Dieser Vorschlag enthält folgende Verpflichtungen: 1. Registrierung aller Minenfelder, deren Anlage in der militärischen Vorausplanung vorgesehen ist. 2. Registrierung aller sonstigen Minenfelder, soweit möglich. 3. Durch Artillerie und Flugzeuge verlegte Minenfelder sind nur zulässig, wenn sie durch Selbstzerstörungsmechanismen oder ferngesteuerte Mechanismen neutralisiert werden können, nachdem sich herausgestellt hat, daß sie ihren vorgesehenen militärischen Zweck nicht mehr erfüllen können, oder wenn das Gebiet in der Weise gekennzeichnet ist, daß die Zivilbevölkerung gewarnt ist. 4. Verbot der Verwendung von Minen in Städten, Dörfern oder Gebieten mit ähnlicher Bevölkerungskonzentration, in denen keine Kampfhandlungen zwischen Bodentruppen stattfinden oder unmittelbar bevorstehen, es sei denn, die Minen sind in der Nachbarschaft eines gegnerischen „military objective" piaziert, oder es bestehen wirksame Vorkehrungen zum Schutz der Zivilbevölkerung. Wie schon gesagt, kann dieser Vorschlag nicht als anerkannte Auslegung des Protokolls I angesehen werden. Nicht einmal im Ad-hoc-
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Siehe C D D H / I V / G T / 4 .
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Komitee bestand darüber Einigkeit", und das Ad-hoc-Komitee verzichtete bewußt darauf, dem Plenum der Konferenz diesen oder irgendeinen Vorschlag zu machen, da es sich dessen bewußt war, daß im Plenum noch weniger die Chance einer Einigkeit bestanden hätte. Immerhin gibt dieser Vorschlag Hinweise darauf, in welchen Fällen die Möglichkeit einer Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes besteht. Am Ende hängt aber alles vom jeweiligen Einzelfall ab. Als allgemein gültiger Maßstab bleibt, daß nur ein mögliches exzessives Mißverhältnis zwischen zivilem Begleitschaden und militärischem Vorteil zum Verbot der Verwendung von Minen führt. Ein generelles Verbot von „remotely delivered mines" oder von Minen in Gebieten mit einer gewissen Konzentration der Zivilbevölkerung 34 kann daher aus dem Protokoll I nicht abgeleitet werden. Schwierigkeiten ergeben sich daraus, daß mit dem „concrete and direct military advantage" ein Vergleichsmaßstab gegeben ist, der selbst nicht leicht zu bestimmen ist. Sicher darf der Verteidiger in diesem Zusammenhang nicht besser gestellt werden als der Angreifer, da dies dem oben dargestellten Grundsatz der Nichtdiskriminierung widerspräche. Daher ist, soweit das Protokoll I die eigene Bevölkerung nach Art. 49 Abs. 2 überhaupt schützt, die Ansicht nicht haltbar, der Zivilbevölkerung dürfe in einem Verteidigungskrieg jedes Opfer zugemutet werden, das zur Verhinderung der Besetzung des Territoriums notwendig ist. Sicher darf der erlangte militärische Vorteil auch nicht gesehen werden als möglicher Bestandteil des Zukunftsziels Gewinn des Krieges, da diesem unbestreitbar höchsten militärischen Vorteil gegenüber letztlich kein ziviler Begleitschaden als exzessiv anzusehen wäre. Diese Beurteilung von der Globalsituation her ist durch die Formulierung „concrete and direct" ausgeschlossen. Sie zwingt andererseits aber nicht dazu, allein den Wert der militärischen Aktion der kleinsten Einheit oder gar des Einzelkämpfers als Maßstab zu nehmen und mit dem zivilen Begleitschaden zu vergleichen. Als Vergleichsmaßstab ist der Wert der militärischen Aktion insgesamt heranzuziehen, die zwar auf der untersten Stufe der militärischen Planung abläuft, nichtsdestoweniger aber für sich nicht mehr Einzel- oder Augenblicksaktion ist, sondern zielgerichtetes, planmäßiges Zusammenwirken. Diesen Sinn haben auch die Erklärungen einer Reihe von Staaten auf der Genfer Konferenz, für den
33
Der Vorschlag wurde nur als „good basis for future work" bezeichnet; vgl. C D D H / IV/224/Rev. 1, S.3. 34 Daß der Einsatz von Minen in Gebieten mit Konzentration der Zivilbevölkerung jedenfalls dann nicht generell verboten sein kann, wenn in diesen Gebieten gekämpft wird, ergibt sich auch aus der Verpflichtung des Gegners in Art. 58 b des Protokolls I, die Zivilbevölkerung aus der Nähe militärischer Ziele zu entfernen.
Kriegsrecht und westliches Verteidigungskonzept
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Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sei der Wert des „attack as a whole" als Maßstab heranzuziehen. Daraus ergibt sich dann freilich das Problem, daß die Frage nach der Verhältnismäßigkeit vom einzelnen Kämpfer und von den Einsatzleitern auf der unteren Ebene kaum je beurteilt werden kann. Dieses Problem wurde auf der Genfer Konferenz deutlich angesprochen, führte aber zu keiner Umformulierung des Textes. II. Störungsfeuer,
unbeobachtetes Artilleriefeuer, ohne Sichtverbindung zum Ziel
Luftwaffeneinsätze
Aus den bisherigen Ausführungen ergibt sich auch, inwieweit diese Kampfesmethoden zulässig oder unzulässig sind. Da dabei grundsätzlich die gleichen Regelungen und Überlegungen wie bei der Verwendung von Minen einschlägig sind, sind Wiederholungen überflüssig. Hier genügen knappe Hinweise. Auch für diese Kampfesmethoden ergeben sich aus dem Protokoll I Einschränkungen überhaupt nicht, soweit sie auf dem eigenen Staatsgebiet stattfinden, das sich nicht unter gegnerischer Kontrolle befindet35. Anders als bei der Verwendung von Minen spielt hier aber diese Beschränkung keine Rolle, da die genannten Kampfesmethoden in diesem Bereich nicht zur Anwendung kommen. Völlig willkürlich, d.h. blind, dürfen auch diese Kampfesmethoden nicht zur Anwendung kommen, da sie nicht als „indiscriminate attack" durchgeführt werden dürfen, d. h. sie dürfen nur gegen „military objectives" gerichtet werden. Dabei gilt auch hier, daß „military objective" auch ein Stück Land sein kann unter den oben genannten Voraussetzungen. An die Identifizierung als „military objective" dürfen auch hier keine zu hohen Anforderungen gestellt werden. Die Vermutung gegen ein „military objective" greift nur bei erheblichen Zweifeln durch. Aus diesem Grunde ist insbesondere das unbeobachtete Artilleriefeuer, der Luftangriff ohne Sichtverbindung nicht schon deswegen unzulässig, weil seit der Identifizierung des militärischen Zieles und dem Angriff ein bestimmter Zeitraum vergangen ist, währenddessen die Lage des militärischen Zieles sich geändert hat. Als Korrektiv greift auch hier die Regel ein, daß der Angriff abzubrechen ist, wenn sich herausstellt, daß er sich nicht gegen ein militärisches Ziel richtet. Ansonsten gilt auch hier der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Diese Kampfesmethoden sind also verboten, wenn sie im konkreten Fall einen gegenüber dem militärischen Vorteil exzessiven Begleitschaden verursachen können. Auch hier stellt dieser Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nur eine relativ weit hinausgeschobene Schranke dar. Uber diese Leitlinien hinaus lassen sich auch
35
Siehe Art. 49 Abs. 2.
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Albrecht Randelzhofer
hier keine allgemeingültigen Aussagen machen. Alles hängt vom konkreten Einzelfall ab. D. Schlußbemerkung Die Untersuchung hat ergeben, daß das Protokoll I den oben unter Β genannten militärischen Aktivitäten im Rahmen des westlichen Verteidigungskonzepts grundsätzlich nicht entgegensteht. Da jedoch nicht ausgeschlossen werden kann, daß andere Vertragsstaaten die behandelten Bestimmungen in anderer Weise auslegen, wäre der Bundesrepublik Deutschland anzuraten, bei der Ratifizierung entsprechende Interpretationserklärungen abzugeben. Was die Verwendung von Minen anlangt, so soll abschließend noch darauf hingewiesen werden, daß im Rahmen der Konferenz der Vereinten Nationen über Einsatzverbote und -beschränkungen bestimmter konventioneller Waffen am 10. Oktober 1980 von mehr als 80 Staaten eine Ubereinkunft über ein Rahmenabkommen und drei Waffenprotokolle erzielt wurde, welche am 10. April 1981 zur Zeichnung aufgelegt wurden. Bereits am ersten Tage unterzeichneten 35 Staaten, darunter alle Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft". Das Abkommen ist nach seinem Art. 5 sechs Monate nach der Hinterlegung der 20. Ratifikationsurkunde am 2.12.1983 in Kraft getreten. Die Bundesrepublik Deutschland hat bisher, wie die meisten anderen NATO-Staaten, nicht ratifiziert37. Das zweite der von diesem Rahmenabkommen umfaßten Waffenprotokolle behandelt Minen und versteckte Ladungen. Im Hinblick auf die vorstehenden Ausführungen von besonderem Interesse ist dabei der Art. 5, der fernverlegte Minen behandelt. Dabei befindet sich diese Regelung durchaus im Einklang mit dem Protokoll I soweit sie die Verwendung fernverlegter Minen nur innerhalb von Gebieten zuläßt, die selbst ein militärisches Ziel (military objective) darstellen oder militärische Ziele enthalten38. Eine über das Protokoll I hinausgehende Einschränkung bringt der genannte Art. 5 insoweit, als die Verwendung fernverlegter Minen zusätzlich an die Voraussetzungen gebunden wird,
34 Text des Übereinkommens in International Legal Materials 1980, S. 1523 ff.; dazu Mützeiburg, Das UN-Waffenübereinkommen - der jüngste Erfolg eines Ansatzes weltweiter Rüstungskontrolle, Europa-Archiv 1981, S.493 ff.; Burke, in vard International Law Journal, Vol. 22 (1981), S. 436 ff. 37 Lediglich Dänemark und Norwegen haben bisher ratifiziert. 38 Der im Laufe der Konferenz von Jugoslawien unternommene Vorstoß, Gebrauch fernverlegter Minen überhaupt zu verbieten, wurde zurückgewiesen; Burke, in Harvard International Law Journal, Vol. 22 (1981), S.439, Anm. 12.
siehe alten Har-
den siehe
Kriegsrecht und westliches Verteidigungskonzept
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daß entweder ihre Lage genau aufgezeichnet werden kann, oder sie einen Neutralisierungsmechanismus enthalten, mittels dessen sie zerstört oder in anderer Weise wirkungslos gemacht werden können, wenn sich herausstellt, daß sie nicht länger dem zugedachten militärischen Zweck dienen.
Arbeitnehmerbegriff und Arbeitsvertrag REINHARD RICHARDI
I. Meinungsstand Der Arbeitsvertrag ist, wie man einhellig annimmt, ein privatrechtlicher Dienstvertrag. Obwohl auch der Werkvertrag zu den Verträgen gehört, durch die sich jemand zur Leistung von Arbeit gegen ein Entgelt verpflichtet, scheidet er als Begründungstatbestand eines Arbeitsverhältnisses aus. Da das Arbeitsrecht aber nicht auf jeden Dienstvertrag Anwendung findet, stellt man in der Kommentar- und Lehrbuchliteratur dem Arbeitsvertrag den sog. freien Dienstvertrag gegenüber. Bereits bei der Definition des Unterschiedes wird ein Gegensatz sichtbar, der die Dogmatik des Arbeitsrechts beherrscht. Man ist sich zwar noch weitgehend darin einig, daß für den Arbeitsvertrag und damit* für das Arbeitsverhältnis das Merkmal der Abhängigkeit kennzeichnend ist. Aber bereits bei der Beantwortung der Frage, worin man die Unselbständigkeit zu erblicken hat, ist der Ansatz verschieden. Wolfgang Zöllner stellt den Begriff des Arbeitsverhältnisses in den Mittelpunkt für die systematische Abgrenzung des Arbeitsrechts1. Er bezieht daher die Unselbständigkeit auf die zu erbringenden Dienstleistungen2. Rechtsprechung und herrschende Lehre gehen dagegen vom Begriff des Arbeitnehmers aus: Wer als Selbständiger tätig wird, schließt Dienstverträge, die man im Unterschied zum Arbeitsvertrag als freie Dienstverträge bezeichnet3. Obwohl das Arbeitsverhältnis eine Gestaltungsform der Privatautonomie darstellt, versucht man durch eine personenrechtliche Festlegung des Arbeitnehmerbegriffs, den Geltungsbereich des Arbeitsrechts einheitlich abzugrenzen. Die von der Bundesregierung im November 1970 eingesetzte Arbeitsgesetzbuchkommission ließ sich ebenfalls von der Erwägung leiten, daß der Arbeitnehmerbegriff regelungsbedürftig ist, um den Geltungsbereich des allgemeinen Arbeitsvertragsrechts zu bestimmen. Sie machte in ihrem Entwurf eines Allgemeinen Arbeitsvertragsrechts aber keinen Regelungsvorschlag, weil sie der Auffassung war, „daß der Begriff des 1 2 3
W.Zöllner, Arbeitsrecht, 3.Aufl., 1983, S.40. Zöllner, a.a.O., S.44f. Vgl. A. Söllner, MünchKomm. zum BGB, 1980, §611 Rdn.5.
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Reinhard Richardi
Arbeitnehmers in einem vorausgehenden Buch ,allgemeine Vorschriften' geregelt werden sollte"4. Einen Hinweis erhält man allerdings durch die Vorschrift über den Arbeitsvertrag in §3; denn dort heißt es in Satz 2: „Durch den Arbeitsvertrag verpflichtet sich der Arbeitnehmer, die vereinbarte Arbeit unter Leitung und nach Weisung"des Arbeitgebers zu leisten; der Arbeitgeber verpflichtet sich, das vereinbarte Arbeitsentgelt zu entrichten." Demnach ist entscheidend, daß der Arbeitnehmer fremdbestimmte Arbeit leistet, obwohl die Rechtsprechung schon seit langem erkannt hat, daß Eigenverantwortlichkeit bei der Erbringung der Arbeitsleistung und damit eine ihr entsprechende Weisungsfreiheit bei Ausübung der Tätigkeit nicht der Annahme eines Arbeitsverhältnisses entgegenstehen5. Damit wird zugleich deutlich, wie schwierig es ist, die Trennungslinie zum sog. freien Dienstvertrag zu ziehen. Es stellt sich die Frage, ob man überhaupt auf dem richtigen Weg ist, wenn man über eine einheitliche Festlegung des Arbeitnehmerbegriffs die Geltung des Arbeitsrechts zu begründen versucht. II. Der Beitrag des Bürgerlichen Gesetzbuches für ein einheitliches Arbeitsrecht 1. Der Dienstvertrag als Vertragstyp im Bürgerlichen Gesetzbuch Das Bürgerliche Gesetzbuch ist am Sozialmodell der vorindustriellen Gesellschaft orientiert. Es hat, wie Franz Gamillscheg es formuliert, „dem Arbeitsrecht keine Heimstätte geboten"6. Die Dürftigkeit der Regelung im BGB ist aber noch kein Grund, um zu dem Ergebnis zu kommen, daß, wie Gamillscheg meint, „jede Argumentation, die arbeitsrechtliche Lagen mit dem dogmatischen Rüstzeug des BGB meistern will", nichts anderes sei als „Spiegelfechterei"7. Die Dürftigkeit der Regelung teilt der Arbeitsvertrag auch mit anderen Vertragstypen. Entscheidend kann deshalb nur sein, ob die für das bürgerliche Recht maßgeblichen Systemgrundlagen auch für das Arbeitsverhältnis gelten. 4 Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (Hrsg.), Arbeitsgesetzbuchkommission: Entwurf eines Arbeitsgesetzbuches - Allgemeines Arbeitsvertragsrecht, 1977, S. 20. 5 Vgl. BAGE 2, 221 = AP Nr. 2 zu §611 BGB Beschäftigungspflicht; BAG, AP Nr. 1 zu Art.38 GemeindeO Bayern; BAGE 11, 225 = AP Nr.24 zu §611 BGB Ärzte, Gehaltsansprüche; BAGE 11, 236 = AP Nr. 19 zu §620 BGB Befristeter Arbeitsvertrag; BAG, AP Nr. 26 zu §611 BGB Ärzte, Gehaltsansprüche. 6 F. Gamillscheg, Mutterschutz und Sozialstaat, in: Festschrift für Molitor, 1962, S.57 (79); den., in: Gamillscheg/Hanau, Die Haftung des Arbeitnehmers, 1965, S. 24, ebenso in der 2.Aufl. von P.Hanau, 1974, S.34; weiterhin ders., Gedanken zur Rechtsfindung im Arbeitsrecht, in: Festschrift für Hans Schmitz, 1967, Bd. I S. 68 (70 f.); ders., Zivilrechtliche Denkformen und die Entwicklung des Individualarbeitsrechts, AcP Bd. 176, 1976, S. 197 ff. 7 Gamillscheg, Festschrift für Molitor (s. Fn. 6), S. 57 (78).
Arbeitnehmerbegriff und Arbeitsvertrag
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Das moderne Arbeitsrecht konnte erst entstehen, als mit der Einführung der Gewerbefreiheit die Beschäftigungsverhältnisse in Handel und Gewerbe dem Grundsatz der Vertragsfreiheit unterstellt wurden8. Die Regelung der Beschäftigungsverhältnisse war bis ins 19. Jahrhundert genossenschaftlich oder staatlich reglementiert. Für sie galt Partikularrecht'. System und Dogmatik des Zivilrechts sind aber von der gemeinrechtlichen Doktrin geprägt worden. Die nach Berufsgruppen verschiedenen Beschäftigungsverhältnisse traten deshalb nicht in das Blickfeld. Die römisch-rechtliche locatio conductio umfaßte als Vertrag auf entgeltliche Gebrauchsüberlassung sowohl Miete und Pacht wie auch Dienst- und Werkvertrag. Von den großen Gesetzbüchern brach zuerst das preußische Allgemeine Landrecht mit der Unterstellung unter den Gattungsbegriff der Miete, indem es Dienst- und Werkverträge unter der Kategorie der Verträge über Handlungen regelte (ALR I 11 §§869 ff., 894 ff., 925 ff.). Das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch vom l.Juni 1811 erfaßte sie in dem Hauptstück „Von Verträgen über Dienstleistungen" (§§1151 ff. ABGB). Noch im Ersten Entwurf des Bürgerlichen Gesetzbuchs waren Dienstvertrag und Werkvertrag in einem Titel behandelt (Ε I §§ 559 ff.). Die Regelung über den Dienstvertrag war allerdings bereits verselbständigt. Den Unterschied erblickte man darin, daß bei dem Dienstvertrag für die Arbeit als solche, bei dem Werkvertrag für das Arbeitsergebnis die Vergütung versprochen wird10. Der Ursprung aus der römischrechtlichen locatio conductio hatte den Dienstvertrag im gemeinen Recht auf solche Dienste beschränkt, die nach römisch-rechtlichem Verständnis üblicherweise von unfreien Personen geleistet wurden (operae illiberales). Dienste höherer Art (operae liberales), wie die Erteilung * Die Gewerbeordnung vom 21. Juli 1869, die für den Norddeutschen Bund erlassen war und seit 1871 für das Deutsche Reich galt, sah vor: „Die Festsetzung der Verhältnisse zwischen den selbständigen Gewerbetreibenden und den gewerblichen Arbeitern ist, vorbehaltlich der durch Reichsgesetz begründeten Beschränkungen, Gegenstand freier Ubereinkunft." Die Vorschrift gilt auch heute noch; sie geht zurück auf § 8 des Preußischen Gesetzes über die polizeilichen Verhältnisse der Gewerbe - in bezug auf das Edikt vom 2. November 1810 - wegen Einführung einer allgemeinen Gewerbesteuer vom 7. September 1811 (Gesetzessammlung S. 263). Schon das preußische Allgemeine Landrecht von 1794 enthielt für Fabrikarbeiter, die es als Fabrikanten bezeichnete und die nicht dem Zunftzwang und den Statuten der Zünfte unterworfen waren, die Bestimmung, daß die Verhältnisse zwischen ihnen und dem Fabrikunternehmer sich „nach dem Inhalte des unter ihnen bestehenden Contracts, und nach den über dergleichen Contracte sprechenden Gesetzen" beurteilen ( A L R II 8 §423). Aber erst durch die Einführung der Gewerbefreiheit wurde der freie Arbeitsvertrag die Grundlage für die Arbeitsverfassung in Handel und Gewerbe. ' Vgl. W. Ogris, Geschichte des Arbeitsrechts vom Mittelalter bis in das 19. Jahrhundert, RdA 1967 S. 286 ff. 10 Motive Bd. II S.471.
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von wissenschaftlichem Unterricht und die Dienstleistungen der Ärzte und Advokaten, bildeten nicht den Gegenstand der Dienstmiete, sondern waren dem Auftrag, dem mandatum, zugeordnet, der als Konsensualkontrakt durch das Merkmal der Unentgeltlichkeit geprägt war. Trotz der Bedenken, die Ärzte und Anwälte geltend gemacht hatten, hat das BGB die Unterscheidung aufgegeben11. §611 Abs. 2 BGB bestimmt ausdrücklich: „Gegenstand des Dienstvertrags können Dienste jeder Art sein." Damit wurde der Dienstvertrag zu einem sämtliche Dienstleistungen umfassenden Vertragstyp. 2. Dienstvertragsrecht außerhalb des Bürgerlichen Gesetzbuchs Das Dienstvertragsrecht des BGB war unvollständig; es ist unvollständig geblieben. Verschiedene unter den Begriff des Dienstvertrags fallende Vertragsverhältnisse waren bereits durch die Reichsgesetzgebung mehr oder minder ausführlich geregelt, ζ. B. das Dienstverhältnis der Handlungsgehilfen (Art. 57-65 ADHGB) und vor allem das Dienstverhältnis der gewerblichen Arbeiter und Angestellten (§§ 105—139 b GewO). Das BGB ließ diese Sonderregelungen bestehen12. Vor allem blieben gemäß Art. 95 EGBGB die landesgesetzlichen Vorschriften, welche dem Gesinderecht angehören, unberührt. Das Gesinderecht galt nicht nur für das Hauspersonal, sondern ihm waren weitgehend auch die landwirtschaftlichen Arbeitsverhältnisse unterstellt13. Für diesen Bereich galt, wenn man von §§617-619, 624 BGB absieht (Art. 95 Abs. 2 EGBGB), nicht das Dienstvertragsrecht des BGB, sondern maßgebend waren Gesindeordnungen, die erst durch Nr. 8 des Aufrufes der Volksbeauftragten vom 12. November 1918 (RGBl. S. 1303) außer Kraft gesetzt wurden. Dieses Recht ging von einem sozialen Herrschaftsverband aus, durch den das Gesinde unter die Herrschaft eines Dienstherrn gestellt war: Den Dienstboten traf nicht nur die Verpflichtung zur Leistung des versprochenen Dienstes, sondern darüber hinaus war er zum Gehorsam und zur Treue verpflichtet (vgl. §§ 70-79 der Gesinde-Ordnung für sämtliche Provinzen der Preußischen Monarchie vom 8. November 1810, GS S.101). Das Bürgerliche Gesetzbuch blieb deshalb nach den Worten Otto v. Gierkes „von dem Versuche einer Kodifikation des modernen Arbeitsvertragsrechts weit entfernt"". Es galt nicht nur verschiedenes Gesetzesrecht, sondern heterogen waren auch die ihm zugrunde liegenden Wert11 12 13 14
Vgl. Protokolle Bd. II S.277. Vgl. Motive Bd. II S.455. Vgl. O. v. Gierke, Deutsches Privatrecht, Bd. III: Schuldrecht, 1917, S.645. O. v. Gierke, a.a.O., Bd.III S.600.
Arbeitnehmerbegriff und Arbeitsvertrag
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entscheidungen; denn das Recht des freien Arbeitsvertrags galt nur für Arbeitsverhältnisse in Handel und Gewerbe, nicht aber in der Hausund Landwirtschaft. 3. Der Dienstvertrag als Vertragstyp des Arbeitsverhältnisses Trotz des lückenhaften Charakters der BGB-Regelung ist der Dienstvertrag vor allem der Vertragstyp für das Arbeitsverhältnis. Wird nämlich Arbeit von einem Selbständigen - einem Handwerker, Rechtsanwalt oder Arzt - erbracht, so stellt sich stets die Frage, ob ein Dienstvertrag vorliegt oder ob es sich um einen anderen Vertragstyp, insbesondere einen Werkvertrag handelt. Nicht nur rechtshistorisch, sondern auch rechtsdogmatisch ist daher Modell des Dienstvertrags das Arbeitsverhältnis. Gerade deshalb hatten Otto v. Gierke und vor allem Anton Menger die dürftige Regelung gerügt, die völlig unberücksichtigt ließ, daß beim Lohnarbeitsvertrag, wie Otto v. Gierke es formuliert hatte, „das Dienstverhältnis die ganze Persönlichkeit ergreift"' 5 . Bei der Schaffung des BGB ist man also wie selbstverständlich davon ausgegangen, daß der Dienstvertrag dogmatisch den Standort für das Arbeitsverhältnis bildet. Da für ihn aber kein Begriffsmerkmal ist, daß die Arbeitsleistung im Dienst eines anderen erbracht wird, bildet der Titel über den Dienstvertrag auch die Grundlage für Vertragsverhältnisse über Dienstleistungen, die man nur deshalb nicht dem Werkvertragsrecht unterstellt, weil der Inhalt des Leistungsversprechens nicht durch die übernommene Arbeitsaufgabe, sondern durch eine zeitbestimmte Leistung festgelegt wird. Deshalb eröffnet sich ein Anwendungsbereich für Vertragsverhältnisse, die man nicht dem Arbeitsverhältnis zuordnen kann, weil der Dienstverpflichtete nicht Arbeitnehmer, sondern Unternehmer ist oder wie ein Rechtsanwalt oder Arzt einen freien Beruf ausübt. Der sog. freie Dienstvertrag ist aber im Dienstvertragsrecht des BGB ein atypischer Vertragstyp. Auf ihn finden die Vorschriften, die einen besonderen sozialen Schutz des Dienstverpflichteten bezwecken, keine Anwendung". Für die soziale Schutzgesetzgebung war der maßgebliche Tatbestand auch nicht die Erbringung der Arbeitsleistung im Dienst eines anderen, sondern, wie Philipp Lotmar es formuliert hat, der „Zustand der Besitzlosigkeit, der zum Abschluß von Arbeitsverträgen drängt" 17 . Nicht der Gegensatz von Selbständigkeit und Abhängigkeit, sondern der „Arbeits15
O. v. Gierke, Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs und das deutsche Recht, 1889, S. 104; vgl. A. Menger, Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen, 1890, zitiert nach der 5. Aufl., 1927, S. 171 ff. " Vgl. dazu bereits E. Molitor, Das Wesen des Arbeitsvertrags, 1925, S. 71 ff. 17 Ph. Lotmar, Der Arbeitsvertrag, Bd.I, 1902, S. 11.
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vertrag als Subsistenzmittel der Besitzlosen" (Lotmar) bildete das Problem. III. Die Bedeutung des Arbeitnehmerbegriffs für die Geltung des Arbeitsrechts 1. Der Begriff des
Arbeitsrechts
Der Begriff des Arbeitsrechts ist als Bezeichnung für ein selbständiges Rechtsgebiet erst in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg in die Rechtswissenschaft eingeführt worden. Die Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 sprach von ihm, als sie dem Reich in Art. 7 Nr. 9 die sog. konkurrierende Gesetzgebung über „das Arbeitsrecht, die Versicherung und den Schutz der Arbeiter und Angestellten sowie den Arbeitsnachweis" zuwies und in Art. 157 Abs.2 verhieß: „Das Reich schafft ein einheitliches Arbeitsrecht." Pionier war das Recht der Sozialversicherung, das auf Grund der Kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881 in den achtziger Jahren des 19.Jahrhunderts geschaffen worden war. Maßgebend war nicht - wie für die gesetzliche Regelung über die privatrechtlichen Beziehungen - die berufliche Tätigkeit, sondern die Versicherungspflicht bezog sich unabhängig davon auf Personen, „welche gegen Gehalt oder Lohn beschäftigt sind" (so die Formulierung des § 1 des Krankenversicherungsgesetzes vom 15. Juni 1883). Voraussetzung war also, daß jemand beschäftigt wurde, während nicht erfaßt war, wer selbständig Dienstleistungen anbot, also als Unternehmer tätig war. Das Sozialversicherungsrecht führte zur Ausbildung eines einheitlichen Arbeitnehmerbegriffs, der in seinen Wesensmerkmalen dadurch bestimmt wurde, daß unselbständige Arbeit geleistet wird. Nachdem eine soziale Schutzgesetzgebung unabhängig von der beruflichen Tätigkeit für den Inhalt von Arbeitsverhältnissen zunächst gefordert und dann realisiert worden war und die kollektivrechtlichen Beziehungen, nämlich das Tarifvertrags- und Schlichtungswesen und die Repräsentation durch Betriebsräte, in den Vordergrund traten, erscheint der Begriff des Arbeitsrechts als Bezeichnung für das gesamte Rechtsgebiet. Vorkämpfer war vor allem Heinz Potthoff mit der Schrift „Probleme des Arbeitsrechts" (1912) und der von ihm mit Hugo Sinzheimer begründeten Zeitschrift „Arbeitsrecht" (1914). Das Arbeitsrecht umfaßt deshalb nicht das Recht der Arbeit für andere schlechthin, sondern es enthält, wie Hugo Sinzheimer es formuliert hat, „das Recht der Arbeit nur insoweit, als es Arbeitnehmer betrifft"18. Das Arbeitsrecht wird als Sonderrecht der Arbeitnehmer definiert. Diese Klassifizierung ist jedoch ohne rechtsdogmatischen 18
H. Sinzheimer,
Grundzüge des Arbeitsrechts, 1927, S. 4.
Arbeitnehmerbegriff und Arbeitsvertrag
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Erkenntniswert; sie verschiebt, wie bereits 1927 Erwin Jacobi festgestellt hat, lediglich die Fragestellung vom Begriff des Arbeitsrechts auf den Arbeitnehmerbegriff". Vor allem ist mit ihr aber die Gefahr verbunden, daß eine außerrechtliche Festlegung des Arbeitnehmerbegriffs den Anwendungsbereich des Arbeitsrechts bestimmt. Mit der Klassifizierung als Sonderrecht der Arbeitnehmer ist nämlich nicht nur gemeint, daß das Arbeitsrecht sich aus Sonderrecht für Arbeitsverhältnisse der Arbeiter und Angestellten entwickelt hat und deshalb Sonderrecht im Verhältnis zum Dienstvertragsrecht des B G B enthält, sondern man verbindet mit ihr auch die Vorstellung, daß nicht die von den Parteien privatautonom festgelegte Vertragsgestaltung, sondern Voraussetzungen in der Person des Arbeitnehmers für die Geltung des Arbeitsrechts maßgeblich sind. Ebenfalls schon Erwin Jacobi hat die Schwächen dieser personalen Abgrenzung des Arbeitsrechts aufgedeckt: Die Rechtssätze des Arbeitsrechts stellen nicht auf die Zugehörigkeit zu einer Klasse oder zu einem Berufsstand der Arbeitnehmer ab; es gibt auch keine Gesellschaftsgruppe, „von der man sagen könnte, daß die Zugehörigkeit zu ihr Voraussetzung für die Anwendung der arbeitsrechtlichen Rechtssätze wäre"20. 2. Einheit des Arbeitnehmerbegriffs
für die Geltung des
Arbeitsrechts
Das Modell für den Arbeitnehmerbegriff bildet die Lohnarbeit in Fabriken. Sie war für die Entwicklung des Arbeitsrechts die maßgebliche Ausgangssituation. Da man die Abhängigkeit auf die Vermögenslosigkeit der Arbeiter bezog, lag es nahe, das Kriterium der Arbeitnehmereigenschaft in der wirtschaftlichen Unselbständigkeit zu erblicken21. Für die Feststellung, ob jemand auf Grund eines Vertrags Arbeitsleistungen als Arbeitnehmer oder als Selbständiger erbringt, spielt aber keine Rolle, ob er wirtschaftlich gezwungen ist, seine Arbeitskraft durch Abschluß von Arbeitsverträgen zu verwerten. Wer als selbständiger Handwerker wie im Regelfall darauf angewiesen ist, seinen und seiner Familie Lebensunterhalt durch seine Erwerbstätigkeit zu bestreiten, wird dadurch nicht zum Arbeitnehmer. Deshalb hat man die wirtschaftliche durch die sog. persönliche Abhängigkeit ersetzt. Herrschend ist die von Alfred Hueck formulierte Begriffsbestimmung: „Arbeitnehmer sind die auf Grund privatrechtlichen Vertrages oder eines ihm gleichgestellten Rechtsverhältnisses im
" E. Jacobi, Grundlehren des Arbeitsrechts, 1927, S.43. E. Jacobi, Grundlehren (s. Fn. 19), S.42. 21 So für die Sozialversicherung H. Rosin, Das Recht der Arbeiterversicherung, Bd. I, 1893, S. 151 f.; vgl. auch RAG, BenshSlg. Bd. 4 S. 143. 20
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Dienst eines anderen zur Arbeit verpflichteten Personen"22. Bei dieser Definition liegt das Merkmal der Abgrenzung zwischen Arbeitnehmern und Selbständigen darin, daß die Arbeit im Dienst eines anderen geleistet werden muß; es muß also, wie Alfred Hueck sagt, „eine persönliche Abhängigkeit vorliegen"23. Der Begriff des Arbeitnehmers wird nach dieser Definition ontologisch bestimmt und durch den Hinweis auf die sog. persönliche Abhängigkeit monokausal begründet. Wenn man die Rechtsfolgen heranzieht, die mit der Arbeitnehmereigenschaft verbunden sind, ist allerdings nicht einzusehen, warum es auf die persönliche Abhängigkeit bei der Erbringung der Arbeitsleistung ankommen soll. Unterliegt ein Werkunternehmer bei der Erbringung seiner Arbeit den Weisungen des Bestellers, so kommt niemand auf die Idee, Arbeitsrecht anzuwenden. Andererseits gibt es Fälle, in denen das Merkmal der persönlichen Abhängigkeit nicht mehr nachweisbar ist, aber gleichwohl eine Arbeitnehmereigenschaft anerkannt wird. Wer als Chefarzt angestellt ist, gehört zu den Arbeitnehmern, obwohl er wegen der Eigenart ärztlicher Tätigkeit bei seiner Arbeitsleistung keinen Weisungen seines Vertragspartners unterliegt24. Soweit man darauf abstellt, daß für die persönliche Abhängigkeit eine Weisungsgebundenheit nach Ort und Zeit der Arbeitsleistung genügt, muß ihr Fehlen nicht einer Anerkennung der Arbeitnehmereigenschaft entgegenstehen25. Auch wer sich seine Arbeitszeit einteilen kann und in seiner Tätigkeitsgestaltung frei ist, kann Arbeitnehmer sein. Als weiteres Merkmal wird die organisatorische Einordnung in einen Betrieb genannt26. Sie erfaßt zwar den typischen Fall für ein Arbeitsverhältnis; aber sie versagt als Abgrenzungsmaßstab, wenn keine arbeitsteilige Organisation geschaffen wird, z . B . bei der Privatsekretärin eines Schriftstellers. Das Merkmal ist außerdem zu unbestimmt, um die Arbeitnehmereigenschaft festzulegen; 22 A. Hueck in Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, Bd.I, 7. Aufl., 1963, S. 34 f. 25 A. Hueck, Lehrbuch (s. Fn.22), S.41. 24 Vgl. die Angaben in Fn. 5. 25 Vgl. BAGE 30, 163 (170) = AP Nr. 26 zu §611 BGB Abhängigkeit. 24 Vgl. BAGE 30, 163 (170), 34, 111 (118) und 36, 77 (82 f.) = AP Nr. 26, 37 und 38 zu § 611 BGB Abhängigkeit. Das Merkmal der organisatorischen Einordnung in einen Betrieb wird teilweise als das primäre Begriffsmerkmal angesehen. Schon Heinz Potthoff sah in ihm das Kriterium der Arbeitnehmereigenschaft (Arbeitsrecht, 1928, S. 25; bereits ders., ArbR 1922 Sp. 275 f.; weiterhin E. Molitor, Arbeitnehmer und Betrieb, 1928). Vor allem Arthur Nikisch vertrat die Auffassung, daß die Abhängigkeit des Arbeitnehmers erst durch die Einordnung in den Betrieb oder den sonstigen Arbeitsbereich des Arbeitgebers begründet wird (Arbeitsrecht, Bd.I, 3.Aufl., 1961, S.92). Folgerichtig hat er daher angenommen, daß das Arbeitsverhältnis sogar erst und nur durch die Eingliederung des Arbeitnehmers in den Betrieb oder Haushalt zustande kommt (so insbesondere Bd. I, 2. Aufl., 1955, S. 140 ff.).
Arbeitnehmerbegriff und Arbeitsvertrag
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denn es kann durchaus jemand mit der Verpflichtung zur Erbringung von Dienstleistungen in die arbeitstechnische Organisation eines Unternehmens eingegliedert sein, ohne daß ein Arbeitsverhältnis besteht, beispielsweise die Gesellschafter einer offenen Handelsgesellschaft, die Mitunternehmer, aber nicht Arbeitnehmer sind27. 3. Notwendigkeit
einer teleologischen
Begriffsbestimmung
Im Arbeitnehmerbegriff spiegeln sich Begriff und Geltung des Arbeitsrechts wider. Wer Arbeitnehmer ist, kann demnach von Gesetz zu Gesetz verschieden sein. Teilweise wird auch in der Tat der Arbeitnehmerbegriff unterschiedlich abgegrenzt, z.B. für die Betriebsverfassung in § 5 Abs. 2 BetrVG. Andererseits werden, wie § 1 Abs. 2 Nr. 2 und 3 AZO zeigt, Personen, auf die ein arbeitsrechtliches Gesetz keine Anwendung finden soll, in ihm gleichwohl als Arbeitnehmer bezeichnet. Dahinter steht als Programm des Gesetzgebers, daß der Begriff des Arbeitnehmers in den verschiedenen Gesetzen trotz einer unterschiedlichen Abgrenzung ihres Geltungsbereichs vom gleichen Grundgedanken geprägt sein soll. Zu einer präzisen Abgrenzung kommt man deshalb nur, wenn man den Arbeitnehmerbegriff teleologisch bestimmt, wie Rolf Wank es in seiner bisher nicht veröffentlichten Kölner Habilitationsschrift unternimmt28. Er hält der bisher üblichen Definition des Arbeitnehmerbegriffs zutreffend entgegen, daß sie darauf verzichtet, einen Sinnzusammenhang zwischen der Tatbestandsseite, den Merkmalen des Arbeitnehmerbegriffs, und der Rechtsfolge, der Anwendung des Arbeitsrechts, herzustellen. Bei diesem Ansatz wird deutlich, daß der Arbeitnehmerbegriff ein Typusbegriff ist, der in seiner Abgrenzung nur zutreffend festgelegt werden kann, wenn man zugleich einbezieht, daß jemand Dienstleistungen in privatrechtlicher Gestaltungsform auch als Selbständiger erbringen kann. Der Arbeitnehmerbegriff hat demnach einen festen Kern, bei dem nicht zweifelhaft ist, daß es sich um Arbeitnehmer handelt, auf die das Arbeitsrecht Anwendung findet. Modell ist eine fremdbestimmte Tätigkeit, die nicht durch Einzelleistungen begrenzt wird und die den Arbeitnehmer hauptberuflich in Anspruch nimmt. Wenn diese Voraussetzungen aber nicht vorliegen, darf kein Umkehrschluß gezogen werden; es genügt dann auch nicht, die Arbeitnehmer27 Vgl. A.Hueck, Lehrbuch (s. Fn.22), S.41 Fn. 15; vgl. auch Jacobi, Grundlehren (s. Fn. 19), S. 51 f.: Das Kriterium der organisatorischen Einordnung in einen Betrieb komme wegen seiner Unbestimmtheit „nur auf eine Umschreibung der persönlichen Abhängigkeit" heraus. 28 R. Wank, Arbeitnehmer und Selbständige, Bd. 2: Der Arbeitnehmerbegriff in der Rechtsdogmatik, demnächst in: Schriften des Instituts für Arbeits- und Wirtschaftsrecht der Universität zu Köln, C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung München.
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eigenschaft monokausal durch den Hinweis auf das Merkmal der persönlichen Abhängigkeit zu bestimmen, sondern es ist teleologisch zu begründen, ob und inwieweit die tatbestandlichen Voraussetzungen gegeben sind, an die das Arbeitsrecht seine Rechtsfolgen knüpft. IV. Einheit und Relativität des Arbeitnehmerbegriffs für die Geltung des Arbeitsrechts 1. Verschiedenheit des materiellen Geltungsgrundes arbeitsrechtlicher Regelungen Da eine ontologische Begriffsbestimmung ausscheidet, muß eine teleologische Definition berücksichtigen, daß mit dem Begriff eine Vielzahl unterschiedlicher Rechtsfolgen verbunden ist. Man muß deshalb den materiellen Geltungsgrund arbeitsrechtlicher Regelungen in die Beurteilung einbeziehen: (1) Die Erbringung von Arbeit im Rahmen einer fremdbestimmten Arbeitsorganisation führt zu einer Abweichung von den Risikogrundsätzen, die sonst in einem schuldrechtlichen Austauschverhältnis gelten: Der Arbeitgeber trägt das Arbeitsentgeltrisiko bei einer Arbeitsunmöglichkeit infolge von Betriebsstörungen; es gilt nicht §323, sondern §615 BGB. Die Planung, Organisation und Leitung der Arbeitsorganisation hat Rückwirkungen auf das Haftungsrisiko des Arbeitnehmers bei gefahrengeneigter Arbeit und ist Grundlage einer Fürsorgepflicht des Arbeitgebers. (2) Das Kontinuitätsinteresse des Arbeitnehmers an der Aufrechterhaltung seines Beschäftigungsverhältnisses ist materieller Geltungsgrund für den allgemeinen und besonderen Kündigungsschutz, durch den für den Arbeitnehmer ein sozialer Bestands- und Vertragsinhaltsschutz seines Arbeitsverhältnisses verwirklicht wird. (3) Die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Koalitionsfreiheit in Art. 9 Abs. 3 GG und das Recht der Tarifautonomie und des Arbeitskampfes beziehen sich auf die Besonderheit der Marktstellung innerhalb einer marktwirtschaftlich organisierten Wirtschaftsverfassung. (4) Das Betriebsverfassungs- und Mitbestimmungsrecht berücksichtigt, daß die Funktionsfähigkeit eines Betriebs und Unternehmens die Einheit der Planung, Organisation und Leitung voraussetzt und sich daraus für die Beschäftigten Abhängigkeiten ergeben, die durch eine kollektive Beteiligung begrenzt werden können. Der Katalog zeigt, daß man den Personenkreis so abgrenzen kann, daß auf ihn die gesamten Rechtsfolgen Anwendung finden. Der materielle Geltungsgrund ist aber so verschieden, daß die Einbeziehung in den einen Regelungsbereich nicht notwendigerweise dazu zwingt, eine Person auch in den anderen Regelungsbereich einzubeziehen. Soweit der
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Arbeitgeber bei einer Betriebsstörung das Arbeitsentgeltrisiko trägt, zeigt ein Vergleich mit dem Werkvertragsrecht, daß die Risikoverteilung hier nicht anders ist: Wenn das Werk unausführbar wird, weil der vom Besteller gelieferte Stoff einen Mangel aufweist, kann der Unternehmer nach §645 Abs. 1 einen der geleisteten Arbeit entsprechenden Teil der Vergütung verlangen. Auch bei der Begrenzung des Haftungsrisikos wegen einer gefahrengeneigten Arbeit ist nicht notwendigerweise Voraussetzung, daß es sich um einen Arbeitnehmer handelt; es genügt, daß nach der Vertragsgestaltung der Auftraggeber das Risiko tragen muß". Den Kündigungsschutz hat dagegen nicht jeder Arbeitnehmer, sondern nur der Arbeitnehmer, bei dem das Kontinuitätsinteresse Schutz verdient, also nicht, wer lediglich in einem zulässig befristeten Arbeitsverhältnis beschäftigt wird. Für die Koalitionsfreiheit und das kollektivrechtliche Koalitionswesen ist die Marktorientierung maßgebend. Deshalb sind hier auch Personen einbezogen, die keine Arbeitnehmer sind, aber wirtschaftlich abhängig sind, es sich also um arbeitnehmerähnliche Personen handelt (vgl. § 12 a TVG). Auch für die Rechtsstellung in der Mitbestimmungsordnung ist nicht die Vertragsrechtsstellung als Arbeitnehmer ausschlaggebend: Der Betriebsrat repräsentiert in der betriebsverfassungsrechtlichen Mitbestimmungsordnung nicht die leitenden Angestellten (§5 Abs. 3 BetrVG), aber Heimarbeiter, auch wenn sie nicht zu den Arbeitnehmern gehören, sofern sie in der Hauptsache für den Betrieb arbeiten (§ 6 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 2 BetrVG). 2. Relativierung des Arbeitnehmerbegriffs durch die verfassungsrechtlich abgesicherte Tendenzautonomie a) Rundfunkmitarbeiter-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Januar 1982 Die Einheit des Arbeitnehmerbegriffs ist vor allem durch den Rundfunkmitarbeiter-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 13.Januar 1982 in Frage gestellt worden30. Seit Anfang der siebziger Jahre hatten sog. ständige freie Mitarbeiter der Rundfunk- und Fernsehanstalten in Klagen auf Feststellung, daß es sich bei ihnen um Arbeitnehmer handelt (Statusklagen), die unbefristete Daueranstellung verlangt und damit überwiegend Erfolg gehabt31. Das Bundesverfassungsgericht 29 Deshalb ist nicht überzeugend, einem Studenten, der auf Grund eines Werkvertrags einen Transport durchführt, nur deshalb mit der vollen Haftung zu belasten, weil er kein Arbeitnehmer ist; so aber B G H , AP Nr. 28 zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers. 30 BVerfGE 59, 231 = AP Nr. 1 zu Art. 5 Abs. 1 GG Rundfunkfreiheit = NJW 1982 S. 1447 = DB 1982 S. 1062. 31 Vgl. BVerfGE 59, 231 (237); s. auch B A G E 25, 505 = AP Nr. 12 zu §611 BGB Abhängigkeit; BAG, AP Nr. 16, 20, 22 und 25 zu §611 BGB Abhängigkeit; B A G E 30, 163 = AP Nr. 26 zu §611 Abhängigkeit; BAG, AP Nr. 34 zu §611 BGB Abhängigkeit.
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hält dieser Rechtsprechung entgegen, sie habe die Einwirkung des Grundrechts der Rundfunkfreiheit auf die zugrunde gelegten Voraussetzungen für die Feststellung eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses von Rundfunkmitarbeitern verkannt und verletze daher Art. 5 Abs. 1 Satz 2 G G . Das Recht der Rundfunkanstalten, frei von fremden Einfluß über Auswahl, Einstellung und Beschäftigung der Mitarbeiter zu bestimmen, werde nicht erst durch die Erschwerung der Kündigung, sondern bereits durch die Feststellung beeinträchtigt, daß der Mitarbeiter ungeachtet des zwischen den Parteien geschlossenen Vertrags in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis zur Anstalt stehe32. Die Bedenken des Bundesverfassungsgerichts richten sich ausschließlich gegen die über die Anerkennung der Arbeitnehmereigenschaft herbeigeführte Festanstellung in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis. Es hat aber keine Entscheidung über die Arbeitnehmereigenschaft getroffen; es sei ihm, wie es ausdrücklich feststellt, „verwehrt, die Grenze zwischen Voll- oder Teilzeitbeschäftigung in einem Arbeitsverhältnis oder freier Mitarbeiter selbst zu ziehen"33. Das Bundesverfassungsgericht verlangt nicht die Verneinung der Arbeitnehmereigenschaft und damit die generelle Ausklammerung aus dem Arbeitsrecht; es fordert lediglich, „bei der Auslegung und Anwendung des Arbeitsrechts den dargelegten, sich aus Art. 5 Abs. 1 und 2 G G ergebenden verfassungsrechtlichen Anforderungen Rechnung zu tragen"34. Das schließe es nicht von vornherein aus, „von den für dieses Rechtsgebiet allgemein entwikkelten Merkmalen abhängiger Arbeit auszugehen und, wenn diese für ein Arbeitsverhältnis sprechen, dem Einfluß der Rundfunkfreiheit dadurch gerecht zu werden, daß einzelne gegen eine Befristung sprechende Merkmale zurückzutreten haben" 35 . Problematisch ist also lediglich der arbeitsrechtliche Bestandsschutz. Er darf nicht zu einer Beeinträchtigung der Rundfunkfreiheit führen. Bei anderen Rechtsvorschriften, die der sozialen Sicherung der Arbeitnehmer dienen, bestehen diese verfassungsrechtlichen Bedenken dagegen nicht. Folgerichtig stellt daher das Bundesverfassungsgericht fest: „Das Verfassungsrecht verlangt nicht die Wahl zwischen dem Alles des vollen Schutzes der unbefristeten Daueranstellung und dem Nichts des Verzichtes auf jeden Sozialschutz. Es steht nur arbeitsrechtlichen Regelungen und einer Rechtsprechung entgegen, welche den Rundfunkanstalten die zur Erfüllung ihres Programmauftrags notwendige Freiheit und Flexibilität nehmen würden. Das gilt, soweit ersichtlich, nur im Falle der gerichtlichen Feststellung 32 33 34 35
BVerfGE 59, 231 (270) = AP Nr. 1 zu Art. 5 Abs. 1 GG Rundfunkfreiheit. BVerfGE 59, 231 (267). Wie Fn. 33. Wie Fn. 33.
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unbefristeter Arbeitsverhältnisse, während die Möglichkeit befristeter Arbeitsverträge nicht ausgeschlossen wird" 3 '. b) Bedeutung der verfassungsgerichtlichen Erkenntnis für eine teleologische Definition des Arbeitnehmerbegriffs Die verfassungsrechtlich abgesicherte Tendenzautonomie besteht nicht nur für die Rundfunk- und Fernsehanstalten, sondern sie ist auch bei anderen Tendenzunternehmen zu beachten37. Grundrechtlich gewährleistet sind wie die Rundfunkfreiheit die Pressefreiheit, die Kunstfreiheit und die Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 GG). Verfassungsrechtlich garantiert ist weiterhin die Kirchenautonomie (Art. 140 GG i.V. mit Art. 137 Abs.3 WRV)38. Wenn in diesem Bereich Arbeitsverhältnisse begründet werden, muß das Arbeitsrecht im Lichte der jeweils maßgeblichen verfassungsrechtlichen Gewährleistung ausgelegt und angewendet werden. Damit ist aber eine Differenzierung verbunden, die sich auch auf die Voraussetzungen der Arbeitnehmereigenschaft auswirken kann. Die verfassungsrechtliche Erkenntnis zwingt zu einer Revision der traditionellen Betrachtungsweise, nach der die Geltung des Gesamtkomplexes des Arbeitsrechts von der richtigen Definition des Arbeitnehmerbegriffs abhängig gemacht wird. Das Bundesarbeitsgericht hat dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts zu Recht entnommen, daß der Begriff der Rundfunkfreiheit nicht verlange, einen von den allgemeinen arbeitsrechtlichen Grundsätzen abweichenden Arbeitnehmerbegriff zu entwickeln 3 '. Die Rundfunkfreiheit gibt auch kein Privileg, bei der Begründung eines Mitarbeiterverhältnisses frei zwischen dem Arbeitsvertrag und dem Vertrag als freier Mitarbeiter zu wählen40. Es ergeben sich lediglich Konsequenzen für den arbeitsrechtlichen Bestandsschutz des Vertragsverhältnisses. Der Geltungsanspruch arbeitsrechtlicher Normen ist also differenziert zu bestimmen, um der Rundfunkfreiheit Rechnung zu tragen. Für den Arbeitnehmerbegriff folgt daraus, daß man ihn entweder für Vertragsverhältnisse reserviert, auf die uneingeschränkt das Arbeitsrecht Anwendung findet, oder ihn so weit faßt, daß er sich auf alle Vertrags34
BVerfGE 59, 231 (268). Ebenso R. Wank, Die freien Mitarbeiter bei den Rundfunkanstalten und das Bundesverfassungsgericht, RdA 1982 S. 363 (371). 38 Vgl. zur arbeitsrechtlichen Bedeutung ausführlich R. Richardi, Arbeitsrecht in der Kirche, 1984. 35 BAG, AP N r . 42 zu §611 BGB Abhängigkeit; ebenso H. Plunder, Rundfunkfreiheit und Arbeitnehmerstatus, BIStSozArbR 1982 S.225 (232); H. Otto, Rundfunkspezifischer Arbeitnehmerstatus?, AuR 1983 S. 1 (9). 40 Ebenso BAG, a . a . O . , im Ergebnis auch Wank, (s.Fn.37), RdA 1982 S.363 (370). 37
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Verhältnisse bezieht, auch wenn sie unter einem Teilaspekt nicht vom Geltungsanspruch des Arbeitsrechts erfaßt werden. Wählt man die erste Variante, so darf aber auf die Verneinung der Arbeitnehmereigenschaft nicht gestützt werden, daß Arbeitsrecht unter keinem Teilaspekt zur Anwendung kommt. Legt man dagegen die zweite Variante zugrunde, so bedeutet die Feststellung der Arbeitnehmereigenschaft nicht, daß der Gesamtkomplex des Arbeitsrechts auf das Vertragsverhältnis Anwendung findet, sondern es sind verfassungsrechtlich gebotene Abweichungen zu beachten. 3. Offenheit des
Arbeitnehmerbegriffs
Der Arbeitnehmerbegriff ist ein rechtsdogmatischer Begriff 41 . Er ist dem Sprachgebrauch entnommen, der ihn ursprünglich mit dem Begriff des Arbeiters gleichsetzte, um die Facharbeiter in Fabriken mit den im H a n d w e r k arbeitenden Gesellen und den ungelernten Handarbeitern zusammenzufassen 42 . Ausgeklammert waren zunächst die Handlungsgehilfen und Betriebsbeamte sowie Werkmeister und Techniker, die man später unter dem Begriff des Angestellten zusammenfaßte". Ihre Einbeziehung in das Arbeits- und Sozialversicherungsrecht und die damit verbundene Sonderstellung führten zu einer Unterscheidung vom Arbeiter unter gleichzeitiger Zusammenfassung unter dem Begriff des Arbeitnehmers. Der Arbeitnehmerbegriff ist als Oberbegriff für Arbeiter und Angestellte entwickelt worden, für die wegen der Besonderheit ihrer Tätigkeit innerhalb einer fremdbestimmten arbeitsteiligen Organisation und der damit verbundenen Abhängigkeit das Arbeitsrecht als Recht des sozialen Interessenausgleichs und als kollektives Teilhaberecht entwickelt wurde. Bei einer Beschäftigung in Handel, Gewerbe und Landwirtschaft sowie in der Hauswirtschaft besteht im allgemeinen keine Schwierigkeit, die Arbeitnehmereigenschaft nach den in Rechtsprechung und Lehre anerkannten Kriterien zu bestimmen. Soweit diese Merkmale aber keine eindeutige Aussage zulassen, kann man das Problem, ob und inwieweit Arbeitsrecht Anwendung findet, nicht durch eine Präzisierung des Arbeitnehmerbegriffs lösen, sondern maßgebend ist ausschließlich, ob der N o r m z w e c k der arbeitsrechtlichen Gesetze auch ein derartiges Vertragsverhältnis erfaßt. Soweit in ihnen der Arbeitnehmerbegriff Ver-
41
Vgl. dazu grundlegend die Habilitationsschrift von R. Wank (s. Fn. 28). Vgl. W.Conze, Arbeiter, in: Brunner u.a. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, B d . I (A-D), 1972, S.216. 43 Vgl. dazu J.Kocka, Unternehmensverwaltung und Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 1847-1914, 1969. 42
Arbeitnehmerbegriff und Arbeitsvertrag
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wendung findet, läßt sich eine Präzisierung nur unter Heranziehung des Gegenbegriffs, des Begriffs des Selbständigen, erreichen44.
V. Vertragsrechtliche Bestimmung der Arbeitnehmereigenschaft Da das Arbeitsverhältnis ein Rechtsverhältnis der Privatautonomie ist, hängt von der Vertragsgestaltung ab, ob jemand als Arbeitnehmer oder als Selbständiger tätig wird. Die Arbeitnehmereigenschaft darf nicht personenrechtlich bestimmt werden; sie wird vertragsrechtlich festgelegt. Deshalb ist die Frage nach der Vertragsart keine Begriffsjurisprudenz, sondern rechtsdogmatisch notwendig, um zu beantworten, wer als Arbeitnehmer in Betracht kommt. Da der Dienstvertrag den Vertragstyp des Arbeitsverhältnisses darstellt, muß man für die Bestimmung der Arbeitnehmereigenschaft zugrunde legen, daß der Normgeltungsanspruch arbeitsrechtlicher Regelungen sich auf eine durch Dienstvertrag begründete Beschäftigung bezieht; denn wer einen Dienstvertrag abschließt, verpflichtet sich lediglich zur Leistung der versprochenen Dienste (§611 Abs. 1 BGB), übernimmt aber nicht wie beim Werkvertrag das unternehmerische Risiko für den Erfolg der Arbeitsleistung (vgl. §631 Abs. 2 BGB). Dieser für die Unterscheidung zwischen Dienstvertrag und Werkvertrag wesentliche Gesichtspunkt wird rechtsdogmatisch vernachlässigt, wenn man die Erbringung einer persönlichen Dienstleistung generell aus dem Werkvertrag ausklammert und sie dem Dienstvertrag zuordnet. Auch wenn man das Kriterium der Unterscheidung zwischen Dienst- und Werkvertrag nicht darin erblickt, ob das unternehmerische Risiko übernommen wird, muß man beachten, daß nach dem rechtshistorischen und rechtsdogmatischen Zusammenhang die Regelung über den Dienstvertrag vor allem die sog. abhängige Arbeit erfaßt; denn die Funktion des Dienstvertrags besteht, wie Otto v. Gierke es formuliert hat, „in der Organisation der Arbeit durch ihre Einfügung in ein herrschaftlich geleitetes Ganzes, während der Werkvertrag eines der Mittel ist, um die selbständige Unternehmerarbeit für Dritte nutzbar zu machen"45. Es ist das Verdienst von Arthur Nikisch, den Arbeitsvertrag als besonderen Vertragstyp des Dienstvertrags herausgearbeitet zu haben44. Er bezeichnet ihn als Anstellungsvertrag, um ihn von dem weiten Begriff des Arbeitsvertrags abzuheben, wie ihn Philipp Lotmar seiner Monogra-
44
So zutreffend R. Wank (s. Fn. 28). v. Gierke, Deutsches Privatrecht (s. Fn. 13), Bd. III S.593. Vgl. A. Nikisch, Die Grundformen des Arbeitsvertrags und der Anstellungsvertrag, 1926, S. 85 ff. 45 46
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phie über den Arbeitsvertrag zugrunde gelegt hat47. Damit wird nicht dessen Verdienst geschmälert, das gemeinsame Element des Dienst- und Werkvertrags herausgearbeitet zu haben, indem er sie als Verträge begreift, in denen sich jemand zur Leistung von Arbeit gegen ein Entgelt verpflichtet 48 . Der Unterschied liegt, wie bereits Lotmar erkannt hat, nicht in der Art der Arbeit 4 '. Er ergibt sich auch nicht daraus, daß der Vertragspartner bei der Erbringung der Arbeit Weisungen erteilen kann, sondern maßgebend ist allein der Inhalt des Leistungsversprechens50. Während er beim Werkvertrag durch die übernommene Arbeitsaufgabe bestimmt wird, es sich also um einen erfolgbestimmten Arbeitsvertrag handelt, wird im Dienstvertrag eine zeitbestimmte Leistung erbracht. Im Rahmen des allgemeinen Typus des Dienstvertrags hat man nach Nikisch zu unterscheiden, ob es sich bei den versprochenen Diensten um eine bestimmt abgegrenzte Einzelleistung handelt oder ob eine Dauerbeziehung begründet wird und deshalb die geschuldete Arbeit nur ihrer Art nach bestimmt wird51. Im letzteren Fall soll es sich um den Anstellungsvertrag handeln, der sich aus dem allgemeinen Typus des Dienstvertrags als eine besondere Vertragsart abhebt. Nicht jeder Dienstvertrag begründet ein Dauerschuldverhältnis, auch wenn zu seinen Wesensmerkmalen gehört, daß die Tätigkeit nicht durch sich selbst begrenzt, sondern zeitbestimmt ist. Es kann auch in einem derartigen Fall eine bestimmt abgegrenzte Einzelleistung vorliegen. Von diesem Leistungsversprechen hat man deshalb zu unterscheiden, daß eine Dauerbeziehung hergestellt wird, bei der die geschuldete Arbeit nur ihrer Art nach bestimmt ist; denn bei Begründung eines derartigen Schuldverhältnisses wird ein „unmittelbares Herrschaftsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer" geschaffen, „auf Grund dessen die einzelnen Leistungen gefordert werden können, und hierin liegt der grundlegende Unterschied gegenüber Arbeitsverträgen anderer Art" 52 . Der Arbeitsvertrag bildet also einen besonderen Vertragstypus innerhalb des Dienstvertrags, weil die zugesagte Arbeitsleistung keine im voraus bestimmte, abgegrenzte Einzelleistung darstellt, sondern sich auf eine nur der Art nach bestimmte Tätigkeit bezieht. Deshalb wird im Gegensatz zu dem auf bloßen Austausch von Leistungen gerichteten Dienstvertrag ein Dauerschuldverhältnis begründet, das dem Arbeitgeber die Möglichkeit gibt, im Rahmen des Vertrags über die Arbeitskraft 47 Ph. Lotmar, Der Arbeitsvertrag nach dem Privatrecht des Deutschen Reiches, Bd. I, 1902, Bd. II, 1908. 48 Lotmar, a.a.O., Bd.I S.32. 45 Lotmar, a.a.O., Bd.I S.91. 50 So Nikisch, Grundformen des Arbeitsvertrags (s. Fn. 46). S. 14. 51 Nikisch, a.a.O., S. 115ff. 52 So Nikisch, a. a. O., S. 117; ähnlich Jacobi, Grundlehren (s. Fn. 19), S. 58.
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des Arbeitnehmers zu verfügen. Soweit dadurch Herrschaftsgewalt vermittelt wird, ist dies keineswegs eine Besonderheit des Arbeitsverhältnisses, sondern die Vermittlung von Herrschaftsgewalt ist eine Erscheinungsform des Dauerschuldverhältnisses: Wie der Mietvertrag "ein Herrschaftsverhältnis einer Person über eine Sache, so wird hier ein Herrschaftsverhältnis einer Person über eine andere begründet"". Darin liegt der für das Arbeitsrecht maßgebliche Grundtatbestand der abhängigen Arbeit, nicht aber in einer vorgegebenen persönlichen Abhängigkeit des Arbeitnehmers. Wer eine abgegrenzte zeitbestimmte Leistung zu erbringen hat, steht nicht in einem Dauerschuldverhältnis. Er wird deshalb in der Regel seine Arbeitskraft zum Abschluß von Dienstverträgen mehreren Personen anbieten. Es kommt daher nicht zu einer Dauerrechtsbeziehung, die es gestattet, die Empfänger der Dienstleistung mit dem Arbeitgeberrisiko zu belasten. Wer dagegen in einem durch Dienstvertrag begründeten Dauerschuldverhältnis steht, ist typischerweise Arbeitnehmer. Etwas anderes gilt nur, wenn besondere Umstände es ausschließen, daß arbeitsrechtliche Grundsätze auf das Vertragsverhältnis Anwendung finden, weil entweder wie beim Handelsvertreter die Selbständigkeit gewahrt bleibt und es daher gerechtfertigt ist, daß ihn das Unternehmerrisiko trifft, oder jemand als Mitglied des gesetzlichen Vertretungsorgans in einem Anstellungsverhältnis zur juristischen Person steht und damit eine unternehmerische Funktion wahrnimmt. Doch zeigen gerade diese Fälle, daß die Nichtanwendung von Arbeitsrecht immer dort zum Problem wird, wo eine Dauerrechtsbeziehung besteht. Die Ständigkeit der Betrauung, für einen anderen Unternehmer Geschäfte zu vermitteln oder in dessen Namen abzuschließen (§ 84 Abs. 1 Satz 1 HGB), begründet für die Handelsvertreter eine Sonderstellung unter den Unternehmern; sie hat dazu geführt, daß im Handelsvertreterrecht ein besonderer, zwingend gestalteter Sozialschutz eingeräumt wird. Wenn der Handelsvertreter vertraglich nicht für weitere Unternehmer tätig werden darf oder ihm dies nach Art und Umfang der von ihm verlangten Tätigkeit nicht möglich ist, kann sogar durch Rechtsverordnung die untere Grenze der vertraglichen Leistungen des Vertragspartners festgesetzt werden, um die notwendigen sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnisse des Handelsvertreters sicherzustellen (§92 a HGB). Für einen derartigen Handelsvertreter ist, wenn er im Durchschnitt monatlich nicht mehr als 2000 DM verdient, bei Rechtsstreitigkeiten aus dem Vertragsverhältnis das Arbeitsgericht zuständig (§5 Abs. 3 ArbGG), und er hat als arbeitnehmerähnliche Person Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub (§ 2 Satz 2 BUrlG). Bei den Mitgliedern der gesetzlichen Vertretungsorgane einer 53
So zutreffend Nikisch, a. a. O., S. 154; vgl. auch dort S. 121 f.
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juristischen Person verbieten die mit der Funktion verbundene Zuständigkeit und Verantwortung für das Unternehmen eine Gleichstellung mit den Arbeitnehmern 54 . Wenn es sich aber um ein abhängiges Konzernunternehmen handelt, können sie zu dem herrschenden Unternehmen in einem Arbeitsverhältnis stehen, zu dessen Inhalt gehört, die Funktion als Mitglied eines gesetzlichen Vertretungsorgans in dem abhängigen Unternehmen wahrzunehmen. VI. Ergebnis Die Arbeitnehmereigenschaft darf nicht personenrechtlich durch das Merkmal der persönlichen Abhängigkeit bestimmt werden; sie wird vielmehr vertragsrechtlich festgelegt. Konstitutives Element für die Annahme eines Arbeitsverhältnisses ist das Zeitmoment bei Erbringung der Arbeitsleistung; denn wer nur eine bestimmte Dienstleistung schuldet, steht nicht im Dienst eines anderen. Die Arbeitnehmereigenschaft kommt deshalb nur in Betracht, wenn durch den Dienstvertrag ein Dauerschuldverhältnis begründet wird. Aus ihr ergibt sich die Abhängigkeit, die den Grundtatbestand für das Arbeitsrecht bildet, nicht aber aus einer vorgegebenen persönlichen Abhängigkeit des Arbeitnehmers. Beachtet man die Relativität des Arbeitnehmerbegriffs, so erhält man den Schlüssel, um zu bestimmen, ob und inwieweit bei einer Kurzzeitoder Teilzeitbeschäftigung Arbeitsrecht Anwendung findet.
M Vgl. G.Hueck, Bemerkungen zum Anstellungsverhältnis von Organmitgliedern juristischer Personen, in: Festschrift für Marie Luise Hilger und Hermann Stumpf, 1983, S. 365 ff.
Recht und Prüfungen GERD ROELLECKE
Als Jurist muß man erhobenen Hauptes über Prüfungsfragen sprechen. Denn die juristischen Staatsprüfungen zeichnen sich durch etwas aus, das von einer verbreiteten öffentlichen Moral nicht besonders geschätzt wird: durch hohe Selektivität. Die Erste Juristische Staatsprüfung hat mit 24,2 % die höchste Durchfallquote. Durchschnittlich fallen nur 7,3 % der Studenten durch. Und in Nordrhein-Westfalen bestehen etwa zwei Drittel aller Hochschulabsolventen mit „gut" oder „sehr gut" 1 . Die Erste Juristische Staatsprüfung ist also in der Sicht jener öffentlichen Moral überdurchschnittlich inhuman. Damit der Jurist dieser Moral widerstehen kann, benötigt er das erhobene Haupt, wenn er über Prüfungen spricht. Daß sich die hohe Selektivität der Ersten Juristischen Staatsprüfung auch über die Zeit der Studentenunruhen hinweg bis heute erhalten hat, ist nicht das Verdienst der Universitäten. Man braucht nur die anderen Hochschulprüfungen mit der juristischen Staatsprüfung zu vergleichen, um mit den Unterschieden zugleich die Ursachen zu sehen. In den juristischen Examina: zahlreiche Einzelleistungen, weitgehende Trennung von Lehrgewalt und Prüfungsgewalt, starke Beteiligung von Praktikern, gegenseitige Kontrolle der Prüfer, ausdifferenzierte Prüfungsbürokratie, vor allem aber: Orientierung an der Fachkunde einer kräftigen, traditionsreichen Profession - des Juristenstandes, der einfach Qualitätsansprüche stellt. Das sollten die Rechtsfakultäten bei allem berechtigten Stolz auf die hohe Selektivität des Ersten Juristischen Staatsexamens nicht vergessen. Wir werden noch sehen, daß gerade die Beteiliguung von Praktikern wesentlich zur Validität der Staatsprüfungen beiträgt. I. Dogmatik des Prüfungsrechtes Aber so erfreulich die Prüfungspraxis der Juristen immer noch ist, die Dogmatik des Prüfungsrechtes ist es weniger. Beim Prüfungsrecht muß man zwei große Aspekte unterscheiden: den Rahmen für die gerichtliche 1 Vgl. den Bericht über die Angaben des Statistischen Bundesamtes für 1981 „Nur wenige Kandidaten fallen in Hochschulprüfungen durch", FAZ vom 3. September 1983 S.l.
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Gerd Roellecke
Kontrolle von Prüfungsentscheidungen und den verfassungsrechtlichen Hintergrund, der das Prüfungswesen inhaltlich strukturiert. 1. Rahmen
der gerichtlichen
Kontrolle
Der Rahmen für die gerichtliche Kontrolle von Prüfungsentscheidungen sei hier nur der Vollständigkeit halber grob abgesteckt. Die Prinzipien sind bekannt und anerkannt2: Prüfer haben einen „Beurteilungsspielraum". Die Gerichte dürfen jedoch fragen, ob das Prüfungsverfahren fair ist, ob die Prüfer die allgemein anerkannten Bewertungsgrundsätze berücksichtigt haben und ob die Entscheidung auf sachfremden Erwägungen beruht oder sonst willkürlich ist. Insgesamt ist für die Instanzgerichte der entscheidende Gesichtspunkt, unter dem sie Prüfungen kontrollieren, die Rechtsstaatlichkeit des Prüfungsverfahrens. Das Prüfungsverfahren muß ungefähr den Regeln eines fairen Prozesses entsprechen. Prozessual wird an der Zulässigkeit einer Klage gegen Prüfungsentscheidungen, insbesondere an der Klagebefugnis, nicht mehr gezweifelt, wenn auch Einzelheiten umstritten sind wie die Rechtsnatur der Einzelnote3. Natürlich haben die Bürger - genauer: die angehenden Akademikerdiese Klagemöglichkeit fleißig in Anspruch genommen. Entsprechend zahlreich sind die Entscheidungen. Aber wie sich die Entscheidungen insgesamt ausgewirkt haben, sollte man an der Inflation der Hochschulprüfungen und der Noten ablesen: bestenfalls überhaupt nicht. Wenn allein in Nordrhein-Westfalen zwei Drittel aller Hochschulabsolventen mit „gut" und besser bestehen, wird jedenfalls niemand zu behaupten wagen, die gerichtliche Kontrolle haben die Prüfungen gerechter gemacht, weil niemand zu behaupten wagt, zwei Drittel aller Absolventen hätten ungefähr gleiche überdurchschnittliche Leistungen erbracht. Es spricht im Gegenteil einiges dafür, daß die gerichtliche Kontrolle der Prüfungen die Noteninflation zwar nicht hauptsächlich verursacht, aber doch dazu beigetragen hat. 2. Verfassungsrechtlicher
Hintergrund
Das wird deutlich, wenn man den verfassungsrechtlichen Hintergrund bedenkt, der das Prüfungsverfahren strukturiert. 2 Vgl. Bernhard Stüer, Die gerichtliche Kontrolle von Prüfungsentscheidungen, DOV 1974 S. 258 ff.; Norbert Niehues, Schul- und Prüfungsrecht, München 1976, Rdn. 473, und die jüngste Darstellung von Klaus Grupp, Gerichtliche Kontrolle von Prüfungsnoten - VG Sigmaringen, BaWüBl. 1981 S.363, JuS 1983 S.351, 352 m.w.N. Speziell zu Studienabschlüssen siehe: Hans-Joachim Strauch, Staatliche und akademische Prüfungsordnungen. Verfassungsrechtliche Analyse eines Steuerungsinstruments, Heidelberg/Hamburg 1978. 3 Dazu Grupp, a. a. O.
Recht und Prüfungen
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a) Freiheitsrechte und Prüfungsinflation Das Bundesverfassungsgericht mißt Prüfungsentscheidungen in ständiger Rechtsprechung am Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG)\ Für das Verhältnis zwischen staatlichen Entscheidungen und Freiheitsrechten - also auch für das Verhältnis zwischen Prüfungsentscheidungen und Berufsfreiheit - gilt aber ein grundsätzliches Verteilungsprinzip, das Carl Schmitt so formuliert hat: „die Freiheit des Einzelnen (ist) prinzipiell unbegrenzt, während die Befugnis des Staates zu Eingriffen in diese Sphäre prinzipiell begrenzt ist". So hart wird dieses Prinzip allerdings nicht mehr vertreten. Daß sich die Freiheitsrechte „im Zweifel" zugunsten des beschwerdeführenden Bürgers auswirken, wird heute mit dem hohen, höheren und höchsten Rang der Grundrechte begründet6. Aber das Ergebnis bleibt das gleiche. Wenn man Prüfungsentscheidungen an Grundrechten mißt, geraten sie unter beträchtlichen zusätzlichen Rechtfertigungsdruck. Dieser Druck wirkt sich auch bis in jedes einzelne Gerichtsverfahren aus. Im verwaltungsrechtlichen Verfahren setzt die Klagebefugnis nach herrschender Lehre zwar nur voraus, daß der Kläger die Verletzung eines rechtlich geschützten Interesses geltend macht (§42 Abs. 2 VwGO), aber die Verletzung von Grundrechten verleiht in jedem Fall die Klagebefugnis7, und bei Prüfungsentscheidungen steht immer eine Verletzung der Berufsfreiheit im Raum. Jedenfalls müssen die Verwaltungsgerichte damit rechnen, daß das Bundesverfassungsgericht ihre Entscheidung an dieser Norm mißt. Sie werden deshalb das grundsätzliche Verteilungsprinzip zwischen staatlicher Befugnis und individueller Freiheit bei jeder einzelnen Entscheidung berücksichtigen8. Daß die Kontrolle von Prüfungsentscheidungen an einem Freiheitsrecht einen zusätzlichen Rechtfertigungsdruck erzeugt, der bis in die Verfahren der Instanzgerichte wirkt, mag noch einleuchten, scheint aber nicht zu belegen, daß die gerichtsförmige Kontrolle Prüfungen und Prüfungsnoten inflationiert. Aber die soziale Realität ergibt sich nicht aus der bloßen Zahl und Schwere von Einzelfällen. Sie liegt darin, daß 4 BVerfGE 13 S. 97ff. (Befähigungsnachweis für das Handwerk); 52 S. 38 ff. (Erste Juristische Staatsprüfung) 5 Verfassungslehre, München und Leipzig 1928, Neudruck Berlin 1957, S. 126. ' Wegen der Einzelheiten vgl. Gerd Roellecke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, in: Christian Starck (Hrsg.) Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichtes, 2. Band, Tübingen 1976, S.22, 42. 7 Vgl. Ey ermann/Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, 8. Aufl. München 1980, §42 Rdn. 98 c. ' Näher: Gerd, Roellecke, Höchstrichterliche Rechtsprechung - politisch betrachtet, DRiZ 1983, S. 258, 261 f.
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Gerd Roellecke
viele Menschen beginnen, die Fälle jederzeit für möglich zu halten und sich auf sie einzustellen. Daß heißt, mit Rücksicht auf die Möglichkeit der gerichtlichen Kontrolle verhält sich jeder einzelne Prüfer zur Rechtsprechung der Instanzgerichte etwa so, wie die Instanzgerichte zur Rechtsprechung der Obergerichte, nur mit einem Unterschied: in den Instanzgerichten sitzen Fachleute, welche die Folgen ihrer Entscheidung und die Reaktion der Obergerichte leidlich abschätzen können. Die meisten Prüfer aber sind juristische Laien. Deshalb werden die meisten Prüfer einerseits versuchen, ihre Entscheidungen so gerichtssicher zu machen wie die Richter ihre Entscheidungen revisionssicher. Andererseits fehlt es ihnen an der Ubersicht und am juristischen Handwerkszeug. Also werden sie das tun, was ihnen möglich ist: sie werden dem Prüfling jeden Anlaß zur Klage nehmen, indem sie ihn bestehen lassen und ihm nach Möglichkeit eine gute Note geben. Das Ergebnis kann man dann beim Statistischen Bundesamt erfragen.
b) Prüfungen
und
Berufsfreiheit
Daß das edle Grundrecht der Berufsfreiheit die Prüfungsinflation begünstigt, ist ein so unerfreuliches Ergebnis, daß man fragen muß, ob die verfassungsrechtliche Dogmatik stimmt, das heißt, ob die stereotype Behauptung des Bundesverfassungsgerichts richtig ist, „Vorschriften, die für die Aufnahme eines Berufs eine bestimmte Vor- und Ausbildung sowie den Nachweis der erworbenen Fähigkeiten durch Bestehen einer Prüfung verlangen", seien in erster Linie an Art. 12 Abs. 1 G G zu messen'. Die Kontrolle von Prüfungsbestimmungen am Maßstab der Berufsfreiheit ist eine der vielen problematischen Konsequenzen des Apotheken-Urteils 10 . Im Apotheken-Urteil ging es um die Frage, ob es mit Art. 12 Abs. 1 G G vereinbar ist, die Zulassung zum Beruf vom Bedarf abhängig zu machen. Das war eine schwierige Frage. Denn einerseits enthält der Wortlaut des Art. 12 Abs. 1 G G nur für die Berufsausübung, nicht aber für die Berufswahl einen Gesetzesvorbehalt. Andererseits lehrt schon ein flüchtiger Blick etwa in die Gewerbeordnung, daß der Gesetzgeber die Aufnahme vieler Berufe an eine Genehmigung oder Erlaubnis gebunden hat. Diese Regelungen alle für verfassungswidrig zu erklären, wäre absurd gewesen. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Wortlaut durch seine bekannte Dreistufentheorie Rechnung zu tragen versucht". Wegen des ' BVerfGE 52 S. 380, 388 mit weiteren Nachweisen; gleichsinnig die Lehre, vgl. Nobert Niehues, (o. Fn. 2) Rdn. 357; Bernhard Stiier, Prüfungsordnungen und Grundgesetz, JR. 1974 S.445, 447f.; Strauch (o. Fn.2) S.87ff. m.w.N. 10 BVerfGE 7 S. 377 ff. 11 BVerfGE 7 S.377, 405 ff.
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ausdrücklichen Gesetzesvorbehaltes dürfe der Gesetzgeber die Berufsausübung aus allen vernünftigten Gemeinwohlgründen einschränken. Auf dieser ersten Stufe sei er am freiesten. Da sich jede Regelung der Berufsausübung auch auf die Berufswahl auswirke, umfasse der Gesetzesvorbehalt für die Berufsausübung auch die Berufswahl. Jedoch seien einer Regelung der Berufswahl wesentlich engere Grenzen gezogen. Man müsse aber unterscheiden. Mache der Gesetzgeber die Zulassung zu einem Beruf von einer persönlichen Qualifikation abhängig, so verlange er vom Einzelnen grundsätzlich nur, was dieser der Sache nach ohnehin auf sich nehmen müsse, wenn er den Beruf ordnungsmäßig ausüben wolle. Auf dieser zweiten Stufe der subjektiven Zulassungsvoraussetzungen sei der Gesetzgeber daher nur an das Verhältnismäßigkeitsprinzip in dem Sinne gebunden, daß die verlangte Qualifikation nicht außer Verhältnis zur ordnungsmäßigen Erfüllung der Berufstätigkeit stehen dürfe. Stelle der Gesetzgeber jedoch objektive Bedingungen für die Berufszulassung auf - dritte Stufe - das heißt, Bedingungen, die dem Einfluß des Einzelnen schlechthin entzogen seien - beispielsweise ein bestimmter Bedarf - so sei das in der Regel ein so schwerer Eingriff in die Berufsfreiheit, daß ihn „nur die Abwehr nachweisbarer oder höchstwahrscheinlicher schwerer Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut" legitimieren könne12. Heute ist die Dreistufentheorie kaum mehr als eine Eselsbrücke für den Rechtsunterricht und die juristische Argumentation". Eine Prognose der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen hat sie freilich noch nie erlaubt. Daß das Bundesverfassungsgericht an die Nachweislichkeit, Höchstwahrscheinlichkeit und Schwere der Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinwohlgut bei Uhrmachern, Müllern, Mineralölhändlern und Weinbauern erheblich geringere Ansprüche gestellt hat als bei Apothekern, Ärzten und Zahnärzten, d.h. als bei Akademikern, habe ich an anderer Stelle14 gebührend erläutert. Für Prüfungen gilt indessen grundsätzlich nicht die dritte, sondern die zweite Stufe der Grundrechtseinschränkung. Prüfungen fallen unter „subjektive Zulassungsvoraussetzungen", jedenfalls nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichtes, an der es bis heute festhält. Ich werde aber zu zeigen versuchen, daß das Bundesverfassungsgericht das von ihm selbst aufgestellte Beurteilungskriterium: die Verhältnismäßigkeit von Prüfungsanforderungen und ordnungsmäßiger Erfüllung der Berufstätigkeit, bisher noch in keinem Fall sachgerecht angeBVerfGE 7 S.377, 408. " Vgl. vor allem die glänzende Analyse der Rechtsprechung von Bernhard Abwägung im Verfassungsrecht, Berlin 1976, bes. S. 68 ff. " Roellecke (o. Fn.6) S.44f. 12
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wandt hat. Natürlich sind negative Beweise schwer zu führen. Ich muß mich darauf beschränken, drei Beispiele zu nennen, und darauf vertrauen, daß die Evidenz der Beispiele meine Kritik plausibel macht. Das erste Beispiel ist die Handwerks-Entscheidung 15 , in der es um den Antrag eines Uhrmachergesellen ging, ihm ausnahmsweise den selbständigen Betrieb eines Uhrmachergeschäftes ohne Meisterprüfung zu gestatten. Der Geselle hatte geltend gemacht, zwar könne er wegen einer Versteifung seines linken Ellenbogen- und Handgelenks die bei der Meisterprüfung geforderten komplizierten Arbeiten nicht ausführen. Tatsächlich leite er jedoch seit Jahren zur allseitigen Zufriedenheit das Uhrmachgeschäft seines schwerkranken Vaters und habe damit bewiesen, daß er die zur ordnungsmäßigen Berufsausübung erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten besitze. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch ungerührt erklärt, der Gesetzgeber brauche sich bei der Regelung der Meisterprüfung nicht darauf zu beschränken, „Gefahren für die Gesamtheit oder die Einzelnen aus einer unsachgemäßen Berufsausübung abzuwenden". Maßgebend könne auch „das Interesse an der Erhaltung und Förderung eines gesunden, leistungsfähigen Handwerksstandes als Ganzes" sein". Dem ist beizupflichten. Der Gesetzgeber muß Prüfungen zur politischen Steuerung einsetzen können. Eine Beeinflussung der Rekrutierung ist das wichtigste und oft einzig effektive Steuerungsinstrument 17 . Aber daß die Gesundheit und Leistungsfähigkeit des Handwerksstandes als Ganzem zur ordnungsmäßigen Erfüllung der Berufstätigkeit gehört, das kann man wirklich nicht behaupten. Der handwerkliche Standard ist zwar nur die Latte, nach deren Höhe die Prüfungsanforderungen gemessen werden, das heißt, die der Prüfling überspringen muß, wenn er zugelassen werden will. Aber wie hoch die Latte zu liegen hat, das überläßt die Handwerks-Entscheidung dem diskreditionären Ermessen des Gesetzgebers, während das ApothekenUrteil behauptet hatte, die Lage der Meßlatte werde durch das Kriterium „ordnungsgemäße Erfüllung der Berufstätigkeit" bestimmt. Das zweite Beispiel: Ein Hamburger Kandidat der Rechte war das erste Mal durch das Examen gefallen, hatte aber in der Wiederholungsprüfung so gute schriftliche Arbeiten vorgelegt, daß er rechnerisch im Mündlichen selbst bei null Punkten in allen Fächern nicht mehr durchfallen konnte. In der mündlichen Prüfung sagte dieser Kandidat kein einziges Wort. Daraufhin ließ ihn der Prüfungsausschuß durchfallen. Auf die Verfassungsbeschwerde des Kandidaten beschwörte das Bundes-
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BVerfGE 13 S.97ff. BVerfGE 13 S.97, 110. So mit Recht Strauch (o. Fn.2), S. 10 ff.
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Verfassungsgericht18 zunächst den Grundsatz, daß Prüfungsentscheidungen den Freiheitsraum des Art. 12 Abs. 1 G G berühren, und hob dann die angegriffene Entscheidung mit der Begründung auf, der Prüfungsausschuß habe den Kandidaten nicht darauf hingewiesen, daß sein Schweigen als Unterbrechung der Prüfung interpretiert werden und deshalb zum Nichtbestehen führen könne. O b das verfassungswidrig war, ist allerdings fraglich. Es ist nicht einmal sicher, ob es dem Kandidaten gegenüber unfair war. Schließlich wußte der Kandidat um die Bedeutung der mündlichen Prüfung. Uberhaupt: Wenn das Verhalten einer Behörde im Verfahren nicht das rechtliche Gehör (Art. 103 Abs. 1 G G ) " verletzt, ist eigentlich nicht einzusehen, wie es gegen materielle Grundrechte verstoßen könnte. Aber das Gericht wollte den Prüfungsausschuß wohl nur taktvoll darauf hinweisen, daß es für die Entscheidung „Nicht bestanden" in diesem Fall keine gesetzliche Grundlage gab. Für das Gesetzmäßigkeitsprinzip braucht man indessen die Grundrechte nicht zu bemühen. Es ergibt sich aus Art. 20 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG. Für unseren Zusammenhang ist ein anderer Gesichtspunkt wichtig. Wenn das Bestehen der Ersten Juristischen Staatsprüfung eine subjektive Voraussetzung für die Zulassung zum Juristenberuf ist, dann hätte das Gericht unter dem Aspekt des Art. 12 Abs. 1 G G nach der Dreistufentheorie nur prüfen dürfen, ob die Mitwirkung des Kandidaten in der mündlichen Prüfung außer Verhältnis zur ordnungsmäßigen Erfüllung der Berufstätigkeit steht. Das kann man aber beim besten Willen nicht sagen. Die Erste Juristische Staatsprüfung ist eine der beiden Prüfungen, mit denen die Befähigung zum Richteramt erworben wird (§ 5 Abs. 1 DRiG). Ein Richter braucht nun vieles nicht zu können. Aber eines muß er können: Sprechen. Unter dem Aspekt des vielberufenen Praxisbezuges war die Entscheidung des Hamburger Prüfungsausschusses daher völlig richtig und nach der Dreistufentheorie auch verfassungsmäßig. Das dritte Beispiel zeigt besonders deutlich, wie fragwürdig es ist, Prüfungsentscheidungen allein auf die Berufswahl zu beziehen. Bekanntlich hat das Bundesverfassungsgericht eine sachgerechte politische Lösung des Hochschulzugangsproblems dadurch erschwert, daß es jedem „hochschulreifen Staatsbürger" ein Recht auf einen Studienplatz zugesprochen hat. Im sogenannten ersten Numerus-clausus-Urteil vom 18. Juli 197220 hat es den absoluten Numerus clausus in einer bestimmten Fachrichtung als objektive Zulassungsvoraussetzung im Sinne der Drei" BVerfGE 52 S. 380, 388. " Vgl. die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zum rechtlichen Gehör, vor allem BVerfGE 54 S. 100, 117; 31 S.364, 370. 20 BVerfGE 33 S.303, 332.
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Stufentheorie betrachtet. Die Begründung im einzelnen nachzuzeichnen, lohnt nicht. Sie ist einfach schlechte Dogmatik, trotz des Lobes, das sie erfahren hat. In den harten Numerus-clausus-Fächern brauchten jedenfalls auch weiterhin nicht alle Bewerber zugelassen zu werden. Außerdem inflationierten die Abiturnoten. Deshalb mußte sich das Gericht im zweiten Numerus-clausus-Urteil vom 8. Februar 197721 wohl oder übel mit weiteren Auslesekriterien befassen, neben Los und Wartezeit auch mit der Durchschnittsnote im Abitur. In diesem Zusammenhang schreibt das Gericht: Uberhohe Durchschnittsnoten „stünden . . . als Zulassungsvoraussetzungen außer Verhältnis zu den Erfordernissen des angestrebten Berufs"22. Diese Bezugnahme auf die zweite Stufe der Einschränkung der Berufsfreiheit ist von besonderem Interesse. Einmal wirft sie die Frage auf, ob der Numerus clausus wirklich eine objektive Zulassungsvoraussetzung ist und nur Grundrechtseinschränkungen der dritten Stufe gestattet, oder ob er eine subjektive Zulassungsvoraussetzung ist und von den Bewerbern nur bestimmte Leistungen verlangt, die sie beeinflussen können, nämlich gute bis sehr gute Abiturnoten, jedenfalls leichter beeinflussen können als jener Uhrmachergeselle die Beweglichkeit seiner Finger und Hände, oder ob die Beeinflußbarkeit des Prüfungsergebnisses überhaupt ein sinnvolles Unterscheidungskriterium ist. Soll die Berufswahlfreiheit eines Dummkopfes wirklich mehr wert sein als die Berufswahlfreiheit einer Intelligenzbestie? Zum anderen ist die Einordnung der Abiturnote als subjektive Zulassungsvoraussetzung für den Beruf interessant, weil sie die Frage aufwirft, was das Abitur mit dem Beruf zu tun hat. Für die Anwendung der Dreistufentheorie kann es nicht darauf ankommen, ob eine Maßnahme wegen ihrer tatsächlichen Auswirkungen geeignet ist, die Berufsfreiheit mittelbar zu beeinträchtigen, wie das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung über den Ausschluß vom rheinland-pfälzischen Oberstufenkolleg meint23. Käme es auf die tatsächliche mittelbare Beeinträchtigung an, müßte nicht nur das gesamte Schulrecht nach Art. 12 Abs. 1 GG beurteilt werden, weil jede Nichtversetzung oder Benotung die Berufsfreiheit tatsächlich mittelbar berührt, es würden auch die Differenzierungen eingeebnet, die das Bundesverfassungsgericht selbst aus dem Wortlaut des Art. 12 Abs. 1 GG abgeleitet hat. Subjektive Zulassungsvoraussetzungen im Sinne des Apotheken-Urteils sind doch nicht irgendwelche Maßnahmen, die die Berufsfreiheit irgendwie tangieren, sondern nur solche, die der Gefahrenabwehr dienen, indem sie vom Berufsbewerber das verlangen, „was er grundsätzlich der Sache nach 21 22 25
BVerfGE 43 S. 291 ff. BVerfGE 43 S.291, 320; vgl. auch S.314. BVerfGE 41 S.251, 262.
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ohnehin auf sich nehmen müßte, wenn er den Beruf ordnungsmäßig ausüben will" 24 . Wenn subjektive Zulassungsvoraussetzungen gleichsam als vorweggenommene Berufspraxis verstanden werden, dann kann man sie in der Tat mit der angestrebten Berufspraxis vergleichen und daran kontrollieren. Aus genau diesem Grunde kann aber das Abitur keine subjektive Zulassungsvoraussetzung sein. Es intendiert keine Zulassung zum Beruf, sondern nur die Zulassung zu einer Ausbildung, die Feststellung der Hochschulreife. Was immer das Abitur mit dem Beruf zu tun hat, daß man seine Anforderungen nicht durch einen Vergleich mit der späteren Berufspraxis kontrollieren kann, wird nur der Uneinsichtige nicht einsehen. Statt zu fragen, welchen Einfluß differenziertere Kenntnisse in Mathematik, Physik, Chemie oder Kunst auf die Berufspraxis des Juristen haben, sei daran erinnert, daß in Heinrich Spoerls „Feuerzangenbowle" der Professor Crey dem Schüler Pfeiffer, der im Deutschen mangelhaft stand, empfiehlt: „Sochen Sä sich einen Berof, bei dem Sä wenig zu schreiben haben. A m besten werden Sä Zahnarzt". Wenn man aber das Abitur unbedingt als subjektive Zulassungsvoraussetzung interpretieren will, dann muß man fragen, ob es „zu dem angestrebten Zweck der ordnungsmäßigen E r f ü l l u n g . . . ( = des Studiums d. Verf.) nicht außer Verhältnis" steht24, dann muß man nach der Studierfähigkeit fragen. Die Studierfähigkeit ist aber ein so heißes Eisen 25 , daß man versteht, wenn das Bundesverfassungsgericht es nicht anfassen wollte 2 '. N u r - diese Vorsicht beantwortet nicht die Frage nach der Bedeutung des Abiturs für Hochschulzugang und Beruf. Denn andererseits ist es offenkundig, daß ohne Abitur bestimmte Berufe schwer erreichbar sind, etwa der eines Richters. Ebenso offenkundig ist aber auch, daß die Beziehungen zwischen Abitur und Beruf viel zu komplex sind, als daß man die Anforderungen im Abitur unmittelbar an den Notwendigkeiten der Berufspraxis messen könnte. Das gilt aber nicht nur für das Abitur, sondern auch für die Prüfungen, die für die Berufswahl unmittelbar erheblich sind. Die HandwerksEntscheidung hatte gezeigt, daß in einer Prüfung mehr verlangt werden kann, als die Berufspraxis fordert, die Referendar-Entscheidung, daß es auch weniger sein darf. Dieses Ergebnis ist jedoch mit der Orientierung des Prüfungsrechtes an der Berufswahlfreiheit nicht verträglich 27 . Wir wollen deshalb versuchen, das Prüfungsproblem von den sozialen FunkBVerfGE 7 S. 377, 407. Uberblick über die Probleme bei Gerd Roellecke, Studienvoraussetzungen, in: Christian Flämig u.a., Handbuch des Wissenschaftsrechts, Berlin/Heidelberg 1982, S. 721 ff. 26 Vgl. BVerfGE S. 303, 345. 27 Strauch (o. Fn. 2) S.95, der bereits eine ähnliche Kritik vorgetragen hat, hält gleichwohl daran fest, daß Prüfungsordnungen an Art. 12 Abs. 1 G G zu messen sind. 24
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tionen der Prüfungen her zu analysieren, und dann aus dieser Analyse Konsequenzen für die Dogmatik des Prüfungsrechtes ziehen. II. Soziale Funktion von Prüfungen Wir ersparen uns die gängige Kritik am Prüfungswesen. Wenn man entsprechende Maßstäbe anlegt, kann man natürlich immer sagen, Prüfungen seien nicht objektiv, sachgemäß und gerecht durchzuführen28. Man kann Prüfungen auch als Initiierungsriten, Selbstbeweihräucherungsaktionen der Prüfer und Maßnahmen zur Stabilisierung von Klassenherrschaft bezeichnen. Solange man Prüfungen nicht abschafft, sollte man besser darüber nachdenken, welchen Sinn sie haben. Ich beginne das Nachdenken mit einer Definition2', die ich anschließend erläutere: Prüfungen sind relativ verselbständigte, rechtliche Ausleseverfahren, die Erziehung und gesellschaftliche Arbeitsteilung verbinden. Prüfungen sind also nicht einfach Selektionen. Versetzungsentscheidungen beispielsweise sind keine Prüfungen, weil sie Entscheidungen im Erziehungssystem für das Erziehungssystem sind30. 1. Erziehung und Arbeitsteilung Wenn man Prüfungen als verselbständigte Verfahren zwischen Erziehungssystem und gesellschaftlicher Arbeitsteilung versteht, kann man die soziale Funktion von Prüfungen verdeutlichen, wenn man das Verhältnis zwischen Erziehung und Gesellschaft klärt. Das Verhältnis ist einfach. Erziehung hat die Aufgabe, die Gesellschaft in all ihren Teilen zu reproduzieren. Diese Aufgabe führt nicht zu Prüfungen, solange die gesellschaftlichen Teilsysteme die Erziehung selbst übernehmen, wie in einer ständischen Gesellschaft. Der Kronprinz beispielsweise wurde zwar bewußt erzogen, brauchte aber keine Prüfung abzulegen, weil ohnehin feststand, daß er einmal das Fürstentum erben würde, wenn er sich standesgemäß verhielt. Ähnlich der Bauer. Prüfungsähnliche Verfahren mußten freilich dort entstehen, wo hohe Mobilität verlangt wurde und deshalb die Einheit von Lebenslauf und Lebensaufgabe nicht durchgehalten werden konnte. So aus wirtschaftlichen Gründen im Handwerk, aus religiösen Gründen in der Kirche und aus politischen Gründen in der 28 Vgl. Karlheinz Ingenkamp, Die Fragwürdigkeit der Zensurengebung, Weinheim 1971. " In Anlehnung an Niklas Luhmann / Karl-Eberhard Schorr, Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, Stuttgart 1979, besonders S. 256 ff. und S. 288 ff. 30 Anders Niehues (o. Fn.2) Rdn.353ff.
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Universität31. Ein akademischer Grad im Ständestaat war aber strukturell ein Ritterschlag, eine Standeserhöhung und kein Prüfungszeugnis. Als verselbständigte Ausleseverfahren konnten und mußten sich Prüfungen indessen entwickeln, als sich das Erziehungssystem verselbständigte, das heißt, als es Schulen gab, die jeder besuchen konnte, als es Lehrer gab, die speziell für ihre Aufgabe ausgebildet wurden und sie hauptberuflich wahrnahmen, und als eine Erziehungswissenschaft entstand, die sich mit nichts anderem beschäftigte als mit Ausbildung. Denn mit der Verselbständigung des Erziehungssystems entstanden für die anderen Teile der Gesellschaft, für Politik, Wirtschaft, Militär, Justiz und so weiter, Auswahlprobleme. Konnte ein Handwerksmeister jemandem vertrauen, der nicht in einer Handwerkerfamilie die notwendigen Kenntnisse erworben und ein standesgemäßes Verhalten eingeübt hatte? War die Kunst des Lesens und Schreibens nicht den Scholaren, Magistern und Doktoren vorbehalten? Verdarb sie nicht die guten alten Sitten? Und wenn ein Handwerksmeister schon nicht der Meinung war, daß Lesen nur auf dumme Gedanken bringt, wie sollte er zwischen denen unterscheiden, die lesen konnten? In dem Maße also, in dem sich das Erziehungssystem verselbständigte, mußte es Anschlüsse an die Gesellschaft finden. Die Anschlüsse mußten jedoch von der Gesellschaft akzeptiert werden. Sie durften daher einerseits mit den Selektionsmaßnahmen im Erziehungssystem nicht identisch sein und mußten andererseits Außenwirkung haben. Das wurde durch zwei Maßnahmen erreicht. Einmal durch besondere, vom allgemeinen Unterricht abgehobene Veranstaltungen und zum anderen dadurch, daß die Veranstaltungen veröffentlicht und durch Recht für allgemeinverbindlich erklärt wurden. Mit einem Satz: der Anschluß wurde durch Prüfungen erreicht32. Das Recht ist also gleichsam das Band, auf dem Prüfungsergebnisse aus dem Erziehungssystem in die Gesellschaft transportiert werden. Diese Analyse zeigt, daß es bei Prüfungen zunächst nicht um Objektivität oder Gerechtigkeit, sondern um die Verzahnung der Leistungen des Erziehungssystems mit den Ansprüchen der Gesellschaft geht. Daraus ergeben sich zwei wichtige Konsequenzen. Die erste: Würden die Prüfungen abgeschafft, müßte das Erziehungssystem seine Selbständigkeit verlieren. Um ihre Existenz und ihre Leistungsfähigkeit zu sichern, müßten die anderen Subsysteme der Gesellschaft für ihren Bedarf die Erziehung selbst in die Hand nehmen. Die Pädagogen, die gegen 31 D a z u : Raban Graf von Westpbalen, Akademisches Privileg und demokratischer Staat. Ein Beitrag zur Geschichte und bildungspolitischen Problematik des Laufbahnwesens in Deutschland, Stuttgart 1979, S . 2 2 , 91 ff. 32 Vgl. auch Strauch, (o. F n . 2 ) S . 2 .
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Prüfungen wettern, sägen daher an dem Ast, auf dem sie sitzen". Die zweite: Es ist eine brandgefährliche - auch für das Erziehungssystem gefährliche - Einseitigkeit, Prüfungen vornehmlich vom Standpunkt des Prüflings aus zu betrachten. Nicht einmal dem Prüfling tut man damit einen Gefallen. Für den Prüfling sind Prüfungen Karriereentscheidungen, die nur dann etwas bedeuten können, wenn sie hinreichend selektiv sind. Andererseits ist es richtig, den Status des Prüflings als rechtlich geschütztes Interesse zu interpretieren. Anders ist eine richterliche Kontrolle der Prüfungen nicht möglich. Eine richterliche Kontrolle von Prüfungen muß aber möglich sein, nicht, weil die Prüfungen dadurch gerechter würden - vor dieser Illusion können uns die Prüfungsstatistiken bewahren - , sondern weil die Möglichkeit richterlicher Kontrolle die Rechtsförmigkeit der Prüfungsentscheidungen demonstriert und weil diese Demonstration für die allgemeine Anerkennung der Prüfungsergebnisse unerläßlich ist. Um mein Bild wieder aufzugreifen: Wenn Recht das Band ist, das die Prüfungsergebnisse in die Gesellschaft transportiert, dann sind die Gerichtsentscheidungen die Rollen, auf denen das Band läuft, und die Gesetze das Gerüst, auf dem das alles montiert ist. 2. Auslese zur Erleichterung der Auslese Wenn nun Prüfungen ausdifferenzierte rechtsförmige Verfahren sind, die das Erziehungssystem an die anderen Subsysteme der Gesellschaft anschließen, dann ist freilich auch zu fragen, wie sich das Erziehungssystem und die anderen Subsysteme der Gesellschaft zum Prüfungssystem verhalten. a) Fördern, Auslesen und Prüfen Aufgabe des Erziehungssystems ist es, hatten wir erklärt, die Gesellschaft in all ihren Teilen zu reproduzieren. Das Erziehungssystem muß die Zöglinge deshalb einerseits an das Erfahrungs- und Diskussionsniveau der Gesellschaft heranführen und in diesem Sinne fördern. Andererseits muß es auf die gesellschaftliche Arbeitsteilung reagieren und die Zöglinge auslesen. Niklas Luhmann und Karl-Eberhard Schon34 haben überzeugend dargelegt, daß sich - entgegen einer besonders unter Pädagogen verbreiteten Meinung - Fördern und Auslesen keineswegs widersprechen, daß der Lehrer vielmehr nur durch Auslese - Lob und Tadel, Zensuren und Versetzungen - fördern kann, weil nur Ausleseentscheidungen den Schüler orientieren. 53 34
Wie hier schon Niehues (o. Fn. 2) Rdn. 354. Oben Fn. 29, S.253.
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Diese Förderung durch Auslese vollzieht sich jedoch in einer Beziehung zwischen Lehrer und Schüler, die ich einmal - grob und ungefähr als persönliches Vertrauensverhältnis bezeichnen möchte. In dieses Vertrauensverhältnis paßt das Recht jedoch nicht hinein. Wegen seiner Allgemeinheit und wegen der möglichen Einbeziehung Dritter entfremdet Recht. Prozesse zwischen Eltern und Kindern oder zwischen Freunden bedeuten in der Regel das Ende der Familie oder der Freundschaft. Entsprechendes gilt für die Lehrer/Schüler-Beziehung. Ein Kind, das sich die Versetzung vor Gericht erstreiten muß, sollte besser die Schule wechseln. Wie immer der Prozeß ausgeht, die Beziehung zum Lehrer bleibt getrübt, weil der Lehrer auf persönliches Vertrauen angewiesen ist, wenn er seine Aufgabe ohne Uberanstrengung erfüllen will. Daraus folgt einmal, daß zwar nicht zwischen Fördern und Auslesen, wohl aber zwischen Fördern und rechtsförmigen Prüfungen ein Widerspruch besteht 35 , und zum anderen, daß Pädagogen zu Prüfungen ein gespaltenes Verhältnis haben. Einerseits benötigen sie sie, weil Erziehen auch Auslesen meint. Andererseits verabscheuen sie sie, weil Prüfungen rechtsförmig sein müssen und Recht entfremdet. D a sie aber als Lehrer auf persönliches Vertrauen angewiesen sind, werden sie als Prüfer versuchen, dieses Verhältnis auch in der Prüfung durchzuhalten, mit dem Ergebnis: Prüfungs- und Noteninflation. Politisch versucht man dieser Gefahr mit der sogenannten „Objektivierung" von Prüfungen zu begegnen, also durch: Differenzierung der Prüfungsleistungen und ihre zweifache Begutachtung, Anonymisierung der Prüflinge und Heranziehung außenstehender Prüfer. Mir scheint offensichtlich, daß die Heranziehung außenstehender Prüfer das Problem am radikalsten und zuverlässigsten löst. Deshalb meine ich, daß die immer noch hohe Selektivität der juristischen Staatsprüfungen im wesentlichen der Beteiligung von Praktikern zu danken ist. b) Vertrauenswürdigkeit von Prüfungen Und selektiv müssen Prüfungen sein, weil sie das Erziehungssystem gerade dadurch an die anderen Teile der Gesellschaft anschließen, daß sie den anderen Subsystemen die Auswahl erleichtern. Größere Bedeutung können Prüfungen für die anderen Systeme jedoch nicht haben. Sie können ihnen insbesondere die Auswahlentscheidung nicht abnehmen. Nicht einmal Justiz oder Schulverwaltung brauchen alle zum Richteramt Befähigten oder alle geprüften Lehramtskandidaten einzustellen, von der Wirtschaft ganz zu schweigen. Niemand ist verpflichtet, einen Handwerker zu beschäftigen, nur weil er die Meisterprüfung abgelegt hat. 35 Bedenklich daher die Gleichsetzung von Prüfungs- und Versetzungsentscheidungen bei Niehues (o. Fn. 2) Rdn. 362 ff.
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Allein das Abitur enthält ein Recht auf Immatrikulation an einer Universität und ist eben deshalb ein Anachronismus, ist nicht nur buchstäblich, sondern auch in der Sache ein Relikt des Ständestaates 3 '. Im übrigen sind Prüfungen und Prüfungsnoten nur zwei neben sehr vielen zulässigen und zweckmäßigen Auswahlkriterien, vom Alter über den Familienstand bis zur Verfassungstreue. Aber Prüfungszeugnisse erleichtern ungemein die Vorauswahl der Kandidaten. Der Personalreferent des Justizministeriums braucht sich nicht unter allen Deutschen umzusehen (vgl. Art. 33 Abs. 2 G G ) , wenn er einen jungen Richter sucht. Er kann sich auf die beschränken, die das Zweite Juristische Staatsexamen bestanden haben. Und von diesen kann er den Bewerber mit den besten Noten auswählen, soweit er die Noten für vertrauenswürdig hält. Das ist der springende Punkt. Prüfungen haben zwar Rechtscharakter, berechtigen aber - abgesehen vom Abitur zu fast nichts, gelegentlich zur Führung eines Titels. Jeder Geprüfte muß selbst für seine Arbeitsmöglichkeiten sorgen oder sich um eine Anstellung kümmern. Deshalb sind Prüfungen auf das Vertrauen Dritter, nämlich der anderen Subsysteme der Gesellschaft angewiesen, wenn sie wirksam werden sollen37. c)
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Damit gewinnen Prüfungen für das Erziehungswesen eine ähnliche Bedeutung wie Geld für die Wirtschaft. Für sich genommen sind Prüfungen weder nützlich noch haben sie irgendeinen Wert. Ihren Sinn gewinnen sie ausschließlich dadurch, daß man sie sowohl auf das Erziehungssystem wie auf die arbeitsteilige Gesellschaft bezieht. Sie sind das Medium, durch welches das Erziehungssystem mit den anderen Teilen der Gesellschaft kommuniziert. Nur wenn man das akzeptiert, kann man auch sinnvoll über Prüfungsgerechtigkeit sprechen. Prüfungsgerechtigkeit besteht nicht nur darin, die Formen und Verfahrensvorschriften des Prüfungsrechtes penibel einzuhalten, Prüfungsgerechtigkeit symbolisiert darüber hinaus die Leistungskraft des Prüflings ähnlich wie Geld die Kaufkraft. Und wie die Verselbständigung des Geldes im Vergleich zu den Gütern einerseits einen universalen Güteraustausch ermöglicht und andererseits zur Inflation verführt, so eröffnen Prüfungszeugnisse einerseits viele Chancen und hohe Mobilität und stehen sie andererseits unter Inflationsdruck. Welchen Nutzen Prüfungszeugnisse den Einzelnen bringen, hängt deshalb ebenso vom Arbeitsmarkt ab wie von der Bewertung der Prüfer. Vgl. die Nachweise bei Roellecke (o. Fn. 25) S. 721, 722. Die Validität von Prüfungen ist also eine Frage des Vertrauens und nicht eine der „ausreichenden Normierung", wie Strauch, (o. Fn. 2) S. 3, offenbar meint. 36 37
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III. Dogmatische Konsequenzen Überprüft man anhand dieser Überlegungen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zum Prüfungsrecht, so zeigt sich, daß das Gericht von falschen Voraussetzungen ausgeht. Prüfungen dienen nicht — oder allenfalls mittelbar - der Gefahrenabwehr. Primär dienen sie der Selektionserleichterung bei der Rekrutierung. Prüfungen können einerseits weniger und andererseits mehr leisten als Gefahrenabwehr. Beispielsweise können Prüfer Entschuldigungen gelten lassen, die in der Praxis nie akzeptiert würden. Ein Medizinstudent, der wegen Krankheit einen bestimmten Prüfungsstoff nicht beherrscht, mag in der Prüfung damit durchkommen. Begeht er aber aus demselben Grunde in der Praxis einen ärztlichen Kunstfehler, wird er unerbittlich zur Rechenschaft gezogen. Andererseits können in einer Prüfung für die Berufspraxis so wichtige Merkmale wie Argumentationsniveau, Sozialisation und Lernbereitschaft berücksichtigt werden, die meilenweit über Gefahrenabwehr hinausgehen. Daraus folgt: Es ist dem Gegenstand „Prüfungen" nicht angemessen, ihn nur nach den Anforderungen der künftigen Berufspraxis zu beurteilen und diese Anforderungen dann noch einmal unter dem Aspekt der Gefahrenabwehr einzuschränken. Ein Abiturient will weder orthopädische Maßschuhe anfertigen (§ 30 b GewO) noch Singspiele oder Ahnliches veranstalten (§33 a GewO) und ein Assessor im Zweifel keine Spielautomaten aufstellen (§33c GewO) oder das Eigentum fremder Personen gewerbsmäßig bewachen (§ 34 a GewO). Ihre Zuverlässigkeit braucht deshalb nicht polizeilich überprüft zu werden. Legt man aber an Regelungen der Berufswahl einen anderen Maßstab an als den der Polizeigefahr und erklärt man alle „Wertentscheidungen" des Gesetzgebers zu schützenswerten Gütern, so dehnt man den Gefahrenbegriff unendlich aus und hebt die Berufsfreiheit aus den Angeln. Bei Prüfungen geht es indessen in erster Linie nicht um Gefahrenabwehr, sondern um Förderung, um Kultur. Ein Abiturient soll die Hochschulausbildung erleichtern und ein Assessor soll zur Verbesserung des Rechtswesens beitragen. Deshalb müssen die betreffenden Personen auch unter diesen Aspekten ausgelesen werden können. Warum soll der Gesetzgeber durch Prüfungsanforderungen nur den hohen Standard des deutschen Handwerks heben dürfen und nicht auch den Standard der Universitätswissenschaft oder der Rechtsprechung? Verfassungsdogmatisch bedeutet das: die Dreistufentheorie des Bundesverfassungsgerichtes ist auch deshalb abzulehnen, weil Prüfungen als subjektive Zulassungsvoraussetzungen nicht an den Anforderungen der Berufspraxis gemessen werden können. Es ist sogar fraglich, ob Prüfungen überhaupt Freiheitseinschränkungen und nicht vielmehr Erweite-
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rungen der Lebenschancen sind. Denn Prüfungen berechtigen grundsätzlich zu nichts, selbst nicht bei den sogenannten freien Berufen. Prüfungen erleichtern den Auswahlberechtigten nur die Auswahl. Deshalb sollten Prüfungsvorschriften überhaupt nicht mehr an Art. 12 Abs. 1 G G gemessen, sondern nur noch auf ihre Rechtsstaatlichkeit geprüft werden, wie es auch der Praxis der Instanzgerichte entspricht. D a s Bundesverfassungsgericht müßte also seine Rechtsprechung auf die Linie der Rechtsprechung der Instanzgerichte zurücknehmen. Mindestens ist aber zu fordern, daß das Bundesverfassungsgericht in Prüfungsfragen nicht mehr an das Apotheken-Urteil, sondern an die HandwerksEntscheidung anknüpft. Obwohl diese Entscheidung nicht die Verfassungsbeschwerde eines Akademikers betraf, weist sie in die richtige Richtung.
Entwicklungstendenzen der Demokratie H E R B E R T SCHAMBECK
Anläßlich der Berliner Blockade schrieb Gottfried Benn in einem erst später bekannt gewordenen Brief: „Das Abendland geht nämlich meiner Meinung nach gar nicht zugrunde an den totalitären Systemen oder den SS-Verbrechen, auch nicht an seiner materiellen Verarmung oder an den Gottwalds und Molotows, sondern an dem hündischen Kriechen seiner Intelligenz vor den politischen Begriffen 1 ." Zu jenen politischen Begriffen, die heute gebraucht und mißbraucht werden, zählt die Demokratie. Sie wird in der Gegenwart nicht als Staatsform, sondern als politisches Ordnungssystem verstanden, das in einer Monarchie wie in einer Republik in gleicher Weise verwirklicht werden kann2, aber nicht muß, was eine Vielzahl von autoritären Regimen zeigt. Oft wird das Wort Demokratie für Staatsstrukturen verwendet, deren Bezug auf das Volk sowie auf den Dienst für das Volk und am Volk in sehr unterschiedlichem Maß gegeben ist. Schon Max Imboden hat treffend darauf hingewiesen, „daß innerhalb der Legalstruktur die demokratischen Komponenten weit zerbrechlicher sind, als herkömmlicherweise angenommen wird" 3 . So wie die Demokratie in einer jahrtausendelangen Geschichte von der Bezeichnung einer Staatsform zu der eines politischen Ordnungssystems wurde4, wird es seine Zeit brauchen, bis die Demokratie in jener Form ihre Prägung findet, die dem ihr zugrunde liegenden Menschenbild5 entspricht. Sie ist nämlich in einer positiven Sicht des Menschen gelegen und auf das Ideal
1 Gottfried Benn in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, dargestellt von Walter Lennig, Rowohlt 1962, S. 135. 2 Dazu Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 6. Neudruck, Darmstadt 1959, S. 661 ff., bes. S. 669 ff. und S. 710 ff. 5 Max Imboden, Die Staatsformen, Basel und Stuttgart 1959, S. 95. 4 Beachte Hans Maier, Zur neueren Geschichte des Demokratiebegriffs, in: Theorie und Politik, Festschrift zum 70. Geburtstag von Carl Joachim Friedrich, Haag 1971, S. 127ff. und Herbert Schambeck, Der Staat und die Demokratie, in: Geschichte und Gesellschaft, Festschrift für Karl R. Stadler, Wien 1974, S. 419 ff., bes. S. 427 ff. 5 Dazu Herbert Schambeck, Menschenbild und Staatsform, in: Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft 1977, Köln 1978, S. 26 ff.
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der Selbstfindung des Einzelnen ausgerichtet. Dieses Idealbild der Identität von Herrscher und Beherrschtem hat seine zur Ideologie gewordene Ausführung in der Schrift von Jean-Jacques Rousseau „Der Gesellschaftsvertrag" gefunden, wobei er, was bereits Winfried Martini zu betonen wußte, „seine Konzeption nur auf Kleinstaaten gemünzt hatte, wo alles für alle überschaubar und das Volk leicht zu versammeln ist"6. Es ist in diesem Zusammenhang auch interessant, daß Rousseau selbst die Lehre seines Contract social für so utopisch empfand, daß er es ablehnte, eine polnische Verfassung nach diesen Ideen zu entwerfen. Gefragt, wo denn seine Lehre etwa angewendet werden kann, antwortet er: „Vielleicht in Korsika 7 ." Die Lehre von der Demokratie Jean-Jacques Rousseaus wurde aber entgegen seiner diesbezüglichen Zurückhaltung auch auf den großen Flächenstaat mit seiner pluralistischen Gesellschaft übertragen. Unter Berufung auf den volonte generale glaubte man den wahren Volkswillen zu kennen, dessen Unfehlbarkeit angenommen und bisweilen auch mit Intoleranz verbunden wurde. In diesem Sinne erklärte auch Maximilien de Robespierre am 25. Feber 1793 im Jakobinerklub: „Ich habe inmitten von Verfolgungen und ohne Beistand behauptet, daß das Volk niemals Unrecht hat; ich habe diese Wahrheit zu einer Zeit zu verkünden gewagt, als sie noch nicht erkannt war 8 ." Die Folge dieser Entwicklung war eine Tendenz der Demokratie zum Totalitarismus und zur Jakobinisierung des Staates. Es war der Weg von der Jakobinerverfassung zur Direktorial-, Konsulats- und letztlich zur Kaiserverfassung Napoleons. Dieser skizzierte Weg zeigt mit aller Deutlichkeit, daß es nicht allein darauf ankommt, auch auf revolutionärem Weg die Freiheit der sogenannten Selbstfindung in der Demokratie zu erkämpfen, sondern auch auf sie entsprechend vorbereitet zu sein, um sie erhalten zu können'. Der Prozeß des Erlangens und des Erhaltens der demokratischen Freiheit - sei sie auf revolutionärem Weg oder evolutionärem Weg zustandegekommen - prägte über lange Zeit in verschiedener Form die Geschichte des 19. Jahrhunderts und ist in unserer Zeit noch nicht abgeschlossen. Es ist dabei interessant, daß in bestimmten Zeitabschnitten über Staatsgrenzen hinweg nahezu dieselben politischen Bewegun-
' Winfried Martini, Das Ende aller Sicherheit - eine Kritik des Westens, Stuttgart 1955, S.4'1. 7 Beachte Jean-Jacques Rousseau, Contract social, 11, X. 8 Francois Alphonse Aulard, Politische Geschichtc ILT 1 ranzösischen Revolution, München und Leipzig 1924, S. 720. ' Dazu Adolf Merkl, Die Zukunft der Demokratie - Hoffnung oder Verhängnis, in: Internationale Festschrift für Alfred Verdroß, München-Salzburg 1971, S. 271 ff.
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gen deutlich w e r d e n , w i e es das R e v o l u t i o n s ) ahr 1 8 4 8 zeigt, das z w a r zu unterschiedlichen
demokratischen
Ergebnissen
geführt hat, das
letztlich den W e g e r m ö g l i c h t e , in d e m Demokratismus eine
Symbiose10
und
eingingen, d e r e n E r g e b n i s der d e m o k r a t i s c h e
s t a a t " , n ä m l i c h d e r Gesetzesstaat
aber
Liberalismus Rechts-
ist, dessen E i n r i c h t u n g e n a u c h h e u t e
n o c h den Verfassungsstaat 1 2 p r ä g e n . D i e s e r G e s e t z e s s t a a t hat z u n ä c h s t m e h r in d e r S t a a t s f o r m der M o n a r c h i e , später a u c h in der d e r R e p u b l i k eine F o r m
erhalten, die sich bei unterschiedlichen
Rechtsfolgen
im
staatlichen L e b e n d u r c h politische U m w ä l z u n g e n , die bei W e c h s e l d e r Staatsform
1918
z.B.
in D e u t s c h l a n d die Identität d e r Staaten
und
K o n t i n u i t ä t der R e c h t s o r d n u n g erhalten ließ, w a s Ö s t e r r e i c h aber n i c h t gelang, in e i n e m b e m e r k e n s w e r t e n Z u s a m m e n h a n g
weiterentwickelte.
Sie ist v o r allem g e k e n n z e i c h n e t d u r c h den V o r r a n g der V e r f a s s u n g " , d e n Stufenbau d e r R e c h t s o r d n u n g 1 4 , das d e m o k r a t i s c h e W a h l r e c h t 1 5 , die G r u n d r e c h t e " , die G e s e t z e s b i n d u n g der Vollziehung 1 7 , die J u s t i z m ä ß i g keit d e r V e r w a l t u n g 1 8 , die U n a b h ä n g i g k e i t der G e r i c h t e 1 ' , die G e w a l t e n -
10 Beachte Demokratie und Rechtsstaat, Festgabe zum 60. Geburtstag von Zaccaria Giacometti, Zürich 1953, darin: Werner Kägi, Rechtsstaat und Demokratie (Antinomie und Synthese), S. 107 ff. und Adolf Merkl, Idee und Gestalt der politischen Freiheit, S. 163 ff., sowie auch grundlegend Hans Peters, Entwicklungstendenzen der Demokratie in Deutschland seit 1949, S. 229 ff. 11 Dazu Herbert Schambeck, Vom Sinnwandel des Rechtsstaates, Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft e.V. Berlin, Heft 38, Berlin 1970. 12 Siehe Carl Joachim Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, Berlin-Göttingen-Heidelberg 1953, bes. S. 135 ff. und S. 298 ff. 15 Siehe Werner Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, Zürich 1954, Neudruck Darmstadt 1971 und Herbert Schambeck, Der Verfassungsbegriff und seine Entwicklung, in: Festschrift Hans Kelsen zum 90. Geburtstag, Wien 1971, S. 211 ff. 14 Beachte Adolf J. Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien 1927, Neudruck Darmstadt 1970, bes. S. 157 ff. 15 Dazu Karl Braunias, Das parlamentarische Wahlrecht, 2 Bände, Berlin und Leipzig 1932 und Herbert Schambeck, Die Entwicklung des österreichischen Wahlrechtes, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Band 21, 1973, S. 247 ff. " Vgl. Felix Ermacora, Menschenrechte in der sich wandelnden Welt, I. Band, Historische Entwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Wien 1974 und Herbert Schambeck, Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, in: Ordnung im sozialen Wandel, Festschrift für Johannes Messner zum 85. Geburtstag, Berlin 1976, S. 445 ff. 17 Grundlegend Dieter Jesch, Gesetz und Verwaltung, 2. Aufl., Tübingen 1968. " Vgl. Rudolf Hermann Hermritt, Grundlehren des Verwaltungsrechtes, Tübingen 1921 und Friedrich Tezner, Das österreichische Administratiwerfahren, 2. Aufl., Wien 1925. " Vgl. Kurt Eichenberger, Die richterliche Unabhängigkeit als staatsrechtliches Problem, Bern 1960 sowie Dieter Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, Darmstadt 1975.
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teilung20, die Gerichtsbarkeit öffentlichen Rechts21, die Rechnungs- und Gebarungskontrolle 22 und die Amtshaftung 23 . Diese Verbundenheit von Demokratismus und Liberalismus hat im Gesetzesstaat einerseits die Forderung der Demokraten nach der Bindung des Staates an den Willen des Volkes und seiner Repräsentanten und andererseits das Anliegen der Liberalen nach Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit staatlichen Organhandelns erfüllen lassen. Der demokratische Rechtsstaat hat in seiner Form des Gesetzesstaates die politische Freiheit zu gewähren und zu sichern gesucht. „Freiheit unter dem Gesetz" kann geradezu als Motto für den demokratischen Rechtsstaat genannt werden 24 . Gesetzesstaatlichkeit ermöglicht ein besonderes Maß an Rechtssicherheit, da sie durch den Weg der demokratischen Staatswillensbildung dem Volk mit seinem Anliegen die Chance der Beachtung bietet, durch die Publizität des Gesetzesbeschlusses dessen Kenntnis eröffnet, sowie durch die Gesetzesbindung der Vollziehung die Handlungsweise des Staates einschätzen läßt. Auf diese Weise kann durch den Weg des Zustandekommens und der Veröffentlichung der Rechtsnormen sowie der Bindung der Vollziehung an sie ein besonderes Verhältnis der Nähe von Normsetzung und Normadressat entstehen, wobei es darauf ankommt, daß die Rechtssetzung die Normierung von Sozialbeziehungen mit der Motivierung des Einzelnen zu verbinden vermag. In letztgenanntem Fall würde die Rechtssicherheit, die der Staat dem Einzelnen eröffnet, durch die vermittelte Motivierbarkeit zu einer Rechtsüberzeugung führen, welche die Geltung einer Rechtsordnung durch ihre Wirksamkeit sichert25. Aus dieser Sicht vermag der demokratische Rechtsstaat Kräfte zu ermöglichen, die einerseits vom Staat zum Einzelnen und
20 Vgl. Werner Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzips, Zürich 1937 und Zur heutigen Problematik der Gewaltentrennung, hgb. von Heinz Rausch, Darmstadt 1969. 21 Siehe ζ. B. Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichtes, Tübingen 1976 und Die Entwicklung der österreichischen Verwaltungsgerichtsbarkeit, Festschrift zum 100jährigen Bestehen des österreichischen Verwaltungsgerichtshofes, Wien - New York 1976. 21 Dazu Johannes Hengstschläger, Der Rechnungshof, Berlin 1982. 23 Beachte Hans R. Klecatsky, Notwendige Entwicklungen des österreichischen Amtshaftungsrechts, JB1. 1981, S. 113 ff. 24 In diesem Sinne beachte besonders Karl August Bettermann, Freiheit unter dem Gesetz, die Bundesrepublik Deutschland als demokratischer und sozialer Rechtsstaat, Berlin 1962. 25 Uber Geltung und Wirksamkeit beachte Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960, S. 10 ff., 215 ff. und 279 f. sowie Herbert Schamheck, Ordnung und Geltung, Osterreichische Zeitschrift für öffentliches Recht 1961, Band XI (Hans Kelsen zum 80. Geburtstag), S. 470ff., bes. S. 484 ff. und S. 490 ff.
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andererseits vom Einzelnen zum Staat führen; beides setzt allerdings eine bestimmte Ausgewogenheit in der Ordnung und den Strukturen des Staates voraus, die jene eunomia ermöglicht, die Solon schon im 6. vorchristlichen Jahrhundert für die Dauerhaftigkeit eines Gemeinwesens verlangte26. I.
Politische Ordnungssysteme und staatliche Strukturen sind nicht in einer einmaligen Stabilität, sondern vielmehr in ihrer Verwobenheit mit den sie bedingenden politischen Umständen und Entwicklungstendenzen zu sehen, die mit der Transparenz des öffentlichen Lebens immer deutlicher werden. Diese Entwicklung ist vor allem mit jenem zum Schlagwort gewordenen Begriff der „Demokratisierung" verbunden"; sie begann mit der Demokratisierung des Wahlrechtes, setzte sich im Regierungssystem einschließlich dem Parlamentarismus und seiner Kontrolle ebenso fort, wie in dem Verständnis der Grundrechte sowie der Beziehung von Staat und Gesellschaft. Der Weg zum allgemeinen gleichen, direkten, geheimen Wahlrecht der Männer und Frauen war eine Entwicklung von Jahrzehnten, die in manchen Staaten tief in das 20. Jahrhundert reicht28, und das Bedenken der verschiedenen Konsequenzen des Mehrheits- und Verhältniswahlrechtes ist in vielen Fällen bis heute noch nicht entsprechend erfolgt29. So hat die Stärke des Integrationseffektes des Mehrheitswahlrechtes auf Kosten seines Repräsentationseffektes zwar die Regierungsfähigkeit der parlamentarischen Mehrheit begründet, aber die Handlungsfähigkeit der politischen Gruppierungen verringert und zu starken Polarisierungen innerhalb der politischen Landschaft geführt, was die einzelne Politikerpersönlichkeit ebenso verdeutlicht hat, wie sie umgekehrt beim Verhältniswahlrecht, das die Proportion auf Kosten der Integration vermittelt, die Parteiorganisation stärker verlangt. Die oft erhobene Forderung nach dem Persönlichkeitswahlrecht 30 zeigt, wie sehr der mit der Demokratisierung des Wahlrechtes verbundene Prozeß der Vermassung seinen Ausgleich im Hinblick auf die auch in der Demokratie erforderliche Beachtung der Individualität verlangt. 26
Vgl. Alfred. Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl., Wien 1963, S.6. Dazu "Wilhelm Hennis, Demokratisierung - Zur Problematik eines Begriffes, Köln-Opladen 1970. 28 So haben die Frauen ζ. B. in Osterreich ihr Stimmrecht erst in der Wahlordnung zur Wahl der konstituierenden Nationalversammlung 1918, StGBl. Nr. 115 bekommen. 29 Beachte Ferdinand A. Hermens, Verfassungslehre, 2. Aufl., Köln und Opladen 1968. 50 Wolf gang Schwarz, Gerechtigkeit durch Personwahl, München 1955 und Herbert Schamheck, Wahlrecht und Personalisierung, in: Wahlrecht und Partizipation, Beiträge zur Gesellschaftspolitik, Heft 5, Wien 1978, S.4ff. 27
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Konsequenzen ergeben sich aus dem Wahlrechtsprinzip nicht allein in der Beziehung von Wähler und Gewählten sowie zwischen den bestehenden wahlwerbenden Parteien, sondern auch im Hinblick auf das Verhältnis von Wahlrechtsordnung und Regierungssystem31, das beim Verhältniswahlrecht mehr zu Koalitionsregierungen und bei Mehrheitswahlrecht mehr zu Einparteienregierungen, von Ausnahmen abgesehen, führt. Die Beziehung von Wahlrecht und Regierungssystem ist je nach der Staatsform von unterschiedlicher Bedeutung. In einer Monarchie bedeutet die Demokratisierung des Wahlrechtes die Möglichkeit der Repräsentation des Volkes gegenüber dem Monarchen und der von seinem Vertrauen getragenen Regierung, daher ist gerade in dieser Zeit der Monarchie der besondere Wunsch nach dem Verhältniswahlrecht mit seinem besonderen Repräsentationseffekt aufgetreten. In vielen Fällen, wie z.B. auch in Osterreich, wurde dieser in der Monarchie gehegte Wunsch in der Republik erfüllt, was dann zur Selbstdarstellung des Volkes geführt hat. Im Falle des parlamentarischen Regierungssystems, in dem vom Vertrauen des Parlaments der Bestand der Regierung abhängt, hat diese Vertrauensnotwendigkeit zu einer politischen Einheit von Parlamentsmehrheit und Regierung geführt, was dann besonders auf Kosten der Gewaltenteilung geht, wenn die parlamentarischen Kontrollrechte - im Rahmen des Möglichen - nicht zu entsprechenden Minderheitsrechten weiterentwickelt werden. Diese Konsequenz wurde in Osterreich erst Jahrzehnte nach Ausrufung der Republik, nämlich 197532 teilweise erkannt. Die heutige Gewaltenteilung33 ist nur mehr eine formell-organisatorische zwischen den einzelnen Staatsfunktionen, z.B. daß eine Behörde nicht gleichzeitig Gerichts- und Verwaltungsbehörde sein kann; effektiv verläuft die Teilung der Gewalten im Sinne sich gegenseitig in jeweils verschiedener Weise registrierender und kontrollierender Faktoren zwischen identer Mehrheit in Regierung und Parlament einerseits sowie Opposition andererseits, weiters zwischen Politikern und Beamten, zwischen Verwaltung und Gerichtsbarkeit, politischen Parteien und Interessenverbänden, parlamentarischer und außerparlamentarischer Willensbildung sowie in einem Bundesstaat auch zwischen Bund und Ländern. 31 Näher Herbert Schambeck, Wahlrechtsordnung und Regierungssystem in Österreich, in: Festschrift für Adolf J. Merkl zum 80. Geburtstag, München-Salzburg 1970, S. 335 ff. 32 Siehe Geschäftsordnungsgesetz des Nationalrates 1975, BGBl. Nr. 410/1975. 33 Beachte z . B . Manfred Welan, Die Gewaltenteilung, in: Das österreichische BundesVerfassungsgesetz und seine Entwicklung, hgb. von Herbert Schambeck, Berlin 1980, S. 48 Iff.
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Es wäre falsch anzunehmen, daß diese eben genannten Strukturen an Machtverteilung im Staat an die Stelle der klassischen Form der Gewaltenteilung getreten sind, sie sind teils überlappend, wie ζ. B. im Falle der Bundesstaatlichkeit, oder einander ergänzend. Sie bringen aber alle wieder selbst Spannungsverhältnisse in die Demokratie ein. So darf die Machteinheit von Mehrheitspartei in Regierung und Parlament einerseits trotz der Identität ihrer politischen Kraft nicht übersehen lassen, daß ihre Staatsleitungsaufgaben in der Gesetzgebung und obersten Vollziehung jeweils unterschiedliche Aufgaben im Rechtsleben erfüllen lassen, trotzdem eine Gleichheit an parteipolitischen Kräften gegeben ist und andererseits die Opposition im Staat mit parlamentarischem Regierungssystem immer mehr die Hauptverantwortung für die kritische Mitwirkung an der Gesetzgebung und der Kontrolle übernimmt, ohne sich zur bloßen Obstruktion verlieren zu dürfen. Ob eine Partei sich in Regierungsverantwortung oder in Opposition befindet, stets soll sie sich daran erinnern, daß das Wort Partei vom lateinischen Wort pars stammt, was Teil des Ganzen bedeutet und daß daher allen Kräften im Staat die Gemeinwohlverantwortung zur Beachtung aufgetragen ist. II. Die wechselseitigen Kräfte im demokratischen Staat sind aber nicht allein zwischen den Parteien, sondern auch ihnen gegenüber wirksam, nämlich zwischen Politikern und Beamten. Der Politiker ist innerhalb der Möglichkeiten der Staatsrechtsordnung von den Erfordernissen seines demokratisch und weltanschaulich mitbestimmten Programms geprägt, der Beamte34 hingegen hat ausschließlich im Auftrag der Gesetze zu stehen und darf außerhalb der Gesetzesordnung nicht tätig werden. Während der Politiker im Verfassungsauftrag staatsleitend zu denken hat und als oberstes Vollzugsorgan die spezifische Regierungsverantwortung35 trägt, hat der Beamte nur Organ der Gesetzesvollziehung zu sein und den Politikern die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen ihres Tuns zu verdeutlichen; beide, Politiker und Beamte, stehen damit im Dienste des demokratischen Rechtsstaates. Dieser Dienst ist aber gefährdet, wenn der Politiker seiner staatsleitenden Aufgabe ebenso nicht mehr nachkommt, wie der Beamte seinem Gesetzesauftrag, weil ihre spezifische Eigenständigkeit verloren geht, was der
* Dazu Herbert Schambeck, Der Beamte - seine Aufgabe und sein Schutz im modernen Staat, in: Im Dienste von Freiheit und Recht, Gedenkschrift für Hans Weiler, Berlin 1976, S. 125 ff. 35 Hierzu Herbert Schambeck, Die Ministerverantwortlichkeit, Schriftenreihe der Juristischen Studiengesellschaft, Heft 101, Karlsruhe 1971.
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Fall ist, wenn der Politiker seine Eigeninitiative verliert, und der Beamte aus parteipolitischen Gründen an der Gesetzesvollziehung gehindert wird. Letztere Gefahr entsteht durch den sogenannten politischen Beamten36, der sich in einem besonderen Verhältnis zwischen dem Regierungsfunktionär und dem Berufsbeamten befindet; er ist in einer Vielzahl von Fällen, wie z . B . in Osterreich37, das im Bundes-Verfassungsgesetz nur oberste Vollzugsorgane und Berufsbeamte kennt, eine Art Fremdkörper in der Verwaltung, der zumeist für die Repräsentanz und Konsequenz der Parteipolitik in der Verwaltung zuständig ist und besonders dort, wo in der Gesetzesvollziehung Bereiche des freien Ermessens gegeben sind, Einfluß nehmen kann. Anders ist das Verhältnis von Politik und Vollziehung im Bereich der Gerichtsbarkeit38. Der Berufsrichter ist zwar unabhängig in seiner Rechtsprechung, also unabsetzbar und unversetzbar, aber dies kommt bei Offizialdelikten nur zum Tragen, wenn die weisungsgebundenen und gehorsamspflichtigen Staatsanwälte die entsprechenden Anträge, wie z.B. auch die Anklage erhoben haben. Hier kann durch entsprechende Initiativen, wie etwa durch Einleitung oder Einstellung eines Verfahrens zu gewissen politisch aktuellen Zeiten bestimmte Effekte erzeugt werden. Eine besondere Beziehung wird dann zwischen Politik und Gerichtsbarkeit deutlich, wenn eine parlamentarische und gerichtliche Untersuchung in derselben Angelegenheit gleichzeitig läuft, wobei der Vorsitzende des parlamentarischen Untersuchungsausschusses und der Untersuchungsrichter nebeneinander laufend die Presse über ihre Tätigkeit informieren. Die Öffentlichkeit, die in einer Demokratie ein unverzichtbares Element darstellt, wird nicht zum richtigen Zeitpunkt nach einer umfassenden auch von äußeren Einflüssen unberührten Untersuchung informiert, sondern jedes Stadium des gerichtlichen und parlamentarischen Verfahrens in Teilaspekten so von der Öffentlichkeit „ausgeleuchtet", daß ein nicht zu unterschätzender Druck auf die Betroffenen, besonders durch die Massenmedien ausgeübt wird, der für eine objektiv und sachlich gerechtfertigte Wahrheitsfindung in keiner Weise förderlich ist und geradezu jakobinistische Effekte erzeugt. Oft kann es auf diese Weise vorkommen, daß jemand politisch bereits in der Öffentlichkeit als verurteilt gilt, obgleich dies durch das Gericht noch gar nicht erfolgt ist, was bei einem folgenden Gerichtsverfahren einen
34 Näher Herbert Schambeck, Der Beamte und die Gesellschaft, in: Die Diener des Staates, hgb. von Günther Engelmayer, Wien 1977, S. 127 ff. 37 Beachte Art. 20 (1) B-VG. 38 Dazu Herbert Schambeck, Der Richter und die Politik, Osterreichische Richterzeitung 1979, Nr. 10, S. 213 ff. und in bezug auf Österreich Robert Walter, Die Gerichtsbarkeit, in: Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz, S. 443 ff.
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nicht zu unterschätzenden Druck auf die Rechtsprechung durch das Laienelement, sei es der Laienrichter aus bestimmten Berufsständen oder der Geschworenen und Schöffen, ausübt. Sie stellen im ersten Fall ihr Fachwissen zur Verfügung, und im zweiten Fall besteht die Möglichkeit der Repräsentation eines Rechtsempfindens, das allerdings nicht immer emotionslos sein muß. Wo der Berufsbeamte und Berufsrichter unter der Letztverantwortung der verfassungsmäßig berufenen und zuständigen Höchstorgane in der Gesetzesvollziehung tätig wird, wird dem demokratischen Verfassungsstaat ein Dienst geleistet und in dem Nebeneinander von politischem Wollen und gesetzlicher Gebundenheit im umfassenden Rahmen der Verfassungsordnung eine Form der Gewaltenteilung und so auch der gegenseitigen Kontrolle ermöglicht, welche zur Rechtssicherheit beizutragen vermag. Ein Nebeneinander von wechselseitiger Bezogenheit ist auch das von politischen Parteien, die mehr von ideologischen und weltanschaulichen Positionen getragen sind und dem der Interessenverbände, die mehr von beruflichen Standesanliegen geprägt sind39. Von verschiedenen Anliegen, die sich ergänzen können, ausgehend, können sie zur Ausgewogenheit der Meinungs- und Willensbildung im Staat beitragen. Dabei zeigen sich öfters insoferne Unterschiede in der Stellung der Parteien und Interessenverbände, als die Parteien aufgrund ihrer Nominierungsmöglichkeit in Parlaments- und Regierungsfunktionen mehr dem Staat und die Interessenverbände im Hinblick auf ihre Vertretung von beruflichen Anliegen mehr der Gesellschaft zugezählt werden. Es wäre aber falsch, in den Parteien bloß Staatsorgane und in den Interessenverbänden bloß Gesellschaftsvertreter zu sehen, zumal die Parteien aus dem Volk gebildet werden, und die Interessenverbände, z.B. die Kammern 40 in ihrem übertragenen Wirkungsbereich, auch für den Staat tätig sind. Das Gleichgewicht ist aber dann gestört, wenn der Staat immer mehr dadurch vergesellschaftet wird, daß die Interessenverbände ausschließlich bestimmend für die sie betreffenden Bereiche des Staates, vor allem in der Verwaltung, werden, und der Staat zu einem Clearinghaus der Gruppeninteressen wird, was sich in den Gruppen von Interessenvertretern in gesetzgebenden Körperschaften zeigt. Eine Gefährdung des demokratischen Gleichgewichtes ist auch dadurch gegeben, wenn der Staat die Interessenverbände, die Selbsthilfeund Selbstschutzeinrichtungen des Einzelnen sind, immer mehr in seinen Dienst stellt und sie so zu einem verlängerten Arm des Staates 39
Beachte Herbert Schambeck, Die Demokratie, in: Das österreichische BundesVerfassungsgesetz, S. 207 ff. und S. 220 ff. 40 Grundlegend Karl Korinek, Wirtschaftliche Selbstverwaltung, Wien 1970.
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werden, mit dem er - mehr oder weniger deutlich - nach dem Einzelnen greift; es setzt die Verstaatlichung der Gesellschaft ein. Diese Entwicklungen führten im vergesellschafteten Staat zu einer Gefährdung seiner Autorität und in der verstaatlichten Gesellschaft zu einer Gefährdung der Freiheit des Einzelmenschen; im ersteren Fall geht die Ordnung des Staates und im zweiten Fall die Interessenvertretung verloren; beide sind aber für den demokratischen Staat von Bedeutung. Ein wichtiger Beitrag der Gesellschaft zum öffentlichen Leben im Staat ist in einzelnen Staaten, wie z.B. in Osterreich, sicherlich durch die Interessenverbände dadurch möglich geworden, daß diese sich freiwillig um einen Ausgleich der Interessen bemühen. Diese soziale Partnerschaft*1 ist ein wirklichkeitsnaher Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips und ein wirksamer Beitrag zum Fortschritt in der Demokratie, weil er durch den Ausgleich der unterschiedlichen Interessen Spannungen abbaut und Konflikte vermeiden läßt; sie entlastet auf diese Weise den Staat in Gesetzgebung und Vollziehung. Die soziale Partnerschaft hat sich in der Sozial- und Wirtschaftspolitik im allgemeinen, der Lohn- und Preispolitik im besonderen bewährt, Streiks vielfach erübrigt und Volksvermögen zu wahren gewußt. Die soziale Partnerschaft vermag in dieser Weise zum inneren Frieden in einem Staat beizutragen, sie wirkt interessenausgleichend im Bereich der Gesellschaft sowie entlastend und beratend gegenüber dem Staat. Sie hat aber dort ihre Grenzen überschritten, wo sie anstelle des Staates für seine Organe entscheiden und handeln würde"; die Interessenverbände können vorbereiten, die Entscheidung selbst haben die Politiker in den Staatsfunktionen zu treffen. Diese soziale Partnerschaft vermag in die moderne Demokratie einen Faktor ausgewogener Sachlichkeit einzubringen, den aber die Politiker in ihren Zuständigkeitsbereichen so zu nutzen verstehen müssen, daß sie die Entscheidung selbst zu fällen imstande sind, andernfalls die Interessenverbände effektiv die Staatsgewalt ausüben würden und die Demokratie in einen Verbändestaat übergeht. Ähnliches gilt für die Experten zu sagen; auch sie sollen nur beratend dem Politiker zur Verfügung stehen, in den Beiräten der Verwaltung sind sie geradezu institutionalisiert. Dort, wo aber der Politiker nicht imstande ist, den Experten entsprechend zu nutzen und sich nach der Beratung selbst sein Urteil zu bilden, spricht effektiv der Experte und nicht der nach der Verfassung zuständige Politiker das letzte entscheidende Wort, auf diese Weise entsteht die Gefahr, daß die Demokratie immer mehr in eine Experto-
41 Hierzu Alfred Klose, Ein Weg zur Sozialpartnerschaft, Das österreichische Modell, Wien 1970. 42 Beachte etwa V f G H Erk. Slg 2323/1952.
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kratie43 übergeht; im anderen Fall würde der vom Experten zur Verfügung gestellte Sachverstand Grundlage für die vom Politiker in Eigenverantwortung gefällte Entscheidung sein. Der Expertokratie würde jede demokratische Legitimation fehlen; jeder Politiker in der Demokratie muß daher auch intelligenzmäßig imstande sein, die ihm zur Vorbereitung seiner Entscheidung vorgelegten Unterlagen selbständig zu nutzen. Das Wirken der Interessenverbände und Experten ist Ausdruck eines Mitdenkens im Staat, es soll, um auf dem Boden der Verfassung zu stehen, die Willensbildung und die Vollziehung im Staat erleichtern. In ähnlicher Form drückt sich auch das Mitdenken im demokratischen Staat durch die Einrichtung der direkten Demokratie, wie Volksbegehren44, Volksabstimmung45 und, in manchen Fällen, die Volksbefragung aus. Diese plebiszitären Verfassungseinrichtungen sind im demokratischen Rechts- und Verfassungsstaat stets im Zusammenhang mit der parlamentarischen Staatswillensbildung zu sehen, die sie nicht ersetzen, aber, je nach der Staatsrechtsordnung verschieden ergänzen können44. Je mehr die Demokratie auch von einem sehr kritischen Mitdenken seiner Bürger gekennzeichnet ist, desto mehr werden diese Einrichtungen plebiszitärer Natur an Bedeutung zunehmen; sie können unter Umständen manche revolutionären Vorgänge vermeiden lassen und während einer Legislaturperiode des Parlaments und einer Funktionsperiode der Regierung auf einem verfassungsgemäßen Weg der öffentlichen Meinungsbildung eine Möglichkeit ihrer Geltendmachung eröffnen. Sie können in dieser Sicht ebenso das freie Mandat der Abgeordneten wie die Ministerverantwortlichkeit oberster Vollzugsorgane ergänzen; ein Ersetzen wäre einer der Wege zur Jakobinisierung der Demokratie, was aber abzulehnen ist! Neben diesen plebiszitären Formen der Demokratie, die stets im Zusammenhang mit der parlamentarischen Willensbildung zu sehen sind, verdeutlichen sich als weitere Gelegenheit der außerparlamentarischen Willensbildung die Massenmedien". Während die Möglichkeiten der direkten Demokratie plebiszitäre Verfassungseinrichtungen und somit in bestimmter Weise Teile des Rechtslebens sind, sind die Massen43 Siehe Manfred Kuhn, Herrschaft der Experten? An der Grenze der Demokratie, Würzburg 1961 und Kurt Eichenberger, Leistungsstaat und Demokratie, Basel 1969, bes. S. 25 ff. 44 Dazu Herbert Schambeck, Das Volksbegehren, Tübingen 1971. 45 Vgl. Hans Huber, Das Gesetzesreferendum, Tübingen 1969. 44 Beachte Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl., Tübingen 1929, bes. S. 24 f. und Klaus Schiaich, Entfremdung zwischen Staat und Volk - Präsentation und Plebiszit in der Verfassung, Evangelische Kommentare 1983, S.481 ff. 47 Dazu Politik und Kommunikation, über die öffentliche Meinungsbildung, hgb. von Wolf gang R. Langenbucher, München-Zürich 1979.
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medien zwar aufgrund der verfassungsrechtlich geschützten Meinungsund Pressefreiheit entstanden und Teil des öffentlichen Lebens, nicht aber des Rechtslebens geworden. Sie stellen den unersetzbaren Kontakt zwischen dem Staat, seiner Politik und ihren Repräsentanten einerseits und dem Einzelnen andererseits dar, sie ermöglichen dem Einzelnen ein Mitdenken, Mitentscheiden und Mitbeurteilen im Staat. Der demokratische Rechtsstaat hängt wesentlich von der Freiheit der Massenmedien ab, die für die öffentliche Meinungsbildung so ausschlaggebend sind, daß manchmal der Eindruck entsteht, als würde anstelle der Volksherrschaft eine Medienherrschaft treten. In vielen Fällen haben auch die Massenmedien Sachanliegen aufbereitet und so ein Problembewußtsein erzeugt, das zu einer parlamentarischen Staatswillensbildung geführt hat, oder sie haben gewisse Vorgänge aufgedeckt, welche hernach aufgrund dieser Publikation Anlaß und Gegenstand der parlamentarischen Kontrolle wurden. Manches Mal hat die Stellung der Massenmedien eine solche Bedeutung erlangt, daß sie mit der außerparlamentarischen Öffentlichkeit und Meinungsbildung gleichgesetzt wurden. Bisweilen hat diese hervorragende Rolle der Massenmedien in der Öffentlichkeit zur Meinungsbildung auch über die Beurteilung von Vorgängen und Personen sogar zu deren Verurteilung geführt, ohne daß dem ein rechtlich geordnetes Verfahren bei einer Behörde, wie z.B. bei Gericht, vorausgegangen wäre, was den nicht unberechtigten Anschein erweckt, als würde die Demokratie als Volksherrschaft durch eine Medienherrschaft abgelöst werden. Eine Art Medienjustiz ist aber mit den Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaates nicht vereinbar! Die Demokratie ist das politische Ordnungssystem des Dialoges, des Gesprächs der Bürger untereinander, der Bürger mit den Politikern und dieser untereinander. Der Einzelmensch, die Gesellschaft und der Staat stehen in der Demokratie in einem besonderen Verhältnis zueinander, das von wechselseitiger Bedingtheit, sei es in harmonischer Zusammenarbeit oder kritischer Auseinandersetzung gekennzeichnet ist. Die Massenmedien können hierzu wissens-, meinungs- und urteilsvermittelnd einen besonderen Beitrag erbringen, aber nicht aus der Sicht des Verfassungsrechtes und der Staatspolitik letztentscheidend sein.
III. Alle diese skizzierten Formen der Gewalt- oder Machtverteilung in der Demokratie ereignen sich im Bereich des Staates. Erfährt diese Staatlichkeit eine mehrfache Gliederung oder Stufung, wie das der Föderalismus in seiner Bundesstaatlichkeit ermöglicht, dann zeigt sich in dem Verhältnis von Bund und Ländern je nach der Prägung des jeweili-
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gen Bundesstaates 48 eine eigene Form der Gewaltenteilung 49 , in der Bund und Länder, wie ζ. B. im Finanzausgleich, aufeinander angewiesen sind, oder sich auch gegenseitig kontrollieren, wie etwa in Osterreich durch ein Einspruchsrecht der Bundesregierung gegen Gesetzesbeschlüsse der Landtage (Art. 98 Abs. 2 B-VG) oder durch das Einspruchsrecht des Bundesrates gegen Gesetzesbeschlüsse des Nationalrates (Art. 42 Abs. 2 B-VG). Die Bundesstaatlichkeit führt dadurch zu einer Verlebendigung der Demokratie, daß sie mehrere Bereiche des staatlich organisierten öffentlichen Lebens ermöglicht, nämlich die Bundes-, Landes- und Gemeindeebene. Auf jeder dieser Ebenen ist ein eigenes, durch demokratische Wahlgänge legitimiertes politisches Leben möglich, wobei sich zeigt, daß sich auf allen drei genannten Ebenen die politischen Kräfte in unterschiedlicher Parteienstärke verdeutlichen können. So ist es während der Legislaturperiode einer parlamentarischen Volksvertretung und der von ihrem Vertrauen getragenen Bundesregierung schon vorgekommen, daß in der parlamentarischen Ländervertretung, dem Bundesrat, eine andere Partei als in der Volksvertretung die Mehrheit hat und sich somit die verschiedenen politischen Mehrheitsverhältnisse auf Bundesund Landesebene im parlamentarischen Bereich gegenüberstehen. Der Föderalismus findet aber dort seine Grenzen, wo er sich zum Partikularismus und Separatismus weiterentwickelt. Der Partikularismus läßt die Teile des Bundesstaates ein Eigenleben ohne ausreichenden Bezug und Bedachtnahme auf das Staatsganze führen; der Separatismus strebt die Loslösung eines Teiles des Staatsganzen oder dessen Auflösung überhaupt an. Im ersteren Fall wird das Kooperationserfordernis als Gebot des modernen Föderalismus mißachtet und im zweiten Fall die Existenz des Staates selbst gefährdet. Das Wohl des Gesamtstaates hat für jeden Staatsaufbau, auch dem des Bundesstaates, bestimmend zu sein, entscheidend dafür sind die Staatszwecke. Die Staatszwecke50 haben mit der Entwicklung der Demokratie erhöhte Beachtung gefunden, da es dem Volk über seine Repräsentanten 4!
Für Osterreich siehe etwa Herbert Schambeck, Der Föderalismus der Republik Österreich, in: 30 Jahre Grundgesetz, Berlin 1979, S. 55 ff. und Peter Pemthaler und Fried Esterbauer, Der Föderalismus, in: Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz, S. 325 ff. n Näher Herbert Schambeck, Föderalismus und Gewaltenteilung, in: Menschenwürde und freiheitliche Rechtsordnung, Festschrift für Willi Geiger zum 65. Geburtstag, Tübingen 1974, S. 643 ff. 50 Dazu Herbert Schambeck, Die Staatszwecke der Republik Osterreich, in: Die Republik Österreich, hgb. von Hans R.Klecatsky, Wien 1968, S. 243 ff. und ders., Möglichkeiten und Grenzen des Föderalismus, in: Bundesstaat heute, hgb. von Alois Mock und Herbert Schambeck, Wien 1983, S. 82 ff., bes. S. 89.
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möglich war, seine persönlichen Anliegen und die organisierten Interessen der Gesellschaft an den Staat heranzutragen, der sich vom sogenannten Nachtwächterstaat51 mit limitiertem Staatszweck zum expansiven Mehrzweckestaat weiterentwickelt hat, welcher neben der Primäraufgabe des Staates, nämlich dem Rechts- und Machtzweck nun auch dem Kultur- und Wohlfahrtszweck dient. Der heutige Staat ist aber sowohl für die Herstellung und Aufrechterhaltung von Ruhe, Ordnung und Sicherheit wie für kulturellen Fortschritt, wirtschaftliches Wachstum und soziale Sicherheit zuständig geworden. Diese Aufgabenvermehrung hat nicht allein eine Erweiterung seiner Hoheitsverwaltung, sondern auch seiner Privatwirtschaftsverwaltung zur Folge gehabt. Als Träger von Privatrechten ist heute in der Demokratie die öffentliche Hand in gleicher Weise Eigenunternehmer, Subventionsverteiler und Auftragsvergeber geworden, was deshalb nicht ohne Problematik ist, weil nach den Grundsätzen des demokratischen Verfassungsstaates dieses Gemeinwesen Kultur-, Sozial- und Wirtschaftsstaat als demokratischer Rechtsstaat, nämlich als Gesetzesstaat sein soll52. Das ist aber leider nicht der Fall. Das Instrumentarium der Gesetzesstaatlichkeit ist im Bereich der Hoheitsverwaltung fast bis zur Perfektion in einer jahrzehntelangen Entwicklung entstanden, ein entsprechendes Rechtsschutzsystem in der Privatwirtschaftsverwaltung ist aber bis heute noch nicht vorhanden, so daß jenes Maß an Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit des Organhandelns, das der Hoheitsverwaltung eine Selbstverständlichkeit geworden ist, in der Privatwirtschaftsverwaltung fehlt. Daher ist die Wirtschaftsstaatlichkeit der modernen Demokratie nicht von der erforderlichen Rechtssicherheit getragen, die zwar durch Übertragung des Rechtsschutzsystems nicht spiegelbildlich von der Hoheits- auf die Privatwirtschaftsverwaltung verfügbar ist, aber der Natur der Sache entsprechend weiter zu entwickeln wäre53. Der Fortschritt in der Entwicklung der Demokratie hat in ihrer im 19. Jahrhundert einsetzenden Symbiose mit dem Liberalismus und der Entstehung der demokratischen Rechtsstaatlichkeit begonnen. Er sollte nicht dadurch verloren gehen, daß der Eindruck entsteht, als würde mit 51 Ferdinand Lasalle „Arbeiterprogramme", Rede „Uber den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes", gehalten am 12. April 1862 in Berlin im Handwerkerverein der Oranienburger Vorstadt, abgedruckt in: Ferdinand Lasalles Gesammelte Reden und Schriften, hgb. und eingeleitet von Eduard Bernstein, Band II, Berlin 1920, S. 195 und Günther Maluschke, Frühliberaler Nachtwächterstaat oder neoliberaler Sozialstaat? in: Der Staat 15/1976, S. 521 ff. 52 Hans R.Klecatsky, Die verfassungsrechtliche Problematik des modernen Wirtschaftsstaates, Graz 1968 und Herbert Schambeck, Vom Sinnwandel des Rechtsstaates. 55 Siehe dazu Ludwig Fröhler, Das Wirtschaftsrecht als Instrument der Wirtschaftspolitik, Wien - N e w York 1969.
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Zunahme der Staatszwecke und damit auch der Staatsaufgaben die Gesetzesstaatlichkeit im Abnehmen begriffen sein, so daß z.B. in der Polizeiverwaltung des Staates mehr Rechtssicherheit gegeben wäre, als in der Wirtschaftsverwaltung. Das Ansehen des Staates gegenüber seinen Bürgern hängt ganz entscheidend von dieser Weiterentwicklung der Gesetzesstaatlichkeit ab, welche ein Erfordernis des Rechtsstaatsgebotes ist, das für die gesamte Vollziehung, d.h. also für die Hoheits- wie Privatwirtschaftsverwaltung in gleicher Weise gilt. Diese Mehrzweckverwendung des Staates, als Folge der Entwicklung der Demokratie, hat in verschiedener Form im Verfassungsrecht ihren Ausdruck gefunden. Das Grundgesetz hat im Art. 28 (1) betont, daß die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates zu entsprechen hat. Anders etwa das österreichische Verfassungsrecht, in dem das Wort Demokratie54 nicht haupt-, sondern nur eigenschaftswörtlich im Zusammenhang mit der republikanischen Staatsform im Art. 1 B-VG gebraucht wird und an keiner einzigen Stelle ein ausdrücklicher Hinweis auf den Begriff des Rechts-, Kultur-, Sozial- und Wirtschaftsstaates zu finden ist. Aus dem Inhalt des B-VG, hingegen ergibt sich deutlich das System österreichischer Rechtsstaatlichkeit sowie die Möglichkeiten österreichischer Kultur-, Sozial- und Wirtschaftsstaatlichkeit. In diesem Zusammenhang sei als Blankoermächtigung an den einfachen Gesetzgeber an die Kompetenztatbestände erinnert und auf das jährliche Bundesfinanzgesetz, das Budget, sowie auf einfache Bundesgesetze verwiesen, aus welchen sich die Anerkennung bestimmter Staatszwecke ableiten läßt. Wo diese Staatszwecke nicht, wie im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, ausdrücklich angegeben und so der Staatsrechtsordnung vorgeschrieben sind, ergeben sie sich als verfassungsmäßig zulässige Möglichkeit für den einfachen Gesetzgeber, der davon Gebrauch machen kann, aber nicht muß; letzteres ist eine politische Entscheidung, die ihre Grenze im Verfassungsrecht, vor allem in den Grundrechten findet. IV. Die Grundrechte waren jahrhundertelang in ihrer Entwicklung Abwehrrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat, sie sind heute auch Gestaltungsmöglichkeiten im Hinblick auf das öffentliche Leben und seine Sozialordnung geworden. In ihrer klassischen Form haben die Grundrechte in liberalen Grundrechten durch Gewährung einer staats54 Näher Herbert Schambeck, sungsgesetz, S. 149 ff.
Die Demokratie, in: Das österreichische Bundes-Verfas-
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freien Sphäre eine Freiheit vom Staat und in demokratischen Grundrechten eine Freiheit im Staat durch Mitwirkung an der Staatswillensbildung eröffnet. In der Folgezeit hat im Zuge der Entwicklung der Demokratie der Einzelne seine Furcht vor dem Staat verloren und anscheinend beim Staat selbst Zuflucht gesucht, was sich in den sozialen Grundrechten zeigt 55 , die auf eine Freiheit durch den Staat ausgerichtet sind. In letzter Zeit ist mit dem Wunsch nach physischer und psychischer Existenzsicherung sogar eine Entwicklung zu einem auch grundrechtlich gesicherten Umweltschutz 5 6 deutlich geworden. Solche sogenannte existentielle Grundrechte müßten beim Recht auf Leben' 7 , auch des ungeborenen Lebens, beginnen; ihre Ausformung setzt allerdings ein entsprechendes Existenz- und Umweltbewußtsein voraus und verlangt ein Bedachtnehmen auf die verschieden möglichen Grundrechtsformen in bezug auf die einzelnen Grundrechtswerte, die im Hinblick auf das entsprechende Menschenbild zu bedenken sind. Letzteres verlangt, vor allem wenn man von dem abendländischen Menschenbild mit seiner Freiheit und Würde ausgeht, die entsprechend nuancierte Nutzung der Rechtsformen des subjektiv öffentlichen Rechts, der Einrichtungsgarantien, der Programmansätze und Organisationsvorschriften. Eine nivellierende Anwendung etwa des subjektiv öffentlichen Rechts auf alle Grundrechtswerte würde das Bild des freien Menschen zerstören, denn, wer ζ. B. den Staat für alles verpflichtet, muß ihn auch zu allem berechtigen. Aus den Grundrechtsformen und in möglicher Entsprechung der Grundrechtswerte ergeben sich die Möglichkeiten für die Politik in der Demokratie, die aber erkennen lassen, daß die klassischen Grundrechte wie etwa die freiheitlichen und die demokratischen Grundrechte sich mit den sozialen und den existenziellen Grundrechten nebeneinander nicht in derselben Grundrechtsform verwirklichen lassen58. Hier zeigt sich deutlich das Phänomen des Reibens der Grundrechte 59 miteinander, so 55 Ausführlicher Herbert Schambeck, Grundrechte und Sozialordnung, Berlin 1969 und Ernst Wolfgang Böckenförde, Jürgen Jekewitz, Thilo Ramm (Hrsg.), Soziale Grundrechte, Heidelberg-Karlsruhe 1981. 5 ' Beachte Herbert Schambeck, Umweltschutz und Rechtsordnung, Osterreichische Juristenzeitung 1972, S. 617 ff. und Hans H. Klein, Ein Grundrecht auf saubere Umwelt, in: Im Dienste von Recht und Staat, Festschrift für Werner Weber, Berlin 1974, S. 643 ff. 57 Beachte Wolf gang Waldstein, Das Menschenrecht zum Leben, Berlin 1982. 58 Siehe dazu grundsätzlich Albert Bleckmann, Allgemeine Grundrechtslehren, Köln-Berlin-Bonn-München 1979 und Edwin Loebenstein, Soziale Grundrechte und die Frage ihrer Justitiabilität, in: Arbeitsrecht und soziale Grundrechte, Festschrift für Hans Floretta zum 60. Geburtstag, Wien 1983, S. 209 ff. 59 So schon Gerhard Müller, Die Drittwirkung der Grundrechte und das Sozialstaatsprinzip, in: Im Dienste der Sozialreform, Festschrift für Karl Kummer, Wien 1965, S. 369 ff., bes. S. 375 ff. Vgl. dazu Herbert Bethge, Zur Problematik der Grundrechtskollisionen, München 1977.
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etwa der Schutz des Eigentums mit dem Umweltschutz oder das Recht auf Arbeit, das zur Pflicht werden kann, mit der Freiheit der Berufsausbildung und der Arbeitsplatzwahl, was für den Falf der gleichen Rechtsform dieser Grundrechte, wie etwa als subjektiv öffentliches Recht, noch deutlicher wird. Neben den Staatsorganisationsvorschriften kommen den Grundrechtsbestimmungen für die Entwicklung der Demokratie eine ausschlaggebende Bedeutung zu. In den Grundrechten äußert sich positivrechtlich das Bild des Menschen 60 , dem die Staatsorganisation 61 zu dienen hat, wenn man von der Auffassung ausgeht, daß der Staat für den Menschen und nicht der Mensch für den Staat da ist; beides setzt ein bestimmtes Verfassungs- und Rechtsbewußtsein voraus. Die Entwicklung der Demokratie ist durch den Weg des Verfassungsstaates 62 wesentlich bestimmt gewesen. Der Verfassungsstaat hat in der Monarchie den Einzelnen vor der Herrscherwillkür geschützt und ihm die Möglichkeiten politischer Mitbestimmung im Staat eröffnet. Diese Verfassungsstaatlichkeit prägte zunächst die konstitutionelle und später die parlamentarische Monarchie. Ihre Bedeutung hat sich nach Ausrufung der Republik gewandelt 63 . War die Verfassung in der Monarchie anfangs ein freiwillig gewährtes Patent des Herrschers für seine Untertanen, ist sie später eine zwischen beiden geschlossene Vereinbarung und letztlich ein auf parlamentarischem Weg zustandegekommenes Gesetz geworden, das die Rechte und Pflichten des Monarchen gegenüber seinen Bürgern bestimmt und abgrenzt. In der demokratischen Republik ist das Volk niemandem gegenüber zu repräsentieren und zu schützen, in diesem Fall ist das Verfassungsrecht als normative Grundordnung des Staates Ausdruck der Selbstordnung und damit auch der Selbstbeschränkung eines Volkes, in dem auf dem Weg demokratischer Staatswillensbildung die Staatsorgani-
60 Dazu Herbert Schambeck, Menschenbild und Staatsform, S. 26 ff. und Willi Geiger, Carl Friedrich Hadding, Gunnar Heckscher und Herbert Schambeck, Menschenrecht und Menschenbild in den Verfassungen Schwedens, Deutschlands und Österreichs, Karlsruhe 1983. " Beachte Staatsorganisation und Staatsfunktionen im Wandel, Festschrift für Kurt Eichenberger, Basel 1982, darin besonders Klaus Stern, Die Verbindung von Verfassungsidee und Grundrechtsidee zur modernen Verfassung, S. 197 ff. " Siehe Carl Joachim Friedrich, a. a. O. und Günther Maluschke, Philosophische Grundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, Freiburg/München 1982 sowie Demokratie in Anfechtung und Bewährung, Festschrift für Johannes Broermann, Berlin 1982. " Vgl. Herbert Schambeck, Der Verfassungsbegriff und seine Entwicklung und Emst Friesenhahn, Bewahrung und Bewährung der Verfassung, in: Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft 1982, Köln 1983, S. 5 ff.
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sation, die Grundrechte und allenfalls die Staatszwecke bestimmt werden. Hat in der Monarchie das Verfassungsrecht das Volk vor dem Herrscher und seiner Regierung geschützt, so ist es in der demokratischen Republik die Minderheit, die des Schutzes vor der Willkür der Mehrheit bedarf. Das Rechtsstaatsgebot der Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit staatlichen Handelns gilt auch für den demokratischen Verfassungsstaat. Die Verfassung hat daher eine Schutzfunktion' 4 , da sie die Staatsrechtsordnung der Dispositionsfreiheit der einfachen parlamentarischen Mehrheit entzieht. Es kommt daher in einem demokratischen Staat sehr darauf an, welche Rechte verfassungsgesetzlich und welche einfachgesetzlich geschützt werden. Treffend hob Werner Kägi hervor: „Die Logik der Verfassung als normative Ordnung fordert, daß auch das ,Volk' nicht in jeder Form als Souverän, sondern in seinen verschiedenen verfassungsmäßigen Zuständigkeiten tätig wird und daß sein Wille demgemäß nicht in allen Fällen gleich mächtig ist. Normativ gesehen werden so die Unterscheidungen von verfassungsgebender, verfassungsändernder und gesetzgebender Gewalt, welche die Dogmatik der volonte generale zu verwischen droht, grundlegend"". V. Die Verfassung hat in einer Demokratie Ausdruck des Volkswillens zu sein, den sie zur Staatsgewalt verdichtet; sie hat dabei Anliegen des Einzelnen, die Interessen der Gesellschaft und die Zwecke des Staates zu berücksichtigen. In dieser Weise hat eine Verfassung eine Repräsentations-, Integrations- und Antwortfunktion zu erfüllen. In vielen Fällen kommt im Zuge der Entwicklung der Demokratie noch eine soziale Korrekturfunktion insofern hinzu, als das Verfassungsrecht die Möglichkeit einer Sozialhilfe eröffnen soll. Diese Funktionen der Verfassung sind im 19.Jahrhundert in der Auseinandersetzung mit dem Herrscher auf dem Weg der Entwicklung der Demokratie entstanden, wobei man von einer Trennung, zumindest von einer Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft ausging. Das Demokratiegebot wurde auf den Staat bezogen. Dabei war man bemüht, durch eine nuancierte Demokratisierung der Staatsfunktionen und einer Symbiose von Demokratismus und Liberalismus eine Jakobinisierung des Staates zu verhindern. So stehen grundsätzlich den Politikern im
M So Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, S. 53 ff. und Karl Korinek, Verfassungsbewußtsein in Österreich, Schriftenreihe Niederösterreichische Juristische Gesellschaft, Heft 33/34, St. Pölten 1983, S . 7 f . 65 Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, S. 182.
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Parlament und in der Regierung Berufsbeamte und Berufsrichter zur Seite bzw. gegenüber. In der Verfassungsgerichtsbarkeit beurteilen die Richter die Verfassungsmäßigkeit der Politik in der Demokratie". Ebenso wie eine totale Demokratisierung des Staates auf Kosten der Liberalität des Staates die Selbstbestimmung des Volkes zu Lasten der Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit des Staates erweitern würde, wodurch die Freiheit des Einzelnen nicht vergrößert, sondern geschmälert würde, entstünde ebenso eine Gefahr der Jakobinisierung in einem Gemeinwesen dadurch, daß man alle Bereiche der Gesellschaft in gleicher Weise zu demokratisieren suchte. Schon Hannah Arendt hat in ihren Betrachtungen über „Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart" darauf hingewiesen, daß die abendländische Kultur von der Trennung von Politischem und Nichtpolitischem in unserem Leben ausgeht, lebendige Begriffe wie Staat, Verfassung, Freiheit, Individuum entwickelt hat, ohne die wir heute gar nicht denken können; wo wir aber den unterschiedlichen Geltungsanspruch dieser Begriffe nicht erkennen, gefährden wir uns selbst67. In diesem Zusammenhang gilt es auch, auf Gedanken von Wilhelm Hennis über „Demokratisierung - zur Problematik eines Begriffes" zu verweisen, der in diesem Zusammenhang hervorgehoben hat: „Wer ihre abendländische Ursprungsproblematik abschneidet, treibt nicht Ideologiekritik, sondern legt die Axt an die Wurzel der Sache' 8 ." Wohl wird es in einem Staat mit demokratischer Verfassungsstruktur darauf ankommen, daß das demokratische Element der Staatsordnung nicht mit einer Gesellschaftsordnung konfrontiert ist, die ihr widerspricht, daraus ist aber nicht abzuleiten, daß jedes demokratische Baugesetz eines Staates die Demokratisierung der Gesellschaft verlangt, eine solche wird sich vor allem auf politische Bereiche beziehen, auf die übrigen nach ihrer Politikrelevanz im Hinblick auf ihre jeweiligen Sachstrukturen jeweils verschieden. Die demokratische Gestaltung der Staatsfunktionen hat jeweils anders zu erfolgen, als etwa die Demokratisierung der Familie, Schule, Hoch-
" Vgl. dazu Rene Marcic, Verfassung und Verfassungsgericht, Wien 1963, Klaus Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, Opladen 1980 sowie Herbert Schambeck, Österreichs Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, in: Im Dienst an Recht und Staat, internationale Festschrift Erwin Melichar zum 70. Geburtstag, Wien 1983, S. 185 ff. " Hannah Arendt, Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart, Frankfurt am Main 1957, S.9. " Wilhelm Hennis, Demokratisierung. Zur Problematik eines Begriffes, Köln-Opladen 1970, S. 23; siehe auch grundsätzlich Walter Leisner, Demokratie - Selbstzerstörung einer Staatsform? Berlin 1979; ders., Der Gleichheitsstaat - Macht durch Nivellierung, Berlin 1980 sowie ders., Die demokratische Anarchie - Verlust der Ordnung als Staatsprinzip?, Berlin 1982.
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schule, Kirche", Betriebe usw. Diese Unterschiede nicht zu beachten, würde zu einer Schädigung der Lebenskraft der Gesellschaft und letztlich der Freiheit des Einzelnen führen; auch sie wäre eine Form der Jakobinisierung, die das Gleichgewicht von Demokratismus und Liberalismus zerstört. Diese skizzierten Gedanken zeigen, wie groß die Verantwortung in der Demokratie70 ist, deren Entwicklung über das bloß Normative hinaus zu bedenken ist. In ihrer Entwicklung ist die Demokratie zunächst auf die Gestaltung des Staates ausgerichtet gewesen, nach der mehr oder weniger gelungenen Demokratisierung des Staates, die mit liberalen Einflüssen gepaart ist, ergibt sich in der Zeit, in welcher in Staaten mit republikanischer Staatsform das Volk sich selbst und keinem Monarchen gegenüber gestellt ist, die für die Zukunft erhobene Frage, wie die Demokratie nach den jeweiligen Sachgebieten in Staat und Gesellschaft jeweils differenziert ausgeführt werden kann. Da die meisten Staatsrechtsordnungen auch im 20. Jahrhundert noch von der klassisch gewesenen Trennung von Staat und Gesellschaft ausgehen, wird ein Weiterdenken in staatsrechtlicher und gesellschaftspolitischer Sicht in gleicher Weise erforderlich sein. Wo das Verfassungsrecht eines Staates, wie ζ. B. in Osterreich, dazu nichts eigenes aussagt, werden es vor allem die Grundrechte sein, die hier wegweisend im Rahmen des verfassungsmäßig Zulässigen und damit auch abgrenzend von Bedeutung71 sind. Es kann nur gehofft werden, daß die ausgewogene Bemühung um die Mitte zwischen totaler Demokratisierung aller Staatsfunktionen einerseits und autoritäter Staatsführung andererseits, welche der demokratische Rechtsstaat in der Symbiose von Liberalismus und Demokratismus gefunden und in dem sich das System der Gesetzesstaatlichkeit bewährt hat, auch ausgleichend in bezug auf die Bereiche des Gesellschaftslebens im intermediären Bereich wirkt und daß zwischen der Willkür von Einzelmenschen und solcher der Kollektive ein Freiheit und Sicherheit gewährender Mittelweg gefunden wird. Die Gesetzesstaatlichkeit, die im Dienste der Demokratie steht, könnte hierzu durch eine Hinführung zur Rechtsgesinnung einen entsprechenden Beitrag leisten. Die Rechtsgesinnung kann ein Ordnungsbewußtsein erzeugen, das über den Bereich des Staates wirkt und auch für die Gesellschaft von Bedeutung sein kann. " Siehe z . B . Herbert Schambeck, Kirche und Demokratie, in: Kirche und Staat, Festschrift für Fritz Eckert, Berlin 1976, S. 103 ff. 70 Dazu Herbert Schambeck, Die Verantwortung in der modernen Demokratie, in: Verantwortung in Staat und Gesellschaft, hgb. von Alois Mock und Herbert Schambeck, Wien 1977, S.37ff. 71 Vgl. Felix Ermacora, Handbuch der Grundfreiheiten und der Menschenrechte, Wien 1963 und Bestand und Bedeutung der Grundrechte, Europäische Grundrechtszeitschrift vom 2 9 . 1 1 . 1 9 7 8 , 5. Jg., Heft 19-22.
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Leider hat sich diese Rechtsgesinnung in den letzten Jahrzehnten nicht entsprechend entwickelt. Die von den Rechtspositivisten propagierte Trennung von Recht und Ethik hat das Wertdenken zurücktreten lassen. An die Stelle der Ethik scheinen immer mehr die Interessen und Ideologien getreten zu sein, die zwar die Politik in der Demokratie einsichtiger, aber immer weniger von allen anerkannt sein lassen. Die Gesetze werden in diese Zerreißprobe der pluralistischen Demokratie gestellt und haben unterschiedliche Funktionen zu erfüllen72. Das Recht wird zum Kampfinstrument zwischen den Ideologien und Interessen, was sich auf den verschiedenen Stufen des Gesetzesrechtes dokumentiert. So gibt es auch Verfassungsrecht auf Zeit, womit sich das Staatsrecht in das Provisorische und Experimentelle verliert und immer mehr die Normativkraft verliert, vor allem aber seine Kontinuitäts- und Stabilitätsfunktion gefährdet. Ahnliches läßt sich auch in bezug auf das einfachgesetzliche Recht sagen. Schon Klaus Stern bemerkte: „Unsere Rechtskultur ist, das muß leider registriert werden, nicht mehr auf der einstigen Höhe: Die Ordnungsfunktion des Rechts und die Stabilität der Gesetze wanken beträchtlich - Vorschaltgesetze, rasche Änderungsgesetze, Zeitgesetze, Maßnahmengesetze sind an der Tagesordnung . . . Zeitdruck ist ein schädliches Instrument bei der Rechtserzeugung 73 ." Diese Hektik des Rechtslebens fußt auch auf der Hektik des parteipolitischen Erfolgszwanges und paart sich mit dem Gesetzesstaatsgebot, das zur Bindung der Vollziehung an die Gesetze verpflichtet und bei der ständigen Mehrung der Staatsaufgaben eine Gesetzesflut hervorruft, die mangels möglicher Rechtskenntnis nicht zur Rechtssicherheit, sondern Rechtsunsicherheit führt. Fehlende Rechtsgesinnung und Rechtsüberzeugung sind die Folge! Dies wirkt sich vor allem in einer Zeit zunehmender Pluralität der Demokratie negativ aus, die infolge schwieriger werdender Wirtschafts- und Sozialsituationen Belastungen verlangt, welche staatspolitisch die allgemeine Anerkennung von Grundwerten des öffentlichen Lebens voraussetzen. „Das Recht als Zeuge des Gewissens" 74 ist nur selten erlebbar, die Ignoranz der demokratischen Rechtsordnung gegenüber nimmt zu. Eine Politik der Demagogie ist in der Demokratie, will sie als Gesetzesstaat bestehen bleiben, einfach gefährlich. Warnend hat schon Helmut Schelsky erkannt: „Wir sind zur 72 Näher Herbert Schambeck, Das Gesetz und seine Funktion heute, in: Aus Österreichs Rechtsleben in Geschichte und Gegenwart, Festschrift für Ernst C. Hellbling zum 80. Geburtstag, Berlin 1981, S. 45 ff. 73 Klaus Stern, Rechtliche und ökumenische Bedingungen der Freiheit, Zeitschrift für das gesamte Familienrecht, 23. Jg., März 1976, S. 131. 74 Siehe Theo Mayer-Maly, Das Recht als Zeuge des Gewissens, in: Europäisches Rechtsdenken in Geschichte und Gegenwart, Festschrift für Helmut Coing zum 70. Geburtstag, Bd. 1, München 1982, S. 597 ff.
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Republik der starken Worte geworden. Das aber scheint fast die einzige Stärke zu sein, die unsere Politiker diesem Staate noch übrig lassen wollen. Ihre verbalen Kraftakte nehmen in dem Maße zu, wie der Staat an Leistungsfähigkeit verliert . . . die subtilere Demagogie zerbröckelt wichtigere Grundlagen unseres Staates75." Wem im demokratischen Staat von der Verfassung her Autorität als Staatsfunktionär gegeben ist, muß diese pflichtgemäß zur Geltung bringen, und wer als Bürger um die Zusammenhänge demokratischer Ordnungsstrukturen weiß, muß sich für diese einsetzen und sie nötigenfalls verteidigen. Es ist jenes Verpflichtetsein, das im Lateinischen das Wort Conscientia, das Mit-Wissen und Gewissen bedeutet, ausdrückt. Leider ignorieren viele diese Verpflichtung; die Folgen gefährden dann nicht bloß eine Herrschaftsordnung in ihrer Rechtsgeltung, sondern die Demokratie selbst, für welche die Rechtsgesinnung als Aufgabe besteht und welche die Demokratie von der Anarchie erst abgrenzt. Diese Gefahr hat kürzlich Franz Bydlinski mit Nachdruck verdeutlicht: „Alle Anstrengungen der Jurisprudenz und intellektuell ernst zu nehmender Rechtspolitik sind aber gänzlich müßig ohne die Bereitschaft der schlichten Rechtsgenossen, sich einigermaßen an das zu halten, was bei jenen Anstrengungen herauskommt. Wer sich aktiv an der Zersetzung der Rechtsgesinnung des schlichten Rechtsgenossen beteiligt, mag sich zugleich noch so sachkundig mit juristischen Problemen (einschließlich der rechtspolitischen) auseinandersetzen: Er trägt dazu bei, daß solche Auseinandersetzung immer mehr ihren Sinn verliert. Wer nicht müde wird, das geltende Rechtssystem oder das Recht überhaupt als irrelevant oder gar verachtenswert darzustellen und sich so bemüht, allen die auf ihn hören, die Rechtsgesinnung auszutreiben, muß selbstverständlich damit rechnen, daß die allenfalls später, wenn er die erstrebte politische Macht und damit die Gesetzgebungsgewalt errungen hat, von ihm produzierten Gesetze ebenso ignoriert werden oder der Verachtung anheimfallen 7 '." Bydlinskis Situationsanalyse stimmt mit der Auffassung von Karl Korinek überein: „Diese Krise der Rechtsgesinnung zeigt sich . . . im teilweisen Verlust des Willens zur Legalität: Verstöße und Umgehungen des Rechts nehmen zu; manche werden als ,Kavaliersdelikte' qualifiziert. Der, der Rechtsschranken - meist sagt man: die formalen Schranken des Rechts - umgeht, triumphiert oft 77 ." Helmut Schelsky, Der selbständige und der betreute Mensch, Stuttgart 1976, S. 145. Franz Bydlinski, Rechtsgesinnung als Aufgabe, in: Festschrift für Karl Larenz zum 80. Geburtstag, München 1983, S.6. 77 Karl Korinek, Verfassungsbewußtsein in Österreich, S.233; siehe zum Grundsätzlichen schon Hans Huber, Niedergang des Rechts und Krise des Rechtsstaates, in: Demokratie und Rechtsstaat, S. 59 ff. 75
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Diese Gefahr der Manipulation und Ignoranz des Rechts wäre nicht so groß, wenn dieses Rechtsdenken von einer entsprechenden Ethik begleitet wäre, die heute aber als Folge des Rechtspositivismus fehlt. Dieser Weg ist nicht überraschend. Mit Recht hat Theo Mayer-Maly festgestellt: "Uber hundert Jahre lang wurden die Studenten vor allem darüber unterrichtet, was das Recht von der Ethik trennt. Jetzt können wir zur Kenntnis nehmen, was am Ende eines solchen Emanzipationsprozesses steht. Unsere Gesellschaft ist permissiv geworden: Eine Fülle vordem verpönter und mißachteter Verhaltensweisen bleibt straflos oder gilt gar nicht mehr als rechtswidrig. Verstöße gegen das Recht werden oft als Resultat negativer Entwicklungsfaktoren und nicht als zu verantwortende Schuld gedeutet78." Dieser Mangel an Mut zum Einstehen für Rechtsentscheidungen verbindet sich noch dazu mit der Unkenntnis oder zumindest dem Unwillen, die Eingebundenheit des Rechts in die gesamte Sozialordnung des Mitmenschlichen wahrzunehmen. Schon Fntz Werner mahnte: „Der Jurist sollte es am besten wissen, daß das Recht nicht über allen Lebensordnungen schwebt, sondern nur eine Teilsicht auf das Leben vermittelt™." So führen Gedanken über die Entwicklung der Demokratie zu den Tendenzen der Ordnung im Staat, zum Ordnungsbewußtsein des Einzelnen und damit letztlich zur Konfrontation des Einzelnen mit sich selbst, der in der Demokratie Subjekt und Objekt der Politik ist.
73 Theo Mayer-Maly, Grundsätzliche Überlegungen zur Wirksamkeit des Rechts bei der Bekämpfung von Korruption, in: Korruption und Kontrolle, hgb. von Christian Brünner, Wien-Köln-Graz 1981, S.503f. " Fritz Werner, Wandelt sich die Funktion des Rechts im sozialen Rechtsstaat?, in: Die moderne Demokratie und ihr Recht, Festschrift für Gerhard Leibholz zum 65. Geburtstag, 2. Bd., Tübingen 1966, S. 162.
Die Rechtspflicht des Staates zur Stabilitätspolitik und der privatrechtliche Nominalismus"" Ein Versuch über Reaktions- und Legitimationszusammenhänge zwischen öffentlichem und privatem Recht KARSTEN SCHMIDT
I. Grundlagen 1. Das Geld- und Währungsrecht als interdisziplinärer Rechtsstoff a) Es ist viel über die Notwendigkeit interdisziplinären Forschens in der Rechtswissenschaft gesagt und geschrieben worden. Wer frei ist von messianischem Eifer, wird gerechterweise zweierlei feststellen müssen: erstens, daß die Forderung nach dem Blick über die Grenzen der wissenschaftlichen Disziplinen so jung nicht ist, wie sie gern von ihren Befürwortern gemacht wird1, und zweitens, daß in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten die Bereitschaft der Rechtswissenschaft, unter Wahrung ihrer normativ-ordnenden Aufgabe auf Anstöße der Nachbardisziplinen zu reagieren, beträchtlich zugenommen hat2. Während nun das Verhältnis zwischen der Rechtswissenschaft und ihren Nachbarwissenschaften in unseren Tagen ständiger Gegenstand kritischer - nicht immer nüchterner! - Betrachtung ist, findet das Verhältnis der Rechts-
* Die folgenden Überlegungen basieren auf Vorbereitungen zu dem in Fn. 5 angeführten Werk; das Manuskript dieser Aufsatzbearbeitung entstand im September/Oktober 1983. 1 Man lese etwa Wilhelm Endemann, Das Deutsche Handelsrecht, 2. Aufl. 1868, S. 62; 4. Aufl. 1887, S. 45; der um diesen Ansatz geführte Methodenstreit wird etwa erkennbar in den Besprechungen der ersten Auflage durch Koch, Busch's Arch. 5 (1865), 516ff.; 7 (1866), 451 ff. 1 Am besten verdeutlicht dies die krasse Außenseiterposition von Emst Wolf, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, 3. Aufl. 1982, der jede gesellschaftliche Begründung des Rechts als Verfälschung betrachtet (S. 59), jede politische Bedingtheit des Rechts leugnet (S. 65) und - wie auch jüngst in einem Diskussionsbeitrag auf der Zivilrechtslehrertagung 1983 - jede historische Rechtfertigung „objektiven" Rechts ablehnt (S. 67ff.); als Dokument der wechselseitigen Bezüge vgl. die beiden Bände von Dieter Grimm (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften, 1973 und 1976, mit Beiträgen von 30 Autoren; über den Niederschlag interdisziplinärer Arbeit in der Lehre vgl. insbesondere Hom/Tietz (Hrsg.), Sozialwissenschaften im Studium des Rechts, Bd. I 1977, mit Beiträgen von 18 Autoren aus Rechts- und Wirtschaftswissenschaften.
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Karsten Schmidt
disziplinen untereinander nicht die gleiche Aufmerksamkeit 3 . Abgrenzungsprobleme werden hier über Koordinationsprobleme gestellt, und ganz offenbar geht mit einem immer stärker ausdifferenzierten Rechtssystem ein Zug zur Spezialisierung einher, der die gleichzeitige Befassung mit unterschiedlichen Rechtsdisziplinen leicht in den Verdacht des Dilettantismus bringt. Das muß vor allem den Wirtschaftsrechtler verwundern, demonstriert doch das Wirtschaftsrecht in besonderem Maße die wechselseitige Durchdringung von Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht, Privatrecht und Strafrecht (einschließlich des Ordnungswidrigkeitenrechts) 4 . Daß sich solche Durchdringung nicht in der Notwendigkeit fachübergreifender Sachkunde erschöpft (solche Sachkunde wäre ja unschwer durch Befragung einzelner Fachvertreter erreichbar!), daß sie vielmehr den Rechtsstoff inhaltlich ausfüllt und deshalb Grundlage systematischer Rechtsfindung sein kann, soll hier am Beispiel des Geldund Währungsrechts verdeutlicht werden. Dieses Gebiet, selbst in den tradierten Rechtsdisziplinen heimatlos 5 , ist wie nur wenige zu einer solchen Demonstration geeignet, denn es nötigt nicht nur zu interdisziplinärer (ökonomischer und juristischer) Wissenschaft 6 , sondern auch zu fächerübergreifender Jurisprudenz 7 . U m dieses letzte, also um das Zusammenwirken juristischer Disziplinen im Dienste systematischer Erkenntnis, soll es im folgenden gehen. Dabei wird die in Wahrheit nur unrichtig gestellte 8 Frage, ob der Rechtsbegriff „ G e l d " dem öffentlichen' oder dem privaten Recht angehört 10 , denen überlassen, die hierin einen lohnenden Diskussionsgegenstand erblicken. Hier stehen nicht Detailprobleme zur Diskussion, sondern ein konkreter Ertrag einer recht 5 Naturgemäß sind die Abgrenzungs- und Koordinationsprobleme etwa des materiellen Zivilrechts im Verhältnis zum Verfahrensrecht, des Staatsrechts und des Völkerrechts, des Strafrechts und des bürgerlichen Rechts (vor allem im Bereich des Eigentums- und Vermögensschutzes), des Handelsrechts und des Zivilrechts, des Marktordnungsrechts und des Lauterkeitsrechts etc. im Grundsatz längst erkannt; die Beiträge zur Einheit der Rechtsordnung sind gleichwohl noch außerordentlich unvollkommen. 4 Uber „Das Wirtschaftsrecht im - abklingenden - Spannungsfeld zwischen öffentlichem und privatem Recht" vgl. Rinck, WiR 1972, 5. 5 Vgl. Karsten Schmidt, Geldrecht, 1983, S. XXIII, insoweit nicht in: Staudinger, B G B , 12. Aufl., §§ 244-248. ' Vgl. nur Schaelchin, Das Geld als ökonomische und juristische Kategorie, 1949, insbes. S. 77 ff. 7 Näher Karsten Schmidt, Geldrecht (Fn.5), S. XXIII f. 8 Fügen, Geld- und Währungsrecht, 1969, S.6; Karsten Schmidt, Geldrecht (Fn.5), Vorbem. A 4 zu $244; vgl. auch bereits Frauenfelder, Das Geld als allgemeiner Rechtsbegriff, 1938, S. 74 ff., der aber (S. 190 ff.) den Geldbegriff seinerseits als „öffentlichrechtlichen Begriff im Privatrecht" einordnet. ' So Gerher, Geld und Staat, 1926, S. 59 ff-, 72 ff. 10 Jun&> Das privatrechtliche Wesen des Geldes, 1926, passim; Emst 'Wolf, Schuldrecht, Bd. 1, 1978, S. 152.
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verstandenen „Einheit der Rechtsordnung"11: eine aus der Reaktionsverbundenheit von Währungswesen und Privatrecht ableitbare Rechtspflicht des Staates zum Schutz des Geldwerts. Dies, und nur dies, ist im vorliegenden Beitrag mit dem Terminus „Stabilitätspolitik" gemeint12. b) Der Beitrag versteht sich mithin als ein exemplarischer Versuch über systematische Rechtswissenschaft, nicht als die Entwicklung einer inhaltlich revolutionären These. Er soll und wird auch nichts an dem Faktum ändern, daß die Staatspflicht zur Stabilitätspolitik in den Konturen verschwommen und in den Sanktionen unvollkommen bleibt. Bisher schon ist nämlich diese Staatspflicht in weitem Maße anerkannt, und sie ist doch zugleich eine durch politische Einschätzungsspielräume relativierte und letztlich nur politisch durchsetzbare Pflicht13. Wenn es der hier vorgelegte Essay bei diesem Befund beläßt, kann nicht handgreifliche Wirksamkeit, wohl aber Erkenntnis sein Anliegen sein: die Erkenntnis, daß und warum Stabilitätspolitik trotz dieser Einschränkungen Gegenstand einer Rechtspflicht sein muß. 2. Institutionenbildung und Einheit der Rechtsordnung Von der Einheit der Rechtsordnung wird heute meist im Zusammenhang mit der Norminterpretation gesprochen. Es geht dann um die Vermeidung von Wertungswidersprüchen im Bereich von Nonninterpretation und Normanwendung: um Rechtsquellenkombination und Rechtsquellenharmonisierung14. „Integration durch Interpretation" (Göldner) entspricht denn wohl auch dem ursprünglichen Anliegen von Karl Engisch15, auf den sich, wer immer von der „Einheit der Rechtsordnung" spricht, bis heute beruft. In Wahrheit hat aber gerade Engisch bereits die institutionenbildende Kraft dieses Rechtsgedankens und die 11 So der zur Parömie gewordene Titel bei Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, 1935; vgl. dazu auch Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 161; eingehende Nachweise bei Sandrock, Die Einheit der Wirtschaftsordnung, 1971, S. 1 f. 12 Daß diese traditionelle Terminologie keine Allgemeingültigkeit in Anspruch nehmen kann, sei zur Vermeidung von Mißverständnissen angemerkt; vgl. eingehend Cassel/ Thieme, in: Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik II, 1981, S. 267, 269. 15 Vgl. im Überblick von Maydell, Geldschuld und Geldwert, 1974, S.74ff.; Karsten Schmidt, Geldrecht (Fn. 5), Vorbem. A 47 ff. zu §244; dort jeweils weitere Nachweise. 14 Vgl. nur Larenz, Methodenlehre (Fn. 11) S.299f.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982, S. 463 f.; Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. 1982, S.97ff.; besonders aber Göldner, Verfassungsprinzip und Privatrechtsnorm in der verfassungskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung, 1969, S. 52 ff. 15 Vgl. Engisch (Fn. 11), insbes. S. 43 ff. über technische Widersprüche, S. 46 ff. über Normwidersprüche, S. 59 ff. über Wertungswidersprüche, S. 64 ff. über Prinzipienwidersprüche.
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in ihm wohnende Dialektik von Rechtsetzung, Rechtserkenntnis und Rechtsfortbildung mit Nachdruck hervorgehoben. Nach Engisch16 „wirken Auslegung aus dem Zusammenhang, Analogie, Verallgemeinerung, Konstruktion den Teppich der einheitlichen Rechtsordnung in stetigem Einsatz der juristischen Kunst. Zugleich aber erwächst auf diese Weise das sogenannte ,innere System' der rechtswissenschaftlichen Gedanken. Wir bemerken hier die enge Verknüpfung von Gegenstand der Erkenntnis und Methode. Denn der Inhalt methodisch gewonnener systematischer Rechtserkenntnis wird in die Rechtsordnung selbst als deren innere Einheit projiziert. Dem logischen Zusammenhang der rechtswissenschaftlichen Urteile korrespondiert der axiologische Zusammenhang der Sollenssätze. Aber allerdings ist auch der logische Zusammenhang der juristischen Gedanken ermöglicht und bestimmt durch die schon gegebenen normativen und teleologischen Bezüge innerhalb der Rechtsordnung selbst, die als Erzeugnis menschlichen Geistes kein amorphes Chaos ist (was nachzuweisen ja das eigentliche Ziel unseres Unternehmens ist). Was die Rechtsordnung implicite birgt, wird von der Rechtserkenntnis explicite entwickelt. So steht alles in Wechselwirkung! Erkenntnis und Gegenstand der Erkenntnis bereichern sich gegenseitig." Eben darum soll es hier gehen: um einander bedingende Rechtssätze und um die aus wechselseitiger Bedingtheit erwachsende Erkenntnis geltenden Rechts. N u r wenn sie dies versucht, kann die Rechtswissenschaft jenem Ziel nachstreben, das Canaris17 als Aufgabe systematischen Denkens im Recht bezeichnet: „die wertungsmäßige Folgerichtigkeit und innere Einheit der Rechtsordnung darzustellen und zu verwirklichen". 3. Die Legitimationsvoraussetzungen des Privatrechts als Gegenstand institutionellen und interdisziplinären Denkens a) Man braucht sich nicht auf die Seite der Ordoliberalen zu schlagen18 oder einem Wandel vom liberalen zum sozialen Privatrecht das Wort zu reden", um das Legitimationsbedürfnis der Privatrechtsordnung zu erkennen. Wird diese Frage herkömmlich meist nur für das Legitimationsbedürfnis der Privatautonomie gestellt20, so geht es hier um " S. 83f.; dazu auch Latenz, Methodenlehre (Fn. 11), S. 161. Systemdenken (Fn. 14), S. 18. 18 Uber das „nicht private Privatrecht" als Legitimationsproblem vgl. Mestmäcker, Macht - Recht - Wirtschaftsverfassung, Z H R 137 (1973), 97ff. = (Neuabdruck), in: Die sichtbare Hand des Rechts, 1978, S. 9 ff. " Vgl. dazu den Beitrag von Spellenberg, in: Kritik Bd. 5, Recht im sozialen Rechtsstaat, 1973, S. 23 ff. 20 Dies ist der Gesichtspunkt der „Richtigkeitsgewähr" im Vertragsrecht; vgl. dazu mit Unterschieden im einzelnen: Schmidt-Rimpler, Grundfragen einer Erneuerung des Privat17
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ein weitaus offenkundigeres Legitimationsproblem: u m die tatsächliche Gewährleistung der Wirkungsvoraussetzungen dispositiven und zwingenden Rechts. Während nämlich das Legitimationsbedürfnis privatautonomer Gestaltung durchaus nicht unproblematisch ist 21 , liegt auf der H a n d , daß die Wirksamkeit zwingenden oder dispositiven Privatrechts nicht unabhängig v o m Vorhandensein tatsächlicher und rechtlicher Wirksamkeitsz>ora«5setz««ge« sein kann. Anders gesagt: D i e tatsächlichen und rechtlichen Prämissen privatrechtlicher N o r m e n müssen „ s t i m m e n " , und dies zu bewerkstelligen, ist Sache des Staates. W o diese Sache des Staates zur Rechtspflicht wird, kann diese Pflicht nur eine öffentlich-rechtliche sein. D a s war gemeint, als eingangs auf das Miteinander der Rechtsdisziplinen hingewiesen wurde, und das soll hier am Beispiel des N o m i n a l i s m u s demonstriert werden. b) D i e fächerübergreifende Diskussion u m Privatrecht und öffentliches Recht kreist vor allem u m drei Schwerpunktbereiche: um die A b g r e n z u n g der Disziplinen 2 2 , u m die sog. Drittwirkung der G r u n d rechte 23 und u m die Privatrechtsgestaltung durch hoheitliche Maßnahmen, insbesondere durch den „privatrechtsgestaltenden Staats-(Verwalt u n g s - ) A k t " 2 \ D i e allgemeinen Legitimationsvoraussetzungen eines funktionierenden und verbindlichen Privatrechts, u m die es hier geht, sind weitaus weniger aufbereitet und insbesondere im Fragenkreis u m Privatrecht und G r u n d g e s e t z kaum z u m eigenen Themenbereich gedie-
rechts, A c P 147 (1941), 130ff.; ders., Zum Vertragsproblem, in Festschr. Raiser, Tübingen 1974, S. 3 ff.; Bydlinski, Privatautonomie und objektive Grundlagen des verpflichtenden Rechtsgeschat tos, Wien 1967, S. 62 ff.; aus neuerer Zeit etwa Manfred Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich, Tübingen 1970, S. 73 f.; Roscher, Vertragsfreiheit als Verfassungsproblem, 1974, S . 3 0 f f . ; Hörtn, Kompensation gestörter Vertragsparität, 1982, S. 23 ff. 21 Vgl. die Kritik an Schmidt-Rimpler bei Flume, Das Rechtsgeschäft, 3. Aufl. 1979, S. 7 f . ; umgekehrte Kritik (Richtigkeitskontrolle greife zu kurz) bei Roscher (Fn.20), S. 35 f.; noch krasser zuvor Roscher, Vertragstheorie mit Herrschaftsfunktion? Z R P 1972, 111 ff., w o der Vertrag schlechthin als Medium der Machtentfaltung gedeutet und der Mechanismus ausgleichender Kommunikation gleichsam als apologetische Erfindung abgetan wird. 22 D a z u statt vieler Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht, Bd. 1, 9. Aufl. 1974, S . 9 7 f f . ; Larenz, Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, 5. Aufl. 1980, S. 1 ff. " Repräsentativ Leisner, Grundrechte und Privatrecht, 1960, S.285 ff.; nur auf die Methode der „mittelbaren" Grundrechtsdrittwirkung zielt der Sache nach die Kritik von Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, 1971; vgl. S. 26/27 und 107 ff. " Vgl. grundlegend Bürckner, Der privatrechtsgestaltende Staatsakt, 1930; Kroeber, Das Problem des privatrechtsgestaltenden Staatsaktes, 1931; repräsentativ für den Stand der h . M . : Harry Westermann, Der konstitutive und deklaratorische Hoheitsakt als Tatbestand des Zivilrechts, in: Festschrift Michaelis, 1972, S. 337f.; zur rechtsdogmatischen Kritik des Verfassers vgl. Karsten Schmidt, Kartellverfahrensrecht, Kartellverwaltungsrecht, Bürgerliches Recht, 1977, S. 149 ff.
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hen25. Sie gehen durchweg in um die „Wirtschaftsverfassung" kreisende Überlegungen ein26. Diese Einbettung macht die wissenschaftliche Diskussion nicht eben einfacher. Wer von der „Wirtschaftsverfassung" spricht, verwendet einen schillernden Begriff, der stets von neuem Rechenschaft über den Standort und die argumentative Schlagkraft der mit ihm verbundenen Aussagen, also Offenlegung der im Begriff der „Wirtschaftsverfassung" implizierten Prämissen und Wertungen verlangt27. Im vorliegenden Zusammenhang interessiert jene Spielart „wirtschaftsverfassungsrechtlicher" Argumente, die sich mit dem Legitimationsbedürfnis privatrechtlicher Institutionen befaßt. Institutionelles Denken zwingt uns, wie es Franz Böhm28 ausdrückte, über die privatrechtlichen „Regeln, die den einzelnen Tauschakt oder Kaufakt beherrschen", hinweg auf den „multilateralen Ordnungsvorgang der Tauschwirtschaft" zu sehen, aber es zwingt uns auch zu der Überlegung, daß dieser „multilaterale Ordnungsvorgang" nicht aus sich selbst heraus funktionsfähig ist. Die vom Staat zu verwirklichenden Legitimationsvoraussetzungen dieses „Ordnungsvorgangs" sind als Bestandteil der „Wirtschaftsverfassung" zu begreifen, wenn man diese nicht als verfassungsrechtliche Ordnung des Wirtschaftslebens29, sondern - weiter - als Inbegriff der den Wirtschaftsprozeß dauerhaft und grundlegend ordnen25 Eine bemerkenswerte Ausnahme macht die in die Sache freilich problematische Arbeit von Roscher (Fn. 20); Roscher, der die Vertragsfreiheit als privatrechtliche Ausformung der nach Art. 2 G G zu gewährleistenden Selbstbestimmuung ansieht und die tatsächlich bestehenden Machtverhältnisse in diesem Selbstbestimmungsbereich nicht hinreichend legitimiert sieht, dringt auf „Abbau von Herrschaft" und entnimmt der Verfassung Vorgaben für die Gestaltung einer legitimen Privatrechtsordnung. 26 Vgl. dazu Badura, Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung, 1971, S. 17ff.; ders., Grundprobleme des Wirtschaftsverfassungsrechts, JuS 1976, 205ff.; Ballerstedt, Wirtschaftsverfassungsrecht, in: Neumann/Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd.III/1, 1958, S. Iff.; Bohling, Wirtschaftsordnung und Grundgesetz, 1981, S.2ff.; Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, 1961, S. 7ff.; Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, 2. Aufl., Bd. 1, 1963, S.20ff.; Mertens/Kirchner/Schanze, Wirtschaftsrecht, 2. Aufl. 1982, S. 188 f.; Mestmäcker, Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung, in: Festschrift Böhm, 1975, S. 383 ff.; Rinck, Wirtschaftsrecht, 5. Aufl. 1977, Rdn. 58-74; Rittner, Wirtschaftsrecht, 1979, S. 23 ff.; Reiner Schmidt, Wirtschaftspolitik und Verfassung, 1971, S. 89 ff.; Stober, Wirtschaftsverwaltungsrecht, 2. Aufl. 1980, S. 39 ff.; Thiele, Wirtschaftsverfassungsrecht, 2. Aufl. 1974, S. 127ff.; Zacher, Aufgaben einer Theorie der Wirtschaftsverfassung, in: Festschrift Böhm, 1965, S. 63ff.; 101 f.; Zuck, Wirtschaftsverfassung und Stabilitätsgesetz, 1975, S. 11 ff. 27 Vgl. nur Ballerstedt (Fn.26), a.a.O.; Rittner, (Fn.26), S.26f.; Badura, JuS 76, 206 f. 2! Franz Böhm, Wettbewerbsfreiheit und Kartellfreiheit, in: Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, herausgegeben von Emst Joachim Mestmäcker, 1980, S. 233 (237). 29 So der enge Begriff, etwa bei: Reiner Schmidt (Fn. 26), S. 89 f., 121; Zacher (Fn. 26), S. 63 f., 77; Stern, Gedanken über den wirtschaftslenkenden Staat aus verfassungsrechtlicher Sicht, DöV 1961, 325 ff.
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den Rechtssätze begreift30. Um einen solchen Rechtssatz wird es im folgenden gehen: nicht um ein Bekenntnis zu (vorgeblichen oder nachweisbaren) wirtschaftspolitischen Grundentscheidungen der Verfassung und auch nicht um Wege zu einem nach definierten politischen Leitbildern verfaßten - z.B. ordoliberalen - Privatrecht, sondern um etwas geringeres: darum, daß Privatrecht seine Funktionsfähigkeit und normative „Richtigkeit"31 nicht aus sich selbst oder aus einer ihm innewohnenden prästabilierten Harmonie schöpft, sondern aus Voraussetzungen, die entweder tatsächlich vorgegebenen oder - dies ist der hier interessierende Fragenkreis! - vom Staat zu gewährleisten sind. II. Die öffentlich-rechtliche Dimension 1. Die Staatspflicht zur Stabilitätspolitik als Gegenstand des öffentlichen Rechts Obwohl hier gerade die Ableitbarkeit der Rechtspflicht des Staates zur Stabilitätspolitik aus dem Prinzip einer Einheit der Rechtsordnung in Augenschein genommen wird, ist daran zu erinnern, daß diese Pflicht selbst nur dem öffentlichen Recht zugehören kann, folglich auch in der Wissenschaft als Gegenstand des öffentlichen Rechts diskutiert wird. Da auf der anderen Seite eine mit hohem Sachverstand geführte, vor allem staatsrechtliche Diskussion bereits vorliegt und da der vorliegende Beitrag den Akzent auf die privatrechtliche Dimension dieser Rechtspflicht legen wird (unten, III), wird der Nicht-Staatsrechtler den zweiten Teil dieser Untersuchung referierend anlegen und dilettantischen Vorstößen in fremdes Terrain auszuweichen suchen. Vier Komplexe sind in Augenschein zu nehmen: §3 BBankG32, das Sozialstaatsprinzip33, Art. 109 G G und das Stabilitätsgesetz34 sowie schließlich Art. 14 GG35. Jeder dieser
50 So der weite Begriff, z.B. bei Ballerstedt, Wirtschaftsverfassung, in: Bettermann/ Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd.III/1, S.4f.; Badura, JuS 1976, S.207, 210f. 31 „Richtiges" Recht steht hier für innerlich gerechtfertigtes, also der Legitimation bedürftiges und teilhaftiges Recht; ähnliches meint, wenngleich vor rechtsethischem Hintergrund, der Begriff bei Larenz, Richtiges Recht, 1979, S. 12 ff.; vgl. dazu auch Diederichsen, „Richtiges" Familienrecht, in: Festschrift Larenz zum 80. Geburtstag, 1983, S. 127ff.; terminologisch geht die Redewendung vom „richtigen Recht" zurück auf den antipositivistischen, formalistisch- „neukantischen" Ansatz von Stammler, Die Lehre vom richtigen Rechte, neubearbeitete Auflage 1926 (Nachdruck 1964), passim; Kritik an der Lehre von überpositiver „Richtigkeit" übt im Hinblick auf die Thesen Carl Schmitts und die Maßlosigkeiten nationalsozialistischer Rechtsideologie Emst Wolf, Allgemeiner Teil (Fn.2), S. 73. 52 33 34 35
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
sogleich unter II 2. alsbald unter II 3. unter II 4. unter II 5.
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Bereiche wirft allerdings Zweifelsfragen auf, die jedenfalls angeschnitten werden müssen. 2. $3 BBankG? Die Bundesbank hat nach §3 BBankG den Geldumlauf und die Kreditversorgung mit dem Ziel der Währungssicherung zu regeln. Ob sich hierin eine selbständige Aufgabe der Zentralbank ausdrückt, ist streitig36. Unzweifelhaft ist jedoch, daß diese Aufgabe in ein ganzes Aufgabenpaket der deutschen Bundesbank eingebunden ist37. Nun wird sich für die Rechtspflicht des Staates zur Stabilitätspolitik insofern nichts anderes ergeben (vgl. unter IV). Für die Aufgabe der Bundesbank, die Währung zu sichern, ist aber zu bemerken, daß diese Aufgabe zwar Ausdruck einer allgemeinen Staatspflicht zur Stabilitätspolitik, nicht jedoch Grundlage dieser Pflicht sein kann. Die Aufgabe der Währungssicherung liegt nach §3 BBankG auch in der Hand der Deutschen Bundesbank. Davon, daß sie allein in den Händen der Deutschen Bundesbank läge und daß diese damit schlechthin als die Trägerin der Staatspflicht zur Stabilitätspolitik angesehen werden dürfte, kann schwerlich die Rede sein38. Das erkennt auch die Regierungsbegründung des Stabilitätsgesetzes, nach der „die Geld- und Kreditpolitik der Notenbank . . . nur noch in beschränktem Umfang die Entwicklung der Unternehmergewinne und die Investitionstätigkeit beeinflussen kann"39. 3. Art. 109 GG? 109 Abs. 2 G G verpflichtet Bund und Länder bei der Haushaltswirtschaft auf die Teilziele des Stabilitätsgesetzes40: Stabilität des Preisniveaus, hoher Beschäftigungsstand, außenwirtschaftliches Gleichgewicht, stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum. Die Stabilität des Preisniveaus stellt also ein wichtiges, verfassungsrechtlich relevantes Teilziel im Rahmen dieser Verpflichtung dar41. Erblickt man mit der wohl herrschenden Auffassung in Art. 109 Abs. 2 GG nicht bloß eine 36 Bejahend Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 1980, S.481; verneinend Hoffmann-Riehm, AöR 96 (1971), 444. 17 Fügen (Fn. 8), S. 70 ff.; v. Spindler/Becker/Starke, Die Deutsche Bundesbank, 4. Aufl. 1973, S. 20 ff.; Karsten Schmidt, Geldrecht (Fn. 5), Vorbem. A 55 zu §244. 38 Vgl. Stern, Staatsrecht, Bd. 2 (Fn.36), S.478, 481; Fögen (Fn. 8), S.66; HoffmannRiehm (Fn. 36), S.444. 3 ' BT-Drucks. V/890, S. 9. K Vgl. dazu als Uberblick Ziemer, Öffentliche Finanzwirtschaft I, Haushaltsrecht, 7. Aufl. 1981, S.23 ff.; Patzig, Das Haushaltsrecht des Bundes und der Länder, 1981, S.96 f. 41 Vgl. im einzelnen Zuck (Fn.26), S. 134f.; Alex Möller (Hrsg.), Kommentar zum Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft, 2. Aufl. 1969, Art. 109 Rdn. 10.
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programmatische Vorgabe politischer Ziele, sondern einen den Staat unmittelbar verpflichtenden Rechtssatz42 und läßt man das nur zu evidente Problem unzureichender Justitiabilität vorerst außer acht (vgl. dazu erst unter IV), so kann festgehalten werden: Haushaltsmaßnahmen, die inflationsfördernd wirken und nicht durch die Möglichkeit, eines der anderen wirtschaftspolitischen Teilziele zu erreichen, gerechtfertigt sind, müssen nach Art. 109 Abs. 2 G G als verfassungswidrig qualifiziert werden 45 . O b allerdings Art. 109 Abs. 2 G G ausreicht, um Preisstabilität allgemein zu einem Schutzgut der Verfassung zu erklären, ist bis heute umstritten 44 . 4. Sozialstaatsprinzip? Vereinzelt hat man versucht, eine Staatspflicht zur Stabilitätspolitik aus dem Sozialstaatsprinzip herzuleiten. Zugrunde liegt eine Auffassung, die Häberle auf die Kurzformel gebracht hat, nur stabiles Geld sei soziales Geld45. So heißt es bei Bull*6, die herkömmlich-liberale Auffassung von der Neutralität des Währungswesens, m. a. W. der Verzicht auf Umverteilung qua Währungspolitik, sei an sich nicht mehr haltbar und rechtfertige sich aus dem Bestreben, eine inflationäre Veränderung des Geldwerts zu verhindern. Dieses Ziel aber entspreche, wobei Bull vor allem auf Rentner und Sparer sieht, dem Sozialstaatsprinzip. Beim Schutz der schwächeren Schichten als der typischen „Verlierergruppen" der Inflation knüpft schließlich auch Schmidt-Preuß mit der These an, daß schleichende Inflation sozialstaatswidrig sei47. Diese Auffassung muß auf Zweifel stoßen. Daß der Staat die Inschutznahme von Rentnern und kleinen Sparern in seine stabilitätspolitischen Erwägungen einzubeziehen hat, scheint unbestreitbar. Das Sozialstaatsprinzip enthält jedoch, wie es das Bundesverfassungsgericht48 in seinem Beschluß über die 42 Vgl. die Begründung zum RegE des Stabilitätsgesetzes, BT-Drucks. V/890, S. 11; eingehend Reiner Schmidt (Fn.26), S.139ff., 152ff.; Zuck (Fn.26), S. 122, 129; Jarass, Wirtschaftsverwaltungsrecht, 1980, S. 175; Hollmann, Rechtsstaatliche Kontrolle der Globalsteuerung, 1980, S. 93; Stern/Münch/Hansmeyer, Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft, 2. Aufl. 1972, Art. 109 Anm. III, 3; Vogel/Wiebel, in: Bonner Komm, zum G G , Zweitbearb., Art. 109 Rdn.69; Alex Möller (Fn.41), Art. 109 Rdn. 8; Stern, Die Neufassung des Art. 109 G G , N J W 1967, 1831, 1833; - a. A. offenbar Biedenkopf, Rechtsfragen der konzertierten Aktion, BB 1968, 1005, 1006. 43 So ausdrücklich Stern, N J W 1967, 1833; Fischer-Menshausen, in: v. Münch, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 1978, Art. 109, Rdn. 15. 44 Bejahend Papier, Eigentumsgarantie und Geldentwertung, AöR 98 (1973), 528 f., 548; ders., Rechtsprobleme der Inflation, JuS 1974, 478; verneinend Schmidt-Preuß, Verfassungsrechtliche Fragen staatlicher Lohn- und Preisdirigismen, 1977, S. 107. 45 Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, W D S t R L 30 (1972), 43 (62). 46 Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 1973, S. 269. 47 Schmidt-Preuß (Fn.44), S. 108 ff. 41 BVerfGE 50, 57 (108).
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Zinsbesteuerung ausgeführt hat, „primär nur einen Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber". Der Inhalt dieses Gestaltungsauftrags ist durch das Sozialstaatsprinzip nicht in der offenbar von Bull unterstellten Weise präzisiert, vielmehr bestimmt Art. 20 Abs. 1 G G - wiederum in den Worten des Bundesverfassungsgerichts49 - „nur das ,Was', das Ziel, die gerechte Sozialordnung, . . . läßt aber für das ,Wie', d. h. für die Erreichung des Ziels, alle Wege offen". Das Sozialstaatsprinzip zwänge mithin nur dann zur Stabilitätspolitik, wenn das Ziel einer gerechten Sozialordnung mit einer inflatorischen Wirtschafts- und Währungspolitik unvereinbar wäre. Daß dieser Beweis geführt werden könnte, läßt sich nicht ausschließen. Daß er schon geführt wäre, kann indes schwerlich behauptet werden. 5. Art. 14 GG? a) Im Mittelpunkt der verfassungsrechtlichen Diskussion steht naturgemäß Art. 14 GG. Während das Bundesverfassungsgericht in einem Beschluß vom 21.1.1969 ausgeführt hat, Art. 14 G G enthalte „weder eine staatliche Wertgarantie des Geldes noch das währungs- und wirtschaftspolitische Leitbild, die Vorstellung eines stabilen Geldwerts zu verwirklichen" 50 , wird eben hier von einer verbreiteten Ansicht die Rechtsgrundlage einer Staatspflicht zur Stabilitätspolitik gesehen51. Was das im einzelnen bedeutet, ist jedoch wieder zweifelhaft. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewährleistet Art. 14 G G das Privateigentum sowohl als Rechtsinstitut als auch in seiner konkreten Gestalt in der Hand des einzelnen Eigentümers 52 . Das Gericht hat für den besonderen Fall der Geldentwertung in seinem Beschluß vom 19.12.1978 ausdrücklich offen gelassen, „ob in der inflationsbedingten Entwertung von Geldforderungen eine Verletzung
" BVerfGE 22, 180 (204). 50 BVerfG, HFR 1969, S.347; krit. Papier, AöR 98 (1973), 528 (530); ders., JuS 1974, 477, m. w. Nachw. 51 Vgl. mit Unterschieden im einzelnen Mammitzsch, Die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes und die Stabilität des Geldwertes, Diss. München 1967, S. 84,137; Brixner, Geldentwertung und die Eigentumsgewährleistung durch Art. 14 GG, Diss. Münster 1972, S.45f.; Maunz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Lfg. 1969, Art. 14 Rdn. 9; Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum Grundgesetz, 6. Aufl. 1983, Art. 14 Rdn. 3; Kaiser, Mark ist nicht mehr gleich Mark, in: Festschrift E. R. Huber, 1973, S.237 (249); Papier, AöR 98 (1973), 540f.; ders. JuS 1974, 477f.; Selmer, Finanzordnung und Grundgesetz, AöR 101 (1976), 433f.; - a.M. etwa Schmidt-Preuß (Fn.44), S.114f.; Inzitari, Geldschulden im Inflationszeitalter, RabelsZ 45 (1981), 731; eingehend HansJoachim Arndt, Politik und Sachverstand im Kreditwährungswesen 1963, S.265ff.; Suhr, Geldordnung und Grundgesetz, in: Fragen der Freiheit, Folge 161, 1983, S. 8ff. 52
BVerfGE 24, 367 (389); 31, 229 (240); std. Praxis.
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des Art. 14 G G liegt"53. Nach herkömmlicher Deutung wird subjektivrechtlicher Eigentumsschutz nach Art. 14 GG auszuscheiden haben54. Art. 14 G G schützt das individuelle Eigentum sowie eigentumsähnliche, des Eigentumsschutzes fähige und bedürftige Rechtsstellungen55. Dieser Schutz ist nur in der Rechtsfolge, nicht dagegen im Tatbestand Eigentumsze/erigarantie56. Enteignung und enteignungsgleicher Eingriff setzen zwar keinen gezielten Einzeleingriff voraus57, aber jedenfalls nach Auffassung der Praxis doch noch eine konkrete hoheitliche Maßnahme58, und entschädigungspflichtige Maßnahmen sind, folgt man dem Standpunkt des Bundesgerichtshofs, durch das Merkmal eines Sonderopfers definiert5'. An einem solchen Sonderopfer wird es bei inflationsfördernden Maßnahmen oder Unterlassungen selbst dann fehlen, wenn die wirtschaftlichen Folgen auf die Sozialpartner oder auf Gruppen von Wirtschaftssubjekten ungleich verteilt sind60. Nun kann ausnahmsweise auch eine generelle Regelung Enteignungscharakter haben, wenn sie zwar nicht den Gleichheitsgrundsatz, wohl aber die Wesensgehaltsgarantie des Eigentums tangiert61. Auch diese Voraussetzung dürfte aber im Recht des Geldes allenfalls in dem unter heute vorstellbaren politischen Bedingungen rein theoretischen Fall ersatzloser Demonetisierung bestimmter Geldzeichen oder Buchwertforderungen erfüllt sein. Währungspolitische Maßnahmen oder Unterlassungen als solche erfüllen nicht den Enteignungstatbestand62. Auch um nicht-enteignende, aber doch gegen Art. 14 G G verstoßende Gesetzesregeln, wie sie nach der vom Bundesverfassungsgericht zugrundegelegten Eigentumsschutzsyste-
BVerfGE 50, 57 (107) = JuS 1979, 660 Nr. 2 m. Anm. Selmer. A . M . aber Maunz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 14 (Fn.51), Rdz.52; Mammitzsch (Fn.51), S.84; Papier, AöR 98 (1973), 547. 55 B G H , LM Nr. 39 zu Art. 14 G G (Ce) = WM 1968, 1126 (1129); WarnR 1967, Nr. 161; LM Nr. 17 zu Art. 14 G G (Be); Kreft, in: B G B - R G R K , 12. Aufl. 1980, Vorbem. 28 zu § 839. 54 BVerfGE 24, 367 (397, 400); 35, 348 (361); Kreft in: B G B - R G R K (Fn.55), Vorbem. 10 zu §839; krit. namentlich Papier, AöR 98 (1973), 530 (534); ders., JuS 1974, 477. " So noch R G Z 128, 165 (171); 129, 146 (149); B G H Z 12, 52 (57). 5« Vgl. B G H Z 55,229 (231); 56,40 (42); B G H N J W 1978, 1051 (1052); Kreft, in: B G B R G R K (Fn.55), Vorbem. 31 zu §839. s ' Zum Begriff des „Sonderopfers" vgl. etwa B G H Z 30, 338 (341); 60, 145 (147); 63, 240 (246); Kreft, in: B G B - R G R K (Fn.55), Vorbem. 49 zu §839. 60 A . M . wohl Maunz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 14 (Fn.51), Rdn.52. " B G H Z 30, 338 (341); 60, 145 (147); Kreft in: B G B - R G R K (Fn.55), Vorbem. 49 zu §839. " Vgl. insoweit auch Papier, JuS 1974, 479; Hall, Rechtsprobleme der Währungsparitätsfestsetzung unter besonderer Berücksichtigung des Eigentumsschutzes bei staatlichen Maßnahmen der Währungslenkung, Diss. Kiel, 1969, S. 83 ff. 53 54
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matik vorliegen könnten", handelt es sich nicht, denn unverhältnismäßige und deshalb durch Inhaltsbestimmung nicht mehr zu rechtfertigende Eigentumsregelungen hat das Bundesverfassungsgericht bisher, soweit ersichtlich, nur da gesehen, wo die Eigentumsqualität des verletzten Rechts keine Probleme aufwarf, die mit der Geldwertproblematik vergleichbar wären. b) Nach wohl überwiegender und überzeugend begründeter Auffassung bleibt Art. 14 GG jedoch im Sinne einer Institutsgarantie einschlägig64: Im Rahmen der durch Art. 109 Abs. 2 GG und durch das Stabilitätsgesetz gezogenen Grenzen verpflichtet Art. 14 GG den Staat auf die Stabilitätsvorsorge'5. Als Institutsgarantie schützt Art. 14 GG die Grundformen der Vermögensdisposition66, mithin auch die Funktionsvoraussetzungen des Geldes67. Als objektive Einrichtungsgarantie entfaltet Art. 14 GG verfassungsrechtliche Gewährleistungsfunktionen auch dort, wo ein eigentumsrechtlich relevanter „Eingriff" in eine subjektivrechtliche Grundrechtsposition ausscheidet68. Ob sich diese Pflicht des Staats zur Gewährleistung einer funktionierenden Währungsordnung auch in ein jüngst von Canaris69 entworfenes System grundrechtlicher Schutzgebote einordnen läßt und ob sich solche Schutzgebote nicht ihrerseits in Institutsgarantien erschöpfen, muß einer erst beginnenden Diskussion überlassen bleiben. c) Hier konnte und sollte die kontrovers geführte Diskussion um die Bedeutung des Art. 14 GG für die Abwehr inflatorischer Maßnahmen nur gestreift und im einzelnen dem Sachverstand der Staatsrechtler überlassen bleiben. Die für den vorliegenden Beitrag entscheidende Feststellung besteht nicht so sehr darin, wie intrikat doch die Abgrenzung zwischen subjektiv-grundrechtlichen und objektiv-institutionellen Rechts- und Pflichtlagen im Bereich des Art. 14 GG ist. Sie besteht vielmehr darin, daß die Staatsrechtsdoktrin die vom Privatrecht herrührenden Prämissen des Stabilitätsgebots unzureichend durchleuchtet. Gewiß: Wer auf den individuellen Sparer, Kreditgeber, Steuerzahler 65 S. dazu insbes. den Kleingarten-Beschluß BVerfGE 52, 1 (27f.); ferner die Entscheidung im Pflichtexemplar-Fall BVerfGE 58, 137 (144 f.). 64 Vgl. nur Werner Weber, Eigentum und Enteignung, in: Neumann/Nipperdey/ Scheuner, Die Grundrechte, Bd. II, 1954, 331 (360); Mammitzsch (Fn.51), S. 131 f.; Papier, JuS 1974, 478; Selmer, AöR 101 (1976), 434; der Sache nach ähnlich auch ScbmidtPreuß (Fn. 44), S. 121. 65 Vgl. auch Schmidt-Bleibtreu/Klein (Fn.51), Art. 14 Rdn.3. 66 Dicke, in: v. Münch, GG, B d . l , 2. Aufl. 1981, Art. 14 Rdn.10. " Papier, JuS 1974, 478. 68 Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, 1972, S. 302. 69 Canaris, Grundrechte und Vertragsfreiheit, Vortrag, am 2 6 . 9 . 1 9 8 3 gehalten auf der Zivilrechtslehrertagung in Aachen; bei Manuskriptabschluß im Oktober 1983 stand die für 1984 geplante Veröffentlichung dieses Vortrags noch aus.
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oder Rentenempfänger, also auf den Verlierer des Inflationsprozesses blickt, wird die hierher rührende Begründungsschwierigkeit nicht erkennen. Vor ihrem institutionellen Hintergrund aber bedeutet Stabilitätspolitik mehr, denn sie geht auch den potentiellen Gewinner von Inflationsprozessen an, ζ. B. den Kreditnehmer. In diesem Licht schützt Geldwertstabilität nicht nur langfristige Gläubigerpositionen, sondern sie sorgt dafür, daß der gesamte Privatrechtsverkehr dem Nominalwertprinzip folgen kann. Hier - in der Gewährleistung der Vorbedingungen des Nennwertprinzips als Staatsaufgabe - liegt der Akzent des vorliegenden Beitrags.
III. Die privatrechtliche Dimension 1. Nominalismus
als
Rechtsprinzip
a) Das Recht der Geldschuld wird nach herrschender, wenngleich bestrittener, Auffassung vom Nennwertprinzip (Nominalismus) beherrscht70. Ganz apodiktisch sagt etwa der Bundesfinanzhof'': „Der Nominalismus selbst kann (!) rechtlich nicht in Frage gestellt werden... Angesichts der tragenden Bedeutung des Geldnominalismus für das Rechts- und Wirtschaftsleben ist für eine verfassungsrechtliche Prüfung des Grundsatzes kein Raum. Er stellt eine der Grundlagen der geltenden Währungsordnung und der staatlichen Wirtschaftspolitik dar." Bevor über dieses, in Wahrheit bekanntlich überaus streitige, Rechtsprinzip nachgedacht wird, sollte man sich stets der ganz unterschiedlichen Bedeutung vergewissern, die sich mit dem Begriff des „Nominalismus" verbinden kann72. An anderer Stelle73 wurde folgende Differenzierung vorgeschlagen: 70 Vgl. nur BVerfGE 50, 57 (92) = NJW 1979, 1151 (1154) m. Anm. Vogel; BGHZ 7, 134 (140); 61, 31 (38); BAGE 25, 146 (158) = AP Nr. 4 zu §242 BGB (RuhegehaltGeldentwertung); BVerwGE 41,1 (5) = NJW 1973, 529 (530); BFHE 89,422 (434ff.); 92, 561 (565); 112, 546 (555 ff.); 127, 30 (32); Blomeyer, Allgemeines Schuldrecht, 4. Aufl. 1969, S. 58; Fikentscher, Schuldrecht, 6. Aufl. 1976, S. 134; Latenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. 1, 13. Aufl. 1982, S. 157; Esser/Eike Schmidt, Schuldrecht 1/1, 5. Aufl. 1975, S. 133; F.A. Mann, The Legal Aspect of Money, 4. Aufl. 1982, S. 80ff., 266ff.; ders., Das Recht des Geldes, 1960, S.55ff., 222ff.; Fügen (Fn.8) S. 137f.; Horn, Geldwertveränderung, Privatrecht und Wirtschaftsordnung, 1975, S. 18ff.; Karsten Schmidt, Geldrecht (Fn. 5), Vorbem. D 21; Reichert-Facilides, Geldwertschwankungen und Privatrecht, JZ 1969, 617, 620; Reuter, Nominalprinzip und Geldentwertung, ZHR 137 (1973), 482; v. Stebut, Die Sicherung des Geldwerts und der Währung, Jura 1983, 449, 451.
BFHE 89, 422 (436). Vgl. mit Unterschieden: von Maydell, Geldschuld (Fn. 13), S.54ff.; den., in: Horn/ Tietz (Fn. 2), S.34f.; Stützel, Das Mark-gleich-Mark-Prinzip und unsere Wirtschaftsordnung, 1979, passim; dazu mit gleichem Titel Muscheler, ZHR 144 (1980), 247. 75 Geldrecht (Fn.5), Vorbem. D 23 ff.; s. auch Karsten Schmidt, Grundfragen der vertraglichen Wertsicherung, ZIP 1983, 639 f. 71
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aa) Der technische Nominalismus des Geldes"1 besagt nicht mehr und nicht weniger, als daß alles Geld gleich und daß der Wert jedes Geldzeichens durch die aufgedruckte bzw. aufgeprägte Summe definiert ist. Der technische Nominalismus ist Resultat der Entsubstantialisierung des modernen Geldes. Seine Rechtsgeltung - in § 666 des Sächsischen BGB von 1863/65 war sie noch ausdrücklich angeordnet - steht heute außer Zweifel. Gäbe es den technischen Nominalismus nicht, so könnte das Geld seine Funktion als Recheneinheit nicht erfüllen, und die Institution des sog. Buchgeldes verlöre die theoretische wie praktische Basis. bb) Der geldschuldrechtliche Nominalismus besteht zunächst im Prinzip der Geldsummenschuld75. Bei Geldschuldverhältnissen bestimmt der Nennwert den Schuldinhalt; alle auf den gleichen Betrag lautenden Geld(summen)schulden sind nominell gleich, und jede bezahlte Mark ist gleich jeder geschuldeten Mark76. Die Rechtsgeltung dieses Prinzips wird immer wieder bestritten77, von der ganz herrschenden Auffassung aber anerkannt. Sie ist Ausdruck ungeschriebenen78 objektiven Rechts, nicht Ausdruck des Willens der Vertragsparteien79, und sie ist deshalb im Bereich der gesetzlichen Schuldverhältnisse ebenso wirksam wie im Vertragsrecht. Das Prinzip der Geldsummenschuld ist die Nutzbarmachung des technischen Nominalismus für das Schuldrecht80. Bereits im 19. Jahrhundert wurde dieser Zusammenhang erkannt. Das moderne Schuldrecht des Geldes kommt ohne die rechtssichernde Kraft dieses Prinzips nicht aus: Wertungsgrundlage des Nominalismus ist das Bedürfnis nach Rechtssicherheit bei Geldschulden81.
74 Geldrecht (Fn.5), Vorbem. D 25; von Maydell [Geldschuld (Fn.13), S. 59 ff., und in: Horn/Tietz (Fn. 2), S.38] spricht hier vom „geldtheoretischen Nominalismus". 75 Karsten Schmidt, Geldrecht (Fn.5), Vorbem. D 31 ff. 76 Vgl. hierzu B F H E 89, 422 (434); F.A. Mann, Legal Aspect (Fn. 70) S.69; ders., Recht des Geldes (Fn. 70). 77 Vgl. nur Eckstein, Geldschuld und Geldwert im materiellen und internationalen Privatrecht, 1932, S. 10ff., 48ff.; Bettermann,, Über Inhalt, Grund und Grenzen des Nominalismus, RdA 1975, 2 f., 6. 78 Vgl. demgegenüber § 792 I 11 A L R ; Art. 1895 Code Civil. 79 Latenz, Schuldrecht, Bd.I (Fn. 70), S. 157, Fn. 19; Möschel, Das Wirtschaftsrecht der Banken, 1972,. S.71; Karsten Schmidt, Geldrecht (Fn.5), Vorbem. D 33; ders., ZIP 1983, 640; wohl auch F.H. Mann, Legal Aspect (Fn.70), S.84f. („legal principle"); vgl. demgegenüber v. Maydell, Geldschuld (Fn. 13), S. 97; Jahr, Implikationen des anhaltenden Geldwertschwundes in der Bundesrepublik Deutschland, in: Jahresgutachten des Sachverständigenrates 1966/1967, S. 199f.; Stützet (Fn. 72), S.27ff.; Simitis, in: Kötz/ReichertFacilides, Inflationsbekämpfung im Zivil- und Arbeitsrecht, 1976, S.59. 80 Eingehend Karsten Schmidt, Geldrecht (Fn.5), Vorbem. D 33 zu § 2 4 4 ; in gleicher Richtung Ertl, Inflation, Privatrecht und Wertsicherung, 1980, S. 26 ff. 81 Vgl. nur Esser/Eike Schmidt, Schuldrecht 1/1, S. 133; Reichert-Facilides, J Z 1969, 620 ; Reuter, Z H R 137 (1973), 493.
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cc) Hiervon zu unterscheiden ist schließlich der strikte Nominalismus, der eine Anpassung vertraglicher Geldschulden an künftige Geldwertveränderungen verbietet82. Im Gegensatz zum Prinzip der Geldsummenschuld bedarf dieser strikte Nominalismus einer positivrechtlichen Grundlage in einem formellen Gesetz. Er fand sie im „Markgleich-Mark-Gesetz" der Alliierten Militärregierung83, und er findet sie heute in § 3 Währungsgesetz94. Die Verfassungsmäßigkeit dieser Bestimmung ist zwar umstritten, aber doch überwiegend anerkannt85. Dagegen bleibt ihre rechtspolitische Beurteilung86 ebenso kontrovers wie die Frage ihrer rechtspolitischen Wirksamkeit87, der hier nicht nachgegangen werden soll. b) So kontrovers hiernach die Einzelheiten sind, so entschieden muß doch das Nennwertprinzip als Bestandteil des geltenden Schuldrechts angesehen werden: Der Geldwert und damit das Volumen der Geldsummenschulden ist durch Währungseinheiten definiert, und eine vertragliche Wertsicherung von Geldschulden steht unter gesetzlichem Verbot mit Erlaubnisvorbehalt. Bei dieser Feststellung hat der hier verfolgte Gedanke des Legitimationsbedürfnisses dispositiven und zwingenden Privatrechts anzuknüpfen. 2. Das Legitimationsbedürfnis des Nennwertprinzips Wenn einerseits das Schuldrecht des Geldes der stabilisierenden Wirkung des Nennwertprinzips bedarf und wenn anderseits Geldwertstabilität in einem System entsubstantialisierten Geldes keine Naturnotwendigkeit mehr ist, sind Währungsrecht, Währungspolitik und Privatrecht des Geldes in einen Legitimationszusammenhang gestellt. a) Basis des modernen Geldwesens ist die monetäre Entwicklung im 19. Jahrhundert 88 . Diese ist gekennzeichnet durch die endgültige Preis82 Vgl. von Maydell, Geldschuld (Fn.13), S.65ff.; Ertl (Fn.80), S.41; Karsten Schmidt, Geldrecht (Fn.5), Vorbem. D 35ff.; den., ZIP 1983, 640. 83 Vgl. zur unterschiedlichen Bewertung dieses Gesetzes einerseits Emmerich, Das Recht der Leistungsstörungen, 1978, S. 230; andererseits Flume, Das Rechtsgeschäft, 3. Aufl. 1979, S. 518. 84 Dazu eingehend Dürkes, Wertsicherungsklauseln, 9. Aufl. 1982, passim. 85 Überblick bei Karsten Schmidt, ZIP 1983, 640 m. w. Nachw.; lesenswert über die geldtheoretischen Implikationen Suhr, Die Geldordnung aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: Starbatty (Hrsg.), Geldordnung und Geldpolitik in einer freiheitlichen Gesellschaft, 1982, S. 91 (94 ff.). " Überblick ebd.; krit. z.B. Stütze! (Fn. 72), S.33ff., 74; Bettermann, Geldentwertung als Rechtsproblem, ZRP 1974, 13ff.; von Arnim, Der ausgebeutete Geldwertsparer, ZRP 1980, 204 ff. 87 Skeptisch Jürgen F. Baur, Vertragliche Anpassungsregelungen, 1983, Vorwort. 88 Dazu etwa Schwander, Die Geldschuldlehre, 1938, S. 17ff.; Kiefner, Geld und Geldschuld in der Privatrechtsdogmatik des 19.Jahrhunderts, in: Coing/Wilhelm (Hrsg.),
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gäbe des monetären Metallismus. Hatte noch Savigny89 zwischen dem aus Silber und Gold bestehenden „wirklichen Geld" und dem bloßen „Zeichengeld" unterschieden, so hatte schon 1868 Gustav Hartmann'"' eine konsequente Theorie des Geldes entwickelt, in der das Zeichengeld nicht mehr als Geldsurrogat, sondern als vollwertiges Geld erschien. Knapp schließlich, der Urheber der „Staatlichen Theorie des Geldes" (1905, 3. Aufl. 1921), führte die rechtliche Lehre vom Geld im Sinne eines „Chartalismus" (im Gegensatz zum „Metallismus") fort und bezeichnete es mit Recht als „völlig verkehrt, im echten Papiergeld keine wirkliche Zahlung zu sehen; sie ist nicht stofflich". b) Es ist kennzeichnend für die im interdisziplinären Raum immer wieder auftretenden Mißverständnisse, daß sich mit Knapp ausgerechnet ein Nationalökonom berufen fühlte, die „juristischste" und wohl mit Abstand unrealistischste aller Geldtheorien zu entwerfen: eine Theorie, die auf der einen Seite unverzichtbare Wege gewiesen hat für die Anerkennung der Währungshoheit des Staates", auf der anderen Seite aber die hierdurch bedingten Legitimationszusammenhänge konsequent ausgeblendet hat. Was Friedrich Bendixen, ein überzeugter Gefolgsmann Knapps, als „freiwillige Selbstbeschränkung" der Staatlichen Theorie des Geldes bezeichnet hat'2, erweist sich bei näherem Hinsehen als selbstauferlegte rechtspolitische und institutionelle Blindheit. Aus dieser Blindheit aber erwächst nicht Selbstbeschränkung, sondern das „Lehrgebäude von wunderbarer Architektonik"' 3 wächst sich aus zu konstruktiver Hypertrophie. Ist, wie Knapp ausgeführt hat, Geld im Rechtssinne ein Geschöpf der Rechtsordnung'4, so mußten doch zwei bedeutsame KonWissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert, Bd. V (Geld und Banken), 1980, S.27ff. »' Obligationenrecht I, 1851, S.413. K Über den rechtlichen Begriff des Geldes und den Inhalt der Geldschulden, 1868, S. 59. " Vgl. dazu Knapp, Staatliche Theorie des Geldes, 3. Aufl. 1921, S. 1 ff., 19; vgl. weiter RGZ 96,262 (265); Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. III, 5. Aufl. 1913, S. 169f., 173; Martin Wolff, in: Ehrenbergs Handbuch des gesamten Handelsrechts, Bd.IV/1, 1917, S. 575; Helfferich, Das Geld, 6. Aufl. 1928, 385ff.; heute h.M., vgl. nur F. A. Mann, Legal Aspect (Fn. 70), S. 9 ff.; ders., Recht des Geldes, (Fn. 70), 1960, S. 10 ff.; Reinhardt, Vom Wesen des Geldes und seiner Einfügung in die Güterordnung des Privatrechts, in: Festschrift Boehmer. 1954, S.68; Hall (Fn. 62), S. 48 ff.; differenzierend noch Nußbaum, Das Geld, 1925, S. 14 ff. 92 Bendixen, in: Singer (Hrsg.), Knapp/Bendixen. Zur Staatlichen Theorie des Geldes. Ein Briefwechsel, 1958, S.42. " So Wagemann, Allgemeine Geldlehre, Bd.I, 1923, S.42. 94 F.A. Mann [Recht des Geldes (Fn. 70), S. 10 f.] bringt diese Aussage der Staatlichen Theorie auf die griffige Formel: „Nur diejenigen beweglichen Sachen sind Geld, denen vom Recht, d. h. vom Staate oder auf Grund einer staatlichen Ermächtigung, Geldcharakter verliehen wird."
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Sequenzen der Knapp'sehen Lehre auf heftigen Widerspruch stoßen: zum einen die Annahme, Geldschöpfung sei ein Akt freier Staatswillkür' 5 , und zum anderen die Annahme, es gebe zwar Teuerung, nicht aber gebe es Geldentwertung". Vor allem diese zweite These hat die Staatliche Theorie in Anbetracht der seit ihrer Erfindung eingetretenen Erschütterungen des Währungswesens in Mißkredit gebracht. Heute muß allerdings dem Irrtum begegnet werden, Knapp, dessen Werk vor den großen inflatorischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts angelegt war, hätte Teuerung und Währungsverfall als Fakten geleugnet. Knapp siedelte diese Fakten lediglich außerhalb des Geldbegriffs an. In einfachen Worten bedeutet dies: Nach der „Staatlichen Theorie des Geldes" findet die Teuerung auf der Warenseite statt und ist nicht Ausdruck monetärer Veränderungen, weil die nominale Geltung des Geldes „als eine juristische Vorstellung ganz unabhäng ist von dem, was man mit dem Gelde kaufen kann" 97 . Man hat diesen Gedankengang mit Hans Christian Andersens Märchen von des Kaisers neuen Kleidern verglichen' 8 , weil die Staatliche Theorie des Geldes das Faktum der Geldentwertung schlicht hinwegdenkt, solange nicht der Staat die Proklamation des Geldwerts durch eine Währungsreform ändert. Indes: Das Rechtsproblem dieser „juristischsten" aller Geldtheorien liegt tiefer. Indem Knapp dem staatlich verfügten Geldwert jede wirtschaftliche und rechtliche Bedingtheit abspricht, leugnet er den entscheidenden Legitimationszusammenhang zwischen Währungshoheit und Privatrecht. Damit verschließt er sich einer Erkenntnis und Wertung, die längst vorbereitet war. Savigny99 hatte vor dem Begriff „gesetzlicher Werth" gewarnt, wenn er die Folge haben könne, „als läge in dem Nennwerth die gesetzliche Vorschrift für die Unterthanen des Münzherrn, jenen Werth als den wahren in ihren Rechtsgeschäften anzuerkennen". Savigny selbst konnte noch die Frage verneinen, „ob der Nennwerth als wahrer Inhalt einer Geldschuld anzusehen ist"100. Heute, unter der Rechtsgeltung des Nennwertprin95 Knapp (Fn.91), S. 19; dagegen namentlich Simitis, Bemerkungen zur rechtlichen Sonderstellung des Geldes, AcP 159 (1960), 423 ff.; zur Auffassung des Verf. vgl. näher Karsten Schmidt, Geldrecht (Fn. 5), Vorbem. A 3 zu §244. * Knapp (Fn.91), S.436f.; Bendixen, Geld und Kapital, 3.Aufl. 1922, Rdn.31; dagegen namentlich Helfferich (Fn. 91), S. 545 Fn. 1; Wagemann (Fn. 93), S. 52f.; Eckstein (Fn. 77), S. 31; Rist, Geschichte der Geld- und Kredittheorien, 1947, S. 330; Hans-Joachim Arndt (Fn. 51), S.26ff.; Schmölders, Geldpolitik, 1968, S.47f.; Hankel, Währungspolitik, 1972, S.31, 99, 233; Karsten Schmidt, Geldrecht (Fn.5), Vorbem. D 2, D 29 zu §244. 97 Knapp (Fn.91), S.441. 98 Kauila, Rechtsstaat und Währung, 1949, S.93. " Obligationenrecht I (Fn. 89), S.444. 100 Savigny, Obligationenrecht I (Fn.89), S.448; für Savigny (a.a.O. S.454ff.) entscheidet statt dessen der „Courswerth".
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zips, ist dieser Weg in den Valorismus verstellt. Um so mehr Anlaß besteht, die Legitimationsvoraussetzungen des Nominalismus zu unterstreichen. Die „Machbarkeit" von Geld und Währung im modernen Wirtschaftssystem drängt nicht nur, wie es bei Hans-Joachim Arndt heißt, zum „Wunsch nach Geldwertstabilität" 101 , sondern sie macht Geldstabilität zur Aufgabe und Pflicht dessen, der die Verantwortung und Last dieser „Machbarkeit" trägt. 3. Legitimation durch die Staatspflicht zur Stabilitätspolitik a) Hier schließt sich der Kreis: Der Staat ist deshalb zum Schutz der Währung durch Stabilitätspolitik verpflichtet, weil er zur Gewährleistung der Privatrechtsordnung beizutragen hat und weil das Nennwertprinzip Teil dieser Privatrechtsordnung ist. Das Bürgerliche Recht kann diese Voraussetzungen nicht schaffen, sondern es setzt ihr Vorhandensein voraus. Weil das so ist, ist es auch kein Zufall, daß sich der privatrechtliche Gesetzgeber ausgerechnet im Geldrecht - vielleicht einer der kompliziertesten Materien des Schuldrechts überhaupt! - auf wenige Elementarregeln beschränkt102. Savigny103 und, noch entschiedener, Gustav Hartmann104 erklärten solche Selbstbeschränkung der Privatrechtsgesetzgebung geradezu zum Prinzip, und die Motive zum Bürgerlichen Gesetzbuch 105 erklären ausdrücklich, es sei für Gesetzesregeln des Geldschuldrechts „auf dem Boden des durch die Reichsmünzgesetzgebung eingeführten gesetzlichen Währungssystemes nur in sehr beschränktem Maße Raum und Bedürfniß". Zugrunde lag das durch Gesetze vom 4.12.187110* und vom 9.7.1873 107 abgesicherte System einer Goldwährung 108 . Der Abbau dieser Goldwährung 109 und die Erschütterungen des Währungswesens im 20. Jahrhundert 110 mußten die Abhängigkeit des gesetzlichen Geldschuldrechts von einer gesicherten Währungsordnung demonstrieren. Wenn heute die Neigung besteht, die durch R G Z 103, 328 (Urt. v. 3.2.1922) eingeleitete Rechtsprechung zur 101 Hans-Joachim Arndt (Fn.51), S. 337; im übrigen muß Arndt, wenngleich aus anderer Perspektive, als scharfsichtiger Analytiker der hier untersuchten Zusammenhänge gelten; deutlich S. 338 f. 102 Vgl. Karsten Schmidt, Geldrecht (Fn. 5), Vorbem. A 28. 103 Obligationenrecht I (Fn. 89), S. 493. 104 Über den rechtlichen Begriff des Geldes (Fn.90), S. 139. 105 Mot., in: Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, Bd. II, 1899, S.7. 106 RGBl. S.403. 107 RGBl. S. 233. 108 Vgl. zum folgenden detailliertere Nachweise bei Karsten Schmidt, Geldrecht (Fn. 5), Vorbem. A 33 ff. zu §244. ™ Eingehende Analyse bei Stücken, Geld und Kredit, 2. Aufl. 1957, S. 13 ff. 110 Auch hierzu Stücken (Fn. 109), S. 55 ff.
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Reichsmark-Hyperinflation111 als ein temporäres Problem darzustellen, so ist im Zusammenhang mit den hier angestellten Überlegungen zu entgegnen: So wie die Legitimationsvoraussetzungen des Nennwertprinzips Bestandteile des geltenden Rechts sind, so sind dies auch die Folgen, die an einen Fortfall der Legitimationsvoraussetzungen zu knüpfen wären. Kann die schleichende Inflation noch durch individuelle, nur fallweise anzuerkennende Anpassung von Geldsummenschulden berücksichtigt werden112, so mußte auf die Hyperinflation bei Beginn der 20 Jahre mit einer Preisgabe des Nominalismus reagiert werden. Hier waren nicht individuelle Geschäftsgrundlagen ins Wanken geraten, sondern es waren die Legitimationsgrundlagen eines ganzen Rechtsinstituts - eben des geldschuldrechtlichen Nominalismus - fortgefallen. Dies muß sich entgegenhalten lassen, wer, wie seinerzeit Philipp Heck113 das Nominalwertprinzip gegen die Aufwertungsrechtsprechung ins Feld führt. Garant dieser Legitimationsvoraussetzungen ist der Staat. O b man mit Papier1,4 sogar eine durch die Institutionsgarantie des Art. 14 G G gewährleistete Pflicht des Gesetzgebers bejahen kann, bei andauernden und intensiven Störungen der Geldwertstabilität den Nominalismus zugunsten eines begrenzten Valorismus preiszugeben, braucht hier nicht entschieden zu werden. Jedenfalls ist es der Legitimationszusammenhang zwischen Währungsrecht und Nominalismus, der den Staat zur Stabilitätspolitik anhält115. Schwander hat diesen Zusammenhang im Jahr 1938 in eine rechtstechnische Form gekleidet, die, soll sie nicht vordergründigen rechtskonstruktiven Einwänden ausgesetzt sein1", nicht als technisch-dogmatische Rechtsfigur, sondern nur als bildhaft-rechtspolitische Erläuterung begriffen werden darf117: Der Staat habe „gewissermaßen als Treuhänder für das zu sorgen, für das Gläubiger und Schuldner wegen der sich mit dem Zeitmoment einstellenden außerordentlichen Schwierigkeiten einer genauen Bestimmung der künftigen Geldleistung als einer wirtschaftlich angemessenen Leistung eben nicht zu sorgen vermögen. Der Staat soll als Treuhänder dafür sorgen, daß die derein111 Überblick bei Larenz, Geschäftsgrundlage und Vertragserfüllung, 3. Aufl. 1969, S. 82 ff.; Roth, in: Münchener Kommentar Bd. 2, Schuldrecht, Allgemeiner Teil, München 1979, §242 Rdn.535ff.; Karsten Schmidt, Geldrecht (Fn.5), Vorbem. D 96a, D 103ff. 112 Vgl. Karsten Schmidt, Geldrecht (Fn.5), Vorbem. D 96b, D 104 zu §244 mit eingehenden Nachweisen. 113 Heck, Anmerkungen zum Urteil des Reichsgerichts vom 28. November 1923, AcP 122 (1924), 203 f. (214 f.); als Auflehnung gegen das Gesetz wurde die Rechtsprechung ζ. B. auch kritisiert von Nußbaum (Fn. 91), S. 124 ff. 114 AöR 98 (1973), 541 ff.; JuS 1974, 478. 1,5 In gleicher Richtung Kauila (Fn.98), S. 90 ff.; von Maydell, Geldschuld (Fn.13), S. 74f.; s. auch Schmidt-Preuß (Fn.44), S. 122ff. Vgl. die Einwände von von Maydell, Geldschuld (Fn. 13), S.80. 1,7 Schwander (Fn. 88). S. 283.
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stige Geldleistung auch wirklich die wirtschaftlich angemessene Leistung ausmache". Der an juristische Präzision gewöhnte Leser wird sich an dieser naiven Treuhandkonstruktion stören, aber er sollte den überzeugenden gedanklichen Kern in Schwanders Treuhandmodell darüber nicht übersehen. Institutionelles Denken macht diese unscharfe Rechtskonstruktion überflüssig: Die Einheit der Rechtsordnung und die Staatspflicht, die Voraussetzungen für ein funktionsfähiges Privatrecht zu schaffen, machen die Erhaltung der Währungsstabilität zu einer Rechtspflicht des Staates. b) O b dieser aus einfachem Recht hergeleitete Rechtsgedanke staatsrechtlich zum Verfassungsprinzip fortgebildet werden kann und deshalb die unter II 5 b besprochene Institutionsgarantie auszufüllen vermag, ist eine problematische Frage, die von den einen im Sinne einer „normenhierarchischen Integration" 118 oder einer „Verfassungskonkretisierung aus Unterverfassungsrecht" 1 " gewürdigt, von anderen dagegen als bedenkliche Gefährdung der Normenhierarchie beargwöhnt werden mag120. Daß einfaches Recht nicht nur in Erfüllung staatsrechtlichen Auftrags erlassen wird, sondern auch der Konkretisierung und AusixAlung121 grundgesetzlicher Wertentscheidungen dienen kann122, scheint immerhin unleugbar. Hier braucht indessen auf dieses spezifisch verfassungsrechtliche Folgeproblem nur hingewiesen zu werden. Grundlage des Gedankengangs bleibt die Rechtsfolgenableitung aus dem Funktionszusammenhang von Geldwertstabilität und Schuldrecht. IV. Zur „Normqualität" der Staatspflicht zur Stabilitätspolitik 1. „Normqualität"
und
Durchsetzbarkeit
Peter RaischUi hat im Jahr 1966 Überlegungen über „Normqualität und Durchsetzbarkeit wirtschaftsrechtlicher Regelungen" publiziert. Begreift man mit ihm „Normqualität" als Gradmesser der Konkretisierung und als Voraussetzung der Sanktionsfähigkeit von Rechtsnormen, so drängt sich die Einsicht auf, daß es mit der „Normqualität" der Staatspflicht zur Stabilitätspolitik nicht weit her sein kann. Das gilt für Vgl. Göldner (Fn. 14), S.55. Pestalozza, Kritische Bemerkungen zu Methoden und Prinzipien der Grundrechtsauslegung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Der Staat 2 (1963), S.425 (440). 120 Vgl. in dieser Richtung die Überlegungen von Leisner, Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzesmäßigkeit der Verfassung, 1964, insbes. S.61 ff.; krit. dazu Majewski, Auslegung der Grundrechte durch einfaches Gesetzesrecht? 1971, passim; zum Ganzen auch die Buchbesprechung von Häberle, AöR 90 (1965), 117 ff. 121 Leisner, Verfassungsmäßigkeit (Fn. 120), S. 27ff., spricht auch hier von „Erfüllung". 122 Deutlich Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1982, S. 213. 123 Z H R 128 (1966), 161 ff. 118
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den materiellen Inhalt der Pflicht ebenso wie für die rechtlichen Folgen ihrer Verletzung. a) Was zunächst den Inhalt angeht, so beschränkt sich die Pflicht gewiß nicht auf das Verbot, mittels des Nominalismus staatliche Betrugsmanöver durchzuführen124. Die genaue Reichweite der Pflicht entzieht sich jedoch jeder präzisen Erfassung. Versuche, quantitative Maßstäbe zu entwickeln125, sind gescheitert126. Spätestens seit Inkrafttreten des Art. 109 Abs. 2 GG und des Stabilitätsgesetzes kann auch nicht mehr davon die Rede sein, daß jede erkennbar inflationsfördernde staatliche Maßnahme verfassungswidrig und damit rechtswidrig - im Fall eines Gesetzes sogar nichtig! - ist127. Aus Art. 109 Abs. 2 GG und dem Stabilitätsgesetz ergibt sich, daß Geldwertstabilität nur ein wirtschaftspolitisches Teilziel sein kann und jeder Verabsolutierung unfähig ist128. Zielkonflikte unter den Teilzielen wirtschaftspolitischer Globalsteuerung sind in vielfältiger Weise denkbar12'. Die zwischen Preisniveaustabilität und Beschäftigungsstand drohende Antinomie130 braucht nur als handgreiflichstes Beispiel genannt zu werden. Eine Umsetzung solcher Konflikte in Konfliktlösungen und daraus resultierende Handlungspflichten ist nur begrenzt möglich. Wenn nach Art. 109 Abs. 2 GG Bund und Länder bei ihrer Haushaltswirtschaft den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen haben und wenn die Maßnahmen nach § 1 Satz 2 StabG so zu treffen sind, daß sie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung „gleichzeitig" zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum beitragen, so wird aus diesem „Gleichzeitig" eine prinzipielle Gleichrangigkeit der Elemente des magischen Vierecks 124
Zu diesem Verbot vgl. Stützel (Fn. 72), S.24ff. Vgl. etwa B F H E 89, 422 (442); Mammitzsch (Fn. 51), S. 139; Brixner (Fn. 51), S. 60; Maunz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 14 (Fn.51), Rdn.52. 126 Vgl. Dicke, in: v. Münch (Fn.66), Art. 14, Rdn. 73, b. Stichwort „Deflation"; Papier, AöR 98 (1973), 530 (539ff.); Überblick bei Selmer, AöR 101 (1976), 399 (433). 127 So noch Maunz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 14 (Fn.51), Rdn.52. 1211 Vgl. Streißler/Beinsen/Schleicher/Suppanz, Zur Relativierung des Zieles der Geldwertstabilität, 1976, S. 16f.; Bull (Fn.46), S.260; Hall (Fn.62), S. 83 ff., 115; Simitis, in: Kötz/Reichert-Facilides (Fn. 79), S. 62 f.; Tettinger, Rechtsanwendung und gerichtliche Kontrolle im Wirtschaftsverwaltungsrecht, 1980, S. 191 ff.; Vogel/Wiebel, in: Bonner Kommentar, Zweitbearb., Art. 109, Rdn. 107ff.; 136ff.; Papier, AöR 98 (1973), 550f.; ders., JuS 1974, 478. 1W Vgl. als Uberblick Brockhausen, Die rechtliche Bedeutung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts und seine Komponenten in § 1 StabG unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte, ca. 1975, S. 28 ff. 130 Vgl. Stem/Münch/Hansmeyer (Fn.42), §1 A n m . I V 2 a; Cassel/Thieme (Fn. 12), S. 278 mit eingehenden Nachweisen aus der volkswirtschaftlichen Literatur. 125
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gefolgert131. In der Anwendung des Gesetzes aber wird aus dieser grundsätzlichen Gleichrangigkeit eine „gefährdungsbestimmte Rangfolge der Ziele"132, womit wirtschaftspolitische Konfliktentscheidungen weitgehend dem Prognosebereich zugewiesen werden. b) Es kann nach den Überlegungen von Peter Raisch nicht überraschen, wenn sich die Unschärfen und Abwägungsspielräume der Rechtspflicht zur Stabilitätspolitik auch in mangelhafter rechtlicher Durchsetzbarkeit niederschlagen. Das beginnt mit den einzuschlagenden Verfahren133. W o nicht subjektivrechtliche Positionen betroffen sind - womit die Rechtspflicht zur Stabilitätspolitik zur bloßen Vorfrage würde - , wird ein Individualschutz durch Klage oder Verfassungsbeschwerde ausscheiden134. Mit diesem Verfahrensproblem geht die inhaltliche Unschärfe der Staatspflicht zur Stabilitätspolitik einher. Namentlich Art. 109 Abs. 2 G G und § 1 StabG haben, wo immer ihre Problematik juristisch diskutiert wurde, das Problem mangelnder Justitiabilität aufgeworfen135. Es soll hier nicht der Meinungsstreit aufgegriffen werden, ob es dabei im Sinne der öffentlich-rechtlichen Doktrin um unbestimmte Rechtsbegriffe geht oder nicht136. Sicher ist jedenfalls, daß diese Regelungen dem Gesetzgeber und der Exekutive beträchtliche Spielräume lassen und insofern - in den Worten von Klaus Stern137 - nur „Rahmen- oder Richtliniencharakter" haben. 2. „Normqualität" und Rechtsquelleneigenschaft a) Nach diesen Überlegungen liegt die Frage nahe, ob nicht die Staatspflicht zu Stabilitätspolitik ausschließlich politischer Art, die 131 Vgl. Hollmann (Fn. 42), S. 67; Brockhausen (Fn. 129), S. 23 ff.; Alex Möller (Fn. 41), § 1 Rdn.8; einschränkend Stern/Münch/Hansmeyer (Fn. 42), §1 Anm. IV 1; Cassel/ Thieme (Fn. 12), S. 282 f., 319. 132 Vgl. Stem/Münch/Hansmeyer (Fn. 42), §1 Anm. IV 1 im Anschluß an: Schmahl, Globalsteuerung der Wirtschaft, 1970, S.27. 133 Über Rechtsschutz und gerichtliche Kontrolle im Bereich der Globalsteuerung vgl. eingehend Hollmann (Fn.42), S. 179ff.; Stachels, Das Stabilitätsgesetz im System des Regierungshandelns, 1970, S. 152 ff. 134 Vgl. Selmer, AöR 101 (1976), 433; Ingo Müller, ZRP 74, 159; Hall (Fn.62), S. 83, 115; Stern/Münch/Hansmeyer (Fn. 42), Einf. C III 2 d; s. aber Wiehel, Wirtschaftslenkung und verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz des Wirtschafters nach dem Erlaß des Stabilitätsgesetzes, 1971, S. 54ff., 68ff., 85 f.; Papier (JuS 1974, 478) bejaht einen grundrechtlichen Abwehranspruch gegen inflationsfördernde Hoheitsakte. 135 Vgl. nur Zuck (Fn.41), S. 122 ff.; Hollmann (Fn.42), S. 135ff.; Jarass (Fn.42), S. 175; Brockhausen (Fn. 129), S.212ff.; Tettinger, Rechtsanwendung und gerichtliche Kontrolle im Wirtschaftsverwaltungsrecht, 1980, S.439; Alex Möller (Fn.41), Art. 109 Rdn. 11; §1 Rdn. 13; Stern/Münch/Hansmeyer (Fn.42), Einführung C III 2 d. 134 Für unbestimmten Rechtsbegriff etwa Tettinger (Fn. 135), S.439; dagegen Reiner Schmidt (Fn.26), S. 157ff.; vgl. dazu auch Hollmann (Fn.42), S. 141 ff. 137 Stern!Münch!Hansmeyer (Fn.42), Einführung C I 2.
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Umsetzung in eine Rechtspflicht also juristisch fehlerhaft oder doch juristisch bedeutungslos ist. Ernst Bendal>\ der die Berührung des Privateigentums durch konfiskatorische Steuersätze, durch eine inflationistische Politik oder durch Untätigkeit des Staates gegenüber überhöhten Lohnsteigerungen mit Nachdruck betont hat, hat zugleich darauf hingewiesen, daß es einen „verfassungsrechtlichen Versicherungsschutz" gegen inflatorische Aushöhlungen des Eigentums ebensowenig gibt wie einen Schutz gegen politische Katastrophen. „Kein Gericht könnte zuverlässig entscheiden, ob für solche Katastrophen eine verfehlte Politik oder andere, von dem eigenen Staat nicht zu vertretende Umstände verantwortlich zu machen sind. Im übrigen haftet in einem demokratischen Staatswesen der Bürger für die von ihm gewählte Regierung mit und kann nicht von den privaten Folgen politischen Handelns entbunden werden. Und schließlich wäre es Illusion, anzunehmen, daß ein solcher Versicherungsschutz möglich wäre; denn wer sollte den fälligen Schutz einlösen als eben derselbe Staat, der den Bürger in seinen Bankrott mitreißt? Es würde daher wenig nützen, so, wie vorgeschlagen worden ist, im Wege der Verfassungsänderung ζ. B. zu bestimmen, daß das ,Recht auf . . . kaufkraftbeständige Währung' grundrechtlichen Schutz erhält." b) Wer nur subsumtionsfähige oder nur sanktionsfähige Imperative als Rechtspflichten anerkennen wollte139, müßte hiernach die Staatspflicht zur Stabilitätspolitik in den politischen Raum verbannen und ihr jeden Rechtsnormcharakter absprechen. Begreift man dagegen, wie dies hier geschieht, die Staatspflicht zur Stabilitätspolitik als Bestandteil der „Einheit der Rechtsordnung", als legitimierendes Bindeglied zwischen Währungs- und Schuldrecht, so ist sie trotz aller Einschränkungen rechtlicher Art: Sie gehört - sei es mit, sei es ohne Verfassungsrang - zu den Maßstäben rechtsgebundener Wirtschaftspolitik. Es wäre ein bedenklicher Rückzug des Rechts gegenüber dem Politischen, wollte man diesen Maßstäben den Rechtsnormcharakter absprechen. Gerade die Gesetzgebung des Stabilitätsgesetzes versteht sich als ein Versuch, Wirtschaftspolitik zu verrechtlichen, was hier zweierlei bedeutet: zum einen den Einsatz des Rechts als Instrument und Steuerungsmittel der Wirtschaftspolitik 140 und zum anderen die rechtliche Pflichtbindung
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Benda, Industrielle Herrschaft und sozialer Staat, 1966, S.350f. " ' V g l . Kelsen, Reine Rechtslehre, 2.Aufl. 1960, S. 120ff.; krit. etwa Bydlinski (Fn. 14), S. 191 ff.; Hans Ludwig Schreiber, Der Begriff der Rechtspflicht, 1966, S. 133 ff.; zur Verengung des Rechts durch die Imperativentheorie vgl. namentlich Lorenz, Methodenlehre (Fn. 11), S.240ff.; Bydlinski, a . a . O . , S. 197ff. Hollmann (Fn.42), S. 112 ff.
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politischer Instanzen141 - die Rechtspflicht zur Beachtung gesamtwirtschaftlicher Zielvorgaben142. 3. Steine statt Brot? Daß Bürger und Gerichte mit dem großen Wort von der Staatspflicht zur Stabilitätspolitik nicht viel Konkretes beginnen können, kann nicht überraschen und sollte nicht Anlaß sein, den Gegenstand dieses Beitrags als folgenloses Gedankenspiel abzutun oder die Grenzen zu beklagen, die der Verrechtlichung wirtschaftspolitischen Handelns gesetzt sind. Maßnahmen der Wirtschaftspolitik können und dürfen schon wegen ihrer notwendig prognostischen Komponenten143 nicht bis in die Einzelheiten der Letztverbindlichkeit richterlicher Kontrolle unterworfen werden144. Ebensowenig sollte jedoch auch die Bedeutsamkeit dieser Verrechtlichung verkannt werden. „Zwischen dem Wunsch des Wirtschaftspolitikers nach flexiblen, raschen und weitreichenden Eingriffsmöglichkeiten", so steht in Hollmanns Arbeit über „Rechtsstaatliche Kontrolle der Globalsteuerung" zu lesen145, „und dem Bestreben des Juristen, rechtliche Verfahrenssicherheit und Nachprüfbarkeit zu gewährleisten, kann es durchaus zu Konflikten kommen. Dabei darf nicht vergessen werden, daß unsere Rechtsordnung insgesamt unter dem Gebot rationaler Durchsichtigkeit und Widerspruchsfreiheit steht." Eben dieses Ringen um Widerspruchsfreiheit steht im Mittelpunkt der hier angestellten Überlegungen und macht die Bedeutsamkeit des Stabilitätsziels unter den Teilzielen der Globalsteuerung begreiflich. Gerade in Tagen, die von akuten Inflationssorgen weniger bedroht sind, scheint es angezeigt, sich den Rang dieses Ziels für die Zukunft vor Augen zu halten. Jede Vernachlässigung gerade dieses Ziels und jede Hinnahme inflationsbegünstigender Entwicklungen kann nämlich auch andere gesamtwirtschaftliche Zielsetzungen in ihren Sog ziehen146. Der Sachverständigenrat hat im Jahresgutachten 1973/74 vor dem Befund eines sich verschärfenden Preisauftriebs zum „Mut zur Stabilisierung"147, insbesondere in der Geldmengenpolitik148, aufgerufen. Im Jahr zuvor bereits hatte er der Inflationsgewöhnung den Kampf angesagt und innerhalb der wirtAlex Möller (Fn.42), Vorwort, S. 17f.; Stern/Münch/Hansmeyer (Fn.42), S. 103. Hollmann (Fn.42), S. 134. 143 Eingehend zum Problem des Prognosespielraums Tettinger (Fn. 135), S. 429 ff. m. w. Nachw. 144 Vgl. Herbert Krüger, Die verfassungsgerichtliche Beurteilung wirtschaftspolitischer Entscheidungen, D Ö V 1971, 289, 293. 145 Hollmann (Fn.42), S.342. 14i Vgl. Tettinger (Fn. 135), S. 193. 147 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Jahresgutachten 1973/74 (Mut zur Stabilisierung), insbes. Rdn.261 ff. 14> Rdn. 344 ff. 141
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schaftspolitischen Ziele „gleichen Rang für den Geldwert" gefordert149. Er hat dazu aufgerufen, einer lähmenden Inflationsgewöhnung ebenso entgegenzutreten wie dem Wunschdenken, man könne aus dem Inflationszug aussteigen, ohne für Unterlassungssünden der Vergangenheit zu büßen150. Wörtlich heißt es in dem Gutachten 151 : „Die Dringlichkeit der Aufgabe, mehr für den Geldwert zu tun, ihn weniger als in der jüngsten Vergangenheit anderen Zielen der Wirtschaftspolitik de facto hintanzusetzen, wird zunehmend von der Gefahr einer weiteren Gewöhnung an die Inflation diktiert. Eine solche Gewöhnung kommt im wirtschaftlichen Verhalten der Menschen darin zum Ausdruck, daß diese sich bei Dispositionen, die in die Zukunft reichen, von der Erwartung künftiger Preissteigerungen leiten lassen. Sie macht es nicht nur immer schwerer, aus dem inflatorischen Zug wieder auszusteigen, sondern läßt vor allem befürchten, daß früher oder später von der Erfahrung her sogar eine weitere Beschleunigung des Preisauftriebs die Erwartungen und über die Erwartungen das Verhalten und damit das tatsächliche Geschehen bestimmt. Dann wäre kein Halten mehr. Der Staat kann sogar gezwungen sein, einer solchen Entwicklung selbst Vorschub zu leisten, indem er weitere Barrieren wegräumen muß, die aufgrund des nominalistischen Prinzips ,Mark gleich Mark' heute noch in der Rechtsordnung enthalten sind (das Verbot von Geldwertsicherungsklauseln z.B.). Die Rechtsprechung hat in der Vergangenheit dieses Prinzip aus guten Gründen geschützt. Läßt sich jedoch die Fiktion eines in der Zukunft stabilen Geldwertes nicht mehr aufrechterhalten, ja läßt sogar der Staat in seinem Handeln, seinen Zielerklärungen und seinen mittelfristigen Planungen erkennen, daß er selbst von der Annahme ausgeht, die Inflation werde fortdauern, so ist keine rechtsstaatliche Grundlage mehr zu sehen, von der aus der Staat seinen Bürgen verwehren könnte, sich neben der unrealistisch gewordenen Geldverfassung Ersatzlösungen selbst zu schaffen." Als Aufruf zu einer Wirtschaftspolitik, die mit der Ausgewogenheit der wirtschaftspolitischen Ziele auch die Einheit der Rechtsordnung im Auge hat, verdient dieses Votum der Sachverständigen auch für die Zukunft Beachtung. Denn rechtsgebundene Wirtschaftspolitik ist nicht nur Pflege der Wirtschaftsordnung. Sie ist, wenngleich nicht Rechtsanwendung und im üblichen Sinn des Wortes bestimmt auch nicht Rechtspflege, in einem nach Widerspruchsfreiheit strebenden Rechtssystem doch „Pflege des Rechts": des Privatrechts! 149 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Jahresgutachten 1972/73 (gleicher Rang für den Geldwert), Rdn.341 ff. 150 Ebd. Rdn. 345. 151 Ebd. Rdn. 342.
Technik und Recht RUPERT SCHOLZ
I. Technik als rechtliches Ordnungsproblem 1. Technik - Industriegesellschaft
-
Verwaltungsstaat
Die Herausforderungen, die Aufgaben, die Verfahren und die Eigengesetzlichkeiten der Technik prägen die Funktionen von Gesetzgebung und Verwaltung - kürzer gesagt: die des Rechts - im Zeitalter der entwickelten Industriegesellschaft in herausragender Weise. Gesetzgeber und Verwaltung haben sich mehr und mehr der immer komplexer werdenden Ordnungs- und Gestaltungsaufgaben einer immer stärker technisierten und immer stärker technikabhängigen Umwelt anzunehmen. Vor allem die öffentliche Verwaltung muß in wachsendem Maße Aufgaben eigener technischer Gestaltung, eigener technischer Vorsorge und prinzipaler staatlicher Technikkontrollen zugunsten einer Gesellschaft übernehmen, die von technischen Leistungen und technisierten Sozialstrukturen immer abhängiger wird bzw. deren gesamtes Dasein sich immer mehr in und durch die Ordnungsformen wie Sachzwänge der - mit E. Forsthoff gesprochen 1 - „technischen Realisation" erfüllt. Lassen wir uns durch jene ebenso oft moralisch begründete wie modisch motivierte Skepsis gegenüber einer allzu uneingeschränkten Gläubigkeit gegenüber technischem Fortschritt und technischer Leistung nicht täuschen, die industrielle und erst recht die vor der Tür stehende postindustrielle Gesellschaft 2 leben und funktionieren im ebenso existentiell vorgegebenen wie existentiell notwendigen Konsens mit der Technik, mit dem technischen Fortschritt und auch mit dem Vertrauen auf die Technik und ihre Leistungsfähigkeit 3 . Für die Rechtsordnung begründen vor allem die außerjuristischen Eigengesetzlichkeiten und die besondere
Vgl. Der Staat der Industriegesellschaft, 1971, S.30ff., 42 ff. Vgl. hierzu namentlich Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft, 1975, bes. S. 29 ff., 57 f f . , 2 4 7 ff. 3 Siehe zum Ganzen auch bereits R. Scholz, Technisierung der Verwaltung - Steuerungs- und Kontrollproblem für den demokratischen Rechtsstaat, in: Baum/Bull/Krause/ Scholz/Steinbuch, Technisierte Verwaltung. Entlastung oder Entfremdung des Menschen, 1980, S. 55 ff. (m. w. Nachw. zur allgemeinen Problematik); neuerdings siehe bes. Graviert, Broermann-Festschrift, 1982, S.457ff.; Wittkämper, Verwaltung 1983, 161 ff.; Seibel, VerwArch 74, 1983, 325 ff. 1
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Dynamik der technischen Entwicklung besondere Herausforderungen. W o die Rechtsordnung und ihre juristischen Instrumentarien auf ein grundsätzliches Maß an Statik, Beharrung und dezisionär-abschließender Reduzierung von Komplexität angelegt sind, dort lassen sich die dynamischen Entwicklungsprozesse der Technik nur allzuoft nicht oder nur sehr bedingt vom Recht und seinem, im vorsehenden Sinne systematisierend-verfestigenden Zugriff einfangen 4 . Folgerichtig formuliert das Thema „Technik und Recht" aus juristischer Sicht ein vor allem verfassungs- und verwaltungsstaatliches Ordnungs-, Steuerungs- und Kontrollproblem allerersten Ranges 5 . Darüber hinaus formuliert die Thematik des Verhältnisses von Technik und Recht aber auch einen Fundus wahrhaft fundamentaler Leistungskraft, wie er für unsere Gesellschaft nicht nur im tatsächlichem Sinne existentiell geworden ist, sondern wie er auch für die Rechtsordnung neue Gestaltungsmöglichkeiten und Lösungsansätze verspricht.
2. Technik zwischen Leistung und Risiko - Recht zwischen und Vorsorge
Kontrolle
Die Technik gibt der Rechtsordnung nicht nur Aufgaben besonderer und neuartiger Problemlösungen auf, sie vermittelt der Rechtsordnung auch neue, ebenso legitime wie fungible Instrumente staatlicher O r d nungsgebung und verwaltungsrechtlicher Leistung. In diesem Sinne ist das oft beschworene Spannungsverhältnis von Technik und Recht wahrhaft ambivalent; und diese Ambivalenz übersehen vor allem diejenigen, die in der Technik nur einen - mehr oder weniger zu perhorreszierenden - Gefahrentatbestand für die Gesellschaft, für ihre rechtliche und tatsächliche Sicherheit sowie für die demokratisch-rechtsstaatliche Stabilität unseres Verfassungsstaates sehen wollen 6 . Zum akuten Konfliktpotential hat sich das Spannungsverhältnis zwischen Technik und Recht vor allem dort entwickelt, wo es um die von der Rechtsordnung zu prästierende Gefahren- oder Sicherheitsvorsorge geht. Im System des grundgesetzlichen Rechts- und Sozialstaates und seiner grundrechtlichen Schutzgarantien fällt dem Staat naturgemäß auch die zentrale Aufgabe zu, Bürger und Gesellschaft vor unvertretbaren Risiken oder konkreten Gefährdungen zu schützen, die von unkontrollierten oder nicht kontrollierbaren Technologien oder technischen Einrichtungen ausgehen. Soviel Selbstverständlichkeit in dieser - prinzipal
4 Vgl. dazu näher bereits R. Scholz, Das Verhältnis von technischer Norm und Rechtsnorm unter besonderer Berücksichtigung des Baurechts, in: DIN (hrsg.), Technische Normung und Recht, 1979, S. 85 ff. 5 Vgl. hierzu bereits R. Scholz (Fn. 3). 6 Vgl. hierzu wiederum bereits R. Scholz (Fn. 3).
Technik und Recht
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bedeutsamen - Einsicht und Feststellung liegt, soviel Unverständlichkeit liegt namentlich in mancher Ausuferung des Konflikts um die friedliche Nutzung der Atomenergie. Niemand bestreitet, daß die Nutzung der Atomenergie auch mit spezifischen Risiken und Gefahren behaftet ist; mit der gesetzgeberischen - und damit von der demokratischen Mehrheit unseres Volkes legitimierten - Entscheidung für die friedliche Nutzung der Atomenergie im AtomG sieht sich die politische Streitfrage um das Pro und Contra der Atomenergie jedoch in definitiver und damit von jedermann zu respektierender Weise entschieden. Daß der Rechtsordnung - und hier namentlich dem AtomG sowie den mit ihm verbundenen Spezialregelungen - weiterhin enorme Regelungs- und Sicherungsaufgaben zufallen, steht außer Streit. Ebenso hat jedoch die Feststellung außer Streit zu stehen, daß die Kontroverse um das Pro und Contra der friedlichen Nutzung der Atomenergie überhaupt nicht verdeckt auf dem Boden des AtomG selbst bzw. seiner Anwendung und Aktualisierung fortgesetzt werden darf. In der politischen wie rechtspolitischen Debatte sind jedoch nur allzuoft gegensätzliche Anzeichen oder Tendenzen deutlich und wirksam geworden. Sie haben maßgebend mit dazu beigetragen, daß das dogmatische Defizit in der Bewältigung des Spannungsverhältnisses von Recht und Technik gerade auf dem Gebiet des Atomrechts nach wie vor groß und mit vielen immanenten Ungewißheiten belastet ist. Als besonders bedeutsam hat sich hierbei die - nur bedingt juristische — Abgrenzungsfrage erwiesen, wie weit das vom Bürger und der Gesellschaft als naturgegeben vorauszusetzende und damit auch zu tragende (Rest-)Risiko reicht und wo die von der Rechtsordnung definitiv auszuschließende Gefahrenabwehr beginnt 7 . Der Begriff des „Risikos" benennt prinzipiell denjenigen Bereich, der vom Bürger als zumutbar zu tragen, also rechtmäßig ist8. Der Begriff der „Gefahr" benennt dagegen den Bereich der übermäßigen, nicht mehr zumutbaren und daher rechtswidrigen Bedrohung. In diesem Sinne ist mit P. Marburger sinnvoll und
7 Vgl. dazu bes. BVerfGE 49,89 (142 f.); BVerwGE 61,256 (262 ff.); Degenhart, Kernenergierecht, 1981, S.17ff., 117ff., 144ff.; ders., ET 83,230ff.; den., DVB1. 83,926 ff.; S. van Buiren /E. Ballerstedt/Grimm, Richterliches Handeln und technisches Risiko, 1982; H. Wagner, NJW 80,665ff.; Marburger, Das technische Risiko als Rechtsproblem, in: Bitburger Gespräche. Jahrbuch 1981, 1981, S. 39ff.; Ηanning/Schmieder, DB 77/Beil. 14; H. Hofmann, BayVBl. 83,33ff.; Baumann, JZ 82, 479ff.; Bender, DÖV 80, 633ff.; BlümeilH. Wagner (hrsg.), Technische Risiken und Recht, 1981; Roßnagel, Bedroht die Kernenergie unsere Freiheit?, 1983; Sommer, Aufgabe und Grenzen richterlicher Kontrolle atomrechtlicher Genehmigungen, 1983; Hawickhorst, ET 83,844ff.; Ziegler, ET 83,757ff.; Stober, ET 83,585 ff.; Ossenbühl, ET 83,665ff. 8 Vgl. bes. BVerfGE 49,142f.; Degenhart, a.a.O. (Fn.7); Marburger, in: Bitburger Gespräche. Jahrbuch 1981, S.41 ff.
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durchaus auch praxisgerecht zu unterscheiden'. So hat auch das BVerfG zu den Sicherheitsanforderungen gerade für Kernkraftwerke unter Hinweis auf die vorgegebenen Grenzen rechtlicher Prognostizierbarkeit allein darauf abgestellt, daß die von der Rechtsordnung zu leistende Risikovorsorge nach den Maßstäben „der praktischen Vernunft", d.h. nach dem jeweiligen Stand der Wissenschaft und Technik zu erfolgen hat und „Ungewißheiten", die „jenseits dieser Schwelle praktischer Vernunft" liegen, „unentrinnbar" sind „und insofern als sozialadäquate Lasten von allen Bürgern zu tragen" sind10. Dies bedeutet allerdings und, wie gerade gegenüber möglichen Mißverständnissen oder gar Mißdeutungen hervorzuheben ist, nicht, daß die Rechtsordnung in einem so sicherheitsempfindlichen Bereich wie dem der Atomenergie nicht zu einem höchstmöglichen Maß an Risikovorsorge verpflichtet wäre. Nur, und dies ist das Entscheidende, der „Grundsatz der bestmöglichen Gefahrenabwehr und Risikovorsorge", wie ihn das BVerfG betont hat", ist - der Dynamik und Flexibilität aller technischen Entwicklungen gemäß - relativ und damit im Sinne auch rechtlicher Offenheit zu begreifen. Zum definitiven bzw. absolut verpflichtenden Handlungsmaßstab verdichtet sich das Gebot der staatlichen Sicherheitsvorsorge erst dort, wo es um die aktuelle Gefährdung im Sinne des juristisch geklärten und rechtsanwendungsmäßig voll praktizierbaren Gefahrenbegriffs geht. Wer es gegenüber dieser Abgrenzung unternimmt, sozialadäquate Risikofaktoren und technisch-prognostische Ungewißheiten, die in den Rahmen dieses Risikobereichs belastungsmäßig fallen, in einen überinterpretierten und überfrachteten Gefahrenbegriff zu imputieren, verlagert in Wahrheit die Grundentscheidung des Pro und Contra der friedlichen Nutzung der Atomenergie überhaupt auf die Ebene von deren konkreter Realisierung bzw. versucht, politisch verlorene Schlachten auf dem Feld der Rechtsanwendung in unzulässiger Manier fortzusetzen oder wiederaufzunehmen. II. Technik als rechtliches Maßstabsproblem Die spannungsreichen, aber ebenso norm- wie technikgerecht zu bewältigenden Relationen zwischen Recht und Technik entfalten sich ebenso auf der Ebene der Rechtsetzung wie auf der Ebene der Rechtsanwendung. Dies belegen nicht nur die vorstehenden Bemerkungen zur mehr rechtspolitischen Seite des Verhältnisses von Recht und Technik bzw. seiner gelegentlichen, politisch-argumentativen Verfremdung.
' Vgl. a . a . O . (Fn.7), S.40f. 10 BVerfGE 49,142 f. 11 BVerfGE 49,139.
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3. Außerrechtliche Maßstabsqualität der Technik Technische Beurteilungs-, Verhaltens- oder Kontrollmaßstäbe sind überall dort anwendungsmäßig berufen oder zu berücksichtigen, wo es um die Gestaltung oder um die Beurteilung technologisch regulierter oder technisch funktionierender Sachverhalte geht12. Solche Sachverhalte sind aus normativ-juristischer Sicht außerrechtlich beschaffen; sie ressortieren also - in der Sprache juristischer Begrifflichkeit - auf der Ebene der Tatsächlichkeit bzw. des Sachverhalts und nicht auf der Ebene materieller Normativität 15 . Technische Normen enthalten zwar - insoweit mit der Rechtsnorm noch wesensmäßig vergleichbar - gewisse Wertmaßstäbe, gewonnen auf der Grundlage sachverständiger Sachverhaltskenntnis oder -beurteilung14. Ist eine technische Beurteilung nicht nur konkret-einzelfallbezogen, sondern auf der Grundlage generalisierter Sachkenntnis oder Beurteilung abstrakt gefaßt, so entwickelt sie über die Qualität der konkreten Beurteilung hinaus auch die wertmäßigabstrahierende Qualität einer generellen prognostischen Entscheidung: nämlich der Voraussage, daß bei Einsatz bestimmter Mittel oder bei Einhaltung bestimmter Verhaltensregeln ein bestimmter Erfolg oder ein spezifischer Sicherheitseffekt erreicht (gewahrt) werden wird. Das prognostische Urteil der in diesem Sinne abstrahierenden technischen Norm
12 Zur Problematik der (in diesem Sinne) „technischen Normen" vgl. insbes. Marburger, Die Regeln der Technik im Recht, 1979; Breuer, AöR 101,46ff.; Lukes, Die Bedeutung der sog. Regeln der Technik für die Schadensersatzpflicht von Versorgungsunternehmen, in: Regeln der Technik und Schadensersatz, 1969, S. 22 ff.; ders., N J W 78,241 ff.; ders., Uberbetriebliche technische Normung in den Rechtsordnungen ausgewählter E W G - und EFTA-Staaten, 1979; Ullrich, Rechtsschutz gegen überbetriebliche Normen der Technik, 1971; Zemlin, Die überbetrieblichen technischen Normen - ihre Wesensmerkmale und ihre Bedeutung im rechtlichen Bereich, 1973; Wolfensberger, Die anerkannten Regeln der Technik („Baukunst") als Rechtsbegriff im öffentlichen Recht, 1978; Backherms, Das D I N Deutsches Institut für Normung e.V. als Beliehener, 1978; ders., ZRP 78,261 f.; Hornig, DVB1. 79,307ff.; Staats, ZRP 78,59ff.; Ernst, Rechtsgutachten zur Gestaltung des Verhältnisses der überbetrieblichen technischen Norm zur Rechtsordnung, 1973; Hagen, ZRP 74,286ff.; Nickusch, N J W 67,811 ff.; Nicklisch, N J W 82,2633ff.; 83,841 ff.; ders., BB 83,261 ff.; Vieweg, Atomrecht und technische Normung, 1982, S. 141 ff.; Bruchhausen, G R U R 82,641 ff.; Kypke, Technische Normung und Verbraucherinteresse, 1982; Witke, Der Zusammenhang von Rechtsnormen und technischen Normen, in: D I N (hrsg.), Verweisung auf technische Normen in Rechtsvorschriften, 1982, S. 11 ff.; Marburger, ebenda, S.27ff.; Rittstieg, Die Konkretisierung technischer Standards im Anlagenrecht, 1982; D I N (hrsg.), Grundlagen der Normungsarbeit des D I N , 3. Aufl. 1978; R. Scholz, in: D I N (hrsg.), Technische Normung und Recht, S. 85ff.; Weber, ZfBR 83,151 ff.; Marburger, VersR 83,597ff.
" Vgl. bereits R. Scholz, in: D I N (hrsg.), Technische Normung und Recht, S. 87ff. 14 Vgl. Marburger, Regeln der Technik, s.287ff.; Wilke, in: D I N (hrsg.), Verweisung auf technische Normen, S. 18ff.; R. Scholz, in: D I N (hrsg.), Technische Normung und Recht, S. 87 ff.
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ist mit anderen Worten das der Kausalitätsvorhersage; die technische Norm stellt also und wesensgemäß keinen juristisch-normativen Sollensmaßstab, sondern zunächst und lediglich eine kausalitätsorientierte „Wenn-Dann-Relation" auf15. Mit dieser metajuristischen Maßgabe bleibt die technische Norm zunächst deskriptiv, also nicht normativ, obwohl der übliche Sprachgebrauch von der „technischen Norm" diese Beobachtung mitunter zu verdecken oder zu verdrängen geeignet ist. Indessen, zur normativen Aussage bzw. zum normativen Sollenmaßstab kann eine solche technische Aussage erst dann werden, wenn ihre Sachverhaltsbeschreibung und prognostische Aussage mit dem juristisch-gesetzlichen Gebot verbunden werden, sich entsprechend dem in der betreffenden technischen Aussage oder „Norm" beschriebenen Kausalitätsablauf oder der dort angestellten Kausalitätsprognose zu verhalten16. In diesem Sinne sind technische Normen von der Rechtsprechung zutreffend (auch) als „antizipierte Sachverständigengutachten" qualifiziert worden 17 ; dies bedeutet nämlich nichts anderes, als daß im Wege der Antizipation bestimmte Kausalitätsvorhersagen oder Prognosen im Sinne der vorgenannten „Wenn-Dann-Relation" - in wiederum entsprechend abstrahierender und generalisierender Form - getroffen werden. Sachverständigengutachten sind jedoch keine normativen Sollenssätze, sondern allein tatsächliche Beurteilungsmaßstäbe, die - wiederum auf der Ebene der juristischen Begrifflichkeit - zunächst nichts anderes als bestimmte - auf der Ebene des Beweisrechts relevante - Vermutungswirkungen auslösen können 18 . 4. Kein autonomes „Recht der
Technik"
Soweit es um technische Normen mit besonders entwickeltem Abstraktionsgrad geht, stößt man üblicherweise auf die technischen Regelwerke, die von privaten Institutionen, wie dem Deutschen Institut für Normung ( D I N ) oder von vergleichbaren Institutionen ( V D E etc.) erarbeitet und erlassen werden". Solche technischen Regelwerke kumuVgl. R. Scholz, a. a. O. (Fn. 14), S. 88 ff. Vgl. R. Scholz, a . a . O . , (Fn.14), S.88ff. 17 Vgl. BVerwGE 55,250 (256ff.); siehe dazu auch Breuer, AöR 101,79ff.; ders., N J W 77,1029f.; Ule, BB 76,446ff.; Nicklisch, BB 83,265f.; ders., N J W 83,841 ff.; Rittstieg, N J W 83,1098ff.; Vieweg, Atomrecht und technische Normung, S. 187ff.; Papier, Rechtskontrolle technischer Großprojekte, in: Bitburger Gespräche. Jahrbuch 1981, 1981, S. 81 (86ff.); Jarass, DVB1. 83,725 (731). 18 Vgl. bereits R. Scholz, a . a . O . (Fn.14), S. 87ff.; zur Beweislast als Instrument der Rechtspolitik gerade in technisch bestimmten Ordnungsbereichen siehe allgemein (konkret zum Umweltschutzrecht) die klaren Distinktionen und Kategorisierungen von Börner, in: Börner (hrsg.), Umwelt - Verfassung - Verwaltung, 1982, S. 117 ff. " Siehe hierzu schon die allgemeinen Nachw. oben Fn. 12. 15
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lieren in besonderer Weise autonomen technischen Sachverstand und sind demgemäß in besonderer Weise geeignet, als antizipierte Sachverständigengutachten zu fungieren. Andererseits sind solche technischen Regelwerke jedoch - dem (privatrechtlichen) Wesen der technischen N o r m gemäß - nicht imstande, in die Rolle verbindlicher Rechtsnormen einzutreten. Denn das staatliche Rechtsetzungsmonopol schließt den Erlaß allgemeinverbindlicher Rechtsnormen bzw. juristisch verbindlicher Sollenssätze durch Private aus. Es gibt kein gesellschaftlich autonomes „Recht der Technik", das neben dem staatlich gesetzten (Gesetzes-) Recht ressortieren könnte. Folgerichtig bedarf es für jede technische N o r m der Umsetzung in staatliches Gesetzesrecht bzw. der Rezeption durch staatliche Rechtsnormen, um die Qualität der allgemeinverbindlichen Rechtsnorm zu erlangen. Folgerichtig liegt das Hauptproblem der Vermittlung von Technik und Recht auf der Ebene dieser Rezeptionsfrage. Es geht darum, in welcher Weise Rezeptionen technischer Erfahrungssätze oder technischer Kausalitätsvorhersagen von der staatlichen Rechtsordnung vorgenommen werden können, welcher definitiven Rechtsgeltungsvoraussetzungen es bedarf und auf welche Weise eine entsprechende „technische N o r m " in justitiabler Weise in das Feld der Rechtsanwendung übersetzt werden kann20. 5. Technische Normen als rechtliches
Rezeptionsproblem
Komplizierend wirken sich bei dieser Frage zunächst immanente Unterschiedlichkeiten im Bereich der technischen Normen aus. So offenbaren namentlich die genannten technischen Regelwerke nämlich nicht nur deskriptive Erfahrungssätze über faktische Gegebenheiten oder Prognosen über (wahrscheinliche) Kausalverläufe. In vielen Fällen offenbaren sich technische Normen auch als imperativ gefaßte Sollenssätze („Volitivakte"), die von den beteiligten Organisationen bewußt als (soziale) Handlungsnormen statuiert werden und durchaus den Anspruch erheben, im zuständigen Lebensbereich Beachtung zu finden21. Indessen ändert dies am fehlenden Rechtsnormcharakter nichts. Man mag hier von „sozialen Handlungsnormen", gesellschaftlichen Konventionen oder auch von allgemeinen „technischen Verhaltensbedingungen" analog allgemeinen (wirtschaftlichen) Geschäftsbedingungen sprechen; gleichgültig wie, zur konstitutiven Rechtsnorm erstarken Sollenssätze dieser Art nie. Aus der Sicht der staatlichen Rechtsordnung
20 Zur Gesamtproblematik siehe bereits - freilich in vielfältiger Weise auch kontrovers die Nachw. oben Fn. 12. 21 Vgl. z . B . Marburger, Regeln der Technik, S.287ff.; Wilke, in: D I N (hrsg.), Verweisung auf technische Normen, S. 18 ff.; Papier, Bitburger Gespräche. Jahrbuch 1981, S. 91.
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bleibt es bei der Feststellung von der Rezeptionsbedürftigkeit bzw. von der bloß sachverhaltsbestimmten oder tatsächlichen Geltungsqualität, wobei freilich zu beachten bleibt, daß auch hier und erneut Differenzierungserfordernisse aktuell werden können. So finden sich ζ. B. in technischen Regelwerken häufig Sollenssätze, die mehr auf die Wirtschaftlichkeit, Qualitätskontrolle, Wettbewerbsregelung oder produktionsmäßige Rationalität als auf die technische Sicherheit zielen. Folgerichtig muß bei der Berücksichtigung namentlich als antizipierte Sachverständigengutachten im Rahmen technischer Sicherheitskontrollen unterschieden werden; hier können naturgemäß nur solche Detailaussagen aus technischen Regelwerken relevant werden, deren Aussagegehalt wirklich — oder doch überwiegend - auf die technische Sicherheit und nicht auf entsprechend andere Ziele hinweist. Andererseits können z.B. qualitätsorientierte Aussagen etwa im Kontext einer staatlichen Verbraucherschutzgesetzgebung von vergleichbarer Sachverstandsqualität sein; hier kann der im betreffenden Regelwerk vorgeschriebene Qualitätsstandard durchaus von auch normativem Interesse sein - mit der Konsequenz, daß es auch hier wiederum zu vergleichbaren Vermutungswirkungen des Inhalts kommen kann, daß für ein Produkt und seine verbraucherschutzgerechte Qualität zunächst bzw. vermutungsweise der Umstand spricht, daß der Standard jenes Regelwerks eingehalten wird. Bei alledem bleibt jedoch eines stets zu beachten: Gleichgültig, welchen Zielen eine technische Norm oder ein technisches Regelwerk dient, und gleichgültig, ob es sich um eine sachverhaltsorientierte Kausalitätsvorhersage bzw. Sachverhaltsbeurteilung oder um einen entsprechenden Sollenssatz handelt, um Rechtsnormen handelt es sich nie, weil die Ebene der bloßen Tatsächlichkeit und der damit fehlenden normativen Verbindlichkeit nie verlassen werden kann - mit der weiteren Folge, daß in aller Regel nur der Effekt des (antizipierten) Sachverständigengutachtens bzw. der beweisrechtlich relevanten Vermutungswirkung erreicht werden kann. 6. Rezeption kraft Rechtsetzung und
Rechtsanwendung
Für die Rezeption technischer Aussagen oder - wiederum im entsprechenden Gewohnheitskürzel gesprochen - von „technischen Normen" kommt einmal die Ebene der gesetzgeberischen Rechtsetzung und zum anderen die Ebene der verwaltungsmäßigen Rechtsanwendung in Betracht. Die Praxis kennt bekanntlich beide Wege; sie kennt darüber hinaus auch den Versuch, Mittelwege zu beschreiten. Soweit die normative Umsetzung technischer Normen im Wege der Gesetzgebung unternommen worden ist, hat der Gesetzgeber sich in aller Regel der Mittel von Generalklausel, unbestimmtem Rechtsbegriff, Rechtsverweisung
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und ggf. auch des Blanketttatbestandes bedient22. In der Regel hat dies allerdings auch zu wesentlichen Regelungsdefiziten geführt, die wiederum von den Rechtsanwendungsorganen - namentlich der Verwaltung, im Kontrollbereich aber auch von der Justiz - auszugleichen waren. Der Weg der Generalklausel findet sich in allen jenen Gesetzgebungen beschritten, die auf die „allgemein anerkannten Regeln der Technik" 23 , den „Stand der Technik" 24 , den „Stand von Wissenschaft und Technik" 25 oder die „allgemein anerkannten Regeln der (Bau-) Technik" bzw. der „Baukunst" 26 verweisen27. Fälle, in denen der Gesetzgeber selbst und unmittelbar eine technische Norm rezipiert, finden sich dagegen kaum. Der Grund hierfür liegt in der besonderen Eigengesetzlichkeit technischer Erkenntnisse und damit auch technischer Normen: nämlich in der notwendig entwicklungsbezogenen Offenheit und Dynamik aller technischen Entwicklungen und technologischen Erkenntnisse. Auf sie muß sich jede Gesetzgebung einrichten, hier muß sie - um dem eigenen Anspruch nicht nur geltungsmäßiger Verbindlichkeit, sondern auch effizienter Wirksamkeit gerecht zu werden - das nötige Maß an Flexibilität und tatbestandlicher Offenheit wahren, um jene Entwicklungsprozesse auch im Rahmen des juristischen Sollenssatzes aufzufangen. Ein Gesetzgeber, der einen bestimmten technologischen Erfahrungssatz unmittelbar in die Form der Rechtsnorm umgösse, wird sich in aller Regel schon nach allerkürzester Zeit mit dem Umstand konfrontiert sehen, daß die technische Entwicklung bereits wieder weiter vorangeschritten ist, die betreffende Rechtsnorm sich also faktisch erledigt hat. Deshalb ist es in der Tat ungleich zweckmäßiger, über die Wege der Generalklausel, der Verweisung, der exekutivischen Rechtsanwendung
22 Vgl. hierzu sowie zum Folgenden und jeweils m. w. Nachw. Marburger, Regeln der Technik, S.40ff., 121 ff.; 279ff.; ders., in: DIN (hrsg.), Verweisung auf technische Normen, S.27ff.; Nicklisch, BB 83,261 ff.; ders., NJW 82,2633ff.; 83,904ff.; Rittstieg, Konkretisierung, S. 11 ff., 21 ff., 45ff., 93ff., 137ff., 161 ff.; Vieweg, Atomrecht und technische Normung, S. 141 ff., 181 ff.; Pulte, AuR 83,174ff.; VVilke, a . a . O . (Fn.21), S. 11 ff.; Czajka, DÖV 82, 99ff.; Berg, GewArch 78,281 ff.; R. Scholz, a.a.O. (Fn. 14), S. 85ff.; Winckler, DB 83,2125ff.; Langeder/Schmidl, Wissenschaft und Technik im Umweltschutzrecht, 1982, S. 12 ff., 35 ff.; Sommer, Aufgaben und Grenzen, S. 28 ff. 23 Vgl. §§3 I MaschinenschutzG, 3 I GerätesicherheitsG, 17 II Nr. 1 SprengG. 24 Vgl. §§3 VI, 5 Nr. 2, 14 S.2 BImSchG, 5 II Nr. 3 SprengG, 4 BBahnG, 21 I, 36 PBefG, 6 II BDSG. 25 Vgl. §§4 II Nr. 3, 5 I 2, 7 II Nr. 3 AtomG, 24 IV 2 GewO. 26 Vgl. §§3 I, III MusterbauO (MBO), 330 I StGB, 3 BadWüBauO, 3 HessBauO, 3 BlnBauO, An. 3 BayBauO. 27 Vgl. auch z.B. im Zusammenhang mit den gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen die Regelungen der §§99 BetrVG, 28 I 2 JArbSchG, 3 I Nr. 1 ArbStVO; hierzu siehe im einzelnen Pulte, AuR 83,174 ff.
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und - dies ist der namentlich im letzteren Bereich maßgebende Kontext über den unbestimmten Rechtsbegriff zu operieren. Denn methodisch haben alle diese Instrumentarien eines miteinander gemeinsam: sie belassen dem juristischen Tatbestand über das Erfordernis der weiteren Komplettierung ein gewisses Maß an Offenheit und Flexibilität, über das sich die technologische Entwicklung zumindest in der Regel in weitgehend praktikabler Form ein- und auffangen läßt. Rechtsdogmatisch bestehen ungeachtet dessen in nahezu sämtlichen Bereichen erhebliche Probleme. Nicht unzufällig beschäftigt sich die rechtswissenschaftliche Lehre seit Jahrzehnten mit diesen Fragen der ebenso sach- wie normgerechten Vermittlung von Technik und Recht in außerordentlich intensiver Weise, und doch sind die Fortschritte häufig nur marginal, wie namentlich die praktischen Probleme im Bereich der Rechtsanwendung und der justitiellen Rechtskontrolle beispielhaft offenbaren. 7. Rechtsverordnung,
Verwaltungsvorschrift und autonomer technischer Sachverstand Der einfachste und rechtsdogmatisch sicher am ehesten problemlose Weg liegt in der Rezeption technischer Normen über den Weg der Rechtsordnung, d. h. Rezeption mittels Berufung exekutivischer Rechtssetzungsinstanzen. Vergleichbar mit diesem Weg ist die Methode der Verwaltungsvorschrift, wie dies vor allem in den Fällen der TA Luft und der TA Lärm praktisch geworden ist. Da es der Verwaltungsvorschrift - zumindest prinzipiell - an der normativen Auswirkung fehlt, ist in diesen Fällen - wiederum vom Wesen der technischen Norm her durchaus sachgerecht - mit der Begriffsfigur des antizipierten Sachverständigengutachtens operiert worden 28 . Im Falle der Rechtsverordnung sind dagegen auch die Voraussetzungen der normativen Außenwirkung gegeben. Ein besonders deutliches Beispiel hierfür findet sich im Bauaufsichtsrecht. Selbst dies kommt jedoch allein mit dem Weg der Rechtsverordnung nicht aus, wie die weitere - und praktisch wohl noch bedeutsamere - Ermächtigung des § 3 III M B O beweist, derzufolge die obersten Bauaufsichtsbehörden das Recht haben, technische Baubestimmungen durch Bekanntgabe im Ministerialblatt „einzuführen" 29 . Gerade dieser „Einführungs"vorgang ressortiert in einem eigentümlich ambivalenten Feld „zwischen" Rechtsverordnung und Verwaltungsvorschrift, wobei
2> Vgl. die Nachw. oben Fn. 17; siehe hierzu auch den, freilich nicht Gesetz gewordenen Entwurf zur Änderung des BImSchG - BT-Drucks. 8/2751 - mit dem Ziel der Verrechtlichung der T A Luft. 29 Vgl. hierzu bereits R. Scholz, a . a . O . (Fn. 14), S.90f.
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der Grund wiederum in der Suche nach möglichst flexiblen, möglichst rasch reagiblen Verfahrensweisen zugunsten der notwendig auf die neueste technische Sachverhalts- und Sicherheitserkenntnis angewiesenen Bauaufsichtsbehörden beruht. In der Konsequenz hat dies vor allem dazu geführt, daß die Bauaufsichtsbehörden von dieser Ermächtigung in aller Regel dann und in der Weise Gebrauch machen, wenn es für sie darum geht, bestimmte technische Normen aus technischen Regelwerken allgemeinverbindlich zu machen. In Wahrheit und ebenso regelmäßig geht es also auch hier (nur) darum, einen rechtsdogmatisch tragfähigen Weg zu finden, um den technischen Sachverstand technischer Regelwerke in einen zumindest quasi-normativen Rang zu erheben. Neben diesen Wegen üblicher juristischer Rezeptionsmethodik ist vor allem erwogen worden, technische Rechtsentscheidungen - von vornherein oder doch maßgebend - auf außerstaatliche Gremien technologischen Sachverstandes zu delegieren30. Aus der Sicht der Technik und ihrer disziplinären Eigengesetzlichkeit erweckt dieser Weg sicherlich die meisten Hoffnungen, verspricht er das wohl größtmögliche Maß an praktischer Bewährung. Indessen, im System einer auf das demokratisch-rechtsstaatliche Rechtsetzungsmonopol gegründeten staatlichen Rechtsordnung und allein ihr verantwortlichen Rechtsanwendung scheidet ein solcher Weg notwendig aus31 - wenn man von den Konstruktionsformen der Beleihung bzw. entsprechender Gremien als materieller Verwaltungsorgane kraft Beleihung einmal absieht. Gerade solche Beleihungskonstruktionen greifen im hiesigen Feld jedoch kaum. Denn ein wirklich optimierter technologischer Sachverstand und seine gremienmäßige Konzentration müssen ihrerseits wiederum über soviel Flexibilität und organschaftliche Offenheit verfügen, daß die notwendig starren und konstruktionsmäßig schwerfälligen Mechanismen der Beleihung mehr oder weniger von vornherein ausscheiden bzw. das erstrebte Ziel schon im Ansatz vereiteln dürften. Demgemäß muß es bei den vorgenannten, unmittelbar-gesetzgeberischen Rezeptionsformen verbleiben; zu ihnen ist betrachtungsmäßig also zurückzukehren:
30 Vgl. Lukes, in: Bitburger Gespräche. Jahrbuch 1981, S. 117ff., ders., NJW 78,241 (246); ders., in: Sechstes Deutsches Atomrechts-Symposium, 1980, S.49 (69 f.); H. Wagner, ZRP 82,103ff.; H. Krüger, NJW 66,619ff.; Nickusch, Die Normativfunktion technischer Ausschüsse und Verbände als Problem der staatlichen Rechtsquellenlehre, Diss. jur. München 1964, S.218ff.; siehe auch Erhardt, BayVBl. 82,489ff.; J. Schmidt, MaunzFestschrift, 1981, S. 297 ff. 51 Vgl. Ossenbühl, DÖV 81,1 (2f.); H. Wagner, ZRP 82,104ff.; Rittstieg, Konkretisierung, S. 230 ff.
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8. Blankettatbestand
und
Generalklausel
Da gesetzliche Regelungen vor allem im technischen Sicherheitsrecht in aller Regel bestimmte Freiheitseinschränkungen implizieren bzw. etwa dem Errichter oder Betreiber bestimmter Anlagen spezifische Verantwortlichkeiten oder Pflichten auferlegen, scheidet der Blankettatbestand in aller Regel als taugliches und verfassungsmäßiges Rezeptionsinstrument aus. Denn soweit es um bestimmte Freiheitsbeschränkungen, Belastungen oder Verpflichtungen geht, bedingt eine rechtsstaatliche Gesetzgebung Bestimmtheit in Ziel und Ausmaß sowie Vorhersehbarkeit und Abgrenzbarkeit in der Rechtsfolge. Demgemäß kann sich ein Gesetzgeber auch im Bereich des technischen Sicherheitsrechts nicht damit begnügen, blankohalber auf bestimmte technische Sicherheitsstandards zu verweisen, ohne seinerseits das gesetzliche Schutzziel, dessen Erfordernisse und die damit verbundenen Rechtsfolgen in bestimm- und vorhersehbarer Form abzustecken. Scheidet der Blankettatbestand daher und regelmäßig aus, so gilt für die Generalklausel anderes. Ihrer Möglichkeiten hat sich der Gesetzgeber folgerichtig auch zumeist bedient. Die vorgenannten Gesetzgebungsformulierungen aus dem Umweltschutz-, Atom-, Baurecht usw. belegen dies in aller Deutlichkeit. In sämtlichen Fällen handelt es sich um Generalklauseln, die auf bestimmte technische Standards Bezug nehmen, es bei dieser Inbezugnahme jedoch nicht belassen, sondern - zumindest über den allgemeinen gesetzlichen Kontext - den notwendigen Ziel- und Rechtsfolgenbezug gewährleisten. So dient das Baurecht vor allem der Garantie bauwerksmäßiger Sicherheit, das Atomrecht der Gewährleistung errichtungs- und betreibungsmäßiger Sicherheit, das Umweltschutzrecht dem Schutz vor bestimmten ökologischen Einwirkungen usw. In allen Fällen ist der normative Schutzgüterkomplex also bestimmt, und soweit er durch bestimmte technische Standards, d.h. durch bestimmte tatsächliche Erkenntnisse, Prognosen oder Maßnahmen ergänzt wird, stehen diese im unmittelbaren Sinn- und Rechtsfolgenbezug zu jenem normativen Schutzgüterkomplex 32 . Dies ist, wie gesagt, verfassungsrechtlich geboten und ermöglicht zugleich die - notwendige - Differenzierung innerhalb vorgegebener technischer Regelwerke oder technischer Standardkomplexe. So sind ζ. B. im Bereich des Bauaufsichtsrechts technische Normen, die sich mehr mit allgemeinen Qualitätssicherungen oder mit Elementen der produktionsmäßigen Rationalität befassen, aus dem Schutzgüterkomplex der öffentlichen Sicherheit und Ordnung von vornherein ausgeschlossen, mithin eo ipso untauglich, in den Bereich der 52 Vgl. bereits R. Scholz, a. a. O. (Fn. 14), S. 102ff.; siehe entsprechend auch Nicklisch, N J W 82,2636, der insoweit von der „kontrollierten Rezeption" spricht.
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„allgemein anerkannten Regeln der Baukunst" bzw. der „Technik" tatbestandlich vorzustoßen. 9. Technische Norm und rechtliche
Verweisung
Wenn eine Rechtsnorm generalklauselmäßig auf „allgemein anerkannte Regeln der Baukunst" oder den „Stand der Technik" bzw. den „Stand von Wissenschaft und Technik" verweist, so verweist sie, wie gezeigt, auf bestimmte außerrechtliche Sachverhalte und die mit diesen verbundenen oder aus diesen gewonnenen (abstrahierenden) Erfahrungssätze oder Prognosen. Dieser Vorgang wird häufig - vor allem wenn es um die „Verweisung" auf technische Regelwerke geht - als Vorgang der Rechtsverweisung angesehen oder man versucht zumindest, diesen Vorgang über deren Kriterien zu erklären". Wie bereits an anderer Stelle dargelegt 54 , trifft dies indessen nur sehr bedingt zu. Denn da die technische N o r m nicht auf der Ebene abstrakt-normativer Tatbestandlichkeit rangiert, ihr inhaltlicher Bezug zum realen Sachverhalt sie vielmehr auf die Ebene der prinzipiell nur empirisch zu erfassenden Realität verweist, kann es von vornherein nicht darum gehen, in der betreffenden Rechtsnorm eine Verweisung auf einen anderen (rechtlichen) Sollenssatz bzw. einen anderen juristischen Befehl zu sehen, wie es dem Wesen der Rechtsverweisung gemäß wäre. Dies ist allenfalls dann angängig, wenn in der betreffenden technischen N o r m zugleich ein solcher Sollenssatz enthalten ist, wenn die technische N o r m sich also über den Gehalt der tatsächlichen Aussage, Bewertung und Prognose hinaus zur („volitiven") Handlungsanweisung verdichtet. Wie erwähnt, gibt es auch solche technischen Normen. Andererseits ist innerhalb fast aller technischen Normen durchaus zwischen dem tatsächlich-empirischen Aussage-, Bewertungs- und Prognosegehalt einerseits und dem (ggf. zusätzlichen) Befehlsgehalt andererseits zu unterscheiden. Dies gilt auch dann, wenn die technische N o r m sich ihrer äußeren Fassung nach von vornherein als „Befehl" oder Handlungsanweisung geriert. Denn nicht die äußere Form, sondern der materielle Gehalt ist für das Wesen der Rechtsnorm und ihrer juristischnormativen Tatbestandlichkeit maßgebend. Deshalb wird der „volitive" oder befehlsmäßige Charakter vieler technischer Normen auch interpretationsmäßig oft überschätzt 35 - mit der Konsequenz weiterer Mißverständlichkeiten im Bereich der Abgrenzung von Rechtsnorm und technischer N o r m allgemein. Vgl. hierzu schon die Nachw. oben Fn. 22. Vgl. R. Scholz, a . a . O . (Fn. 14), S.98ff. 55 Vgl. z . B . Wilke, a.a. O. (Fn. 21), S. 17ff.; Marburger, in: D I N (hrsg.), Verweisung auf technische Normen, S. 36 f. 33 14
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10. Statische und dynamische
Rechtsverweisung
Technische Normen sind notwendig entwicklungsbezogen und -offen; sie sind damit dynamisch und nicht statisch. Werden solche Normen als Sollenssätze verstanden und von Rechtsnormen mit dieser Maßgabe aufgenommen, so handelt es sich allerdings und in der Tat um Vorgänge der Rechtsverweisung. Denn insoweit figuriert der Autor der technischen Norm bzw. der als Handlungsanweisung deklarierten technischen Norm als delegationsmäßig berufener Rechtssetzer, auf dessen Handlungsanweisung die staatliche Rechtsnorm rekurriert und die sie zum (tatbestandlich komplettierenden) Teil des eigenen Sollenssatzes beruft36. Dies ist solange unproblematisch, wie die betreffende technische Norm bestehensmäßig unverändert bleibt und damit im Verhältnis zur staatlichen Rechtsnorm die Voraussetzungen der sog. statischen Verweisung gewahrt bleiben. Verfassungsrechtlich ist nämlich und grundsätzlich nur die statische Verweisung, d. h. diejenige Verweisung rechtmäßig, die für den betroffenen Normadressaten, also in der Regel für den Bürger, den Inhalt der Regelungen, auf die ein Gesetzgeber verweist, von vornherein und durchgängig bestimmbar hält. Das Gegenteil solcher Verweisungen bildet die sog. dynamische Verweisung, deren Wesen darin besteht, daß das Verweisungssubstrat, hier also die als Handlungsanweisung figurierende technische Norm, in ihrer Veränderbarkeit und entwicklungsmäßigen Offenheit in den verweisenden Tatbestand der staatlichen Rechtsnorm aufgenommen wird. Nach den Grundsätzen rechtsstaatlich gebotener Normbestimmtheit sind solche dynamischen Verweisungen in der Regel unzulässig". Andererseits hat namentlich das BVerfG „dynamische Verweisungen" nicht „schlechthin ausgeschlossen", sondern durchaus auch Spielraum für — notwendige - Flexibilitäten im Bereich der Rechtsverweisung offengehalten38. In diesem Sinne kön-
36 Zur Legitimation wie Problematik der Rechtsverweisung allgemein sowie auch zum Folgenden vgl. bes. BVerfGE 5,25 (31); 22,330 (346); 26,338 (366ff.); 47,285 (311 ff.); BVerfG, BB 83,2180f.; Karpen, Die Verweisung als Mittel der Gesetzgebungstechnik, 1970, S. 11 f.; Ossenbühl, DVB1. 67,401 ff.; Schenke, Fröhler-Festschrift, 1980, S.87ff.; äers., NJW 80,743ff.; Marburger, Regeln der Technik, S.379ff.; ders., a.a.O. (Fn.35), S.27ff.; R. Scholz, a.a.O. (Fn. 14), S.96ff.; ders., Gerhard-Müller-Festschrift, 1981, S.509ff.; Wilke, a.a.O. (Fn.21), S . l l f f . ; Baden, NJW 79,623ff.; Hömig, DVB1. 79,307 ff. 37 Vgl. BVerfGE (Fn.36); Karpen, Verweisung, S. 101 ff., 174ff.; Ossenbühl, DVB1. 67,402ff.; Hömig, a . a . O . ; Baden, a . a . O . ; Sachse, NJW 81, 1651 ff.; Nickusch, NJW 69,811 (812); Staats, ZRP 78,59ff.; Wilke, a.a.O. (Fn.21), S. 13ff.; Schenke, FröhlerFestschrift, S. 99ff., 108 ff.; Arndt, JuS 79,784ff.; Marburger, Regeln der Technik, S. 387 ff.; R. Scholz, Gerhard-Müller-Festschrift, S. 521 ff.; ders., a.a.O. (Fn. 14), S.97ff. 38 Vgl. BVerfGE 47, 312.
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nen dynamische Verweisungen zumindest und prinzipiell dann als zulässig ausgemacht werden, wenn der verweisende Gesetzgeber den Inhalt des insgesamt zu befolgenden Rechtsbefehls zumindest insoweit einund abgrenzt, daß sein Inhalt bereits auf der Grundlage der verweisenden N o r m bzw. ihres (bis zur erfolgten Verweisung unvollständigen) Tatbestands bestimmbar bleibt". So kann typenmäßig zwischen der selbständigen dynamischen Verweisung und der unselbständigen dynamischen Verweisung unterschieden werden, wobei die erstere dadurch gekennzeichnet ist, daß sie die tatbestandliche Gestaltung der Rechtsfolgenbestimmung völlig der künftigen oder jeweiligen Drittrechtsnorm (Veweisungssubstrat) überläßt, und die letztere dadurch gekennzeichnet ist, daß die verweisende Rechtsnorm ihre tatbestandliche oder rechtsfolgenmäßige Komplettierung hier auch bei wechselnden Drittrechtsnormen (Verweisungssubstraten) inhaltlich doch mit hinreichender Bestimmbarkeit vorab benennt. Die letztere Form der dynamischen Verweisung ist durchaus verfassungsmäßig, die erstere dagegen nicht40. In ähnlichem Sinne grenzt P. Marburger gerade für den Bereich der technischen Normen ab: Er unterscheidet zwischen der „normergänzenden" und der „normkonkretisierenden" dynamischen Verweisung, wobei die (nur) „normkonkretisierende" Verweisung als verfassungsmäßig anerkannt wird41. Dies ist inhaltlich zutreffend und entspricht der hiesigen Differenzierung 42 ; insbesondere auch deshalb, weil - soweit es um technische Normen geht der grundsätzliche Effekt der bloßen Vermutungswirkung hinsichtlich der tatsächlichen Inhalte technischer Normen auch im Kontext der rechtlichen Verweisung gewahrt bleibt. 11. Rechtsverweisung, Generalklausel und unbestimmter Rechtsbegriff Uber diesen Weg sehen sich nach hiesiger Auffassung alle dogmatischen Probleme gelöst. Hinzu kommt, daß damit auch der Bereich der generalklauselmäßigen Berufung technischer Standards nicht nur erklärbar, sondern auch interpretatorisch faßbar wird. Erkennt man nämlich, daß Generalklauseln wesensgemäß dadurch gekennzeichnet sind, daß ein gewisses Maß an tatbestandlicher Offenheit und damit Komplettierungsbedürftigkeit vom Gesetzgeber zugrundegelegt und der späteren Rechtsanwendung zur Komplettierung überlassen wird (tatbestandliche Komplettierung im konkreten rechtsanwendenden Einzelfall), so zeigt
" Vgl. Vgl. 41 Vgl. S. 30 ff. 42 Vgl. 40
schon R. Scholz, Gerhard-Müller-Festschrift, S. 523ff. R. Scholz, a . a . O . (Fn.39), S . 5 2 5 f . Marburger, Regeln der Technik, S.390ff.; siehe auch ders., a . a . O . (Fn.35), auch Marburger,
a . a . O . (Fn.35), S . 3 6 f .
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sich auch, daß kein dogmatisch prinzipieller Unterschied zum Verfahren der Rechtsverweisung im vorgenannten Sinne besteht43. Im Gegenteil, nur die Blickrichtung ist eine andere: Bei der Verweisung wird nach dem Verweisungssubstrat im Sinne normativer Tatbestandlichkeit gefragt, während bei der Generalklausel auf das Verfahren der Rechtsanwendung und ihrer Rechtsfolgenbestimmung abgestellt wird. Soweit es um die Berufung technischer Normen geht, geschieht jedoch in beiden Fällen das gleiche. Im einen Falle wird die technische Norm als Verweisungssubstrat begriffen, im anderen Falle als Maßstab der Rechtsfolgenbestimmung und der mit ihr verbundenen konkret-komplettierenden Tatbestandskonkretisierung. Betrachtet man Begriffe wie die der „allgemein anerkannten Regeln der Baukunst" bzw. der „Technik", des „Standes der Technik" und des „Standes von Wissenschaft und Technik" für sich genommen, so handelt es sich um unbestimmte Rechtsbegriffe, d. h. Rechtsbegriffe, die ihrerseits konkretisierungsbedürftig sind. Erkennt man weiterhin, daß der interpretativen Rechtsanwendung aufgegebene Konkretisierungsvorgänge dieser Art nichts anderes als die begrifflich-tatbestandliche Komplettierung - „Schließung" des Rechtsbegriffs - darstellen, so wird zugleich deutlich, daß in der Tat zwischen dem generalklauselmäßig gefaßten Tatbestand einer Rechtsnorm und demjenigen Tatbestand einer Rechtsnorm, der mit unbestimmten Rechtsbegriffen operiert, kein wesentlicher, namentlich kein normstruktureller Unterschied besteht. Folgerichtig gelten die vorgenannten rechtsdogmatischen Erwägungen auch für den unbestimmten Rechtsbegriff bzw. sein Instrumentarium, technische Normen in das Bewertungs- und Rechtsfolgensystem einer Rechtsnorm einzubeziehen. III. Technik als rechtliches Justitiabilitätsproblem 12. Inhaltlich beschränkte
Rechtskontrolle
Das Stichwort vom unbestimmten Rechtsbegriff führt bereits zum dritten Fragenkomplex: dem Verhältnis von Technik und Recht als Justitiabilitätsproblem 44 . « Vgl. bereits R. Scholz, a . a . O . (Fn.14), S.94ff. 44 Zur hiesigen Problematik sowie zum Folgenden siehe u.a. Rittstieg, Konkretisierung, S. 161 ff.; Degenhart, Kernenergierecht, S. 98ff., 231 ff.; den., E T 83,230ff.; Papier, Bitburger Gespräche. Jahrbuch 1981, S. 81 ff.; Lukes, NJW 78, 245;/. Ipsen, AöR 107,259 (288ff.); Ossenbühl, DVB1. 78,1 ff.; Czajka, D Ö V 82,99ff.; H. Wagner, N J W 80,670; Bender, N J W 78,1945ff.; Sommer, Aufgaben und Grenzen richterlicher Kontrolle atomrechtlicher Genehmigung, 19831 Müller-Glöge, Die verwaltungsgerichtliche Kontrolle administrativer Immissionsprognosen, 1983; Langeder/Schmidl, Wissenschaft und Technik, S.21ff., 39ff.; Grimm, in: van Buiren/Ballerstedt/Grimm, Richterliches Handeln, S. 25 ff.
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Die technische Erkenntnis, die technische Sachverhaltsaussage und die technische Bewertung sowie die technische Prognose sind, wie gezeigt, sämtlich Phänomene außerrechtlicher (metajuristischer) Art. Dies bedeutet, daß vor allem die verwaltungsgerichtliche Kontrolle technischer Rechtsentscheidungen inhaltlich beschränkt sein muß - mit der Konsequenz, daß die (noch) herrschende These von der prinzipiell vollen gerichtlichen Uberprüfbarkeit technischer Entscheidungen zu revidieren ist45. Denn an dieser Stelle unterscheiden sich verwaltungsmäßiges Entscheidungsverhalten und gerichtliches Kontrollverhalten in einer ganz maßgebenden Beziehung: Die öffentliche Verwaltung ist ganz allgemein eine multidisziplinär operierende und verantwortliche Staatsgewalt, die Gerichtsbarkeit ist dagegen eine Staatsgewalt, der ausschließlich juristische Kontrollen und damit rechtliche Kontrollmaßstäbe aufgegeben sind46. Soweit es um die Zweckmäßigkeit bzw. die nicht juristisch zu bemessende Richtigkeit verwaltungsrechtlicher Entscheidungen geht, sind die zur Kontrolle der öffentlichen Verwaltung berufenen Verwaltungsgerichte nicht zuständig, nicht zur Entscheidung berufen. Daß in der Praxis gelegentlich auch gegenteilige Entwicklungen oder entgegengesetzt wirksame Kompetenzselbstverständnisse einzelner Richter oder gerichtlicher Spruchkörper zu beobachten sind, steht auf einem anderen Blatt. Als besonders markantes Beispiel für solche Tendenzen mag das Urteil des VG Freiburg im Falle des Atomkraftwerks Wyhl47 gelten, bei dem das Verwaltungsgericht ganz eindeutig über seine juristische Kontrollfunktion hinausgegangen und in das ihm nicht zur Beurteilung anstehende Feld technologischer Sachkenntnis und technischer Bewertung in Anmaßung einer eigenen, gleichsam konkurrierenden Technik- oder Sachverstandszuständigkeit eingedrungen ist4'. Selbst wenn die Grenzen zwischen der sachverständigen Ermittlung und Beurteilung technischer Standards einerseits und rechtlicher Bewertungsmaßstäbe andererseits mitunter flüssig sind, bleibt doch für jeden Richter im System des gewaltenteiligen Rechtsstaates die unverrückbare Verpflichtung bestehen, die eigenen Kompetenzen der nur rechtlichen Kontrolle und nur juristischen Maßstabsanlegung nicht zu verlassen und auf diese Weise nicht der Gefahr zu erliegen, in originäre Kompetenzbereiche der öffentlichen Verwaltung als einer Staatsgewalt einzudringen, der über die Anwendung und 45 Vgl. auch und bes. Degenhart, a . a . O . (Fn.44); Lukes, a.a.O. (Fn. ^4); H. Wagner, a . a . O . (Fn.44); Ossenbühl, a.a.O. (Fn.44); siehe auch BVerfGE 49,89 (136ff.). 44 Vgl. dazu näher bereits R. Scholz, W D S t R L 34,145 (151 ff.) 47 Vgl. NJW 77,1645 ff. = ET 77,62. 48 Aufgehoben durch VGH Mannheim, ET 82,849ff.; siehe anders und richtiger als das VG Freiburg auch schon zur gleichen Frage VG Würzburg, NJW 77, 1649 f.
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Konkretisierung rechtlicher Handlungsmaßstäbe hinaus auch die Realisierung sowie Beachtung anderer, d. h. außerrechtlicher Ziele, Maßstäbe und Instrumentarien obliegt. 13. „Stand der Technik" und „Stand von Wissenschaft und
Technik"
Wenn eine Rechtsnorm auf den „Stand der Technik", den „Stand von Wissenschaft und Technik" oder auf „allgemein anerkannte Regeln der Technik" oder der „Baukunst" verweist, werden außerrechtliche Sachverhalte, Bewertungen und Prognosen - vermittelt durch den jeweiligen fachlichen Sachverstand - anwendungsmäßig berufen. Dies bedeutet jedoch nicht, daß es sich damit automatisch um rechtliche Handlungsund Bewertungsmaßstäbe und damit auch um (voll) justitiable Kontrollmaßstäbe handeln würde. Im Gegenteil, wo eine Rechtsnorm sich in der genannten Weise auf die Technik und ihre Eigengesetzlichkeiten bezieht, dort wird dem technischen bzw. technologischen Sachverstand eine „originäre Sachkompetenz"49 eingeräumt, die kompetenzmäßig von der öffentlichen Verwaltung und ihrer Organisation solchen Sachverstands in eigener Verantwortung wahrzunehmen ist. Die Gerichte verfügen hier über keine eigene Sach- oder Entscheidungskompetenz; sie haben sich auf die eigenen, enger gesteckten Kontrollmaßstäbe und die von diesen gesetzten Justitiabilitätsgrenzen zu beschränken. Erkennt man zunächst, daß es sich bei der Berufung solcher technischen Normen um die implizite Anerkennung einer „originären Sachkompetenz" des wissenschaftlich-technischen Sachverstands handelt, so wird zugleich deutlich, daß die rechtliche Kontrolle der auf solchem Sachverstand beruhenden Entscheidungen sich prinzipiell nur auf die Frage erstrecken kann, ob die öffentliche Verwaltung bei ihrer Entscheidung in rechtlich einwandfreier Weise den jeweiligen „Stand der Technik" bzw. von „Wissenschaft und Technik" zugrundegelegt hat. Die Uberprüfung dieser Frage bedeutet jedoch und wiederum nicht, daß ein Gericht aus eigener Zuständigkeit den jeweils gültigen „Stand der Technik" bzw. von „Wissenschaft und Technik" - in gleichsam paralleler oder nachgeschalteter naturwissenschaftlicher Bewertung - überprüfen könnte. Die Formel vom „Stand der Technik" bedeutet - mit F. Ossenbühl gesprochen50 - nichts anderes als den „formalisierten Konsens in einem außerrechtlichen Bereich", wobei das maßgebende Kriterium in der (festzustellenden) Mehrheitsmeinung der jeweils kompetenten naturwissenschaftlichen oder technischen Kreise liegt. Das gleiche gilt für die „anerkannten Regeln"; auch hier kommt es allein - mit F.
« H. Wagner, NJW 80,667. 50 DÖV 81,2.
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Nicklisch gesprochen51 - auf „die herrschende Auffassung unter den führenden Fachleuten" an. Schon die Formulierung „Stand" weist auf einen Durchschnittswert, also auf die jeweilige Mehrheitauffassung hin. Das gleiche gilt im Ergebnis für den „Stand von Wissenschaft und Technik" 52 , obwohl hier auch gegenteilige Argumentationsversuche angestellt worden sind53. Diese scheinen sich vor allem auf eine Wendung im Kalkar-Beschluß des BVerfG vom 8. 8.1978 gründen zu dürfen, wo das Gericht erklärt, daß § 7 II Nr. 3 AtomG mit der Formel vom „Stand von Wissenschaft und Technik" noch weiter als die Formel vom „Stand der Technik" gehe, weil „mit der Bezugnahme auch auf den Stand der Wissenschaft . . . der Gesetzgeber einen noch stärkeren Zwang dahin" ausübe, „daß die rechtliche Regelung mit der wissenschaftlichen und technischen Entwicklung Schritt hält". Demgemäß ergäben sich „noch mehr Erkenntnisprobleme" für die Behörden als bei der „Formel vom Stand der Technik". Die Behörden kämen „bei sich widersprechenden Sachverständigengutachten in aller Regel nicht umhin, zu wissenschaftlichen Streitfragen Stellung zu nehmen"54. Dies bedeutet indessen nicht, daß mit jener Formel aus dem AtomG etwa den - die zuständigen Behörden kontrollierenden - Gerichten eine eigene technische Bewertungskompetenz eingeräumt würde. Denn abgesehen davon, daß das BVerfG hier nur von den Behörden als den (ja multidisziplinär verpflichteten!) Entscheidungsträgern spricht, bedeutet die Formel vom „Stand der Wissenschaft und Technik" auch in der vom BVerfG gegebenen Interpretation nichts anderes, als daß noch stärker auf die jeweils neueste technische und wissenschaftliche Entwicklung Rücksicht zu nehmen ist. Dies führt naturgemäß dazu, daß sich in vielen Fällen Mehrheitsmeinungen unter den jeweils zuständigen Fachkreisen noch nicht so ohne weiteres oder noch nicht so unmittelbar greifbar gebildet haben werden, wie dies für den (bloßen) „Stand der Technik" gelten mag. Dies ändert indessen nichts daran, daß es auch hier grundsätzlich nur darum geht, den (jeweils neuesten) repräsentativen (wissenschaftlichen und technischen) Sachverstand zu befragen bzw. von ihm das jeweils gültige Fachurteil zu erlangen. Folgerichtig folgt auch aus dem Bezug auf die „Wissenschaft" nicht etwa eine naturwissenschaftliche Kontrollkompetenz der Gerichte; diese müssen nur - ebenso wie die Behörden - darauf achten, daß der jeweils gültige naturwissenschaftliche (technische) Sachverstand wirklich - in der gebotenen repräsentativen Form - befragt und befolgt wird. 51 52 55 54
NJW 82,2640. Vgl. Nicklisch, NJW 82,2639 ff. Vgl. Marburger, Regeln der Technik, S. 162 f., 164 f. BVerfGE 49,136.
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In diesem Sinne kommt den Verwaltungsgerichten vor allem eine verfahrensmäßige Kontrollkompetenz zu. Im Rahmen ihrer Aufklärungspflicht (§ 86 VwGO) sind die Verwaltungsgerichte zwar zur Prüfung der Frage berufen, ob die Verwaltung von einem richtigen Sachverhalt bei ihrer Entscheidung ausgegangen ist; dies bedeutet jedoch nicht, daß die Verwaltungsgerichte eigene technische Bewertungen oder Entscheidungen zu treffen hätten. Hier müssen die Verwaltungsgerichte sich im Rahmen der vorgenannten unbestimmten Rechtsbegriffe vor allem auf die verfahrensmäßige Kontrolle des Inhalts beschränken, ob die Verwaltung bei der Feststellung des „Standes der Technik" etc. wirklich das repräsentative und damit inhaltlich plausible (nicht evidentfehlerhafte oder -irrige) sachverständige Urteil der jeweils kompetenten Fachkreise festgestellt und eingeholt hat. So hat schon F. Werner vor vielen Jahren die Verwaltungsgerichte aufgefordert, bei technischen Begriffen von der sachverständigen Beurteilung der Verwaltung auszugehen und diese lediglich dann zu beanstanden, wenn ein falscher Sachverhalt zugrunde gelegt worden ist, wenn willkürlich gehandelt oder wenn ein falsches Verfahren eingeschlagen worden ist55. H.J. Papier hat auf diese noch heute richtunggebenden Abgrenzungen F. Werners mit Recht erneut aufmerksam gemacht56. 14. Unbestimmter Rechtsbegriff, BeurteilungsEntwicklungsspielraum
und
Zugegeben ist, daß die Kategorie des unbestimmten Rechtsbegriffs schon aus sich selbst heraus mit einigen dogmatischen Ungewißheiten belastet ist. Anerkennt man jedoch - und nach hiesiger Auffassung ist dies unbedingt erforderlich57 - , daß der unbestimmte Rechtsbegriff durch ein bestimmtes Maß an Offenheit, Flexibilität und damit auch inhaltlicher Bandbreitenqualität gekennzeichnet ist, so erweist sich die Kategorie des unbestimmten Rechtsbegriffs auch für die Umsetzung des Verhältnisses von Technik und Recht als ebenso sinn- wie funktionsgerecht. Der unbestimmte Rechtsbegriff hat nicht ohne Zufall vor allem dort Bedeutung erlangt, wo es um die Verkoppelung von juristischen und außerjuristischen Maßstäben ging und geht, namentlich im Bereich pädagogischer, naturwissenschaftlicher und sonstig metajuristischer Bewertungen oder Beurteilungen. Der metajuristischen Qualität dieser Beurteilungen ist die Verwaltungsrechtslehre über die Kategorie des sog. „Beurteilungsspielraums" gerecht geworden, demzufolge der Verwaltung insoweit eine gewisse „Bandbreite" oder ein gewisser Entschei55 56 57
In: Bettermann/Ule (hrsg.), Recht und Gericht in unserer Zeit, 1971, S.304 (316 f.). In: Bitburger Gespräche. Jahrbuch 1981, S.90. Vgl. allgemein und näher schon R. Scholz, W D S t R L 34,159,165 ff.
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dungsspielraum auch im Verhältnis zur verwaltungsgerichtlichen Rechtskontrolle vorbehalten bleibt bzw. blieb58. Ohne daß an dieser Stelle die vielfältig kontroverse Debatte um jene Kategorie des „Beurteilungsspielraums" wiederaufzunehmen wäre, bleibt aus hiesiger Sicht doch und lediglich soviel festzuhalten, daß die Kategorie des „Beurteilungsspielraums" für sich genommen noch nicht ausreichend ist, um das tatsächliche Maß an Entscheidungsspielraum und Entscheidungsoffenheit voll auszuschöpfen, das der Verwaltung gerade in den hiesigen Bereichen vorbehalten ist und vorbehalten bleiben muß. Soweit es um die augenblickliche Feststellung eines bestimmten technischen Sachverhalts und seine inhaltliche (Kausalitäts-)Aussage geht, genügt sicher die Vorstellung des „Beurteilungsspielraums", um die außerrechtliche Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit jener naturwissenschaftlichen Feststellung zu bewahren. Soweit es jedoch darüber hinaus - und dies ist bekanntlich das Typische - darum geht, auch für die Zukunft bestimmte technologische Entwicklungen und Flexibilitäten aufzunehmen bzw. bewertungsmäßig umzusetzen, kommen prognostische Elemente hinzu, die über die Augenblicklichkeit einer Entscheidung im eben genannten Sinne hinausweisen. Hier hilft nur die Vorstellung des „Prognosespielraums" bzw. des „Entwicklungsspielraums" (wie ich sie bereits für den Bereich des Wirtschaftsverwaltungsrechts vor längerer Zeit zu begründen versucht habe)5'. So hat z.B. auch E. Benda sehr plastisch auf die besondere Vergleichbarkeit von „Beurteilungsspielraum" und „Prognosespielraum" im Feld von Technik und Recht hingewiesen: „Der Beurteilungsspielraum klassischer Prägung scheint der Prognoseentscheidung der Behörde über die Risikowahrscheinlichkeit einer technischen Anlage zwar entfernt verwandt, weist aber doch eine wichtige Gemeinsamkeit auf: Die Einschätzung von Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmaß und damit die Bestimmung der Risikoakzeptanz ist eben auch ein wertender Vorgang der Fachbehörde oder des Sachverständigengremiums, auf das die Entscheidung verlagert wird; sie läßt sich gerade nicht allein mathematisch-statistisch erfassen, wie auch die allgemeine zurückhaltende Bewertung technischer Risikoanalysen belegt"60. Diesen Ausführungen Bendas ist vorbehaltlos beizupflichten. Die technische Bewertung, wie sie in einer technischen Norm oder in einem
Vgl. gerade zum hiesigen Bereich auch und schon die Nachw. oben Fn. 45. Vgl. R. Scholz, Wirtschaftsaufsicht und subjektiver Konkurrentenschutz, 1971, S. 107ff. (Entwicklungsspielraum); den., W D S t R L 34,159,165ff.; siehe zuletzt auch sowie mit umfangreichen w. Nachw. Tettinger, DVB1. 82,421 (bes. S. 430ff.); ders., E T 83,483 ff. 60 Vgl. in: Blümel/H. Wagner (hrsg.), Technische Risiken und Recht, S. 10. 58 w
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technischen Sachverständigenurteil liegt, ist beurteilungsmäßig und prognosemäßig mit einem Entscheidungsspielraum ausgestattet, der nicht justitiabel ist bzw. dessen gerichtliche Kontrolle zu den von F. Werner aufgeführten Grenzen" verfahrensmäßiger, aufklärungsmäßiger und inhaltlicher Evidenzkontrolle zurückführt. Innerhalb dieser Grenzen haben technische Bewertungen und technische Normen als verbindlich weil „plausibel" - zu gelten. Daß innerhalb dieser Plausibilitätskriterien eine zu akzeptierende Bandbreite ggf. auch unterschiedlicher Bewertungen oder Feststellungen impliziert wird, liegt in der Natur der Sache und ist als definitive Grenze der Justitiabilität zu akzeptieren. 15. Gesetzliche Kontrollbeschränkung Diese Abgrenzungen entsprechen nicht nur den immanenten Eigengesetzlichkeiten der Technik und ihres ambivalenten Verhältnisses zum Recht, sondern auch den verfassungsrechtlichen Vorgaben des Rechtsstaatsprinzips und der Rechtsweggarantie des Art. 19 IV GG. Wer dies nicht zu akzeptieren gewillt ist, kann sich jedenfalls auf diese Verfassungsgrundsätze nicht berufen; denn weder das Rechtsstaatsprinzip allgemein noch die Rechtsweggarantie des Art. 19 IV GG im besonderen fordern die volle Uberprüfung technischer Feststellungen und technischer Bewertungen durch den Richter62. Demgemäß könnte auch vom Gesetzgeber unmittelbar eine entsprechend klarstellende Regelung zu den Grenzen der Justitiabilität vorgenommen werden. Ein unmittelbares Vorbild für eine solche - verfassungsrechtlich absolut einwandfreie Regelung fände sich in der Bestimmung des § 70 V 2 GWB, derzufolge „die Würdigung der gesamtwirtschaftlichen Lage und Entwicklung durch die Kartellbehörden... der Nachprüfung des Gerichts entzogen" ist. Gerade diese Bestimmung trägt den Besonderheiten des Entwicklungs- und Prognosespielraums im vorgenannten Sinne für einen spezifischen Bereich des Wirtschaftsverwaltungsrechts, nämlich den des Kartellrechts, in absolut sachgerechter Weise Rechnung63. In Anlehnung an diese Bestimmung 64 könnte ζ. B. im AtomG - und ebenso in anderen technischen Rechtsbereichen - eine Bestimmung etwa des folgenden Inhalts verankert werden: „Die Würdigung technologischer Wertungen ist hierbei (nämlich bei der Kontrolle der jeweiligen Verwaltungsentscheidung) der Nachprüfung des Gerichts entzogen." " Vgl. Fn. 55. 62 Vgl. allgemein hierzu schon R. Scholz, W D S t R L 34,174 ff. a Vgl. näher bereits R. Scholz, Wirtschaftsaufsicht, S. 106ff.; w. Nachw. siehe bei R. Scholz, W D S t R L 34,1765 f. m. Fn. 126. M Vgl. in dieser Richtung auch Ossenbühl, D O V 78,9; ablehnend dagegen Rittstieg, Konkretisierung, S. 220; siehe auch Tettinger, Rechtsanwendung und gerichtliche Kontrolle im Wirtschaftsverwaltungsrecht, 1980, S. 364 ff.
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16. Planungsrechtliche Dimension und rechtspolitische Konsequenzen Die Errichtung und Betreibung technischer Großprojekte, namentlich auch von Atomkraftwerken, folgt verwaltungsverfahrensrechtlich nach geltendem Recht der Dogmatik punktueller Einzelfallentscheidungen, wie sie das klassische Genehmigungs- und Konzessionsrecht der öffentlichen Verwaltung vorgezeichnet hat65. Obwohl die Errichtungs- und Betreibungsgenehmigungen gerade für technische Großprojekte außerordentlich komplex sind, sich aus einer Vielzahl unterschiedlicher Genehmigungs- und Planungsverfahren zusammensetzen und insgesamt eher einem Planungsvorgang als einem - notwendig punktuellen Genehmigungsvorgang vergleichbar sind, hat das geltende Recht aus diesem Umstand doch (noch) keine Konsequenzen gezogen. Vor allem F. Ossenbühl hat schon vor einigen Jahren auf diesen Widerspruch und diese „fehlerhafte strukturelle Anlage des gesetzlichen Normmaterials" namentlich im Atomrecht aufmerksam gemacht". Nach Inhalt, Komplexität und sachlicher Entscheidungsqualität spricht alles dafür, die Genehmigung zur Errichtung und Betreibung von technischen Großprojekten nach prinzipiell planungsrechtlichen Maßstäben zu gestalten mit der Konsequenz, daß auch den Eigengesetzlichkeiten technischer Bewertungen und technischer Entwicklungen über die (dann mit maßgebende) Kategorie des verwaltungsrechtlichen Planungsermessens mit ungleich mehr Eigenständigkeit entsprochen werden könnte 67 . Würde man die Genehmigungsverfahren für technische Großprojekte in dieser Weise auf die Gestaltungsformen des Planungsrechts umstellen so ergäbe sich aus der Sicht der Justitiabilität zwanglos auch der Effekt, daß verwaltungsgerichtlich nur eine Tatsacheninstanz, statt, wie bisher üblich, zwei Tatsacheninstanzen zuständig wäre. Denn wie Planfeststellungsverfahren verwaltungsgerichtlich in aller Regel in das Normenkontrollverfahren gemäß § 47 V w G O einzumünden pflegen, so sollte auch für die Genehmigung technischer Großprojekte sinnvollerweise das
45 Vgl. Ossenbühl, DVB1. 78,5ff.; Rittstieg, Konkretisierung, S.167ff„ 170ff„ 175ff., 183 ff., 195 ff., 216; zum Ganzen vgl. zuletzt auch ζ. B. Kröncke, Die Genehmigung von Kraftwerken, 1982. " DVB1. 78,6 f. " Siehe auch Degenhart, Kernenergierecht, S. 117ff„ 231 ff., 243ff.; Wahl, Rechtsfragen der Landesplanung und Landesentwicklung, l.Bd., 1978, S. 83ff. Keine sinnvolle Alternative läge dagegen in einer „unmittelbar-demokratischen" bzw. populären Entscheidung über (Atom-)Kraftwerke etwa durch Volksentscheid oder Volksbegehren; so aber Steinberg, ZRP 82,113 ff.; von Pestalozza, Staat 1979, 481 f.; ders., Der Popularvorbehalt, 1981, bes. S. 11 ff.; siehe allgemein dagegen schon R. Scholz, Krise der parteienstaatlichen Demokratie?, 1983, S. 6 ff.
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gleiche gelten68. Denn die Praxis hat deutlich gezeigt, daß die gerichtliche Kontrolle in zwei Tatsacheninstanzen in aller Regel nur zur - teilweise absolut unvertretbaren - Verzögerung von Genehmigungen und Errichtungen namentlich von Kraftwerken führt, wobei das Vorhandensein von zwei Tatsacheninstanzen oftmals auch dazu verlockt, über die übermäßige Inanspruchnahme von Rechtsmitteln und die extensive Führung von Verwaltungsprozessen über sämtliche Instanzen hin politische Effekte zu erreichen, wie sie eingangs beschrieben und kritisiert wurden". Da die Erfahrung überdies lehrt, daß das Nebeneinander von zwei Tatsacheninstanzen in aller Regel nicht zu mehr tatsächlicher Aufklärung bzw. nicht zu einem qualitativ wirklich dichteren Rechtsschutz führt, spricht alles dafür, für die Kontrolle von technischen Großprojekten auf die erste Tatsacheninstanz, d. h. auf die Instanz des Verwaltungsgerichts, zu verzichten und - in entsprechender Erweiterung oder Analogie zu § 47 VwGO - mit einer, der ersten Tatsacheninstanz beim O V G zu beginnen. Auf eine solche Änderung des geltenden Rechts zielt die Bundesratsinitiative der Länder Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein vom 18.11.1982 70 , der hoffentlich baldiger Erfolg beschieden sein möchte. 17. Schluß Das Verhältnis von Technik und Recht gibt nach wie vor zahlreiche und auch viele schwerwiegenden Probleme auf. Diese Probleme sind aber lösbar. Lösbar durch einen Gesetzgeber, der den Eigengesetzlichkeiten der Technik genügend Rechnung trägt; lösbar durch eine Verwaltung, die den technischen Sachverstand in wirksam optimierender Weise .aufnimmt, organisiert und umsetzt; und lösbar durch eine Gerichtsbarkeit, die sich der eigenen Grenzen bzw. der notwendigen Grenzen der Justitiabilität technischer Aussagen, technischer Bewertungen und technischer Prognosen stets und wirksam bewußt bleibt.
68 Vgl. kritisch allerdings und zuletzt z . B . Albers, DVB1. 8 3 , 1 0 3 9 f f . ; sehr klar und abgewogen siehe demgegenüber (sowie m. w. Nachw. zum Meinungsstand insgesamt) Serieller, Festschrift aus Anlaß des 10jährigen Bestehens der Deutschen Richterakademie, 1983, S. 175 ( 1 8 4 f f . ) ; zum eigenen Standpunkt siehe auch bereits R.Scholz, DVB1. 82,605 (610).
" Vgl. sehr überzeugend und noch weiterführend auch Papier, Bitburger Gespräche. Jahrbuch 1981, S. 82 ff. 70 Vgl. B R - D r u c k s . 4 7 7 / 8 2 .
Verbrauchslenkung durch Information Die Transparenzkommission beim Bundesgesundheitsamt
G U N T H E R SCHWERDTFEGER
I. 1. Die in Berlin ansässige „Stiftung Warentest" ist allgemein bekannt. Sie hat die Aufgabe, „in einem eine sachgerechte Marktbeurteilung gewährleistenden Ausmaß Untersuchungen an miteinander vergleichbaren Waren und Leistungen nach wissenschaftlichen Methoden durchzuführen und die gemeinverständlich und unparteiisch erläuterten Ergebnisse solcher Untersuchungen zu veröffentlichen" 1 . Durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist geklärt, daß diese Veröffentlichungen zulässig sind, wenn bestimmte Voraussetzungen eingehalten werden2. Der vorliegende Beitrag wendet sich einer weiteren in Berlin verankerten Institution zu, welche vergleichbare Aufgaben für den Arzneimittelsektor wahrnimmt, bisher aber weniger bekannt ist: die „Transparenzkommission" mit ihrer Geschäftsstelle beim Bundesgesundheitsamt. Die Arbeit der Transparenzkommission beruht auf dem sogenannten „Eckwertebeschluß" der Bundesregierung „zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes" vom 15.10.1975 und soll der Kostendämpfung im Gesundheitswesen dienen. Aufgabe der Transparenzkommission ist es, den Arzneimittelmarkt nach Indikationen geordnet in „Transparenzlisten" pharmakologisch-therapeutisch und preislich transparent zu machen. So soll dem Arzt Entscheidungshilfe zu einer wirtschaftlichen Arzneimittelauswahl gegeben werden. Mit einer Entschließung vom 7.1.1976 hat der Deutsche Bundestag das Vorhaben unterstützt 3 . Der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit hat die Kommis-
1
§2 I, II der Satzung, abgedr. in BGHZ 65, 325 (332). Umfassend zur Satzung Vo»gi, Der Markenartikel 1965, 3; Stickrodt, DB 1965, 1081; Droste, GRUR 1965, 219. 2 BGH, GRUR 1967,113 („Warentest I"); BGHZ 65, 325 = GRUR 1976,268 = NJW 1976, 620 („Warentest II"). 3 BRats-Drucks. zu 475/76; s. ferner Verh. des Deutschen Bundestages, 7. Wahlperiode, Stenographische Berichte, S. 18431 (D), 128432 (B).
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sionsmitglieder berufen und der Transparenzkommission Geschäftsordnung (vom 13.7.1977) gegeben4.
eine
2. Die Transparenzlisten werden im Bundesanzeiger veröffentlicht (§ 7 G O ) und sind laufend zu aktualisieren (§ 1 IV GO). Bisher sind Transparenzlisten für die Indikationsgebiete „Herzmuskelinsuffizienz", „Herzrhythmusstörungen", „Angina pectoris", „Arterielle Hypertonie" und „Kreislaufinsuffizienz (Hypotonie und Schock)" 5 sowie für das Indikations-Teilgebiet „Periphere arterielle Durchblutungsstörungen" erschienen. a) In den vorliegenden Transparenzlisten sind die Arzneimittel des jeweiligen Indikationsgebietes regelmäßig nach ihren Anwendungsfeldern und Therapiekonzepten zusammengestellt und innerhalb dieser Gliederung nach ihren Wirkstoffen zu Gruppen zusammengefaßt. Den Listenunterteilungen sind „Vorspanntexte" vorangestellt. In ihnen werden die einzelnen Therapiekonzepte und Wirkstoffe in bezug auf ihre Wirkungsweisen, Wirksamkeitschancen und möglichen Nebenwirkungen charakterisiert und bewertet sowie zu den entsprechenden Aussagen für die anderen Arzneimittelgruppen in Beziehung gesetzt. b) Die Transparenzlisten „Herzmuskelinsuffizienz" und „Herzrhythmusstörungen" enthalten zusätzlich Kennzeichnungen zur pharmazeutischen Qualität der Arzneimittel, nämlich zu den Qualitätsmerkmalen „Identität", „Gehalt", „Reinheit", „Freisetzung" und „Haltbarkeit". Daß ein Arzneimittel derartigen Qualitätsanforderungen genügt, ist für die Wirtschaftlichkeit der Verordnungsweise ebenfalls wesentlich. Denn nur wenn gesichert ist, daß ein Arzneimittel den angegebenen Wirkstoff tatsächlich enthält („Identität"), daß die Wirkstoffmenge in jeder einzelnen Tablette (innerhalb tolerierbarer Schwankungen) der Herstellerangabe entspricht („Gehalt") und daß die einzelne Tablette frei von nicht angegebenen zusätzlichen Wirkstoffen ist („Reinheit"), hat der Arzt die Chance, mit dem Arzneimittel die therapeutische Wirkung zu erzielen, für welche er der Krankenkasse die Kosten aufbürdet. Entsprechendes gilt für die „Freisetzung" des Wirkstoffes und für die „Haltbarkeit" des Medikaments. Um Aussagen zur pharmazeutischen Qualität machen zu können, mußte die Transparenzkommission Kenntnis haben, wie der jeweilige Hersteller die Qualität im Produktionsprozeß sichert'. Hieraus sind rechtliche Sonderprobleme6 entstanden. Sie hatten zu einer einstweiligen Anordnung des OVG Berlin7 geführt, in deren Gefolge die Transparenzkommission in den nachfolgenden Listen auf Aussagen zur 4 5 6 7
Bundesanzeiger Nr. 135 v. 23.7.1977. Belangen 1/79, 35/79, 47/81, 11/82, 27/83 zum Bundesanzeiger. Einzelheiten nachfolgend VII. O V G E Bin 15, 120 = Pharma-Recht 1980, 139 (Beschl. v. 2 2 . 4 . 1 9 8 0 - 1 S 231.79).
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Qualität (Qualitätssicherung) verzichtet hat. Durch die Entscheidung des OVG Berlin in der Hauptsache und die Aufhebung der einstweiligen Anordnung7' ist der Weg für entsprechende Aussagen wieder frei geworden. 3. Die Transparenzkommission ist eine unabhängige Sachverständigenkommission. Ihr gehören 13 Sachverständige an: 4 aus dem Bereich der Krankenversicherung (davon 3 aus dem Bereich der gesetzlichen, 1 aus dem Bereich der privaten Krankenversicherung), 4 aus der Ärzteschaft, 3 aus dem Bereich der Arzneimittelhersteller (davon 1 für Arzneimittel besonderer Heilverfahren), 1 aus der Apothekerschaft, 1 aus der Verbraucherschaft ( § 2 1 GO). Die Kommissionsmitglieder sind unabhängig und nicht an Weisungen gebunden. Sie haben als vertraulich gekennzeichnete Unterlagen, den Verhandlungsgang und das Abstimmungsverhalten in der Transparenzkommission auch nach Beendigung der Mitgliedschaft vertraulich zu behandeln (§ 2 GO). Die medizinischen und pharmazeutischen Grundlagen der Transparenzlisten werden von der Geschäftsstelle erarbeitet (§ 6 II 2 G O ) und in Listenentwürfen zusammengefaßt. Ein Listenentwurf durchläuft drei Lesungen in der Transparenzkommission. In das Verfahren sind ein medizinischer und ein pharmazeutischer Sachverständigenausschuß eingeschaltet. Im medizinischen Ausschuß finden sich ärztliche Kommissionsmitglieder mit externen Sachverständigen zusammen, welche besondere Erfahrungen und wissenschaftliche Qualifikationen auf dem jeweiligen Indikationsgebiet haben. Der pharmazeutische Ausschuß besteht alleine aus einschlägig ausgewiesenen Kommissionsmitgliedern. Erforderlichenfalls werden für medizinische und pharmazeutische Fragen in allen Stadien des Verfahrens auch Sachverständigengutachten eingeholt. Die betroffenen Hersteller erhalten Gelegenheit, zum Listenentwurf Stellung zu nehmen. Diese Verfahrensweisen haben in den „Arbeitsgrundsätzen" der Transparenzkommission vom 31.3.1981 7b ihre Festschreibung erfahren. 4. Nur für einen verhältnismäßig kleinen Teil der gegenwärtig auf dem Markt befindlichen Fertigarzneimittel sind die therapeutische Wirksamkeit und die Qualität (Qualitätssicherung) in einem „echten" Zulassungsverfahren nach §§21 ff. AMG individuell überprüft worden. Das Gros der Arzneimittel ist gemäß Art. 3 § 7 des Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelrechts vom 24. 8.1976 8 nur erst fiktiv zugelassen. 71 U r t . V. 1 1 . 1 . 1 9 8 4 - 7 Β 3 . 8 3 ; Beschl. v. 1 1 . 1 . 1 9 8 4 - 7 S 1.83. Ebenso schon das vorinstanzliche Urt. des VG Berlin v. 2 5 . 5 . 1 9 8 1 - A 356.79, Pharma-Recht 1981, 169. Λ 8
Die Pharmazeutische Industrie 1982, 474. B G B l . I 2445.
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Allerdings gehen die fiktiven Zulassungen mit dem Jahre 1990 ihrem Ende entgegen. Schon vorher werden die „Altarzneimittel" verstärkt „echt" zugelassen werden'. Daher erlangen die „echt" zugelassenen Arzneimittel in den nächsten Jahren zunehmend stärkere Bedeutung. Für die „echt" zugelassenen Arzneimittel obliegt es der Transparenzkommission, in der skizzierten Weise (soeben 2. a)) nur den „Stellenwert" des einzelnen Arzneimittels im Indikationsgebiet zu bestimmen. Daß das Arzneimittel therapeutisch wirksam ist und eine angemessene Qualität aufweist, wurde schon im Zulassungsverfahren entschieden. Bei den nur „fiktiv" zugelassenen „Altarzneimitteln" hat die Transparenzkommission im angedeuteten Rahmen auch zur Basisfrage der therapeutischen Wirksamkeit und der angemessenen Qualität Stellung genommen. Insoweit legte die Transparenzkommission die gleichen Beurteilungsmaßstäbe zugrunde, wie sie im Zulassungsverfahren angewendet werden (vgl. §25 II Nr. 3, 4 AMG) 10 . Mit der Ausdifferenzierung der Arzneimittel nach ihrem „Stellenwert" betritt die Transparenzkommission wissenschaftliches Neuland. Soweit hierbei medizinische und pharmazeutische Fragen entschieden werden müssen, richtet sich die Kommission am neuesten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse aus. II. Vergleicht man die Transparenzkommission nach ihren Aufgaben und nach ihrem Tätigwerden im einzelnen mit der Stiftung Warentest, so ergeben sich Parallelen, aber auch Unterschiede. 1. Idealtypische Voraussetzung für das Funktionieren der Marktwirtschaft ist ein rationales, qualitäts- und preisbewußtes Käuferverhalten. Die Mehrzahl der Käufer folgt dieser Maxime, soweit sie hinreichende Informationen hat. Indem sie diese Informationen gibt, ist die Stiftung Warentest eine der Institutionen, welche - wie insbesondere das auch in Berlin ansässige Bundeskartellamt - dazu beitragen, die marktwirtschaftliche Ordnung zu konstituieren. Auf dem Arzneimittelmarkt ist ein preisbewußtes Marktverhalten nicht schon „von Natur aus" gegeben. Denn Verbraucher (Patient), Auswählender (Arzt) und Zahlungspflichtiger (Krankenkasse) fallen auseinander. Erst dadurch, daß § 368 e RVO den verschreibenden Kassenarzt auf das „Wirtschaftlichkeitsgebot" verpflichtet, wird für den Arzneimittelmarkt „von Gesetzes wegen" ein
' Zu dieser Aktion der „Nachzulassung" s. den „Bericht der Bundesregierung über Erfahrungen mit dem A M G " , BT-Drucks. 9/1355, S.31. 10 Zu den Einzelkriterien der Wirksamkeitsprüfung s. Schwerdtfeger, Die Bindungswirkung der Arzneimittelzulassung, 1983, S. 25 ff.
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preisbewußtes Marktverhalten verordnet. In diesem Rahmen haben die Transparenzlisten die gleiche Funktion wie die Veröffentlichungen der Stiftung Warentest. Zusammen mit § 368 e RVO sollen die Transparenzlisten marktwirtschaftliche Verhältnisse auf dem Arzneimittelmarkt konstituieren. Nach ihrem Anlaß gehen die Transparenzlisten allerdings noch über diese bloß allgemeine Konstituierung hinaus. Weil sie der Kostendämpfung im öffentlichen Gesundheitswesen dienen, haben sie eine spezifisch lenkende Funktion. 2. O b ein Verbraucher vor seiner Kaufentscheidung Veröffentlichungen der Stiftung Warentest beachtet, steht ihm frei. Für den Kassenarzt indiziert das Wirtschaftlichkeitsgebot des §368e RVO die Verpflichtung, im Rahmen des Zumutbaren alle Informationen zu nutzen, welche ihm die Wirtschaftlichkeit der Verordnungsweise ermöglichen. Das gilt auch für die Transparenzlisten. Die Verpflichtung zur Listenbenutzung bedeutet, daß der Arzt mit Hilfe der Liste im Rahmen des Zumutbaren stets prüfen muß, wie sich der angestrebte Heilerfolg am wirtschaftlichsten erreichen läßt. Wenn er es medizinisch für angebracht hält, ist der Arzt aber nicht gehindert, als Ergebnis der Prüfung auch ein teuereres Arzneimittel zu verordnen11. Unter dem „Dach" des Wirtschaftlichkeitsgebots beschränken die Transparenzlisten demgemäß nicht die Therapiefreiheit im Einzelfall. Auf die Masse der Einzelfälle gesehen dürfte die Verpflichtung zur Benutzung der Transparenzlisten aber dazu führen können, daß das Verschreibungsverhalten der Kassenärzte tendenziell wirtschaftlicher wird. 3. Die Stiftung Warentest ist eine privatrechtliche Stiftung des Bundes und wird - soweit sie sich nicht selbst unterhalten kann - aus Bundesmitteln finanziert. Entsprechend ihrer privatrechtlichen Organisationsform veröffentlicht die Stiftung Warentest ihre vergleichenden Tests privatrechtlich. Zumal die Transparenzlisten im Bundesanzeiger veröffentlicht werden, ist das Handeln der Transparenzkommission demgegenüber öffentlichrechtlich' 2 . Weil die Wahl einer privatrechtlichen Organisationsform nicht dazu führen kann, daß verfassungsrechtliche Bindungen ausgeschaltet werden13, liegen die Rechtsprobleme, welche sich aus der Veröffentlichung vergleichender Warenbeurteilungen ergeben, für die Stiftung Warentest und für die Transparenzkommission gleichwohl weitgehend parallel.
11 Im einzelnen zu allem Dölle, Der Kassenarzt 20 (1980), S.4367, unter Hinweis auf N r . 10 der Arzneimittel-Richtlinien. 12 O V G E Bin 15, 10 (121 ff.); O V G Berlin, Urt. v. 11.1.1984 (Fn.7a). 15 B G H Z 52, 325 (328); Wolff/Bachof, Verwakungsrecht I, 9. Aufl. 1974, S. 108f.
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III. 1. „Im Wirtschaftssystem der sozialen Marktwirtschaft ist es wettbewerbspolitische Aufgabe des Staates, unter anderem durch Erhöhung der Markttransparenz eine funktionsfähige Konkurrenz zu schaffen und aufrechtzuerhalten"14. Das gilt auch für die Transparenzkommission. Die Wahrnehmung dieser Aufgabe wird durch das Sozialstaatsprinzip legitimiert. Einer spezifischeren Aufgabenzuweisung bedarf es nicht15. Natürlich müssen die verfassungsrechtliche Kompetenzverteilung, die Grundrechte nachteilig betroffener Bürger und das einfache Gesetzesrecht gewahrt bleiben. Die nachfolgenden Untersuchungen beschränken sich darauf, die Rechtsposition der von den Transparenzlisten nachteilig Betroffenen abzutasten und so das Lenkungsinstrument „Transparenzlisten" als solches rechtlich zu bewerten. Kompetenzrechtliche Überlegungen zur „richtigen" Ansiedlung der Transparenzaufgabe innerhalb der staatlichen Organisation und Fragen der Organisationsgewalt müssen aus Raumgründen ausgespart bleiben16. 2. Die Adressaten des Transparenzvorhabens, die Kassenärzte17, werden durch die Transparenzlisten nicht eigenständig belastet. Wie ausgeführt wurde, ist die ihnen vielleicht lästige Verpflichtung, im Rahmen des Zumutbaren die Transparenzlisten zu benutzen, schon im Wirtschaftlichkeitsgebot des § 368 e RVO enthalten. Daß das Wirtschaftlichkeitsgebot seinerseits verfassungsgemäß ist, kann nicht angezweifelt werden. 3. Der zentrale Ansatz liegt bei den Herstellern, deren Produkte in den Transparenzlisten ungünstig abschneiden. Wegen der Undurchsichtigkeit des Arzneimittelmarktes beeinträchtigte das Wirtschaftlichkeitsgebot als solches den Umsatz dieser Produkte bisher noch nicht wesentlich. Die Umsatzeinbußen können erst durch die Transparenzlisten eintreten, als deren mittelbare Folge. Für die Hersteller haben die Transparenzlisten also eigenständige Bedeutung. Daß es sich um zugelassene Arzneimittel handelt, steht den Transparenzlisten nicht entgegen17'. Durch den Verwaltungsakt der Zulassung und entsprechend durch die Zulassungsfiktion für Altarzneimittel wird
O V G E Bin 15, 120 (128). Bull, Staatsaufgaben nach dem GG, 2. Aufl. 1977, S. 116, 246 ff., 250 ff. " In der Literatur werden Bedenken aus den Stichworten „ministerialfreier Raum", „institutioneller Gesetzesvorbehalt (Art. 87 III GG)" hergeleitet; s. Vorderwullbecke, Pharmazeutische Industrie 42, Nr. 2 (1980), S. 107; Gutachten der wissenschaftlichen Dienste beim Deutschen Bundestag v. 2 9 . 2 . 1 9 8 0 (Dr. Reiter), abgedr. in: Pharma-Recht 1980, 65. Das VG Berlin (soeben Fn. 7 a) ist diesen Bedenken nicht gefolgt. 17 Von Vorderwullbecke, a . a . O . , S. 108 ins Spiel gebracht. 171 OVG Berlin (soeben Fn. 7a). 14
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verbindlich geregelt, daß das Präparat unter dem Aspekt der ArzneimittelSicherheit {rechtlich) verkehrsfähig ist. Die faktischen Verkehrswiöglichkeiten, also die Chancen, das Produkt erfolgreich auf dem Markt vertreiben zu können, werden durch die Zulassung nicht garantiert. Demgemäß folgt aus der Zulassung auch kein Verbot an staatliche Stellen, die Verkehrsmöglichkeiten (durch die Herstellung von Transparenz) zu behindern 18 . Der Staat wäre lediglich gehindert, die Verkaufsmöglichkeiten eines Arzneimittels aus Gründen der Arzneimitteliic&erheit „auf kaltem Wege" zu erschweren. Aber darum geht es bei den Transparenzlisten mit ihrem marktwirtschaftlichen (und gesundheitspolitischen) Ansatz nicht. Insbesondere wird durch die Zulassung auch nicht mit Verbindlichkeit festgestellt, daß das Arzneimittel therapeutisch wirksam, von angemessener Qualität und unbedenklich sei. Diese Eigenschaften sind rechtliche Voraussetzungen dafür, daß der gestaltende Verwaltungsakt der Arzneimittelzulassung ergehen darf. Daß die rechtlichen Voraussetzungen vorliegen, muß die Zulassungsbehörde vor Erlaß des Verwaltungsakts gleichsam intern feststellen. Diese Feststellung gehört nach herkömmlicher Ansicht aber nicht zum (verbindlichen) RegelungszVzAd/i von gestaltenden Verwaltungsakten". Andere Ergebnisse lassen sich schließlich nicht dadurch erzielen, daß man die erfolgte Zulassung über Art. 14 1 G G verfassungsrechtlich „auflädt" 20 . Denn auch wenn die Zulassung an der Eigentumsgarantie teilhaben sollte, wäre damit Ihr Regelungsm/Wt nicht verändert. Immerhin ergeben sich von den Grundrechten her die relevanten Rechtsfragen. IV. 1. Grundrechtlich gesehen ist es nicht die Zulassung, sondern das (eventuell über hohe Forschungskosten) „entwickelte Arzneimittel" als solches, welches den Eigentumschutz nach Art. 14 1 G G genießt. Daneben tritt die Wirtschaftsfreiheit des Herstellers aus Art. 12 I GG 21 . Der „eingerichtete und ausgeübte Gewerbebetrieb" verschafft dem Herstel-
18 So aber wohl Denninger, Arzneimittel-Richtlinien und „Verschreibungsfähigkeit", 1981, S. 57; ders., N J W 1981, 619 (620). " BVerwGE 6, 42; 15, 332 (334f.); 21, 33 ff.; BVerwG, D Ö V 1976, 591 Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht I, S.415; insoweit zutreffend auch Denninger, N J W 1981, 619 (620). 20 So Denninger, Arzneimittel-Richtlinien, S. 57 f. 21 Zur Anwendbarkeit des an sich personalen Grundrecht der Berufsfreiheit auch auf juristische Personen s. BVerfGE 30, 312 f.; zur Abgrenzung der Anwendungsbereiche von Art. 12 I und Art. 2 I G G für die Wirtschaftsfreiheit, welche im einzelnen dahinstehen
kann, s. Friehe, JuS 1981, 868.
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ler keine zusätzliche Grundrechtsposition. Denn der Schutz des Gewerbebetriebes kann nicht weiter gehen als der Schutz, den seine wirtschaftliche Grundlage („entwickeltes Arzneimittel") genießt22. In der Sache ist es grundrechtskonform, wenn der Staat den Arzneimittelmarkt aus Gründen der Kostendämpfung (und aus gesundheitspolitischen Gründen) transparent macht und so die Absatzchancen von Herstellern mindert. Nach dem klaren Wortlaut von Art. 12 1 GG und Art. 14 1 2 G G bedürfen nachteilige Handlungen im Schutzbereich dieser Grundrechte aber einer parlamentsgesetzlichen Grundlage. Das Handeln der Transparenzkommission beruht (ebenso wie das Handeln der Stiftung Warentest) nicht auf einem Gesetz. Hier liegt das Problem23. 2. Schlüssel zur Lösung ist die Unterscheidung zwischen thematischem und funktionalem Schutzbereich der Grundrechte24. Aus der Diskussion um die faktischen, mittelbaren, nicht zielgerichteten Grundrechtsbeeinträchtigungen ist geläufig, daß es nicht stets ausreicht, wenn die Thematik eines Grundrechts durch staatliches Handeln irgendwie kausal betroffen wird ( = soeben 1.). Es kann sein, daß ein Grundrecht nur gegen Beeinträchtigungen bestimmter „Qualität" gerichtet ist. Neben dem thematischen Schutzbereich muß also auch der funktionale Schutzbereich des Grundrechts einschlägig sein. Die prinzipielle Situation ist nicht anders als im Zivilrecht, wo es um den funktionalen Schutzbereich des § 823 B G B geht. Die Zivilrechtslehre hat entwickelt, wie man den funktionalen Schutzbereich im einzelnen bestimmt: über die Frage nach dem Normzweck. Dieser Ansatz ist ins öffentliche Recht zu übertragen25. Maßgeblich sind nicht verallgemeinerungsfähige, generelle Kriterien wie die Begriffspaare unmittelbar-mittelbar, zielgerichtet-nicht zielgerichtet. Vielmehr muß von Grundrecht zu Grundrecht und von Einzelfall zu Einzelfall entschieden werden, ob der Schutzzweck des Grundrechts dahin geht, Grundrechtsbeeinträchtigungen der jeweils vorliegenden Qualität abzuwehren. In der Marktwirtschaft ist es das allgemeine Risiko eines jeden Herstellers, daß seine Waren von Außenstehenden auf ihre Qualität und Leistungsfähigkeit überprüft und als Grundlage der Kaufentscheidung mit den Waren anderer Hersteller verglichen werden. Die TransparenzSo BVerfGE 58, 300 (358). Einen Verstoß gegen den grundrechtlich-rechtstaatlichen Gesetzesvorbehalt bejahen Forstmann!Reiniger, Pharma-Recht 1979, Ausgabe 1, S. 4 (9); Forstmann, Pharma-Recht 1979, Ausgabe 6, S.9. 24 Zu ihr Schwerdtfeger, Öffentliches Recht in der Fallbearbeitung, 7. Aufl. 1983, Rdn.548. 25 Grundlegend dazu Ramsauer, Die faktischen Beeinträchtigungen des Eigentums, 1980; ders., VerwArch. 1981, 89. 22 23
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kommission macht insoweit nichts anderes, als jeder Private bei entsprechender finanzieller Ausstattung auch könnte. Sie verwirklicht lediglich das Marktrisiko, welches jeder Hersteller trägt. Der funktionale Schutzbereich der genannten Grundrechte geht nicht dahin, derartiges abzuwehren. Er betrifft nur spezifische Grundrechtsgefahren. Demgemäß formuliert das OVG Berlin zutreffend26, kein Arzneimittelhersteller besitze ein subjektives verfassungskräftiges Recht auf Sicherung weiterer Erwerbsmöglichkeiten aus der Undurchsichtigkeit des Angebots auf dem Arzneimittelmarkt; der Normbereich der genannten Grundrechte werde nicht berührt. 3. Daraus folgt zweierlei. Der grundrechtlich-rechtstaatliche Vorbehalt des Gesetzes ist nicht einschlägig (OVG Berlin)27. Weil der (funktionale) Schutzbereich der Grundrechte nicht betroffen wird, fehlt es den Herstellern aber auch an jeder Anspruchsgrundlage, um die Transparenzlisten abzuwehren und in diesem Zusammenhang auf ihre prinzipielle Zulässigkeit gerichtlich überprüfen lassen zu können28. Eine andere öffentlichrechtliche Anspruchsgrundlage als die Grundrechte ist nicht ersichtlich. 4. Der funktionale Schutzbereich der genannten Grundrechte wird allerdings einschlägig, wenn eine Transparenzliste falsche Informationen enthält. Ihrer Funktion nach schützen die Grundrechte zwar nicht vor Transparenz, wohl aber vor falscher Transparenz. Derart falsche Listenaussagen zu seinen Produkten kann ein Hersteller also abwehren2'. V. 1. Es bleibt der Grenzbereich zwischen „falsch" und „richtig". In ihren angedeuteten Aussagen zur therapeutischen Wirksamkeit, zur Wirkungsweise, zur Qualität usw. enthalten die Transparenzlisten wissenschaftliche Bewertungen. Die wissenschaftliche Bewertung kann im Einzelfall umstritten sein. Dem Transparenzanliegen würde es nicht genügen, wenn die Transparenzliste diesen Meinungsstreit lediglich ' O V G E Bin 15, 120 (128) (soeben F n . 7 ) ; auf gleicher Linie O V G Berlin F n . 7 a . Fn. 7, 7 a. Ebenso (alle für die Transparenzkommission) O V G Bin, Beschl. v. 19.11.1981 (1 S 30.81); VG Bin, Beschl. v. 13.7.1979 (14 A 355.79); VG Bin, Urt. v. 2 5 . 5 . 1 9 8 1 (14 A 356.79), Pharma-Recht 1981, 169; VG Bin, Beschl. v. 22.6.1981 (14 A 118.81); insoweit nunmehr zustimmend auch Forstmann, Pharma-Recht 1980, 144 (145). 28 Insbesondere können sich die Hersteller auch nicht darauf berufen, im (ausgeklammerten) Kontext der Fn. 16 würden Verfassungsnormen des staatlichen Organisationsrechts verletzt. Denn ohne Vermittlung durch die Grundrechte haben die Hersteller kein subjektives (Klage)recht auf Einhaltung organisationsrechtlicher Normen (OVG Berlin, Fn. 7 a). 2
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Entsprechend für die Stiftung Warentest B G H Z 65, 325.
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dokumentierte. Denn es ist denkbar, daß sich die Argumentation der einen Seite bei näherem Hinsehen als brüchig erweist, etwa weil sie einen neuesten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse noch unberücksichtigt läßt. Durch die bloße Dokumentation des rein äußerlich durchaus feststellbaren Meinungsstreits würde dem Listenbenutzer (Kassenarzt) etwas als strittig hingestellt, was bei genauerer Betrachtung gar nicht (mehr) strittig sein kann. Vor diesem Hintergrund muß die Transparenzkommission wissenschaftliche Streitfragen (mit Hilfe von Sachverständigen) eigenständig bewerten. Nur wenn sie keine eindeutige Bewertung für möglich hält, kann in der Transparenzliste ein „non liquet" zum Ausdruck gebracht werden. Auch Zwischenstufen sind denkbar. Uber die Frage, ob die Transparenzkommission den Meinungsstreit „richtig" bewertet hat, läßt sich dann auch wieder streiten. Damit wird entscheidend, wessen Bewertung letztinstanzlich maßgeblich ist, die der Transparenzkommission oder die des (angerufenen) Verwaltungsgerichts. Nachfolgend 2. wird sich ergeben, daß der funktionale Schutzbereich der genannten Herstellergrundrecht in der Bewertungsfrage verfassungsimmanent durch Art. 5 I G G eingegrenzt ist. Solange eine Bewertung der Transparenzkommission vertretbar ist und bestimmte weitere Voraussetzungen (nachfolgend 3.) vorliegen, geht der funktionale Schutzbereich der Herstellergrundrechte nicht dahin, eine (negative) Bewertung abzuwehren. Bei inhaltlich unvertretbaren Wertungen ist der funktionale Schutzbereich hingegen einschlägig und damit ein Abwehranspruch gegeben. So konstruiert kommt der Transparenzkommission kraft materiellen Rechts ein „Vertretbarkeitsspielraum" zu. Die prozessuale Kategorie des „gerichtsfreien Beurteilungsspielraums" braucht nicht bemüht zu werden. 2. Der nach dem Gesagten einschlägiger Art. 5 I G G ist einerseits subjektives Recht individueller Grundrechtsträger, enthält aber andererseits auch eine objektivrechtlich-institutionelle Entscheidung zugunsten der freien Meinungsäußerung und Bewertung. Die subjektivrechtliche Seite des Art. 5 I G G kommt der Transparenzkommission und wohl auch der Stiftung Warentest als vom Staate getragenen Verwaltungsträgern nicht zugute30. Einschlägig ist die objektivrechtlich-institutionelle Seite des Art. 5 I GG 31 . Im Zusammenhang mit der politischen Meinungsäußerung tritt die objektivrechtlich-institutionelle Seite als konstituierendes Element der politischen Demokratie in Erscheinung32. Die
BVerfGE 61, 82 (100). Von Forstmann/Reiniger, Pharma-Recht 1979, Ausgabe 1, 4 (7) in ihrer Kritik am Art. 5-Ansatz übersehen. 32 Grundlegend insoweit BVerfGE 7, 198 (205, 208). 30 31
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Warentest-Entscheidung des BGH33 versteht die objektivrechtlich-institutionelle Seite des Art. 5 I GG auch wz'mcÄrt/isordnungspolitisch und bezieht sie insoweit auf die zur Konstituierung einer marktwirtschaftlichen Ordnung „aus volkswirtschaftlichen Gründen unerläßliche Verbraucheraufklärung". Dieser Sicht ist das BVerfG ausdrücklich gefolgt". In dieser objektivrechtlich-institutionellen Entscheidung des Art. 5 I GG zugunsten einer - auch bewertenden - Verbraucheraufklärung findet der funktionale Schutzbereich der Herstellergrundrechte seine verfassungsimmanente Grenze. 3. Wie teilweise schon der BGH in seiner Warentest-Entscheidung herausgearbeitet hat, gilt das allerdings nur unter folgenden Voraussetzungen: a) Eine Institution, welche wertend kritisiert, muß die Gewähr dafür bieten, daß sie durchgehend zu vertretbaren Wertungen gelangt. Hierfür sind hinreichender Sachverstand, Unabhängigkeit, Neutralität und das intensive Bemühen um objektive „Richtigkeit" erforderlich. b) Die Beurteilungsmaßstäbe müssen dem Beurteilungsziel (Arzneimitteltransparenz für einen „nach den Regeln der ärztlichen Kunst"35 handelnden Kassenarzt) angemessen sein. c) Die Einzelsubsumtion unter die Beurteilungsmaßstäbe muß - wie schon erwähnt - wissenschaftlich „vertretbar" sein. d) Eine Listenaussage darf nicht so ungeschickt gefaßt sein, daß der Benutzer in die Irre geführt wird. Daß die Voraussetzung a) erfüllt wird, ist bei der Transparenzkommission selbstverständlich. Die Voraussetzungen b) bis d) unterliegen der gerichtlichen Überprüfung 3 ' („noch angemessen", „noch vertretbar", „schon irreführend"?) und können hier nicht im einzelnen dargestellt werden. Sind die Voraussetzungen b) bis d) im Einzelfall nicht erfüllt, ist nach dem Gesagten der funktionale Schutzbereich der Herstellergrundrechte einschlägig und also ein Abwehranspruch gegeben. Die einstweilige Anordnung des OVG Berlin zur Qualitätskennzeichnung37 beruhte mit darauf, daß das Gericht die Art der konkreten Kennzeichnungen als irreführend (d) angesehen hatte38.
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B G H Z 65, 325 (331 f.). BVerfGE 60, 234 (241). 55 So der Wortlaut von §368e RVO. * S. F n . 7 a ; v o r d e m VG Bin schwebt das weitere „Hauptsacheverfahren" 14 A 108.82. 37 S. bei Fn. 7, ergangen im Zusammenhang mit dem „Hauptsacheverfahren" 1 Β 65.81. 38 O V G E Bin 15, 120 (125). Zu den Absichten der Transparenzkommission, diesem Mangel abzuhelfen, s. V G Bin, Urt. v. 25.5.1981, Pharma-Recht 1981, 169; O V G Bln. (Fn. 7 a). 54
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VI. Die Listenaussagen zur Qualität sind nicht nur in der inzwischen aufgehobenen einstweiligen Anordnung des OVG Berlin, sondern auch in der Literatur 39 kritisch betrachtet worden. Vom Grundsätzlichen her stellen sich zwei Sonderprobleme, welche bei der Stiftung Warentest bisher nicht aufgetreten sind. 1. Die Stiftung Warentest begnügt sich damit, Einzelstücke des fertigen Produkts zu prüfen 40 . Der Transparenzkommission reicht dieses Vorgehen (Laborprüfung weniger in einer Apotheke gekaufter Arzneimittelpackungen auf ihre Qualität) nicht aus. Anders als bei anderen Produkten macht die Sicherung einer gleichbleibenden Qualität im Produktionsprozeß bei Arzneimitteln besondere Schwierigkeiten. Wenn eine Arzneimittelpackung bei der Laborprüfung die geforderte angemessene Qualität aufweist, so ist damit nichts Hinreichendes darüber ausgesagt, ob alle anderen Packungen der gleichen Charge die gleiche Qualität aufweisen und in die Zukunft gerichtet auch alle Arzneimittel zukünftiger Chargen qualitativ hinreichen werden. Deshalb hat sich die Transparenzkommission entschlossen, ihr Qualitätsurteil auf die Vorkehrungen der Hersteller zur QualitätsSicherung zu stützen 40 ' und auf eigene Laboruntersuchungen zu verzichten. Gegen diesen Ansatz ist rechtlich nichts einzuwenden 41 . Im Benehmen mit der Bundesregierung 42 bestimmt die Transparenzkommission selbst, welche Aspekte sie zum Gegenstand ihres Arzneimittelvergleichs macht. Auf eine Laboruntersuchung gestützte Qualitätsaussagen (angemessene Qualität der untersuchten Packung) wären ein anderer Vergleichsgegenstand als die auf die Qualitätssicherung der Hersteller gestützten Qualitätsaussagen. Die Aussagen zur Qualitätssj'c^erwwg sind für den Arzt und für die Wirtschaftlichkeit seiner Verordnungsweise aussagekräftiger als Berichte über Labortests zu einzelnen Packungen. Daher kann das Auswahlermessen der Transparenzkommission nicht auf die Durchführung von Labortests beschränkt sein. 39 S. Forstmann/Reiniger, Pharma-Recht 1979, Ausgabe 1, 4; Kabelitz/Weber/Wolf, Pharma-Recht 1979, Ausgabe 2, 171 Viergutz, Pharma-Recht 1979, Ausgabe 3, 13; Forstmann, Pharma-Recht 1979, Ausgabe 6, S. 9; Gutachten der wissenschaftlichen Dienste beim BTag, soeben Fn. 16. 40 Umfassend zur Prüfmethodik Hüttenrauch, Zeitschrift für Verbraucherpolitik 1977, 143. ^ Zusammenfassend zu allen Einzelheiten Schnädelbach, Die Pharmazeutische Industrie 1983, 1036. 41 Α. A. die in Fn. 39 Zitierten. 42 Wurde hergestellt durch die Antwort der BReg. v. 19.10.1979 auf eine kleine Anfrage, BT-Drucks. 8/3285.
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2. Aussagen zur Qualitätssicherung sind nur möglich, wenn der Hersteller der Transparenzkommission Angaben zu den Vorkehrungen macht, mit welchen er die Qualität im Produktionsprozeß sichert. Verweigert der Hersteller entsprechende Unterlagen, so muß sein Arzneimittel in der Qualitätsfrage „ohne Bewertung" bleiben. Hieraus erwächst das eigentliche Problem. a) Das OVG Berlin hatte in seiner einstweiligen Anordnung darauf verwiesen", daß der Hersteller gesetzlich nicht verpflichtet sei, Auskunft zu erteilen". Daher dürften Herstellern, welche keine Unterlagen einreichen, keine Nachteile entstehen45. Mit diesem Ansatz könnte schon die Tatsache, daß ein Präparat ohne Bewertung bleibt, als Nachteil angesehen werden. Denn ein wirtschaftlichkeitsbewußter Kassenarzt wird eher ein Arzneimittel mit (positiver) Qualitätsbewertung verordnen als ein Arzneimittel ohne diese Bewertung. Die Gegenposition kann wieder auf den funktionalen Schutzbereich der Herstellergrundrechte (Art. 12 1,14 I GG) abstellen. Einem Hersteller wäre es ohne weiteres möglich, seine Vorkehrungen zur Qualitätssicherung durch ein unabhängiges sachverständiges Institut überprüfen zu lassen und das (günstige) Überprüfungsergebnis zum Gegenstand eines „Werbefeldzuges" zu machen. Jeder Wettbewerber müßte entscheiden, ob er in gleicher Weise vorgeht, um Wettbewerbsnachteile zu vermeiden. Mit ihrer Aufforderung zur Einrichtung der Unterlagen und mit der Darstellung der Uberprüfungsergebnisse in den Transparenzlisten stellt die Transparenzkommission lediglich ein Medium zur Verfügung, durch welches die Hersteller in der angedeuteten Weise in Wettbewerb miteinander treten können. Nur wenn die Hersteller das Angebot der Transparenzkommission, Aussagen zur Qualitätssicherung zu machen, durch Teilnahme (Einreichen der Unterlagen) annehmen, können Qualitätssicherungssymbole vergeben werden. Es ist also das Verhalten der Konkurrenten, welches einem Hersteller, der keine Unterlagen einreichen möchte, Nachteile bringen kann. Die Transparenzkommission aktiviert lediglich derartigen Wettbewerb durch die Kräfte des Marktes. Ebensowenig wie der funktionale Schutzbereich der Herstellergrundrechte gegen das marktkonforme Mittel der Transparenz als solche gerichtet ist, ist er darauf gerichtet, die marktkonforme Förderung des Qualitätswettbewerbs abzuwehren. b) Desweiteren hatte das OVG Berlin46 aus dem Gleichheitsgrundsatz abgeleitet, daß alle Mittel in der Liste gleich behandelt werden müßten. 43 44 45 44
OVGE Bin 15, 120 (126). Das gegen Forstmann, Pharma-Recht 1980, 144. OVGE Bin 15, 120 (125, 126). OVGE Bin 15, 120 (127).
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Schließlich hatte das Gericht auf faktische Auskunftszwänge hingewiesen, welche für die Hersteller entstehen könnten; derartige „Obliegenheiten" dürfe der Staat ohne gesetzliche Grundlagen nicht auferlegen. Sieht man die Transparenzkommission in der angedeuteten Weise als Forum für das Wettbewerbsverhalten der Hersteller, erscheint der Gleichheitsgrundsatz in anderem Licht. Er gebietet, daß jeder Hersteller in gleicher Weise berechtigt ist, Unterlagen einzureichen und von der Transparenzkommission bewerten zu lassen. Diese Gleichberechtigung ist gegeben. Weil ein faktischer Auskunftszwang nur durch das Wettbewerbsverhalten anderer Hersteller entstehen kann, ist der funktionale Schutzbereich der Herstellergrundrechte schließlich auch nicht darauf gerichtet, derartige Auskunftsobliegenheiten abzuwehren. c) Im Endergebnis sind das Verwaltungsgericht Berlin und das OVG Berlin47 dem wettbewerbsspezifischen Ansatz gefolgt. Sie haben die Aufnahme der „Qualitätssicherungskennzeichen" in die Transparenzlisten für zulässig erachtet. Ob gegen die Entscheidung des OVG Berlin Revision eingelegt wird, läßt sich bei Redaktionsschluß dieses Beitrags nicht absehen.
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Fn. 7 a.
Der Verhandlungsanspruch der Tarifvertragsparteien H U G O SEITER
I. Problem und Meinungsstand Weigert sich ein Arbeitgeber oder Arbeitgeberverband, mit einer Gewerkschaft in Tarifgespräche zu treten, so kommen für diese Gewerkschaft zwei Reaktionsmöglichkeiten in Betracht: sie kann versuchen, im Wege von Kampfmaßnahmen ihre tariflichen Vorstellungen durchzusetzen, also Verhandlungen mit einem bestimmten Tarifziel zu erzwingen; zu denken wäre jedoch auch an die Beschreitung des Rechtswegs. Letzteres setzt aber voraus, daß die Gewerkschaft ein Recht auf Aufnahme von Tarifverhandlungen, einen sogenannten Verhandlungsanspruch hat. Bei diesem Anspruch geht es nur um die Aufnahme von oder die Beteiligung an Tarifverhandlungen, nicht um einen Anspruch auf Abschluß eines Tarifvertrags. Eine entsprechende Problemlage kann sich ergeben, wenn eine Gewerkschaft sich weigert, mit bestimmten Arbeitgebern oder Arbeitgeberverbänden Verhandlungen aufzunehmen. Das Bundesarbeitsgericht hat bisher in zwei Entscheidungen einen Verhandlungsanspruch von Gewerkschaften abgelehnt: In der ersten Entscheidung aus dem Jahre 1963 hatte ein Arbeitgeberverband, dessen Mitglieder sich aus dem Land Berlin und einer Reihe von öffentlichen Unternehmen Berlins zusammensetzten, Tarifverhandlungen mit der Gewerkschaft O T V und der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG) geführt und sich geweigert, die „Gewerkschaft für Arbeitnehmer des Landes und der Stadt Berlin" zu den Verhandlungen zuzuziehen. Dieser Gewerkschaft wurde nur die Möglichkeit eingeräumt, Tarifverträge im Wege des Anschlusses an den von den anderen Gewerkschaften vereinbarten Tarifinhalt (sog. „Anschlußtarifverträge") abzuschließen. Die „ausgesperrte" Gewerkschaft war verständlicherweise über diese Handhabung wenig erfreut, wurde ihr doch damit eine der wichtigsten gewerkschaftlichen Betätigungsformen unmöglich gemacht und die Chance zur Werbung mit Tariferfolgen genommen. In der zweiten Entscheidung2 aus dem Jahre 1981 hatte die D A G mit einer Fluggesellschaft bereits wiederholt Tarifverhandlungen geführt und Tarifverträge abgeschlossen. Das Unternehmen sträubte sich nicht gegen Verhandlungen mit der D A G schlechthin, sondern nur im konkreten Fall wegen der Zusammensetzung der Tarif-
Urteil vom 2.8.1963, B A G E 14, 282 = AP Nr. 5 zu Art. 9 G G = N J W 1963, 2289. Urteil vom 14.7.1981, AP Nr. 1 zu § 1 T V G Verhandlungspflicht = EzA Art. 9 G G Nr. 33 = N J W 1982, 2395. 1
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kommission; in der Kommission befanden sich nämlich auch Bedienstete der Fluggesellschaft. Die im Rechtsstreit vor dem BAG erfolglose DAG unterlag auch vor dem Bundesverfassungsgericht mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil: Das Rechtsmittel wurde mangels hinreichender Aussicht auf Erfolg vom sog. DreierAusschuß des Ersten Senats nicht angenommen1.
In der Literatur ist die erste Entscheidung des B A G überwiegend auf Kritik und Ablehnung gestoßen4. Auch die zweite Entscheidung - das kann aufgrund der bisher vorliegenden Stellungnahmen gesagt werden 5 hat das Unbehagen und die Bedenken nicht auszuräumen vermocht. Mit 3 Beschluß vom 20.10.1982, AP Nr. 2 zu §1 TVG Verhandlungspflicht. Aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung ferner BAG, Urteil vom 26.10.1971, BAGE 32, 484 (502) = AP Nr. 44 zu Art. 9 GG Arbeitskampf: Danach sei eine Gewerkschaft „möglicherweise" berechtigt, die Arbeitgeberseite durch einen Arbeitskampf unter Druck zu setzen, „um sie überhaupt an den Verhandlungstisch zu bringen". In dem zu beurteilenden Fall hatten jedoch bereits Tarifverhandlungen stattgefunden, so daß das eigentliche Problem eines Verhandlungsanspruchs nicht zu entscheiden war. 4 Ablehnend und einen Verhandlungsanspruch bejahend: Mayer-Maly, Anm. AP Nr. 5 zu Art. 9 G G ; ders., Der Verhandlungsanspruch tariffähiger Verbände, RdA 1966, 201; Bötticher, SAE 1964, 97; Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, Bd.II/1, 7. Aufl., 1967, S. 79 f. und S.443; Löwisch, ZfA 1971, 319 (339); Wiedemann!Stumpf, TVG, 5. Aufl., 1977, §1 Rdn.80; Zöllner, Arbeitsrecht, 2. Aufl., 1979, §33 III 3 (S.243); Picker, Ultima-ratio-Prinzip und Tarifautonomie, RdA 1982, 331 (insbes. 349); Norman Stecher, Der Verhandlungsanspruch eines tariffähigen Arbeitnehmerverbandes, Diss. Würzburg, 1971. Kritisch und einem Verhandlungsanspruch eher positiv gegenüberstehend: Gamillscheg, Koalitionsfreiheit und soziale Selbstverwaltung, 1968, S. 43; ders., Arbeitsrecht II, 5. Aufl., 1979, S. 23 f. (Fall 255); Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, 1975, S.489 Fn.34 und S. 515; LAG Hamburg, Urteil vom 13.9.1972, AR-Blattei „Zwangsvollstrekkung: Entsch. 22" unter II 3. Wie das BAG einen Verhandlungsanspruch ablehnend: Coester, Zur Verhandlungspflicht der Tarifvertragsparteien, ZfA 1977, 87ff. (108 f.); zustimmend v. HoyningenHuene, ZfA 1977, 285 (290); Däubler/Hege, Tarifvertragsrecht, 2. Aufl., 1980, Rdn.49 (S.43 f.); ders., Das Arbeitsrecht, 5. Aufl., 1981, S.78; Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 5. Aufl., 1983, §188 VI 4 (S. 1121); Brodmann, Arbeitskampf und Pressefreiheit, 1982, S. 116ff.; Zeiß, NJW 1964, 316; Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, 2. Aufl., 1982, Rdn. 136 (S.74f.); Scheuring, Tariffähigkeit und Tarifpartnerschaft, PersV 1964, 221 (225). Kritisch gegenüber einem Verhandlungsanspruch auch Buchner, SAE 1973, 42 f. Gegen einen Verhandlungsanspruch früher schon Kraegeloh, Tariffähigkeit und Führung von Tarifverhandlungen, BB 1951, 922; Reichel, Koalitionsrecht, Tarifvertragsrecht und Kontrahierungszwang, AuR 1960, 266; Bundesregierung in Beantwortung einer „Kleinen Anfrage" am 8.6.1960, BT-Drucks., 3. Wahlp. Nr. 1903. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat entschieden, daß dem Koalitionsrecht des Art. 11 MRK kein Verhandlungsanspruch zu entnehmen sei und daß ein solcher auch nicht aus dem Diskriminierungsverbot des Art. 14 MRK folge; vgl. Urteil vom 6.2.1976, EuGRZ 1976, 76 (dazu die Kritik von R. Fahlbeck, EuGRZ 1976, 471). 5 Zustimmend, allerdings nur für den entschiedenen Fall und unter Vorbehalt für andere Sachverhalte, Konzen, Anm. EzA Art. 9 G G Nr. 33; ablehnend Wiedemann, Anm. AP Nr. 1 zu §1 TVG Verhandlungspflicht; Zöllner, Arbeitsrecht, 3. Aufl. 1983, §33 III 3 (S. 302); unentschieden Hirschberg, ZfA 1982, 505 (510 ff.).
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den nachfolgenden Ausführungen soll gezeigt werden, daß die Bedenken zu Recht bestehen. II. Fallgruppen und Interessenlagen Das B A G hat zwei spezielle Fallkonstellationen entschieden. Für eine Beurteilung dürfte es hilfreich sein, die in Betracht kommenden Fallgruppen zu systematisieren und die unterschiedlichen Interessenlagen zu analysieren. 1. Differenzierung nach dem Kreis der abgelehnten Gewerkschaften Eine erste Unterscheidung läßt sich danach treffen, ob ein Arbeitgeber oder Arbeitgeberverband Verhandlungen mit einer oder mehreren Gewerkschaften überhaupt ablehnt oder ob er zwar verhandelt, aber nicht mit allen interessierten Gewerkschaften. a) 1. Fallgruppe: Die Arbeitgeberseite wird mit dem Verlangen nach Abschluß eines Tarifvertrags von einer oder mehreren Gewerkschaften angegangen und verweigert generell Verhandlungen - aus welchen Gründen auch immer 4 . Hier stellt sich die Frage, ob es sinnvoll ist, die Gewerkschaft auf den Arbeitskampf zu verweisen, oder ob nicht eine Pflicht zu Verhandlungen den Vorteil haben könnte, die Gründe der Ablehnung zu klären und Möglichkeiten einer friedlichen Einigung auszuloten. b) 2. Fallgruppe: Ein Arbeitgeber oder Arbeitgeberverband steht mit einer oder mehreren Gewerkschaften in Tarifverhandlungen und weigert sich, an diesen Verhandlungen eine weitere Gewerkschaft zu beteiligen. Die Arbeitgeberseite wird ihre Weigerung nach außen hin meist mit dem Hinweis begründen, daß die Hinzuziehung einer Vielzahl von Gewerkschaften zu Tarifverhandlungen den Abschluß von Tarifverträgen in unzumutbarer Weise erschweren und verzögern könnte; deshalb werde nur mit den Gewerkschaften verhandelt, die die größte Mitgliederzahl hätten7. Es besteht jedoch Anlaß zu der Vermutung, daß die Arbeitgeberseite aufgrund eines mehr oder weniger deutlichen Hinweises der „Großgewerkschaften" die Zulassung von „Kleingewerkschaften" zu verweigern geneigt ist. Das Bestehen einer Verhandlungspflicht würde es der Arbeitgeberseite erleichtern, ein derartiges Ansinnen zurückzuweisen. Als Beleg hierfür kann eine Passage aus einem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts dienen, in dem darüber gestritten wurde, ob der „Deutsche Arbeitnehmerverband"
6 7
Beispiel L A G Hamburg (Fn. 4). So die Einlassung der Arbeitgeberseite in B A G E 14, 282 (290).
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( D A V ) mächtig genug war, um Tariffähigkeit zu erlangen 8 . Es heißt dort: Der Unternehmensverband Ruhr-Bergbau habe Tarifverhandlungen mit dem „kleinen" D A V von dem Einverständnis der IG Bergbau und Energie abhängig gemacht. D i e Folge war, daß alle Bemühungen des D A V um Beteiligung an Tarifverhandlungen oder um Abschluß von Anschlußtarifverträgen erfolglos blieben. Der D A V habe sich in gleichlautenden Schreiben auch an mehrere andere Arbeitgeberverbände gewandt und eine Gelegenheit zu einem Meinungsaustausch erbeten, dabei jedoch nur „ausweichende" Stellungnahmen erhalten. Daß es sich dabei offenbar um keinen Einzelfall handelt, zeigt der auch vor den Gerichten ausgetragene Konkurrenzkampf zwischen der Gewerkschaft O T V und der früher noch nicht dem Deutschen Gewerkschaftsbund angehörenden Gewerkschaft der Polizei'.
Als Fazit kann festgehalten werden, daß es bei dieser Fallgruppe um einen komplizierten Interessenwiderstreit zwischen Arbeitgeberseite, Großgewerkschaften und konkurrierenden Kleinverbänden geht. 2. Differenzierung
nach dem Gegenstand bzw. Umfang der Ablehnung
a) Tariflicher Boykott bestimmter Gewerkschaften: Im Extremfall weist die Arbeitgeberseite das Angebot zur Verhandlungsaufnahme oder Verhandlungsbeteiligung von seiten einer Gewerkschaft generell zurück. Sie negiert damit diese Gewerkschaft als Tarifvertragspartei und versucht, diesen Verband aus dem Tarifgeschehen fernzuhalten. Dies kann - vor allem bei Kleingewerkschaften - zur Existenzgefährdung führen, weil in der Regel den Kleingewerkschaften die tatsächliche Macht fehlt, nach Abschluß einer Tarifrunde einen Arbeitskampf um einen eigenen Tarifvertrag zu führen. Die Folge davon ist, daß dieser Kleinverband mangels Mitgliederzunahme den Status der tarifpolitischen Bedeutungslosigkeit nicht überspringen wird. Der Vorgang der „totalen Verhandlungsverweigerung"" 3 stellt im Grunde den Fall eines tariflichen Boykotts dar: Der Kleinverband wird aus dem tarifvertraglichen Verkehr ausgeschlossen, mit oder ohne (ausdrückliche oder stillschweigende) Aufforderung durch eine Großgewerkschaft. b) Partielle Verhandlungsverweigerung: Eine weniger dramatische Situation liegt vor, wenn die Arbeitgeberseite zwar grundsätzlich bereit ist, mit einer Gewerkschaft Gespräche zu führen, aber im konkreten Fall ausnahmsweise eine Verhandlung ablehnt. Das kann verschiedene Gründe haben: aa) Die Arbeitgeberseite lehnt die Verhandlung mit einer bestimmten Tarifkommission ab wie in der Β AG-Entscheidung von 1981. Die 8
BVerfGE 58, 233 (237): In dem zu beurteilenden Fall handelte es sich immerhin um einen Verband mit nahezu 15000 Mitgliedern, allerdings verstreut auf mehrere Bundesländer. ' Vgl. B A G E 21, 201 = A P N r . 14 zu Art. 9 G G ; Β G H Z 42, 210. 10 Wortprägung von Wiedemann (Fn. 5).
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Motive für eine solche Ablehnung können unterschiedlich sein. Das B A G äußert sich über die in seinem Fall maßgeblichen Motive nicht näher; sie sind auch nicht ohne weiteres einsichtig. Denkbar wäre der Fall, daß die Arbeitgeberseite es ablehnt, mit einer Tarifkommission zu verhandeln, in der Personen sitzen, die aufgrund der Unternehmensmitbestimmung Funktionsträger im Vorstand oder Aufsichtsrat von Mitgliedsfirmen des Arbeitgeberverbands sind. Hier wäre die Vermeidung von Interessenkollisionen ein möglicher Sachgrund. bb) Ein weiterer Ablehnungsgrund könnte darin bestehen, daß die Arbeitgeberseite zwar grundsätzlich bereit zu Verhandlungen mit einem „Kleinverband" ist, aber befürchtet, daß dieser Verband, gemessen an der Rechtsprechung des BAG 11 , keine Tariffähigkeit besitzt. Die Ablehnung erfolgt hier zwar aus Rechtsgründen, kann faktisch aber auf eine totale Verhandlungsverweigerung hinauslaufen, die die Bildung neuer konkurrenzfähiger Gewerkschaften stark behindert. cc) Als dritte Gruppe von Ablehnungsgründen sind diejenigen Sachverhalte anzuführen, in denen die Arbeitgeberseite die Verhandlung über eine bestimmte Regelung ablehnt, weil aus ihrer Sicht eine Verhandlung nicht sinnvoll erscheint. Die Ablehnungsgründe können auf rechtlichen oder tarifpolitischen Überlegungen beruhen: (1) Die geforderte Tarifregelung wird von Arbeitgeberseite für rechtlich unzulässig gehalten, ζ. B. der Abschluß eines Tarifvertrags mit Differenzierungsklauseln oder ein Tarifvertrag über die Einbehaltung von Gewerkschaftsbeiträgen durch das unternehmenseigene Lohnbüro. Hierher gehört auch der Sonderfall, daß neben zulässigen Tarifregelungen gleichzeitig nicht rechtmäßige zum Gegenstand von Verhandlungen gemacht werden. (2) Die Arbeitgeberseite könnte die Ablehnung von Tarifverhandlungen ferner damit begründen, daß die bereits vorher bekanntgegebene Tarifforderung ihr von vornherein als wirtschaftlich unannehmbar erscheint, z . B . eine unverhältnismäßige Lohnerhöhung. Die Vorstellungen über das wirtschaftlich Vertretbare können weit auseinanderliegen und die Fronten können so verhärtet sein, daß selbst eine einmalige Verhandlung mit der abschließenden Erklärung des Scheiterns der Verhandlungen zum bloßen Ritual würde. Die Verweigerung der Verhandlungen könnte hier bereits eine Vorstufe der kampfweisen Auseinandersetzung sein, eine Demonstration des Widerstandswillens. 11 Das B A G verlangt für die Tariffähigkeit eine sog. Mächtigkeit, vgl. erstmals B A G E 21, 98 = A P N r . 25 zu § 2 T V G ; aus späterer Zeit B A G A P N r . 30 zu § 2 T V G ; bestätigt durch B V e r f G E 58, 233.
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3. Verhandlungsansprucb der Arbeitgeberseite? Die Rechtsprechung hatte es bisher nur mit Verhandlungsansprüchen von Gewerkschaften zu tun; auf diesen Fall konzentrierte sich auch die Literatur. Das Bedürfnis für einen Verhandlungsanspruch kann sich aber auch für die Arbeitgeberseite einstellen'2. a) Verhandlungsanspruch des Arbeitgeberverbands: Eine Gewerkschaft versucht, mit einzelnen Mitgliedsfirmen inhaltsgleiche Tarifverträge unter Umgehung des Arbeitgeberverbands abzuschließen, weil sie damit rechnet, daß dieser Verband der angestrebten Regelung Widerstand entgegensetzen würde13. Der Arbeitgeberverband möchte die Angelegenheit selbst mit der Gewerkschaft klären; die Gewerkschaft verweigert jedoch Tarifverhandlungen mit der Begründung, dafür bestehe aus ihrer Sicht kein Bedürfnis. Gibt es keinen Verhandlungsanspruch, so müßte der Arbeitgeberverband, um die Gewerkschaft an den Verhandlungstisch zu zwingen, die Angriffsaussperrung erklären. b) Verhandlungsanspruch eines einzelnen Arbeitgebers: Ein sanierungsbedürftig gewordenes Unternehmen will eine Neuregelung der außerund übertariflichen Leistungen im Wege eines Firmentarifvertrags erreichen14. Die zuständige Gewerkschaft lehnt jede Verhandlung ab, wobei wiederum danach unterschieden werden könnte, ob die Gründe der Ablehnung in rechtlichen oder sonstigen Bereichen liegen. Soll hier der Arbeitgeber wirklich von vornherein auf den Weg der Angriffsaussperrung verwiesen werden? III. Möglicher Inhalt eines Verhandlungsanspruchs Die Diskussion um den Verhandlungsanspruch der Tarifvertragsparteien leidet etwas darunter, daß dem befürworteten oder abgelehnten Verhandlungsanspruch kein einheitlicher Inhalt zugemessen wird. Besonders deutlich zeigt sich dies an den beiden BAG-Entscheidungen 15 , die von vornherein einen Anspruchsinhalt postulieren, der zu praktischen Schwierigkeiten führen muß; diese praktischen Schwierigkeiten werden dann als Argument gegen die rechtliche Anerkennung eines Verhandlungsanspruchs ins Feld geführt. Deshalb ist es sinnvoll, vorweg unter dem Gesichtspunkt der Praktikabilität den möglichen Inhalt eines Verhandlungsanspruchs zu klären.
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Zutreffend Mayer-Maly, RdA 1966, 201; Zollner (Fn.5). Beispielsfall ArbG Düsseldorf, D B 1965, 935. Zur arbeitskampfrechtlichen Problematik vgl. Seiter (Fn. 4), S. 335 f. 14 Zur rechtlichen Problematik eines solchen Tarifvertrags Zöllner, RdA 1969, 250 ff. 15 Vgl. oben Fn. 1 und 2. 13
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1. Kein Anspruch auf Abschluß eines
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Tarifvertrags
Wie bereits eingangs betont, geht es beim Verhandlungsanspruch nicht um einen Anspruch auf Abschluß eines Tarifvertrags und auch nicht um einen Anspruch auf einen Tarifkompromiß. Das Problem des Kontrahierungszwangs ist damit von vornherein ausgeklammert. Dies muß deshalb besonders betont werden, weil das BAG in der Begründung des Urteils von 1963 wiederholt von einem „Verhandlungs- und Abschlußzwang" spricht". Ein Abschlußzwang war jedoch nach der eindeutigen Formulierung des Klagantrags nicht begehrt. Ein Teil der Urteilsbegründung betraf daher eine Frage, die nicht Gegenstand des Verfahrens war. 2. Anspruch auf „Verhandlungen
mit dem Ziel einer Einigung
Ein Verhandlungsanspruch soll nach der Entscheidung des BAG von 1981 nicht nur eine „Pflicht zum bloßen formellen Verhandeln, praktisch zu einer Pflichtübung" umfassen; vielmehr müsse er auch zum Inhalt haben, „daß die erstrebten Verhandlungen mit dem Ziel einer Einigung geführt werden". Aus dem so postulierten Anspruchsinhalt kommt das BAG dann in nicht einfach nachvollziehbaren Gedankengängen zu der Feststellung, daß die Anerkennung eines solchen Verhandlungsanspruchs letztlich zu einer gerichtlichen Inhaltskontrolle der Tarifautonomie führen würde17. Dabei wird insbesondere darauf abgestellt, daß die Tarifautonomie auch das Recht des Gegners zum Inhalt habe, Arbeitsbedingungen tariflich ungeregelt zu lassen. Die Ausführungen des BAG sind zumindest unklar. Selbst wenn man dem Gericht darin folgt, daß eine Tarifvertragspartei das Recht zu tarifvertraglicher Abstinenz habe, schließt das nicht aus, daß diese Haltung im Rahmen eines Gesprächs der gegnerischen Partei dargelegt und näher erläutert wird. Dadurch erleidet die Tarifautonomie keinen Schaden; Tarifautonomie könnte sonst im Sinn eines Rechts auf generelle Ablehnung von Tarifverhandlungen mißverstanden werden. Die Ausführungen des Gerichts erwecken den Eindruck, als sei der Anspruch auf Tarifverhandlungen erst erfüllt, wenn entweder eine Eini" BAGE 14, 282 (288 f.). 17 A. a. O. (Fn. 2), unter II. 1 b. Das BAG stützt sich dabei auf Thesen von Coester (Fn.4), 100, 105 ff., die dieser aus US-amerikanischen Erfahrungen ableiten zu können glaubte. Die Mitglieder des erkennenden Senats werden wahrscheinlich bei der Lektüre der Anmerkung von Wiedemann (Fn. 5) mit ungutem Gefühl feststellen, daß sie sich - ohne eigene Prüfung - vorschnell einer literarischen Meinung angeschlossen haben; denn Wiedemann begründet im einzelnen, daß sich die Thesen Coesters nicht aus der amerikanischen Rechtspraxis ableiten lassen. Die Frage, wer das amerikanische Recht richtig interpretiert hat, kann hier dahinstehen, da die Lösung aus der Rechts- und Wertordnung der Bundesrepublik Deutschland gefunden werden muß.
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gung zustande kommt oder das Scheitern der Verhandlungen unter Darlegung von Sachgründen gerechtfertigt wird, die einer gerichtlichen Nachprüfung standhalten müssen. Dadurch werden jedoch die inhaltlichen Anforderungen an einen Verhandlungsanspruch entschieden überspannt. 3. Anspruch auf „Ausschöpfung aller Verständigungsmöglichkeiten" im Sinne des Ultima-ratio-Prinzips? Die Anforderungen an einen Anspruch auf Tarifverhandlungen können nicht weiter gezogen werden, als die Anforderungen, die unter dem Gesichtspunkt des Ultima-ratio-Prinzips aufgestellt werden für Parteien, die Tarifverhandlungen freiwillig aufgenommen haben. Es wäre wenig folgerichtig, die vor Verhandlungsbeginn bestehende Verhandlungspflicht weiter zu ziehen als die späteren Anforderungen an die Durchführung der Verhandlungen. Man könnte den Inhalt des Verhandlungsanspruchs daher umschreiben mit den Verhaltensanforderungen, die eine Tarifpartei nach Aufnahme der Tarifverhandlungen beachten muß, um ohne Verstoß gegen das Ultima-ratio-Prinzip einen Arbeitskampf beginnen zu können. Der Große Senat des BAG umschreibt die Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Einleitung eines Arbeitskampfes mit „Ausschöpfung aller Verständigungsmöglichkeiten" 18 . Der Senat bejaht also offensichtlich die Möglichkeit, die Rechtmäßigkeit eines Arbeitskampfes daraufhin zu überprüfen, ob unter dem Blickwinkel des Ultima-ratio-Gedankens alle Verständigungsmöglichkeiten ausgeschöpft worden sind, und es ist bisher nicht der Verdacht laut geworden, daß bei dieser Nachprüfung die Tarifautonomie gefährdet werden könnte. Dann will es aber nicht recht einleuchten, daß dies der Fall sein sollte, wenn die Rechtsordnung einen Verhandlungsanspruch mit gleichem Inhalt anerkennt. Der Einwand, Verhandlungszwang ohne innere Verhandlungsbereitschaft führe zum bloßen und deshalb entbehrlichen „Ritual", trifft in gleicher Weise den in Schlichtungsvereinbarungen vielfach vorgesehenen Einlassungszwang. Bei diesem wurde bisher auch nicht befürchtet, daß eine gerichtliche Nachprüfung der Schlichtungsverweigerung zu einer Inhaltskontrolle der Tarifautonomie führen würde. 4. Anspruch auf Verhandlungen „mit dem ernsten Willen zur Einigung"? In Literatur und Rechtsprechung wird allerdings keineswegs einheitlich beantwortet, welche Anforderungen an die Verhandlungen der Tarifparteien in objektiver und subjektiver Hinsicht gestellt werden 18
BAGE 23, 292 (306) = AP Nr. 43 zu Art. 9 GG Arbeitskampf.
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müssen, damit dem Ultima-ratio-Prinzip Genüge getan ist und in legaler Weise Kampfmaßnahmen eingeleitet werden dürfen. Näher liegt es daher, auf eine Formulierung abzustellen, die der Gesetzgeber im Betriebsverfassungsrecht verwendet hat". D o r t verpflichtet er in §74 Abs. 1 S. 2 BetrVG Arbeitgeber und Betriebsrat als Parteien der Betriebsverfassung, über strittige Fragen „mit dem ernsten Willen zur Einigung zu verhandeln". Uberwiegend wird diese Formulierung verstanden als eine „echte" Rechtspflicht, und zwar als „Einlassungs- und Erörterungspflicht" 2 0 . Gegen die Verhandlungspflicht werde jedenfalls dann verstoßen, wenn eine Partei Verhandlungen überhaupt ablehnt oder alsbald abbricht. Dagegen verstößt ein kompromißloses Beharren auf der eigenen Ansicht nicht notwendig gegen diese Pflicht. 5. Folgerungen für einen Verhandlungsanspruch mit objektiviertem Inhalt Der Vergleich mit dem Betriebsverfassungsrecht zeigt, daß es unter dem Gesichtspunkt der Praktikabilität und der gerichtlichen Nachprüfbarkeit nicht von vornherein ausgeschlossen ist, den Inhalt eines Verhandlungsanspruchs mit subjektiven Elementen, nämlich dem „ernsten Willen zur Einigung" anzureichern. Die Möglichkeit von Schwierigkeiten soll allerdings nicht geleugnet werden. Zu Recht ist zu dem betriebsverfassungsrechtlichen Verhandlungsanspruch bemerkt worden, daß sich die innere Verhandlungsbereitschaft nicht gerichtlich nachprüfen und erzwingen lasse21. Darum geht es beim tariflichen Verhandlungsanspruch auch gar nicht. Es genügt vielmehr ein äußerlich feststellbares Verhalten der in Anspruch genommenen Tarifpartei, das der gegnerischen Verhandlungspartei die Chance eröffnet, die Möglichkeiten einer einverständlichen Konfliktlösung ohne Arbeitskampf abzuklären. Es m u ß ein Recht auf „tarifvertragliches Gehör" gewährt werden 22 . Die Verhandlungspflicht ist verletzt, wenn sich eine Tarifpartei weigert, überhaupt Verhandlungen aufzunehmen, oder alsbald nach Eröffnung der Sitzung die Verhandlungen für gescheitert erklärt, ohne die Darlegungen der Gegenseite abzuwarten und dazu Stellung zu nehmen. Die Einhaltung solcher Minimalanforderungen bei einer Tarifverhandlung ist auch dann sinnvoll, wenn eine Partei von vornherein entschlossen ist, es auf einen Arbeitskampf ankommen zu lassen. Man sollte einen Verhandlungsanspruch mit einem in diesem Sinne objektivierten Inhalt
" In diesem Sinne, soweit ersichtlich erstmals, Stecher (Fn.4), S. 128 ff. So z.B. Dietz/Richardi, BetrVG, 6.Aufl. 1982, §74 Rdn.10; Thiele, GK-BetrVG, §74 Rdn. 14 und 15. 21 Thiele (Fn. 20), Rdn. 15. 22 So 'Wiedemann (Fn. 5), unter 1 b. 20
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nicht als bloßes „Ritual" abtun, weil immerhin die Möglichkeit eröffnet wird, den Standpunkt der Gegenseite hinter verschlossenen Türen kennenzulernen und dementsprechend das eigene weitere Verhalten einzurichten. IV. Rechtliche Begründung eines Verhandlungsanspruchs Das BAG kommt zur Verneinung eines Verhandlungsanspruchs nicht nur dadurch, daß es die inhaltlichen Anforderungen bis zur Unpraktikabilität steigert, sondern auch dadurch, daß es zwar alle möglichen Rechtsgrundlagen für einen solchen Anspruch prüft, die entscheidenden Gesichtspunkte aber nur recht oberflächlich behandelt. Dies gilt besonders für die Ausführungen zu Art. 9 Abs. 3 GG. 1. Die Bedeutung des Art. 9 Abs. 3 GG für den Verhandlungsanspruch In der Ausgangsentscheidung stellt das BAG fest, daß Art. 9 Abs. 3 G G schon dem Wortlaut nach keine geeignete Grundlage für einen Verhandlungsanspruch enthalte; außerdem würde sich ein solcher Anspruch nicht mit der ebenfalls durch Art. 9 Abs. 3 G G geschützten Betätigungsfreiheit des Anspruchsgegners vereinbaren lassen23, womit das Recht gemeint ist, Tarifverhandlungen überhaupt oder mit einem bestimmten Vertragspartner abzulehnen. Daran ist richtig, daß ein Verhandlungsanspruch nicht unmittelbar aus dem Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 GG folgt, geht es doch um einen privatrechtlichen Anspruch, der auf privatrechtlicher Ebene erst im Wege der Grundrechtskonkretisierung installiert werden muß. Art. 9 Abs. 3 G G hat dabei, wie inzwischen wohl weitgehend anerkannt ist, die Funktion einer Legitimationsgrundlage und Direktive für richterliche „Ersatzgesetzgebung" bei Untätigkeit des Gesetzgebers. Die dogmatische Durchdringung des Art. 9 Abs. 3 GG steckte 1963, als das BAG erstmals über den Verhandlungsanspruch zu entscheiden hatte, noch in den Anfängen; daraus erklären sich wohl die aus heutiger Sicht wenig befriedigenden Ausführungen des Gerichts. Im zweiten Urteil von 1981 hat der Senat die Gelegenheit leider nicht wahrgenommen, den Begründungsansatz aus der Koalitionsfreiheit erneut zu prüfen. Er schließt sich vielmehr der früheren Entscheidung im Ergebnis an und beschränkt sich auf einige Teilaspekte. a) Vorweg kann ein Bedenken des BAG zerstreut werden, das Bedenken nämlich, die ebenfalls geschützte Grundrechtsposition der verhandlungsunwilligen Partei stehe einem solchen Anspruch entgegen. Dies wäre zutreffend, wenn der Anspruchsgegner gezwungen würde, einen 25
BAGE 14, 282 (287f.); ähnlich BAG (Fn.2), unter III 1.
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Tarifvertrag abzuschließen. Darum geht es jedoch nicht: Ein Verhandlungsanspruch verpflichtet den Anspruchsgegner weder zu einem Vertragsabschluß mit einem bestimmten Vertragspartner noch zu einem Abschluß mit bestimmtem Vertragsinhalt. Wenn sich aus dem Sinn und Zweck des Art. 9 Abs. 3 GG ein Verhandlungsanspruch im Sinn eines Einlassungs- und Erörterungszwanges ableiten läßt, dann ist die aus der Koalitionsfreiheit folgende Grundrechtsposition des Verhandlungsgegners von vornherein entsprechend eingeschränkt. Zu einer Grundrechtskollision kann es daher nicht kommen. b) In der oben näher beschriebenen Fallgruppe des tariflichen Boykotts einer kleinen Gewerkschaft durch die Arbeitgeberseite ist Art. 9 Abs. 3 GG in der Ausprägung als Koalitionsbestandsgarantie unmittelbar angesprochen. Wie Zöllner24 und ihm folgend Wiedemann25 bereits dargetan haben, verfügt eine solche Gewerkschaft meist über keine ausreichende Durchsetzungskraft im Arbeitskampf; verneint man einen Verhandlungsanspruch, so kann einem solchen Verband die tarifliche Betätigung durch eine Allianz von Arbeitgebern und Großgewerkschaften faktisch unmöglich gemacht werden. Hat eine Gewerkschaft nicht einmal die Chance, ihre tarifpolitische Bedeutung vor den Mitgliedern zu demonstrieren, dann ist sie in ihrer Existenz bedroht. Die permanente Weigerung der Beiziehung einer bestimmten Gewerkschaft zu Tarifverhandlungen ist eine „Maßnahme" im Sinne des Art. 9 Abs. 3 GG, und zwar eine rechtswidrige, da die Verhandlungsverweigerung gegen die Koalitionsbestandsgarantie verstößt. Man muß den Ersten Senat des BAG in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß er die gewerkschaftliche Bestandsschutzgarantie schon dann als verletzt angesehen hat, wenn durch eine Arbeitgebermaßnahme (in der damaligen Entscheidung: die Beschränkung der Aussperrung auf die Gewerkschaftsmitglieder) möglicherweise der Mitgliederbestand beeinträchtigt werden könnte26. Um wieviel mehr wird der Mitgliederbestand und damit der Bestand der Koalition beeinträchtigt, wenn eine Arbeitnehmervereinigung von ihrer wichtigsten Betätigung durch einen Boykott ausgeschaltet wird. Die Arbeitgeberseite muß danach als verpflichtet angesehen werden, rechtswidrige Boykottmaßnahmen in diesem Sinne zu unterlassen. Nach deliktischen Schadensersatzgrundsätzen ist der Verletzte so zu stellen, wie er stünde, wenn die rechtswidrige Handlung bzw. Unterlassung nicht stattgefunden hätte: die Gewerkschaft ist also zu Verhandlungen beizuziehen. Auf dem schadensersatzrechtlichen Umweg ergibt sich 24
A. a. O . (Fn. 4). A. a. O . (Fn. 5), unter 1 b. 2 ' BAG AP N r . 66 zu Art. 9 G G Arbeitskampf. 25
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daher für einen Teilbereich der einschlägigen Fälle bereits ein Anspruch auf Zuziehung zu Tarifverhandlungen. c) Das Bundesverfassungsgericht hat als Leitprinzip für die Auslegung des Art. 9 Abs. 3 G G die Formel von der sinnvollen Ordnung des Arbeitslebens entwickelt 27 ; gleichbedeutend wird von der Funktionsfähigkeit28 der kollektiv-arbeitsrechtlichen Institutionen gesprochen. Unter diesem Blickwinkel ist der Einwand des BAG zu sehen, die Zuziehung einer Vielzahl von Kleingewerkschaften würde die Tarifverhandlungen in unzumutbarer Weise erschweren und verzögern. Dieser Einwand ist in der Zwischenzeit durch die Entwicklung der Rechtsprechung weitgehend ausgeräumt. Denn danach sind nur noch solche Arbeitnehmervereinigungen tariffähig, die Druck und Gegendruck ausüben können 29 . Bei der Beurteilung dieser Voraussetzung stellt das Gericht darauf ab, ob eine Koalition so mächtig und leistungsfähig ist, daß der Gegenspieler sich veranlaßt sehe, in Tarifverhandlungen mit ihr einzutreten 30 . Etwas überspitzt ausgedrückt: Das Kriterium für die Anerkennung einer tariffähigen Gewerkschaft ist also, daß diese Gewerkschaft als Verhandlungspartner anerkannt wird. d) Das methodische Verfahren, mit dem die Frage nach bestimmten koalitionsgemäßen Betätigungen und ihrer einfachgesetzlichen Regelung beantwortet werden kann, ist heute durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 9 Abs. 3 G G in bestimmter Richtung vorgeprägt. Der Gesetzgeber bzw. rechtsfortbildende Richter hat danach den Koalitionen diejenigen Mittel bzw. Rechte zur Verfügung zu stellen, die geeignet und erforderlich erscheinen, um den Koalitionszweck, nämlich die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, wirksam verfolgen zu können 51 . Die Kriterien der Eignung und Erforderlichkeit sind Teilaspekte des Übermaßverbots, zu denen noch das Verbot der UnVerhältnismäßigkeit hinzukommt. Es ist also zu fragen, ob ein Verhandlungsanspruch der Tarifparteien gemessen an diesen Kriterien unter dem Blickwinkel einer funktionsfähigen Tarifund Arbeitskampfordnung anerkannt werden kann oder sogar muß. Hierauf ist im folgenden unter Berücksichtigung der Systemzusammenhänge des kollektiven Arbeitsrechts näher einzugehen.
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Erstmals BVerfGE 4, 96 (107). BVerfGE 50, 290 (373, 377). Vgl. oben Fn. 11. BAG AP Nr. 24 zu Art. 9 GG (unter III. 4 der Gründe). Vgl. die Nachweise bei Seiter, a.a.O. (Fn.4), S. 108ff.
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2. Tarifrechtliche Argumentation Die Tarifautonomie unterscheidet sich wesentlich von der individualvertraglichen Vereinbarungsbefugnis. Wer Normsetzungsbefugnisse für Dritte in Anspruch nimmt, trägt eine gesteigerte Verantwortung, die sich nicht nur auf die Vertragsinhaltsfreiheit, sondern auch auf die Vertragsanbahnung auswirkt. Durch die tarifliche Regelung der Arbeitsbedingungen wird außerdem das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht in der Regel wesentlich beeinflußt. Das Bundesverfassungsgericht spricht daher im Zusammenhang mit der Tarifautonomie von einer „im allgemeinen Interesse liegenden Aufgabe der Ordnung und Befriedung des Arbeitslebens" 32 . Daraus ergibt sich eine wichtige Folgerung: Die Wahrnehmung einer im allgemeinen Interesse liegenden Aufgabe kann nicht der Willkür der Aufgabenträger überlassen werden". Zur Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie gehört es, daß Tarifverhandlungen nicht nach Gutdünken abgelehnt werden dürfen. Wenn das BAG meint, durch Art. 9 Abs. 3 G G sei auch das Recht geschützt, „die Regelung von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen durch Tarifverträge überhaupt, mit einem bestimmten Gegenspieler oder unter bestimmten Bedingungen abzulehnen" 34 , so verkennt es den Bezug der Tarifautonomie auf diese Allgemeininteressen. Der Sinn der tariflichen Normsetzungsbefugnis spricht daher für die Bejahung eines Verhandlungsanspruchs. 3. Arbeitskampfrechtliche Argumentation Der tarifrechtliche Ableitungszusammenhang wird bestätigt und weiter untermauert, wenn man das Konnex-Institut Arbeitskampf in die Betrachtung einbezieht. Das BAG bemüht sich in der Entscheidung von 1981 um den Nachweis, daß arbeitskampfrechtliche Grundsätze, insbesondere das Ultima-ratio-Prinzip, nicht notwendig einen Verhandlungsanspruch zur Folge haben. Der Nachweis dürfte nicht gelungen sein. a) Das Gericht knüpft an die vom Großen Senat geprägte Formulierung des Ultima-ratio-Prinzips an. Wenn danach ein Arbeitskampf erst nach „Ausschöpfung aller Verständigungsmöglichkeiten" 35 geführt werden
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BVerfGE 50, 290 (369); 58, 233 (250). So Wiedemann/Stumpf (Fn. 4). Ähnlich Zöllner (Fn. 5): Tariffähigkeit sei nicht zum „Privatvergnügen" verliehen. 14 A . a . O . (Fn.2), unter III. 1. Die Formulierung ist mißverständlich; eine Koalition, die den Abschluß von Tarifverträgen „überhaupt" ablehnt, wäre tarifunwillig und damit nach überwiegender Ansicht (vgl. Wiedemann/Stumpf, §2 Rdn. 178) nicht mehr tariffähig. Die Ablehnung von Tarifabschlüssen in Einzelfällen läßt allerdings nicht den Schluß auf TarifunWilligkeit zu; vgl. LAG Düsseldorf, AuR 1956, 93 (95). 35 Vgl. oben Fn.18. 33
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dürfe, dann sei damit kein Verhandlungsanspruch vorausgesetzt. Wenn eine Partei von vornherein verhandlungsunwillig sei, so muß man das Gericht wohl verstehen, dann bestünden eben keine Verhandlungsmöglichkeiten bzw. diese seien ausgeschöpft mit der Folge, daß der Weg zum Arbeitskampf offenstehe. Entgegen der Behauptung des BAG folgt jedoch aus der vom Großen Senat eingenommenen Grundposition eine Verhandlungspflicht; denn das Gebot der „Ausschöpfung aller Verständigungsmöglichkeiten" richtet sich an beide Vertragsparteien. Wenn eine Partei verhandlungswillig ist, die andere Partei jedoch Verhandlungen ablehnt, so hat letztere die Verhandlungsmöglichkeiten nicht ausgeschöpft; sie zwingt durch ihre Verhandlungsverweigerung die andere Partei zur Eröffnung eines Arbeitskampfes, der vielleicht durch Verhandlungen hätte vermieden werden können, - oder zur Kapitulation. Sicherlich verstößt nicht die verhandlungswillige Partei mit der Kampferöffnung gegen das Ultimaratio-Prinzip; der Verstoß liegt vielmehr in der vorausgegangenen Ablehnung von Verhandlungen durch die verhandlungsunwillige Partei. Daß der Verhandlungsanspruch eine notwendige Folge des Ultimaratio-Prinzips ist, wird noch deutlicher bei folgender Überlegung: Es wäre ungereimt, die „Ausschöpfung aller Verständigungsmöglichkeiten" nur von den Tarifparteien zu verlangen, die freiwillig Verhandlungen aufgenommen haben, es den Tarifparteien aber anheimzustellen, ob sie sich überhaupt an den Verhandlungstisch setzen wollen, bevor es zu Kampfmaßnahmen kommt. Wenn der Arbeitskampf das letzte Mittel der Konfliktlösung sein soll, dann kann es einer Tarifpartei nicht gestattet sein, durch Verhandlungsunwilligkeit die Vorschaltung einer Verhandlungsrunde zu unterlaufen. Es ist erstaunlich, daß das BAG den in seiner Argumentation liegenden Widerspruch zwischen der Anerkennung des Ultima-ratio-Prinzips und der Ablehnung eines Verhandlungsanspruchs nicht wahrhaben will. b) Die Anerkennung eines Verhandlungsanspruchs ergibt sich nicht nur, wie dargelegt, aus dem Inhalt des Ultima-ratio-Prinzips, sondern auch aus den sachlichen und rechtlichen Grundlagen dieses Prinzips. Im Unterschied zur individuellen Privatautonomie gestattet die Rechtsordnung den Tarifvertragsparteien den Einsatz von Kampfmitteln, um durch Zufügung von Schaden den Willen der Verhandlungsführer zu beugen und zu einem Tarifabschluß zu kommen. Diese Ausnahme von dem die Privatrechtsordnung beherrschenden Grundsatz, daß Vertragsregelungen in beiderseitiger freier Selbstbestimmung zu treffen sind, ist dadurch gerechtfertigt, daß Tarifparteien sich wie bilaterale Monopole gegenüberstehen und nicht auf andere Vertragspartner mit günstigeren Vertragsbedingungen ausweichen können. Die Alternative zum Arbeits-
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kämpf wäre unter diesen Bedingungen die staatliche Zwangsschlichtung, der sowohl rechtliche als auch rechtspolitische Gründe entgegenstehen. Die Phase der Verhandlung hat grundsätzlich den Vorrang vor der Kompromißfindung durch gegenseitige Willensbeugung in der kampfweisen Auseinandersetzung. Dies folgt schon daraus, daß die kampffreie vertragliche Einigung den Regelfall einer rechtlich geordneten, am Selbstbestimmungsgedanken orientierten Rechtsordnung bildet. Kommt eine solche Einigung zustande, dann ist ein Arbeitskampf nicht mehr erforderlich. Das Ubermaßverbot, dessen Teilaspekt die Erforderlichkeit einschließlich des Ultima-ratio-Prinzips ist, wird vom Großen Senat damit begründet, daß Streik und Aussperrung nicht nur die am Arbeitskampf unmittelbar Beteiligten, sondern auch NichtStreikende und sonstige Dritte sowie die Allgemeinheit vielfach nachhaltig „berühren"36. Es braucht nicht weiter erörtert zu werden, ob das Ultima-ratio-Prinzip letztlich auf der Erhaltung des Selbstbestimmungsgedankens oder auf der Vermeidung von wirtschaftlichen Schäden beruht37; denn die Schädigung ist das Mittel der Willensbeugung und die Einschränkung bzw. Vermeidung von Arbeitskampfschäden liegt gleichzeitig im Sinne einer freien vertraglichen Selbstbestimmung. Beruht das Ultima-ratio-Prinzip somit auf dem allgemeinen Interesse an der Vermeidung nicht erforderlicher Kampfmaßnahmen, so kommt man nicht daran vorbei, daß allein die rechtliche Anerkennung eines Verhandlungsanspruchs diesem öffentlichen Interesse entspricht. Die gegenteilige Ansicht des B A G wird dem nicht gerecht. Das Gericht spricht zwar von der „sozialen Verantwortung" der Tarifparteien bei der Einleitung von Arbeitskämpfen, meint aber, die Tarifpartner müßten „letztlich selbst entscheiden", ob sie unter Ablehnung von Verhandlungen es auf einen Arbeitskampf ankommen lassen wollen38. Diese Haltung mag gewissen modisch-liberalen Tendenzen entsprechen. Eine Rechtsordnung, die öffentliche Interessen zu schützen hat, kann dem nicht folgen. Besonders bedenklich wird die Ansicht des BAG, wenn man den Verhandlungsanspruch der Arbeitgeberseite in Betracht zieht, für den in bestimmten Fallkonstellationen ebenfalls ein Bedürfnis besteht3'. Die Ablehnung eines Verhandlungsanspruchs würde hier im Regelfall die sofortige Verweisung auf die Angriffsaussperrung bedeuten. B A G E 23, 292 (306) = AP Nr. 43 zu Art. 9 G G Arbeitskampf. Dazu grundlegend Picker, Ultima-ratio-Prinzip und Tarifautonomie, RdA 1982, 331 ff. 58 A . a . O . (Fn.2), unter II. 2b. M Vgl. oben II. 3. 56
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4. Schlichtungsrechtliche Argumentation Völlig unberücksichtigt läßt das BAG das Schlichtungsrecht. Wenn, wie der Große Senat im Zusammenhang mit dem Ultima-ratio-Prinzip ausgeführt hat40, wegen dieses Prinzips auch ein Schlichtungsverfahren erforderlich ist, so muß das Schlichtungsverfahren als zweite Stufe nach den gescheiterten Tarifverhandlungen eingeschaltet werden, bevor rechtmäßig Kampfmaßnahmen ergriffen werden dürfen. Das bedeutet, daß ein Anrufungs- und Einlassungszwang für ein Schlichtungsverfahren auch dann besteht, wenn vereinbarte Schlichtungsabkommen oder subsidiär bundes- oder landesrechtliche Schlichtungsgesetze keinen solchen Zwang vorsehen sollten41. Die bestehende Rechtslage muß wohl so interpretiert werden, daß die Tarifparteien gegeneinander einen Anspruch auf Mitwirkung am Schlichtungsverfahren haben, einen Anspruch, der notfalls im Klagewege durchgesetzt werden kann. Danach ist eine Tarifpartei zur Teilnahme am Schlichtungsverfahren auch dann verpflichtet, wenn sie keinen Kompromiß eingehen und es lieber auf einen Arbeitskampf ankommen lassen will. Festzuhalten ist jedenfalls: Ein Schlichtungsverfahren setzt in der Regel das Scheitern von Tarifverhandlungen voraus. Soweit ein Schlichtungsverfahren durchgeführt werden muß, sind die Tarifparteien auch zur Aufnahme von Tarifverhandlungen verpflichtet. Das bedeutet auch für die Tarifverhandlungen einen Einlassungs- und Erörterungszwang; denn von einem „Scheitern" der Tarifverhandlungen kann sinnvoll nicht gesprochen werden, wenn wegen der Weigerung einer Partei Tarifverhandlungen überhaupt nicht in Gang gesetzt worden sind. Der Verhandlungsanspruch bei Tarifverhandlungen ist daher Voraussetzung des Anrufungs- und Einlassungszwangs beim Schlichtungsverfahren42. 5. Argumentation mit dem Diskriminierungsverbot Verweigert eine Tarifpartei den Abschluß von Tarifverträgen mit einer bestimmten Gewerkschaft, so sind der Gleichheitssatz und das Diskriminierungsverbot angesprochen. Das BAG hat in der Entscheidung von 1963 sachliche Gründe für eine Ungleichbehandlung gegnerischer Verhandlungspartner in dem Interesse der Arbeitgeberseite gesehen, zur Erzielung einheitlicher Arbeitsbedingungen der Bediensteten nur mit den Gewerkschaften zu verhandeln, die die meisten Arbeitnehmer zu ihren Mitgliedern zählen. Außerdem wurde das Argument von der B A G E 23, 292 (306); ebenso z . B . Wiedemann/Stumpf, §1 Rdn.368. Vgl. Brox/Rüthers (Fn.4), S. 418 ff. 42 Anders Rüthers, der zwar einen Verhandlungsanspruch ablehnt (oben Fn.4), aber einen Anrufungs- und Einlassungszwang für Schlichtungsverfahren bejaht (Fn. 4, Rdn.202, S. 124 f.). 40 41
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Erschwerung der Tarifverhandlungen durch Hinzuziehung einer Vielzahl von Gewerkschaften angeführt 43 . Das letztere Argument hat, wie bereits ausgeführt", durch die Ausschaltung der kleinen Koalitionen aus dem Kreis der tariffähigen Gewerkschaften erheblich an Bedeutung eingebüßt. Im übrigen werden die technischen Schwierigkeiten der Verhandlungsführung meist etwas übertrieben; das Gericht führt selbst aus, daß getrennte Verhandlungen denkbar und teilweise auch üblich sind in dem Sinne, daß die Arbeitgeberseite vor Abschluß eines Tarifvertrags mit verschiedenen Gewerkschaften zwar gleichzeitig, aber an verschiedenen Orten bzw. Räumlichkeiten verhandelt45. Der Hinweis auf das Interesse an einheitlichen Arbeitsbedingungen geht völlig fehl: Auch bei Verhandlungen mit mehreren Gewerkschaften braucht die Arbeitgeberseite nicht auf unterschiedliche Regelungsvorstellungen der verschiedenen Gewerkschaften einzugehen. Schwer erträglich ist demgegenüber die Vorstellung, daß eine Tarifpartei, die aufgrund ihres Organisationsbereichs über eine gewisse Monopolstellung verfügt, einer bestimmten gegnerischen Gewerkschaft eine Vorzugsstellung oder eine tarifliche „Alleinvertretung" einräumen und damit andere konkurrierende Gewerkschaften tarifpolitisch weitgehend ausschalten kann. Sollten sich Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes zu solchen Machenschaften, aus welchen Gründen auch immer, bereiterklären, so fiele ihnen auch ein Verstoß gegen die staatliche Neutralitätspflicht zur Last46. Es bleibt festzuhalten, daß die Ablehnung eines Verhandlungsanspruchs für einen Teil der einschlägigen Fälle die Möglichkeit einer Diskriminierung bestimmter Tarifparteien eröffnen würde. Dies bestärkt die Einsicht von der Erforderlichkeit eines Verhandlungsanspruchs. 6. Zwischenergebnis Auch wenn das geltende Recht nirgends einen ausdrücklich angeordneten Verhandlungsanspruch der Tarifparteien vorsieht47, so folgt ein 43 BAGE 14, 282 (290). Zur Gegenposition vor allem Zetß (Fn. 4) mit einer „analogen Anwendung der Normen über den Abschlußzwang": Verhandlungsanspruch dann, wenn die Diskriminierung wegen einer politischen oder religiösen Einstellung erfolgt. Insoweit will auch Konzen (Fn. 5, unter I 2) einen Verhandlungsanspruch anerkennen. 44 Vgl. oben II. 1 b (bei Fn. 7). 45 BAGE 14, 282 (286). 44 So zutreffend schon Bötticher, SAE 1964, 99; ähnlich Zöllner (Fn.5). 47 Ausdrücklich ist ein Verhandlungsanspruch auch in der Europäischen Sozialcharta nicht vereinbart. Allerdings wird in Teil II Art. 6 bei der Regelung des „Rechts auf Kollektiwerhandlungen" das Verfahren freiwilliger Konfliktlösung besonders favorisiert (vgl. insbes. N r . 2).
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solcher Anspruch doch mit erheblicher Plausibilität aus Art. 9 Abs. 3 GG in Verbindung mit den Grundprinzipien des kollektiven Arbeitsrechts und aus dem Diskriminierungsverbot. V. Verhältnis von Verhandlungsanspruch und Arbeitskampf 1. Vorrang des Rechtswegs und Effektivität von Kampfmaßnahmen Wenn die Rechtsordnung einen Verhandlungsanspruch anerkennt, dann stellt sich die Frage, ob dieser Anspruch in jedem Fall zunächst auf dem Rechtsweg verfolgt werden muß, bevor rechtmäßig Kampfmaßnahmen ergriffen werden dürfen. Das BAG führt in diesem Zusammenhang gerade das Argument an, ein solcher Anspruch würde zu „praktisch unlösbaren Schwierigkeiten" führen, weil die verhandlungswillige Partei zunächst ein gerichtliches Verfahren durchlaufen müßte. Ein ohne dieses Erfordernis eingeleiteter Arbeitskampf wäre mit dem Risiko behaftet, gegen das Ultima-ratio-Prinzip zu verstoßen48. In der Tat: Es ist weithin anerkannt, daß nach diesem Prinzip der Einsatz von Kampfmaßnahmen für ein Kampfziel, das auf dem Rechtsweg entschieden werden kann, unzulässig ist49. Vielfach wird daher auch in der Literatur verlangt, daß ein Verhandlungsanspruch zunächst gerichtlich geltend gemacht werden müsse50. Würde man dem in dieser Allgemeinheit folgen, so entstünden nicht nur die vom BAG befürchteten praktischen Schwierigkeiten; vielmehr würde die Effektivität kampfweiser Auseinandersetzung berührt. Angesprochen ist damit das nach jetzt ganz herrschender Meinung durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte koalitionsgemäße Recht auf kampfweise Betätigung51. Es handelt sich um ein noch wenig erörtertes Problem, das eine differenzierende Betrachtung verlangt, wobei die beiden rechtlichen Aspekte gegeneinander abzuwägen sind. 2. Differenzierender Lösungsvorschlag a) Das Abwägungsproblem stellt sich dann nicht, wenn den Tarifvertragsparteien aus rechtlichen Gründen generell oder für einen bestimmB A G (Fn.2), unter II. 2 a. Nachweise Seiter (Fn.4), S.496f. 50 Buchner, SAE 1973, 43; Däubler (Fn.4); im Ergebnis gegen eine Pflicht zum Beschreiten des Rechtswegs Wiedemann (Fn. 5), unter 2. 51 Vgl. die Nachweise in Seiter (Fn. 4), S. 67 f., und jetzt auch BAG AP Nr. 64 zu Art. 9 G G Arbeitskampf (unter A I). Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsgarantie des Arbeitskampfes zwar ausdrücklich offen gelassen; es betont aber für den Fall einer solchen Garantie die Notwendigkeit „effektiver Kampfführung"; BVerfGE 38, 386 (395). 49
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ten Fall der Arbeitskampf als Mittel zur Durchsetzung von Tarifverträgen versagt ist52. Diejenige Partei, die eine Änderung zur ihren Gunsten erreichen will, ist auf Verhandlungen angewiesen. Verweigert die Gegenpartei solche Verhandlungen, so bleibt nur der gerichtlich durchsetzbare Verhandlungsanspruch, dessen Erforderlichkeit sich gerade bei dieser Fallgruppe zeigt und insoweit auch von grundsätzlichen Gegnern eines Verhandlungsanspruchs eingeräumt wird". b) Eine bislang abgewiesene oder mit Anschlußtarifverträgen abgespeiste Tarifpartei könnte versuchen, die Beteiligung an Tarifverhandlungen mit der Gegenseite tarifvertraglich festzulegen. Für ein solches Regelungsziel käme ein schuldrechtlicher Tarifvertrag in Betracht". Wenn in einem solchen Tarifvertrag lediglich das geregelt werden soll, was sich ohnehin, jedenfalls dem Grundsatz nach, aus der Rechtsordnung ergibt, so hätte man es unzweifelhaft mit einer Frage zu tun, die auf dem Rechtsweg geklärt werden kann. Ein Arbeitskampf zur Durchsetzung einer solchen Regelung kommt daher mangels Erforderlichkeit nicht in Betracht. Das ist auch sachlich gerechtfertigt: Nach Anerkennung eines Verhandlungsanspruchs wird nämlich eine Verhandlung normalerweise nur dann verweigert, wenn Meinungsverschiedenheiten über die Rechtsfrage bestehen, ob der betreffende Verband tariffähig oder tarifzuständig ist55. Diese Frage könnte ohnehin nicht durch Tarifvertrag abweichend von der zwingenden Gesetzeslage geregelt werden. Kampfmaßnahmen scheiden bei dieser Fallgruppe also aus; das Abwägungsproblem stellt sich nicht. c) Meistens wird eine Tarifpartei mit dem Verlangen nach Tarifverhandlungen bestimmte tarifliche Forderungen bzw. Regelungswünsche verbinden. Im Vordergrund steht die Tarifforderung; die Verhandlung ist nur das Mittel ihrer Verwirklichung. Kann die begehrte Regelung nicht wirksam vereinbart werden, so fehlen nicht nur die Voraussetzungen für einen Verhandlungsanspruch56; die Regelung darf vielmehr auch nicht erkämpft werden. Macht eine Tarifpartei den vermeintlichen Verhandlungsanspruch gerichtlich geltend, so wird in diesem Verfahren inzident die tarifliche Regelbarkeit und Erkämpfbarkeit der erstrebten Tarifnorm 52 Als Beispiel wird der gewerkschaftliche Verhandlungsanspruch gegenüber kirchlichen Organisationen genannt; vgl. Konzen (Fn.5), unter I 2 im Anschluß an Birk, AuR 1979, Sonderheft, S. 20. Zu denken wäre auch an den Bereich der lebenswichtigen Daseinsvorsorge, soweit dort Kampfmaßnahmen mit Rücksicht auf unbeteiligte Dritte unzulässig sind. 55 So von Konzen (Fn. 52). 54 Dazu näher Seiter (Fn. 4), S. 489; vgl. auch unter VI. 1 c. 55 Vgl. dazu auch unter VI. 2 a. 54 Vgl. unter VI. 2.
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geprüft. Das Abwägungsproblem stellt sich auch bei dieser Fallgruppe nicht. d) Als eigentlich problematischer Rest bleiben daher die Fälle, in denen eine verhandlungswillige Tarifpartei nicht an den Verhandlungstisch gelassen wird, obwohl ein Verhandlungsanspruch im konkreten Fall besteht. Sicherlich ist es der abgewiesenen Partei unbenommen, den Verhandlungsanspruch gerichtlich geltend zu machen. Fraglich ist lediglich, ob unter Auslassung des gerichtlichen „Vorspiels" alsbald das eigentliche Ziel, die begehrte und abgelehnte Tarifregelung unter Einsatz von Kampfmaßnahmen, von der abgewiesenen Partei erzwungen werden darf. Das Ultima-ratio-Prinzip scheint dagegen zu sprechen. Es besteht jedoch eine Besonderheit: Während in den Fällen, für die der Grundsatz vom Vorrang des Rechtswegs entwickelt worden ist, eine umstrittene Frage gerichtlich endgültig geklärt werden kann, so daß ein Arbeitskampf ganz entfällt, verhindert die gerichtliche Klärung des Verhandlungsanspruchs den Arbeitskampf nur möglicherweise. Dies wäre freilich noch kein durchschlagender Grund, vom Vorrang des Rechtswegs abzusehen. Das eigentliche Bedenken liegt jedoch in den vom B A G angedeuteten Schwierigkeiten: Die Beschreitung des Rechtswegs während laufender Tarifverhandlungen kann zu Verzögerungen führen und dies wiederum kann eine Tarifpartei dazu verleiten, Verhandlungen abzulehnen, um Zeit zu gewinnen. Die verhandlungswillige Partei könnte so zeitweise oder ganz in der Wahrnehmung ihrer Interessen blockiert werden. Daraus folgt aber entgegen der Ansicht des B A G kein zwingender Grund, den Verhandlungsanspruch völlig abzulehnen; vielmehr kann man den Bedenken mit einer sinngemäßen Einschränkung des Ultima-ratio-Prinzips Rechnung tragen: Die ausgeschlossene Tarifpartei kann den Rechtsweg beschreiten; sie kann aber auch, wenn sie sich stark genug fühlt, alsbald Kampfmaßnahmen einsetzen, soweit die sonstigen Voraussetzungen gegeben sind". Diese Kompromißlösung trägt dem koalitionsgemäßen Recht auf effektive Wahrnehmung der Mitgliederinteressen bei Tarifverhandlungen ausreichend Rechnung. Sie wahrt andererseits die Möglichkeit, daß es zu Tarifverhandlungen kommt und ein Arbeitskampf vermieden wird. Vor allem aber bekommen die Tarifparteien, die eine Lösung des Konflikts auf friedlichem Wege versuchen wollen, die Chance, den Verhandlungsanspruch geltend zu machen und notfalls gerichtlich durchzusetzen.
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Im Ergebnis ebenso Wiedemann
(Fn. 5), unter 2.
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VI. Dogmatische Ausgestaltung des Verhandlungsanspruchs 1. Rechtsnatur des Anspruchs a) Die Durchführung von Tarifverhandlungen ist nicht nur eine bloße Voraussetzung für die Einleitung eines rechtmäßigen Arbeitskampfes im Sinne einer Obliegenheit. Damit wäre vor allem der verhandlungswilligen, für einen Kampf nicht gerüsteten Tarifpartei wenig gedient. Der Verhandlungsanspruch ist vielmehr das subjektive Recht einer Tarifvertragspartei, von der gegnerischen Partei die Aufnahme und Durchführung von Tarifverhandlungen zu verlangen. Ein solcher Anspruch kann mit der Leistungsklage durchgesetzt werden. Da die beklagte Partei bei erfolgreicher Klage zur Vornahme einer unvertretbaren Handlung verurteilt wird, richtet sich die Zwangsvollstreckung nach §888 Abs. 1 ZPO 58 . Ist die gegnerische Tarifpartei grundsätzlich verhandlungsbereit und bestreitet sie nur die rechtlichen Voraussetzungen der Verhandlungspflicht, so kann auch das Interesse für eine Feststellungsklage gegeben sein. b) Der Verhandlungsanspruch stellt einen eigenständigen, privatrechtlichen Anspruch dar, der im Wege der Rechtsfortbildung durch Konkretisierung des Art. 9 Abs. 3 S. 1 G G entwickelt worden ist. Bei diesem Lösungsansatz kommt es auf die in der Literatur gelegentlich erwogenen Ersatzkonstruktionen 5 ' zur Begründung einer Verhandlungspflicht nicht an. Der rechtlichen Wurzel nach wird man den Verhandlungsanspruch am ehesten dem Tarifrecht zuordnen können. Die Ableitung eines Anspruchs aus unerlaubter Handlung würde dem Verhandlungsanspruch nicht gerecht. Die Zuständigkeit der Arbeitsgerichte für Streitigkeiten anläßlich eines Verhandlungsanspruchs folgt daher aus §2 Abs. 1 Nr. 1 ArbGG („bürgerliche Rechtsstreitigkeiten zwischen Tarifvertragsparteien")60, nicht aus Nr. 2 dieser Vorschrift. c) Der Verhandlungsanspruch beruht nicht auf Tarifvertrag, sondern wie bereits ausgeführt - auf Gesetz bzw. auf dem durch den Richter fortgebildeten Recht. Möglich und zulässig ist jedoch auch, daß Tarifvertragsparteien einen Verhandlungsanspruch durch schuldrechtlichen Tarifvertrag (mit deklaratorischer Wirkung) vereinbaren und die inhaltlichen Modalitäten im Rahmen der durch zwingendes Recht gezogenen
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» So Bötticher, SAE 1964, 99; ihm folgend Wiedemann/Stumpf (Fn.4). Brox/Rüthers (Fn. 4) meinen demgegenüber, ein Verhandlungsanspruch könne nicht sachgerecht vollstreckt werden.
" Vgl. vor allem Bötticher (Fn. 58). 60
Im Ergebnis ebenso BAGE 14, 282 (284 f.); zweifelnd
Bötticher,
SAE 1964, 98.
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Grenzen näher ausgestalten61. Auf diesem Weg könnte eine Art „Geschäftsordnung" für Tarifverhandlungen entstehen, die das Vorverfahren zur nachfolgenden Schlichtung darstellen würde. 2. Voraussetzungen
des
Verhandlungsanspruchs
a) Aus der Funktion des Verhandlungsanspruchs folgt, daß der Anspruchsberechtigte tariffähig sein muß. Nach der Rechtsprechung kommt es insbesondere darauf an, daß der Verband mächtig und leistungsfähig genug ist, um Druck und Gegendruck ausüben zu können 62 . Auch der Anspruchsgegner muß tariffähig sein. Anspruchsberechtigt ist jede tariffähige Partei, also nicht nur eine Gewerkschaft, sondern auch ein Arbeitgeberverband oder ein einzelner Arbeitgeber (vgl. dazu oben II. 2.). Gläubiger und Schuldner eines Verhandlungsanspruchs müssen außerdem für den gewünschten Tarifvertrag tarifzuständig sein, falls man dieses Merkmal als Voraussetzung der Tariffähigkeit verlangt63. b) Der Verhandlungsanspruch setzt weiter voraus, daß der im Einzelfall erstrebte Verhandlungsgegenstand tariflich regelbar ist, d.h. wirksam vereinbart werden kann. Denn die gegnerische Tarifpartei braucht sich nicht auf Verhandlungen über Regelungen einzulassen, die keine Rechtswirksamkeit erlangen können. Das gleiche gilt für ein Regelungsbegehren, dem noch die Friedenspflicht entgegensteht, es sei denn, beide Parteien sind damit einverstanden, über eine vorzeitige Tarifvertragsänderung zu verhandeln. Werden mit dem Verhandlungsanspruch sowohl zulässige als auch unzulässige Verhandlungsgegenstände geltend gemacht, so besteht eine Verhandlungspflicht nur in bezug auf die zulässigen Themen. Beharrt die fordernde Tarifpartei auf einer Verhandlung über den gesamten Regelungskomplex, so darf die Gegenpartei die weitere Verhandlung ablehnen, bis die unzulässigen Gegenstände zurückgezogen werden. Damit die angegangene Tarifpartei prüfen kann, ob die Voraussetzungen des Verhandlungsanspruchs gegeben sind, muß die verhandlungswillige Partei ihre Tarifforderungen zusammen mit dem Verhandlungsbegehren deutlich erklären. Es genügt allerdings, wenn die Regelungsvorstellungen so weit präzisiert sind, daß die rechtliche Beurteilung der Zulässigkeit möglich ist.
61 Vgl. hierzu instruktiv Konzen (Fn.5), unter III; BAG, Urteil vom 14.11.1958, AP N r . 4 zu § 1 TVG Friedenspflicht. 62 Vgl. oben Fn. 11. 63 Nach Wiedemann/Stumpf, § 1 Rdn. 81, soll für die Voraussetzung der Tariffähigkeit und Tarifzuständigkeit „Glaubhaftmachung" genügen.
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c) Liegen die objektiven Voraussetzungen vor", so ist die Verweigerung der Zuziehung zu Verhandlungen rechtswidrig, falls nicht ausnahmsweise einer der anerkannten Rechtfertigungsgründe eingreift. Auf Verschulden kommt es für die Entstehung des Verhandlungsanspruchs nicht an. 3. Schranken des Verhandlungsanspruchs Der Verhandlungsanspruch unterliegt wie jeder andere Anspruch den allgemeinen Ausübungsschranken des Rechtsmißbrauchs und der Unzumutbarkeit. Es fällt nicht leicht, ohne konkretes Anschauungsmaterial die Schranken näher zu konkretisieren. Rechtsmißbräuchlich könnte es ζ. B. sein, wenn eine Partei ihre Forderungen nicht von vornherein „auf den Tisch legt", sondern sukzessiv mit immer neuen Vorschlägen versucht, die Verhandlungen hinauszuzögern, um aus kampftaktischen Gründen Zeit zu gewinnen. Der Verhandlungsanspruch entfällt nicht dadurch, daß eine Partei an einer friedlichen Regelung nicht interessiert ist und den Arbeitskampf sucht. Der Verhandlungsanspruch entfällt auch nicht dadurch, daß die zur Verhandlung gestellte Forderung für die Gegenpartei wirtschaftlich oder tarifpolitisch „undiskutabel" erscheint. Erfahrungsgemäß werden nämlich die Ausgangspositionen als Maximalvorstellungen ins Feld geführt. Der Sinn von Verhandlungen ist es aber gerade, zu einer Annäherung und vielleicht zu einem Kompromiß zu kommen oder wenigstens festzustellen, wie weit die Regelungsvorstellungen wirklich auseinanderliegen. Eine solche Verhandlung ist für beide Parteien sinnvoll, weil sie ihnen Rückschlüsse auf den Sinn des Einsatzes von Kampfmaßnahmen erlaubt. VII. Zusammenfassung Entgegen der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist ein Verhandlungsanspruch der Tarifvertragsparteien zu bejahen. Mit Rücksicht auf die effektive Wahrnehmung der von Art. 9 Abs. 3 G G garantierten Betätigungsrechte im Tarifbereich muß der verhandlungsberechtigten Partei jedoch eine Wahlmöglichkeit zwischen gerichtlicher Durchsetzung des Verhandlungsanspruchs und alsbaldiger kampfweiser Durchsetzung der konkreten Tarifforderung eingeräumt werden.
M
Nicht erforderlich ist für einen Verhandlungsanspruch, daß die ablehnende Partei eine Monopolstellung besitzt oder daß die betreffenden Parteien schon mehrmals Tarifverträge abgeschlossen haben; ebenso Wiedemann/Stumpf, §1 Rdn. 81. Solche Umstände können im Einzelfall eine zusätzliche Grundlage für einen Verhandlungsanspruch abgeben.
Zur Makulaturproduktion des Gesetzgebers Z u m W a h r h e i t s g e h a l t der K i r c h m a n n s c h e n T h e s e v o n den drei berichtigenden W o r t e n des Gesetzgebers1 HORST SENDLER
I. Zur Vorgeschichte der Juristischen Gesellschaft, repräsentiert durch Kirchmanns Vortrag D i e Juristische Gesellschaft zu Berlin, deren 125jähriges
Bestehen
diese Festschrift feiert, hat eine Vorgeschichte. E i n e r der berühmtesten V o r t r ä g e , d e r w o h l j e d e u t s c h e J u r i s t e n o h r e n e r r e i c h t e u n d „die i l l u s t r e V e r s a m m l u n g zu lautem, ungezügeltem Beifall hinriß"2, wurde bereits i m J a h r e 1 8 4 7 „ g e h a l t e n in d e r J u r i s t i s c h e n G e s e l l s c h a f t z u B e r l i n " 3
-
„ v o r e i n e m P u b l i k u m v o r g e t r a g e n . . . , das lauter gelehrte J u r i s t e n , darunter die höchsten Spitzen der praktischen und theoretischen Jurisprud e n z des L a n d e s u m f a ß t e " 4 . E s w ä r e gewiß interessant, dieser im D u n k e l liegenden V o r g e s c h i c h t e nachzugehen und zu erforschen, o b wir vielleicht berechtigt wären, nicht nur
125 Jahre, sondern deren
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zu
f e i e r n 5 . Z i e l d i e s e s B e i t r a g e s ist d a s n i c h t 6 . E r n i m m t v i e l m e h r j e n e n ' Julius von Kirchmann, Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, hier zitiert nach der Ausgabe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft 1956, S.25. 2 Theodor Sternberg, J . H . v. Kirchmann und seine Kritik der Rechtswissenschaft. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte des Realpolitischen Liberalismus, 1908, S. 11, der S. 12 freilich auch vom Kopfschütteln am nächsten Morgen berichtet und von der „Mißbilligung auch bei denen, die am lautesten applaudiert hatten", sowie von dem alsbald einsetzenden Widerspruch der „zünftigen" Wissenschaft. 3 So im Titelblatt des Vortrags (Anm. 1). 4 So Landsberg in: Stintzing/Landsberg, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, Dritte Abteilung, 2. Halbband, Text S. 740. 5 Zu den Schwierigkeiten, Jubiläen richtig zu datieren, vgl. ζ. B. Hans Günther, Staatsanwaltschaft, Kind der Revolution, 1973, S. 12, der für das Kammergericht vier historisch vertretbare Daten und entsprechend unterschiedlich veranstaltete Feiern nennt, sowie die von Eitelkeiten der verschiedensten Art durchsetzten Diskussionen darüber, wann etwa Trier seine 2000-Jahrfeier zutreffend piaziert. Die Anregung sei erlaubt, solche Feierlichkeiten - wie beim Kammergericht - mehrfach zu veranstalten, indem jeweils andere halbwegs glaubhaft gemachte Daten zugrundegelegt werden. Solch laxer Anregung wird widersprechen, wer historische Daten gern unangreifbar sehen möchte; so wohl mit Recht Friedrich Scholz für Daten jedenfalls von Juristen - „schon gar in eigener Sache" (Mitteilungen des Deutschen Richterbundes Berlin 5/83 S.8 im Beitrag über 125 Jahre Juristische Gesellschaft zu Berlin). ' Wahrscheinlich wäre dies ohnehin vergeblich, da schon Landsberg (Anm. 4) 2. Halb-
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Vortrag des damaligen Staatsanwalts Julius von Kirchmann über „Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft" ganz ungeniert für unsere Gesellschaft in Anspruch. Wir brauchen uns seiner, der als ein Paukenschlag sondergleichen den Reigen der Vorträge begann oder noch unbekannte fortsetzte, und des Mannes, der ihn hielt, wahrhaft nicht zu schämen, obwohl oder gerade weil der Vortrag wie sein Verfasser heiße Diskussionen auslösten und nie unumstritten waren, ja sogar überwiegend negative Zensuren erhielten und der damals 45jährige Kirchmann rund 20 Jahre später cum infamia aus dem preußischen Justizdienst entlassen wurde. Doch auch dem tragischen Schicksal dieses Mannes soll hier nicht nachgegangen werden7. II. Die drei berichtigenden Worte zu ihrer Zeit 1. Kirchmann hat uns in seinem angriffslustigen, brillant und bisweilen boshaft formulierten, scharf pointierten und pointenreichen, von Leidenschaft durchdrungenen Vortrag ein geflügeltes Wort beschert, das gewiß berühmter ist als alles, was später vom Katheder der Juristischen Gesellschaft verkündet wurde: „Drei' berichtigende Worte des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden zu Makulatur" 8 ^ Es hat· die Zeiten überdauert, wird immer wieder in Erinnerung gerufen, gern zitiert, als schmückendes Versatzstück oder als Aufhänger für ähnliche, gegensätzliche oder zustimmende Aussagen verwendet9, und dies, obwohl es im
band, Noten S. 317 zu 2 mitteilt, es sei ihm trotz vieler Bemühungen nicht gelungen, auch nur das geringste über jene ältere Juristische Gesellschaft zu ergründen; er stellt denn auch ebenso apodiktisch wie scharfsinnig fest, daß „diese juristische Gesellschaft nicht die jetzt bestehende sein (kann), da diese erst 1859 begründet ist." Huhn in: Kusserow, Richter in Deutschland, 1982, S. 15 (35) spricht hingegen von „derselben Juristischen Gesellschaft", ebenso Pritzel in Deutschland-Archiv 1983, 1102. 7 Vgl. insbesondere Landsberg (Anm.4) S. 737 und Notenband (Anm.6) S.318 m . w . N . ; Sternberg (Anm.2) S.49ff., 58ff., 193ff. Vgl. weiter z.B. Hattenhauer, Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des deutschen Rechts, 3. Aufl. 1983, Rdn.413 sowie ferner die reichlich polemischen Äußerungen von Huhn (Anm. 6) S.33 ff. 8 A . a . O . (Anm. 1) S.25. ' Vgl. ζ. B. Fritz 'Werner, Recht und Gericht in unserer Zeit, 1971, S. 212; Jörn Ipsen in DVB1. 1983, 1029; Pritzel (Anm.6); Weyreuther, Die Situationsgebundenheit des Grundeigentums, 1983, S. 139; W. Gast, Rechtsverständnis - Nachdenken über das Recht, 1983, S. 149; Sendler in ZRP 1979, 227 (231). Karl Larenz nimmt jenes Wort zum Ausgangspunkt für seine Überlegungen in seinem Vortrag vor der Juristischen Gesellschaft Berlin „Über die Unentbehrlichkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft", 1966, S.7. Ferner z.B. Roxin in ZStW 74, 1962, 515 (519); Hans Welzel, Vom Bleibenden und vom Vergänglichen in der Strafrechtswissenschaft, 1964, S.21 ff.; Erik Wolf, Fragwürdigkeit und Notwendigkeit der Rechtswissenschaft, Freiburger Universitätsreden 1953, hier zitiert nach dem Neudruck der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft 1965, S. 13.
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Gegensatz zu manch anderen Worten, die im „Büchmann"10 ihrem Vergessenwerden zumindest partiell entgegenschlummern, in diesem Handbuch der geflügelten Worte nicht einmal verzeichnet ist. Aber welch Jurist erlebt schon die Sternstunde, Büchmannwürdiges zu produzieren?! Das Wort von der „Makulaturproduktion des Gesetzgebers"" enthält ein „hartes Urteil", wie Kirchmann selbst einräumt 12 . Es stellt eine im Grunde vernichtende Sentenz dar, die die ganze Vergeblichkeit und Sinnlosigkeit der Jurisprudenz widerspiegelt und Ausdruck einer „Frustration" zu sein scheint, wie sie heute eher üblich ist, als man sich dies für die Zeit kurz vor Ausbruch der dann freilich auch fruchtlosen Revolution von 1848 vorzustellen vermag. Aber dieses „tiefe Gefühl der Leere und des Ungenügenden" spricht Kirchmann schon im Beginn seines Vortrages an' 3 . Das Wort in seiner polemischen Zuspitzung übertreibt natürlich, auch wenn sich Kirchmann schon in der Einleitung seiner Ausführungen gegen die Vermutung wehrt, es sei ihm „nur um einen pikanten Satz zu tun gewesen, unbekümmert um die tiefere Wahrheit der Sache"'\ Man mag zwar bezweifeln, ob die tiefere Wahrheit einer Sache mit Ubertreibungen ergründet und zum Vorschein gebracht werden kann; aber bestreiten wird man kaum können, daß die Ubertreibung häufig ein probates Mittel ist, ein Problem zu verdeutlichen und ins allgemeine Bewußtsein zu heben. Die Ubertreibung macht nicht selten den „Witz" eines geflügelten Wortes aus und bewirkt erst seine „Beflügelung" zu einem solchen Wort - freilich gelegentlich auch seine Degenerierung zum Schlagwort. 2. Wie aber steht es um den Wahrheitsgehalt jenes Satzes jenseits der in ihm enthaltenen Ubertreibungen? Die Sentenz dient - belegt mit zahlreichen Beispielen - der bildkräftigen Illustration der Kirchmannschen These von der Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft und spiegelt seine verächtliche Einschätzung der Rechtswissenschaft wider. Sie betrifft damit in erster Linie die Rechtswissenschaftler, die ihren Hervorbringungen naturgemäß nicht gern nachsagen lassen, durch die 10 Büchmann, Geflügelte Worte, 33. Aufl. 1981. Auch H.J.Schoeps, Ungeflügelte Worte - was nicht im Büchmann stehen kann, 1971, berücksichtigt Kirchmanns Wort nicht. " Die Doppeldeutigkeit dieser Formulierung ist mir bewußt und ist beabsichtigt; sie schließt die Möglichkeit ein, daß der Gesetzgeber selbst Makulatur produziert - woran Kirchmann sicher nicht gedacht hat - und nicht nur Professorenweisheit zu Makulatur werden läßt. 12 A . a . O . ( A n m . l ) S.25. 13 A . a . O . ( A n m . l ) S.8. M A . a . O . ( A n m . l ) S.7.
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Tätigkeit des Gesetzgebers zur Makulatur verurteilt zu werden15. Indessen sollte sich auch der juristische Praktiker, insbesondere der Richter, nicht erhaben fühlen oder gar Schadenfreude empfinden angesichts der Schmährede gegen die ihm oft nicht eben gewogene, ihm häufig kritisch oder gar ablehnend gegenüberstehende Wissenschaft; denn die Rechtsprechung kann vom Federstrich des Gesetzgebers ebenfalls desavouiert und - wenn schon vielleicht nicht für die Vergangenheit - so doch für die Zukunft ins Unrecht gesetzt und zur Makulatur gemacht werden. Offen mag hier bleiben, ob jenes Aper?u als Glaubensbekenntnis eines vielleicht nur zeitgebundenen Positivismus anzusehen ist16, ob es im Gegenteil oder paradoxerweise „Anklage gegen den Gesetzespositivismus" 17 erhebt und dabei das wiederum paradox erscheinende Ergebnis erzielt, daß der Vortrag zu einer „Bekenntnisschrift des Gesetzespositivismus" 18 wurde. Wie doppeldeutig jener Satz aber auch sein mag, welche Einstellung, Glaubenshaltung oder Philosophie auch immer hinter ihm steht: Im folgenden sollen sein Wahrheitsgehalt - soweit sich das überhaupt feststellen läßt - und seine Fragwürdigkeit im Vordergrund stehen. Die eben angedeutete Doppeldeutigkeit des Satzes findet sich auch in der Beurteilung der Frage wieder, welcher Wahrheitsgehalt ihm zukommt. Die einen halten ihn für mehr oder weniger zutreffend", andere für falsch20. 15 Übrigens ist es aufschlußreich, daß der Satz immer wieder unterschiedlich zitiert wird; vgl. z . B . Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2.Aufl. 1967, S.415, der von „rechtswissenschaftlichen Bibliotheken" - als (scheinbar) wörtliches Zitat - spricht, oder Erik Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Aufl. 1963, S. 626, bei dem es sich - ebenfalls als wörtliches Zitat - um „Bibliotheken rechtsgelehrter Literatur" handeln soll, obwohl im Original derlei Ergänzungen fehlen. Sollten solche Zitatanreicherungen, die dem Original nach meinem Empfinden etwas von seinem holzschnittartigen Charakter und seiner Schlagkraft nehmen, unterbewußt zugleich für die bedauernswerte Zielscheibe um Mitleid heischen? 16 Werner a. a. O., (Anm. 9). 17 Hattenhauer a. a. O. (Anm. 7) Rdn. 416. Das zeigen ganz deutlich die Ausführungen Kirchmanns a. a. O. (Anm. 1) S. 21 ff. 18 Hattenhauer a . a . O . (Anm. 7) Rdn.416, der meint, dies sei ganz gegen die Absicht Kirchmanns geschehen. Bei Hattenhauer a . a . O . mehr zu der im Text angesprochenen Paradoxie. Auch Welzel, a . a . O . (Anm.9) S.23 meint, Kirchmann habe nur ausgesprochen, was er als notwendige Konsequenz kommen sah, ohne es selbst zu wollen. Zu weiteren Doppeldeutigkeiten des Kirchmannschen Wortes Wieacker a . a . O . (Anm. 15) S. 415 f. Zu den Widersprüchen, zu denen Kirchmann durch seinen im Prinzip positivistischen Geist geführt wurde, vgl. die verständnisvollen Ausführungen bei Sternberg a. a. O . (Anm. 2) S.17ff. " Für eindeutig zutreffend etwa Hattenhauer a. a. Ο. (Anm. 7) Rdn. 416, ähnlich auch Gast a. a. O. (Anm. 9). 20 So etwa Wolf a . a . O . (Anm.9); Wolf meint, der Satz von den drei berichtigenden Worten des Gesetzgebers sei schon zu seiner Entstehungszeit unrichtig gewesen, und läßt
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Ich will hier nicht der mit dem ganzen Vortrag aufgeworfenen und auch mit jenem Satz verneinten Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Aussage nachgehen, daß die Jurisprudenz als Wissenschaft wertlos ist. Das mögen Wissenschaftler tun und haben es wiederholt getan, übrigens vor der hier gefeierten Juristischen Gesellschaft mit der beherzigenswerten Erkenntnis, daß nicht nur die Rechtspraxis ständig der Rechtswissenschaft bedarf, sondern auch diese jener, und daß - frei nach Kant Rechtspraxis ohne Rechtswissenschaft blind sei, aber reine Rechtswissenschaft, ohne ständige Auseinandersetzung mit den Problemen, die aus der Praxis auf sie eindringen, leer21. Diese Erkenntnis schließt nicht aus, daß der in den Bedrängnissen der täglichen Praxis stehende Jurist gleichwohl in der eindeutig negativen Haltung Kirchmanns gegenüber der Rechtswissenschaft einen echten Kern vermutet, weil er viel zu oft von den Abstraktionen weltfremder Wissenschaft enttäuscht oder gar in die Irre geführt wird22. Nicht selten hat der Praktiker den Eindruck, daß das, was ihm zu lesen geboten wird, von vornherein totgeboren und damit Makulatur ist, des Todesstoßes durch den Gesetzgeber also gar nicht mehr bedarf. Insofern braucht man Kirchmann gar nicht zu bemühen und kann dem Gesetzgeber den Vorwurf ersparen, Bibliotheken ihres Wertes zu berauben, weil sie nämlich von vornherein wertlos waren. Makulatur bleibt eben Makulatur unabhängig davon, was ihr der Gesetzgeber antut, was er tut oder unterläßt. Doch auch darum geht es mir hier nicht. Denn niemand, auch und insbesondere der verantwortungsvoll arbeitende praktische Jurist, kann ernsthaft bestreiten, daß ihm die rechtswissenschaftliche Literatur immer wieder wertvolle Hilfen leistet, ihm von ihr manch beherzigenswerte und notwendige Warnung vor Irrwegen zuteil wird, gelegentlich sogar kraftvolle und nützliche Unterstützung23. Ist solche Literatur, die Naserümpfen spüren, weil er „bis heute immer noch mit einer gewissen Beharrlichkeit zitiert" werde. Auch Welzel a. a. O. (Anm. 9) S. 21 vermerkt kritisch, daß sich große Teile der Juristenschaft doch lieber an das Wort Kirchmanns halten. 21 Larenz a . a . O . (Anm.9) S.12. 22 Das dürfte hinter der von Werner a. a. O. (Anm. 9) angesprochenen ständigen Fragestellung der Juristen stehen, „die den Weg aus der Theorie in die Praxis gegangen sind und sich dieser Theorie nur als einer Vorstufe ihres beruflichen Wirkens erinnern". 23 Die Schwierigkeit für den überlasteten Praktiker liegt leider vor allem darin, in knapper Zeit die Spreu vom Weizen sondern zu müssen. Man weiß, daß - milde gerechnet - die gute Hälfte des Lesestoffs der genuinen Makulatur zuzuordnen ist; nur weiß man meist nicht, welche Hälfte man vor sich hat - abgesehen von wenigen glücklichen Fällen einer von vornherein eindeutigen Zuordnung nach der einen oder anderen Seite hin. Der Zeitaufwand, der mit der überwiegend enttäuschenden Sichtung der viel zu reichlichen Produktion verbunden ist, führt dann - psychologisch vielleicht verständlich - bei manchen zu einer gewiß unberechtigten generellen Abwehrhaltung gegenüber aller wissenschaftlichen (oder sich nur wissenschaftlich gebenden) Literatur und zu einem Mißtrauen
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man auch beim besten - oder vielmehr schlechtesten - Willen nicht als originäre, genuine oder ursprüngliche Makulatur bezeichnen kann, der Gefahr ausgesetzt, durch die nächsten drei berichtigenden Worte des Gesetzgebers zur sozusagen dekretierten Makulatur zu werden? 3. Das nun wird man bezweifeln dürfen, und zwar auch schon für die Zeit, da Kirchmann sein Verdikt aus sich herausschleuderte. Kürzlich ist allerdings die Meinung vertreten worden, der Satz von den juristischen Bibliotheken, die durch drei berichtigende Worte des Gesetzgebers zu Makulatur werden, sei zu wahr gewesen, um nicht sofort in das allgemeine Bewußtsein der Zeit einzugehen und seitdem unvergessen zu bleiben24. Das mag richtig sein, soweit solche Literatur Ausdruck der „Anmaßung der wissenschaftlichen Spekulation"25, also von vornherein makulaturverdächtig und nicht lebensfähig war. Aber es gibt eben auch andere Produktionen, die hier vorausgesetzt werden und wohl auch in der Mitte des vorigen Jahrhunderts nicht völlig fehlten. Wer dem Wahrheitsgehalt des Kirchmannschen Wortes blindlings glaubt, überschätzt aber vor allem die Allmacht des Gesetzgebers26. Zu keiner Zeit dürfte sie so hoch zu bewerten gewesen sein, wie der Gesetzgeber selbst und die, die ihm allzusehr vertrauen, manchmal glauben. Gerade auch liberale Geister - zu denen Kirchmann gewiß zu rechnen ist27 - waren sich dessen bald nur allzu bewußt. Nur ein halbes Jahrhundert später äußerte sich Franz Adickes, ein anderer bedeutender Liberaler, wie folgt: „Nur ganz radikal veranlagte Gemüter können glauben und glauben leider in Deutschland mehr als in anderen Ländern, daß mit Beschlüssen und Gesetzen die Welt alsbald umgeschaffen werden kann. Wer in der Geschichte zu Hause ist und wer weiß, wie Ideen ζ. B. auch gegen Festschriften wie der hier belieferten. Nimmt man noch hinzu, daß vieles durchaus Brauchbare allmählich durch Zeitablauf zur Makulatur wird, ohne daß dies wiederum notwendig der Fall zu sein braucht und jedenfalls nicht ohne weiteres erkennbar ist, dann wird man für die Resignation mancher Praktiker gegenüber der Rechtswissenschaft zumindest Verständnis aufbringen müssen. Kirchmann jedenfalls scheint dieser Resignation völlig erlegen zu sein; nach Sternberg a.a.O. (Anm.2) S.21 ist Beselers Volksrecht und Juristenrecht (1843) die letzte bedeutende Erscheinung der juristischen Literatur, deren Kenntnis sich bei Kirchmann nachweisen läßt; Iherings Werke etwa hat er nicht mehr gelesen. 24 Hattenhauer a. a. O. (Anm. 7) Rdn. 416. 25 Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1. Aufl. 1952, S. 245. 26 Sternberg (Anm. 2) S. 27 hat darauf aufmerksam gemacht, daß darin auch eine Uberschätzung des Buches liegt, von dem eben nicht jedes für die Unsterblichkeit und die Ewigkeit gemacht ist. Auch von Büchern darf man nicht zu viel erwarten, wenn man nicht enttäuscht werden will! 27 Vgl. zu seiner Tätigkeit als Liberaler - auch als Abgeordneter der Preußischen Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages - Sternberg (Anm. 2) S. 38 ff., 193 ff.
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und geistige Kräfte sich entwickeln und wie Geistiges sich in Erscheinung, in Leben umsetzt, der weiß, daß alle historische Entwicklung langsam geht"28. Der weiß denn auch, daß der Gesetzgeber solch eine Entwicklung nicht von heute auf morgen bewirken und eben nicht so ohne weiteres ganze Bibliotheken in Makulatur verwandeln kann. Otto Mayer, einer der Väter unserer Verwaltungsrechtswissenschaft, sprach ähnliches wie der eben erwähnte Adickes zu etwa gleicher Zeit aus, daß nämlich „unsere Rechtsordnung unser Los (teilt), aus Freiheit und Notwendigkeit geheimnisvoll zusammengesetzt zu sein"29, und daß „wir eben in der Entfaltung unseres Rechtslebens nicht frei (sind), sondern immer umgeben von ererbten Notwendigkeiten"30. Zu diesem „wir" gehört auch der Gesetzgeber. Auch er kann den Rechtsstoff, den er verwirft oder auf dem er aufbaut, den er neu gestaltet oder verändert, nicht ignorieren; er muß ihn zur Kenntnis nehmen, wägen, erwägen und entscheiden, ob und inwieweit er Bestand behalten kann, inwieweit nicht. Gewiß ist es richtig, wenn Kirchmann konstatiert, nicht jede Rechtsbildung, welche nach einer anderen entstanden ist, sei deshalb aus ihr entstanden31. Aber was nicht für jede Rechtsbildung gilt, ist bei vielen eben doch der Fall. Und selbst dann, wenn eine neue Rechtsbildung nicht aus einer früheren entstanden ist, hat sie jene doch nolens volens zur Voraussetzung, zu der sie sich in Gegensatz stellt, von der sie sich abhebt, um sie „aufzuheben" - häufig im dreifachen Sinne des Wortes, nämlich des Beseitigens, aber auch des Bewahrens und des Höherhebens. λ) So ist es denn nicht verwunderlich, daß die großen Kodifikationen des 19. Jahrhunderts das Material, auf dem sie aufbauten und das sie teils übernahmen, teils korrigierend modifizierten, teils natürlich auch gänzlich verwarfen, nicht auf einen Schlag zu Makulatur werden ließen, so etwa keineswegs die gemeinrechtliche Literatur mit dem Inkrafttreten des BGB 32 . Heute mag sie diesen Zustand, Makulatur zu sein, inzwischen erreicht haben und „nur" noch historisches Interesse erregen33.
Adickes, Stellung und Tätigkeit des Richters, 1906, S.26. Otto Mayer, Justiz und Verwaltung (Rede zum Antritt des Rektorats der Universität Straßburg), 1902, S.3. M Mayer, a . a . O . (Anm.29) S.22; ähnlich Urenz (Anm. 7) S.23f. 31 A . a . O . (Anm. 1) S. 16. 32 Darauf macht Larenz (Anm. 7) S. 8/9 zu Recht aufmerksam. 33 Aber auch insoweit braucht vergangene, „obsolet" gewordene Literatur als „nur" historisch Interessantes noch keineswegs Makulatur zu sein; denn es gibt - wie kürzlich nur leicht übertreibend bemerkt wurde (H. Ohff im Tagesspiegel vom 11.12.1983 S. 57) kaum Faszinierenderes als das Neueste von gestern. 28 M
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Sollte es so sein, so wäre das zwar auch auf den Gesetzgeber zurückzuführen, der eben das B G B an die Stelle des gemeinrechtlichen Zustandes setzte; in gleicher Weise daran schuld wäre aber die inzwischen eingetretene Weiterentwicklung, die erst allmählich Früheres zum Absterben verurteilte und zu Makulatur werden ließ. b) Nach alledem ist gesetzgeberisches Tun nur begrenzt fähig, ganze Bibliotheken zu Makulatur zu verurteilen. Andererseits bedarf es oft gar nicht der Tätigkeit des Gesetzgebers, um ähnliche Ergebnisse zu erzielen. Auch dafür gibt es bereits im 19. Jahrhundert Beispiele. So hat etwa das berühmte Kreuzberg-Urteil des preußischen Oberverwaltungsgerichts aus dem Jahre 1882 34 und der Rückgriff auf die damals bald 100 Jahre alte Vorschrift des § 10 II 17 des preußischen Allgemeinen Landrechts das Ruder im Polizeirecht herumgerissen und der sogenannten polizeilichen Generalklausel erhebliche Schranken gesetzt, ohne daß neue - berichtigende Worte des Gesetzgebers dazu Anlaß gegeben hätten. Binnen kurzem hatte das O V G die herrschende Meinung auf seiner Seite, obwohl gegen die Uberzeugungskraft der Begründung jenes Urteils immer wieder Bedenken angemeldet worden sind35. Das Gericht hatte - und das dürfte entscheidender sein als Mängel der Begründung die allgemeine Rechtsüberzeugung des ausgehenden 19. Jahrhunderts hinter sich 36 . Für das Kreuzberg-Urteil gilt übrigens wie für manch andere gerichtliche Entscheidung, daß nicht selten gerade die falschen oder wenig überzeugend begründeten Urteile revolutionär sind oder jedenfalls Rechtsgeschichte machen; das ist nicht anders als bei anderen historischen Ereignissen: Auch Revolutionen sind aus der Sicht des bisher geltenden Zustandes „falsch" und „rechtswidrig". Jedenfalls waren hier nicht die berichtigenden Worte des Gesetzgebers der Ausgangspunkt einer neuen Entwicklung, die es der Polizei künftig versagte, auf Grund der polizeilichen Generalklausel in - vereinfacht ausgedrückt - Spezialbereichen einzugreifen, die nicht den Kern der öffentlichen Ordnung betreffen; es war eindeutig die Rechtsprechung (mit der alsbald einsetzenden Begleitmusik der Wissenschaft), die auf dem hier genannten Gebiet schon damals die Führung ergriff. Als sie sich verfe-
Preuß. OVGE 9, 353. Vgl. ζ. B. die Nachweise bei Weyreuther, Eigentum, öffentliche Ordnung und Baupolizei, Veröffentlichungen der Gesellschaft Hamburger Juristen, Heft 11, 1972, S. 5. 34 Vgl. Drews/Wacke, Allgemeines Polizeirecht, 7. Aufl. 1961, S. 7 (in der von W. Martens bearbeiteten 8. Aufl. - Gefahrenrecht, 2. Bd., 1977 - S.5 ist diese Passage stark gekürzt) sowie Weyreuther (Anm. 35) S. 18. Auch hier mag der Vergleich mit revolutionären Erscheinungen nicht gänzlich abwegig sein; auch sie pflegen nur erfolgreich zu sein, wenn sie die allgemeine Uberzeugung (mag sie gelegentlich auch verführt sein) hinter sich haben. 54
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stigt hatte, reagierte schließlich auch der Gesetzgeber, weil ihm wohl nichts anderes übrig blieb37, und beschritt den Weg der (polizeilichen) Spezialgesetzgebung38. c) Wenn soeben von „revolutionären" Erscheinungen - hier der Rechtsprechung - die Rede war, so muß man sich gleichwohl darüber im klaren sein, daß auch sie nicht gleichsam frei und voraussetzungslos im leeren Räume schweben. Auch sie sind „umgeben von ererbten Notwendigkeiten". Nicht nur geruhsame Zeiten sozusagen gleichmäßiger und gleichmütiger Gesetzesproduktion sind in sie eingebunden. Auch Zeiten geistiger und revolutionärer Umbrüche sind von solchen Gesetzmäßigkeiten nicht frei. Tocqueville hat dies eindrucksvoll für die französische Revolution geschildert. So fand er „die Wurzeln der gegenwärtigen Gesellschaft tief eingepflanzt im alten Boden" 3 '; und nur scheinbar paradox ist seine Feststellung, daß „die demokratische Revolution, die so viele Institutionen des alten Staates vernichtet hat, diese also befestigen sollte"40. Ahnliches läßt sich nicht nur für die französische Revolution und nicht nur von einem eher konservativen Beobachter, wie es Tocqueville war, feststellen. So ist auch für das Recht der D D R erst kürzlich aufgezeigt worden, daß es bei allen Bemühungen, Neues und Revolutionäres zu schaffen, „noch vielfältig der deutschen Rechtstradition verhaftet ist"41. Keineswegs alles, was revolutionär tabula rasa macht, machen will oder zu machen scheint, führt also notwendig zu so weitgehenden 37 Vgl. Weyreuther (Anm.35) S.25. " Man muß freilich sehen, daß diese Entwicklung nicht nur segensreich war und angesichts des Eifers des Gesetzgebers zu einer spezialgesetzlichen Perfektionierung geführt hat, die wir heute beklagen müssen; vgl. dazu Drews/Wacke (Anm.36) S. 46 ff., stark gekürzt und in der Tendenz entschärft in der 8. Aufl. (Anm.36) S . 4 0 f . 39 Tocqueville, Der alte Staat und die Revolution, Sammlung Dieterich Bd. 232, o . J . S. 4; vgl. zu diesem Phänomen, daß die französische Revolution „nie so neuschöpferisch" war, wie manche behaupten, J. P. Mayer in der Einleitung der erwähnten Ausgabe S. X X V I I f. 40 A. a. O . (Anm. 39) S. 82; vgl. auch S. 249 mit Ausführungen, die sich wie eine nähere Begründung zu dem bekannten Satz von Otto Mayer lesen, daß Verfassung vergeht, Verwaltung aber besteht. 41 H.-D. Kittke, Die Rechte des Käufers beim Erwerb mangelhafter Sachen im Zivilrecht der D D R . Zugleich ein Beitrag zur Problematik des Verbraucherschutzes in beiden deutschen Staaten. Jur. Diss. F U Berlin 1982, S. 152. Zu ähnlichen Ergebnissen für das Verwaltungsrecht gelangt G. Püttner, Zur Entwicklung des Verwaltungsrechts in der D D R , in: Recht, Wirtschaft, Politik im geteilten Deutschland, Festschrift für Siegfried Mampel, 1983, S. 143, insbesondere S. 151 ff., 154 f.; vgl. ferner H.-D.Kittke, Zum Verwaltungshandeln in der D D R , in der eben erwähnten Festschrift S. 157 (160) mit dem Hinweis auf den inneren Zusammenhang mit der seit Otto Mayer eingetretenen Entwicklung.
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Änderungen, wie manche befürchten und andere hoffen. Nicht selten führen Revolutionen denn auch über kurz oder jang zu einer Restauration, die die früheren Zustände - oder schlimmere - wiederherstellt und damit die Bibliotheken, die Makulatur geworden zu sein schienen, wieder fröhliche Urständ feiern läßt. d) Das alles läßt zweifeln, ob der Satz Kirchmanns, der uns hier beschäftigt, jemals mehr war als ein boshaft-witziges Aper9u ohne allzu großen Wahrheitgehalt, ob er nicht vielmehr allenfalls nur sehr partiell gilt und Differenzierungen nicht nur erträgt, sondern fordert. Dennoch würde man Kirchmann wohl Unrecht tun, wollte man die leidenschaftliche Eruption, die in seinem Satz wie anderwärts in seinem Vortrag herausbricht, nur als seichte Geistreichelei abtun. Vielleicht drückt sich in ihm - möglicherweise unterbewußt - auch jene bis weit über die Mitte des vorigen Jahrhunderts als selbstverständlich geltende Auffassung aus, daß der Richter seine Entscheidung - und nicht anders der Rechtswissenschaftler seine Gedankengebäude - als Verstandesakt durch lediglich formale Operationen aus dem Gesetz ableiten könne, daß mehr auch nicht seine Aufgabe, er also nur „Mund des Gesetzes" sei. Wo der Gesetzesanwender - sei es der Richter, sei es der Wissenschaftler mit seinen die Gesetzesanwendung befruchtenden Ideen - nicht viel mehr als Sprachrohr des Gesetzgebers ist, muß er in einer Weise abhängig sein vom Ausspruch des Gesetzes, die alles, was er schreibt, als Geschwätz von gestern erweist, wenn sich der Gesetzgeber zu drei berichtigenden Worten entschließt. Man weiß längst, daß diese Vorstellung vom Richter als Mund des Gesetzes oder gar nur als Subsumtionsautomat 42 wohl niemals zutraf; man muß dahinter einen frommen Selbstbetrug, eine Art „Lebenslüge" des Richters vermuten 43 . Aber auch Kirchmann war sich darüber wohl nicht im unklaren. Die starre Bindung des Richters an das Gesetz, die sein Makulatur-Wort voraussetzt, muß auch ihm durchaus fragwürdig erschienen sein. N u r so läßt sich seine Klage darüber erklären, daß das positive Gesetz „in seiner letzten Bestimmtheit bare Willkür" sei, daß „seine notwendige Einfachheit den Reichtum der individuellen Gestaltung (vertilge)" und „deshalb die Zwittergestalten der Billigkeit, des richterlichen Ermessens" 44 zur Folge habe. Wo aber „richterliches Ermessen" 45 herrscht, kann wohl
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Vgl. dazu D. Merten in DVBl. 1975, 677 (680). Vgl. dazu Sendler in N J W 1983, 1449 (1456). Kirchmann a . a . O . (Anm. 1) S.22. 45 Eine Formulierung, die man heute zumindest da, wo es um Rechtsanwendung geht, überwiegend wohl kaum billigen würde - vielleicht zu Recht, vielleicht aber wiederum als Ausdruck eines Selbstbetruges. 43
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kaum noch vom Richter als bloßem Mund des Gesetzes die Rede sein. Der Ausweg freilich, den Kirchmann weisen wollte, daß man sich nämlich auf das „natürliche Recht" besinnen solle" - was immer das sein mag - , konnte wohl nur ein Irrweg sein; daraus erklärt sich denn auch das Kirchmannsche Dilemma, auf das ζ. B. Hattenhauer*7 aufmerksam gemacht hat. So dürfte der gravierendste Einwand gegen Kirchmann in der Tat darin liegen, daß er zwar auf ein Dilemma aufmerksam gemacht, einen überzeugenden Ausweg aber nicht aufzuzeigen vermochte" und im Grunde nicht mehr bot als „Metaphysik" 4 ', weil er das „natürliche" Recht, wie es im Volk lebt, als „wahres" Recht preist. III. Die drei berichtigenden Worte heute 1. Wie herrlich weit haben wir es hingegen gebracht! Wir verfügen zweifellos über ein weit reicheres Instrumentarium von methodischen Hilfsmitteln für die Gesetzesauslegung, als es zur Zeit Kirchmanns bekannt war50. Ein Gewinn ist es ganz gewiß, daß wir uns des schon erwähnten frommen Selbstbetrugs etwas bewußter geworden sind, als es früher der Fall war, daß wir also um die „Macht" des Richters neben der des Gesetzgebers (oder gar über ihr) wissen, ihre Gefahren wenigstens in gewissem Umfang zu durchschauen vermögen und ihnen deswegen (selbst)kritischer begegnen können als der, der sich dessen überhaupt nicht bewußt ist. 2. Vielleicht haben wir es aber auch zu weit gebracht und uns von der Bindung an das Gesetz zu weit entfernt. Man kann zweifeln, ob die Lockerung der Bindung an das Gesetz, die man immer wieder feststellen muß, angesichts des verfassungsrechtlichen Gesetzesvorbehalts 51 und der ebenfalls verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Bindung des Richters auch an das Gesetz - nicht nur an das Recht (was immer das sein mag) zulässig ist und den Richtern und ihrer Unabhängigkeit guttut; diese wird erst durch die Bindung an das Gesetz in Schranken gehalten,
A . a . O . (Anm.l) S.22f. " A . a . O . (Anm. 7) Rdn.416; dieses Dilemma drückt sich auch in den schon im Text erwähnten Doppeldeutigkeiten sowie darin aus, daß Kirchmann auch dem. positiven Gesetz seine positiven Qualitäten nicht absprechen konnte, vgl. etwa a.a.O. (Anm.l) S.24. 41 So mit Recht Larenz (Anm. 9) S. 10. " S o H.Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4.Aufl. 1962, S. 185 Anm. 12. 50 So mit Recht Larenz a. a. O. (Anm. 7) S. 14 f. Welche Probleme aber auch diese Hilfsmittel noch offenlassen, zeigen etwa die Beiträge von Kriele, Zacher und Bachof in W D S t R L 34, 1976, S. 100 f., 103 f., 105 f. 51 Vgl. dazu z.B. Ch.Starck in W D S t R L 34, 1976, S.81. 44
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dadurch „erträglich" und legitimiert 52 . Es mag sein, daß die Klage berechtigt ist, Kirchmanns Makulaturthese werde zu beharrlich und zu unüberlegt zitiert 53 . Aber man wird schwerlich behaupten können, daß die Gesetzesgläubigkeit des Richters heute zu groß sei und seine Bindung an das Gesetz übertrieben werde. a) Das kann man auch daran erkennen, in welcher Weise Kirchmann heute zitiert oder vielmehr verfremdet und mit kleinen Nuancen sein W o r t eher ins Gegenteil verkehrt wird. Nicht der Gesetzgeber ist es mehr, dessen Worte Makulatur bewirken, sondern drei berichtigende Worte des Bundesverfassungsgerichts54. Oder es bedarf nur dreier berichtigender Worte der Gesetzesauslegung, um eine eigentumsrechtliche Auseinandersetzung zu Makulatur werden zu lassen55. Legt man solche Formulierungen zugrunde, so ist der Gesetzgeber kaum mehr als der Stichwortgeber, der das Rohmaterial liefert, das seine Interpreten mehr oder weniger frei gestalten oder gar „verfälschen". Es ist heute nicht selten, daß „dem Gesetzesbefehl in Teilen widersprochen" 56 wird manchmal auch zur Gänze - oder „die unmittelbare Ablehnung eines Gesetzesbefehls durch die Judikative angesichts divergierenden Gerechtigkeitsverständnisses" 56 konstatiert werden muß. Wer den Schaden hat, braucht überdies für den Spott nicht zu sorgen. So muß ich mich schuldig bekennen, mancher Schöpfung des Gesetzgebers nachgesagt zu haben, sie zwinge nachgerade zur Produktion von Makulatur 57 , weil sie sozusagen von der Hand in den Mund gefertigt, nur für kurze Zeit in Geltung gesetzt oder eilfertig bald wieder aufgehoben oder geändert sei. Kurz: Der Gesetzgeber - zuzeiten Kirchmanns (freilich auch nur scheinbar) allmächtig, aber jedenfalls als allmächtig im großen und ganzen gläubig hingenommen - ist heute depossediert. In aller Unschuld, aber auch in aller Selbstverständlichkeit hat der Bundesgerichtshof vor beinahe 20 Jahren warnend den Zeigefinger erhoben und ausgesprochen,
52 Zu dieser Problematik Sendler (Anm. 43) S. 1457 m. w. N.; weiter Starck (Anm. 51) S. 48, 68 f. m. w.N. sowie G.Roellecke in DRiZ 1983, 258 (262) zur Selbstgefährdung des Richters durch allzu offene Abweichung vom Gesetz. 53 So Erik Wolf a. a. O. (Anm. 9) S. 13 und H. Welzel (Anm. 9) S. 21/22. 54 Jörn Ipsen in DVB1. 1983, 1029. 55 Weyreutber, Die Situationsgebundenheit des Grundeigentums, 1983, S. 139. 56 Schramm in NJW 1983, 855 (856). Die Judikatur der obersten Gerichte gegen das Gesetz ist Ausgangspunkt der Betrachtungen von G. Roellecke über die Bindung des Richters an Gesetz und Verfassung in W D S t R L 34, 1976, S. 8. 57 Sendler in ZRP 1979, 227 (231). Ich möchte nicht versäumen, selbstkritisch einzuräumen, daß ein solcher Spott über das Treiben des Gesetzgebers besonders verwerflich ist, dies zumal deswegen, weil im Kontext meiner damaligen Bemerkungen die ζ. T. unausweichlichen Schwierigkeiten des Gesetzgebers zugegeben werden mußten, also dem Spott zu allem Uberfluß auch noch die Ernstlichkeit fehlte.
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eine gesetzliche Regelung werde „möglicherweise mit der Rechtsprechung zur Enteignungsentschädigung nicht in Einklang zu bringen sein"58. Es ist leider sehr die Frage, ob wirklich noch allgemein für zutreffend gehalten wird, was dem eben genannten Urteil grimmig nachgerufen wurde: „Noch gilt, daß die Rechtsprechung sich im Einklang mit dem Gesetz zu halten habe" - und nicht umgekehrt5'. b) Freilich kann man die eben zitierten Adaptionen des Kirchmannschen Wortes an die Gegenwart ebensowenig wörtlich nehmen wie dieses selbst. Die bloße Änderung einer Gesetzesauslegung60 braucht noch längst nicht zu bedeuten, daß die bisherige Interpretation damit zur Makulatur wird. Manchmal sogar im Gegenteil: Die Vertreter der Gegenmeinung werden häufig das bisher Geschriebene, soweit es nur etwas Gewicht hat, ins Feld zu führen versuchen, um die Änderung wieder rückgängig zu machen oder wenigstens zu modifizieren. Wer die Schwankungen höchstrichterlicher Rechtsprechung kennt, weiß, daß solche Bemühungen nicht von vornherein erfolglos zu sein brauchen. Instanzgerichte und natürlich auch die Wissenschaft sind häufig aufmüpfiger, als es den obersten Gerichten lieb sein mag; der Rechtsentwicklung wird dies freilich in aller Regel kaum zum Schaden gereichen. Es ist ähnlich wie mit den berichtigenden Worten des Gesetzgebers: Rechtspolitisch braucht das, was im früheren Recht geschrieben stand, noch längst nicht Makulatur zu sein und kann untergründig durchaus fortwirken; ebenso mag das Auslegungsmaterial, das frühere Rechtsprechung geliefert hatte, wieder Bedeutung gewinnen. Was die berichtigenden Worte des Bundesverfassungsgerichts anlangt, so haben sie gerade in dem Zusammenhang, in dem sie apostrophiert worden sind, wohl nur wenig zu Makulatur werden lassen, nämlich im Bereich der Enteignung, des enteignungsgleichen Eingriffs und der Staatshaftung61. Eher haben sie dafür gesorgt, daß neue Bibliotheken (natürlich keine Makulaturbibliotheken) entstehen. Ein klein wenig mag allerdings durch die Feststellung der Verfassungswidrigkeit des Staatshaftungsgesetzes zu Makulatur geworden sein, so die nur wenigen Kommentare und die das (scheinbare) Inkrafttreten begleitende Aufsatzliteratur, welch letztere meist ohnehin als Einführung nur für den Tag geschrieben ist und nur für kurze Zeit bedeutsam sein kann, also eine Art genuine Makulatur repräsentiert. Was aber durch jenen Federstrich des Bundesverfassungsgerichts wirklich Makulatur geworden sein sollte,
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Urteil vom 5.7.1965 - III ZR 173/64 in N J W 1965, 1907 (1910). ' D.Haas in N J W 1965, 2196 (2197). Siehe Weyreutber in Anm. 55. " Siehe Ipsen in Anm. 54. 5
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erweckt ein Mehrfaches an nur scheintoter Makulatur wieder zu kraftvollem Leben, nämlich all jenes, was durch das Staatshaftungsgesetz zu Makulatur geworden zu sein schien. Zudem muß man füglich daran zweifeln, ob die vom Bundesverfassungsgericht festgestellte Verfassungswidrigkeit des Staatshaftungsgesetzes überhaupt Makulatur hinterlassen hat. Denn dadurch ist das Gesetz zwar seiner nur scheinbaren Geltung definitiv entkleidet, aber als Faktum (samt der dazu entstandenen Kommentarliteratur) natürlich nicht beseitigt worden; es vermag also (samt der eben erwähnten Literatur) hervorragend dem künftigen Gesetzgeber und seinen schreibenden Ratgebern als Materialsteinbruch - und also gerade nicht als Makulatur - zu dienen. Wenn schließlich ein späteres Staatshaftungsgesetz - diesmal vielleicht von Bund und Ländern zusammen, also in zwölffacher Ausfertigung erginge, so stünde diesem eine vermehrte Materialfülle als Auslegungshilfe, also wiederum nicht als Makulatur, zur Verfügung; und sollte gar auch ein solches Gesetz in zwölffacher Gestalt vor dem Bundesverfassungsgericht keine Gnade finden, so könnte das Spiel von neuem beginnen, und neue Bibliotheken würden sich füllen. Der Umstand, daß manches zu Makulatur wird, gebiert also neue Bibliotheken. Auch das beweist der Aufsatz von I p s e n 6 1 a zur Frage der Zukunft des enteignungsgleichen Eingriffs, einer Zukunft, deren Gestaltung naturgemäß die Fülle dessen, was dazu seit seiner Erfindung durch die Rechtsprechung gedacht und geschrieben worden ist, sichten und teils übernehmen, teils verwerfen, teils modifizieren muß. Wer von den vielen, die diese Fülle geschaffen haben, wird schon glauben, gerade sein weiterführender Beitrag sei Makulatur geworden? Die zahlreichen Beiträge zur Frage des Fortlebens des enteignungsgleichen Eingriffs - sei es auch in anderer Verpackung und unter anderer Bezeichnung - oder seines Todes durch den Naßauskiesungsbeschluß des Bundesverfassungsgerichts62 dürften wohl schwerlich auf Makulatur basieren. Kann denn Makulatur sein, was einen so lebhaften Streit darüber auslöst, ob es Makulatur sei? Im allgemeinen ist jedenfalls ziemlich munter, was imstande ist, Meinungsverschiedenheiten der erlauchtesten Geister der Juristenzunft zu provozieren. 3. a) Die vorstehenden Ausführungen würden mißverstanden, wollte man ihnen entnehmen, daß heute das Regime über die Erzeugung von Makulatur nach wie vor oder zumindest in erster Linie beim Gesetzgeber liege und nicht bei anderen Instanzen. Denn trotz der vorstehend gemachten Einschränkungen bleibt es richtig, daß heutzutage die Kompetenz-Kompetenz zur Bestimmung dessen, was gilt oder nicht gilt, "* Ipsen a . a . O . ( A n m . 5 4 ) . 62 B V e r f G E 58, 300.
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nicht oder nur bedingt beim Gesetzgeber liegt, sondern recht deutlich von den Gerichten in Anspruch genommen wird. Die zu 2 a wiedergegebenen Anpassungen des Kirchmannschen Wortes an die derzeitigen Gegebenheiten kennzeichnen im Prinzip durchaus zutreffend den Wandel. Seinerzeit hatte - wenigstens scheinbar und jedenfalls in der Theorie - der Gesetzgeber das letzte Wort. Inzwischen hat sich das im Laufe einer lange dauernden Entwicklung nachhaltig geändert. Ihren ersten Höhepunkt erreichte sie in der Weimarer Zeit und provozierte bereits damals das böse Wort von der „Gesetzesdämmerung"'3; man hielt die „Befreiung des Richters von der vorbehaltlosen Unterwerfung unter das Gesetz für das einzige staatsrechtliche Mittel, um das Recht gegen den Absolutismus des Parlaments und der Mehrheit sicherzustellen"". Heute ist das in der Weimarer Zeit noch äußerst umstrittene materielle Prüfungsrecht der Gerichte gegenüber den Gesetzen verfassungsrechtlich abgesichert, allerdings durch das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts für nachkonstitutionelles formelles Gesetzesrecht ein klein wenig kanalisiert. Der Gesetzgeber ist der'Verfassung unterworfen, von der die Richter und letztlich das Bundesverfassungsgericht sagen, welchen Inhalt die notwendig weiten Verfassungssätze haben". Damit ist auch der Gesetzgeber Abhängigkeiten unterworfen, von denen er zur Zeit Kirchmanns noch frei war. Mit diesen verfassungsrechtlichen Bindungen des Gesetzgebers und seiner Unterwerfung unter die richterliche Gewalt ist ein „grundlegender Wandel im Selbstverständnis des Gesetzgebers"" verbunden. Er ist nicht mehr souverän und fühlt sich denn auch nicht mehr souverän. Ebenso hat sich das Selbstverständnis des Richters entsprechend seinem Machtzuwachs geändert; er neigt gelegentlich dazu, sich von den Worten des Gesetzes mehr oder weniger weit zu entfernen und sie nur noch als Ausgangs- und Anhaltspunkte für eigene auch abweichende Überlegungen zu benutzen. Überspitzt formuliert: Der Gesetzgeber hat seine Unschuld und seine Unbefangenheit, der Richter seine Skrupel verloren. Das ergibt eine nicht eben stets bekömmliche Mischung und führt zu Ungleichgewichtigkeiten, wie sie sich in den erwähnten Anpassungen
" James Goldschmidt in der Überschrift seines Beitrages JW 1924, 245 zu der Erklärung des Richtervereins des Reichsgerichts zur Aufwertungsfrage, hier zitiert nach dem Abdruck in: Zur Problematik der höchstrichterlichen Entscheidung, hrsg. von G. Roellecke, 1982, S. 76. M Goldschmidt (Anm. 63) S. 89. 65 Dies in Anlehnung an den bekannten Satz von Hughes, dem ehemaligen Richter am US-Supreme Court; dazu und zu den Vorbehalten gegenüber der unbesehenen Übernahme in unser Rechtssystem D. Merten a. a. O. (Anm. 42) S. 677. 66 Herzog in Maunz/Dürig/Herzog, Grundgesetz, Rdn. 20 zu An. 97.
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des Kirchmannschen Satzes an die Gegenwart und damit praktisch in seiner Umkehrung niederschlagen. b) Der Autoritätsverlust des Gesetzgebers ist über seine verfassungsrechtliche Bedingtheit hinaus freilich auch teilweise selbst verschuldet. Allerdings ist dieses Verschulden im ganzen wohl doch geringer, als es in den häufigen Vorwürfen, die das Versagen des Gesetzgebers anprangern, zum Ausdruck kommt. Immerhin ist „die Kunst, gute Gesetze zu machen" 67 , etwas in Verfall geraten. „Geschwätz statt Regelung" wird dem Gesetzgeber (zu §626 BGB) nachgesagt 68 . Es soll Vorschriften geben, deren „einzige produktive Produktion es offenbar ist, eine eigene fortlaufende Novellierung unumgänglich zu machen" 6 ' und damit das kleine Wunder zu vollbringen, im Wege der Selbstzeugung immer wieder sich selbst zu produzieren, freilich nur aus Makulatur stets neue Makulatur. Man wird erinnert an Thomas Manns Schilderung des Taufpredigers im Gesang vom Kindchen: „Wußt' er nicht weiter, so sagte er gar nichts und redete dennoch, Wort erzeugend aus Wort, wie es Predigerübung und -kunst ist." Diese Kunst, mit einem Schwall von Worten zu verschleiern, daß nichts gesagt und geregelt wird, ist in manchen Gesetzesvorschriften bis zum Perfektionismus entwickelt worden 70 . Auch dafür müssen wenige Beispiele genügen. §626 BGB wurde bereits erwähnt. §§34 und 35 BBauG sowie große Teile des Städtebauförderungsgesetzes sind weitere gute Beispiele für diese schlechte Sache. Aus einer relativ schlanken Vorschrift von wenigen Zeilen - so §34 BBauG - und aus einer immerhin übersichtlichen Regelung - so §35 BBauG - sind mehrere Druckseiten füllende monströse Gebilde entstanden. Die Novellierungen waren veranlaßt u. a. durch eine dem Gesetzgeber unangemessen
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Darüber schon ]. W. Hedemann in Festschrift für Otto Gierke, 1911, S.305. So K. Adomeit, Uber einige Schwierigkeiten, Arbeitsrechtler zu sein, in Festschrift f ü r M. L. Hilger und H . Stumpf, 1983, S. 1 (7) zur Neufassung des § 626 BGB vom Jahre 1969; seitdem fällt es Adomeit nach eigenem Bekenntnis schwer, „mit dem Gesetzgeber und seinen Produkten anders als satirisch umzugehen". Vgl. weiter z. B. Redeker in DVB1. 1982, 130 (133), der von der „Weitschweifigkeit der neuen Bestimmungen" der Novelle zum BBauG und allgemein von der ungewöhnlichen und unjuristischen Beredsamkeit des Gesetzgebers spricht. " Adomeit (Anm. 68) S. 8 zu § 613 a BGB. 70 Auch hier liegt die Analogie zu einem literarischen Beleg nicht ganz fern: Peter Hacks läßt seine (verbitterte) Frau von Stein über den abwesenden Herrn von Goethe sagen: „Er kann gar nichts, das allerdings hervorragend". Manche könnten meinen, der Gesetzgeber sage gar nichts, das allerdings hervorragend. Ganz Boshafte könnten sich an Odön von Horvatb erinnert fühlen, der seine Karoline in „Kasimir und Karoline" verdutzt-eingeschüchtert sprechen läßt: „Ich denke ja gar nichts, ich sage es ja nur". 68
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erscheinende Rechtsprechung71. Gleichwohl stellen sie, wenn schon nicht mehr oder weniger hilflose, so doch wohl nicht sonderlich gelungene Reaktionen dar, wobei man freilich alsbald die Schwierigkeiten einräumen muß, denen der Gesetzgeber gegenübersteht, wenn er einer verbal ihrerseits mit unbestimmten Rechtsbegriffen arbeitenden72 und stark aufgefächerten Rechtsprechung eine andere Richtung geben will; wenige Worte werden ihm gegenüber der wortreichen Dialektik der Rechtsprechung nicht ausreichend erscheinen; und viele Worte können - ebenso wie viele Köche - sehr leicht den Brei verderben. Jedenfalls hat eine Fülle wohlklingender unbestimmter Rechtsbegriffe75, die alle versammelt waren zu dem nahezu einzigen Zweck, die Rechtsprechung zu korrigieren, - neben der mit fast jeder Gesetzesänderung zunächst verbundenen Verunsicherung - nach einer erst kürzlich geäußerten Meinung nicht viel mehr bewirkt, als daß die neue Vorschrift fast ebenso ausgelegt wird wie die alte74. Nicht umsonst hat Kirchmann von nur drei berichtigenden Worten des Gesetzgebers gesprochen. Die tiefe Weisheit, die darin verborgen liegt, scheint verlorengegangen zu sein oder jedenfalls nicht mehr beherzigt zu werden: Was wenige Worte vielleicht - erreichen mögen, schaffen drei mal 30 oder gar sieben mal 70 nimmermehr. Die Wirkungslosigkeit so mancher gesetzgeberischer Taten mag auch darin begründet liegen, daß man vom Gesetzgeber kaum mehr erwartet als die wortreiche Festschreibung oder allenfalls geringfügige Korrektur von Richterwertungen. Wie sehr sich die Verhältnisse auch insoweit gegenüber dem vergangenen Jahrhundert geändert haben, zeigt die wohl symptomatische Fragestellung, „inwieweit die Gesetzgebung über den de facto Nachvollzug von Richterwertungen auch theoretisch an diese 71 Vgl. z . B . G. Schmidt-Eichstaedt in J Z 1978, 12 mit der bezeichnenden Abschnittsüberschrift: „Uber die Folgen einer Korrektur des Gesetzgebers durch die Rechtsprechung". 72 So war nach der Rechtsprechung ein Vorhaben „nach der vorhandenen Bebauung und Erschließung unbedenklich" - so der Wortlaut des Gesetzes - , wenn es nicht in einem „bodenrechtlich relevanten Widerspruch" zur vorhandenen Bebauung stand. Wie wenig durch solche Umschreibung an Konkretheit gewonnen wird, zeigt die Bemerkung von Bachof a. a. O. (Anm. 50) S. 106. 73 Vgl. z . B . H.Maassen in N J W 1979, 1473 (1474). 74 So zu § 3 4 BBauG die zwar überzeichnete, aber wohl doch nicht ganz falsche Charakteristik von W. Lenz in ZRP 1983, 300 (301). Legt man die grundlegende Entscheidung in BVerwGE 55, 369 zugrunde (vgl. dazu die scharfe Kritik von Redeker in N J W 1978, 2567), so kann man trotz des verbalen Anerkenntnisses a . a . O . S.379, daß der Gesetzgeber die Genehmigungsanforderungen anheben wollte, die Einschätzung von Lenz wohl kaum für verfehlt halten. Die spätere, dem Außenstehenden vielleicht nicht stets als geradlinig erscheinende Rechtsprechung hat insofern aber die Zügel wohl etwas angezogen (vgl. etwa Urteil vom 4. 7.1980 - 4 C 101.77 - in Buchholz 406.11 § 3 4 BBauG Nr. 72).
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zu binden" sei". Werden solche Fragen erst einmal gestellt, dann versteht sich die Antwort beinahe von selbst: Nicht der Richter ist mehr an die Gesetzgebung gebunden, sondern diese an jenen. c) Was in der Tat manchmal so aussieht, ist dennoch nicht richtig. Das Grundgesetz schreibt nach wie vor und mit Recht die Bindung des Richters an das Gesetz vor, auch wenn diese Bindung relativiert sein mag durch die gleichzeitige Bindung an das „Recht", eine Bindung, deren Bedeutung zu klären eine Fülle von Schrifttum versucht, das zumindest schon halbe Bibliotheken verstopft. Wie auch immer diese Bindung an das Recht im einzelnen zu verstehen ist 7 ': Die grundsätzliche Bindung an das Gesetz kann dadurch nicht in Frage gestellt und in einen Ausnahmetatbestand verfälscht werden. d) Dennoch kann der Gesetzgeber gut daran tun, sich durch die Rechtsprechung gleichsam „vorarbeiten" zu lassen und deren Ergebnisse, sofern sie ihm einleuchten, zu übernehmen und ihnen durch „Ratifizierung" sozusagen Dauer und Rechtssicherheit zu verleihen. Auch dafür gibt es in der Vergangenheit Vorbilder. So ist der Gesetzgeber ζ. B. beim preußischen Polizeiverwaltungsgesetz verfahren, in dem er eine rund 50jährige Rechtsprechung des preußischen Oberverwaltungsgerichts in eine damals wohl allgemein gebilligte gesetzliche Form goß. Als neueres Beispiel verdient das Verwaltungsverfahrensgesetz Erwähnung. Es fußt in weiten Teilen auf den Ergebnissen der Rechtsprechung. Aber dieses Gesetz ist schon ein Beispiel dafür, daß die Übernahme der Rechtsprechung allein kaum genügen kann, weil damit die Gefahr verbunden ist, daß das Gestern der Verwaltung zur Richtschnur genommen und zu wenig den Bedürfnissen der Gegenwart und überschaubaren Zukunft Rechnung getragen wird77. Die Tätigkeit des Gesetzgebers „verlangt nicht nur Sammeleifer" bei der Sichtung und gesetzgeberischen Bestäti75 So D.Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, 1975, S. 132. Vgl. zur Tendenz, richterliche Entscheidungen durch Rückgriff auf das Verfassungsrecht gleichsam gesetzesfest zu machen, G. Roellecke a. a. O . (Anm. 52) S. 2 6 1 ; in dieser Richtung auch G. Pfeiffer im Spiegel-Gespräch N r . 29/1983 S. 31 dazu, daß sich Vorschläge zu Änderungen der StPO an den von der Rechtsprechung entwickelten „Verfahrens- und verfassungsrechtlichen Grundsätzen messen lassen müssen". 76 Vgl. etwa G. Roellecke a. a. O . (Anm. 56) S. 9 f.; D. Merten a.a.O. (Anm. 42) S. 680. 77 Vgl. etwa die recht deutliche Kritik von W.Schmitt Glaeser in: Verwaltungsverfahren, Festschrift zum 50jährigen Bestehen des Richard Boorberg Verlags, 1977, S. 1 (29 ff.), der in diesem Gesetz einen „Katalog der Versäumnisse und der verpaßten Chancen, ein Programm der falschen Weichenstellungen" (S. 45) sieht; vgl. auch andere kritische Beiträge in dieser Festschrift, so z . B . Kopp S. 159 (182/83); Pestalozza S. 185ff., der die Bedeutung der Vorschriften über den Untersuchungsgrundsatz weniger in der Rechtserneuerung, als in der Rechtssicherung sieht. Siehe schließlich neuestens W. Henke in DVBl. 1983, 1247.
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gung der Rechtsprechung, sondern „setzt auch Bereitschaft und Mut zur Entscheidung voraus"78. Es ist meist nicht damit getan, Streitiges und Problematisches auszusparen und wiederum der Rechtsprechung zur weiteren Klärung zu überlassen, auch wenn man zugeben muß, daß die Reduzierung des Streitigen durch den Gesetzgeber bereits Gewinn bringen kann. e) Wie wenig der Steuerungskraft des Gesetzgebers und der Selbstbescheidung des Richters heute zugetraut wird, zeigen die skeptischen Fragen, die - im Zusammenhang mit der in Aussicht -genommenen Neuregelung des Schuldrechts - gestellt worden sind, sich aber vor jedem Tätigwerden des Gesetzgebers stellen lassen. Dies gilt insbesondere für die Frage, ob die beabsichtigte Annäherung von Gesetzestext und praktisch gehandhabtem Recht illusionär bleiben müsse, „weil sich zumindest die höchstrichterliche Praxis niemals davon abhalten lassen wird, nach ihrer Ansicht offene Fragen so zu entscheiden, wie sie es bei fallbezogener Interessenbewertung für richtig hält"79. Gleichwohl sollte man die Hoffnung nicht aufgeben, daß die Reizschwelle, die ein neues, vom demokratischen Gesetzgeber verantwortetes Gesetz für die Entwicklung neuen Richterrechts bildet, höher sein kann (und muß) als die Hemmungen, die von einer veralteten und durch die veränderten Verhältnisse überholten Regelung oder gar von einem ungeregelten Zustand ausgehen80. 4. Das setzt freilich eine Besinnung darauf voraus, daß der Richter keinen politischen Auftrag hat, daß „sich politische Zielsetzungen oder Forderungen in aller Regel nicht mit Verfassungsgeboten identifizieren (lassen)" und daß „der Kampf und die Auseinandersetzung um politische Ziele und Forderungen in einer funktionierenden demokratischen
78 So mit Recht Pestalozza (Anm. 77) S. 203. An die Pflichten des Gesetzgebers erinnert mit Recht auch Starck a. a. O. (Anm. 51) S. 88. 79 Η. P. Westermann in ZRP 1983, 249 (257); das läuft - etwas pointierter formuliert auf ähnliches hinaus wie das in BVerfGE 34, 269 (290) Gesagte (wo aber doch wohl der „Intervention des Gesetzgebers" der Vorrang gegeben wird). Die weitere, von Westermann aufgeworfene und zurückhaltend bejahte Frage, ob eine Neuschaffung des Schuldrechts mehr sein könne „als ein Zwischenstadium in einer fortschreitenden, nur vom Leben und bestimmten unter Entscheidungszwang stehenden Personen gesteuerten Evolution", erinnert an ähnliche Überlegungen Kirchmanns (Anm. 1) S. 22, daß das positive Gesetz starr sei, das Recht hingegen fortschreite und deshalb die - unterstellte - Wahrheit des Gesetzes mit der Zeit zur Unwahrheit werde, mit der Schlußfolgerung S. 23, daß nicht bloß die Gegenwart - wie Savigny gemeint hatte - , sondern keine Zeit den Beruf zur Gesetzgebung habe. 80 So zutreffend Westermann (Anm. 79); eine solche Überlegung liegt wohl auch der Entscheidung des BVerfG a. a. O. (Anm. 79) zugrunde.
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Ordnung grundsätzlich politisch geführt werden (müssen)"81, also grundsätzlich nicht mit den Mitteln des Rechts, auch nicht des Verfassungsrechts ausgefochten werden dürfen. Die Neigung dazu ist allerdings allgemein weit verbreitet; man hat fast den Eindruck, als bestünde ein Konsens darüber, es müsse nachgerade so sein, daß die Gerichte allüberall das letzte Wort haben82; und man darf sich nicht wundern, wenn sich ein solcher „Zeitgeist" auch des Richters bemächtigt und ihn zu einer Einstellung verführt, die ihn überfordern muß und letztlich seine Unabhängigkeit in Frage stellen kann83. Auch für Politiker empfiehlt sich daher, dieser ihrer Neigung zu steuern, politische Kämpfe in Rechtsstreitigkeiten umzufrisieren und mit anderen Mitteln fortzusetzen; denn das muß notwendig ihren politischen Einfluß, das Gewicht des Gesetzgebers und seiner Worte mindern und just das herbeiführen, was sie zu verhindern bestrebt sein sollten: nämlich ein unangemessenes Ubergewicht des richterlichen Elements zumal in politischen Auseinandersetzungen. Den Richter zu mehr Zurückhaltung und Bescheidenheit zu veranlassen, wird schwerfallen, wenn er nur zu gern für das - in den Formen des Rechts ausgetragene - politische Gefecht in Anspruch genommen wird. Auf der Seite des Gesetzgebers setzt dies mehr Mut zur Verantwortung und zur Entscheidung voraus, mehr Verzicht auf verkleisternde Formelkompromisse, die die Entscheidung bequem an die Gerichte weiterschieben und diesen letztlich die drei - oder leider regelmäßig sehr viel mehr - berichtigenden Worte überlassen. Dazu gehört auch Mut zur Vereinfachung, ja sogar Mut zur Lücke in dem Sinn, daß davon abgesehen wird, jeden einzelnen Fall in allen seinen Verästelungen mit Ausnahmen und Ausnahmen von Ausnahmen in die gesetzgeberische Regelung einbeziehen zu wollen. Weiter ist Mut erforderlich zur Delegation, also Mut dazu, die Exekutive als untergesetzlichen Normgeber mit Ermächtigungen zu versehen, und bei dieser den Mut, solche Ermächtigungen auch auszufüllen. Schließlich bedarf der Gesetzgeber der Gelassenheit und sollte sich mehr als bisher frei halten von der Hektik und der kurzatmigen Geschäftigkeit, mit der er Novellierung an Novellierung reiht84. 5. So mündet dies alles ein in die nicht endenwollende und bisher wenig ertragreiche Diskussion über die Normenflut. Die Überfülle der Nor81
K.Hesse in: Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von E.Benda u.a., 1983, S.26; vgl. auch R. Wahl in Der Staat 20, 1981, 485 (514f.). 82 Was gegenseitige Beschimpfungen, als zum Ritual gehörend, nicht ausschließt, wenn man vor Gericht zieht, um dort den politischen Krieg mit anderen Mitteln weiterzuführen. 83 Vgl. oben Anm.52. " Vgl. im einzelnen Sendler a. a. O . (Anm. 57) S. 229 ff.
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men hat paradoxerweise dazu geführt, daß das Wort des Gesetzgebers an Gewicht und Leitlinienfunktion eingebüßt und damit die - ihm auch früher nur in Maßen zu Gebote stehende - Kraft nahezu gänzlich verloren hat, ganze Bibliotheken in Makulatur zu verwandeln. Sie zurückzugewinnen, wird nicht leicht sein. Man darf nicht zu schnell greifbare Ergebnisse erwarten. Eine Entwicklung, die sich seit dem Ausspruch Kirchmanns in über einem Jahrhundert vollzogen hat, läßt sich nicht binnen kurzem korrigieren. Aber man sollte den Mut nicht sinken lassen und die Hoffnung nicht aufgeben. Es gibt gewiß auch jetzt Gesetze, die sich sehen lassen können85. Aber prägend für das Bild, das die derzeitige Produktion des Gesetzgebers bietet, sind sie nicht. Deswegen muß auf längere Sicht ein Wandel eintreten. Dabei geht es nicht darum, die Allmacht des Gesetzgebers zu beschwören oder anzustreben, wie sie der Ausspruch Kirchmanns zu repräsentieren scheint. Die Perversion jedoch, die das Wort Kirchmanns in der Gegenwart erfahren hat, müßte der Korrektur fähig sein; die Macht des Gesetzgebers und die Macht des Richters sollten in ein ausgewogeneres Verhältnis gelangen, als es derzeit der Fall ist86.
85 Adomeit (Anm. 68) S. 7 erwähnt das nun freilich schon über 30 Jahre alte Tarifvertragsgesetz; das Bundesbaugesetz war in seiner Erstfassung für seine Zeit - im Gegensatz zu dem geschwätzigen Städtebauförderungsgesetz - gewiß ein großer Wurf. Das vielgescholtene Bundes-Immissionsschutzgesetz ist jedenfalls nicht so schlecht, wie es oft gemacht wird; man darf nicht vergessen, daß der Gesetzgeber völlig neuartige Probleme in Angriff nahm und dafür durchaus Respekt verdient. 86 Wenn hier für ein ausgewogeneres Verhältnis plädiert wird, dann schließt dies als selbstverständlich ein, daß es ohne Richterrecht nicht geht (vgl. dazu knapp und zutreffend Th. Dieterich u. a. in Festschrift für M. L. Hilger und H. Stumpf, 1983, S. V; sowie Starck a . a . O . (Anm.51) S.69f. Für eine solche Ausgewogenheit zwischen Gesetzgeber und Richter auch Starck (Anm. 51) S. 141. Eindeutig gegen Ausuferungen des Richterrechts neuestens Beschluß des BVerfG vom 19.10.1983 - 2 BvR 485 und 486/80 - S. 12 ff. des Umdrucks.
Einmischung oder nicht? Zur Durchlässigkeit der europäischen Staatsgrenzen W E R N E R VON SIMSON
I. Nichteinmischung in die souveränen Rechte eines anderen Staates gilt als ein völkerrechtlich verbürgter Anspruch. Er stammt aus der Zeit, als die internationale Ordnung eine Ordnung unter den europäischen Monarchien war, gegründet auf die Legitimität des Herrschers, die in Zweifel geraten mußte, wenn nicht jeder Monarch die Rechte des anderen als aus der gleichen Quelle stammend anerkannte. Vor allem wurde dies das Prinzip, auf dem die Friedensregelung des Wiener Kongresses aufbaute, nach der Leere, die durch den Fall Napoleons entstanden war. Talleyrand wußte es zur Geltung zu bringen und erreichte damit zugleich, daß die Sünden des napoleonischen Raub- und Beutewesens nicht Frankreich zugerechnet wurden: es war ja nicht sein legitimer Herrscher, der sie begangen hatte'. Auch jetzt noch verläßt sich das Völkerrecht auf den Grundsatz der souveränen Unabhängigkeit und Gleichheit aller nunmehr über 150 Staaten, wie sie in Art. 2 (1) der Charta der Vereinten Nationen verkündet wird. Jedes Mitglied dieser Organisation hat, nach Art. 2 (4), die territoriale Unversehrtheit und die politische Unabhängigkeit der anderen Staaten zu achten; insbesondere ist es eine völkerrechtliche Pflicht, jede Androhung oder Anwendung von Gewalt zu unterlassen. Verglichen mit den tatsächlichen Umständen wird damit der Begriff der Nichteinmischung zu einem jener Ausdrücke, die auf Tagungen, bei Diskussionen, in Proklamationen usw. eine hervorragende Rolle spielen, in Wirklichkeit aber an den offenkundigsten Realitäten unseres politischen Lebens vorbeigehen. Das gilt schon für das Prinzip der souveränen Gleichheit aller Staaten. Teils haben diese vertraglich auf wesentliche Elemente der Gleichheit verzichtet, indem sie der Gewichtung der Stimmen und überhaupt der Einrichtung des Sicherheitsrates zustimmten (Art. 12, Art. 23 ff. der Charta). Teils aber finden sie sich in einem Kräftefeld, in dem ihre Existenz und politische Zugehörigkeit 1 Siehe hierzu: Memoires du Prince de Talleyrand, ed. Due de Broglie, Paris 1891, vol. II, S. 273 ff.
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nicht mehr allein ihre Sache ist, sondern die Interessen Anderer, Mächtigerer derart entscheidend berührt, daß von einer souveränen Unabhängigkeit nicht mehr die Rede sein kann. Es genügt, auf die Deutsche Demokratische Republik, auf Ungarn, die Tschechoslowakei, Polen, Mittelamerika oder den Libanon hinzuweisen, um klar zu machen, daß der Begriff der unzulässigen Einmischung in vieler Hinsicht zur Redensart geworden ist. II. Das Recht des einen Staates, sich um die Verhältnisse in anderen Staaten zu kümmern, ist aber nicht nur ein Recht des Stärkeren. Es hat, in verschiedenen Formen, Eingang gefunden in die Staatenpraxis, weil bestimmte unausweichliche Ziele und Notwendigkeiten anders als durch die Einschränkung des unbedingten Sovueränitätsanspruchs nicht mehr zu verfolgen sind. Das Einmischungsrecht des anderen wird in gewisser Weise zum Lebensbedürfnis des Staates, der es gewährt. Es wird zugleich zur Voraussetzung dafür, daß gemeinsame Sorgen gemeinsam angegangen und bewältigt werden können. Die Zahl solcher notwendigen Gemeinsamkeiten nimmt deutlich zu. Verteidigung, Wirtschaft, Menschenrechte sind die hauptsächlichen Gebiete, auf denen dies in Erscheinung tritt. Die Welt zerfällt heute in zwei große, übergreifende Verteidigungssysteme. Jeder Staat, der für das fremde System von Bedeutung sein könnte, kann nur im Rahmen des eigenen, ihn mitumfassenden Systems Schutz finden. Er muß fremde Truppen und fremde Waffen bei sich dulden, und gering sind die eigenen Hoheitsansprüche, die er dabei stellen kann. Wenn der ehemalige Ständige Vertreter der Bundesrepublik in Ost-Berlin, Günter Gaus, auf einem Z D F - F o r u m der „Zeit" 2 erklärt: „Es gibt keinen Staat auf der Welt, der sich die Art, wie man ihn betritt, und die Kosten, die das verursacht, durch irgendeinen Vertrag abhandeln läßt", so fragt man sich, in welcher Welt er lebt und denkt. Schon das NATO-Truppenstatut und seine Zusatzabkommen, sowie die Rechtsakte des Rats der Europäischen Gemeinschaften nach Art. 49 des EWG-Vertrages widerlegen diese erstaunliche Feststellung 3 , wonach kein Staat sich hier durch Verträge binden lasse.
2 ZDF-Forum „Zehn Jahre deutsch-deutscher Grundlagenvertrag", „Die Zeit" 24. Dezember 1982. J Sie ist nur eine von ähnlichen, hier aber nicht zur Debatte stehenden Äußerungen, mit denen Gaus den Verhältnissen im Ostbock ein westliches Erscheinungsbild zuspricht.
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III. Was nun die gegenseitigen Einmischungsrechte oder -möglichkeiten in weltweiten Verhältnissen betrifft, so sei im gegenwärtigen Zusammenhang nur auf eines verwiesen. Noch 1960 wurde das Eindringen des amerikanischen Aufklärungsflugzeuges U 2 in den Luftraum über dem Staatsgebiet der Sowjetunion als Verletzung des völkerrechtlichen Gebots der Nichteinmischung vor die Öffentlichkeit gebracht. Auch die Vereinigten Staaten schienen damals anzuerkennen, daß ein Recht des Piloten Powers, sich dort aufzuhalten, nicht geltend gemacht werden könne - vermutlich weil sie den Anspruch nicht aufgeben wollten, ähnliche Verletzungen ihres eigenen Luftraums abzuwehren. Heute bewegen sich Satelliten unangefochten über fremdem Gebiet: die Technik hat es unmöglich gemacht, den Flug zu hindern und hier weiter von verbotener Einmischung zu sprechen. In gewisser Höhe fließen die Hoheitsrechte unaufhaltsam ineinander. Ahnliches gilt für den grenzüberschreitenden Informationsfluß und sein Verhältnis zum sogenannten domaine reserve. Auch hier gibt es völkerrechtliche Grenzen dessen, was ein Staat dem anderen an unerwünschten Informationen zumuten darf, auch hier gibt es völkerrechtliche Verpflichtungen, was er sich in dieser Hinsicht gefallen lassen muß, und auch hier hat die Technik es zum großen Teil unmöglich gemacht, diese Rechte durchzusetzen oder diesen Verpflichtungen zu entgehen. Hierüber unterrichtet im Einzelnen der Bericht der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht Heft 19, 1979, mit den sachverständigen Referaten und Thesen von Jochen A. Frowein und Bruno Simma\ IV. Nicht die Technik, sondern die Einsicht in politische Notwendigkeiten hat nun aber in dem engeren Kreis der europäischen Staaten zu einem neuen Verständnis der gegenseitigen Autonomie geführt, von dem nunmehr die Rede sein soll. Zunächst zur regionalen Abgrenzung. Wenn wir von Europa sprechen, so müssen wir heute unterscheiden zwischen drei verschieden weiten Begriffen. Wir haben das ganze geographische Europa, einschließlich der östlichen Staaten, sodann das Europa des Europarats mit seinen zur Zeit 21 Mitgliedern, und schließlich das Europa der Europäischen Gemeinschaften, erst 6, jetzt 10, bald vielleicht 12 oder 13 Staaten umfassend.
* „Das Problem des grenzüberschreitenden Informationsflusses und des „domaine reserve", Karlsruhe 1979.
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Das Gesamteuropa aller westlich von der Sowjetunion gelegenen Staaten lasse ich hier beiseite. O b sich Einmischungsansprüche einzelner Staaten oder der Gesamtheit in die gegenseitigen Verhältnisse im Anschluß an die Konferenz von Helsinki und deren Folgekonferenzen ergeben, ist ungewiß. Rechtlichen Charakter werden sie jedenfalls kaum gewinnen. Sie liegen also außerhalb unseres Themas. Das Europa des Europarats hat dagegen auf einem bestimmten Gebiet eine Gemeinsamkeit des politischen Vorsatzes geschaffen. Sie ist abgesichert in rechtlich erfaßbaren Prozeduren. Es handelt sich um den Schutz eines Katalogs von Menschenrechten, und damit um eine vertraglich anerkannte Beschränkung der unbedingten Herrschaftsmacht, die der Staat seinen Bürgern oder den Bürgern anderer Staaten gegenüber zur Geltung bringen kann. Ein Einbruch also in die Souveränität klassischer Definition, eine Bekräftigung der Ansicht, daß der Staat ohne Allmacht auskommen könne und müsse, wenn er ein freier Staat sein will. Zwar hat es auch in der Staatslehre Meinungen gegeben, die, an manche Äußerungen de Gaulles erinnernd, dem Staat das Recht absprechen wollten, seine Souveränität vertraglich einzuschränken. Keine, doch immerhin auf Zeit bestellte, Regierung könne Unveräußerliches weggeben. Aber diese Idee hat sich nicht halten können. Im Gegenteil ist es von der Völkerrechtslehre und von dem Internationalen Gerichtshof im Haag als mehr oder weniger selbstverständlich bezeichnet worden, daß der Staat sich derart müsse binden können, „just as a human being who enters into a contract of employment does not cease to be a free man", wie Lord McNair5 es treffend ausgedrückt hat. Wie die Bindung an die derart formulierten Menschenrechte in der Menschenrechtskonvention des Europarats befestigt ist, muß uns besonders interessieren. Sie mußte auf zwei Gesichtspunkte Rücksicht nehmen. Einmal mußte zwar eine Gerichtsbarkeit eingerichtet werden, um überhaupt eine über den Staaten stehende Autorität zu schaffen. Die Unterwerfung unter diese Autorität mußte aber eine freiwillige, im Beitritt zu dem Vertrag noch nicht selbst schon enthaltene sein. Sonst wären viele Staaten nicht beigetreten. Sie konnten zunächst noch wählen, wie weit sie sich binden wollten. Das Prinzip hat sich bewährt; die Mehrzahl der Staaten hat sich der Gerichtsbarkeit inzwischen in vollem Maße, alle haben sich ihr zum wesentlichen Teil unterworfen. Daß der Eine es tat, machte es dem Anderen annehmbar. Die zweite Rücksicht war womöglich noch wichtiger. Sie zeigt, was im völkerrechtlichen Verkehr nicht gerade häufig ist, geradezu Züge der Weisheit. Der Einzelne, der sich verletzt fühlt, kann den Staat, meistens 5 In seiner dissenting opinion im „Membership of the United Nations"-Fall, Int. Court of Justice Reports 1948, S.57ff.
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seinen eigenen, nicht selbst vor Gericht bringen. Er kann nur ein Verfahren in Gang setzen, in dem zunächst die behauptete Beschwer von der Kommission untersucht wird. Sie entscheidet über die Zulässigkeit des Gesuchs und versucht, falls sie diese bejaht, ein gütliches Ubereinkommen herbeizuführen. Schlägt dies fehl, so kann erst, entweder durch die Kommission oder durch den Ministerausschuß, dem sie zu berichten hat, der Gerichtshof mit der Sache befaßt werden. Immer aber kann ein Staat, dem eine Verletzung der Konvention vorgeworfen wird, rechtfertigende Gründe geltend machen. Das trägt der Tatsache Rechnung, daß die Gewährung politischer Freiheitsrechte von bestimmten Ordnungsmöglichkeiten abhängig sein kann, und daß sich das Einmischungsrecht des Europarats innerhalb dieser Möglichkeiten bewegen muß. Die Satzung selbst erkennt das an (Art. 15, 17). Noch mehr, zu viel vielleicht, findet es seinen Ausdruck in der Praxis, alle möglichen politisch motivierten Entschuldigungen für bestimmte Menschenrechtsverletzungen gelten zu lassen6. Das eigentlich regulierende Prinzip aber ist das der Öffentlichkeit, die durch eine Beschwerde bewirkt wird. Was früher eine Ausschreitung gegenüber einem Einzelnen war, unbemerkt von Anderen und durch keine unparteiische Instanz bestätigt, das wird nunmehr zur Verletzung eines völkerrechtlichen Abkommens, in manchen Ländern sogar des innerstaatlichen Rechts, eine Verletzung, die den Staat vor aller Augen bloßstellt. Das Beispiel Griechenlands unter der Obristenherrschaft zeigt, wie wirksam diese Verschränkung des unerlaubt Gewollten oder Geduldeten mit einer politisch bedeutsamen, nicht erwünschten Auswirkung sein kann. Was aber das Mitreden einer außerstaatlichen Instanz bei dem Verhalten der Staaten angeht, so ist durch das Abkommen, welches dies vorsieht, diesem Mitreden der Charakter der Einmischung genommen. Es handelt sich vielmehr um die Wahrnehmung von Angelegenheiten, die der Staat zur gemeinsamen, gegenseitig verbürgten Ausübung in die Konvention eingebracht und damit zur Sache der Konvention erklärt hat: "Treason does never prosper; what's the reason? For if it prosper, none dare call it treason" sagte John Harington, und so geht es auch mit der Einmischung. Wir haben für ein solches Einbringen souveräner, ursprünglich keiner Einmischung unterliegender Handlungsfreiheiten in eine gemeinsame, gegenseitig garantierte Beschränkung zwei bedeutsame geschichtliche Beispiele: den Augsburger Religionsfrieden von 1555 und die nordame' Zur Gesetzeslage und neueren Praxis s. H. Chr. Krüger und ]. A. Frowein in EuGR 1980, S.231 ff.; s.a. W. von Simson, Die Bedingtheit der Menschenrechte, in: Fs. für B. Aubin, Kehl 1979, S. 217 ff.
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rikanische Unionsverfassung von 1789. Der erste stellte bekanntlich nach der späteren Auslegung der Juristen - den Grundsatz auf: cuius regio eius religio, d. h. der Landesherr bestimmte das religiöse Bekenntnis für sein Land. Das wurde noch kürzlich in einem Zeitungsartikel als ein typisches Beispiel deutscher Mißachtung der menschlichen Freiheit dargestellt. Aber das war eben eine Zeitungsmeinung, für die das Nächstbeste herhalten muß. In Wirklichkeit bedeutete die Formel den unvermeidlich gewordenen Verzicht auf ein einheitliches, von staatswegen erzwingbares Bekenntnis. An seine Stelle trat das Nebeneinander der römisch-katholischen und der lutherisch-augsburgischen Konfession im gesamten Reich. N u r so ließ sich ein Ende machen mit den entsetzlichen Religionskriegen, die das Reich auseinandergerissen und verwüstet hatten, und auch dies genügte zunächst nicht, wie das folgende Jahrhundert zeigen sollte. Im einzelnen Herrschaftsbereich zwar mußte jeder dem Bekenntnis des Landesherrn folgen. Da dieser Zwang aber das Gewissen des Einzelnen hätte vergewaltigen können, war er von einer wichtigen Einschränkung der landesherrlichen Souveränität begleitet und abhängig gemacht. Die Friedenschließenden garantierten demjenigen, der nicht mit dem Bekenntnis seines Landesherrn übereinstimmte, das Recht, unter Verkauf von Hab und Gut und Mitnahme des Erlöses auszuwandern. Das war also einerseits ein Nichteinmischungsrecht des Landesherrn, der sich einen Bekehrungszwang innerhalb seines Landes verbitten konnte, und andererseits die Gewährung eines vertraglich gesicherten Einmischungsrechts zur Wahrung gegenseitiger Freizügigkeit. Das Land war nicht mehr frei, ob es die Ausreise eines Bürgers gestattete oder verbot. Bei der Nordamerikanischen Unionsverfassung begegnen wir einem sehr viel weiter gehenden Gedanken. Die 13 Staaten, die sich in ihr zusammenschlossen, übertrugen der Förderation eine Reihe wichtiger politischer Rechte, denen sie damit selbst entsagten. Aber die nun entstehende übergreifende Staatsmacht war ihnen unheimlich, so sehr sie einsahen, wie notwendig sie war. So banden sie, als Preis für den Verzicht auf eigene totale Unabhängigkeit, die neue Macht an einschränkende Bedingungen. Einmal würde sie die Grenzen zwischen den ihr übertragenen und den bei den Einzelstaaten verbleibenden Befugnissen zu achten haben. Zweitens durfte die Union gewisse Grenzen der Herrschaftsmacht, die nach der Philosophie der Zeit jeder öffentlichen Gewalt gesetzt waren, nicht überschreiten. Schon im ersten Jahr nach Annahme der Verfassung wurden die hiernach unverletzlichen Rechte in einem ersten, später mehrfach ergänzten Katalog definiert. Das ließen sich die Einzelstaaten zusichern. Sie selbst aber unterwarfen sich der Union gegenüber den gleichen Beschränkungen. Die Verfassung war von Juristen entworfen worden, und die Union
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ist ein erstes, unvergleichliches, faszinierendes Beispiel dafür, wie, unter dem Druck zeitgenössischer Notwendigkeiten, das bisher unbewußt Geltende, Traditionelle, aber nun nicht mehr Ausreichende ersetzt werden kann durch bindende, in die Zukunft schauende Verträge. Die Technik dieser Zukunftsbewältigung ist es, auf die es mir hier ankommt. Sie stammt aus der Übung des englischen Common Law. Vieles nämlich, was man sich vornehmen wollte und was für die Beständigkeit dieser Vorsätze unentbehrlich sein mußte, ließ sich bei der Abfassung der Verträge nicht auf eine eindeutige Formel bringen. Teils wußte man nicht genau, was das Vereinbarte in einer sich verändernden Wirklichkeit bedeuten würde, teils mußte man den genauen Sinn der Vereinbarung offen lassen, weil man sich nicht wirklich einig war und die Meinungsverschiedenheiten nur durch eine Vieldeutigkeit, der der Eine diese, der Andere jene Ausdeutung gab, überbrücken und so ein Scheitern des Ganzen verhindern konnte. Schließlich aber sollte die Vereinbarung auch dem ständigen Wechsel in der geschichtlichen Wirklichkeit folgen und ihm angepaßt werden können, und auch das war nur möglich, wenn man sie verschiedenen Interpretationen offen ließ. Der Ablauf der Geschichte verlangt eine Folge von auf einander aufbauenden Problemlösungen. Die juristische Technik, einen Grundvorsatz diese ganze Folge beherrschen zu lassen, ist eben die, ihn in einer vagen Formel auszudrücken und jeder neuen Epoche deren Auslegung im Lichte der jeweiligen Gegenwart offen zu lassen. Der gewählte Organisationstypus war der Bundesstaat; die Verfassungsschöpfer erkannten gleich, daß dieser einen Gerichtshof voraussetzte, der im Konfliktsfall zwischen Bund und Mitgliedstaat entscheiden würde. Auch dessen Kompetenzen waren undeutlich definiert. Das gestattete ihm, und hierin zeigt sich das angelsächsische politische Genie, nicht nur die Anwendung der Verfassungssätze zu überwachen, sondern zugleich deren Auslegung an sich zu reißen. Von dieser hing es ζ. B. ab, ob der Supreme Court auch die Bundesgesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit werde prüfen können. Das Gericht selbst entschied über diese Frage und bejahte sie; seine Entscheidung wurde allgemein anerkannt 7 . Die dramatischen Wandlungen, welche die Auslegung des Gleichheitssatzes „all men are created equal" im Lauf der zweihundertjährigen nordamerikanischen Verfassungsgeschichte erfahren hat, und zwar bei gleichbleibendem Wortlaut, haben, das kann man ruhig sagen, erst die Standfestigkeit des Gebäudes erhalten.
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per Marshall, C . J . , in Marbury v. Madison, 1803.
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V. Das engere Europa, welches zur Europäischen Gemeinschaft gefunden hat und zunächst aus den industrialisierten Staaten bestand, geriet nach dem letzten Krieg in die Lage, seine traditionelle Gliederung, die auf dem Prinzip der gegenseitigen Nichteinmischung beruhte, in wesentlichen Punkten auflockern zu müssen. Die darin beschlossene Absonderung stand der unabweislich gewordenen Forderung im Wege, im weltwirtschaftlichen Verkehr eine Größe zu erreichen, die den anderen, dort entstandenen Größen die Waage halten konnte. Auch stellten sich Aufgaben, die nur noch gemeinsam zu bewältigen waren. Sie verlangten den Einsatz materieller und personeller Kräfte, die nur zusammen aufgebracht werden konnten. Noch etwas anderes, schwer zu fassendes wurde wesentlich. Wir begegneten ihm schon bei der Erörterung der Menschenrechtskonvention. Die eigentliche Substanz der politischen Lebensausschauung, wenn ich so sagen darf, war in eine gemeinsame Gefahr geraten, nicht nur von außen, sondern zugleich von innen. Dem einzelnen auf sich selbst gestellten Staat war das Zutrauen in die eigene Kraft und Uberlebensfähigkeit abhanden gekommen. Dem mußte und wollte man auch gemeinsam begegnen. Man fing mit dem Wirtschaftlichen an, hoffte aber von Anfang an, daß andere Gebiete nach und nach in den Bannkreis der Gemeinsamkeit gezogen werden würden, so daß schließlich an einen europäischen Bundesstaat zu denken wäre. Noch immer ist davon die Rede. Bundeskanzler Willy Brandt erklärte 1973 vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen, daß „unser Teil Europas noch in diesem Jahrzehnt zur Europäischen Union zusammenwachsen wolle". Darauf hatte man sich bei einer der vielen Schaustellungen europäischen Gemeinschaftswillens geeinigt. Was heute als vertraglich vereinbarte Durchbrechung des staatlichen Rechts auf Nichteinmischung erscheint, sollte dann alle Gebiete ergreifen und den Anspruch auf Nichteinmischung von den einzelnen Staaten auf die Gemeinschaft übergehen lassen. N u n ist es aber so, daß die Notwendigkeit für den einzelnen Staat, einzelne Verantwortungsbereiche in gemeinschaftlicher Organisation mit anderen Staaten wahrzunehmen, sich keineswegs immer im Rahmen der europäischen Dimension bewältigen läßt. Auch Europa als Ganzes ist zu klein geworden, um sich zu verteidigen und um durch autonome gemeinschaftliche Währungsabkommen oder Entwicklungshilfe-Verträge bestimmten Aufgaben genügen zu können. Die Staaten stehen in verschiedenen Gruppenzugehörigkeiten, und nicht alle in denselben. Frankreich hat Vorbehalte gegen die N A T O , und Spanien, das sich um die Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft bewirbt, muß damit rechnen, daß ein Teil der dortigen Wählerschaft zwar für Europa,
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nicht aber für die Teilnahme an den NATO-Verträgen ist. Dies alles aber ließe sich mit der Zeit aus dem Wege räumen, indem schließlich die Europäische Gemeinschaft als der Partner in den verschiedenen Gremien im Namen aller aufträte. Ein Anderes dagegen ist nach meiner Meinung nicht zu überwinden, weniger weil es nicht ginge, als weil es nicht wünschenswert wäre. VI. Die Verträge, so wie sie jetzt aussehen und zunächst allein denkbar erscheinen, sind ein Kind der Vernunft und juristischer Überlegung. Sie reichen auch nur so weit, wie Vernunft und juristische Überlegung reichen. Der letzte Kern des Staatlichen aber läßt sich nicht als Produkt der Vernunft und der Berechnung erfassen. Kein Mensch könnte das, was heute den Franzosen oder den Engländern ihr Staat bedeutet, auf diese Weise interpretieren und auf eine begreifliche, Anderen zum Beitritt offenstehende Formel bringen. Der Staat der Europäischen Gemeinschaft wäre ein Nichtstaat, so wie der Weimarer Staat zu seinem Unglück ein Nichtstaat blieb, wehrlos gegen diejenigen, die sich des Irrationalen, auf dessen Erfassen er verzichten zu können glaubte, schamlos zu bemächtigen wußten. Die staatliche Substanz, auf die es mir hier ankommt, und die darin besteht, daß man den Staat als Teil des eigenen Persönlichkeitsbewußtseins liebt, anstatt ihn nur zu denken, läßt sich nicht schaffen auf dem Boden des momentan Begreiflichen, momentan begreiflich zu machenden. Schon jetzt, wo von einem europäischen Staat nur sehr undeutlich die Rede ist, wird die Beamtenzentrale in Brüssel als eine ferne, keinem einzelnen Willen verantwortliche Verwaltungsapparatur empfunden. Sie hat keinen überzeugenden Stil, keine wirkliche Hierarchie, keinen Symbolwert und kein Gepränge; für sie stirbt niemand, wenn es darauf ankommt. Es muß aber etwas da sein, was die Anhänglichkeit und Opferbereitschaft der Menschen sichtbar auf sich zieht. Jeder Versuch der Gemeinschaft, hier in diesem Sinne sichtbar zu werden, traf auf den erbitterten, ja ironischen Widerstand der Franzosen, nicht, wie viele glauben, aus Neid oder verletzter Eitelkeit, sondern weil der Vergleich mit dem, was die Franzosen an ihr Land bindet, eben gar zu kläglich ausfiel. In England sind diese Vorbehalte womöglich noch fester verwurzelt. Die Bundesrepublik hat in dieser Hinsicht noch Schwierigkeiten. Denn das Gewachsene ist hier vielfach zerstört und kann durch nichts Neues ersetzt werden. Auch fehlt bei uns allmählich der Wille oder doch das Bewußtsein, daß man, wenn man je ein Staat sein will, das Irrationale, Gefühlsmäßige, ich möchte sagen Vaterländische mit umfassen muß, ohne das kein Staat auskommt. Ralf Dahrendorf, damals noch Mitglied der Kommission in
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Brüssel, nahm, wie ich mich erinnere, bei einem der Bergedorfer Gespräche (1972) den Standpunkt ein, die Gemeinschaft dürfe auf keinen Fall Stellung nehmen in den weltanschaulichen Konflikten zwischen den westlichen Mächten und dem Ostblock. N u n gut, aber damit verzichtet man eben darauf, zum Staat heran zu wachsen. Man nähme sonst den Anderen die Substanz, gering wie sie schon geworden ist, und ließe sie verschwinden in einem Vacuum gefährlichster Saugkraft. So sehe ich das Problem Europas nicht darin, zu einer bürgerfernen, bürgerfremden Gesamtmaschinerie zu werden, sondern darin, die notwendige Gemeinschaftlichkeit zu verwirklichen ohne dabei die Staaten und ihre unersetzliche, Loyalität und Zuneigung erweckende Eigenart, ohne auch die Beziehung zwischen den politischen Meinungen der Einzelnen und der öffentlichen Gewalt aufzulösen. So sah es der „Federalist" vor zweihundert Jahren, als es darum ging, die Bürger von N e w York zu überzeugen, daß und wie eine Union in Freiheit möglich sei. So überzeugt es auch, in Kants herrlichem Versuch „Zum Ewigen Frieden" das folgende zu lesen: „(Es) setzt also die Idee des Völkerrechts die Absonderung vieler voneinander unabhängiger benachbarter Staaten voraus, und, obgleich ein solcher Zustand an sich schon ein Zustand des Krieges ist, . . . so ist doch selbst dieser nach der Vernunftidee besser als die Zusammenschmelzung derselben, durch eine die andere überwachsende, und in eine Universalmonarchie übergehende Macht". Mit anderen Worten ist der Staat hier gesehen als die größte souveräne Ordnungseinheit, die sich in Freiheit verwirklichen läßt. Souverän heißt hier, daß die Vermutung der Zuständigkeit für Gesetzgebung und Verwaltung besteht, auch wo nichts gesagt ist, und daß eine demokratische Kontrolle möglich ist. Beide, der Staat und die Gemeinschaft, müssen nach dieser sehr aktuellen Lehre ihre verschiedenen Zwecke einsehen und in ihrem gegenseitigen Verhältnis anerkennen lernen. Bei dem Versuch, von diesem gewiß nicht unbestrittenen Standpunkt aus eine Vorstellung des gegenwärtigen Zustands der Einmischung oder Nichteinmischung zu gewinnen wird folgendes sichtbar. Die Europäische Gemeinschaft besteht für sich in dem Sinn, daß ihre Existenz, wenn auch nicht ihr Verhalten, von dem fortdauernden Willen ihrer Mitgliedstaaten weitgehend unabhängig geworden ist8. Rechtlich gesehen können die Staaten zurücktreten. Aber die Verflechtungen sind so eng, das Erreichte so wichtig, die Schwierigkeit neuer Absonderung so unüberwindlich, daß man von einer praktischen Permanenz sprechen kann. Das 8 S. hierzu U. Everting, Sind die Mitgliedstaaten noch Herren der Verträge? in: Fs. für Hermann Mosler, Berlin 1883, S. 173 ff., sowie W. von Simson, Der politische Wille als Gegenstand der Europäischen Gemeinschaftsverträge, in: Fs. für Otto Riese, Karlsruhe 1964, S. 83 ff.
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hat auch schließlich das Vereinigte Königreich und in seinem Gefolge Irland und Dänemark zum Beitritt veranlaßt. Die Gemeinschaft hat weitgehende Einmischungsrechte in die inneren Verhältnisse der Mitgliedstaaten. Der Gerichtshof, gegen den ursprünglichen Widerstand Frankreichs errichtet, hat sein Wächteramt über die Bewahrung und Achtung dieser Rechte energisch und in dynamischer, gemeinschaftsfreundlicher und gemeinschaftsfördernder Interpretation ausgeübt und sich damit hohe Achtung erworben. Er hat, was nicht weniger wichtig ist, den zunächst vagen Willen der Vertragspartner im Streitfall, also wo es darauf ankam, wie dieser Wille denn nun hic et nunc zu deuten sei, an den Grundideen der Verträge, und damit an deren kühnsten Zielen gemessen. Bezeichnend ist das Urteil, in dem der Europäische Gerichtshof, gegen den Widerspruch von drei der damals sechs Vertragsstaaten, dem Einzelnen das Recht zusprach, sich auf die Verpflichtungen zu berufen, die von den Staaten untereinander eingegangen worden sind. Das Urteil erklärte wörtlich: „ . . . daß die Gemeinschaft eine Rechtsordnung des Völkerrechts darstellt, zu deren Gunsten die Staaten, wenn auch in begrenztem Rahmen, ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben, eine Rechtsordnung, deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind"'. Der Gerichtshof berief sich dabei darauf, daß die Verträge den Einzelnen direkte, von einer Einschaltung der Staaten nicht weiter abhängige Pflichten auferlegen. Dann aber müsse der Einzelne sich auch auf die Rechtsordnung, die ihn derart in Pflicht nehme, berufen können. In seiner gemeinschaftsfördernden Rechtsprechung erfüllt der Gerichtshof aber noch eine andere Aufgabe, die eigentlich nicht die seine sein sollte. Er nimmt nämlich gelegentlich dort das Heft in die Hand, wo ein gesetzgeberisches oder politisches Handeln der Staaten geboten wäre, diese sich aber nicht dazu entschließen können 10 . Manches muß geschehen, wenn die Verträge nicht sinnlos werden sollen. Die Regierungen finden aber im Ministerrat entweder nicht die Zeit oder nicht die Übereinstimmung, oder schließlich nicht den Mut, das Entsprechende zu tun. Sie müssen mit der innenpolitisch vielleicht unbequemen Verantwortung rechnen, die ein solches Handeln ihnen zuweisen würde. Da ist es sicherer, den Gerichtshof das Nötige aus den Verträgen ableiten zu lassen, für die ja nicht die jetzige Regierung, sondern ein früheres Parlamentsgesetz verantwortlich ist. Man duldet es also nicht ungern, will es aber nicht gewesen sein. Das Menschliche, wie ein Weiser gesagt hat, ist eben leider weit verbreitet. ' Rechtssache 26/62 (van Gend & Loos) E u G H Rspr. Bd. IX d (1963), s. 1, (25). 10 Dazu des Näheren: ]. Schwarze, Die Befugnis zur Abstraktion im Europäischen Gemeinschaftsrecht, Baden-Baden 1976, bes. S. 105 ff.
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VII. Langsam, für Viele allzu langsam, wächst dasjenige, was die Staaten zur gemeinsamen Ausübung in die Gemeinschaft einbringen. Das direkt gewählte Europäische Parlament, so gering seine Befugnisse zunächst auch sein mögen, kann dazu beitragen, der Gemeinschaft mehr politische Substanz zu geben. Gewisse Verantwortungen aber, auch abgesehen von der schon erwähnten Persönlichkeitsabschließung, die nur der Staat zustande bringt, kann die Gemeinschaft einstweilen nicht wahrnehmen, und man sieht auch kaum, wie sie dazu in den Stand gesetzt werden könnte. Eine Gemeinsamkeit der politischen Ziele und der ökonomischen Möglichkeiten wäre dazu erforderlich. Sie kann nicht aus einer Organisation hervorgehen, sondern sie muß vorhanden sein, bevor eine Organisation sich ihrer annehmen kann. Wir in der Bundesrepublik betreiben eine konservative Wirtschafts- und Währungspolitik, wie sie nur möglich ist, weil unsere Gewerkschaften die damit verbundene dauernde Stabilität für wichtiger halten, als die momentan ansprechendere, expansive, aber vielleicht auf Kosten der Zukunft gehende Staatsregie. In England denken die Gewerkschaften anders und sind, da sie stärker als bei uns in klassenkämpferischen Vorstellungen leben, unbelehrbar bis an den Rand der Selbstvernichtung. Wie soll man diese Gegensätze auf einen gemeinsamen Nenner bringen, wie hier der Gemeinschaft ein Eingriffsrecht, und ein Recht mit einem wie zustande gekommenen Inhalt gewähren können? Diesen Strom der sich langsam bildenden Uberzeugungen kann man nicht lenken, sondern man kann nur, wie Bismarck oft mahnte, mit mehr oder weniger Geschick und Glück auf ihm zu navigieren suchen. Vielversprechend ist es aber, daß die Staaten, wo die Verträge, direkt oder iri der Auslegung des Gerichtshofs, ein Einmischungsrecht der Gemeinschaft gewähren, dieses Recht im wesentlichen achten und ihm gehorchen. Bei den Einzelnen muß die Bereitschaft gelegentlich erzwungen werden, wie das im Staat ja auch nicht anders abgeht. Daß die Behörden in Brüssel dabei auch manchmal mehr Geschick zeigen könnten, besonders in der Unterscheidung zwischen wesentlichen und bloß irritierenden Eingriffen, ist nicht nur meine Ansicht. Auf Einzelheiten der Kompetenzverteilung ist hier nicht einzugehen. Das Gesamtbild zeigt eine Gemeinschaft, die inzwischen der stärkste Handelspartner der Welt geworden ist, die gegen eine ursprüngliche Ablehnung vom Ostblock anerkannt wird, und nach der neue Mitglieder streben. Dieses Letztere bietet manche Gefahren der Verwässerung und entfernt die Möglichkeit einer eigenen Staatsbildung nach meiner Meinung gänzlich. Wir werden, wenn auch nur die gegenwärtig beantragten oder in Aussicht genommenen Beitritte - Spanien, Portugal, die Türkei -
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genehmigt werden sollten, eine wesentlich lockerere Gemeinschaft haben, als sie jetzt schon besteht, und zwar hauptsächlich deswegen, weil damit das Gefalle zwischen industriellen und landwirtschaftlichen Lebensformen sich weiter auftäte. Auch zeigt das bisherige Verhalten Griechenlands, daß manche weniger stabile Regierungen sich den nötigen Gemeinschaftsgeist, wie es scheint, innenpolitisch nicht leisten können. Aber wie dem auch sei, so nimmt jedenfalls das engere Europa zunehmend eine Gestalt an, in der die Selbständigkeit autonomer Staaten einem gemeinsamen, lebensnotwendigen Ziel dienstbar gemacht und damit entsprechend eingeschränkt wird. Die Gemeinschaft hat eigene hoheitliche Befugnisse. Sie regiert auf ihrem Gebiet direkt mit gemeinsamer Wirkung in den Mitgliedstaaten und braucht sich von diesen nicht widersprechen zu lassen, ja sie darf es nicht. Denn dieses Einmischungsrecht ist es, was ein unentbehrliches Werkzeug verfügbar macht, von dem viel zu wenig die Rede ist. Ich meine die Gegenseitigkeit zwischen den Staaten, und zwar die auf Dauer verbürgte Gegenseitigkeit. Ohne diese sind manche Probleme gar nicht zu lösen. Ich gebe nur ein Beispiel: die Belastung der Industrie mit den notwendigen Kosten der Umwelterhaltung. Sie ist nur möglich, wenn sie in einem weiten gemeinsamen Markt wettbewerbsneutral gemacht werden kann. Auf der anderen Seite gibt es Versuche der Vergemeinschaftung, die sehr erheblichen Bedenken begegnen. Ich will mich nicht als Sachverständiger aufspielen auf einem Gebiet, bei dem man allmählich zweifeln muß, ob es überhaupt Sachverständige gibt. Aber man versteht doch die zunehmenden Vorbehalte gegen den Agrarmarkt, der seiner Idee nach die Industrialisierung der europäischen Landwirtschaft bezweckt, und damit die Vernichtung einer europäischen Lebensweise. Diese Einwände hat der allzu früh verstorbene Fritz Schumacher in seinem höchst bemerkenswerten Buch „Small is beautiful" uns, möchte man sagen, ins Gewissen gerufen".
VIII. Das Verhältnis von Staat und einmischungsberechtigtem Europa ist kein Verhältnis des Entweder-Oder. Es ist ein Verhältnis der Abwägung nebeneinander bestehender, unvermeidlicher, unüberbrückbarer Unterschiede. Keinen größeren gedanklichen, aber auch keinen größeren politischen Fehler kann man begehen, als die erkannte teilweise Wahrheit für die ganze Wahrheit zu nehmen. Es ist der charakterisierende Fehler aller ideologisch fundierten politischen Systeme12. Das, was an " E.F. Schumacher,
Small is Beautiful, London 1973. Ausführlich zu diesem Gedanken \W, von Simson, Kritik der politischen Vernunft, Baden-Baden 1983. 12
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der einen Erkenntnis wahr ist, zu dem in Beziehung zu setzen, was sonst noch wahr ist, fällt weit schwerer als der Versuch, Alles aus einem Punkte zu erklären und zu kurieren. So stellt auch das bisher Erreichte keine fertige Lösung dar. Eines aber läßt sich jetzt schon sagen. Bereits das, was bisher an europäischen Einmischungsrechten beschlossen und verbrieft ist und sich, soweit es geht, als brauchbar und beständig erwiesen hat, führt zu einer bedeutsamen Wirkung. Die Ubersteigerung des Nationalgefühls, die in der Vergangenheit für so unermeßliches Unglück verantwortlich war, wird in Zukunft keinen europäischen Staat begeistern und verführen. Dazu müssen jetzt zu Viele mitreden. Eine Gemeinschaft, ohne die es kein Europa mehr geben kann, wird solchen Träumen des Auserwähltseins, gerade weil sie in individueller, von Anderen nicht geteilter Vereinzelung ihre Wurzeln hatten, nicht erliegen. Denn der nationalen Vereinzelung, so nötig sie ist und bleibt, sind Schranken gesetzt durch die übernationale Ausdehnung der heutigen Probleme und Gefahren. Sie ist weiterhin der Halt, aber sie ist nicht mehr die spaltende Kraft, die das Ganze auseinander treibt. Einmischung wird zum Recht, anstatt zur Rechtsverletzung. Ein festgelegter gemeinsamer Vorsatz, ein festgelegtes gemeinsames Zustimmungserfordernis ersetzt die rücksichtslose Selbstbehauptung, von der sich Manche so viel erhofften und die mit so entsetzlichen Opfern ad absurdum geführt werden mußte.
IX. Es wird hier, im europäischen Rahmen, ein Experiment unternommen, dem wir mit größter Aufmerksamkeit folgen müssen. Denn mit all seinen Schwierigkeiten und den daraus zu ziehenden Lehren, mit alle seinen Rückschlägen und doch auch immer wieder aufscheinenden Ermutigungen wird dieser Versuch, das lebensvolle Einzelne einzubringen in ein allein überlebensfähiges Ganzes, nach und nach im Weltmaßstab nachgeahmt werden müssen, wenn die Zeit des Bleibens der Menschen auf dieser Erde nicht ihrem Ende entgegen gehen soll.
Konzentrationskontrolle und Niederlassungsfreiheit Ein Beitrag zur Konsultationspflicht der Staaten nach Art. 5 E W G V ERNST STEINDORFF
I. Das Problem 1. Die Besorgnis, das Bundeskartellamt werde eine Verbotsentscheidung nach § 2 4 I G W B erlassen, hat ein französisches Unternehmen davon abgehalten, die Mehrheit der Grundig-Anteile zu erwerben. Die Verkaufs- und Erwerbsabsicht war Teil einer unternehmerischen Planung zur Restrukturierung eines wichtigen Industriezweiges im Gemeinsamen Markt. Diese Planung fällt in den Rahmen europäischer Industriepolitik. Für solche Industriepolitik nimmt die Kommission der E G gemeinschaftsrechtliche Kompetenzen in Anspruch. U m so mehr mußte überraschen, daß sie im Falle Grundig offenbar abseits gestanden hat. Hier soll geprüft werden, ob Verbotsentscheidungen nach dem deutschen G W B bei Zusammenschlußvorhaben, denen große Bedeutung für den Gemeinsamen Markt zukommt, ohne Beteiligung der Kommission ergehen können. Der G K N - F a l l liefert ein weiteres herausragendes Beispiel 1 . 2. Kartellrechtlich ist nach wie vor die im Walt Wilhelm-Urteil 2 formulierte Doktrin maßgeblich, derzufolge eine deutsche Verbotsentscheidung zu einem Zusammenschluß nicht ergehen darf, wenn sie sich mit einer bereits vorliegenden oder zu erwartenden Kommissions-Entscheidung in Widerspruch setzen würde. Einer europäischen Zusammenschlußkontrolle, die solche Kommissionsentscheidungen hervorzubringen vermöchte, ist zwar seit dem Continental Can/EuropemballageUrteil 3 viel schriftstellerische und legislatorische Bemühung gewidmet worden*. Diese Bemühung ändert indessen ebenso wie Art. 86 E W G V nichts daran, daß eine europäische Zusammenschlußkontrolle im E W G ' W u W / E B G H 1501. EuGH 13.2.1969, Slg. 1969, 1. 5 EuGH 21.2.1973, Slg. 1973, 215. 4 Zuletzt Geänderter Vorschlag einer Verordnung des Rates über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. C 36/3 (1982). 2
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Bereich mindestens faktisch so gut wie nicht existiert5. KommissionsEntscheidungen zur Zusammenschlußkontrolle, denen deutsche Maßnahmen widersprechen könnten, sind deshalb regelmäßig nicht zu erwarten. Infolgedessen schließt die Walt Wilhelm-Doktrin deutsche Verbotsentscheidungen nicht aus. 3. Bisher ist wenig beachtet worden, daß Gemeinschaftsrecht deutsche Zusammenschlußkontrolle auch in anderer Weise zu begrenzen und zu binden vermag. Art.52 E W G V begründet Niederlassungsfreiheit u.a. für die Gründung von Tochtergesellschaften und die Leitung von Unternehmen und Gesellschaften. Hierzu stellt sich die Frage, ob Niederlassungsfreiheit rechtswidrig verkürzt würde, falls die deutsche Zusammenschlußkontrolle dazu führt, daß der Erwerb der Anteilsmehrheit an einem deutschen Unternehmen (Tochtergesellschaft) durch ein Unternehmen eines anderen EG-Staates verboten wird. Darüber hinaus begründet Art. 5 E W G V eine Förderpflicht der Staaten zugunsten der Gemeinschaft. Die Staaten haben der Gemeinschaft ihre Aufgabe zu erleichtern. Sie haben alle Maßnahmen zu unterlassen, welche die Verwirklichung der im EWG-Vertrag gesetzten Ziele gefährden könnten. Art. 5 E W G V hat in gewissem Umfange sogar unmittelbare Wirkung innerhalb der Mitgliedstaaten6. Man muß prüfen, ob er einem Zusammenschlußverbot entgegenstehen oder ob er die Ausübung staatlicher Zusammenschlußkontrolle an bestimmte Maßstäbe binden kann. Die EG-Kommission hat bisher wohl nichts getan, um bereits vorhandene Normen unmittelbar wirksamen Gemeinschaftsrechts gegen staatliche Zusammenschlußkontrolle einzusetzen. Das entbindet nicht von der Aufgabe, nach der Existenz solcher Normen zu fragen. Die Frage zielt hier auf das Niederlassungsrecht. II. Niederlassungsfreiheit 1. Vier Fragen zur Niederlassungsfreiheit lassen sich verhältnismäßig leicht klären. a) Diese Freiheit steht nach Art. 58 E W G V auch Gesellschaften und gewissen juristischen Personen zu.
5 Zwar erfolgen gelegentlich einzelne Prüfungen durch die Kommission im Rahmen von Art. 86 E W G V : 12. Bericht über die Wettbewerbspolitik, Nr. 103 ff. und 11. Bericht über die Wettbewerbspolitik, Nr. 111 ff. Sie haben aber nicht mehr zu wirksamen Gegenmaßnahmen geführt. 6 Hierzu u.a. die Urteile Slg. 1980, S.501, 617, 1205, 1237 und 2545. Weiter das in Fn. 10 zitierte Urteil vom 28.4.1977.
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b) Der in Art. 52 II EWGV ausgesprochene Vorbehalt zugunsten der Vorschriften über den Kapitalverkehr hat keine große Bedeutung mehr, seit die erste Richtlinie zum Kapitalverkehr Direktinvestitionen in anderen EG-Staaten von Beschränkungen weitgehend befreit hat7. Das sind die für die Niederlassung wichtigsten Maßnahmen des Kapitalverkehrs. c) Art. 52 begründete Niederlassungsfreiheit für bestimmte Niederlassungsformen. Die namentlich in Abs. 1 Satz 2 und in Absatz 2 bezeichneten Formen dürfen nicht eng interpretiert werden. Nicht nur die Neugründung von Tochtergesellschaften, sondern auch ihre Schaffung durch Erwerb von Anteilen an bestehenden Gesellschaften werden erfaßt. Übernahme der Unternehmensleitung im Sinne von Art. 52 II EWGV kann auch im Wege einer Konzernverbindung erfolgen, also vor allem durch Beherrschungsvertrag, aber wohl auch durch Schaffung eines faktischen Konzerns 8 . d) Bei Niederlassung im Sinne von Art. 52 EWGV geht es stets um ein für die Dauer geschaffenes Instrument gewerblicher Betätigung81. Dieses ergibt sich ohne weiteres aus Absatz 2 der Vorschrift. Infolgedessen wird ein sich in der - vielleicht nur vorübergehenden - Kapitalbeteiligung erschöpfender Anteilserwerb von der Niederlassungsfreiheit nicht erfaßt. Wohl aber ist jede Kapitalbeteiligung durch Niederlassungsfreiheit geschützt, wenn das Unternehmen, an dem sich ein anderes Unternehmen beteiligt, damit zum Instrument für die gewerbliche Betätigung des anderen Unternehmens wird. Auf die Höhe einer Beteiligung kommt es hierfür nicht an. Der Konzernverbund, also die Übernahme der Leitung, ist der Hauptfall, braucht aber nicht der einzige Fall zu sein. 2. Das eigentliche Problem resultiert daraus, daß nach einer verbreiteten Lehre Niederlassungsfreiheit nur Ausschluß der Ausländerdiskriminierungen beinhalten soll. Dies wird vor allem aus Art. 52 II EWGV gefolgert, demzufolge die Niederlassungsfreiheit die Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten usw. „nach den Bestimmungen des Aufnahmestaates für seine eigenen Angehörigen" umfaßt'. 7
Dazu Steindorff demnächst in einem Festschriftbeitrag. Hierzu u. a. Dousset/Sarmet in Megret/Louis/Vignes/Waelbroeck, Le droit de la Communaute Economique Europeenne, vol. 3 (1971), S. 87 f.; Platz, EWG-Niederlassungsrecht und individuelle Rechtspositionen (1966), S. 16; Wohlfarth/Everling/Glaesner/ Sprung, Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (1960), S. 173 f. Zur Abgrenzung der Niederlassungsfreiheit von Art. 221 EWGV siehe Maestripieri, La libre circulation des personnes et des services dans la CEE (1971), S. 105 ff. ' Hierzu Platz, wie Fn. 8, S. 48 ff. mit Angaben zum Schrifttum der Anfangsjahre. Weiter beispielsweise Wohlfarth/Everling/Glaesner/Sprung, wie Fn. 8. So auch E u G H 7.2.1979, Slg. 1979, 437. Das Reyners-Urteil E u G H 21.6.1974, Slg. 1974, 631, hat zwischen Einführung und Erleichterung der Niederlassungsfreiheit unterschieden und im 8
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Die Zusammenschlußkontrolle nach dem GWB ließe sich danach rechtfertigen, weil sie Inländer in gleicher Weise wie ausländische Unternehmen trifft. Es liegt keine Ausländerdiskriminierung vor. a) Indessen läßt die Rechtsentwicklung erkennen, daß die nach Art. 52 I EWGV unzulässigen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit sich - jedenfalls für den Akt der Niederlassung, vielleicht im Gegensatz zu ihrer späteren Betätigung - nicht in Ausländerdiskriminierungen erschöpfen. (1) Zunächst hat die mit dem Beitritt Großbritanniens, Irlands und Dänemarks vereinbarte englische Fassung des Art. 52 II einen weiterreichenden Wortlaut. Dort heißt es nicht, daß die Niederlassungsfreiheit die Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten usw. nach den Bestimmungen des Aufnahmestaates „umfaßt". Vielmehr lautet die englische Fassung, daß Niederlassungsfreiheit diese Tätigkeiten usw. einschließt („comprises"). Das Verbot der Ausländerdiskriminierung würde danach die Niederlassungsfreiheit nicht erschöpfen. Das Beschränkungsverbot des Art. 52 I EWGV kann vielmehr weiterreichen. Dem kommt als der jüngeren Fassung des EWG-Vertrags klarstellende Bedeutung zu. (2) Nach Art. 571 EWGV ist zur Erleichterung der Niederlassung die gegenseitige Anerkennung der Zeugnisse usw. durch Richtlinien zu bewirken. In einem Urteil hat der Europäische Gerichtshof (im folgenden: Gerichtshof) jedoch, einmal gestützt auf Art. 5 EWGV, festgestellt, daß Niederlassungsfreiheit das unmittelbar wirksame Recht einschließt, auch vor Erlaß der Richtlinien in einem anderen Staat zur Berufsausübung zugelassen zu werden, wenn dessen Recht die Anerkennung eines ausländischen Zeugnisses schon von sich aus ermöglicht10. Vor allem ist im Broekmeulen-Urteil" entschieden worden, daß nach Erlaß einer Richtlinie über die Anerkennung von Zeugnissen usw. auch der Inländer im Inland ein Niederlassungsrecht hat, wenn er ein anzuerkennendes Zeugnis in einem anderen EG-Staat erworben hat. Alle genannten Entscheidungen dehnen die unmittelbar wirksame Niederlassungsfreiheit über das enge Verbot der Ausländerdiskriminierung hinaus aus. Generalanwalt Mayras hat sich in seinen Schlußanträgen zum ersten der genannten Verfahren ausdrücklich gegen eine Argumentation gewandt, die allein auf formale Inländerbehandlung der Ausländer abstelle und
übrigen seine Aussage auf die unmittelbare Wirkung der Inländerbehandlung beschränkt, ohne damit die Niederlassungsfreiheit auf Inländerbehandlung zu reduzieren. 10 EuGH 28.6.1977, Slg. 1977, 1199; EuGH 28.4.1977, Slg. 1977, 765. 11 EuGH 6.10.1981, Slg. 1981, 2311. Hierzu schon EuGH 7.2.1979, Slg. 1979, 399.
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den Gleichbehandlungsgrundsatz eng auslege12. Dem trägt die englische Fassung von Art. 52 E W G V angemessen Rechnung. (3) Diese Entwicklungen deuten auf eine Interpretation der Niederlassungsfreiheit hin, derzufolge diese Freiheit gemäß Art. 52 E W G V zwar in erster Linie Ausländerdiskriminierungen, darüber hinaus aber auch weitere Beschränkungen mindestens für den Niederlassungsakt (für die Aufnahme selbständiger Erwerbstätigkeit) ausschließt. b) Eine solche Interpretation würde dem zum Warenverkehr und auch zur grenzüberschreitenden Dienstleistung Erreichten entsprechen' 3 . Danach können auch nicht-diskriminierende inländische N o r men unzulässige Beschränkungen des Waren- oder Dienstleistungsverkehrs sein, beispielsweise, wenn sie diesen Verkehr stärker erschweren, als dies für ihre Zwecke erforderlich wäre. Mit dem Bekenntnis zu einem weiten Begriff unzulässiger Beschränkungen hat die Judikatur die gemeinschaftlichen Verbote für den Warenverkehr eindeutig und für den Dienstleistungsverkehr in deutlichen Ansätzen über die Dienstleistungsverkehr in deutlichen Ansätzen über die Diskriminierung ausländischer Waren und Dienstleistungen hinaus erstreckt. Es ist also systemgerecht, wenn für Niederlassungsfreiheit in gleicher Weise geurteilt wird. c) Danach kann auch die Zusammenschlußkontrolle nach dem deutschen G W B als unzulässige Beschränkung der Niederlassungsfreiheit in Betracht kommen, obwohl sie in- und ausländische Unternehmen in gleicher Weise trifft. Indessen ist zu fragen, ob die wenigen, hier aufgezeigten Gesichtspunkte ausreichen, damit Niederlassungsfreiheit gegen Zusammenschlußverbote mobilisiert werden kann. Immerhin sprechen ja der Wortlaut des Art. 52 II E W G V u. a. in deutscher und französischer Fassung sowie das Programm von 1961 zur Niederlassungsfreiheit' 4 eine teilweise andere Sprache. Danach sind Ausländerdiskriminierungen unzulässig. Demgegenüber sind aber zwei Wertungen wichtig, die zusätzlich zu den oben angeführten Überlegungen entscheidend dafür sprechen, der Niederlassungsfreiheit unmittelbare Wirkung auch gegen andere als diskriminierende Erschwernisse der Niederlassung ( = Aufnahme der Tätigkeit) zuzuerkennen. (1) Art. 30 E W G V verbietet Beschränkungen des grenzüberschreitenden Warenverkehrs. Auch für diese N o r m war zunächst erwogen worSlg. 1977, S. 791. Zum Warenverkehr vor allem Oliver, Free movement of goods in the Ε. Ε. C. (London, 1982). Zur Dienstleistungsfreiheit Steindorff\ EuR 1981, 426, S.436 und EuGH 18.3.1980, Slg. 1980, 833, besonders Generalanwalt Warner; weiter EuGH 1981, 3305 und 1982, 223. Zuletzt Steindorff, RIW/AWD 1983, 831 ff. 14 ABl. 1962, 36 mit Änderung ABl. 1962, 107. Dazu Generalanwalt Mayras, wie Fn. 12. Immerhin werden in Abschnitt III Β auch dort schon faktische Diskriminierungen als Verstoß gegen Niederlassungsfreiheit verboten. 12
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den, sie nur auf Regeln und Maßnahmen anzuwenden, die sich speziell gegen Einfuhren richten und damit zwischen aus- und inländischen Produkten diskriminieren. Erst im Laufe der Zeit hat sich die Regel durchgesetzt, daß auch nicht-diskriminierende staatliche Normen und Maßnahmen von Art. 30 E W G V erfaßt werden15. Ähnliches gilt für Art. 34. Diese Entfaltung gemeinschaftsrechtlicher Regeln im Laufe der Zeit auch durch die Judikatur entspricht dem Verständnis des Gemeinschaftsrechts als des Instruments eines Integrationsprozesses16. Man kann diese Instrumentalisierung des Gemeinschaftsrechts kritisieren. Für eine positivistische Analyse des Gemeinschaftsrechts läßt sie sich nicht bestreiten. Sie kann vor der Niederlassungsfreiheit nicht haltmachen. Sie führt zu fortschreitender rechtlicher Entfaltung dieser wie anderer Freiheiten des EG-Rechts im Laufe der Zeit. (2) Widerstände, die sich hiergegen aus dem Wortlaut von Art. 52 E W G V in den älteren sprachlichen Fassungen ergeben sollten, lassen sich leicht überwinden. Art. 5 E W G V begründet eine Förderpflicht der Staaten zugunsten der Gemeinschaft. Diese Bestimmung ist auf den fortschreitenden Integrationsprozeß ausgerichtet. Sie hat sogar unmittelbare innerstaatliche Wirkungen, jedenfalls in einzelnen Richtungen17. Sie legitimiert selbst gegen den Wortlaut des Art. 52 II E W G V eine Deutung der Niederlassungsfreiheit, derzufolge diese auch andere als diskriminierende Beschränkungen verbietet. Art. 5 erlaubt und gebietet damit eine Parallelschaltung der Niederlassungsfreiheit mit Art. 30 E W G V als Instrument des Integrationsprozesses. Danach wirkt Niederlassungsfreiheit auch gegen andere als diskriminierende Beschränkungen. d) Unmittelbare innerstaatliche Wirkung eines so weit gefaßten Beschränkungsverbots setzt allerdings voraus, daß seine Normierung selbstgenügsam (self-executive) ist und daß sie sich aus dem Zweck eines Verbots ableiten läßt18. Hierzu hat der Gerichtshof" für die Niederlas15 Dazu Verfasser, wie Fn. 13 mit weiteren Angaben. Siehe auch Leleux in: Sandalow/ Stein (Hrsg.), Courts and free markets: Perspectives from the United States and Europe, Bd. 1 (1982), S. 385 ff. " Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht (1972), S. 66 f.; Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften, Bd. 1 (1979), S. 142 und 818 ff.; Pescatore, Les objectives de la Communaute Europeenne comme principe d'interpretation dans la jurisprudence de la Cour de Justice, in: Miscellanea Ganshof van der Meersch, Bd. 2 (1972), S. 325 ff.; Bleckmann, N J W 1982, 1177 ff. 17 Siehe Fn. 6 oben. Differenzierend Verfasser, Z H R 139 (1975), 249 S. 255 und C M L R 14 (1977), 133 ff. Die hiergegen von Ipsen, EuR 1978, 199, S. 238 ff. erhobenen Bedenken verkennen, daß EG-Recht und auch Art. 5 EWGV als Instrumente eines Integrationsprozesses zu deuten sind und schrittweise Entfaltung von Freiheiten im Laufe der Zeit einschließen. 18 Hierzu als Beispiel (zu Art. 119 EWGV) besonders klar E u G H 31.3.1981, Slg. 1981, 911 S. 926, Rdn. 17, mit weiteren Angaben. " E u G H 7 . 2 . 1 9 7 9 , Slg. 1979, 437 S.449.
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sungsfreiheit zwar geurteilt, daß Inländerbehandlung für ihre Verwirklichung nicht genüge. Er hat für diese Realisierung aber auf Richtlinien des Rats verwiesen. Damit hat er unmittelbare Wirkung implicite verneint. Heißt dies, daß solche Wirkung generell ausgeschlossen ist? (1) Zum Zweck der Niederlassungsfreiheit ergibt ihre Entstehungsgeschichte einen ersten wichtigen Gesichtspunkt. Danach sollten die in allen staatlichen Rechtsordnungen geltenden berufsrechtlichen Zulassungsnormen bis zu gemeinschaftsrechtlicher Regelung (Rechtsangleichung) erhalten bleiben20. Dem trägt eine Interpretation von Art. 52 EWGV Rechnung, welche nur seinem Diskriminierungsverbot unmittelbare innerstaatliche Wirkung zuerkennt, die staatlichen Normen selbst jedoch unangetastet läßt. Die Zusammenschlußkontrolle läßt aber deutlich werden, daß für die Niederlassungsfreiheit auch andere als berufsrechtliche Behinderungen existieren. Deren Beseitigung durch unmittelbar wirkende Niederlassungsfreiheit ist nach der Entstehungsgeschichte von Art. 52 EWGV nicht ausgeschlossen. Infolgedessen stellt sich die Frage, ob Niederlassungsfreiheit für andere als berufsrechtliche Regelungen ein innerstaatlich unmittelbar wirksames (Beschränkungs-) Verbot einzuschließen vermag. Diese Frage ist von dem oben zitierten Urteil nicht entschieden worden. Ihre Beantwortung erfordert eine grundsätzliche Feststellung zum Gemeinschaftsrecht. Sowohl Berufsrecht wie Kartellrecht gehören zu den Rechtsgebieten, deren Normen kraft politischer und rechtspolitischer Entscheidung entstehen. Auf diesen Gebieten kommt Rechtsetzung in der EG den Staaten zu, weil nur dort politische Mehrheiten rechtspolitische und politische Konzepte durchsetzen, korrigieren und fortentwickeln können, weil nur dort in Regierung und den für die Gesetzgebung zuständigen Parlament sich politische Kräfte mit neuen Anliegen Geltung zu verschaffen vermögen. Die Gemeinschaft mit dem Rat als einem allenfalls zum Kompromiß fähigen, mit seiner Rechtsetzung die Rechtsentwicklung für die Zukunft eher blockierenden Gesetzgebungsorgan muß in den politisch beeinflußten Gebieten die Rechtsentwicklung dem Wettbewerb der Staaten überlassen. Die Gemeinschaft muß sich mit der Anregung eines Wettbewerbs und im übrigen auf Harmonisierung und Angleichung staatlicher Rechte begnügen, soweit dies für das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes erforderlich ist21. 20
Wohlfarth/Everting/Glaesner/Sprung, wie Fn. 8, S. 166 f. Zuletzt zutreffend in diesem Sinn, mit etwas anderer Begründung, Fikentscber, Wirtschaftsrecht, Bd. I (1983), S. 486. Eine kritische Auseinandersetzung mit jeder Angleichungseuphorie oder -manie der EG kann hier nicht geleistet werden. Verfasser hat zu einem Einzelgebiet schon einen Versuch unternommen, zuletzt in Universite Catholique de Louvain, L'Harmonisation du droit du contrat de l'assurance dans la C. E.E. (1981), 21
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Mit ihrer Rechtsetzungszuständigkeit wächst die Verantwortung der Staaten für die Gemeinschaftsverträglichkeit ihrer Gesetzgebungsakte. Diese Verantwortung wird in Art. 5 E W G V angesprochen. Von hier aus drängt sich eine Folgerung für die Niederlassungsfreiheit geradezu auf: Wird sie als Gebot nur der Inländerbehandlung begriffen oder jedenfalls in ihrer unmittelbaren innerstaatlichen Wirkung auf ein solches Gebot beschränkt, so ist dies sachgemäßer Ausdruck des Respekts vor staatlicher Zuständigkeit, etwa im Bereiche des Berufsrechts. Mit dieser staatlichen Kompetenz geht aber staatliche Verantwortung für die Gemeinschaftsziele Hand in Hand, die in Art. 5 E W G V ihren Ausdruck findet. Dieser Artikel hat - wie bereits erwähnt unmittelbare, teilweise sogar unmittelbare innerstaatliche Wirkungen. Seine unmittelbare Wirkung ist neben der Rechtsangleichung das nötige Korrelat zu staatlicher Verantwortung für Rechtspolitik 22 . Nach Art. 5 lassen sich zwar keine Bindungen der Staaten rechtfertigen, die ebenso streng sind wie diejenigen, welche die Cassis de Dijon-Judikatur 2 3 zu Art. 30 E W G V entwickelt hat. Das gilt um so mehr, als die letzteren durchaus fragwürdig sind. Wohl muß Niederlassungsfreiheit nach ihrer ratio aber solchen nicht-diskriminierenden staatlichen Beschränkungen unmittelbar entgegenstehen, die ohne Rücksicht auf Anliegen der Gemeinschaft eingreifen. Vom Sinn der Niederlassungsfreiheit ist deshalb ihre unmittelbare Wirkung über das Diskriminierungsverbot hinaus im Sinne eines Berücksichtigungsgebots zu bejahen. (2) Zur Selbstgenügsamkeit dieses Gebots ist darauf zu verweisen, daß es bei der einzelnen N o r m und ihrer Anwendung die Abwägung zwischen staatlichem Regelungsanliegen und Gemeinschaftsinteresse erfordert. Eine solche Abwägung ist staatlichen Gerichten bereits in Art. 30 E W G V aufgegeben. Sie wird also vom Gemeinschaftsrecht als möglich beurteilt. Sie ist staatlichen Gerichten (und Behörden) jedenfalls insoweit zumutbar, als es darum geht, ob staatliches Recht Gemeinschaftsanliegen überhaupt in ernsthafter Weise berücksichtigt. Insoweit muß darum unmittelbare Wirkung der Niederlassungsfreiheit über reine Diskriminierungsverbote hinaus bejaht werden. Darauf ist zurückzukommen.
S. 193, besonders 2 0 5 f. Wahrscheinlich wiegen die durch ein Übermaß an Angleichung bewirkten Belastungen und besonders Kosten schwerer als der mit Rechtsangleichung erzielbare Beitrag zum Gemeinsamen Markt. - Zur politischen Aufgabe der Staaten E u G H 1981, 3305 S. 3 3 2 5 und 1982, 2793. 22 In diesem Sinne der Beitrag des Verfassers, wie Fn. 17. 25 Hierzu besonders die Mitteilung der Kommission ABl. C 2 5 6 / 2 (1980) = WuW 1981, 21 und Oliver, Free Movement of goods in the Ε. Ε . C . (1982). Im übrigen namentlich Generalanwalt VerLoren van Themaat, Slg. 1982, 720 S. 727 ff.
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3. Hieraus folgt für die Niederlassungsfreiheit, daß sie nicht nur Ausländerdiskriminierungen, sondern auch weiteren beschränkenden staatlichen Maßnahmen entgegensteht. Sie ist gegenüber nicht-diskriminierenden staatlichen Maßnahmen insoweit unmittelbar wirksam, als sie von diesen Berücksichtigung der Gemeinschaftsbelange verlangt. Sie schließt also Zusammenschlußverbote des staatlichen Rechts dann mit unmittelbarer Wirkung aus, wenn diese Verbote Gemeinschaftsanliegen nicht berücksichtigen. III. Konsequenzen für die deutsche Zusammenschlußkontrolle 1. In einem ersten Punkt entspricht deutsches Kartellrecht für die Zusammenschlußkontrolle ohne weiteres dem Berücksichtigungsgebot des Gemeinschaftsrechts: Kleinmann hat jüngst gezeigt, daß die deutsche Zusammenschlußkontrolle für die Berechnung von Marktanteilen und die Ermittlung von Marktmacht ihren Blick nicht mehr auf den deutschen Markt beschränkt, sondern daß sie Märkte und Marktmacht unabhängig von nationalen Grenzen beurteilt24. Harms hat schon früher darauf hingewiesen, daß dies dem Gebot des Gemeinschaftsrechts entspricht25, welches zum Inhalt hat, den Gemeinsamen Markt zu berücksichtigen. Damit bleibt nur die Frage, ob Gemeinschaftsrecht weitere Anforderungen an die deutsche Zusammenschlußkontrolle stellt. 2. Aus der Grundsatzbestimmung in Art. 3 lit. f.) EWGV läßt sich schließen, daß eine staatliche, auf Förderung des Wettbewerbs ausgerichtete Kartellrechtspraxis dem Gemeinschaftsrecht nicht grundsätzlich zuwiderläuft. Für Zusammenschlußkontrolle wird dies durch das in Sachen Continental Can und Europemballage ergangene Urteil des Gerichtshofs26 bestätigt, wonach geltendes und unmittelbar wirksames Gemeinschaftsrecht, nämlich Art. 86 EWGV, in Grenzfällen selbst eine Zusammenschlußkontrolle ermöglicht. Das Fehlen zusätzlicher gemeinschaftsrechtlicher Regelungen wird man nicht als Ausdruck dafür interpretieren dürfen, daß eine weitergehende und echte Zusammenschlußkontrolle mit Gemeinschaftsrecht unvereinbar wäre. Infolgedessen ist lediglich zu erwägen, ob Gemeinschaftsrecht einzelnen gegen Zusammenschlüsse gerichteten Maßnahmen entgegensteht. 3. Hierzu ist festzustellen, daß Niederlassungsfreiheit ein rechtliches Instrument auch der Industriepolitik darstellt, die - heute unter dem Kleinmann, BB 1983, 781 ff. In Gemeinschaftskommentar zum GWB, 4. Aufl. (1981), Einl. Zus. Kontrolle, Nr. 103, allerdings ohne Einzeluntersuchung. 2< Wie Fn. 3. 2