Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin in den Jahren 1859 bis 1933 [Reprint 2013 ed.] 9783110894882, 9783110129045


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German Pages 249 [252] Year 1991

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Table of contents :
1. Einleitung und Aufgabenstellung
2. Chronologie der Wirksamkeit der Juristischen Gesellschaft zu Berlin in den Jahren 1859 bis zur Reichsgründung 1871
2.1. Vorläufer
2.2. “Reaktionsjahrzehnt” und “Epochenjahr”
2.3. Die Gründung der Gesellschaft im Jahre 1859
2.4. Die ersten Jahre der Vereinstätigkeit 1859 bis 1871
3. Von der Reichsgründung bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges 1914
3.1. Reichsjustizgesetze und “Lex Miquel-Lasker”
3.2. Biographisches - Heydemann
3.3. Die letzten Jahre der Präsidentschaft des Grafen von Wartensleben
3.4. Die Gesellschaft unter der Präsidentschaft Richard Kochs
3.5. Strafrechts- und Strafprozeßreform 1909-1913
3.6. “Verwaltungsdilemma”
4. Die Gesellschaftstätigkeit in den Kriegsjahren 1914-1918
4.1. Vorboten
4.2. Nach dem Kriegsausbruch
5. Die Zeit der “Weimarer Republik”
5.1. Ausbruch der Revolution
5.2. Justizreform
5.3. Weimarer Nationalversammlung und Reichs Verfassung
5.4. Schwerpunktthemen der zwanziger Jahre: Steuer-, Finanz- und Wirtschaftsrecht
5.5. Strafrecht, Strafprozeß und Strafvollzug
5.6. Bürgerliches Recht und Zivilprozeß
5.7. Arbeitsrecht
5.8. Die “Vertrauenskrise der Justiz” 1926-1928
5.9. Nach der “Machtergreifung”
5.10. Biographisches - Gierke, Riesser, Kipp, Heymann
6. Zusammenfassung
Anhang
1. Chronologische Auflistung der in den Jahren 1903 bis 1933 vor der Juristischen Gesellschaft gehaltenen Vorträge
2. Preisaufgaben der Juristischen Gesellschaft 1859 bis 1933
3. Chronologische Auflistung der von der Savigny-Stiftung geförderten Arbeiten 1863 bis 1926
4. Zusammensetzung des Vorstandes 1859 bis 1933
5. Ehrenmitglieder und Korrespondenten der Gesellschaft 1886 bis 1933
6. Mitgliederzahlen 1859 bis 1933
Quellen- und Literaturverzeichnis
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Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin in den Jahren 1859 bis 1933 [Reprint 2013 ed.]
 9783110894882, 9783110129045

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Andreas Fijal Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin in den Jahren 1859 bis 1933

von

Andreas Fijal

w DE

G

1991 Walter de Gruyter · Berlin · New York

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek



CIP-Einheitsaufnahme

Fijal, Andreas: Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin in den Jahren 1859 bis 1933 / von Andreas Fijal. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1991 Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 1990 ISBN 3-11-012904-3

© Copyright 1991 by Walter de Gruyter & Co., D-1000 Berlin 30. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: WB-Druck GmbH, 8959 Rieden am Forggensee Bindearbeiten: Dieter Mikolai, 1000 Berlin 10 Umschlagentwurf: Thomas Beaufort, 2000 Hamburg 20

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Juli 1990 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen. Angeregt und betreut hat sie mein akademischer Lehrer, Herr Univ.Prof.Dr. Friedrich Ebel, dem ich an dieser Stelle für seine Förderung und konstruktive Kritik danken möchte. Die Forschungsarbeiten hätten in dieser Form nicht vorangetrieben werden können ohne die Unterstützung durch den ehemaligen Präsidenten des Kammergerichts und der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, Herrn Dr. Diether Dehnicke, dem ich darob ebenfalls zu Dank verpflichtet bin, wie der Juristischen Gesellschaft selber für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Nicht unerwähnt bleiben darf die Hilfe der Archivare des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz (Berlin), des Archivs der Akademie der Wissenschaften der (ehem.) DDR und des Zentralen Staatsarchivs Merseburg (ehem. DDR).

Berlin, im Februar 1991 Andreas Fijal

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung und Aufgabenstellung

S.

1

2. Chronologie der Wirksamkeit der Juristischen Gesellschaft zu Berlin in den Jahren 1859 bis zur Reichsgründung 1871

S.

5

2.1.

Vorläufer

S.

5

2.1.1.

Der "Berliner Juristen-Verein" 1825

S.

5

2.1.2.

"Über die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft" 1847

S.

6

2.1.3.

"Verein Hamburger Juristen" 1846- 1859

S.

7

2.1.4.

Die "Juristische Gesellschaft zu Basel" 1835 - 1845

S.

8

2.2.

"Reaktionsjahrzehnt" und "Epochenjahr"

S.

9

2.3.

Die Gründung der Gesellschaft im Jahre 1859

S. 13

2.4.

Die ersten Jahre der Vereinstätigkeit 1859 bis 1871 Der "Deutsche Juristentag" 1860 Gründung von Schwestergesellschaften Die "Savigny-Stiftung" 1861/62 Internationale Kontakte Gesetzgebungskritik BiographischesTwesten - Bornemann, Volkmar, Hiersemenzel, Stiftungsfest 1869 und Reichsgründung 1871

2.4.1. 2.4.2. 2.4.3. 2.4.4. 2.4.5. 2.4.6. 2.4.7.

3. Von der Reichsgründung bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges 1914

S. S. S. S. S. S.

16 19 25 30 35 39

S. 45 S. 51

S. 55

3.1.

Reichsjustizgesetze und "Lex Miquel-Lasker"

S. 57

3.2.

Biographisches - Heydemann

S. 62.

vm

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

3.3.

Die letzten Jahre der Präsidentschaft des Grafen von Wartensleben

S. 63

3.3.1.

Gründerjahre und Wirtschaftsrecht

S. 63

3.3.2.

Biographisches - von Wartensleben und Lasker . . . .

S. 66

3.4.

Die Gesellschaft unter der Präsidentschaft

3.4.1.

Richard Kochs

S. 71

Die "Elite" der Berliner Juristenwelt

S. 71

3.4.2.

Scheckrecht und Studentenmensur

S. 73

3.4.3.

Die soziale Frage

S. 77

3.4.4.

Stiftungsfest II 1884: Der Verein als juristische Person 3.4.5. Ehrenmitglieder und Korrespondenten 3.4.6. Schwerpunktthemen der Periode bis 1909 3.4.7. Die Juristische Gesellschaft und das BGB 3.4.8. "Große Männer" und die Frauenfrage 3.4.9. Ausblicke Stiftungsfest III 1909: in die Rechtsentwicklung der Zukunft . . . 3.4.10. Biographisches - Koch, Eck, Wilke, von Wilmowski, Lesse, Levy

S. S. S. S. S.

79 81 84 86 92

S. 94 S. 95

3.5.

Strafrechts- und Strafprozeßreform 1909- 1913 . . . .

S.102

3.6.

"Verwaltungsdilemma"

S.105

4. Die Gesellschaftstätigkeit in den Kriegsjahren 1914-1918

S.109

4.1.

Vorboten

S.109

4.2.

Nach dem Kriegsausbruch

S.110

4.2.1.

"Geheimkonferenzen"

S.113

4.2.2.

"Keime künftiger Rechtsentwicklungen"

S.114

4.2.3.

Brest Litovsk und Versailles

S.117

5. Die Zeit der "Weimarer Republik" 5.1.

Ausbruch der Revolution

S.119 S.119

Inhaltsverzeichnis

5.2.

Justizreform

S. 119

5.3.

Weimarer Nationalversammlung und Reichs Verfassung

S.123

5.4.

Schwerpunktthemen der zwanziger Jahre: Steuer-, Finanz-und Wirtschaftsrecht

S.130

5.4.1.

Eine kurze Geschichte der Inflation

S.131

5.4.2.

Sozialisierung und Steuerrecht

S.131

5.4.3.

Arbeitsgemeinschaft für Gesetzgebungsfragen 1924 - 1933

6.

IX

S.133

5.4.4.

Sondergerichte für das Wirtschaftsrecht

S.134

5.4.5.

Aktien-und Konzernrecht

S.136

5.4.6.

Urheber-und Patentrecht, Wettbewerbsschutz

S.138

5.5.

Strafrecht, Strafprozeß und Strafvollzug

S.139

5.6.

Bürgerliches Recht und Zivilprozeß

S.142

5.6.1.

Privatrecht und Wirtschaftsentwicklung

S.142

5.6.2.

Internationales Privatrecht

S.144

5.6.3.

Mietrecht

S.144

5.6.4.

Zivilprozeß

S.146

5.7.

Arbeitsrecht

S.147

5.8.

Die "Vertrauenskrise der Justiz" 1926 - 1928

S.148

5.8.1.

Erich Eycks Vortrag "Die Kritik an der deutschen Rechtspflege" (9. Januar 1926)

S.148

5.8.2.

Justizkritiker in der Juristischen Gesellschaft

S.151

5.9.

Nach der "Machtergreifung"

S.152

5.9.1.

Das vorläufige Ende der Vereinswirksamkeit

S.152

5.9.2. 5.10.

Exempla des jüdischer Mitglieder undSchicksals Referenten Biographisches - Gierke, Riesser, Kipp, Heymann

S.156

Zusammenfassung

S.166

S.173

χ

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

Anhang 1. Chronologische Auflistung der in den Jahren 1903 bis 1933 vor der Juristischen Gesellschaft gehaltenen Vorträge 2. Preisaufgaben der Juristischen Gesellschaft 1859 bis 1933 3. Chronologische Auflistung der von der Savigny-Stiftung geförderten Arbeiten 1863 bis 1926 4. Zusammensetzung des Vorstandes 1859 bis 1933

S.205 S.219

5. Ehrenmitglieder und Korrespondenten der Gesellschaft 1886 bis 1933 6. Mitgliederzahlen 1859 bis 1933

S.223 S.227

Quellen- und Literaturverzeichnis

S.175 S.203

S.229

Einleitung und Aufgabenstellung Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin von ihrer Gründung im Jahre 1859 bis zum vorläufigen Ende ihrer Wirksamkeit 19331 umfaßt entscheidende Phasen der neueren deutschen Geschichte und der damit verknüpften Rechtsentwicklung. Am Anfang steht das Ringen um die nationale Einheit. Dieser schreitet die Rechtsvereinheitlichung teilweise voran (ζ. B. Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch , 1861; Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund von 1869). Markante Punkte auf dem Weg zum zweiten deutschen Kaiserreich sind die Kriege gegen Dänemark (1864) und Österreich (1866), aus welchem die Gründung des Norddeutschen Bundes unter Preußens Führung resultiert (1866/67), sowie schließlich gegen Frankreich (1870/71). Nach der von Bismarck vorbereiteten Gründung des "ruhelosen''^ Kaiserreichs (1871) folgt die Zeit der großen Gesetzgebungswerke des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts: 1871 Reichsstrafgesetzbuch (RStGB); 1879 die Reichsjustizgesetze: Zivilprozeßordnung (ZPO), Konkursordnung (KO), Gerichtsverfassungsgesetz (GVG), Strafprozeßordnung (StPO); 1883 - 1890 die Sozialgesetzgebung der Bismarckära: Krankenversicherungsgesetz (1883), Unfallversicherungsgesetz (1884), Alters- und Invaliditätsversicherungsgesetz (1889), an welche 1890/91 die Arbeiterschutzgesetzgebung anknüpft; 1897/98 die die ZPO ergänzenden Verfahrensgesetze: Gesetz über die Zwangsversteigerung und Zwangsverwaltung (ZVG), die Grundbuchordnung (GBO), Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGG); und als Hauptwerk der Zeit das Bürgerliche Gesetzbuch (1896 verabschiedet und am 1.1.1900 in Kraft getreten).

1

Wassermann, Die Beri. Jur. Ges., in: JR 1964, S. 97ff. (98) nennt das Jahr 1934 ohne Angabe einer Quelle; ein Fortbestehen bis 1934 ist von schriftlichen Quellen nicht belegt; unklar insoweit auch Scholz, 125 Jahre Jur. Ges. zu Berlin, in: Berliner Anwaltsblatt 1983, S. 207ff. (210) unter Bezugnahme auf die mündliche Auskunft des inzwischen verstorbenen ehemaligen Landgerichtsdirektors Seidel, dessen Frau und Tochter auf Befragen des Verf. die Angaben nicht bestätigen konnten.

2

Stürmer, Das ruhelose Reich, Deutschland 1866 bis 1918.

2

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

Zu nennen sind weiter die Gesetze über den gewerblichen Rechtsschutz (Patentrecht usw.) und das Urheberrecht (1871 - 1900) sowie gegen den unlauteren Wettbewerb (1909), das Gesetz über den Versicherungsvertrag (1908) und das Versicherungsaufsichtsgesetz (1901), welche um die Jahrhundertwende auf die Entwicklungen und Bedürfnisse in einer vom wirtschaftsstarken Bürgertum bestimmten Industriegesellschaft reagieren. Dann folgt der Einschnitt des 1. Weltkrieges 1914 mit den Sonderfragen des Kriegsrechts und der noch wenig beleuchteten Problematik der Privatrechtsentwicklung unter Kriegseinfluß3 sowie den verfassungsrechtlichen Reformversuchen in den letzten Kriegsjahren. Den Abschluß bildet die Zeit der "Weimarer Republik" mit der ersten Rechtswirklichkeit gewordenen demokratischen und republikanischen Verfassung auf deutschem Boden (1919), dem Ringen um sozialen Ausgleich auf dem immer bedeutender werdenden Gebiet des Arbeitsrechts (Art. 157 WRV, Aufwertungsgesetz 1925 mit Ausbau des Arbeitsvertrags- und Sozialrechts sowie des Mieterschutzes, das Arbeitsgerichtsgesetz von 1926, welches den ordentlichen Gerichten Arbeitsgerichte angliederte); dem Bemühen um Vereinfachung des Gerichtsaufbaus durch die Emmingersche Justizreform 1924, durch welche ζ. B. die wirklichen Schwurgerichte abgeschafft wurden. Schließlich die Zerschlagung des Rechtsstaates unmittelbar nach der nationalsozialistischen "Machtergreifung" 1933. Das juristische Leben vollzieht sich nicht nur in den Gerichtssä^len, juristischen Fakultäten und Verwaltungsbehörden. Eine bedeutende Rolle spielen auch das außerforensische Fachgespräch im Schriftum und die juristischen Vereinigungen, Gesellschaften und Verbände. Diese sind und waren keineswegs nur reine Interessenverbände, sondern sie beschäftigten sich seit jeher neben berufspolitischen auch mit wirtschaftlichen sowie sozialen Fragen und leisteten vielfach bedeutsame Beiträge zur Förderung der Gesetz-

Vgl. hierzu Dömer, Erster Weltkrieg und Privatrecht, in: Rechtstheorie 17 (1986), S. 385-401.

Einleitung und Aufgabenstellung

3

gebung und Rechtswissenschaft*. Letzteres gilt in verstärktem Maße für die Berliner Juristische Gesellschaft in den ersten Jahrzehnten ihrer Wirksamkeit nach 18595. "Wenn die moderne bürgerliche Gesellschaft wirklich eine neue Form von Gesellschaft, von sozialer Gruppierung und Interaktion, von Vergesellschaftung also, darstellt, woanders als in den neuen Formen von Geselligkeit und Gruppenbildung, in den Clubs, Assoziationen und Vereinen ... kann sie aufgefunden weiden?"6 Die historische und soziologische Forschung weiß über die Vorläufergeschichte des Vereinswesens im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weit mehr als über dessen vielfältige Konkretisierung im industriellen Zeitalter, als die Assoziation (ein "Zauberwort" und "Schlüsselbegriff') die Gesellschaft mitprägte''. Das 19. Jahrhundert wurde das Jahrhundert des Vereinswesens, die politische Debatte der Liberalen der 1848er Bewegung war die Debatte im Verein; die neue Rechtsform des Vereins wurde zur wohl demokratischsten Rechtsneuerung des Bürgertums8. Ziel dieser Arbeit ist es zu untersuchen, inwieweit die Juristische Gesellschaft zu Berlin die erwähnten Rechtsentwicklungen mitbeeinflußt hat bzw. inwieweit sie sich in ihrer Tätigkeit spiegeln. Dies soll in chronologischer Darstellung der Wirksamkeit der Gesellschaft in den Jahren 1859 bis 1933 geschehen. Daneben wird deren Struktur (Zusammensetzung der Mitglieder, Aufgabenstellung, Themenwahl, Schwerpunkte der Tätigkeit) beleuchtet, um Aufschlüsse über verschiedene Ebenen des Rechtslebens (ζ. B. Juristenstand und -selbstverständnis, Kommunikation der Fachwelt, Reso4

Vgl. Wassermann, Die Beri. Jur. Ges., in: JR 1964, S. 97ff. (97); Jasper, Gesellschaft Hamburger Juristen 1885 - 1985, S. 13ff.

5

Vgl. etwa bei Daffis, Ait. Jur. Ges. und Vereine, in: Stier-Somlo; Elster (Hrsg.), Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, 3. Bd., S. 420ff. (420 - 422).

6

Dann (Hrsg.), Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland, HZ Beiheft 9 (NF) 1984, S. 5.

7

Tenfelde, Die Entfaltung des Vereinswesens während der industriellen Revolution in Deutschland (1850 -1873), in: Dann (Hrsg.) a.a.O., S. 57.

S

Hattenhauer, Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des deutschen Rechts, 3.Aufl., S. 145.

4

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

nanz in der "Außenwelt") der genannten Phasen zu gewinnen. Dazu sollen auch ausgewählte Kurzbiographien von Juristen dienen, die das Vereinsleben geprägt haben. Im Anhang findet sich ergänzendes chronologisches und tabellarisches Material zum Thema.

Chronologie der Wirksamkeit der Juristischen Gesellschaft zu Berlin in den Jahren 1859 bis zur Reichsgründung 1871 1

2.1.

Vorläufer

Die Juristische Gesellschaft zu Berlin ist nicht ohne Vorläufer in der Berliner Lokal- und Justizgeschichte gewesen. 2.1.1.

Der "Berliner Juristen-Verein" von 1825

Wie aus den Akten des Zentralen Staatsarchivs zu Merseburg zu entnehmen ist2, hat bereits im Jahre 1825 der Kammergerichtsrat Gedike einen "Berliner Juristen-Verein", nach dem damaligen Kammergerichtspräsidenten der "Woldermannsche Juristen-Verein" genannt, gegründet. Die "Staatsund Gelehrte Zeitung des hamburgischen unpartheyischen Correspondenten" berichtet in ihrer Ausgabe vom 5. März 1825 von der Eröffnungssitzung des Vereins unter Mitwirkung Woldermanns am 19. Februar d. JA Der Verein bestand zunächst aus 80 Referendaren und Auskultatoren des Kammergerichts und hatte sich die Förderung des juristischen Nachwuchses durch zwei wöchentliche Sitzungen zum Ziel gesetzt. An einem Tag sollten sich die Mitglieder im mündlichen Vortrag und öffentlichen Verfahren üben, an einem anderen Vorträge zur Ergänzung und Vervollständigung des Landrechts gehalten und diskutiert werden. Gemeint war das "Allgemeine Landrecht fur die Preußischen Staaten" (ALR, 1794), welches nach Meinung Gedikes im Hinblick auf seine praktische Bedeutung im universitären Bereich zu wenig Beachtung fand. Diese Einschätzung war tatsächlich nicht ganz unzutreffend. Hatten die Schöpfer des ALR geplant, Rechtsprechung 1

Eine Auflistung der 1859 bis 1903 in der Gesellschaft gehaltenen Vorträge findet sich bei Neumann, Geschichte, S. 27 - 36; eine Chronologie der Vortrage in den Jahren 1903 bis 1933 im Anhang 1 dieser Arbeit.

2

Zentrales Staatsarchiv Merseburg, Deutsches Zentralarchiv, Hist.Abt. II, 2.5.1, Nr.3181/1 (alte Signatur: Rep.84a I Paa; Kammergericht Depst. No.98); Acta des Justizministeriums betreffend den Berliner Juristen-Verein 1825.

3

Zentrales StaatsA Merseburg, a.a.O., Bl. 4f.

6

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

und Wissenschaft zum "Gesetzesbiittel"4 zu machen, so behandelte die Wissenschaft das Gesetzbuch in der Folgezeit mit Hochmut und Vernachlässigung. Savigny, seit 1810 an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, nahm erst 1819 Landrechtsvorlesungen auf, die den inneren Voraussetzungen des Gesetzbuches nicht mehr gerecht wurden^. Ein Lehrstuhl für preußisches Recht wurde erst 1845 eingerichtet. Der Großkanzler und ehemalige preußische Justizminister von Beyme ließ sich in den "Woldermannschen Verein" aufnehmen. Die Sitzungen sollten im Sitzungssaal des Kammergerichts stattfinden und dem Publikum offenstehen. Das königliche Unterrichtsministerium befürchtete jedoch eine Konkurrenz zum akademischen Unterricht an der Berliner Juristenfakultät und forderte Gedike auf, sich für den Unterricht des "vaterländischen Rechts" an der Universität vorzubereiten und dort den Doktorgrad zu erlangen. Bis dahin wollte Gedike seine Übungen und Vorlesungen in einem "Privat-Lokale" abhalten. Professor Mitscherlich stellte ihm zunächst seinen Hörsaal zur Verfügung6. Aus den Jahren 1826 und 1827 sind der Schriftwechsel Gedikes mit dem Unterrichtsministerium und Gedikes Ankündigungen über Inhalt und Umfang seiner geplanten Veranstaltungen bei den Akten zu finden7. Von einem "Juristen-Verein" im ursprünglichen Sinne ist dort nicht mehr die Rede. 2.1.2.

"Über die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft 1847"

Ein weiterer Hinweis auf die Tätigkeit einer juristischen Gesellschaft vor 1859 in Berlin findet sich im Zusammenhang mit dem berühmten Vortrag des damaligen Staatsanwalts von Kirchmann8 "Über die Werthlosigkeit der 4

Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 334.

5

Vgl. Wieacker, a.a.O., S. 335.

«

Zentrales StaatsA Merseburg, a.a.O., Bl. 39f.

7

Zentrales StaatsA Merseburg, a.a.O., Bl. 22 - 44.

8

Vgl. zu Kirchmann: Wiethölter, in: Kritische Justiz (Hrsg.), Streitbare Juristen, S. 44ff.

Die Jahre 1859 bis 1871

7

Jurisprudenz als Wissenschaft" aus dem Jahre 1847. Wie dem gedruckten Vortragstext zu entnehmen ist, hielt von Kirchmann seinen Vortrag vor einer "juristischen Gesellschaft zu Berlin". Es handelte sich hierbei um einen der zahlreichen bürgerlichen Debattiervereine des Vormärz und der Revolutionsphase selbst (die Zahl der Berliner Vereinsgründungen im Jahre 1848 wird auf über 100 geschätzt9), die oft spontan entstanden und vielfach nicht sehr langlebig waren. Wolff zitiert in seiner "Revolutions-Chronik" unter der Überschrift "Associationen, Vereine, neue Clubs" (bezogen auf den April 1848) ein Mitglied der philosophischen Gesellschaft (20. April 1848): "Die früher hier zusammengetretenen einzelnen Vereine, der Juristen-, Freihandelsverein, die philosophische Gesellschaft ... versuchen es allmählig , sich auch wieder zusammenzufinden; indessen wirken die allgemeinen politischen Fragen noch zu mächtig, als daß sie schon in eine neue gedeihliche Thätigkeit wieder eintreten könnten."10 Wolff erwähnt daneben einen weiteren, dem "Woldermannschen" nicht unähnlichen "Verein jüngerer Juristen" (April 1848) unter dem "provisorischen Vorsitze des Hrn. v. Salviati"11. Es sollten Referendare und Auskultatoren Berliner Gerichte Aufnahme finden, politische, juristische und soziale Fragen diskutiert und die "Uebelstände im preußischen Justizdienste"12 und in der Juristenausbildung erörtert werden. Kirchmann hat dann 1873 vor der hier zu untersuchenden Gesellschaft über den damaligen Entwurf einer StPO referiert13. 2.1.3.

"Verein Hamburger Juristen" 1846- 1859

In der Zeit vor 1859 bemühte sich der Stadtgerichtspräsident Holzapfel vergeblich um die Herstellung eines geselligen Vereinigungspunktes der Berli-

9

Vgl. Richter, Zwischen Revolution und Reichsgriindung (1848 - 1870), in: Ribbe, Geschichte Berlins, Bd. 2, S. 623.

10

Wolff, Berlin«· Revolutions-Chronik, Bd. 2, S. 340.

H

Wolff, a.a.O., S. 342.

12

Wolff, a.a.O., S. 342.

«

Vgl. 15. Jahresbericht der Jur.Ges. (1873/74), S. 1.

8

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

ner Juristen''·. Der Gedanke einer solchen Vereinigung lag "gleichsam in der Luft"i5. In Hamburg gab es einen am 14. August 1846 gegründeten "Verein Hamburger Juristen", der sich vor allem mit politischen Fragen beschäftigte und dessen historische Spuren sich 1859 vollständig "im Sand der Geschichte verlieren" ι®. 2.1.4.

Die "Juristische Gesellschaft zu Basel" 1835 - 1845

Das 19. Jahrhundert, im Zeichen des nach politischer Beteiligung strebenden Bürgertums an Gründungen bürgerlicher Vereine und Gesellschaften nicht arm (H. Hattenhauer nennt den Verein die "Kinderstube der deutschen Demokratie" 17 ), bietet auch außerhalb Preußens Vorläufer, wenn nicht gar Vorbilder, für die spätere Juristische Gesellschaft zu Berlin. Genannt sei hier die Juristische Gesellschaft zu Basel 18 , Ende 1835 vermutlich auf Initiative des damaligen Baseler Professors der Rechtswissenschaft und Politikers Georg Beseler, welcher 1859 nach Berlin berufen und später Mitglied der Berliner Vereinigung wurde1', ins Leben gerufen. Sie war zunächst bis 1842 tätig, der Neugründung 1845 folgte nur eine kurze Phase der Wirksamkeit. Einige der in den von Beseler entworfenen Statuten festgelegten Ziele könnten durchaus für die Juristische Gesellschaft zu Berlin Vorbildcharakter gehabt haben. So heißt es in § 1 : "Der Zweck der Gesellschaft ist die Beförderung einer wissenschaftlichen Richtung unter den Freunden der Rechtskunde in Basel, sowohl im Allgemeinen, als auch in besonderer Beziehung 14

Vgl. 24. Jahresbericht der Jur.Ges. (1882/83), S. 27.

15

Koch, Rückblick 1884, S. 3.

16

Vgl. Jasper, Gesellschaft Hamburger Juristen, S. 9 -12.

17

Hattenhauer, Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des deutschen Rechts, 3.Aufl., S. 144.

18

Vgl. hierzu ausführlich Kern, Die Juristische Gesellschaft zu Basel, in: ZRG (GA) 100 (1983), S. 145ff.

"

Vgl. zur Person Beselers: Kleinheyer; Schröder, Deutsche Juristen, 3.Aufl., S. 32ff.

Die Jahre 1859 bis 1871

9

auf das einheimische Recht. Es soll vorzüglich eine Annäherung zwischen Theorie und Praxis angestrebt w e r d e n . "20 Erreicht werden sollten diese Ziele durch regelmäßige Vorträge von Wissenschaftlern und Pratikern im Rahmen der Gesellschaft.

2.2.

"Reaktionsjahrzehnt" und "Epochenjahr"

Die Juristische Gesellschaft zu Berlin wurde am Ende der vielfach pauschal als "Reaktionsjahrzehnt" beurteilten fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts gegründet (im "Epochenjahr"21 1859). Sicher fehlte diesen Jahren der bürgerlich-revolutionäre Impetus des Vormärz und der 1848er Revolution, dennoch brachten sie für die Geschichte Preußens wichtige ideen- und sozialgeschichtliche Entwicklungen. Immerhin begann das Jahrzehnt mit einigen Beispielen durchaus fortschrittlicher Gesetzgebung. So enthält die Preußische Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850 unter Titel II22 einige der von der Paulskirchenverfassung vorgesehenen Grundrechte. Weiter kann auf das Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit vom 12. Februar 185023 sowie die Gemeinde- bzw. Kreis-, Bezirks- und Provinzialordnung vom 11. März 185024 verwiesen werden, die, obwohl sie den Kommunen einige der Selbstverwaltungsrechte der Städteordnung von 1808 entzog, als politischer Fortschritt gewertet werden kann2*. Das Verdikt vom "schwärzesten" Jahrzehnt bezieht sich im Grunde mehr auf den Versuch der herrschenden konservativen Mächte in Preußen, den Gedanken an einen deutschen Nationalstaat aus weltanschaulichen Gründen

20

Zitiert nach Kern, a.a.O., S. 178.

2

Diwald, Geschichte der Deutschen, S. 197.

1

22

Abgedruckt in: Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1850, S. 117ff.

23

Abgedruckt in: Gesetz-Sammlung, a.a.O. 1850, S. 45 - 48.

24

Abgedruckt in: Gesetz-Sammlung, a.a.O. 1850, S. 213 - 265.

25

Vgl. Richter, Zwischen Revolution und Reichsgründung (1848 - 1870), in: Ribbe (Hrsg.), Geschichte Berlins, Bd. 2, S. 644.

10

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

zurückzuhalten2«. Die ungelöste deutsche Frage war das alles überschattende Problem der Zeit. Der preußische Staat Friedrich Wilhelms IV., auf einer streng ethischen Grundlage basierend (F. J. Stahl: "Nach Gestalt und Bedeutung ist er ein sittliches Reich"^), W ar von der Idee des homogenen Nationalstaats noch weit entfernt. Gleichzeitig wandelte sich mit der beginnenden Industrialisierung das Bewußtsein der im Produktionsprozeß stehenden Menschen erheblich. Die alte Ständegesellschaft befand sich nun endgültig in der Auflösung. An ihre Stelle trat eine freie Wirtschaftsgesellschaft mit hoher sozialer Mobilität28, wobei der Adel allerdings diese bürgerlich-kapitalistische Entwicklungslinie durch gezielte Gegensteuerung modifizierte2'. Größter Wohlstand und größte Armut wuchsen mit dem sprunghaften Anstieg der Bevölkerungszahlen nach der Jahrhundertmitte (in Preußen jährlich 2 - 3 %; Geborenenüberschußzahl 1851/1860 10,0 Promille, 1861/1870 11,2 Promille, 1891/1900 14,9 Promille»). Die fünfziger Jahre gelten als die ersten "Gründeijahre"31. Die weltweiten Entwicklungen moderner Wirtschaft und Technik nehmen in dieser Dekade ihrer Anfang: 1851:

1. Weltausstellung in London, Vorstellung der neuen Industrieerzeugnisse; erstes Seefunk-Telegraphenkabel Dover-Calais;

1853:

Borsig beginnt mit dem Bau eines Eisengroßwerkes in BerlinMoabit;

26

Vgl. Schoeps, Preußen, S. 207.

27

Stahl, Die Philosophie des Rechts, Bd. llfl, S. 131.

28

Vgl. etwa bei Palmade; Verley, Das bürgerliche Zeitalter, Bd. 27 der Fischer Weltgeschichte, S. 68 ff; Schieder, Staatensystem als Vormacht der Welt (1848 - 1918), Bd. 5 der Propyläen Geschichte Europas, S. 58-81.

»

Vgl. Lutz, Zwischen Habsburg und Preußen, S. 331.

30

Vgl. Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 210/11 (1910), S. 118.

31

Lutz, a.a.O., S. 330.

Die Jahre 1859 bis 1871

11

1855/56:

Entwicklung des Bessemerverfahrens der Massenerzeugung von Flußstahl;

1858:

erstes transatlantisches Kabel;

1859:

Beginn des Baus des Suezkanals;

1860:

Krupps erste Kanonenrohre aus Gußstahl; Lenoirs Gasmotor mit elektrischer Zündung; Reis konstruiert das erste Telefon; Bau der ersten Rotationspresse.

Während Karl Marx dem Mittelstand prophezeit, zwischen Kapital und Proletariat zerrieben zu werden, beginnen in Preußen die Initiativen für gewerbliche Mittelstandspolitik (Raiffeisen, Schultze-Delitzsch). In den späten fünfziger Jahren vollzieht sich in Preußen der Übergang von der "Ideenpolitik" zur "Realpolitik"32, personifiziert in der Gestalt Bismarcks. Am 9. Oktober 1858 übernimmt der Kronprinz Wilhelm nach vorangegangener Stellvertretung als Prinzregent die Regierungsgeschäfte des erkrankten Königs Friedrich Wilhelm IV., der 1861 stirbt. Noch im gleichen Jahr folgen ihm u. a. sein Adjutant Leopold von Gerlach, Friedrich Julius Stahl und Karl Friedrich von Savigny. Wilhelm entließ das hochkonservative Ministerium Manteuffel und bildete ein liberal-konservatives unter der Leitung des Fürsten Karl Anton von Hohenzollern-Sigmaringen. Die neue Politik sollte nicht von "materieller Macht", sondern von "moralischen Eroberungen" geprägt sein33. Eine Epoche ging zu Ende, und auch die Gründer der Juristischen Gesellschaft glaubten sich im "Morgenrot einer neuen Ära"34. Dies gilt für das gesamte europäische Staatengefüge. Auf die Schlacht von Solferino (24. Juni 1859) folgte der Frieden von Villafranca (11. Juli 1859), in dem Österreich den Verlust der Lombardei einer Demütigung durch Preußen vorzog, ein schwerer Schlag für das europäische Ordnungsgefüge 32

Schoeps, Preußen, S. 235.

33

Das Regierungsprogramm ist abgedruckt bei Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2,3. Aufl., S. 35ff.

34

Vgl. Neumann, Geschichte, S. 1.

12

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

des Wiener Kongresses. Auch geistesgeschichtlich ist das Jahr 1859 nicht ohne Bejieutung. Das Todesjahr Alexander von Humboldts ist zugleich das Datum der Veröffentlichung von Charles R. Darwins "On the origin of species by means of natural selection" mit seiner das Bild von der Abstammung des Menschen revolutionierenden Evolutionstheorie. Karl Marx Schrift "Zur Kritik der politischen Ökonomie" erscheint, in der die Grundtheorie des historischen Materialismus auf die fundamentale Formel vom Verhältnis der ökonomischen Basis zum ideologischen Überbau gebracht wird, während John Stuart Mill das liberale Ideal als allgemeine Achtung vor Freiheit und Individualität definiert ("On liberty" 1859). Sybel gründet die "Historische Zeitschrift", um durch die Publikation historischer Aufsätze für die bürgerlich-liberale und nationale Bewegung zu werben. Preußischer Landesgeschichte näher beginnt Theodor Fontane mit der Niederschrift der "Wanderungen durch die Mark Brandenburg". Für die Stadtgeschichte Berlins wird die Zäsur zwischen Reaktion und "neuer Ära" sogar noch früher angesetzt, nämlich mit dem Duelltod des Generalpolizeidirektors von Hinckeldey 185635. Von Hinckeldeys«, ein Günstling Friedrich Wilhelms, hatte in der "Reaktionszeit" eine ambivalente Rolle gespielt Seine polizeilichen Kontroll- und Verbotsmaßnahmen richteten sich überwiegend gegen die "roten Demokraten", aber auch gegen die Ultrakonservativen. Daneben hatte er als erfolgreicher Verwaltungsfachmann entscheidende Impulse für die Modernisierung der preußischen Hauptstadt gegeben 7 . Sein gewaltsames Ende rührt aus einer gegen die Aristokratie gerichteten Maßnahme. Nach einer Razzia gegen einen feudalen Spielklub im Berliner "Hôtel du Nord" trieben ihn Mitglieder des Berliner Adels in eine manipulierte Beleidigungsaffäre, die in einem Pistolenduell mit dem Rittergutsbesitzer und nachmaligen Präsidenten des Preußischen Herrenhauses v. 35

Vgl. etwa P.Goldschmidt, Berlin in Geschichte und Gegenwart, S. 271.

36

Vgl. zu v.Hinckeldey: v.Sybel, CX.Hinckeldey 1852 bis 1856, in: HZ 189 (1959), S. 108 -123.

37

Vgl. Richter, Zwischen Revolution und Reichsgründung (1848 - 1870), in: Ribbe (Hrsg.), Geschichte Berlins, Bd. 2, S. 649.

Die Jahre 1859 bis 1871

13

Rochow-Plessow kumulierte, bei welchem von Hinkeldey am 10. März 1856 getötet w u r d e t Aber auch in Berlin kann von wirklicher Liberalisierung erst 1858/59 geredet werden. Der italienische Einigungskrieg belebte erneut die nationale Bewegung in Deutschland, was sich auf das Berliner Vereinsleben und Pressewesen auszuwirken begann». Im August 1859 erklärten sich "liberale und demokratische" Politiker in Eisenach zur Einigungsfrage, was zur Gründung des "Deutschen Nationalvereins"40 führte. Dessen Vorgabe, daß die deutsche Einigung nur von Preußen ausgehen konnte, rückte Berlin in die neue Rolle als künftige Hauptstadt eines deutschen Nationalstaates41. Im Jahrzehnt vor der Reichsgründung gewinnt Berlin immer mehr an politischer und wirtschaftlicher Bedeutung als Metropole der deutschen Staatenwelt. 1859 weiß man sich bereits auf dem Weg zur "Weltstadt"42. Karl Marx schreibt im Januar 1859: "Wer Berlin vor zehn Jahren gesehen hat, würde es heute nicht wiedererkennen. Aus einem steifen Paradeplatz hat es sich in das geschäftige Zentrum des deutschen Maschinenbaus verwandelt."43

2.3.

Die Gründung der Gesellschaft im Jahre 1859

In diesem Zusammenhang ist auch die Gründung der "Juristischen Gesell-

38

Vgl. Richter, a.a.O., S. 650.

39

Richter, a.a.O., S. 676.

40

Vgl. dazu ausführlich bei Na'aman, Der Deutsche Nationalverein. Die politische Konstituierung des deutschen Bürgertums 1859 - 1867.

41

Vgl. bei Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2,2. Aufl., S. 90f.

«

Vgl. Richter, a.a.O., S. 683.

43

Marx, Die Lage in Preußen, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 12, S. 686.

14

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

schaft zu Berlin" im Jahre 1859 zu sehen«. Sie geht auf die Initiative des Redakteurs der seit dem 18. April des gleichen Jahres erscheinenden "Preußischen Gerichtszeitung", Carl Christian Hiersemenzel, zurück, den man zusammen mit dem ersten Präsidenten der Gesellschaft, Graf von Wartensleben, als den eigentlichen "pater societatis" bezeichnen darf 45 . Hiersemenzel hatte am 4. Mai 1859 ein Rundschreiben an 14 Fachkollegen versandt, in dem er zur Gründung eines juristischen Vereins aufforderte46. Die erste Zusammenkunft der Adressaten fand dann bereits am 7. Mai um 8 Uhr abends in Kellners Hotel in der Taubenstraße statt, wo man die Gründung eines wissenschaftlichen Vereins unter dem Namen "juristische Gesellschaft" beschloß47. In einer 2. Sitzung am 28. Mai am gleichen Orte wird der vom provisorischen Vorstand (Stadtgerichtsrat Graf von Wartensleben, Stadtgerichtsrat Borchardt, Privatdozent von Holtzendorff, Stadrichter Simson, Rechtsanwalt Volkmar, Hiersemenzel als Schriftführer) vorgelegte Statutenentwurf beraten und Simson mit der Schlußredaktion betraut48. Am 6. Juni schreibt der Vorstand der "Juristischen Gesellschaft" an den preußischen Justizminister Simons und fügt die Statuten zur "Kenntnisnahme" bei49. Art. 29 der Preußischen Verfassung von 1850 hatte das Versammlungsrecht, Art 30 die Vereinsfreiheit mit Verfassungsrang verankert. Das Nähere regelte die Preußische "Verordnung vom 11. März 1850 über die Verhütung eines die gesetzliche Freiheit und Ordnung

44

Vgl. allgemein zum Aufblühen des Vereinswesens in den 1860er Jahren: Tenfelde, Entfaltung des Vereinswesens (1850 - 1873), in: Dann (Hrsg.), Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland, HZ Beiheft 9 (NF) 1984, S. 55ff.

«

Vgl. Koch, Rückblick 1884, S. 3.

46

Vgl. Neumann, Geschichte, S. 2; gedrucktes Protokoll der 98. Sitzung der Jur.Ges., S.2.

«

Preuß. GerichtsZ 1859 (Nr.9), S. 3.

48

Preuß. GerichtsZ 1859 (Nr.20), S. 3; dort auch Abdruck der erwähnten Statuten (S. 3f.).

49

Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Rep.84a Nr.988, Bl. 9; abgedruckt im Anhang des Neudruckes von Neumann, Geschichte.

Die Jahre 1859 bis 1871

15

gefährdenden Mißbrauchs des Versammlungs und Vereinsrechtes". Bezüglich der Befugnis zur Gründung von Vereinen und Mitgliedschaft enthielt diese Verordnung keine Einschränkungen (lediglich Beamten war die Teilnahme in "regierungsfeindlichen" Vereinen untersagt). Der Inhalt der dem Ministerium vorgelegten Statuten blieb in der Folgezeit im Hinblick auf den Zweck und die Ziele der "Juristischen Gesellschaft zu Berlin" im wesentlichen gleich. Aufgabenbestimmung Die Rechtswissenschaft sollte gefördert werden (§ 1) durch Vorträge über selbst gewählte Themen (§ 4 Abs. 2) einschließlich der Vorstellung und Beurteilung von Schriften und der Mitteilung von Rechtsfällen (§ 4 Abs. 3) sowie sich daran anschließende Debatten (§ 4 Abs. 4); weiter durch die Einrichtung eines Lesekabinetts (§ 2 Abs. 2, später "Lesezirkel") und einer Bibliothek (später vorübergehend mit der Königlichen Universitätsbibliothek vereinigt) sowie die Veröffentlichung der Sitzungsprotokolle (§§ 3 Abs. 2, 4 Abs. 6). Für die ersten Jahre der Vereinstätigkeit erweist sich der Entschluß, die Sitzungsprotokolle in der von Hiersemenzel herausgegebenen "Preußischen Gerichtszeitung" (§ 3 Abs. 2 S. 2 der Statuten) abzudrucken, für den Chronisten als überaus wichtig, da gedruckte Jahresberichte erst ab 1863 und zunächst nur in bescheidenem Umfang vorliegen. Das sich an die Monatssitzungen anschließende gemeinsame Abendessen (§ 5) sollte den Juristen einen Vereinigungspunkt gewähren (§ 1), eine nach Meinung des späteren zweiten Präsidenten Koch "in ihrer verbindenden Wirkung nicht zu unterschätzende Einrichtung"». Die Mitgliedschaft war zunächst auf die preußische Richter- und Anwaltschaft, die Justizbeamten und Mitglieder der preußischen Zentralbehörden, die Universitätslehrer sowie die Referendare und Auskultatoren an den preußischen Gerichten beschränkt (§ 6). Die dritte Versammlung, mit welcher die wissenschaftliche Wirksamkeit der Gesellschaft begann, findet am 11. Juni im "Odeon, Thiergartenstraße

50

Koch, Rückblick 1884, S. 5.

16

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

Nr. 22 und 23, Abends 7 Uhr"5i, statt. Der zum Präsidenten gewählte« Graf von Wartensleben hält die Eröffnungsrede mit Erläuterungen zu den Aufgaben der Gesellschaft: Den Praktikern soll durch den Beitritt zur Gesellschaft die Gelegenheit geboten werden, von den neueren Erscheinungen auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft Kenntnis zu erhalten und ihre Erfahrungen bei der Anwendung der Gesetze mitzuteilen; den Rechtslehrern dagegen, von jenen Erfahrungen Kenntnis zu nehmen und ihrerseits zur Verbreitung einer wissenschaftlichen Behandlung des Rechts beizutragen. Kurz: Ziel ist eine belebende Wechselwirkung zwischen Praxis und Theorie 53 . Zur Notwendigkeit eines Vereinigungspunktes für die Juristenwelt ergänzt der Präsident, daß ein solcher bisher in Berlin gefehlt habe; so habe der Fall vorkommen können, daß zwei Mitglieder desselben Berliner Kollegiums erst bei der Gelegenheit einer Ferienreise durch die Schweiz auf der Spitze des Simplón zufällig ihre Bekanntschaft gemacht hätten5*. Neben den erwähnten statutarisch festgelegten Zielen stand aber von Anfang an der zeitbedingte Plan, die Rechtsvereinheitlichung in Deutschland als Mittel und Voraussetzung zur Einung der Nation voranzutreiben, wie die zu schildernden, der Gründung alsbald folgenden Aktivitäten der Gesellschaft beweisen weiden.

2.4.

Die ersten Jahre der Vereinstätigkeit 1859 bis 1871

Nach der Eröffnungsrede des Präsidenten hält Hiersemenzel den ersten wissenschaftlichen Vortrag "Über die Rechtsschulen des 19. Jahrhunderts", wobei ihrer Bedeutung gemäß die "Historische Schule" Savignys im Mittelpunkt der Ausführungen steht55. Dem folgt das Kurzreferat Prof. Dr. 51

Preuß. GerichtsZ 1859 Nr.25, S. 3.

52

Zur Zusammensetzung des Vorstandes 1859 bis 1933 vgl. im Anhang 4 dieser Arbeit.

M

Vgl. PreuB.GerichtsZ 1859 (Nr.25), S. 3.

«

Vgl. PreuB.GerichtsZ 1859 (Nr.25), S. 4.

55

PreuB.GerichtsZ 1859 (Nr.25), S. 3f.

Die Jahre 1859 bis 1871

17

Heydemanns "Über die fünfjährige Veijährung der querela testamenti nach Märkischem Provinzialrechte". Am 1. Juli wird die Einrichtung eines Lesekabinetts für Mitglieder angekündigt, welches im Oktober in der Behrendstraße Nr. 24 (im Anschluß an das "Berliner Lesekabinett" von Fürstenberg) seinen ersten Sitz findet56. Bereits in der 4. Sitzung am 10. September 1859 (in Mäders Lokal, Unter den Linden Nr. 23, dem Treffpunkt der ersten Jahre) ist der erste Todesfall zu beklagen (Stadtgerichtsdirektor Thiel); der Präsident verkündet dies mit dem Bemerken, "daß das Andenken des Verblichenen stets von der Gesellschaft werde in Ehren gehalten werden"*7. Wissenschaftlicher Höhepunkt der Vereinstätigkeit im Jahre 1859 ist der Vortrag Prof. Dr. Gneists, seit 1858 Ordinarius an der Berliner Universität und seit 1859 Abgeordneter im Preußischen Landtag, über "Kompetenzkonflikte" (10. September), die Trennung von Verwaltung und Justiz5», eines der Rechtsprobleme der Zeit und wesentlicher Bestandteil angestrebter Rechts Staatlichkeit. Das Gewaltmonopol des Staates, entstanden durch die Beseitigung des patrimonialen Dualismus59, ermöglichte auch ein Willkürregime. Eine der Hauptbestrebungen des bürgerlichen Liberalismus des 19. Jahrhunderts war deshalb die Erlangung von Rechtsgarantien für den einzelnen Staatsbürger, wie z. B. Grundrechte, Schwurgerichte und die Trennung von Verwaltung und Justiz. Die Rechts staatsidee wurde in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts sozusagen zum Surrogat für die 1848 nicht erreichte politische Partizipation und wesentlicher Bestandteil ökonomischer Entfaltung« Die liberalen Reformpläne zielten auf eine Überwindung der Zweiteilung von monarchischem Staat und Gesellschaft. Mit dem schnellen Aufgreifen dieser Fragen durch die Juristische Gesell56

Preuß.GerichtsZ 1859 (Nr.26), S. 7; (Nr.48), S. 4.

«

Preuß.GerichtsZ 1859 (Nr.43), S. 2.

5

Preuß.GerichtsZ 1859 (Nr.43), S. 2f.

»

59

Vgl. Mitteis-Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte, §45ΙΠ, S. 425.

60

Vgl. Stolleis, Verwaltungsrechtswissenschaft und Verwaltungslehre 1866 - 1914, in: Jeserich; Pohl; v.Unnih (Hrsg.), DL Verwaltungsgeschichte, Bd. III, S. 85ff. (91).

18

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

schaft wird deren Verbindung zum bürgerlich-liberalen Lager deutlich. Sie zeigt sich hier als Mikrokosmos der großen Zeitströmungen. Gneist fordert im Vortrag«ι die Abschaffung der seiner Auffassung nach größten Schwäche der preußischen Verfassung, noch basierend auf den Stein-Hardenbergschen Reformen. Aufgrund gewohnheitsmäßiger Entwicklung war der Minister des Inneren ein Gerichtshof für die wichtigsten Verhältnisse des öffentlichen Rechts geworden; daneben hatte jeder Departementchef ein Stück Jurisdiktion höchster Instanz über öffentliches Recht neben seiner Stellung als Minister. Dies sei, so Gneist in seinem Vortrag vor der Gesellschaft, aus drei Gründen unhaltbar: 1)

Die Minister verfügten nicht über die Rechtskenntnis und Unparteilichkeit, welche ein Gerichtshof für öffentliches Recht gewährleisten könnte;

2)

die vortragenden Räte der Ministerien besäßen in ihrer Stellung nicht die nötigen Garantien für die Unabhängigkeit des Richteramtes;

3)

die gebotene Form sei bei den üblichen, nicht kontrollierbaren geheimen Berichten und Vorträgen in den Ministerien nicht gewährleistet.

Gneist verlangt: Trennung der höchsten Beschwerdeinstanz von der Ministerialverwaltung. Die Beschwerdeinstanz soll jedoch nicht mit den Gerichten verbunden, sondern als Erweiterung eines Staatsrates mit bewährten Verwaltungspraktikern besetzt werden. Gneist, der die Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Preußen stark beeinflußt hat, sah als wesentlichen Gesichtspunkt also die Unparteilichkeit der Verwaltung, nicht so sehr den Schutz von Individualrechten. In der Rechtswirklichkeit vollzog sich die Trennung von Verwaltung und Justiz stufenweise. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Preußen62 nahm ihren

61

Vgl. zum Vortrag Preuß.GerichtsZ 1859 (Nr.43), S. 2f.

62

Vgl. Riifner, Die Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: Jeserich; Pohl; v.Unruh (Hrsg.), Dt. Verwaltungsgeschichte, Bd. ΠΙ, S. 909ff. (922ff.), dort auch zu den anderen Ländern.

Die Jahre 1859 bis 1871

19

Anfang eingebettet in eine allgemeine Verwaltungsreform mit der Kreisordnung vom 13.12.187263. Genauere Ausgestaltung und Institutionalisierung erfolgte mit dem "Gesetz betreffend die Verfassung der Verwaltungsgerichte und das Verwaltungsstreitverfahren" vom 3.7.187564. Das erste Mitgliederverzeichnis der Gesellschaft (1859) führt 6065, das dritte vom Januar I86066 93 Juristen auf, die der Gesellschaft beigetreten sind. Am Ende des 1. Vereinsjahres sind es 107: 6 Universitätslehrer, 26 Rechtsanwälte und Notare, 27 "ältere" Richter, 48 "jüngere" Richter (Assessoren, Referendare, A u s k u l t a t o r e n ) « . Die Mitgliederzahl blieb in den ersten 25 Jahren der Vereinstätigkeit konstant bei ca. 100. Der Anteil des "juristischen Nachwuchses" verringerte sich alsbald. Der erste Rechenschaftsbericht (April 1860) beziffert die Einnahmen des Berichtszeitraums (Mai 1859 März 1860) auf 374 Thaler und die Ausgaben auf 362 Thaler, 1 Silbergroschen68. Am 14. April 1860 kommt es zur erstmaligen Neuwahl des Vorstandes.

2.4.1.

Der "Deutsche Juristentag" 1860

Das Jahr 1860 wird zu einem der bedeutendsten in der Vereinsgeschichte. In der 10. Sitzung am 10. März d. J. schlägt der Vorstand der Gesellschaft vor, einen "deutschen Juristentag" auszuschreiben, eine Anregung des damaligen Privatdozenten von Holtzendorff, welche dieser auf einer Vorstandssitzung der Gesellschaft am 3. März vorgetragen hatte6®. Der Vorstand wird ermächtigt, "die Sache in die Hand zu nehmen" und sie bis zur öffentlichen

63

Abgedruckt in: Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1872, S. 661-713.

64

Abgedruckt in: Gesetz-Sammlung, a.a.O. 1875, S. 375 - 392.

65

Preuß.GerichtsZ 1859 (Nr.45), S.4; eine tabellarische Übersicht über die Entwicklung der Mitgliederzahlen der Jur.Ges. findet sich im Anhang 6 dieser Arbeit

66

Preuß.GerichtsZ 1860, S. 3.

6

?

5. Jahresbericht der Jur.Ges. (1863/64), S. 5f.

«8

Preuß.GerichtsZ 1860, S. 65f.

®

Thomsen, Gesammtbericht, S. 3.

20

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

Ausschreibung voranzutreiben™. Am 14. April berichtet Hiersemenzel den Mitgliedern von den diesbezüglichen Aktivitäten; man wählt eine zehnköpfige Kommission (Budee, Dorn, Gneist, Heydemann, Hiersemenzel, v. Holtzendorff, Straß, Volkmar, v. Wartensleben, Makower), welche weitere Vorarbeiten nach eigenem Ermessen durchführen soll71. Am 16. Mai erscheint die Einladung zu dem auf den 28. bis 30. August nach Berlin einberufenen Juristentag in der Preußischen Gerichtszeitung. In der 13. Sitzung der Gesellschaft (9. Juni) verliest Hiersemenzel u. a. ein Schreiben des preußischen Justizministers Simons, in dem dieser die Förderung des Juristentages zusagt7^ Auch bei den Spitzen der österreichischen und bayerischen Justizbehörden findet die Idee großen Anklang73. Ganz anders hatte man sich noch 1844 gegen einen geplanten "Deutschen Anwaltstag" in Mainz verhalten, der nicht zuletzt am Widerstand des preußischen und bayerischen Justizministeriums gescheitert war. Dieser hatte, wie jetzt der Juristentag, die Rechtsvereinheitlichung auf seine Fahnen schreiben wollen74. Vor Beginn des 1. Deutschen Juristentages treffen sich dessen ca. 800 Teilnehmer als Gäste der Gesellschaft im Odeum (Thiergartenstraße Ecke Hohenzollernstraße), und am 28. August 1860 wird die erste Plenarsitzung des Juristentages durch den Vorsitzenden der Juristischen Gesellschaft Graf von Wartensleben eröffnet, auf dessen Vorschlag Carl Georg von Wächter zum ersten Präsidenten des Juristentages gewählt wird. An dieser Sitzung nehmen u. a. der damalige Kronprinz Friedrich Wilhelm und der preußische Justizminister teil". Der 1. Juristentag stellte zunächst die später mehrfach modifizierten Statuten fest. Ziel war danach (§ 1), eine Vereinigung für den Meinungsaus70

Preuß.GerichtsZ 1860, S. 52.

7

Preuß.GerichtsZ 1860, S. 65.

>

η

Preuß.GerichtsZ 1860, S. 98.

73

Thomsen, Gesammtbericht, S. 3f.

74

Vgl. in der Preuß.GerichtsZ 1861, S. 77; ausführlich bei Weißler, Geschichte der Rechtsanwaltschaft, S. 507 - 515.

Die Jahre 1859 bis 1871

21

tausch und den persönlichen Verkehr unter den deutschen Juristen - Österreich eingeschlossen - zu schaffen und die einheitliche Rechtsentwicklung im Zivil-, Straf- und Prozeßrecht voranzutreibende. In dieser Aufgabenstellung wird das Vorbild der Berliner Juristischen Gesellschaft, jetzt ausgedehnt auf die Juristen der zu einenden Nation, deutlich. Verhandelt wurde über die formale Gesetzgebung unter dem Gesichtspunkt der deutschen Einheit, zum Ausdruck gebracht durch einstimmige Plenarbeschlüsse bezüglich des Handels-, Straf- und bürgerlichen Rechts (Obligationenrecht), des Zivilprozesses (Öffentlichkeit und Mündlichkeit), einer gemeinsamen Eidesformel, der Rechtshilfe und der Errichtung eines höchsten deutschen Gerichtshofes77. Im Dezember sendet von Wächter eine Dankadresse an die Juristische Gesellschaft: "Wenn aber einst Deutschland die Resultate dieser Wirksamkeit (des Juristentages, Anm. d. Verf.) zu rühmen haben wird, wenn es endlich einmal durch eines der festesten Bande der Zusammengehörigkeit und Einheit, durch ein gleiches gemeinsames Recht, verbunden ist und der Segnungen desselben sich erfreut, so darf und wird man nicht vergessen, daß die Berliner Juristische Gesellschaft es war, welche es wagte, in umfassender Weise die Anregung zu dem großen Werke zu geben, und dem tiefgefühlten Bedürfnisse einen mächtigen Ausdruck zu verschaffen."7« Bereits am 25. Februar 1861 zeigt sich der erste Erfolg des Juristentages. Durch "Allerhöchsten Erlaß" wird eine Kommission zur Revision des Zivilund Strafprozesses (Vorsitzender Bornemann) mit dem Ziel einer "Gemeinsamen deutschen Gesetzgebung" auf diesen Gebieten eingesetzt7'. Die Juristische Gesellschaft reagiert darauf sofort mit einem Referat des Justizrats Volkmar vom 11. Mai 1861 über die "Grundzüge einer Deutschen Zivilprozeßordnung", der die hohen Erwartungen an eine solche Neurege75

Vgl. bei Neumann, Geschichte, S. 4.

76

Vgl. bei Conrad, Der Deutsche Juristentag, in: v.Caemmerer; Friesenhahn; Lange, Hundert Jahre deutsches Rechtsleben, Bd. I, S. 2.

77

Vgl. Ohlshausen, Der deutsche Juristentag, S. 24.



Preuß.GerichtsZ 1861, S. 15,56.

22

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

lung wie folgt charakterisiert: "Anforderungen ähnlich denen, welche die vielbegehrenden Männer bei der Wahl der Gattin zu stellen pflegen, macht man an die Prozeßordnung ... Die Gattin soll reich und anspruchslos; schön und einfach; häuslich und geistreich; jung und verständig; von sehr guter Familie und ohne große Verwandtschaft; nicht unfruchtbar, aber auch nicht zu fruchtbar sein. Die Gerichtsordnung soll eine ebenso schnelle als gründliche Instruction gewähren; das Urteil soll rasch gefunden und doch, auf der Höhe der Wissenschaft, diese selber fortbilden. Der Richter soll die wahre Sachlage eruieren, die Parteien aber domini litis bleiben. Der Richter soll nach seiner inneren Überzeugung urtheilen, aber er soll durch Beweisregeln gebunden sein. Das Verfahren soll mündlich und doch zugleich schriftlich sein und sofort und soweiter ..."so So überwunden die, wenn auch mit Ironie vorgetragenen, patriarchalischen Vorstellungen der Zeit heute sind, so aktuell sind die Probleme des Zivilprozesses geblieben! In den nächsten Jahren bis zur Reichsgründung unter dem Aspekt der Rechtsvereinheitlichung und weit darüber hinaus war und ist das "erste Kind" der Juristischen Gesellschaft, der "Deutsche Juristentag", einer der bedeutendsten Orte der Diskussion und Reformbemühungen der ganzen deutschen Juristenwelt, Forschung und Lehre, Praxis und Legislative, so daß sich von Wächters oben zitierte "pathetisch-prophetische Worte" aus rechtshistorischer Sicht verifiziert haben. Er ist seit nunmehr über 125 Jahren ein Stück Geschichte des Rechtslebens der deutschen Nation selbst geworden, in seiner Arbeit spiegeln sich, vergleichbar mit dem Wirken der Juristischen Gesellschaft, die Entwicklung des Rechts, die Strömungen der Rechtswissenschaft, die Ziele der Gesetzgebung und implizit auch das politische Geschehen8!. 79

Vgl. das Schreiben des preuß. Justizminsters v.Bernuths an die Preuß.GerichtsZ, ebenda 1861, S. 57.

so

Preuß.GerichtsZ 1861, S. 133f.

81

Vgl. Conrad, Der Deutsche Juristentag, S. 1; zur Geschichte des DtJuristentages vgl. weiter Thomsen, Gesammtbericht, S. 1 - 33; 195 - 228; Ohlshausen, Der deutsche Juristentag, S. 17 - 491; Conrad, a.a.O., Fn. 73, S. 1 - 33; Diktier, Der Deutsche Juristentag 1960 -1980, S. 18 -102.

Die Jahre 1859 bis 1871

23

Die ursprüngliche Beschränkung auf das Zivil-, Straf- und Prozeßrecht wurde durch verschiedene Statutenänderungen aufgehoben. Auf dem 28. Juristentag in Kiel 1906 wurde das Verwaltungsrecht, auf der Bamberger Tagung 1921 das Verfassungsrecht einbezogen. Beides war zunächst ausgenommen, da man befürchtete auf diesen Rechtsgebieten innerhalb und außerhalb des Juristentages schwer zu überwindende Gegensätze wachzurufen^. Unterbrochen wurde die Tätigkeit des Juristentages 1865/66 durch die preußisch-österreichischen Auseinandersetzungen, 1870 durch den deutschfranzösischen Konflikt, 1914 - 1920 durch den Ersten Weltkrieg und seine Folgen. Das für 1933 in München geplante Treffen fand unter dem Eindruck der nationalsozialistischen "Machtergreifung" und der Aktivitäten des "Bundes Nationalsozialistischer Deutscher Juristen" nicht mehr statt. In einer Sitzung am 29. April 1933 beschloß die Ständige Deputation, den in Aussicht genommenen Juristentag zu vertagen. Bis auf eine Gegenstimme war man den mutigen Worten des Grafen zu Dohna "lieber in Ehren tot als in Schande weiterbestehen" gefolgt83. Ein leider seltenes Beispiel verweigerter "Gleichschaltung". Diesem faktischen Ende folgte das formelle nach §§ 10,1 des Gesetzes über Beamtenvereinigungen vom 27. Mai 1937M, wonach der Deutsche Juristentag mit Wirkung ab 1. Juli 1937 ipso iure aufgelöst wurde. Die von den Nationalsozialisten veranstalteten "Juristentage" hatten weder programmatisch noch organisatorisch etwas mit der von der Juristischen Gesellschaft 1860 ins Leben gerufenen Vereinigung zu tun85. Diese nahm ihre an die Tradition vor 1933 anknüpfende Tätigkeit mit der 37. Tagung im September 1949 in Köln wieder auf und setzt sie bis heute fort. Aktivität und Wirksamkeit des Deutschen Juristentages lassen sich periodisch einteilen. Am Anfang stehen die Bemühungen um die Begründung der deutschen Rechtseinheit (1. - 24. Dt. Juristentag, 1860 - 1898). 82

Thomsen, Gcsammtbericht, S. 7.

83

Conrad, Der Deutsche Juristentag, S . l l .

M

RGBl 19371, S. 597ff.

85

Conrad, a.a.O., S. l l f .

24

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

Hier liegt das Verdienst der Vereinigung in der Anregung, Planung und nachhaltigen Förderung zahlreicher, teils erfolgreicher, teils zunächst gescheiterter Gesetzesvorhaben, ζ. B. auf dem Gebiet des Obligationenrechts ("Dresdener Entwurf" 1866), des Hypothekenrechts, des Ehegüterrechts, des Zivilprozeßrechts, des Strafrechts, des Handelsrechts, des Versicherungsrechts, des Patentrechts, des Urheberrechts, des Notariatsrechts und einer Anwaltsordnung. Höhepunkt und Abschluß dieser ersten Periode bildet die Verabschiedung (1896) und das Inkrafttreten (1900) des BGB als des eigendichen Kems der Rechtsordnung moderner Kulturstaatenw. Die Vorarbeiten hierzu hat der Juristentag mitangeregt, mitvorangetrieben und in seinem Plenum kritisch begleitet. Nach der Errichtung der Rechtseinheit fanden sich neue Aufgabenfelder bedingt durch den technischen Fortschritt und die damit einhergehenden sozialen und wirtschaftlichen Umwandelungen, es ging nun um Ausbau und Weiterentwicklung der Rechtsordnung (25. - 36. Dt. Juristentag 1900 1931). Wenn auf der einen Seite die als zu weitgehend empfundene Tierhalterhaftung des § 833 BGB kritisiert wurde, beschäftigte sich der Juristentag nun auch mit der durch den modernen Schienen-, Straßen- und Luftverkehr erforderlich gewordenen Ausdehnung der Gefährdungshaftung. Das Familienrecht rückte insbesondere nach 1919 in den Mittelpunkt reformatorischer Bemühungen, Fragen der Rechtsstellung der unehelichen Kinder und der Gleichstellung von Mann und Frau fanden vor dem Plenum und in den Ausschüssen des Juristentages ebenso ein Forum wie das immer bedeutender werdende Gebiet des Arbeitsrechts (Akkordvertrag und Tarifvertragsrecht). Im Bereich des Wirtschaftsrechts wurden mehrfach kartellrechtliche Probleme debattiert, die Reform des materiellen und formellen Strafrechts war seit dem Erlaß der entsprechenden Reichsgesetze (1871/79) ständiges Thema. Aus dem 1921 neu aufgenommenen Gebiet des Verfassungsrechts wurde als 86

Conrad, a.a.O., S. 23.

Die Jahre 1859 bis 1871

25

erste Problematik die Grenzziehung zwischen Gesetz und Rechtsverordnung aufgegriffen. Viele Ergebnisse der Arbeiten des Juristentages in dieser Phase haben auf die legislatorischen Bemühungen der Zeit eingewirkt, andere wurden in der Nachkriegszeit erneut aufgegriffen'? Ab 1949 stand zunächst die Wiederherstellung der Rechtsordnung im Vordergrund der Tätigkeit des Juristentages88, während seit den sechziger Jahren die Anforderungen und Probleme des sozialen Rechtsstaates mit seinen vielen Implikationen neue Aufgabenfelder bestimmten8'. Die Geschichte des Juristentages blieb mit deijenigen seiner "aima mater", der Juristischen Gesellschaft, auch nach der Gründung 1860 eng verbunden. Da der Juristentag nur periodisch tätig werden konnte, übernahm die Gesellschaft zunächst die Aufgaben, welche eine ununterbrochene, kontinuierliche Vereinstätigkeit erforderten!·0. Das preußische Justizministerium führte in der Folgezeit die Akten über den Juristentag unter der für die Juristische Gesellschaft angelegten Akte weiter?·. Die Gesellschaft ließ sich in den nächsten Jahren stets von der Tätigkeit des Juristentages berichten, zunächst von Hiersemenzel, später von Rubo; die gedruckten Jahresberichte ab 1863 enthalten jeweils einen Abschnitt Uber die Arbeit des Juristentages. Eine Institution wie den Juristentag initiiert zu haben, krönt die frühen Aktivitäten der Juristischen Gesellschaft.

2.4.2.

Gründung von Schwestergesellschaften

Die erfolgreiche Tätigkeit der Gesellschaft regt vielerorts die Gründung ähnlicher Vereinigungen an, welche den Vorbildcharakter der Berliner be-

87

Conrad, a.a.O., S. 33.

88

Conrad, a.a.O., S. 33 -36.



Vgl. die Beispiele bei Dilcher, Der Düuristentag 1960 -1980, S. 72 - 88.

90

Neumann, Geschichte, S. 20.

91

Geheimes Staatsarchiv Preuß.Kulturbesitz Rep.84a Nr. 988 - 992.

26

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

tonen. Exemplarisch genannt seien hier zunächst Posen, München» und Königsberg^. Besonders hervorzuheben ist die Juristische Gesellschaft zu Wien, zu deren Gründungssitzung der Hof- und Gerichtsadvokat Dr. Berger am 27. Februar 1861 einlädt. In einer Notiz der "Gerichtshalle" heißt es dazu: "Die Gründung einer juristischen Gesellschaft in Wien ist seit dem erfolgreichen Wirken der Berliner juristischen Gesellschaft der Wunsch und das Streben der Juristen der Residenz. In dem Augenblicke, wo dieser Wunsch seiner Erfüllung nahe ist, glauben wir einen Rückblick auf das erfolgreiche Wirken der Berliner juristischen Gesellschaft werfen zu müssen, weil dadurch unseren Lesern am lebhaftesten die Bedeutung eines derartigen Vereins vor die Augen geführt wird Dies kaum zwei Jahre nach der Gründung der Berliner Gesellschaft! Deutlicher kann man die große und schnelle Außenwirkung der Vereinigung im deutschen Sprachraum kaum demonstrieren. Die ersten Gründungsversuche der Wiener Gesellschaft scheiterten allerdings, ob aus politischen oder organisatorischen Gründen, ist nicht mehr festzustellen. Die noch heute aktive "Wiener Juristische Gesellschaft" kam erst 1867 zustande (erste ordentliche Generalversammlung am 30.10.1867 Am 23. August 1861 wird in Berlin ein "Preußischer Anwaltsverein" gegründet, nachdem sich ein solcher in Bayern bereits am 6. Januar d. J. gebildet hattet. Im Vorstand des preußischen Vereins finden wir mit dem Vorsitzenden F. Hinschius und den Beisitzern Dorn und Volkmar''' prominente Mitglieder der Juristischen Gesellschaft, deren Tätigkeit auch hier als ein Vorbild gedient haben dürfte. Ein besonderer Berliner Anwaltsverein hat sich nach vorangegangener unbedeutender Existenz 1879 neu organisiert

92

Preuß.GerichtsZ 1861. S. 28.

93

Deutsche GerichtsZ 1862, S. 28. Abgedruckt in: Preuß.GerichtsZ 1861, S. 55.

95

Vgl. Ogris, 100 Jahre Wiener Juristische Gesellschaft (1867 bis 1967), in: Juristische Blätter 1968, S. 246ff. (246).

96

Preuß.GerichtsZ 1861, S.136; Weißler, Geschichte, S. 548,555.

97

Vgl. Weißler. Geschichte, S. 549.

Die Jahre 1859 bis 1871

27

und unter Mitwirkung des genannten Dorn sowie weiterer Mitglieder der Juristischen Gesellschaft - Wilke, Makower, Levy - bald große Wirksamkeit erlangt»8. Auch im Vorstand des auf dem Bamberger Anwaltstag am 25. August 1871 gegründeten Deutschen Anwaltsvereins waren Mitglieder der Berliner Gesellschaft aktiv: Dom, Wilke und Mecke". 1862 findet sich in der "Deutschen Gerichtszeitung", wie die "Preußische Gerichtszeitung" als Organ des Deutschen Juristentages nunmehr heißt, eine Notiz über die "uns bekannten Juristischen Gesellschaften": Berlin, Breslau, Karlsruhe, Königsberg i. Pr., Laibach, München, Posen, Reichenberg (Böhmen), Schwerin, Juristenverein für das Großherzogtum Hessen (Darmstadt und Gießen), Gießen"». Eine andere Meldung der Preußischen Gerichtszeitung vom 2. Juni 1861 bietet neben indirektem Bezug zur Geschichte der Juristischen Gesellschaft prägnantes Zeitkolorit: "Der im Duell durch den General-Major von Manteuffel verwundete Stadtgerichtsrath Twesten befindet sich auf dem Wege entschiedener Besserung. Wir glauben unseren Lesern diese erfreuliche Mittheilung schuldig zu sein, da sicherlich auch in dem Deutschen Juristenstande die lebhafteste Theilnahme für den Verwundeten vorhanden sein wird, "ιοί Twesten (1820 - 1870), seit 1855 Stadtgerichtsrat in Berlin, seit 1859 Mitglied der Juristischen Gesellschaft, seit 1861 Mitglied des Abgeordnetenhauses, hatte sich 1848 zu republikanischen und kommunistischen Gedanken bekannt und trat später als Verfasser radikal-liberaler Schriften hervor, von denen eine Anlaß zu dem erwähnten Duell mit dem 1859 demissionierten Chef des Militärkabinetts Edwin von Manteuffel war. Der Zweikampf fand am 27. Mai statt, Twestens Kugel verfehlte knapp den Kopf des Generals, Manteuffel bot ihm unter Anerkennung seines "mannhaften Verhaltens" Ausgleich an, Twesten lehnte jedoch jede Zurücknahme seiner Worte

98

Weißler, Geschichte, S. 554.

*>

Weißler, Geschichte, S. 562f.

loo Deutsche GerichtsZ 1862, S. 128. ιοί Preuß.GerichtsZ 1861, S. 136.

28

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

ab, Manteuffel zerschmetterte ihm daraufhin den rechten Arm; nachher bot er ihm die Hand, Twesten gab ihm die Linke und bat um Entschuldigung, daß es nicht die Rechte sei, dies habe ihm Manteuffel unmöglich gemacht102 - uti erant mora temporis. 1866 war Twesten Mitbegründer der Nationalliberalen Partei, auf deren linkem Flügel er stand103. In der Juristischen Gesellschaft fanden also von Anfang an auch radikale Denker ein Forum. Twesten hat 1865 und 1866 zweimal über strafrechtliche Themen vor der Gesellschaft referiert, die am 3. Dezember 1870 nach seinem Tode für ihn eine Gedächtnisfeier (Redner: Lasker) veranstaltete, eine Ehrung, welche nur bedeutenden aktiven Vereinsmitgliedern zuteil wurde. Als Randbemerkung sei hier hinzugefügt, daß mit Ferdinand Lasalle ein weiteres prominentes, dem linken Spektrum der Zeit zuzurechnendes Duellopfer mit der Berliner Juristenvereinigung in Verbindung stand. Er hat der Vereinsbibliothek sein "System der erworbenen Rechte" (1860/61, 2 Bde) 1861 als donatio zugesandt104, ein Werk, welches eine Schlüsselstellung in Lasalles Arbeiteragitation einnahmios. "Sorgenkinder" der Gesellschaft waren von Anfang an Lesekabinett, Lesezirkel und die Bibliothek. Während das Lesekabinett (dem "Berliner Lesekabinett" von Fürstenberg angeschlossen) bereits 1862 aufgegeben wird und der Lesezirkel bis zu seiner Einstellung 1885 ein wenig genutztes Schattendasein führt'0«, finden sich gedruckte Hinweise auf die durch großzügige Spenden von Mitgliedern und Freunden der Gesellschaft recht bald umfangreiche Bibliothek bis zum 58. Jahresbericht des Vereins 1916107. Sie hat allerdings mehrfach den Standort gewechselt: 1862 bis April 1867 im Büro des Deutschen Juristentages, zunächst in der Schönebergerstr. 26, dann in der Trebbinerstr. 14, 1867 bis April 1902 in 102 vgl. v. Petersdorff, Twesten, in: ADB Bd. 39, S. 35. •M Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 293, Fn. 23.; v.Petersdorff, in: ADB Bd. 39, S. 34ff. 104 Deutsche GerichtsZ 1861, S. 188. 105 Na'aman, FJLasalle, in: Kritische Justiz (Hrsg.), Streitbare Juristen, S. 74. 106 Näheres bei Neumann, Geschichte, S. 1 lf. w

58. Jahresbericht der Jur.Ges. (1916), S. 6.

Die Jahre 1859 bis 1871

29

den Räumen der Königlichen Universitätsbibliothek, Taubenstr. 29, später Dorotheenstr. 9/10, 1902 bis 1913 in einem besonderen Raum der Bibliothek des Landgerichts I, Neue Friedrichstraße, ab 1913, wie schon zuvor von einer "Bibliothekskommission" angeregt108, im Bibliotheksraum des Anwaltsklubs im Anwaltshause (Schöneberger Ufer 40, später Viktoriastr.l3)1(». Über das weitere Schicksal der Bibliothek gibt ein Briefwechsel des vorletzten Schriftführers der Gesellschaft, Seligsohn, aus dem Jahre 1927 mit dem damaligen Präsidenten Riesser und dem Bibliothekar Damme Aufschluß110: An Riesser schreibt Seligsohn am 21. April 1927, daß der Vorstand der Anwaltskammer ihm mitgeteilt habe, im Anwaltshause befände sich noch eine Anzahl wertvoller Bücher aus dem Bestände der Gesellschaft, die wegen Platzmangels fortgeschafft werden müßten. Seligsohn schlägt vor, die Bücher, wie es schon früher geschehen sei, der Bibliothek des Kammergerichts zu überweisen. Damme, der sich schon darüber beklagt hatte, als Bibliothekar der Gesellschaft ohne Betätigung zu sein, bittet der Schriftführer am 3. November 1927, im Anwaltshause zunächst den Bestand festzustellen. Dazu scheint es jedoch nicht gekommen zu sein, denn am 28. Januar 1930 fragt Hagelberg, Seligsohns Nachfolger, beim Vorstand der Anwaltskammer an, ob sich die Bibliothek noch dort befinde und gelegentlich durchgesehen werden könne, was von Seiten der Kammer bejaht wird111. Der Posten des Bibliothekars blieb zwar bis 1933 besetzt112, doch fand weder eine Bestandsaufnahme noch eine sonstige bibliothekarische Tätigkeit statt In der Bibliothek fanden sich schwerpunktmäßig aktuelle Publikationen zu allen Rechtsgebieten, insbesondere des internationalen Rechts, daneben

108

Vgl. bei Neumann, Geschichte, S. 14.

" » 55. Jahresbericht der Jur.Ges. (1913), S. 4 110

Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR, Akten der Schriftführer der Jur.Ges. aus den Jahren 1927 - 1933 Bd. 6, nicht einheitlich paginiert (Bl. 100/158).

i· 1 Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR, Schriftwechsel der Schriftführer der Jur.Ges. 1927 - 1933, Bd.3, Bl. 71,84. 112

Vgl. Anhang 4 dieser Arbeit.

30

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

Rechtshistorisches und Schriften benachbarter Disziplinen, wie etwa der Nationalökonomie. Auch von anderen typischen "Vereinssorgen" blieb die Gesellschaft nicht verschont. So heißt es in der Deutschen Gerichtszeitung 1866 betreffend das Zusammenkommen am 14. April d. J.: "Der HeiT Schatzmeister wird die Beiträge für das abgelaufene Quartal in der Sitzung in Empfang nehmen ... und die bis dahin nicht eingegangenen Beiträge zur Ersparung des Salairs eines Kassenboten durch den Postboten einzuziehen sich erlauben. ">u

2.4.3.

Die "Savigny-Stiftung" 1861/1862

Am 9. November 1861 beschließt die Gesellschaft nach einem Referat Dr. Bornemanns über die dem Juristentag überwiesene Gesetzgebungsfrage, ob im Zivilprozeß das Urteil nach freier richterlicher Überzeugung ohne festbindende Beweisregeln (vgl. heute § 286 ZPO) erfolgen solle, auf Vorschlag des Vorsitzenden eine Gedächtnisfeier für den am 25. Oktober verstorbenen von Savigny zu veranstalten'n. Diese Feier am 29. November in Mäders Lokal, Unter den Linden Nr. 23, stellt ohne Zweifel einen der Höhepunkte in den Annalen der Gesellschaft dar. Anwesend sind u. a. der preußische König Wilhelm I., die Königin sowie der Kronprinz, ferner Savignys Sohn Carl, Gesandter am königlich Sächsischen Hof, die Spitzen der Justiz, wie der Justizminister v. Bemuth, weitere Staatsminister und Mitglieder des diplomatischen Corps, der Rektor der Universität, Mitglieder der Akademie der Wissenschaften. Zunächst wird vom Domchor eine Kantate von C. M. v. Weber mit einem Text von George Hesekiel115 vorgetragen: "Wir grüßen Dich mit erstem Gruß, Du edler gottgegebener Geist! Die Thräne ward uns zu Gesang, 113

Deutsche GerichtsZ 1866, S. 60.

114 Deutsche GerichtsZ 1861, S. 348. 115

U.a. Verfasser eines Buches über "Die Kartoffel-Unruhen am 21.April 1847" (Berlin 1847).

Die Jahre 1859 bis 1871

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der Schmerz verklärt in Lied und Klang, fließt hin in Trauermelodien. Vollendung war Dein höchstes Ziel, Du großer Meister edler Form, Du hast vollendet, schlackenrein. Gingst Du durch ew'ge Gnade ein in der Vollendung Sonnenland. Des Rechtes Acker bautest Du, des Geistes Korn warfst Du hinein, und fruchtbar bleibt die Geistessaat, wie oft der Ernte Sichel naht, sie bleibt und blüht in Ewigkeit."116 Weit weniger pathetisch referiert anschließend Prof. Dr. Heydemann zu Leben und Werk Savignys117. Darauf gibt von Waitensleben den Plan der Gesellschaft bekannt, eine "Savigny-Stiftung zur Förderung der vergleichenden Rechtswissenschaft" zu konstituieren, ein Vorhaben, das vom anwesenden Prof. Dr. Wächter nachhaltig unterstüzt wird. Nicht ohne zuvor eine weitere Kantate zu Gehör zu bringen ("Heilig, heilig, heilig die Toten sind! ... "), geht man um 9 1/4 Uhr auseinander, wobei die "Allerhöchsten Herrschaften, von den Vorstands-Mitgliedern nach dem Ausgange des Fest-Lokals zurückgeleitet, geruhten, Allerhöchst sich über die Feier in beifälliger Weise zu äußern, auch über die Zeit der Gründung und über die Wirksamkeit des Vereins Auskunft zu erfordern"118. Im Dezember 1861 druckt die Deutsche Gerichtszeitung eine Einladung, sich an der geplanten "Savigny-Stiftung" zu beteiligen. Es unterzeichnen als Gründungskomitee: v. Bernuth, v. Bethmann-Hollweg, Borchardt, Bornemann, Bruns, Dove, Gneist, Heydemann, Homeyer, Meyen, v. Patow, Richter, Rudorff, Graf v. Schwerin, Simson, Volkmar, Graf v. Wartens116

Deutsche GerichtsZ 1861, S. 361.

in

Deutsche GerichtsZ 1861, S. 361-365.

1

(3.) Rechenschaftsbericht der Jur.Ges. (1861/62), S. 2f.

«

32

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

leben'i'. Den ersten Beitrag (500 Taler) leisten der König und die Königin von Preußen^. Recht bald hatte man eine beträchtliche Geldsumme gesammelt, im Mai 1862 sind es 5035 Taler zuzüglich der Kassenbestände der Savigny-Komitees zu Amsterdam, Dresden, München, Turin und Wien121, im Juni 1863 bereits 19 388 Taler122, 1868 beträgt der Kassenstand 28 372 Taler123. Der 10. Jahresbericht der Juristischen Gesellschaft datiert - irrtümlich - die Verleihung der Korporationsrechte für die "Savigny-Stiftung zur Förderung der vergleichenden Rechtswissenschaft" auf den 20. Juni 1862124, während das am 27. März 1863 durch das Gründungskomitee festgesetzte Statut der Stiftung erst am 20. Juli d. J. durch königlich-wilhelminische, in Salzburg gezeichnete Kabinetts-Ordre genehmigt wird125. Stiftungszweck war nach § 1 des Statutes "in wesentlicher Berücksichtigung der Gesetzgebung und der Praxis 1) wissenschaftliche Arbeiten auf dem Gebiete des Rechts der verschiedenen Nationen zu fordern, namentlich solche, welche das Römische Recht und die verschiedenen Germanischen Rechte sowohl für sich, als auch im Verhältnis zueinander behandeln, ferner solche, welche die von Savigny begonnenen Untersuchungen in seinem Sinne weiterführen; 2) besonders befähigte Rechtsgelehrte in den Stand zu setzen, die Rechtsinstitutionen fremder Länder durch eigene Anschauung kennenzulernen und darüber Berichte oder weitere Ausführungen zu liefern"12«. 119

Deutsche GerichtsZ 1861, S. 367.

120 Deutsche GerichtsZ 1861, S. 367. 121

Deutsche GerichtsZ 1862, S. 147.

122

Deutsche GerichtsZ 1863, S. 115.

123

10. Jahresbericht der Jur.Ges. (1868/69), S. 3.

124

10. Jahresbericht der Jur.Ges. (1868/69), S. 3.

125

Deutsche GerichtsZ 1863, S.156, dort auch Abdruck der Ordre.

126

Das Statut ist abgedruckt bei Bruns, Die Savigny-Stiftung, in: ZRG (GA) 1 (1880), S. VIHff.; soweit hier zitiert im 7. Jahresbericht der Jur.Ges. (1865/66), S. 5, vollständig erstmals im 19. Jahresbericht der Jur.Ges. (1877/78).

Die Jahre 1859 bis 1871

33

Die Förderung war an keine Nationalität gebunden (§ 2). Als Stiftungsorgan fungierte ein sechsköpfiges Kuratorium (§ 6), zusammengesetzt aus je zwei Mitgliedern der Berliner Juristischen Fakultät, der Akademie der Wissenschaften und der Juristischen Gesellschaft. Das Kuratorium wählte aus seiner Mitte einen Syndicus (§ 8) und einen Vorsitzenden (§ 9). Die Unterstützung durch Prämierung eines in Druck oder Schrift vorliegenden Werkes, eine Preisaufgabe, ein Reisestipendium oder die Gewährung von Geldmitteln zur Erstellung einer rechtswissenschaftlichen Arbeit (§16 Ziff. 1 - 4 ) durfte nur aus der Zinsmasse des Stiftungsveimögens erfolgen (§ 5), und zwar in zunächst sechsjährigem (vom 1. Januar 1863 an), ab 1881 dreijährigem Turnus abwechselnd an die Akademien der Wissenschaften zu Wien, München und Berlin (§ 12). Diese Akademien bildeten ihrerseits teilweise noch heute existierende Kuratorien für die Stiftung12?. Am 29.12.1863 übergab das Gründungskomitee 23 179 Taler an das erste Kuratorium (von Seiten der Akademie Mommsen und Rudorff, als Fakultätsmitglieder Bruns und Gneist, aus den Reihen der Juristischen Gesellschaft Stadtgerichtsrat Graf v. Wartensleben als erster Vorsitzender und Staatsanwalt Meyen als erster Syndicus der Stiftung), womit die SavignyStiftung in Wirksamkeit trat128. Die bei F. Ebel nachgewiesene129 Zusammensetzung des Kuratoriums in der Zeit seiner Wirksamkeit bis in die zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts spiegelt in den Persönlichkeiten der Akademie die fachübergreifende Wissenschaftlichkeit mit starker historischer Ausrichtung, bei den Vertretern der Juristenfakultät die Dominanz der Rechtsgeschichte. Die von der Juristischen Gesellschaft entsandten Mitglieder vertreten die preußische Justiz (Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte, Justizbeamte), deren fachorientierte opera die Beeinflussung durch den wissenschaftlichen Geist - ganz im Sinne der Statuten der Juristischen Gesellschaft - belegen^. 127

F. Ebel, Die Savigny-Stiftung, in: Festschrift zum 125jährigen Bestehen der Jur.Ges. zu Berlin, S. 103.

128 Deutsche GerichtsZ 1864, S. 20. 1» F. Ebel, a.a.O., S. 104. 130 F. Ebel, a.a.O., S. 104 u. die dortigen Fn. 2,27 - 32.

34

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

Die in der Folgezeit von der Stiftung geförderten Projekte bezogen sich auf die drei klasssischen Fächer der europäischen Rechtsgeschichte - Germanistik, Romanistik und Kanonistik -, der erste Betrag (1863/64) wurde durch die Wiener Akademie an Maassen ("Geschichte der Quellen und Literatur des kanonischen Rechts", publiziert 1870) vergeben. Im Anhang 3 dieser Arbeit befindet sich eine Liste der von der Stiftung unterstützten Forschungsarbeiten, die nicht alle zu einem erfolgreichen Abschluß geführt werden konnten; so blieb die Schwabenspiegeledition Rockingers und v. Voltelinis (1869/70 und 1871/72 gefördert) ein Torso. Dennoch belegt die Diversität und Qualität der geförderten Arbeiten, hier sei nur auf die Mommsen-Krüger'sche Corpus-iuris-civilis-Ausgabe hingewiesen, das intensive und erfolgreiche Bemühen einer privaten StiftungsInitiative, selbstverwaltet durch die betroffenen Wissenschaftler, wie sie für das 19. Jahrhundert durchaus typisch ist. Der zunächst intendierte rechtsvergleichende Aspekt trat im Laufe der Jahre zugunsten einer Verlagerung auf das Geschichtliche zurück, dies nicht nur zeitbedingt, sondern richtungsweisend durch die Persönlichkeiten der Gründungs- und Kuratoriumsmitglieder und die Stiftung selbst mitbestimmt131. Die durch die Inflation nach dem Ersten Weltkrieg verursachte Entwertung des nominell hohen Stiftungsvermögens (1923) machte eine weitere Wissenschaftsförderung unmöglich. An die Stelle privater Initiative trat im 20. Jahrhundert allenthalben der Staat1«, im Falle der Savigny-Stiftung zunächst durch eine Hilfsorganisation, die "Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft"133. Im Rechtssinne besteht die Stiftung wegen noch vorhandener Werte fort. Hierzu ist vor allem die seit 1888 von Seiten der Stiftung immer stärker subventionierte "Zeitschrift für Rechtsgeschichte" zu zählen. Diese nach

131

Vgl. F. Ebel, a.a.O., S. 110.

132

Pfetsch, Staatliche Wissenschaftsförderung in Deutschland 1870 - 1975, in: vom Bruch; Müller (Hrsg.), Formen außerstaatlicher Wissenschaftsförderung, S. 113 -138.

133

Vgl. Stutz, Die Savigny-Stiftung seit 1901, in: ZRG (GA) 46 (1926), S. XXff., und die Nachweise im Anhang dieser Arbeit.

Die Jahre 1859 bis 1871

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Sinzheimer "berühmteste Zeitschrift Deutschlands"13·* war 1861 als Nachfolgerin von Savignys "Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft" von Bruns, Rudorff, Roth, Merkel und Bühlau gegründet worden und führte ab 1880 den Zusatz "Zeitschrift der Savigny-Stiftung"13*. Von Anfang an eng mit der Stiftung verbunden, seit 1880 in germanistischer und romanistischer, seit 1911 auch in kanonistischer Abteilung erscheinend, wollte die Zeitschrift zunächst Forum für die Arbeiten aus dem Kreis der Stiftung sein136. Sie errang schnell wegen ihres höchsten wissenschaftlichen Ranges bis in die Gegenwart beibehaltene Bedeutung und hatte Vorbildcharakter für entsprechende ausländische Periodika. Ihr Fortbestehen bis zum heutigen Tage in nunmehr über hundert Bänden belegt die Virulenz der Rechtsgeschichte. Ein derartiges Forum der Wissenschaft geschaffen und gefördert zu haben, darf als bleibender Verdienst der Savigny-Stiftung und damit auch deren Gründerin, der Juristischen Gesellschaft, zugerechnet werden. Die Gesellschaft hat die Tätigkeit der Stiftung seit ihrer Gründung aufmerksam verfolgt, in ihren Jahresberichten stets von den geförderten Projekten und dem Stand des Stiftungsvermögens berichtet. 2.4.4.

Internationale Kontakte

Am 13. September 1862 tritt die Juristische Gesellschaft der in Gründung befindlichen "Association internationale pour le progres des sciences sociales" in Brüssel bei137. Auslandskontakte über den deutschen Sprachraum hinaus sind bereits in den Anfangsjahren keine Seltenheit; der internationale Ruf der Gesellschaft manifestiert sich schnell. Dies geschah einmal über die Gründung der Savigny-Stiftung: 1863 konstituiert sich in London ein Komitee zu deren Förderung unter Mitwirkung des ehemaligen Lord-

134

Sinzheimer, Jüdische Klassiker der deutschen Rechtswissenschaft, S. 103.

135 Vgl. zur Geschichte der ZRG: Thieme, Hundert Jahre Zeitschrift für Rechtsgeschichte, in: ZRG (GA) 78 (1961), S. Xllff.; Mayer-Maly, Die berühmteste Zeitschrift Deutschlands, in: ZRG (GA) 102 (1985), S. Iff. 13

« F.Ebel,DieSavingny-Stiftung,S. 111.

137 Deutsche GerichtsZ 1862, S. 220.

36

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

kanzlers Lord Brougham" 8 , der 11. Jahresbericht der Gesellschaft weist auf ein spanisches Savigny-Komitee des Advokatenkollegiums zu Barcelona und ähnliche Aktivitäten in Nordamerika und Rußland hin"', bereits 1863 hatte man als Dank für die finanzielle Förderung der Stiftung dem Advokatenkollegium zu Buenos Aires ein Savigny-Bildnis dediziert140. Am 12. September 1862 verliest von Wartensleben ein Schreiben G. de Stefani Nicolosis vor der Gesellschaft: "Mirabella (Sicilien, Provinz Catania), 5. August 1863. In Veranlassung der Reorganisation der Italienischen Civilgesetzgebung ist der Unterzeichnete beauftragt worden, sein Urtheil über den dem Parlamente vorgelegten Gesetzesentwurf abzugeben. Dadurch, daß der Unterzeichnete beifolgend ... eine Kopie davon übersendet, glaubt er eine Pflicht zu erfüllen, welche ihm die Wissenschaft gegen ihren geehrten Juristenverein auferlegt. Er bittet daher, dieselbe als einen aufrichtigen Beweis seiner tiefen Bewunderung anzunehmen."!41 1864 übersendet E. Wendt (London) als Vorsitzender des "International general average Commitee" den "Entwurf eines Gesetzes über die große Haverei" mit der Bitte, die Juristische Gesellschaft möge das Gesetz einer Prüfung unterwerfen und das Ergebnis dem Komitee alsbald mitteilen·^. Wenig später spricht die Gesellschaft dem "Deutschen Rechtsschutzverein" zu London für dessen humanitäre Bemühungen ihre Bewunderung aus143. 1865 übersendet die Universität zu Christiana (Norwegen) der Vereinsbibliothek verschiedene, teils rare juristische Werkel44. Im gleichen Jahr lädt Prof. Ellero aus Bologna, der schon länger mit der Berliner Vereinigung korrespondiert, zur finanziellen Unterstützung eines "Nationalen Denkmals, errichtet dem ersten Apostel für die Abschaffung der Todesstrafe, Cäsar 138

Deutsche GerichtsZ 1863, S. 115.

139 11. Jahresbericht der Jur.Ges. (1869/70), S. 6f. ito 8. Jahresbericht der Jur.Ges. (1866/67), S. 3. iti Zitiert nach: Deutsche GerichtsZ 1863, S. 156. l « Deutsche GerichtsZ 1864, S. 71. 1« Deutsche GerichtsZ 1864, S. 119. 1 44 Deutsche GerichtsZ 1865, S. 15.

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Beccaria" (1871 in Mailand errichtet) eini«, 1876 unterstützt man die Errichtung eines Monumentes für den Vorläufer Hugo Grotius', Alberico Gentili, in Rom'*«. 1872 ruft die Gesellschaft ein deutsches Nationalkomitee zur Förderung des internationalen Gefägniskongresses in London ins Leben, von dessen Tätigkeit von Holtzendorff dem Verein berichtet1^. Dem Selbstverständnis nach keine bloße lokale Vereinigung, hat die Juristische Gesellschaft in den ersten Jahren ihres Wirkens vielfach stillschweigend die Vertretung des preußischen und deutschen Juristenstandes gegenüber dem Ausland übernommen148. Wenn erstes Ziel der Gesellschaftstätigkeit Mitwirkung bei der Errichtung der deutschen Rechtseinheit als Mittel zur Einigung der Nation war, so haben die treibenden Kräfte des Vereins doch von Anfang an dem Aspekt der Internationalität des Rechts gebührende Beachtung gewährt, wie die zahlreichen rechtsvergleichenden Vorträge vor der Gesellschaft deutlich belegen!«. Neben dem Schwerpunkt des Völkerrechts und des internationalen Privatrechts ist hierbei zunächst eine Präferenz für den englischen Rechtskreis festzustellen. So stellt Gneist 1863 die neueste Organisation der englischen Ziviljustiz vor, 1865 vergleicht Lasker das englische und deutsche Konkursverfahren. Auch die Verbindung des preußischen Königshauses zu England spiegelt sich in der Geschichte der Juristischen Gesellschaft. In der 40. Sitzung (20. Juni 1863) wird den Mitgliedern ein Schreiben des "königlichen Kammerherrn und Dr. iuris" Baron von Stockmar zur Kenntnis gebracht: "Berlin, den 4. Juni 1863. Sekretariat Ihrer königl. Hoheit der Frau Kronprinzessin von Preußen, Prinzeß Royal von Großbritannien und Irland.

145

Deutsche GerichtsZ 1866, S. 12.

ι*

17. Jahresbericht der Jur.Ges. (1875/76), S. 2.

147 13. Jahresbericht der Jur.Ges. (1871/72), S. 2.; 13ff.; 14. Jahresbericht der Jur.Ges. (1872/73), S. lf. 14« Neumann, Geschichte, S. 20. 149 Vgl. bei Neumann, Geschichte, S. 34 - 36.

38

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

Ihre königl. Hoheit Frau Kronprinzessin von Preußen hat von dem durch Ew. Hochgeb. mitgetheilten Rechenschaftsbericht über die Wirksamkeit der Juristischen Gesellschaft mit Interesse Kenntnis genommen und befiehlt mir, zum Beweise höchst Ihrer Theilnahme für die Bestrebungen der Gesellschaft ein Exemplar der neuesten Ausgabe von Stephen's Bearbeitung von Blackstone's Commentaries als einen Beitrag zur Vereinsbibliothek zu übersenden."150 Die Aktivitäten der Juristischen Gesellschaft, neben der Wirksamkeit des Deutschen Juristentages mitbestimmendes Element des Strebens der deutschen Juristenwelt nach Rechtsvereinheitlichung als Mittel und Voraussetzung der nationalen Einigung, fanden in den ersten Jahren, wohl aufgrund dieser Intention, des öfteren die Beachtung der "allerhöchsten Herrschaften". Hierbei dürfte die Person des ersten Vorsitzenden von Wartensleben, aus dem ältesten preußischen Grafengeschlecht stammend, eine gewisse Rolle gespielt haben. Allen voran bekundet Preußens "liberale Hoffnung", der damalige Kronprinz Friedrich Wilhelm, sein Interesse. Im März 1865 erkundigt er sich beim Grafen Wartensleben nach der Arbeit des Juristentages'si, in der 60. Sitzung der Gesellschaft am 13. Oktober 1865 verliest der Vorsitzende ein Handschreiben des Kronprinzen vom 13. Juni d. J.: "Mit Dank fur den mir überreichten sechsten Jahresbericht der Juristischen Gesellschaft zu Berlin verbinde Ich gern die Versicherung, daß Ich der Wirksamkeit derselben stets mit Interesse folge und Mich freue, ihre wissenschaftliche Thätigkeit auch den praktischen Fragen der Gesetzgebung in ersprießlicher Weise zugewandt zu sehen."'» An der ersten Sitzung der Gesellschaft nach dem Zusammentritt des Norddeutschen Reichstages (16. März 1867) nimmt Friedrich Wilhelm neben zahlreichen Mitgliedern des Reichtstages in persona teil. In der Sitzung greift Oberregierungsrat Dr. Engel eines der aktuellen rechtspolitischen und

150

Deutsche GerichtsZ 1863, S. 114.

151 Deutsche GerichtsZ 1865, S. 41. 152 Deutsche GerichtsZ 1865, S. 162.

Die Jahre 1859 bis 1871

39

sozialen Themen der Zeit auf: "Arbeiter-Vertrag und Arbeits-Gesellschaft"153. Die Gesellschaft scheute sich also auch in Gegenwart des Thronfolgers nicht, "heiße Eisen" anzupacken. 2.4.5.

Gesetzgebungskritik

In den Jahren bis zur Reichsgründung 1871 hat die Gesellschaft ihren Statuten gemäß stets Gesetzgebungsprojekte der Zeit - mit naturgemäßem Schwerpunkt Preußen - beobachtet und hierzu darstellend und kritisierend mit Referaten von Mitgliedern und Gästen Stellung genommen. Durch die Veröffentlichung der Sitzungsprotokolle, bis Ende 1867 regelmäßig in der "Preußischen/Deutschen Gerichtszeitung", ab 1868 seltener in der von Franz, Hinschius und Behrend herausgegebenen "Zeitschrift für Gesetzgebung und Rechtspflege in Preußen", und durch die Jahresberichte der Gesellschaft, in denen sich ab 1870 - zunächst in bescheidenem Umfang - die gedruckten Voitragstexte finden, war für ein den Kreis der Mitglieder sprengendes Forum gesorgt. Auch die Presse - etwa die "Vossische Zeitung" - berichtete über die Vereinstätigkeit. Beispielhaft seien hier die folgenden Referate genannt: Lasker über die Anforderungen an eine Gerichtsordnung (14.2.1863); Rubo über den Entwurf einer Strafprozeßordnung für Preußen (10.6.1865) und Meyen über den Entwurf eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund (18.9. und 13.11.1869); der spätere Vorsitzende der Gesellschaft Koch über die Grundsätze der Preußischen Armengesetzgebung (12.1.1867) und über die Reform des preußischen Konkursrechts (10.10.1868; Koch war 1868 bis 1870 Schriftführer der norddeutschen Zivilprozeßkommission); Dambach über den Entwurf eines Urhebergesetzes (7.5.1870); Bohlmann über die Materialien zur allgemeinen Notariatsordnung (14.1.1871). Zu notieren ist aber, daß manches Wichtige von der Gesellschaft nicht aufgegriffen wurde, so z. B. die Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund 153

8. Jahresbericht der Jur.Ges. (1866/67), S. 2.

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Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

von 1869, die immerhin die Koalitionsfreiheit (§§ 152f.) rechtlich verankerte. Bereits in der ersten Dekade ihrer Tätigkeit hat die Gesellschaft mehrfach versucht, auch auf andere Weise den Gesetzgebungsprozeß zu beeinflussen. In der 48. Sitzung am 12. Mai 1864 wird ihr der neueste Entwurf eines "Gesetzes über das Hypothekenwesen und einer Hypotheken-Ordnung für Preußen" vorgelegt154. Am 25. Februar 1863 hatte eine Kabinettsordre die schleunige Aufnahme einer Hypothekenreform veranlaßt, die im wesentlichen die praktischen Bedürfnisse des öffentlichen Verkehrs berücksichtigen sollte'55. Die Gesellschaft beschloß, den 1864 vorgelegten Entwurf durch eine Kommission (Bernhard, Herrmann, Gräfe, Lebin, Leo, Rubo, Schadow, Schmidt, von Wartensleben) prüfen zu lassen und den Mitgliedern einen Bericht zur Diskussion vorzulegen15«. Dies geschah am 3. März 1865. Die Grundthesen der Kommission lauteten157: Ein Bedürfnis zur sofortigen Revision des materiellen und formellen Hypothekenrechts sei nicht vorhanden; die Behebung des Mangels des Realkredites müsse der Tätigkeit der Grundbesitzer überlassen bleiben; der Staat könne nur mittelbar die Sicherung des Grundeigentums und des Realkredites durch gesetzgeberische Akte fördern, indem man das Prinzip der Publizität verschärfe, Inhaberhypotheken und Blanko-Giros zulasse, das Formwesen bei den Rechtsgeschäften vereinfache, die Weitläufigkeit des Subhasationsverfahrens beseitige, die Zinstaxe abschaffe, die Kosten- und Stempelgebühren ermäßige und ausreichendes Personal zur Erledigung der Hypothekensachen stelle (die Zurückhaltung bei staatlichen Eingriffen entspricht der liberalistischen Grundhaltung der Zeit). Das geltende Hypothekenrecht leide zwar an Mängeln, die aber erst im Wege einer Revision des gesamten Zivilrechts zu beseitigen seien, wobei als Grundlagen zu beachten seien: Möglichkeit des Erwerbs von Eigentum

154

Deutsche GerichtsZ 1864, S. 98.

155

Demburg; Hinrichs, Das Preußische Hypothekenrecht, l.AbL, S. 56.

15« Deutsche GerichtsZ 1864, S. 98. 157

Der Bericht ist abgedruckt in: Deutsche GerichtsZ 1865, S. 49 - 52; 57 - 60; 65 - 68.

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unabhängig von der Übergabe; bei Immobilien im Hypothekenbuch müsse der Bucheigentümer Dritten gegenüber als wahrer Eigentümer gelten; Aufhebung des Legalitätsprinzips158. Am 8. April 1865 erklärt der Wirkliche Geheime Obeijustizrat Dr. von Zur Mühlen als Beauftragter des Justizministeriums vor der Gesellschaft, der Bericht der Kommission sei der wertvollste Beitrag bei den Gesetzesvorarbeiten gewesen, das Ministerium stimme mit den Schlußthesen in allen wesentlichen Punkten überein159. Der Gesetzesentwurf wurde beim "ersten Lautwerden einer Opposition"1® fallengelassen. Nach vom Reformwillen bestimmter auf einzelne preußische Provinzen beschränkter Teilgesetzgebung wurde die Hypothekenreform 1868 erneut in Angriff genommen1«', wobei die von der Kommission der Gesellschaft ausgearbeiteten Grundthesen Beachtung fanden1®. Zu einer umfangreichen landesrechtlichen Neuregelung der Materie kam es durch die Gesetze vom 5. Mai 1872163. Während also die Hypothekenkommission erfolgreich tätig war, beschloß die ebenfalls in der Sitzung vom 13. Mai 1864 zusammengestellte Zivilprozeßkommission1«*, welche sich mit dem sogenannten Hannoverschen Entwurf einer allgemeinen Deutschen Zivilprozeßordnung (1864)1« befassen sollte, ihren Bericht bis zur zweiten Lesung des genannten Entwurfs auszusetzen, um dann "weiter nichts von sich hören" 1 « zu lassen. In den Sitzungen am 18. September und 13. November 1869 berichtete 158

Deutsche GerichtsZ 1865, S. 68.

159 Deutsche GerichtsZ 1865, S. 84. i® Demburg; Hinrichs, Das Preußische Hypothekenrecht, l.AbL, S. 57. 161 Dernburg; Hinrichs, a.a.O., S. 58f. 1«

10. Jahresbericht der Jur.Ges. (1868/69), S. 5.



Demburg: Hinrichs, a.a.O., S. 60ff.

164 Deutsche GerichtsZ 1864, S. 99. 165 Vgl. hierzu bei Dannreuther, Der Zivilprozeß als Gegenstand der Rechtspolitik im Deutschen Reich 1871 -1945, S. 59ff. 166 Neumann, Geschichte, S. 17.

42

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

Justizrat Meyen über den Entwurf eines StGB für den Norddeutschen Bund, welchen das Bundeskanzleramt (!) der Juristischen Gesellschaft zur Kenntnisnahme mitgeteilt hatte, ein weiterer Beweis für die starke Außenwirkung und Wertschätzung der Tätigkeit der Juristenvereinigung - im konkreten Fall durch oberste Behörden des Staatsapparates. Der Entwurf war weiterhin Gegenstand der Sitzungen der Gesellschaft im Dezember 1869 und Januar 1870, auf welchen eine hierfür eingesetzte Kommission (Delius, v. Holtzendorff, Liman, Meyen) einen Bericht mit 14 Thesen zur Diskussion stellte. Hauptpunkte waren: Einbeziehung der Bestimmungen über den Mißbrauch der Presse, des Vereins- und Versammlungsrechts in die einheitliche Gesetzgebung; Abschaffung der Todesstrafe, Beibehaltung allenfalls für Mord wahlweise mit lebenslanger oder zeitiger Zuchthausstrafe (mindestens 15 Jahre); Fragen des Strafvollzuges (Einzelhaft, Gruppenhaft, Resozialisierung z. B. durch Beurlaubigungen); Generalisierung des Systems der mildernden Umstände und die Möglichkeit des Strafrichters, nicht nur unter das gesetzliche Strafmaß zu gehen, sondern auch eine andere Strafart zu wählen167. Hier finden sich richtungweisende Anregungen, die von der späteren Gesetzgebung weitgehend realisiert wurden. Neben der kritischen Arbeit durch Kommissionen hat die Juristische Gesellschaft auch auf andere Art den Gang der Gesetzgebung mitbestimmt. Am 11. März 1865 beschloß die Vereinigung in ihrer 56. Sitzung eine Preisaufgabe - es gab deren bis 1933 insgesamt sieben168 - auszuschreiben mit dem Thema: "Ist die körperliche Haft ein zulässiges Exekutionsmittel in Civilprozeßsachen?". Gefordert wurde "eine historisch-dogmatische Beleuchtung dieser Gesetzgebungsfrage vom Standpunkte der Rechtswissenschaft und der Volkswirtschaftslehre"!®, die auch rechtsvergleichend angelegt sein sollte. Als Gründe für das Thema wurden dessen kontroverse Behandlung auf dem 4. 167

11. Jahresbericht der Jur.Ges. (1869/70), S. 21.

168

Vgl. im Anhang 2 dieser Arbeit,

l « Deutsche GerichtsZ 1865, S. 44.

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43

Juristentag zu Mainz und anstehende legislatorische Aktivitäten auf dem Gebiet genannt. Die Preisrichter (Friedberg, Gneist, Heydemann - ersetzt durch Bruns -, Plathner, von Wartensleben) wählten unter den bis zum März 1866 eingegangenen fünf Schriften die Arbeit des Gerichtsassessors Dr. Paul Ulimann aus (Preis: 50 Friedrichsdor, die Ullmann der Savigny-Stiftung zur Verfügung stellte^, die Schrift wurde Eigentum der Gesellschaft) i7i. Das Motto des preisgekrönten opus lautete: "Tot tela quot hostes", der Grundtenor: gegen die Zulassung der Schuldhaft. Sie schädige Moral und Ansehen des Staates, fördere nicht den nützlichen, sondern nur den schädlichen Kredit. Als Ersatzmittel sei an eine Verschärfung der Verzugsfolgen, die leichtere Zulassung des Konkurses und die Anlegung öffentlicher, jedermann zugänglicher Listen aller trotz Mandats nicht zahlender und vergeblich ausgepfändeter Schuldner zu denken172. Am 22. Januar 1867 erklärt der Regierungskommissar Geheimer Justizrat Dr. Pape in einer Sitzung des Preußischen Abgeordnetenhauses: "Diese lichtvolle und übersichtliche Zusammenstellung der Gründe gegen die Beibehaltung des Personal-Arrestes hat in Preußen die Zahl der Gegner des Personal-Arrestes noch vermehrt."'^ Die Personalhaft als Exekutionsmittel ist in Preußen durch Gesetz vom 29. Mai 1868 abgeschafft worden (vgl. heute §§ 890,901ff. ZPO). Neben den konkreten Gesetzgebungsfragen spiegeln sich auch andere Zeitströmungen in der Tätigkeit der Juristischen Gesellschaft. Der Kulturkampf in Preußen wirft seine Schatten voraus. In der 34. Sitzung am 13. Dezember 1862 referierte Dr. Emil Friedberg, später Bearbeiter und Herausgeber der bis heute unerreichten Edition des "Corpus iuris canonici", "Über den Mißbrauch der geistlichen Gewalt und den Rekurs an den Staat".

170

Koch, Rückblick 1884, S. 12.

«1 Deutsche GerichtsZ 1866, S. 94; 8. Jahresbericht der Jur.Ges. (1866/67), S. 2. 172

Deutsche GerichtsZ a.a.O., S. 94; 8. Jahresbericht der Jur.Ges. a.a.O., S. 2.

173 zitiert nach: 8. Jahresbericht der Jur.Ges. a.a.O., S. 2.

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Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

Der Kammergerichtsreferendar Dr. Schmidt erhob hiergegen Einwände mit dem Argument, die Erörterung kirchlicher Fragen gehöre nicht zu den Aufgaben und Kompetenzen der Gesellschaft. "Diese Ansicht wurde allseitig auf das Lebhafteste bekämpft ..."174 Der Vorsitzende von Wartensleben stellte daraufhin fest, daß die Statuten die Behandlung von Fragen des Kirchenrechts nicht verböten. Die militärischen Auseinandersetzungen (Dänemark 1864, Österreich 1866, Frankreich 1870/71) finden in den Annalen der Gesellschaft - anders als später der 1. Weltkrieg - nur geringen Niederschlag. So kann in der 67. Sitzung (12. Mai 1866) der Bericht "des Hrn. Ger.-Assessors Dr. Gierke (!) über das Werk des Prof. Dr. Arnold 'Kultur und Rechtsleben' ... nicht erstattet werden, weil nach Mittheilung des Vorsitzenden der Referent Dr. Gierke in Folge der Mobilmachung zur Armee einberufen und deshalb am Erscheinen verhindert war"175. Das Referat von Lehfeld am 15. September 1866 über "Das Eroberungsrecht und die Rechte der eroberten Territorien" erinnert an die vorangegangenen Kriege176 und die Einverleibung verschiedener Städte und Länder in das preußische Staatsgebiet (ζ. B. Frankfurt, Hannover, Nassau). Obwohl sich die Gesellschaft im Gegensatz zu der oben erwähnten ursprünglichen Selbstbeschränkung des Deutschen Juristentages von Anfang an mit staats- und verwaltungsrechtlichen Fragen beschäftigt, bleibt der preußische Verfassungskonflikt (1862 - 1866), wohl auch wegen seiner eminent politischen Bedeutung, im Forum der Gesellschaft, soweit dies die schriftlichen Quellen dokumentieren, unerörtert. Immerhin gehörten der Gesellschaft ζ. B. mit Twesten, Gneist und Lasker aktive und prominente Parlamentarier an, die mehrfach in die Debatten um den Militäretat und später das Indemnitätsgesetz eingegriffen haben·77. Diese "Neutralität" einer Fachvereinigung in bezug auf eines der politischen und verfassungsrechtlichen 174

Deutsche GerichtsZ 1863, S. 12.

«75 Deutsche GerichtsZ 1866, S. 88. 176 Koch, Rückblick 1884, S. 7. «77 Vgl. bei Fenske (Hrsg.), Der Weg zur Reichsgründung 1850 - 1871, S. 262ff. (Twesten); S. 328ff. (Gneist); S. 332ff.(Lasker).

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Probleme der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts ist durchaus zeitbedingt - man bedenke die (für das erfolgreiche Wirken notwendigen) engen Verbindungen zu den Spitzen der Justizverwaltung und zum Königshaus. Eine derartige freiwillige Zurückhaltung wird insbesondere in der Weimarer Zeit aufgegeben, wie noch zu belegen sein wird. Nicht zu Unrecht wird im 10. Jahresbericht der Gesellschaft (1868/69) auf die "dem ruhigen Gedeihen eines rein wissenschaftlichen Vereins ungünstigen politischen Strömungen dieses Decenniums"178 hingewiesen, die aber den Erfolg der Juristischen Gesellschaft nicht beeinflussen konnten.

2.4.6.

Biographisches - Bornemann, Volkmar, Hiersemenzel, Twesten

In der ersten Phase ihrer Wirksamkeit bis 1871 verliert die Gesellschaft vier bedeutende, das Vereinsleben prägende Mitglieder durch den Tod. Für alle wird als Ausdruck der Hochachtung eine Gedächtnisfeier im Rahmen einer besonderen Vereinssitzung veranstaltet. Ein kurzer Blick auf vitae et opera Bornemanns, Volkmars, Hiersemenzels und Twestens soll hier einer ersten exemplarischen Charakterisierung der bedeutenderen Mitglieder der Gesellschaft dienen, wobei das Beispiel des literarisch ambitionierten Praktikers durchaus - auch für die Folgezeit - als typisch gelten darf.

Dr. Ferdinand Wilhelm Ludwig Bornemannw Bornemann, Gründungsmitglied der Juristenvereinigung, wurde am 28. März 1798 in Berlin als Sohn des durch plattdeutsche Gedichte bekannten Johann Wilhelm Jakob Bomemann geboren. 1815 nahm er als freiwilliger Jäger an den Befreiungskriegen teil, anschließend studierte er an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität Kameralwissenschaften, wobei er auch juristische Vorlesungen (Savigny, Biener, Schmalz) besuchte, da eine Königliche Verordnung den Kameral178 17

10. Jahresbericht der Jur.Ges. (1868/69), S. 2.

» Vgl. zu Bomemann: Friedberg, in: Deutsche GerichtsZ 1864, S. 33 - 35; Göppert, in: ADB Bd. 3, S. 173f; Kleinheyer; Schiöder, Deutsche Juristen, 3.Aufl., S. 335 (Nr.l3a); Sonnenschmidt, Geschichte des Ober-Tribunals, S. 448f.

46

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

Studenten die Ablegung des ersten juristischen Examens auferlegte. 1818 begleitet er seinen Vater nach London, wo dieser mit der Realisierung einer Staatsanleihe mit dem Hause Rothschild beauftragt ist. 1819 tritt er in den preußischen Staatsdienst ein, wird 1823 zum Kammergerichtsassessor ernannt und 1825 an das Oberappellationsgericht in Greifswald gerufen. Die dortige Universität verleiht dem seit 1823 auch als juristischer Autor Tätigen die Ehrendoktorwürde; Bornemann habilitiert sich zum Privatdozenten und liest über preußisches Landrecht. Der Beförderung zum Oberlandesgerichtsrat 1827 folgt die Versetzung an das Berliner Kammergericht 1831. Seit 1837 vortragender Rat im Finanzministerium, wird er 1842 Mitglied und 1843 Staatssekretär des Staatsrates (hier ausgiebiges legislatorisches Schaffen), im gleichen Jahre noch Präsident des von Friedrich Wilhelm IV. neugeschaffenen Oberzensurgerichtes, wo er sich für eine größere Literaturfreiheit einzusetzen beginnt. 1844 erlangt er die Stellung des Direktors im Justizministerium und nimmt regen Anteil an zahlreichen Reformbemühungen, insbesondere auf dem Gebiet des Zivilpiozeßrechts.

Die Märzunruhen des Jahres 1848 zwingen Friedrich Wilhelm IV. zur mehrfachen Regierungsumbildung. Als am 29. März in Preußen an die Stelle des bürokratischen Übergangsministeriums ein liberales Märzministerium (Camphausen-Hansemann) tritt180, wird Bornemann bis zur erneuten Auflösung dieses Kabinetts (Juni 1848) für kurze Zeit preußischer Justizminister. Vom 5. Juli 1848 bis zu seinem Tode am 26. Januar 1864 bekleidet er das Amt des zweiten Präsidenten des Obertribunals. Im Sinne der liberalen Partei ist er in der preußischen Nationalversammlung von 1848, der ersten Kammer von 1849 und seit 1860 als Kionsyndikus im Herrenhaus politisch aktiv. In diese Zeit fällt seine Teilnahme an dem Entwurf zur "Allgemeinen Deutschen Wechsel-Ordnung" (ADWO 1848) und sein Wirken in der Kommission für das Handelsgesetzbuch (ADHGB 1861). Er beteiligt sich an den Vorhaben der Juristischen Gesellschaft, wird 1861 180

Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte. Bd. 2, S. 579f.

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Präsident der Ständigen Deputation des Juristentages und der Kommission zur Revision des Zivilprozeßrcchts und ist Mitglied des Gründungskomitees der Savigny-Stiftung. Neben dem steten Bemühen um Gesetzesreform und Rechtseinheit liegt seine große Bedeutung in der wissenschaftlichen Bearbeitung des preußischen Privatrechts. In anfänglicher Opposition zu Vorstellungsweisen der Historischen Schule gilt Bornemann als der Begründer "wissenschaftlicher über das literarische Handwerkerthum hinausreichender Verarbeitung des Landrechts"181. 1825 erscheint seine Monographie "Von Rechtsgeschäften überhaupt und von Verträgen insbesondere", 1833 - 1839 in sechs Bänden sein Hauptwerk "Systematische Darstellung des preußischen Civilrechts" als das erste in Aufbau und Ausführung wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Handbuch des preußischen Privatrechts und dadurch von grundlegender Bedeutung für die literarische Entwicklung desselben. Hier findet sich seine verdienstvolle Darstellung der bis dahin wenig bekannten Redaktionsgeschichte des Landrechts. Die 1855 erschienenen "Erörterungen im Gebiete des Preußischen Civilrechts" zeichnen sich durch die wissenschaftliche Verarbeitung der Kasuistik aus der Praxis des Obertribunals aus, wie es dem (späteren) Ideal der Juristischen Gesellschaft bezüglich der Verbindung von Wissenschaft und Praxis entsprach.

Friedrich Wilhelm Johannes Leopold Volkmari«2 Auch in Volkmar, am 31. Juli 1817 in Berlin geboren, tritt uns ein schriftstellerisch ambitionierter Praktiker gegenüber. Nach Besuch des Gymnasiums Zum Grauen Kloster studiert er die Rechte an der Friedrich-Wilhelms-Universität, wo er eifriger Hörer Savignys ist. Seine geheime Liebe aber gehört der Geschichte. Nach Religionswechsel wird er 1837 Auskultator, 1839 Referendar und 1842 Assessor, verbringt zwei Jahre beim Oberappellationssenat des Kammergerichts, wechselt 1843 an das Landgericht Trier und wird 1845 zum Advokat-Anwalt beim Revi-

181

Göppeit, a.a.O., S. 174.

182

Vgl. zu Volkmar: Makower, in: Deutsche GerichtsZ 1864, S. 167f.

48

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

sions- und Kassationshof ernannt. Es folgt eine Tätigkeit als bald bekannter Verteidiger in politischen Prozessen, insbesondere im Zusammenhang mit der 48er Revolution. Am 15. November 1848 beschloß eine dezimierte, aber beschlußfähige preußische Nationalversammlung in ihrer letzten Sitzung, ab dem 17. November sollte die Regierung (Ministerium Brandenburg-Manteuffel) nicht mehr berechtigt sein, Steuern zu erheben und über sie zu verfügen, solange nicht die Versammlung ihre Sitzungen in Berlin frei fortsetzen könnte183. Später wurden Abgeordnete, welche diesen Steuerverweigerungsbeschluß verbreitet hatten, angeklagt und von Volkmar glänzend verteidigt184. In den Reihen der Juristischen Gesellschaft finden sich in ihren Anfangsjahren eine ganze Reihe von bürgerlichen Revolutionären der Märzbewegung. 1859 ist Volkmar ihr Mitbegründer und Mitglied des ersten Vorstandes, später auch der Ständigen Deputation des Juristentages. Am 10. September 1864 verstirbt er, nur 47 Jahre alt, in Berlin. Zu seinen Schriften zählen: "Die Selbständigkeit der unteren Instanzen gefährdet durch das Geheime Obertribunal" (1843); "Der Religionsprozeß des Predigers Schulz zu Gielsdorf, genannt Zopfschulz, aktenmäßig dargestellt von Leopold Volkmar" (1846); "Die Jurisprudenz des Rheinischen Kassationshofes zu Berlin 1819 - 1846" (1848); 1862 bearbeitet Volkmar gemeinsam mit Löwy die Allgemeine Deutsche Wechsel-Ordnung. Makower bezeichnete ihn als "konsequenten Verfechter freisinniger Grundsätze auf allen Gebieten des staatlichen Lebens"185.

Carl Christian Eduard

Hiersemenzel·*6

Am Ende der ersten Dekade der Wirksamkeit der Juristischen Gesellschaft 183

Vgl. zur Steuerverweigerung: Schmidt (Hrsg.), Illustrierte Geschichte der dt. Revolution 1848/49, S. 236ff.

184

Makower, a.a.O., S. 167.

185 Makower, a.a.O., S. 168. 186

Vgl. zu Hiersemenzel: Teichmann, in ADB Bd. 12, S. 392; Wiener in Protokoll der 98. Sitzung der Jur.Ges., S. 1 - 5.

Die Jahre 1859 bis 1871

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stirbt ihr eigentlicher Initiator und spiritus rector, Hiersemenzel (6.12.1869). In Schlesien geboren (Schönau, 20. Juli 1825) und zur Schule gegangen (Sagan, Sorau) inskribiert sich Hiersemenzel 1843 an der Juristischen Fakultät in Breslau, wird 1843 Auskultator in Sagan und 1847 - 1848 Referendar in Königsberg. Hier tritt er "in innige Beziehung mit den damals bereits in Vorahnung der kommenden Ereignisse lebhaft erregten Kreisen"187. Bald reift sein Entschluß heran, eine publizistische Laufbahn einzuschlagen. 1848 finden wir ihn am Kreisgericht (Charlottenburg und Mittenwalde) in Berlin tätig, wo er sich mit kommunalen Fragen beschäftigt. Ab 1856 am Stadtgericht Berlin wird er 1859 Stadtrichter, ehe er sich in seinen letzten Lebensjahren als Rechtsanwalt und Notar (ab 1868) niederläßt. Auf seine Initiative gehen sowohl die Gründung der Juristischen Gesellschaft als auch die Einberufung des 1. Deutschen Juristentages zurück. Von beiden Institutionen zog er sich jedoch aufgrund "mancherlei Bitterkeiten, die er erfahren hatte"188, 1866 (Juristentag) und 1867 (Jur. Ges.) zurück, was allseitig bedauert wurde, "da er diesen Vereinen sein bestes Herzblut geopfert hatte und namentlich der Mann war, um die Geister zusammenzurufen und zusammenzufassen zum Eintritt in die Vorarbeit bezüglich aller bewegenden großen Aufgaben der Gesetzgebung der Gegenwart" ι«». 1862 hatte Hiersemenzel auf dem Juristentag den Beschluß durchgesetzt, daß Richter über das verfassungsgemäße Zustandekommen von Gesetzen zu entscheiden haben sollen. Zu seinen schriftstellerischen Arbeiten zählen: "Vergleichende Übersicht des heutigen römischen und preußischen Privatrechts" (2 Bde, 1832); "Ergänzungen und Erläuterungen zum Allgemeinen Landrecht" (3 Bde, 1854/55, Supplementband 1858); "Preußisches Handelsrecht" (1856); "Ergänzungen und Erläuterungen zur Prozeß-Ordnung" (1858); "Zur Lehre vom kaufmännischen Kommissionsgeschäft" (1859). Er hat daneben gemeinsam mit von Maitzahn eine historisch-kritische Ausgabe der Schillergedichte, insbesondere auch der bis dato unpublizierten, herausgegeben. 187

Wiener, a.a.O., S. 2.

88

Wiener, a.a.O., S. 3.

1

IS» Teichmann, a.a.O., S. 392.

50

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

Von 1859 bis 1867 war er Redakteur der Preußischen/Deutschen Gerichtszeitung. Ab 1867 widmete er sich weitgehend dem Verfassungsrecht des Norddeutschen Bundes ("Die Verfassung des Norddeutschen Bundes" (1867); "Das Verfassungs- und Verwaltungsrecht des Norddeutschen Bundes und des deutschen Zoll- und Handelsvereins" ). "Er war kein Genius. Er hat auch der Wissenschaft keine neuen Bahnen vorgeschrieben ... Aber er war in Deutschland der Mann, der zur Zeit den Ausgangspunkt bildete für die Erstarkung der nationalen Rechtseinheit, für die Bildung der bedeutendsten juristischen freien Association der Gegenwart (Dt. Juristentag, Anm. d. Verf.)."i»° Karl T. Twesten191 In die Reihe der exponierten Gesellschaftsmitglieder gehört sicherlich auch Twesten (22. April 1820 - 14. Oktober 1870), der von den hier genannten am stärksten politisch aktiv war. Er zählte nicht zuletzt aufgrund des bereits erwähnten Duells mit von Manteuffel, seines Konflikts mit der Justiz in Sachen parlamentarischer Redefreiheit (ab 1865) sowie seiner heftigen Opposition gegen Bismarck zu den bekanntesten und volkstümlichsten Politikern der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts in Preußen. Twesten war daneben auf den verschiedensten Gebieten literarisch tätig, arbeitete über Auguste Comte und Macchiavelli, den preußischen Beamtenstaat und die asiatischen Kulturvölker. Seit dem Gründungsjahr Mitglied der Gesellschaft, in ihrem Forum mehrfach als Referent aufgetreten, verkörperte dieser homo universalis einige typische Attribute des nach wahrer politischer Partizipation strebenden - dabei patriotischen - Bürgertums. Als Festredner auf seiner von der Gesellschaft veranstalteten Gedächtnisfeier am 3. Dezember 1870 trat sein Parteifreund Lasker auf 1 «.

190

Wiener, a.a.O., S. 3.

l'i

Vgl. zu Twesten: v.Petersdorff, in: ADB Bd. 39, S. 34ff.

ι»

12. Jahresbericht der Jur.Ges. (1870/71), S. 2.

Die Jahre 1859 bis 1871

2.4.7.

51

Stiftungsfest 1869 und Reichsgründung 1871

Zwei besondere Sitzungen der Gesellschaft sollen zum Abschluß der Darstellung der ersten Phase ihrer Wirksamkeit näher geschildert werden, um einen lebendigen Einblick in das damalige "Vereinsleben" zu bieten. Am 8. Mai 1869 feiert die Gesellschaft ihr zehnjähriges Stiftungsfest im "Beckerschen Lokale" (ein Gartenlokal in Charlottenburg), zu welchem als Ehrengäste u. a. die Mitglieder der Norddeutschen Zivilprozeßkommission geladen sind. In der Vossischen Zeitung vom 13. Mai 1869 heißt es: "Eine zu Anfang etwas vordringliche Blechmusik wurde glücklicherweise zur Einstellung ihrer Feindseligkeit gebracht und die belebte Unterhaltung der Gäste, welche in namhafter Zahl in Begleitung ihrer Damen erschienen waren, fand keinen ferneren Eintrag mehr durch die ungezügelten Ausbrüche musikalischer S t ö r e n f r i e d e . N i c h t unwillkommen waren den Feiernden dagegen die vom Berliner Domchor vorgetragenen Quartette. Die Tischkarte hatte das Gesellschaftsmitglied Lewin illustriert, nicht ungeschickt, wie der Verfasser als passionierter Sammler illustrierter Trivialliteratur bezeugen kann. Anstelle des verhinderten von Wartensleben begrüßt Dorn die Gäste, von Holtzendorff bedauert in einer kurzen Laudatio bei aller Anerkennung der Erfolge, daß die Gesellschaft in Berlin nicht die Beteiligung gefunden habe, welche sie zu erwarten berechtigt gewesen sei" 4 . Von Seydwitz und von Schwartze gedenken endlich der Damen. Dr. Loewenberg berichtet als Mitglied der Zivilprozeßkommission von den Schwierigkeiten der Rechtsvereinheitlichung auf diesem Gebiet, ehe Oberregierungsrat Aull aus Mainz der Hoffnung nach Herstellung der vollen Rechtseinheit in ganz Deutschland Ausdruck gibt. Nach den Ansprachen zerstreut man sich noch bis zum späten Abend im Garten. "Die Stimmung des Festes war trotz einer gewissen Gemessenheit, welche der Mehrzahl der Anwesenden berufsmäßig beiwohnen mußte, eine unbefangene, gesellige und behagliche und allgemein sprachen sich die leb193

Ziüertnach 11. Jahresbericht der Jur.Gcs. (1869/70), S. 1.

ι*» 11. Jahresbericht der Jur.Ges., S. 2.

52

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

haftesten Wünsche für das Gedeihen einer Vereinigung aus, welche dem gemeinen Besten schon namhafte Dienste geleistet hat und noch größere zu leisten berufen ist"" 5 Einen weiteren Anlaß zur festlichen Gestaltung bot der Zusammentritt des ersten deutschen Reichstages nach Erlangung der deutschen Einheit (21. März 1871). Am 24. März d. J. findet eine Festsitzung der Gesellschaft im Englischen Haus (Mohrenstraße 49) unter Beteiligung von Bundesratsund Reichstagsmitgliedern (90 Gäste) statt. Die dem Vortrag von Prof. Dr. Gneist ("Rechtsstaat und Verwaltungsgerichte") folgenden Trinksprüche bieten zum Teil gute Beispiele für die jetzt kaiser- und bismarcktreue Euphorie des Augenblicks: Von Wartensleben bringt einen Toast auf den Kaiser aus: "... Wo immer jetzt deutsche Männer (sie!) sich versammeln, da ist das erste Glas geweiht den deutschen Fürsten des Reiches, dem Kaiser an ihrer Spitze ..."19é Ihm folgt Justizminister von Lutz aus München:"... Das werdende deutsche Recht ist unser Ideal! ... Unter diese Werkleute (welche dem Recht die Bahn brechen sollen, Anm. d. Verf.)... zählen in erster Reihe die Mitglieder der Gesellschaft, deren Gäste wir sind .,."197 Justizrat Dorn läßt den Reichstag dreimal hochleben, Marquardt-Barth findet Worte zur Rolle Berlins: "... ich weiß auch, was eine Hauptstadt für ein Reich bedeutet, und ich glaube, wir können uns glücklich schätzen, daß wir dieses Berlin haben. Es ist eine Perle in der deutschen Krone ..."!»> Prof. Dr. Gneist gibt einer Hoffnung Ausdruck, die, zunächst durchaus erfüllt, in den Jahren nach 1933 leider enttäuscht werden sollte: "... Ich hege die tiefste Achtung vor den Dingen, von denen heute zu sprechen nicht recht die Mode ist: vor dem unerschütterlichen, treuen Fleiß, mit dem auf dem trockenen Boden unseres Richter-Beamtentums der Mann seine Pflicht tut. ... Das ist ein sehr respektabler Kern und ein sehr respektabler Ausgang für den Rechtsstaat ..."'99 Prof. Dr. Bluntschli fordert für den Juristentag, was 195

11. Jahresbericht der Jur.Ges., S. 3. 12. Jahresbericht der Jur.Ges. (1870/71), S. 13.

197 12. Jahresbericht der Jur.Ges., S. 13. 198 12. Jahresbericht der Jur.Ges., S. 14. 199 12. Jahresbericht der Jur.Ges., S. 14.

Die Jahre 1859 bis 1871

53

erst Jahrzehnte später umgesetzt werden sollte: "... Wir haben jetzt ein öffentliches Recht, ein unzweifelhaftes; wir haben jetzt ein deutsches Recht und Reich und einen deutschen Kaiser, und jetzt noch einem Juristentage zu verbieten, daß auch öffentliches Recht zur Sprache komme, daß paßt nicht mehr in die neue Zeit, ,.."200 Der Rektor der Berliner Universität, Prof. Dr. Bruns, weist auf die Rolle der Universitäten hin:"... Das eine können die Universitäten und wir, die wir an ihnen tätig sind, für uns in Anspruch nehmen: die Idee der Einheit des deutschen Geistes, der Wissenschaft und der Gesetzgebung haben wir auf den Universitäten gepflegt und haben sie erhalten auch unter Verfolgungen und Drangsalen ..."201 Als letzter Redner äußert sich der Abgeordnete Holder zu Bismarck mit den Worten:"... Er hat ein neues deutsches Staatsrecht aufgestellt und den deutschen Fürsten und Regierungen ein Praktikum in demselben gelesen und zwar mit gutem Erfolge. Sie waren früher etwas hart im Verstehen, aber dem braven Bismarck gehört das Verdienst an, daß er ihnen das Verständnis für das deutsche Staatsrecht eröffnet hat ..."202 Die Reichsgründung 1871 bedeutete auch in den Annalen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin einen Einschnitt, denn mit der Erlangung der deutschen Einheit war eines der für die Gründung 1859 mitbestimmenden Ziele erreicht. Die Gesellschaft hat in den Jahren 1859 bis 1871 durch ihr vielfältiges und erfolgreiches Wirken keinen unbedeutenden Beitrag zur Rechtsreform und, damit einhergehend, zur Rechtsvereinheitlichung geleistet, was ihr als bleibendes Verdienst anzurechnen ist. Sie spiegelt in diesen ersten zwölf Jahren ihres Bestehens die Bestrebungen des an politischer Partizipation und rechtsstaatlicher Gestaltung eines geeinten Deutschlands interessierten liberalen Bildungsbürgertums, exponiert in der Rolle der Juristen, welche hierfür zwar nicht die politischen, wohl aber die "technischen" Voraussetzungen mitschaffen. Zwischen Revolution und Reichsgründung wird die Vereinsidee, wie sie die Juristische Gesellschaft exemplarisch verkörpert, zu einem Strukturprinzip 200

12. Jahresbericht der Jur.Ges., S. 15.

201

12. Jahresbericht der Jur.Ges., S. 16.

202 12. Jahresbericht der Jur.Ges., S. 17f.

54

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

der bürgerlichen Gesellschaft. Die Auffacherung der Vereinszwecke nach ursprünglicher Polyfunktionalität ist bedingt durch soziale Schichtungsprozesse. Dem liegt die Entbindung kollektiver Interessen zugrunde, zunächst als Entbindung gesellschaftlicher Interessen vom Staat, dann - verknüpft mit der industriellen Revolution - als Sonderung spezifischer Berufs- und Klass e n i n t e r e s s e n 2 0 3 . Nicht zu Unrecht spricht Tenfelde den Vereinen in dieser Phase die Funktion einer "Fundamentaldemokratisierung"M4 z u . Sie waren ein Ort der bürgerlichen Emanzipation und Demokratisierung. In den Reihen der Juristischen Gesellschaft fanden sich Pragmatiker und kritische Denker (zeit- und berufsstandesbedingt zunächst ausschließlich Männer), welche am Ende der sogenannten Reaktionszeit an Traditionen der 1848er Bewegung anknüpften und sie unter den veränderten Vorzeichen umzusetzen versuchten.

203

Tenfelde, Entfaltung des Vereinswesens (1850 - 1873), in: Dann (Hrsg.), Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland, HZ Beiheft 9 (NF) 1984, S. 98f.; Baron, Das deutsche Vereinswesen und der Staat im 19Jahrhundert, S. 60ff.

20» Tenfelde, a.a.O., S. 111.

Von der Reichsgründung bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges 1914 Das deutsche Geistesleben wurde durch die Reichsgründung wenig beeinflußt, sie hat keine neuen Impulse geben können. Grund hierfür war wohl unter anderem, daß die vom Bildungsbürgertum getragene liberale Nationalbewegung, zu der auch die meisten Mitglieder der Juristischen Gesellschaft in jenen Jahren zu zählen waren, bei den Vorgängen 1870/71 mehr in die Rolle des Zuschauens und nachträglichen Akklamierens gedrängt war1. Andere - neue - Probleme bestimmten die geistigen Auseinandersetzungen und Strömungen im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert: Veränderungen der Umwelt und des Weltbildes durch die Entwicklungen der Naturwissenschaft und Technik sowie immer drängendere soziale Gesichtspunkte, etwa die Arbeiterfrage. Nach der Überwindung des Ständemodells in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bringt die Zeit des Kaiserreichs einige wesentliche Modifikationen der neuen Klassengesellschaft. Zwar bleibt der Adel, noch immer bevorzugt bei der Besetzung politischer und administrativer Führungspositionen sowie im Offizierskorps, bis zum Untergang der Monarchie eine homogene Gruppe, doch muß zur neuen Führungsschicht auch das industrielle Großbürgertum gerechnet werden, welches in der Zeit der Hochindustrialisierung eine große wirtschaftliche Macht erlangte und langsam feudalisiert wurde2. Ein "Bürgertum" als geschlossene Schicht, wie es noch 1848 existiert hat, gibt es am Vorabend des 1. Weltkrieges nicht mehr. Nicht zufällig löst den ersten, aus dem Adel stammenden Vorsitzenden der Gesellschaft, Graf von Wartensleben, der spätere Präsident des Reichsbankdirektoriums, Richard Koch, ab. Für das Bildungsbiirgertum wird der Rang des Reserveoffiziers zu einer Art Ersatznobilitierung. Mit der Gruppe der "Angestellten" bildet sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein neuer Mittelstand, während die großen Besitzunterschiede bei der

Vgl. Bom, in: Gebhardt, Handbuch der Deutschen Geschichte (hrsg. v. Grundmann), Bd. 3, S.250f. 2

Vgl. Bom, a.a.O., S. 243.

56

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

bäuerlichen Bevölkerung, noch verschärft durch die Agrarreformen zu Beginn des Jahrhunderts, bestehen bleiben. Zahlenmäßig stärkste soziale Schicht ist im Kaiserreich die Arbeiterschaft, deren Lage vom sozialökonomischen Problem zur Frage der politischen Verfassung wird. Aber nicht nur die Arbeiterschaft gerät in wirtschaftliche Bedrängnis. Die "Juristenschwemme" ζ. B. ist keine Erfindung des 20. Jahrhunderts. 1894 schreibt Otto von Leixner: "Unter denen, die von der Berliner Armenverwaltung regelmäßig Unterstützung empfangen, befinden sich Rechtsanwälte, Ärzte und Doktoren der Philosophie. Das Elend in dieser Beziehung steigt von Jahr zu Jahr ..."3 Die "Gründeljahre" nach 1871 bedeuten für Berlin ein enormes wirtschaftliches Wachstum. Die Bildung des Nationalstaates und Berlins Rolle als Hauptstadt begünstigen die rasche und durchgreifende ökonomische Entwicklung der Stadt. Berlin profitierte in besonderem Maße von den wirtschaftspolitischen Maßnahmen und Gesetzen zur Ausweitung des inneren Marktes und Förderung des Wachstums der Produktivkräfte. Diese Entwicklung wird von einer raschen Zunahme der Bevölkerung begleitet, die von 547 571 Einwohnern 1861 auf 966 858 im Jahre 1875 um 77 % wuchs*. Berlin wurde in den siebziger Jahren zu einer Millionenstadt, wobei etwa jeder zweite Einwohner zur Arbeiterschicht gehörte. Die Bevölkerungszunahme bedingte die Blüte des Mietskasernenbaus, im Norden, Osten und Süden der Stadt entstanden nach dem Plan des damaligen Oberbürgermeisters Arthur Hobrecht schachbrettartig angelegte Wohngebiete5. Wenn auch die Reichsgründung als solche der Geisteswelt keine unmittelbaren Impulse gegeben hat, so blieben doch ihre politischen und ökonomischen Folgen nicht ohne Bedeutung für die Wissenschaft. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vollzieht sich etwa ein bemerkenswerter Wandel im wissenschaftlichen Ansehen der neuen Reichsmetropole Berlin, das sich von einem bekannten Sitz wissenschaftlicher Einrichtungen, der einer unter vielen war, zu einem Zentrum der Lehre und Forschung entwickelte, das in 3

von Leixner, Soziale Briefe aus Berlin, S. 211.

*

Demps u.a., Geschichte Berlins, S. 416.

5

Demps u.a., a.a.O., S. 425.

Von der Reichsgründung bis 1914

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der damaligen Welt nicht viele seinesgleichen hatte6. Die Berliner "bessere" Gesellschaft, deren juristische Spitze sich im hier zu untersuchenden Verein versammelte, findet ihre prägnanteste poetisch-realistische, aber auch gesellschaftskritische Schilderung im Spätwerk Theodor Fontanes, als Exempel sei hier "Frau Jenny Treiber (1892) genannt. Der Naturalismus setzt sich dann mit den sozialen Kernproblemen der Zeit auseinander (ζ. B. Gerhard Hauptmanns "Die Weber", 1893 in Berlin uraufgeführt).

3.1.

Reichsjustizgesetze und "Lex Miquel-Lasker"

Die zweite Phase der Vereinstätigkeit nach 1871 ist geprägt von den Kodifikationsbemühungen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, nach dem Selbstverständnis der Juristenvereinigung geht es nun um "die Vetretung und Prüfung der die Zeit bewegenden Reformvorschläge, die Orientierung in neuen umfassenden Gesetzen"7. Im Mittelpunkt stehen zunächst die 1879 in Kraft getretenen Reichsjustizgesetze (ZPO, StPO, GVG, KO), "Zeugnis eines geglückten politischen Ausgleichs zwischen einem noch kraftvollen Obrigkeitsstaat und den Ansprüchen einer bürgerlichen Gesellschaft auf wirtschaftliche und politische Selbstbestimmung"». Mit Heinrich (v.) Friedberg (Verfasser des Vorentwurfs zur StPO von 1870 und preußischer Justizminister von 1879 bis 1889) gehörte der Gesellschaft der erste Staatssekretär des sich 1876 als selbständige oberste Reichsbehörde konstituierenden Reichsjustizamts an, welches u. a. die Vorbereitung und Durchführung der Reichsjustizgesetze übernahm?. Wie bereits in der ersten Dekade der Wirksamkeit der Juristischen Gesell-

6

Vgl. Laitko u.a., Wissenschaft in Berlin, S. 175.

ι

Koch, Rückblick, S. 6.

8

Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 467.

9

Vgl. bei Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 841.

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Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

schaft sind es häufig die Reformbemühungen entscheidend mitprägenden Persönlichkeiten, welche als Vereinsmitglieder im Forum der Gesellschaft über die Pläne und Entwürfe referieren und sie damit vor einem Fachpublikum aus Wissenschaft und Praxis zur Diskussion stellen, quasi einer weiteren Katalyse unterziehen. Struckmann - selbst Mitglied der Reichsjustizkommissionio und später gemeinsam mit R. Koch Kommentator der ZPO - berichtet der Gesellschaft über die Verhandlungen der Kommission betreffend die ZPO (11.9.1875) und das GVG (9.3.1876), welches auch wegen seiner verfassungsrechtlichen Komponenten (ζ. B. Unabhängigkeit der Richter, § 1 GVG, Verbot von Ausnahmegerichten, Garantie des gesetzlichen Richters, § 16 GVG) eines der wichtigsten Gesetze nach der Reichsverfassung gewesen ist1 ' und gerade in seinen rechtsstaatlichen Garantien wesentlich von dem heute zu Unrecht neben Otto Bähr und Rudolf Gneist fast in Vergessenheit geratenen Eduard Lasker, einem der aktivsten Förderer der Berliner Juristenassoziation, mitgeprägt worden ist^. Am 15.3.1873 äußert sich der stets kritische, wegen eines 1866 im Berliner Arbeiter-Verein gehaltenen Vortrages ("Über den Communismus der Natur") unter Verlust aller Pensionsansprüche aus dem Justizdienst entlassene13 von Kirchmann zum Entwurf der StPO. Sein Vortrag ruft eine lebhafte Diskussion hervor, deren Thesen - seltener Vorgang in den Annalen der Gesellschaft - an zwei weiteren Abenden (19.4. und 3.5. d. J.) erörtert werden1*. Das Strafverfahrensrecht bildet in den folgenden Jahrzehnten einen Schwerpunkt der Vereinstätigkeit, exemplarisch seien hier die folgenden Vorträge genannt: Rubo, Berichterstatter der Gesellschaft über die Aktivitäten des Juristentages, 1875 über den Fortgang der Redaktionsarbeiten zur StPO, von 10

Vgl. Hahn; Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, Bd. 1 AbL 2, S. 931.

11

Kem, Geschichte, S. 124.

12

Vgl. Laufs, E.Lasker und der Rechtsstaat, in: Der Staat 13 (1974), S. 365 - 382.

13

Vgl. Wiethölter, J.v.Kirchmann, in: Kritische Justiz (Hrsg.), Streitbare Juristen, S. 44-57 (56).

κ

15. Jahresbericht der Jur.Ges. (1873/74), S. 1.

Von der Reichsgründung bis 1914

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Schwarze 1876 über die Ergebnisse der diesbezüglichen Reichstagsdebatten, Olshausen 1884 und 1885, Kronecker 1886 und 1905, Aschrott 1894 sowie Kahl 1906 Uber die Reform des Strafprozesses. Zu den intensiven Bemühungen der Gesellschaft auf strafprozessualem Gebiet zählt u. a. die bereits erwähnte Förderung des internationalen Gefangniskongresses in London im Juli 1872, für die vor allem von Holtzendorff eintritt, der dem Verein über die Vorbereitungen berichtet und hierbei überaus moderne Thesen zum Strafvollzug formuliert15: Das höchste Ziel des Gefängniswesens sei die Besserung, nicht Zufügung vergeltenden Leidens. Das Geschick des Gefangenen solle in einem gewissen Maße in seine eigenen Hände gelegt werden, indem man ihn in Verhältnisse versetze, in welchen er befähigt werde, durch eigene Anstrengungen zur Verbesserung seiner Lage beizutragen. Die Selbstachtung des Gefangenen müsse gefördert werden und nichts unversucht bleiben, diesem das Gefühl seiner Menschenwürde wieder zu vermitteln. Die bürgerliche Gesellschaft müsse mitwirken, um Entlassene wieder einzugliedern. Das von der Gesellschaft daraufhin ins Leben gerufene Nationalkomitee zur Förderung des internationalen Kongresses wird vom Innenministerium (Graf von Eulenburg) mit 200 Talern subventioniert; am 10.11.1872 berichtet von Holtzendorff der Gesellschaft von den Ergebnissen der Londoner Tagung'«. Den Entwurf der Konkursordnung skizziert R. Koch (13.3.1875), dessen gedrucktes, vor der Gesellschaft gehaltenes Referat von 1868 ("Die Reform des preußischen Konkursrechts") zur Begründung des reichsrechtlichen Vorhabens herangezogen wurde17. Auch die im Zusammenhang mit den Reichsjustizgesetzen bedeutsamen Entwürfe einer deutschen Rechtsanwaltsordnung (am 1.7.1878 verkündet und zusammen mit dem GVG am 1.10.1879 in Kraft getreten) werden im 15

13. Jahresbericht der Jur.Ges. (1871/72), IV. Anlage, S. 13.



14. Jahresbericht der Jur.Ges. (1872/73), S. lf.

17

Hahn; Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, Bd. 4 (KO), ζ. Β. S. 67 Fn. 2, S. 69 Fn. l , S . 7 1 F n . 1.

60

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

Kreis der Mitglieder kritisch von Dorn (9.1.1875) und Lesse (12.1.1878), beide weithin bekannte Vertreter der Berliner Anwaltschaft18, beleuchtet. Die Gesellschaft versucht wie stets, die Reformbemühungen durch Beobachtung der internationalen Rechtsentwicklungen zu unterstützen. So referiert der Rechtsanwalt Dr. Zimmermann am 8. April und 9. November 1876 über die englische Gerichtsverfassung und Justizreform, der Stadtgerichtsrat Hagen - damals zum internationalen Gericht nach Kairo delegiert - am 9. September 1876 über die Justizreform in Ägypten. In der 165. Sitzung am 11. Oktober 1879, der ersten nach Inkrafttreten der Prozeßgesetzgebung, erinnert der Vorsitzende Graf von Wartensleben an die hervorragende Stellung der Gesellschaft und ihres Gründers Hiersemenzel bei dem Ringen um die Rechtsvereinheitlichung. Man beschließt, das Grabmal Hiersemenzels restaurieren zu lassen und für die weitere Pflege Sorge zu tragen1', wie man schon zuvor (9.3.1877) den Mitschöpfer des Allgemeinen Landrechts, Svarez, durch die Anbringung eines Reliefs des Bildhauers Sussmann-Hellborn auf dem Grabstein geehrt hatte20. Den Arbeiten zur Vereinheitlichung des materiellen bürgerlichen Rechts mußte die zunächst 1871 verfassungsrechtlich nicht vorgesehene Erweiterung der Reichsgesetzgebungskompetenz auf das gesamte bürgerliche Recht vorangehen. Als dies am 20. Dezember 1873 nach mehrfachem Scheitern endlich durch Gesetz - namentlich auf Initiative der nationalliberalen Abgeordneten Miquel und Lasker - erreicht war, bot sich ein weiterer Anlaß für die Gesellschaft, dieses rechtshistorische Datum in einer Festsitzung zu würdigen. Die Festrede am 14.2.1874 in Arnim's Hotel hält als Berufenster aus dem Kreise der Juristenvereinigung ihr langjähriges aktives Mitglied, der Reichstagsabgeordnete und Rechtsanwalt Dr. Lasker21. Noch einmal ist die Rechtseinheit das große Thema: "Ohne Rechtseinheit keine Reichseinheit". 18

Vgl. bei Weißler, Geschichte, S. 554 (Lesse), S. 563f. (Dom).

19

21. Jahresbericht der Jur.Ges. (1879/80), S. 2,20.

20

18. Jahresbericht der Jur.Ges. (1876/77), S. 2.

21

15. Jahresbericht der Jur.Ges. (1873/74), III. Anlage, S. 13ff.

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Lasker skizziert das gemeine Recht als die wissenschaftliche Befriedigung des Einheitsdranges, im territorialen Recht komme das Staatsprinzip zum Ausdruck; das Einheitsrecht sei das fremde, das Territorialrecht das nationale. Höchster Ausdruck dieses Gegensatzes sei das Allgemeine Preußische Landrecht, auf der Theorie des gemeinen Rechts fuBend, aber erfüllt vom nationalen Geist Später sei die Idee der Rechtseinheit ein Problem der Staatsverfassung geworden, so daß man sagen könne, die Reichs Verfassung von 1871 habe erst in dem die Gesetzgebungskompetenz ausdehnenden Gesetz ihre Vollendung gefunden. Lasker spricht seiner Zeit "den Beruf zur Kodifikation" zu. In das in Angriff zu nehmende Werk solle das gesamte Recht aufgenommen werden, wie es in bürgerlichen Gesetzbüchern zu enthalten sein pflegt (ein Rekurs auf den Code civil und das ABGB). Ein "vollendetes Werk" erwartet der Vortragende nicht, "genug wenn in dieser schnell vorschreitenden Zeit das möglichst Beste geleistet wird"22. Das Ziel sei, den Unterschied zwischen nationalem und Einheitsrecht aufzuheben und damit den Unterschied zwischen Volks- und Juristenrecht, ein Anspruch, dem das BGB letztlich nicht gerecht werden konnte. In dieser ihrer 125. Sitzung beschließt die Gesellschaft sogleich, die Gesetzgebungsarbeiten durch die Ausschreibung eines Preisausschreibens zu unterstützen. Gefordert wird der "Entwurf eines Gesetzes über das deutsche Erbrecht nebst Motiven und einer vergleichenden Zusammenstellung der erbrechtlichen Bestimmungen aus den wesentlichen der in Deutschland gegenwärtig geltenden Gesetzgebungen"^. Als Preis werden 1500 Mark Reichsmünze ausgesetzt. Die Einladung wird an die juristischen Zeitschriften und die Dekane der juristischen Fakultäten des deutschen Reichs verschickt. Die von einer prominent besetzten Kommission (Vierhaus, Struckmann, Bruns, Gneist, Dorn) ausgewählte Schrift mit dem Motto "frisch gewagt" 22

15. Jahresbericht der Jur.Ges., a.a.O., S. 16.

»

15. Jahresbericht der Jur.Ges., S. 2.

62

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

des königlichen Konsistorial-Präsidenten Dr. Mommsen (zuvor Professor der Rechte zu Göttingen) erscheint 1876 im Druck und wird noch heute von einem Großkommentar zum BGB als wesentliches Schrifttum zur Entstehungsgeschichte des fünften Buches aufgeführt24.

3.2.

Biographisches - Heydemann

Am 30. Oktober 1874 veranstaltete die Juristische Gesellschaft eine außerordentliche Sitzung für den am 11. September verstorbenen Rechtsgelehrten Ludwig Eduard Heydemann, der neben Svarez, Bornemann, Koch und Förster zu den Koryphäen des preußischen Rechts gerechnet weiden darf. Dambach würdigte seinen langjährigen Weggefährten in einer Gedächtnisrede25. Heydemann wurde am 18. Mai 1805 in Berlin geboren2«, besuchte hier das Joachimsthalsche Gymnasium, studierte die Rechte in seiner Vaterstadt und in Heidelberg, war drei Jahre Auskultator und, um die Praxis als Grundlage seiner wissenschaftlichen Ambitionen gründlich kennenzulemen, sieben Jahre Kammergerichtsreferendar. 1837 legte er das dritte Staatsexamen mit dem seltenen Prädikat "vorzüglich" ab, promovierte 1840 und habilitierte sich an der Berliner Universität für Preußisches und Märkisches Recht. Heydemann, glänzender Verbinder von Praxis und Wissenschaft und damit der Idee der Juristischen Gesellschaft nahe, erringt bald große Erfolge als akademischer Lehrer (bei seiner Ernennung zum Ordinarius 1845 wird ihm eine Fackelserenade dargebracht). Einen Ruf nach Greifswald lehnt er wegen seiner Verbundenheit zu Berlin ab, wo für ihn auf Savignys (!) Anregung hin der erste Lehrstuhl für das Allgemeine Landrecht eingerichtet wird. Er ist führendes Mitglied des literarischen und des musikalischen Sachver24

Staudinger-Otte, Einl. zu §§ 1922ff. Rdnr.25 (Schrifttum).

25

16. Jahresbericht der Jur.Ges. (1874/75), S. 2; die Rede wurde im Druck an die Vereinsmitglieder versandt.

26

Vgl. zur Biographie: Teichmann, Heydemann, in: ADB Bd. 12, S. 349f.

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ständigenvereins, deren Gutachten er publiziert. Heydemann entwirft u. a. einen "Grundriß des Systems des preußischen Civilrechts" (1851), schreibt "Über den internationalen Schutz des Autorrechts" (FS für Heffter 1873) und ist Verfasser des allgemeinen Teils (nebst Motiven) des revidierten Strafgesetzbuchentwurfs von 1845. Bereits national und international durch zahlreiche Ordensverleihungen geehrt, wird er 1858 zum Geheimen Justizrat ernannt. Sein Referat über die Verjährung der querela inoffici testamenti nach märkischem Provinzialrecht eröffnet nach Hiersemenzels Ausführungen über die Rechtsschulen des 19. Jahrhunderts am 11. Juni 1859 die wissenschaftliche Tätigkeit der Juristischen Gesellschaft, der er in späteren Jahren noch mehrfach z. B. über den internationalen Schutz des geistigen Eigentums in Deutschland, England und Frankreich (1869) und die Stellung der literarischen Sachverständigenvereine zu den Gerichten (1870) vorgetragen hat. Scherzhaft gemeint, aber in seinem Fall prophetisch, ist der von ihm überlieferte Ausspruch "Wir Professoren sterben immer in den Ferien"?7.

3.3.

Die letzten Jahre der Präsidentschaft des Grafen von Wartensleben

3.3.1.

Gründeijahre und Wirtschaftsrecht

Neben der Justizreform beschäftigt sich die Gesellschaft in den Jahren nach 1871 mit neuesten Rechtsentwicklungen, welche mit der voranschreitenden Industrialisierung und Technisierung verknüpft sind. Die mit der staatlichen Einigung verbundene Vereinheitlichung des Wirtschaftsgebiets bedingte wegen der Flut der über das Reichsgebiet verstreuten Einzel- und Sondergesetze die Notwendigkeit der Rechts Vereinheitlichung auf dem Gebiet des Post-, Telegraphen-, Münz-, Maß- und Gewichtswesens sowie des Wirtschaftsrechts28.

27

Teichmann, a.a.O., S. 350.

28

Schlosser, Grundzüge, S. 123.

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Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

Der Geheime Postrat Dr. Fischer referiert 1871 über "Telegraphenrecht" und 1876 über "Télégraphié und Völkerrecht". Der Geheime Justizrat Dr. Borchardt nimmt im August 1875 als Abgeordneter des Berliner Juristenvereins an der im Haag stattfindenden Völkerrechtstagung teil, deren Tagesordnung u. a. einen Schwerpunkt im internationalen Wechselrecht vorsieht». Der Romanist und erste Berliner Ordinarius für Handelsrecht, Levin Goldschmidt, neben dem Göttinger Germanisten Thöl Vater und Hauptvertreter des Handelsrechts30, berichtet der Gesellschaft mehrfach über die Aktiengesellschaft (so am 8.11. und 20.12. 1873), deren intensive Behandlung im Kreis der Vereinsmitglieder ihre große praktische Bedeutung im Wirtschaftsleben der Gründeijahre spiegelt. Mit aktiver Beteiligung der Banken wurden viele Industriebetriebe zur Erweiterung der Kapitalgrundlage in Aktiengesellschaften umgewandelt. Allein in Berlin wurden in den Jahren 1871/72 228 neue Aktiengesellschaften mit einem Grundkapital von 603 Millionen Mark in das Handelsregister eingetragen». Wegen der Vielzahl der Betriebsneugründungen war Berlin am heftigsten von dem durch Überproduktion und Kapitalmangel mitbedingten Börsenkrach (28. Oktober 1873) und der sich anschließenden schweren Wirtschaftskrise betroffen. Primker spricht im September 1877 über die Privilegien der Aktiengesellschaften und folgert, daß die Reform des Aktienrechts weniger auf Strafbestimmungen als auf größere Transparenz für das Publikum gerichtet sein sollte32. Den Bedürfnissen der Wirtschaft nach schnellem Waren- und Zahlungsverkehr versucht man von Seiten der Reichsbank durch Forcierung des bargeldlosen Abrechnungsverkehrs entgegenzukommen. Mitbestimmende Persönlichkeit auf diesem Gebiet ist der spätere zweite Präsident der Juristischen Gesellschaft und des Reichsbankdirektoriums, Richard Koch, der bald

29

17. Jahresbericht der Jur.Ges. (1875/76), S. 2.

30

Schlosser, Grundzüge, S. 114f.

31

Demps u.a., Geschichte Berlins, S.412f.

32

19. Jahresbericht der Jur.Ges. (1877/78), S. 1.

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nach seinem Eintritt in die Reichsbank 1876 der Gesellschaft über den Giroverkehr und den Gebrauch von Schecks als Zahlungsmittel berichtet33 (9.2.1878). Die weiterhin zu konstatierende Zurückhaltung des Juristenvereins bei politischen Fragen belegt die Tatsache, daß Bismarcks "Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie", am 10. Oktober 1878 mit 221 gegen 149 Stimmen im Reichstag beschlossen, trotz seiner eminenten Bedeutung - wie schon zuvor der preußische Verfassungskonflikt - im Forum der Gesellschaft, zu deren Mitgliedern auch aktive Politiker und Reichstagsabgeordnete zählen (ζ. B. Lasker und Gneist), unerörtert bleibt. Gleiches gilt für den ersten Höhepunkt des nach Rudolf von Virchow sogenannten "Kulturkampfes" zwischen Staat und katholischer Kirche, die preußischen Maigesetze von 1873. In den Vereinsjahren 1879/80, 1880/81 und 1881/82, einer durch die Einführung der Reichsjustizgesetze bedingten Zeit "juristischer Hochspannung"3*, kommt es durch eine schwere Erkrankung des Vorsitzenden von Wartensleben35 zu einer gewissen Stagnation des Vereinslebens (von den statutarisch vorgesehenen Sitzungen findet in diesen Jahren nur die Hälfte statt: Tagungsorte sind der Poppenbergsche und der Flora - Saal36), was gleichzeitig als Beleg für die große persönliche Bedeutung des Grafen für die vorangegangene Virulenz der Gesellschaftstätigkeit gewertet werden darf. Von Waitensleben stirbt am 12. Januar 1882 und wird in einer Gedächtnisfeier am 10. Juni 1882 geehrt. Redner ist der Amtsgerichtsrat Prof. Dr. Rubo, der während der genannten kritischen Jahre durch die Übernahme zahlreicher Referate ein weitergehendes Stillstehen des Vereinslebens verhindert hatte.

33

19. Jahresbericht der Jur.Ges.,S. 2.

34

Vgl. Neumann, Geschichte, S. 22.

35

Vgl. Neumann, a.a.O., S. 22. 21. Jahresbericht der Jur.Ges. (1879/80), S. 2.

66

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

3.3.2.

Biographisches - von Wartensleben und Lasker

Julius Cäsar Leopold Carl Wilhelm Emil Bernhard Graf von Wartensleben wurde am 11. Juni 1809 in Klein-Wirsewitz bei Guhrau als Ältester von 19 Geschwistern geborenst. Sein Vater war der Obristleutnant Cäsar Scipio Alexander Graf von Wartensleben, seine Mutter dessen erste Frau Fredericke Freiin von Ge'fug. Das Geschlecht von Wartensleben ist das älteste preußische Grafengeschlecht (1703 Erhebung in den Grafenstand, 1706 Verleihung der Reichsgrafenwürde). Beide Verleihungen erfolgten an den Ururgroßvater, Generalfeldmarschall Alexander Hermann von Wartensleben, zugleich Großvater jenes unglücklichen 1730 hingerichteten Jugendfreundes Friedrich des Großen, Heinrich von Katte. Wie seine Vorfahren war Julius von Wartensleben eigentlich für den Militärdienst bestimmt, soll sich aber nach eigenen Erzählungen durch die Lektüre eines Briefes Plinius' des Jüngeren für die Wissenschaft begeistert haben. Er besuchte das Gymnasium in Breslau und studierte in Berlin und Jena, wo er sich 1834 promovierte, die Rechte. Noch im selben Jahr besteht er das Auskultatorenexamen am Landgericht Bromberg. Ein prägnantes Bild auf die Verhältnisse des Adels wirft ein Schreiben des Vaters vom 13. Mai 1835 an den Präsidenten des Oberappellationsgerichtes Posen anläßlich der Zusage finanzieller Unterstützung seines Sohnes Julius: "... dass diese Wohltat doppelten Werth für die Zukunft meines Sohnes hat, indem ich als unbemittelter Vater von 12 Kindern, der sein ansehnliches Vermögen durch die Folgen des Krieges verloren, während mein Beruf mich kämpfend dem Feinde entgegenfuhrte, ... den in Rede stehenden Sohn ausnahmsweise 5 Jahre habe auf Universitäten halten müssen, nun so erschöpft von allen Mitteln bin, dass das Wenige, was ich ihm monatlich geben kann, trotz seiner großen Solidität kaum zu seiner nöthigsten Subsistenz hinreicht - ihm aber leider keine Mittel übrig lässt, um die vielen juristischen Werke, deren er noch zur weiteren Ausbildung in diesem Fache, welches er mit wahrer Leidenschaft betreibt, so nöthig bedarf und wozu es mir leider an allen 37

Vgl. zu den biographischen Daten: Rubo, in: 24.Jahresbericht der Jur.Ges. (1882/83), S.28ff.

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Mitteln fehlt, sich anzuschaffen. Da er ganz mit Leib und Seele Jurist ist, so hat er in der neueren Zeit sich im Stillen manches abgedarbt, um sich nur die zunächst unerlässlichsten Bücher und Werke zu beschaffen ..Λ 38 Es folgen Stationen beim Oberlandesgericht Königsberg und beim Kammergericht Berlin. Bis 1879 bleibt von Wartensleben in verschiedenen Funktionen in der Berliner Justiz tätig. Anfang der sechziger Jahre wird ihm der Posten des preußischen Justizministers angeboten, er kann sich jedoch nicht zur Übernahme des Amtes entschließen. Seit dieser Zeit ist vor allem sein Wirken im Bereich der Grundbuchgerichtsbarkeit hervorzuheben. Gemeinsam mit Hiersemenzel ist von Wartensleben die treibende Kraft bei der Gründung der Juristischen Gesellschaft als geistiger Mittelpunkt der Berliner Juristenwelt. Dem Grafen sind die guten Beziehungen des Vereins zu den Spitzen der preußischen Justiz und zum Königshaus zu verdanken, die für den Erfolg der Bemühungen der Gesellschaft um Rechtsreform und Rechtseinheit mitausschlaggebend waren. Nach HieTsemenzels Ausscheiden und Tod ist er der unermüdliche spiritus rector der neben dem Juristentag bedeutendsten deutschen Juristenvereinigung des 19. Jahrhunderts. Die Gesellschaft wählt am 29. April 1882 zu seinem Nachfolger im Amt des Präsidenten den Geheimen Oberfinanzrat Richard Koch, der sich als häufiger Referent im Kreis der Mitglieder hervorgetan hatte. Den ersten Vorsitzenden ehrt man durch die Finanzierung und Errichtung der Umgitterung seiner Grabstätte auf dem alten Jerusalemer Friedhof vor dem Halleschen Tor sowie die Anbringung einer Votivtafel3'. Der Tod des Grafen führte zu einer selbstkritischen Analyse der Vereinstätigkeit, in der Demburg eine Ausdehnung des Meinungsaustausches zwischen den Mitgliedern in Form von offenen Diskussionen bei Zurücktreten der Einzelvorträge propagierte und Goldschmidt die Ausarbeitung eines 38

24. Jahresbericht der Jur.Ges.,S. 26.

3

24. Jahresbericht der Jur.Ges., S. 29, 34; 25. Jahresbericht der Jur.Ges. (1883/84), S. 18.

»

68

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

festen Themenplanes und die Bestimmung der jeweiligen Referenten durch den Vorsitzenden forderte40. Zu einer Statutenänderung kann man sich allerdings nicht entschließen. Rubo meint, man habe das beste denkbare Statut, daß die Diskussionen nicht lebhafter seien, habe lediglich in der mangelnden Beteiligung der Mitglieder seinen Grund. Oft sei es schwierig, ja unmöglich gewesen, einen Redner zu einem Vortrage zu erlangen, man habe sich bei der Ablehnung meist auf die große eigene Tätigkeit berufen". Prägnantes Gegenbeispiel als trotz mannigfacher Aufgaben als Parlamentarier und Publizist überaus aktives Vereinsmitglied ist der am 5. Januar 1884 verstorbene Berliner Landtags- und Reichstagsabgeordnete Eduard Lasker, für den die Gesellschaft entgegen dem usus keine besondere Gedächtnisfeier veranstaltet hat. Lediglich "ehrende Worte der Anerkennung"« fand man für einen der profiliertesten Verfechter des Rechtsstaates in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der den meisten das Justizwesen betreffenden Gesetzen der Zeit seinen Stempel aufgeprägt hat. Unter ganz anderen Umständen hob ihn Carl Schmitt 1936 im "Kampf gegen den jüdischen Geist" neben F. J. Stahl, Friedberg, J. Jacoby und Kelsen wegen seines "jüdischen Einflusses" auf die deutsche Rechtsentwicklung hervor«. Lasker wurde am 14.10.1829 in einer Kleinstadt im damaligen preußischen Regierungsbezirk Posen als Sohn eines strenggläubigen jüdischen Kaufmanns geboren«. Nach Besuch des Breslauer Elisabeth-Gymnasiums studierte er hier zunächst auf väterlichen Einspruch hin - seine eigentliche Neigung galt der Medizin - Mathematik und Astronomie. 1848 finden wir ihn, obwohl politisch mit gemäßigten Kreisen liiert, als Mitstreiter der akademischen Legion unter Blum bei den Kämpfen Wiens gegen Windischgrätz. Nach der gewaltsamen Niederwerfung dieses Aufstandes reift Laskers Plan,

40

24. Jahresbericht der Jur.Ges., S. 21.

41

24. Jahresbericht der Jur.Ges., S. 21.

«

25. Jahresbericht der Jur.Ges. (1883/84), S. 44.

43

Vgl. bei Rüthers, Entartetes Recht, S. 138 Fn. 137.

44

Vgl. zu den biographischen Daten: Laufs, E .Lasker und der Rechtsstaat, in: Der Staat 17 (1974), S. 365ff.; ders., E-Lasker. Ein Leben für den Rechtsstaat; Wippermann, Lasker, in: ADB 19 (1884), S. 746 - 753.

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sich an der Lösung der Zeitfragen mit anderen Mitteln zu beteiligen. Er studiert nun bis 1850 in Breslau und Berlin Jura und wird 1851 Auskultator beim Berliner Stadt- und Kammergericht. Es folgen drei Jahre in England, um das dortige Verwaltungssystem kennenzulemen, was sich u. a. in den späteren rechtsvergleichenden Vorträgen vor der Juristischen Gesellschaft niederschlägt England ist um die Jahrhundertmitte immer noch rechtsstaatliches Vorbild des liberalen Bürgertums, wie auch die Forschungen Gneists belegen. Nach seiner Rückkehr wird Lasker 1858 Assessor beim Berliner Stadtgericht. Eine endgültige Justizkarriere bleibt ihm aber als Jude verschlossen. So beginnt er bald mit einer publizistischen Tätigkeit und erregt erstmals 1861 durch staatsrechtliche Abhandlungen in Oppenheims "Deutschen Jahrbüchern für Politik und Literatur" Aufsehen. Auch als politischer Redner hervorgetreten, wird er 1865 für den vierten Berliner Wahlbezirk ins Abgeordnetenhaus gewählt, und zwar gegen den schon länger politisch aktiven Gründer der Juristischen Gesellschaft, Hiersemenzel, welcher in dieser Niederlage gegen den Vereinskollegen vielleicht bereits eine der Bitterkeiten erfahren hatte, die ihn sich später von den Aktivitäten der Gesellschaft zurückziehen ließen. Als Mitglied der Fortschrittspartei greift Lasker in die letzten Entscheidungen des preußischen Verfassungskonflikts mit ein und begründet hierbei trotz seines Votums für das Indemnitätsgesetz einen starken Gegensatz zu Bismarck, der seine spätere parlamentarische Aktivität mitprägte. Am 17.11.1866 gründet er mit 18 Fraktionsmitgliedern der Fortschrittspartei die "neue Fraktion der nationalen Partei" (Nationalliberale). In der Bewegung für die Wahlen zum ersten Reichstag des Norddeutschen Bundes tritt Lasker entschieden für Mitwirkung des Parlaments an der Gesetzgebung und Steuerbewilligung sowie für die Grundrechte von 1848 ein. Er sieht den Grundbegriff der verfassungsmäßigen Regierung im Sinne der herrschenden dualistischen Gestalt der Staatsgewalt in der Verschmelzung königlicher und parlamentarischer Macht und ist - wie sein Parteifreund Twesten - Verfechter der Absicherung der Redefreiheit und Immunität der Abgeordneten. An den durch Einklang zwischen der nationalen Bewegung und Bismarck

70

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

1867 - 1870 zustandegekommenen Gesetzen der wirtschaftlichen Liberalität hat Lasker großen Anteil, und sein Bemühen um die Ausdehnung der Bundes·, später Reichskompetenz auf das gesamte bürgerliche Recht wird "vom Kanzler sympathisch aufgenommen"«, wenn sich dieser auch stets an Laskers Vorgehensweise stieß. Zwar wird er 1870 Rechtsanwalt und 1873 als Nachfolger Twestens Syndikus der Berliner Pfandbriefanstalt, doch ist seine Tätigkeit - zugunsten derer er auf Familie und wirtschaftliche Karriere verzichtet - ganz von der Mitwirkung an den gesetzgeberischen Arbeiten in den Ausschüssen und Kommissionen bestimmt. Als rascher Durchdringer und Erfasser der unterschiedlichen Materien von Straf-, Zivil- und Verfassungsgesetzgebung ist er dabei im Land- und Reichstagsplenum zumeist Wortführer seiner Partei. In derart exponierter öffentlicher Stellung bleiben ihm vor allem Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre Angriffe von Seiten der antisemitischen Presse nicht erspart46, deren Nachwirkung noch in der bereits erwähnten Kampagne C. Schmitts zu spüren ist. Die folgenreichste parlamentarische Tat Laskers war im Frühjahr 1873 die Aufdeckung des mit Privatbahnkonzessionen getriebenen Handels. Seine Haltung zu den kirchlichen Maigesetzen und dem Sozialistengesetz war ambivalent, doch stimmte er 1880 gegen die Verlängerung des letzteren und verhinderte zuvor bereits Versuche der Regierung, parlamentarische Rechte im Zeichen der Sozialistenverfolgung zu verkürzen4?. Über seinen letzten Lebensjahren liegt ein Schatten, der sich wohl auch aus seinem problematischen Verhältnis zu Bismarck erklärt. Durch Überarbeitung seit 1875 nervenkrank, stirbt er auf einer Erholungsreise durch Nordamerika am 5. Januar 1884 in New York. Ein Beileidsbeschluß des amerikanischen Repräsentantenhauses vom 9. Januar, dem Kanzler zur Abgabe an den Reichstag diplomatisch zugestellt, wird von Bismarck unter Hinweis auf einen von ihm nicht für zutreffend erachteten Satz über Laskers Bedeu-

45

Wippennann, a.a.O., S. 748.

«

Laufs, in: Der Staat 17 (1974), S.366f.

«

Laufs, a.a.O., S. 377.

Von der Reichsgründung bis 1914

71

tung für die Besserung der wirtschaftlichen Verhältnisse des deutschen Volkes zurückgesandt4*. Letztlich befürchtete der Kanzler wohl durch die Beileidsbekundung eine Bestärkung der innerdeutschen Opposition, so daß dieser Akt posthum die Grenzen eines liberalen, kompromißbereiten Politikers wie Lasker im konstitutionellen System der Kaiserzeit beleuchtet4'. Ob die Juristische Gesellschaft aus Regierungsloyalität auf eine Gedächtnisfeier für Lasker verzichtet hat, läßt sich nur vermuten. Die Tatsache, ein bedeutendes und aktives Mitglied entgegen dem usus nicht entsprechend gewürdigt zu haben, ist kein Ruhmesblatt in den Annalen des Vereins. Bedeutender als seine Schriften (ζ. B. "Zur Geschichte der parlamentarischen Entwicklung Preußens" 1873 und "Die Zukunft des deutschen Reichs" 1877) war Laskers politisches Ringen um die Sicherung rechtsstaatlicher Garantien durch von ihm mitgeprägte Gesetze (insbesondere die Reichsjustizgesetze) und sein unbedingtes Eintreten für parlamentarische Rechte als wichtige Kontrolle staatlicher Machtausübung.

3.4.

Die Gesellschaft unter der Präsidentschaft Richard Kochs

3.4.1.

"Elite" der Berliner Juristenwelt

Richard Koch, Mitgestalter des modernen Scheckrechts, hat der Gesellschaft länger als ein Vierteljahrhundert bis 1908 als Präsident vorgestanden. Unter seiner Ägide stieg die Mitgliederzahl auf über 30050. Allerdings spielte die Berliner Juristenassoziation nun nicht mehr die Rolle der Initiatorin und Wegbereiterin neuer Vorhaben wie unmittelbar nach ihrer Gründung, zu groß war inzwischen insoweit die Bedeutung des Deutschen Juristentages. Dennoch darf die Wirkung des Fachgespräches, der Diskussion neuester Rechtsentwicklungen zwischen Vertretern der Praxis und der Wissenschaft auf das Rechtsleben nicht unterschätzt werden. In der Juristischen Gesellschaft versammelte sich durchaus die "Elite" der 48

Wippermann, a.a.O., S. 752.

*9

Laufs, a.a.O., S. 382.

50

Vgl. Anhang 6 dieser Arbeit.

72

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

hauptstädtischen Juristenwelt aus unterschiedlichen Wirkungskreisen: Universität, Verwaltung, Gerichtsbarkeit, Anwaltschaft, Bankwesen, Politik und Publizistik. Die Mitgliederverzeichnisse, Vortragslisten und Diskussionsprotokolle belegen dies mit einer Reihe glänzender Namen, aus der für die hier zu schildernde Periode beispielhaft herausgegriffen seien: von Friedberg, erster Staatssekretär im Reichsjustizamt und später preußischer Justizminister, Stölzel, Präsident der Justizprüfungskommission und Svarezbiograph, Vierhaus, vortragender Rat im Justizministerium, die Rechtsanwälte Alexander-Katz, Lesse, Levy (der Ges. "durch Mörderhand entrissen"5i), Lewin und Wilke sowie als Vertreter der Berliner Juristenfakultät von Gierke, Demburg, Eck, Kohler, von Liszt sowie Levin und James Goldschmidt Diese Liste ließe sich durch Kammergerichtspräsidenten, Bankdirektoren und weitere bekannte Namen ergänzen. Der juristische Nachwuchs hält sich dagegen zurück, erfahrene Anwälte und Richter bilden - bis zum vorläufigen Ende der Vereinstätigkeit 1933 - das Gros der Mitglieder, die Fakultät ist meist nahezu vollzählig mit ihren Spitzen vertreten. Die Vordenker der Kodifikationen, die sie einfordernden Rechtspolitiker, die Kritiker der alten und Anwender der neuen Gesetze, sie alle finden in der Gesellschaft ein Fachforum, um neue Ideen zu formulieren, kritisch hinterfragen zu lassen und Entwicklungen und Reformen des Rechtswesens zu kommentieren. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß von den acht Staatssekretären des Reichsjustizamts53 in der Zeit von der Konstituierung dieser obersten Justizbehörde im Jahre 1877 bis zum Ende des Kaiserreichs 1918 fünf zu den Mitgliedern der Juristischen Gesellschaft gehörten: Neben dem bereits erwähnten Heinrich von Friedberg noch Otto von Öhlschläger, Robert Bosse, Hermann Lisco und Paul von Krause. Die Sitzungsorte dieser Phase (1882 - 1908) sind bekannte Lokalitäten im

51

38. Jahresbericht der Jur.Ges. (1896/97), S. 2.

52

1882 ζ. B. sind von 107 Mitgliedern: 24 Richter, 17 Verwaltungsjuristen, 44 Rechtsanwälte und Notare, 8 Professoren, 10 Referendare, 4 sonstige; 1928 sind von 555 Mitgliedern: 103 Richter, 41 Verwaltungsjuristen, 301 Rechtsanwälte, 20 Professoren, 6 Referendare, 84 sonstige (hierzu zählen auch diejenigen, welche lediglich mit dem Titel "Justizrat" genannt sind).

53

Vgl. bei Kuhn, Deutsche Justizminister 1877 -1977, S.38 - 53.

Von der Reichsgründung bis 1914

73

kaiserlich-wilhelminischen Berlin, deren Auswahl auf die Zugehörigkeit der Vereinsmitglieder zur "besseren Gesellschaft", zur intellektuellen, aber auch kommerziellen Führungsschicht der Berliner Bürgerwelt schließen läßt: "Restaurant Julitz", "Grand Restaurant Imperial" (Unter den Linden 16), "Restaurant Strub", "Restaurant Uhi" (Unter den Linden 33), die Junisitzung mit anschließendem Abendessen in Damenbegleitung stets im "FloraEtablissement" (ein Gartenlokal in Charlottenburg), "Hotel Zu den Vier Jahreszeiten" und ab 1893 regelmäßig im weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannten Nobelhotel "Grand Hôtel de Rome" (Unter den Linden 39).

3.4.2.

Scheckrecht und Studentenmensur

Noch bevor nach der Vorlage des ersten Entwurfes 1887 die Kodifikationsarbeiten am BGB "naturgemäß" in den Mittelpunkt der Vereinsaktivitäten treten, bemüht sich die Gesellschaft um Aufarbeitung verschiedener Rechtsmaterien, von denen hier zwei unterschiedlichster Gewichtung beispielhaft aus dem Vereinsjahr 1882/83 näher beleuchtet werden sollen. Wenn es ab 1879 einerseits auf dem Gebiet des Straf- und Verfahrensrechts vor allem um bald nach dem Inkraftreten der Reichsgesetze notwendig gewordene Reformen von Einzelfragen ging, bedingten andererseits wirtschaftliche, soziale und technologische Entwicklungen der Kaiserzeit den Ruf nach gesetzlicher Regelung neuer Sachverhalte. Im Rahmen der Arbeit der Gesellschaft kommt den Bemühungen des Vorsitzenden R. Koch um den Bank- und Giroverkehr, das Wechsel- und Scheckrecht besondere Bedeutung zu. 1878 bis 1890 äußerte sich der Vizeund spätere Präsident des Reichsbankdirektoriums (1890 - 1907) sechsmal zu diesem Themenbereich im Vereinsforum. Am 7. Oktober 18825'· fordert er ein deutsches Scheckgesetz. Wie der Scheck aus einem neuen und eigentümlichen Verkehrsbedürfnis hervorgegangen sei, so sei er ein den vorhandenen Rechtsnormen nicht ohne Zwang unterzuordnendes eigentümliches Rechtsgebilde. Wegen der steigenden praktischen Bedeutung (Zahl der Girokunden der Reichsbank 1877: 3245, 54

24 Jahresbericht der Jur.Ges. (1882/83), S. 31f.

74

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

1882: 5622) würde sich die noch geringe Zahl der Scheckprozesse alsbald kritisch vermehren. Ohne einheitliche Regelung durch ein Scheckgesetz bleibe allein der Rekurs auf das partikular verschiedene, dem Wesen des Schecks widerstrebende Recht der Anweisung. Der Scheck sei, wenn auch nicht geächtet wie in Guatemala (!), so doch beinahe rechtlos. Das Scheckwesen verdiene wenigstens den Versuch der Förderung durch gesetzliche Regelung. Der Gebrauch des Schecks habe gewisse Vorzüge vor der Zahlung mittels Banknoten. Er werde durch bloße Übertragungen auf Girokonten nicht entbehrlich, sondern ergänze sich mit diesen. Beide in Verbindung ersparten dem Einzelnen Arbeit, bewahrten ihn vor Gefahren und Kosten und nützten auch dem Gemeinwesen, indem sie den Bedarf an Zirkulationsmitteln senkten und bedeutende Geldsummen in der Hand der Banken dem Verkehr dienstbar machten. Wegen der erheblichen wirtschaftlichen Bedeutung des Schecks liege ein Bedürfnis einheitlicher, Rechtssicherheit schaffender Gesetzesregelung vor. In der Diskus sionss sieht Rechtsanwalt Lipke im Eingreifen des Gesetzgebers - ganz im Sinne liberalistischen Verständnisses - eher eine Gefahr für die Ausbreitung des Scheckverkehrs, da sich das "Privatpublikum" dann noch mehr scheuen würde, Schecks zu akzeptieren. Jedenfalls gegenwärtig sei die Bedeutung des Scheckverkehrs in Deutschland zu gering, um ein Gesetz notwendig zu machen. Justizrat Wilmowski dagegen bejaht die Bedürfnisfrage und belegt dies mit Beispielen aus seiner Praxis für die bisherige Unklarheit und Unvollständigkeit der vorhandenen Regelungen. Der Geheime Justizrat Ullmann will erst eine Erklärung der großen Geldinstitute und der Handelskammern einfordern und die Frage der Gestattung akzeptabler Schecks (vgl. heute § 4 ScheckG) geklärt wissen. Koch weist auf die entsprechende Praxis in England und Amerika hin. Der Scheck sei gerade kein Zirkulationsmittel, sondern dem Bedürfnis des einzelnen Zahlungsgeschäftes angepaßt und zur schnellen Einlösung bestimmt. Ein Scheckgesetz kam noch zu Kochs Lebzeiten am Ende seiner Amtszeit als Präsident des Reichsbankdirektoriums und auf der Grundlage seiner Vorarbeiten zustande (11.3.1908, ersetzt durch das Gesetz vom 14.8.1933). 55

24. Jahresbericht, S.32f.

Von der Reichsgründung bis 1914

75

Die Bandbreite der Erörterungen der Juristischen Gesellschaft wird an einem Referat deutlich, welches der Amtsrichter Kronecker am 2. Dezember 1882 hielt, wobei die Ernsthaftigkeit und Ausführlichkeit der Ausführungen und der anschließenden Diskussion aus heutiger Sicht eher skurril anmuten mögen: "Über die strafrechtliche Behandlung der Studentenmensur mit besonderer Berücksichtigung der reichsgerichtlichen Judicatur"56. Kronecker untersucht zunächst, ob die Studentenmensur unter die strafgesetzlichen Vorschriften über den Zweikampf mit tödlichen Waffen falle und folgert: Schlägermensuren seien Zweikämpfe mit nicht tödlichen, weil nicht zur Tötung bestimmten Waffen, auf die die §§ 201ff. StGB (a. F.) nicht anwendbar seien. Die Vorschriften des StGB über Körperverletzungen (§§ 223ff.) griffen entgegen der reichsgerichtlichen Rechtsprechung nicht, denn "volenti non fit injuria", der Paukant setze sich mit seinem Willen der Gefahr aus, die betreffenden Verletzungen ("Schmisse") zu erhalten. § 223a StGB sei von seiner Entstehungsgeschichte (Novelle von 1876) nicht auf Studentenmensuren gerichtet. Den Motiven seien auf Behördenberichten basierende Klagen zu entnehmen, daß die Strafbestimmungen des § 223 für manche Fälle brutaler und lebensgefährlicher Angriffe der erforderlichen Energie entbehrten (aus einem Bericht: "In den gewerbereichen Gegenden steigert sich die Unsicherheit sehr bedenklich: die Arbeiterbevölkerung ist stets mit Doppelpistolen, Revolvern, Todtschlägem, Dolchmessern bewaffnet und fast jeder Tag bringt neue Verhandlungen über gefährliche Körperverletzungen""). Drastischer sei der "criminalische Unterschied" zur Studentenmensur nicht zu fassen. Auch nach preußischem Landesrecht (anders das Reglement von 1810) seien Mensuren nicht strafbedroht. Kronecker hält letzüich jede Bestrafung gewöhnlicher Mensuren für ungerechtfertigt; nur bei Schlägermensuren ohne Augen- und Halsschutz soll wegen der relativen Gefährlichkeit eine Festungshaft bis zu drei Monaten

56

24. Jahresbericht, S. 39 - 45.

57

24. Jahresbericht, S. 41f.

76

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

angemessen sein, nicht dagegen die von Haelscher generell vorgeschlagene Strafe von ein bis zwei Wochen im "akademischen Career", welche für die Studenten eher etwas Verlockendes habe und als Plan, diese zur wissenschaftlichen Tätigkeit zurückzuführen, als Versuch mit absolut untauglichen Mitteln zu qualifizieren sei. In der Diskussion "prallen" die Gegensätze aufeinander, insbesondere die Anwendung des Satzes "volenti non fit injuria" auf die Körperverletzungen wird in Zweifel gezogen. Rechtsanwalt Seligsohn meint58, der Paukant begebe sich zwar absichtlich in Gefahr, habe aber nicht die Absicht, Verletzungen zu erleiden. Andernfalls könne man auch einen Dieb freisprechen und dem Bestohlenen vorwerfen, er habe wissentlich in einer Diebesgegend Wohnung genommen und dadurch sein Einverständnis mit dem Diebstahl bekundet. Es waren also keineswegs immer nur die gewichtigen Rechtsprobleme der Zeit, welche im Forum der Gesellschaft Beachtung fanden. Wichtige Neuerungen wie die Einführung einer Justizstatistik (Jahrgang I 1883, hrsg. vom Reichsjustizamt, von Vierhaus am 13.10.1883 ausführlich besprochen») wurden ebenso aufgegriffen wie Vorgänge eher kulturgeschichtlichen Charakters ("Über die Einweihung des Palais de justice zu Brüssel", Lesse am 10.11.1883: "... mehr als ein Gerichtsgebäude ... ein Tempel der Gerechtigkeit"«0). Man erinnert an Hugo Grotius (Dambach am 14.4.1883«!). Justinian (Gneist am 19.5.1883«) und vergißt auch nicht den 400. Geburstag Luthers, en passant den preußischen Staatsprotestantismus charakterisierend: Auch der deutsche Juristenstand habe Anteil an der nationalen Feier des Reformators; abgesehen von dessen Einfluß auf das deutsche Ehe- und Strafrecht sei sein Geist im gesamten modernen Staatsleben,

58

24. Jahresbericht, S. 45.

59

25. Jahresbericht der Jur.Ges. (1883/84), S. 29 - 34.

«o

25. Jahresbericht, S. 36.

61

25. Jahresbeicht, S. 18 - 20.

«2

25. Jahresbericht, S. 21 - 23.

Von der Reichsgründung bis 1914

77

insbesondere in den Kodifikationen der Neuzeit, lebendig63.

3.4.3.

Die soziale Frage

Die im Kaiserreich immer drängender werdende soziale Frage wird gelegentlich angeschnitten, in manchen Referaten direkt angesprochen. So folgert Starke bei seinen Überlegungen zur Entwicklung der Kriminalität in Preußen: "Nicht also ein angeblicher Zustand der Immoralität, sondern wirtschaftliche Noth- und Missstände sind die Ursachen für die Vermehrung der Verbrechen. Dazu tritt die stetig fortschreitende Zunahme der Bevölkerung und deren immer stärkere Verdichtung auf demselben Flächenraum ... um wieviel stärker in den dichtbevölkerten Gegenden, namentlich in den Städten, sich die Versuchung und der Kampf um das Dasein geltend machen."« Anders als 1869 wird jetzt auch die Gewerbeordnung von 1883 vorgestellt und diskutiert Dem vortragenden Kayser kommt es darauf an, "ein so grosses Gesetz, welches bestimmt ist, die Erwerbsverhältnisse eines so grossen Teils unseres Volkes zu regeln, auch in unserem Kreise nicht mit blossem Stillschweigen übergangen zu sehen"65. Eingehend behandelt er Titel VII (Gewerbliche Arbeiter), der nach verschiedenen Richtungen im öffentlichen Interesse der Privatwillkür Grenzen setzte, wie etwa durch das generelle Verbot des sogenannten Trunksystems und die Verpflichtung der Arbeitgeber zur Barzahlung der Löhne in Reichswährung66. 1886 endlich greift man einen Teil der Bismarckschen Sozialgesetzgebung, die Arbeiterkrankenversicherung (Gesetz vom 15. Juni 1883), auf. Köhne führt am 16. Oktober eindringlich die Notwendigkeit sozialgesetzlicher Maßnahmen aufgrund der Verschlechterung der sozialen Lage der Gewerbetreibenden in der Phase der industriellen Revolutionierung der Produktionsmittel, der "liberalen Wirtschaftsperiode", dem "freien Spiel der wirt63

Koch, in: 25. Jahresbericht, S. 36.

«

25. Jahresbericht, S. 43.

«

25. Jahresbericht, S. 51.

66

25. Jahresbericht, S. 48f.

78

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

schaftlichen Kräfte" voi«7. Diesen Fragen muß sich nun auch eine berufsspezifische Fachvereinigung stellen. Köhne referiert dann 1889 noch über das Arbeiterversicherungsrecht und schildert in "Staat und Armenpflege" 1895 drastisch die sozialen Mißstände (nicht ihre Gründe). Hier fordert er anstelle rigoroser Strafmaßnahmen gegen Bettler und Landstreicher eine effektive, damals noch nicht gewährleistete Armenunterstützung. Er zitiert den Bericht der fünften Reichstagskommissionsberatung zum Unterstützungsgesetz mit modern anmutenden sozialstaatlichen Gedanken: "Die öffentliche Pflicht zur Unterstützung eines Hilfsbedürftigen steht in nothwendigem inneren Zusammenhang mit der wirthschaftlichen Seite des Staatswesens. Principiell hat die Pflicht zur Unterstützumg eines Hilfsbedürftigen diejenige Gemeinschaft, welcher die wirthschaftlichen Leistungen des Betroffenen, solange er noch nicht hilfsbedürftig war, zu Gute kommen."68 Köhne hält die Armenpflege für eine von den Gemeinden zu bewirkende Staatssache, die keineswegs der zufälligen Mildtätigkeit privater Fürsorgeorganisationen überlassen bleiben dürfe. Die Daten der letzten Referate stimmen sicher nicht zufallig mit der zunächst von Wilhelm II. öffentlich angekündigten sozialreformatorischen Initiative und dem letztlich gescheiterten Bemühen des Freiherm von Berlepsch um Verwirklichung des "Neuen Kurses" in der Arbeiterpolitik (1890 - 1896)69 überein. Der Aufbruch zu neuen Ufern in der sozialen Gesetzgebung, der erhoffte Paradigma-Wechsel in der Sozialstaatspolitik, fand trotz einzelner Erfolge (Reformen des Arbeiterschutzes, Versuch der Modernisierung des Arbeitsvertragsrechts) nicht statt. Das Konstruktionsprinzip des vorrangig kompensatorischen, an den Interessen der Industrieunternehmer ausgerichteten Interventionsmusters wurde nur punktuell zugunsten von Arbeiterinteressen korrigiert Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, daß den "Stoßtrupp der Sozialreform" gegenüber wirtschaftlichen Interessengruppen, Reichsregierung und Staatsregierungen der

67

28. Jahresbericht der Jur.Ges. (1886/87), S. 38 - 53 (S. 38f.).

68

36. Jahresbericht der Jur.Ges. (1894/95). S. 8 Iff. (88f.).

69

Vgl. ausführlich bei von Berlepsch, "Neuer Kurs" im Kaiserreich? Die Arbeiterpolitik des Freiherm von Berlepsch 1890 bis 18%.

Von der Reichsgrtlndung bis 1914

79

1872 von Kathedersozialisten, unter ihnen mit Gneist und Gierke zwei führende Mitglieder der Juristischen Gesellschaft, in Eisenach gegründete "Verein für Sozialpolitik" bildete™. Festzuhalten bleibt, daß die Berliner Juristenvereinigung als Fachorganisation diese Fragen aufgegriffen hat und damit den noch zu Beginn ihrer Tätigkeit weitgehend "bürgerlichen Rahmen" der Interessensphäre sprengt. 3.4.4.

Stiftungsfest II 1884: Der Verein als juristische Person

Am 10. Mai 1884 feiert die Juristische Gesellschaft ihr 25jähriges Jubiläum durch ein Mittagessen in Begleitung der Damen im Zoologischen Garten. Im Festvortrag erinnert Koch an die Gründungsväter?ι und attestiert dem Juristenverein die "Fühlung mit den lebendigen Interessen der Gegenwart"72: Nicht die Erörterung abstrakter, rein wissenschaftlicher Themata, sondern die Vertretung und Prüfung der die Zeit bewegenden Reformen sei wesentliches Merkmal der Gesellschaftstätigkeit. Koch weist zwar auf die im Verhältnis zu Schwestergesellschaften geringe Mitgliederzahl hin (was sich ändern sollte), betont aber den Elitecharakter der im Verein versammelten "Koryphäen der Rechtswissenschaft, bewährte(n) Richter ... hohe(n) Beamten'"" (die vielfach auch wissenschaftlich tätige Anwaltschaft vergißt er). Es folgen die obligaten Trinksprüche auf Kaiser und König (Koch ipse), die Rechtswissenschaft (Starke), die Damen (Gneist) "ohne deren thätige Mitwirkung kein gedeihliches Leben möglich sei"74, den Präsidenten der Gesellschaft (v. Wilmowski), den Berliner Juristenstand (Koch vice versa) und den juristischen Nachwuchs (Goldschmidt). Nach den Reden speist man an fünf langen Tafeln. 70

Bom und Treue, in: Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 3, S. 257, 530f.

71

Koch, Bericht, S. 3.

72

Koch, au».0.. S. 6.

73

Koch, 8Λ.Ο„ S. 5.

74

bei Koch, a.a.O., S. 15.

80

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

Der gedruckte Bericht über die Feier wird durch Vermittlung des Hofmarschalls von Normann dem Kronprinzen Friedrich Wilhelm überreicht. In der 196. Sitzung am 28. Juni 1884 verliest Koch ein Schreiben von Normanns: "Neues Palais, Wildpark, den 24. Juni 1884, Euer hochwohlgeboren Wunsche entsprechend, habe ich nicht unterlassen, die Anlage des Schreibens vom 19. d. M., Sr. Kaiserlichen und königlichen Hoheit dem Kronprinzen zu überreichen. Höchstderselbe beauftragt mich, Euer Hochwohlgeboren für die freundliche Aufmerksamkeit zu danken. Der Bericht über die Jubiläumsfeier war Sr. Kaiserlichen und Königlichen Hoheit um so willkommener, als der gnädigste Herr sich mit Vergnügen erinnert, seiner Zeit bei der Gründung und Constituierung der Gesellschaft zugegen gewesen zu sein."" Hier irrt Friedrich Wilhelm: Er war bei der Sitzung der Gesellschaft zur Eröffnung des ersten Deutschen Juristentages 1860, nicht aber bei der konstituierenden Sitzung der Gesellschaft in persona zugegen, ein bei der Vielzahl seiner Verpflichtungen sicher verzeihlicher error memoriae. Nach einem Vierteljahrhundert erfolgreicher Vereinsaktivität denkt man nun im Vorstand daran, zur größeren Festigung des Gesellschaftsbandes und zur Erlangung einer sicheren rechtlichen Grundlage beim königlichen Polizeipräsidium unter Anerkennung der gemeinnützigen Vereinsziele die Korporationsrechte zu beantragen76. Die Gesellschaft strebt - typische Erscheinung im Vereinswesen des 19. Jahrhunderts77 - nach Rechtspersönlichkeit. Mit der vor allem vom späteren dritten Präsidenten der Gesellschaft, Otto von Gierke - 1884 Ordinarius in Heidelberg - vertretenen Theorie von der "realen" Verbandspersönlichkeit78, die dem Verein Grundrechte der vorstaatlichen Rechtssphäre zu- und damit ihn vom Konzessionierungszwang lossprach, setzt man sich dabei nicht auseinander. Nach einer Umarbeitung des Statutes stimmen sämtliche Voten des Innen(von Puttkammer) und Justizministeriums (von Friedberg, selbst Vereins

75

26. Jahresbericht der Jur.Ges. (1884/85), S. 29.

76

26. Jahresbericht, S. 32.

77

Vgl. etwa bei Hattenhauer, Geistesgeschichtliche Grundlagen, S. 146f.



Vgl. ausführlich bei E.Kaufmann, Körperschaft, in: HRG Bd. 2, Sp. 1147 -1151.

Von der Reichsgründung bis 1914

81

mitglied) der Verleihung der Korporationsrechte an die Juristische Gesellschaft zu™. Es folgt ein "Allerhöchster Erlaß" vom 7. Mai 1885: "Auf den Bericht vom 25. April d. J. will Ich der 'Juristischen Gesellschaft' in Berlin auf Grund des zurückfolgenden Statuts vom 13. Dezember 1884 hierdurch die Rechte einer juristischen Person verleihen, gez. Wilhelm, ggz. v. Puttkammer, Dr. Friedberg"80. Das von Koch, v. Wilmowski und v. Kirchbach entworfene Statut enthält zwar hinsichtlich des Gesellschaftszieles (§ 1 Abs. 1: Förderung der Rechtswissenschaft und Gewährung eines Vereinigungspunktes für Juristen) keine Änderung gegenüber dem ersten von 1859, regelt aber die Einzelfragen der Vereinstätigkeit in Anpassung an die im Ministerialblatt für die innere Verwaltung 1876, S. 193ff. veröffentlichten Normalstatuten wesentlich ausführlicher.

3.4.5.

Ehrenmitglieder und Korrespondenten

Anläßlich des internationalen Gefängniskongresses zu Rom im November 1885, auf dem die Gesellschaft durch den Gerichtsassessor Dr. Köhne vertreten wird, empfiehlt Koch, einer Anregung von Holtzendorffs folgend, einige um das Straf- und Völkerrecht sowie das Gefängniswesen verdiente italienische Juristen zu Ehrenmitgliedern der Gesellschaft zu ernennen, wodurch das internationale Ansehen der Berliner Juristenassoziation gefördert und wertvolle Mitarbeiter gewonnen werden könnten. Koch schlägt weiter vor, den inzwischen in München lehrenden von Holtzendorff in Anerkennung seiner langjährigen Verdienste um die Gesellschaft ebenfalls in die Liste aufzunehmen, welche trotz des diesbezüglichen Schweigens des Vereinsstatutes - am 3.4.1886 entsprechend ergänzt8' - in der Novembersitzung 1885 einstimmig gebilligt wird. Man wählt den früheren italienischen Außenminister Mancini, Kriminalist und Publizist, Begründer der neuen

79

Der Antrag und die Voten sind erhalten: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Rep.84a Nr.988 Bl. 163 -176.

80

26. Jahresbericht der Jur.Ges. (1884/85), S. 17.

81

28. Jahresbericht der Jur.Ges. (1886/87), S. 9.

82

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

italienischen Völkerrechtsschule, den bedeutendsten zeitgenössischen Strafrechtslehrer Italiens Prof. Carrara (Pisa), den Reformator der italienischen Gefangnisse Staatsrat Beltrani-Scalia (Rom), den Strafrechtslehrer Antonio Buccellati (Pavia) und von HoltzendorffK, der als Begründer der Gefängniskunde gelten darf83. In der 209. Sitzung am 9.1.1886 teilt der Vorsitzende mit, daß die Gewählten die Wahl dankend angenommen haben84. In den folgenden Jahren ernannte die Gesellschaft zahlreiche internationale Juristen zu Ehrenmitgliedern. Hier seien einige glanzvolle Namen hervorgehoben. Aus den von Beginn an engen Beziehungen zum Nachbarland Österreich erklären sich Joseph Ungerà, Erneuerer der österreichischen Rechtswissenschaft im Sinne der historischen Schule, ab 1881 bis zu seinem Tode 1913 Präsident des Reichsgerichts zu Wien, das die Funktionen eines obersten Verfassungsgerichtes wahrnahm, und Franz Klein86, lange Jahre Justizminister, Schöpfer der österreichischen Justizgesetze (in Kraft am 1.1.1898), Reformator des ABGB. Klein hat der Gesellschaft mehrfach referiert, so am 9.12.1893 über die von ihm mitgeschaffene, bahnbrechend moderne Zivilprozeßordnung, ein Vortrag, der mit "ungeteiltem Beifall" aufgenommen wurde87. Auch die bereits skizzierten Verbindungen zu England manifestieren sich in der Liste der Ehrenmitglieder, von denen der Oxforder Rechtslehrer Thomas Erskine Holland genannt sei. Allerdings gilt es hier ein dunkles Kapitel der Vereinsannalen anzusprechen: Von den 18 Ehrenmitgliedern (die höchste Zahl) des Jahres 1914 waren allein vier Engländer, im Verzeichnis für das Jahr 1915 findet sich keiner mehr von ihnen. Nur in einem Fall belegt die Vereinschronik den Grund: "Unser Ehrenmitglied, der aus Deutschland stammende Dr. Ernst Schuster (mehrfach Referent vor der Gesellschaft,

82

27. Jahresbericht der Jur.Ges. (1885/86), S. 33.

S3

Kleinheyer; Schröder, Deutsche Juristen, 3. Aufl., S. 344 (Nr.47).

84

27. Jahresbericht, S. 52.

85

Vgl. zu Unger bei Kleinheyer, Schröder, Deutsche Juristen, 3. Aufl. S. 308 - 310.

86

Vgl. bei Kleinheyer; Schröder, a.a.O., S. 348 (Nr.59a).

87

35. Jahresbericht der Jur.Ges. (1893/94), S. 65f.

Von der Reichsgründung bis 1914

83

Anm. d. Verf.) in London, hat in der Times vom 13. Mai 1915 eine Erklärung veröffentlicht, welche die gehässigsten Verleumdungen des deutschen Volkes enthält. Die Gesellschaft beschloss darauf in der Sitzung vom 12. Juni 1915 einstimmig, ihn aus den Reihen ihrer Ehrenmitglieder zu streichen."88 Daß auch eine juristische Fachvereinigung, seit ihrer Gründung um die Pflege internationaler Beziehungen bemüht und in besonderer Weise an den Entwicklungen des englischen Rechtssystems interessiert, nicht von der die Völker trennenden Kriegseuphorie der Jahre nach dem August 1914 verschont blieb, wird noch zu belegen sein. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang, daß der erwähnte Oxforder Lehrer Holland nach dem ersten Weltkrieg wieder zu den Ehrenmitgliedern gehörte! Von den Juristen aus dem deutschen Kaiserreich würdigen die in Berlin assoziierten Kollegen durch die Ernennung zum Ehrenmitglied u. a. Gottlieb Planck", Redakteur des Familienrechts in der ersten BGB-Kommission, in der zweiten 1890 Generalreferent, später Kommentator des Allgemeinen Teils und des allgemeinen Schuldrechts in dem von ihm herausgegebenen BGB-Kommentar, Rudolph SohmO, Mitglied der zweiten BGB-Kommission, germanistischer Rechtshistoriker, dessen kirchenrechtliche Abhandlungen (vor allem "Kirchenrecht. Erster Band. Die geschichtlichen Grundlagen" 1892) noch heute diskutiert werden, und Paul Laband'1, dessen Hauptwerk "Das Staatsrecht des Deutschen Reiches" (3 Bde 1876 - 1882) ihn zum Begründer der Wissenschaft des Reichsstaatsrechts machte. Die Einrichtung der Ehrenmitgliedschaft verbindet die Berliner Juristen des weiteren mit Fachgenossen aus der Schweiz, Frankreich, Belgien, Norwegen, Schweden, Holland, Spanien, Rußland und den Vereinigten Staaten^. Man korrespondiert und lädt die Geehrten zu Vorträgen ein. Noch ist die Fachwelt nicht vom Nationalismus der Zeit geprägt.

88

57. Jahresbericht der Jur.Ges. (1915), S. 5.

W

Vgl. zu Planck: W.Schubert, in: HRG Bd. 3, Sp. 1763 -1767.



Vgl. zu Sohm bei Kleinheyer, Schröder, Deutsche Juristen, 3. Aufl., S. 257 - 259.

91

Vgl. bei Kleinheyer; Schröder, a.a.O., S. 158 -161.

92

Eine vollständige Liste der Ehrenmitglieder findet sich in Anhang 5 dieser Arbeit.

84

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

Nach dem ersten Weltkrieg verliert die Einrichtung an Bedeutung, der Jahresbericht von 1925 nennt lediglich drei Ehrenmitglieder (neben dem genannten Holland Viscount Mersey und Prof. John W. Burgess ), weitere wurden bis 1933 nicht ernannt. Ein weiteres Bemühen der Gesellschaft um Internationalität stellt die im 29. Vereinsjahr beschlossene Ernennung von Korrespondenten dar«, die sich bereiterklären, dem Vorstand gegebenenfalls Auskunft über Fragen des ausländischen Rechts zu geben. Während bis 1914 ein reghafter Austausch vor allem mit italienischen Juristen zu registrieren ist, hat man nach 1918 keine Korrespondenten mehr gewählt.

3.4.6.

Schwerpunktthemen der Periode bis 1909

Wenn oben unter 3.4.3. die extreme Bandbreite der im Forum der Juristischen Gesellschaft behandelten Themen angesprochen wurde, so sollen hier kurz die Schwerpunkte der Tätigkeit in den zweiten 25 Jahren ihrer Wirksamkeit neben der ausführlicher zu schildernden Behandlung des BGB skizziert werden. Nicht mehr Rechtsvereinheitlichung, sondern Rechtsreform und reactio auf neueste Entwicklungen der Gesellschaft und Technik im ausgehenden 19. und anbrechenden 20. Jahrhundert bilden den Fundus der Referate. Wie bereits unter 3.1. angedeutet, wird in dieser Phase die Beschäftigung mit der Reform des Strafprozesses immer dringlicher. Zwischen 1884 und 1909 beschäftigen sich 11 Vortrage spezifisch mit diesem Themenbereich, wobei Fragen des Berufungsrechts und des Vorverfahrens im Vordergrund stehen. Tendenzen in der Entwicklung des materiellen Strafrechts werden in 18 Referaten (vor allem zu Beginn der neunziger Jahre) intensiv beleuchtet, von den Referenten seien hier Ohlshausen, Oberreichsanwalt beim Reichsgericht zu Leipzig (1903 über die Strafwürdigkeit des fahrlässigen Meineides, Ohlshausen votiert dagegen»*), und der Nachfolger Berners als Berliner Ordinarius (1899 - 1916) Franz von Liszt (mehrfach, ζ. B. 1900 über das 93

Vgl. die Liste in Anhang 5 dieser Arbeit.

M

45. Jahresbericht der Jur.Ges. (1903/04), S. 13-15.

Von der Reichsgründung bis 1914

85

gewerbsmäßige Verbrechend mit der grundlegenden, erst 1933 in einem noch nicht nationalsozialistisch geprägten Gesetz* verwirklichten Forderung nach der Zweispurigkeit von Straf- und Maßnahmerecht) hervorgehoben. Das "schwer errungene" gemeinsame deutsche Zivilprozeßrecht erweist sich ebenfalls alsbald reformbedürftig, die Juristische Gesellschaft greift Fragen des Anwaltszwanges, des Mündlichkeitsprinzips, der Entlastung des Reichsgerichts sowie Probleme des Kollegial- und des amtsgerichtlichen Prozesses auf. Zu einer wissenschaftlichen Debatte führt die Auseinandersetzung Jaeckels (14.11.1885)'7 mit der bekannten Kritik des Reichsgerichtsrats a. D. Otto Bähr ("Der deutsche Zivilprozeß in praktischer Betätigung") an der ZPO und der dortigen Fassung des Mündlichkeitsprinzips. Bähr kontrapunktiert Jaeckel 1886 in einer zweiten Schrift ("Noch ein Wort zum deutschen Zivilprozeß"), diesem wiederum antwortet Jacobi mit einem neuerlichen Referat vor der Gesellschaft (8.5.1886)«. Die Börsenenquete zu Anfang der neunziger Jahre und die spätere Reform des Börsengesetzes spiegeln sich in mehreren Vorträgen und Diskussionen über das Differenzgeschäft (so der Erfinder der "positiven Vertragsverletzung" und Berliner Anwalt Hermann Staub am 9.1.1897 über "Differenzgeschäft nach Börsengesetz und BGB"») und die Reformanstrengungen. Eine weitere gewichtige Gruppe bilden die Probleme des modernen Verkehrs: Wechsel und Scheck, handelsrechtliche Traditionspapiere, Kartelle, Garantie- und Tarifvertrag, Abrechnungsstellen, Automobile (!), Urheber-, Patent- und Warenzeichenrecht, Versicherungsvertrag und Sozialrecht: Die Juristische Gesellschaft stellt sich dem ganzen Spektrum der anstehenden 95

42. Jahresbericht der Jur.Ges. (1900/01), S. 23 - 33.

96

Das "Gewohnheitsverbrechergesetz" mit der Einfuhrung der §§ 42 äff. StGB.

97

27. Jahresbericht der Jur.Ges. (1885/86), S. 34 - 41.

98

28. Jahresbericht der Jur.Ges. (1886/87), S. 15 -19.

99

38. Jahresbericht der Jur.Ges. (1896/97), S. 74 - 84.

86

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

Fragen, wobei die imperialistischen Zeittendenzen nicht ohne Widerhall bleiben: 1887 stehen ζ. B. "Die Rechtsverhältnisse der deutschen Colonialgesellschaften" auf dem Programm. Die in Berlin versammelte Wissenschaft und Praxis nimmt sich gemeinsam, aber mit unterschiedlichem Ansatz der Zeitprobleme an. Demgegenüber tritt das Staats- und Verwaltungsrecht etwas zurück. Bemerkenswert immerhin die Vorträge des zu Bismarcks Innenpolitik in liberaler Opposition stehenden späteren geistigen Vaters der Weimarer Reichsverfassung Hugo Preuß über die zivilprozessualen Grundlagen des Verwaltungsstreitverfahrens (14.6.1897)"» und den konstitutionellen Gesetzesbegriff und seine Rechtsfolgen (11.10.1902)ioi. Einen kritischen Geist wie Preußi®, dessen jüdische Abstammung und politische Auffassung ihn 36 Jahre lang auf die Stellung eines Privatdozenten an der Universität beschränkten, in ihre Reihen aufgenommen und ihm ein Forum geboten zu haben, zeugt von der bereits mehrfach konstatierten Liberalität des Vereins in diesen Punkten. Wenn man auch nicht vor allen nationalistischen Tendenzen gefeit war, wie insbesondere die Jahre 1914 - 1918 belegen werden, so hat es doch in der Gesellschaft bis in das Jahr 1933 hinein keine Spuren von Antisemitismus gegeben, wahrlich ein rares Zeugnis in dieser Zeit. Eine Reihe von Referaten schließlich macht deutlich, daß die Geschichte des Rechtsstudiums auch stets eine Geschichte seiner Reformen gewesen ist. Prominente Redner wie Goldschmidt103 und Gneist104 greifen dieses Thema auf. Einen Schwerpunkt bildet hierbei die nach wie vor aktuelle Frage des Praxisbezuges der Universitätsausbildung.

3.4.7.

Die Juristische Gesellschaft und das BGB

Die Vereinstätigkeit ab 1888 - im Jahre 1887 hatte die erste Kommission 100

39. Jahresbericht der Jur.Ges. (1897/98), S. 30f.

ιοί 44. Jahresbericht der Jur.Ges. (1902/03), S. 43 - 47. 102 Vgl. zu Preuß bei Kleinheyer; Schröder, Deutsche Juristen, 3. Aufl., S. 212 - 214. 103 28. Jahresbericht der Jur.Ges. (1886/87), S. 64f. 104 28. Jahresbericht, S. 74 - 86.

Von der Reichsgründung bis 1914

87

unter Vorsitz Papes ihren Entwurf mit fünf Bänden Motiven vorgelegt10* steht ganz unter dem Zeichen der Gesetzgebungsarbeiten am BGB. Die Gesellschaft korrespondiert mit Pape, lädt Mitglieder des Bundesrates, des Reichsjustizamts und des preußischen Justizministeriums zu ihren Sitzungen106 (Planck, Generalreferent der zweiten Kommission, beteiligt sich rege an den Diskussionen) und ist durch einige ihrer Mitglieder mit den Gesetzgebungsgremien verbunden (ζ. B. Struckmann und Vierhaus). Bis 1893 beschäftigen sich 14 Vorträge mit dem sogenannten "kleinen Windscheid", wie der Entwurf wegen seiner starken Beeinflussung durch aktive Mitarbeit des großen Pandektisten - neben dem Bearbeiter des Familienrechts Planck wohl die bestimmende Figur der ersten Kommission107 genannt wurde108. Vorwiegend von Seiten der Wissenschaft - ζ. B. Gierke, Kohler, Eck, Heck -, aber auch durch einige Praktiker - ζ. B. Koch (Reichsbank), Jungk, Kohne (Richterschaft) - wird die Arbeit im Vereinsforum analysiert und kritisiert, womit sich die Gesellschaft in die Flut der etwa 600 Stellungnahmen von Behörden, juristischen Praktikern und Professoren, wirtschaftlichen Verbänden und Vereinigungen109 einreiht. Jacobi stellt am 12.5.1888 Entstehung und Inhalt des Entwurfes dar110. An seine neben Mengers "Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Klassen" (1891) aus der Masse herausragende, 1888 zuerst in mehreren Teilen in Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft erschienene Schrift "Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches und das deutsche Recht" anknüpfend, kritisiert Gierke am 21.6.1890 ("Das deutsche Haus und der Entwurf eines BGB"111) die Vernachlässigung volkstümlich105

Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 469; genaugenommen überreichte Pape den Entwurf am 27.12.1887 dem Reichskanzler, der ihn am 5.1.1888 dem Bundesrat zuleitete, vgl. Schubert, Materialien zur Entstehungsgeschichte des BGB, S. 49.

106

Koch, FS zum fünfzigjährigen Jubiläum des Ges., S. 8f.

107

Vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 469.

108 Laufs, Rechtsentwicklungen, S. 259. 109 Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 470. 110

30. Jahresbericht der Jur.Ges. (1888/89), S. 15-23.

111

32. Jahresbericht der Jur.Ges. (1890/91), S. 23 - 38.

88

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

deutscher Rechtsgewohnheiten bezogen auf das Familienrecht, ein Angriff, der den Redakteur Planck persönlich traf" 2 . Gierke urteilt - die vielseitige Kritik zusammenfassend - allgemein: "Nicht deutsch, sondern halbrömisch, halb weltbürgerlich; nicht volksthiimlich, sondern doktrinär, nicht sozial, sondern im abstrakten Individualismus befangen."113 Von den weiteren Beiträgen der Gesellschaft zum 1. Entwurf seien hier noch Ecks Auseinandersetzung mit den Regelungen des Erbrechts (23.6.1888114), Dernburgs Ausführungen zum Hypothekenrecht (15.3.1890115) und Bornharks Untersuchung zum Verhältnis von BGB und öffentlichem Recht (8.11.1890, Bornhark will insbesondere das Recht der unselbständigen Arbeit gänzlich dem öffentlichen Recht zuweisen116) hervorgehoben. Als Beispiel für die Beachtung, welche die Bemühungen der Berliner Juristenvereinigung fanden, kann gelten, daß Ecks Vortrag im fünften Band (Erbrecht) der von Struckmann im Reichsjustizamt gefertigten Zusammenstellung der kritischen Äußerungen zu einzelnen Bestimmungen des 1. Entwurfes an erster Stelle erscheint117. Die als Manuskript gedruckte Sammlung hat die Arbeiten der 2. Kommission unter Vorsitz Plancks stark beeinflußt11«. Diese veröffentlichte ihren Entwurf mit den umfangreichsten und bedeu-

112 ,]

Vgl. Schubert, GPlanck, in: HRG Bd. 3, Sp. 1763 -1767 (1766).

3 32. Jahresbericht der Jur.Ges.,S. 23.

114

30. Jahresbericht der Jur.Ges. (1888/89), S. 24 - 27; die Sitzung fand acht Tage nach dem Tode Friedrich III. statt, dessen Anteilnahme an den Geschicken der Ges. der Vorstand gedenkt, während man den "jungen König und Kaiser Wilhelm Π der wie sein verklärter Vater und Vorgänger zu Füßen deutscher Rechtsgelehrter gesessen" habe, als "neuen Schirmherm der Rechtspflege und Rechtswissenschaft" begrüßt a.a.O., S. 24.

u s 31. Jahresbericht der Jur.Ges. (1889/90), S. 80 - 82. 116 32. Jahresbericht der Jur.Ges. (1890/91), S. 48 - 56 (54). i n Zusammenstellung der gutachterlichen Aeußerungen zu dem Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs gefertigt im Reichsjustizamt, Bd. V, S. 1. 118 Schubert, Die Beratung des BGB, S. 50.

Von der Reichsgrilndung bis 1914

89

tends ten Materialien zum BGB11«, den "Protokollen", 1895. Den Abschluß der Arbeiten würdigte die Gesellschaft durch einen bemerkenswerten Vortrag Sohms (Göttingen) am 15.6.1895, der die Fortschritte des 2. Entwurfs unter besonderer Berücksichtigung der Kritikpunkte "Juristenrecht", "undeutsch", "unsozial" in "flammender Rede" darlegte. Ihm antwortete Gierke, der - letzüich vergeblich - eine erneute Umarbeitung forderte. Auch in der im Verein assoziierten hauptstädtischen Juristenelite war die Stimmung einem baldigen Abschluß der Gesetzgebungsarbeiten aufgrund des 2. Entwurfs geneigt120. Sohms Ausführungen widerlegen Schuberts Annahme, von den Vätern des BGB - Sohm war nichtständiges Mitglied der 2. Kommission - habe sich allein Planck ausführlicher mit den genannten Kritikpunkten auseinandergesetzt^1. 1896 ließ die Gesellschaft den Entwurf durch fünf prominente Gelehrte aus dem Reichsgebiet (Schröder, Heidelberg: eheliches Güterrecht; Fischer, Breslau: Sachenrecht; Stammler, Halle: Allgemeiner Teil des Schuldrechts; Schollmeyer, Würzburg: Besonderer Teil des Schuldrechts; Strohal, Leipzig: Erbrecht), einen Berliner Lehrer (Eck: Allgemeiner Teil) und einen Praktiker (Köhne: Elterliche Gewalt und Vormundschaft) umfassend untersuchen, wobei der Tenor allgemein positiv ausfiel. An den Sitzungen nahmen auf Einladung des Vereins Mitglieder der Kommission, des Reichsjustizamts und des preußischen Justizministeriums teil122, allen voran Planck, der sich mehrfach an den Diskussionen beteiligte123. Die Veranstaltungsreihe förderte die Popularität des Juristenvereins: Im Vereinsjahr 1895/96 traten der Gesellschaft allein 65 Fachgenossen bei124. Das Inkrafttreten des BGB am 1.1.1900 bietet Anlaß für eine weitere Festsitzung der Gesellschaft am 13. Januar, auf der erneut Sohm das Wort ergreift und das neue bürgerliche Recht als Aufgabe für die Wissenschaft und 119

Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 471.

120

Koch, FS zum fünfzigjährigen Jubiläum der Jur.Ges., S. 8.

121 Schubert, G.Planck, in: HRG Bd. 3, Sp. 1763 -1767 (1766). 122

37. Jahresbericht der Jur.Ges. (1895/96), S. 2.

123 Koch, FS zum fünfzigjährigen Jubiläum der Jur.Ges., S. 9. 12

* Vgl. 37. Jahresbericht der Jur.Ges. (1895/96), S. 2.

90

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

Praxis umreißt125. Lyrisch überhöht und mit für die Wilhelminische Ära typischem Pathos verabschiedet anschließend der Kaiserliche Regierungsrat Damme das alte Recht: "Abschied vom alten Recht" Der Tag ist da, wo sich für immer schliessen Des Rechtes Quellen, lang von uns verehrt, Die uns so oft das Urtheil finden Hessen, Die unser Wissen tausendfach vermehrt; Dem neuen Säc'lum sollen sie nicht fliessen, Der jungen Zeit wird junges Recht beschert: Der Glockenton an des Jahrhunderts Wende Bedeutet auch des alten Rechtes Ende. Jahrhunderte hat es in deutschen Landen Der Fürsten Rath, des Richters Spruch gelenkt; Wie oft verkannt, wie selten voll verstanden, Von Volkes Hass, von Kniffen falsch bedrängt, Die Römerpflanze aus gelehrten Banden Hat dennoch Wurzeln tief in uns gesenkt Und wer den Werth der alten Kunst empfunden, Ahnt mit uns, was entflieht in diesen Stunden. Da steigen auf verblichene Gestalten. In mehr als tausendjähr'gem Ruhm bewährt, Die dem Gedächtnis Justinian erhalten, Den Weisen Geist und Zweck im Recht gelehrt, Sie fragen heut mit Blicken, ernsten, kalten, Danklose Schüler, die ihr Witz genährt: "Ist das der Lohn, gespendet Euern Meistern? So zeigt's, dass wir verwandt den besten Geistern!" So ist es auch! Ihr wart der Zeit vollkommen, In der Ihr nach dem Schicksal einst gelebt,

12S

41. Jahresbericht der Jur.Ges. (1899/1900), S. 83 - 86.

Von der Reichsgründung bis 1914

91

Nach jenem Licht, dass Eurem Geist entglommen, Hat immerdar die Nachwelt zugestrebt. Das Zeitlich allein ist Euch genommen, Wenn wir ein andres Recht uns nun gewebt; Nicht alles aber hat die Zeit geboren: Das Ewige in Euch bleibt unverloreni26. Bis zum Kriegsausbruch 1914 beschäftigen sich über 30 Referate mit besonderen Materien des neuen bürgerlichen Rechts, das Spektrum ist weit gefächert: juristische Person, Iirtumsregeln, stillschweigende Willenserklärung, Grenzen der Vertragsfreiheit, Treuhand, Dienstvertrag, Bereicherungsrecht, Besitzlehre, Liegenschaftsrecht, das Schuldverhältnis, die Lehre von der causa des Rechtsgeschäfts, Garantievertrag, unwiderrufliche Vollmacht, Eigentümerhypothek, Sicherungsübereignung - allgemeine Fragen und aktuelle Probleme der Rechtsanwendung werden diskutiert, wobei die Konzentration auf das BGB ab 1907 deutlich nachläßt. Die Bedeutung der Gesetzgebungsarbeiten und der Verabschiedung eines für das gesamte deutsche Reich geltenden Zivilgesetzbuches, des eigentlichen Kerns der Rechtsordnung des bürgerlichen Zeitalters (hier erst wird in § 1 der angestrebte Gleichheitssatz geltendes Recht), spiegelt sich in der eingehenden Rezeption durch die Berliner Juristenvereinigung, deren Beiträge in der Fachwelt und in den Gesetzgebungsgremien Beachtung fanden. 1909 sieht Gierke den wichtigsten Beitrag der Gesellschaft zur Förderung der Rechtswissenschaft darin, daß sie alle Zweige der Jurisprudenz umschließe und miteinander in Beziehung setze, um mitzuhelfen, die Gefahren zu überwinden, die sich aus der zunehmenden Spezialisierung der Theorie und der Praxis ergäben'^. Die Gesetzgebungsflut verhindere bereits umfassende Kenntnis aller Rechtssätze, ganz zu schweigen von den auf den Teilgebieten erforderlichen Hilfskenntnissen. Prophetisch äußert er: "So ist die

126

41. Jahresbericht, S. 87.

127

Gierke, in: Koch, FS zum fünfzigjährigen Jubiläum der Jur.Ges., 2.Teil Festsitzung, S. 8.

92

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

fortschreitende Differenzierung der einzelnen juristischen Fächer ein unentrinnbares Schicksal."124 3.4.8.

"Große Männer" und die Frauenfrage

Neben der Förderung von Wissenschaft und Praxis durch Referate und Diskussionen enfaltet die Gesellschaft unter der Präsidentschaft Richard Kochs noch andere Aktivitäten, die teils internationalen Kontakten, teils der Ehrung "großer Männer" dienen: Man beteiligt sich an der Gründung der vonHoltzendorff-Stiftung12?, veranstaltet eine Gedächtnisfeier für Ihering und Windscheid™, unterstützt die Erhaltung und Errichtung verschiedener Denkmäler (ζ. B. für Svarez und Thöl), gibt anläßlich des fünfzigjährigen Dienstjubiläums des Präsidenten eine Festschrift heraus, an der sich mit Kipp, Martin Wolff, Emil Seckel und James Goldschmidt u. a. Koryphäen der Rechtswissenschaft beteiligen^ und die auch die erste kurze Geschichte der Gesellschaft (1859 - 1903) von Hugo Neumann enthält, tritt der neugebildeten "Society for comparative legislation" (London) bei132, organisiert maßgeblich die Tagung der "International Law Association" i33 vom 2. bis 5. Oktober 1906 in Berlin, wobei erneut insbesondere die Beziehungen zur englischen Juristenschaft vertieft werden'34, die man im Berliner Verein seit der Gründung gesucht und gepflegt hatte und lediglich in den Jahren 1914 - 1918 dem kriegsbedingten Völkerhaß opferte, und begrüßt 1902 zum zweiten Mal den Deutschen Juristentag in Berlinds. Bereits der erste Historiograph der Gesellschaft vermerkt ausdrücklich die 128

Gierke, a.a.O., S. 9.

i2» 33. Jahresbericht der Jur.Ges. (1891/92), S. 1; 35. Jahresbericht (1893/94), S. 1. 130 34. Jahresbericht der Jur.Ges. (1892/93), S. 2,59ff. "i

45. Jahresbericht der Jur.Ges. (1903/04), S. 2.

1 3 2 39. Jahresbericht der Jur.Ges. (1897/98), S. 2. 133 Eine angesehene Vereinigung von Juristen und Geschäftsleuten in London unter dem Ehrenvorsitz des englischen Lord Obelrichters. 134 47. Jahresbericht der Jur.Ges. (1905/06), S. 3; 48. Jahresbericht (1906/07), S. 2ff. 135 44. Jahresbericht der Jur.Ges. (1902/03), S. 2.

Von der Reichsgründung bis 1914

93

"Unvoreingenommenheit"136 der assoziierten Fachkollegen hinsichtlich der Emanzipationsbestrebungen der Frauenwelt: Im Vereinsjahr 1900/01 wird mit Dr. Marie Raschke die erste Juristin in den Verein aufgenommen!37. 1891 hatte man den ersten Vortrag einer Frau (Prof. Emily Kempin, New York über den Stand der Rechtswissenschaft in den USA) "entgegengenommen"138. Der Kampf der Frauen um die Zulassung zum Studium (in Preußen erst 1908139) und zur Berufsausübung (durch Reichsgesetz vom 11. Juli 19221«) allerdings wird im Forum der Gesellschaft weder - sieht man von einigen allgemein gehaltenen Formulierungen ("Erweiterung des Rechtes der Frau", Kahl am 19.5.1909141) ab - ausdrücklich unterstützt noch eingehend debattiert. Bemerkenswert dagegen ist ein kriegsbedingter Vorstellungswandel zur Rolle der Frau, der in einem Vortrag Prof. Altmanns (1915) über die soziale Mobilmachung anklingt: "Man würde eine Frau bestimmter Schichten (!) nicht mehr unverschuldet arbeitslos nennen können, weil sie bei persönlicher Eignung dennoch die Tätigkeit als Schaffnerin einer Strassenbahn als 'unweiblich' zurückwiese"!42. Die Folgen der späten Zulassung zu Studium und Beruf spiegeln sich auch in der Mitgliederzusammensetzung des Berliner Juristenvereins: So sind 1928 von 555 Mitgliedern lediglich 6, soweit dies die Vornamen der Liste belegen, Juristinnen (2 Rechtsanwältinnen, 1 Gerichtsassessorin, 1 Referendarin, 2 weibliche doctores). Die Rolle der "Damen" findet daneben Beachtung im Schriftwechsel der Schriftführer der Gesellschaft, so wenn

136

Neumann, Geschichte, S. 26.

137 42. Jahresbericht der Jur.Ges. (1900/01), S. 2. 138 Neumann, Geschichte, S. 26. 139 Deutscher Juristinnenbund (Hrsg.), Juristinnen in Deutschland, S. 2. 1« Deutscher Juristinnenbund, a.a.O., S. 13. 141

Kahl, in: Koch, FS zum fünfzigjährigen Jubiläum der Jur.Ges., 2.Teil Festsitzung, S. 33.

1« 57. Jahresbericht der Jur.Ges. (1915), S. 89 -110 (103).

94

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

A. Seligsohn am 4. Mai 1927 an den damaligen Präsidenten Riesser schreibt: "Ein Tausch zwischen Nussbaum und Abraham kam nicht in Frage, da das Thema von Nussbaum (Vertraglicher Schutz vor Geldwertschwankungen bei In- und Auslandsgeschäften, Anm. d. Verf.) sich für die Juni-Sitzung, an der Damen teilnehmen; durchaus nicht eignete."143 Anders dagegen wenig später der fünfte Präsident Theodor Kipp in einem Schreiben (23. Januar 1930) an Prof. Hensel (Königsberg) zu dessen geplantem Referat über "Politische Weltanschauung und Grundrechte": "In der Juni-Sitzung, die den Abschluß unserer Vortragsreihe zu bilden pflegt, sind auch Damen anwesend, und es findet nachher ein Essen statt Aber heutigertages, angesichts der politischen Gleichstellung der Damen darf man erwarten, dass eine Erörterung der politischen Weltanschauung und der Grundrechte auch unter den Damen das gebührende Interesse findet."144 Ein "Deutscher Juristinnenverein" ist 1914 in Berlin unter Vorsitz von Dr. Margarete Meseritz gegründet worden1«. 3.4.9.

Stiftungsfest III 1909: Ausblicke in die Rechtsentwicklung der Zukunft

In der 417. Sitzung der Juristischen Gesellschaft am 24. April 1909 im Grand Hotel de Rome läßt Richard Koch nach siebenundzwanzigjähriger Präsidentschaft mitteilen, daß er zur Wiederwahl nicht mehr zur Verfügung stehe. Durch Zuruf bestimmen die Mitglieder mit Otto Gierke (erst 1911 in den erblichen Adelsstand erhoben) den neben Menger profiliertesten Kritiker des BGB und glänzenden Vertreter der Berliner Juristenfakultät zu ihrem dritten Vorsitzenden14«.

143

Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR, Akten der Schriftführer der Jur.Ges. aus den Jahren 1927 - 1933, Bd. 6 nicht einheitlich paginiert (Bl. 113).

144

Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR, Akten der Schriftführer der Jur.Ges. 1927 - 1933, Bd. 19 nicht paginiert.

14

5 Deutscher Juristinnenbund, Juristinnen in Deutschland, S. 5.

14

« 51. Jahresbericht der Jur.Ges. (1909/10), S. 13.

Von der ReichsgrUndung bis 1914

95

Gierke wird die Geschicke der Berliner Juristenvereinigung bis zu seinem Tode 1921 durch die bewegten Jahre des Weltkrieges, der Revolution 1918/19 und die schwierige Konstituierung der ersten deutschen Republik lenken. Die zweite Veranstaltung unter seiner Leitung ist die Feier des semisäkularen Gesellschaftsjubiläums mit einer Festsitzung im Hotel Esplanade (Bellevuestr. 17/18), die zugleich das Ende der Ära Kochs markiert, der zwar eine Grußadresse sendet, aber - gebrochen durch den Tod seiner Gattin - nicht mehr persönlich teilnehmen kann. In der Eröffnungsansprache blickt Gierke auf die Geschichte des Vereins zurücki47, Brunner dankt als Ehrenvorsitzender der Ständigen Deputation des Juristentages und Vorsitzender des Kuratoriums der Savigny-Stiftung der aima mater dieser Einrichtungen!« ehe Kahl abschließend einen prophetischen Blick auf die Rechtsentwicklungen der Zukunft wirft und dabei vor allem die sozialen Aufgaben des öffendichen Rechts (Arbeiter- und Kinderschutz, Gewerberecht, Gesundheitspflege, Frauenrechte) und des Privatrechts (Miet- und Dienstrecht) sowie die Reformbedürftigkeit des Familien- (Ehescheidungs-)rechts und weitergehend des Strafprozesses und des materiellen Strafrechts betont 14 ', Themen, welche auch die Referenten der Juristischen Gesellschaft in den nächsten Jahren beschäftigen werden.

3.4.10. Biographisches - Koch, Eck, von Wilmowski, Wilke, Lesse, Levy Richard Koch, der am 15. Oktober 1910 stirbt, ohne zuvor noch einmal aktiv in die Debatten der Juristischen Gesellschaft eingegriffen zu haben, hat mehr noch als sein Vorgänger von Wartensleben durch fünf Dekaden die Wirksamkeit der hauptstädtischen Juristenassoziation bestimmt, deren Mitglied er 44 Jahre lang seit 1866 war. Er personifizierte das Vereinsideal: wissenschaftliche Akribie, die ihm nie

147



Gierke, in: Koch, FS zum fünfzigjährigen Jubiläum der Jur.Ges., 2.Teil Festsitzung, S. 1-18. Brunner, in: Koch, a.a.O., S. 19-21. Kahl, in: Koch, a.a.O., S. 25 - 47.

96

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

zum Selbstzweck geriet, verbunden mit stetem Blick auf die praktische Relevanz - "semperque doctrinum cum usu feliciter conjunxit" heißt es an einer Stelle der Begründung des Ehrendoktordiploms der Heidelberger Universität (1886) für Koch. Als Sohn eines preußischen Leutnants am 15. September 1834 in Cottbus geboren15«, besuchte er bereits mit 16 ι/ζ Jahren die Berliner Juristenfakultät, wo er seine kurze Studienzeit bis 1853 verbrachte. Engere Kontakte knüpfte er zu seinen akademischen Lehrern Gneist und Homeyer, der seinen Studenten "sonntäglich ein Privatissimum über den Sachsenspiegel zu lesen pflegte"151. In Berlin vermißte der junge Student allerdings die Poesie, "welche sonst die Universitätszeit ... zu verklären pflegt. Berlin war und blieb Lern-Universität. Der Emst der Arbeit beherrschte alles."152 Mit 19 (!) Jahren wird er Auskultator am Kreisgericht seiner Heimatstadt, 1855 Appellationsgerichtsreferendar, 1858 Gerichtsassessor. Weitere berufliche Stationen sind Frankfurt a. O., Ratibor, Halberstadt und Danzig, ehe er 1865 - kurz nach seiner Heirat - als Richter zum Stadtgericht Berlin kommt. Bereits seit 1863 ist er auf den Gebieten des Konkurs-, Zivilprozeß- und Verkehrsrechts publizistisch tätig, was seine Berufung zum Schriftführer der Kommission zur Ausarbeitung einer Zivilprozeßordnung für den Norddeutschen Bund (1868) rechtfertigt. Dort wirkt er gemeinsam mit Struckmann. Frucht dieser Zusammenarbeit wird der bekannte, seit 1877 in neun Auflagen (1910) erschienene Struckmann-Kochsche Kommentar zur ZPO sein. Die für die Kommissionsarbeit unterbrochene richterliche Tätigkeit wird Koch nicht mehr aufnehmen. 1870 erreicht ihn in Nancy, wohin er im Krieg gegen Frankreich einen Sanitätszug des Roten Kreuzes geleitet hatte, die Aufforderung von Dechends, Präsident der Preußischen Bank, als Hilfsarbeiter in das Bankdirektorium einzutreten. Ab 1871 Justitiar dieser Behörde, 150

Vgl. zu den biographischen Daten: Pohl, Richard Koch in: NDB Bd. 12, S. 237; Riesser, "Zur Erinnerung an Richard Koch" in: 52. Jahresbericht der Jur.Ges. (1910/11), S. 88-96.

151

Koch, in: Liebmann (Hrsg.), Die Juristische Fakultät der Universität Berlin, S. 236.

152

Koch, a.a.O., S. 236.

Von der Reichsgründung bis 1914

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arbeitet er 1873 - 1875 wesentlich an der Umwandlung der Preußischen Bank in die Reichsbank mit, deren Justitiar und Mitglied des Direktoriums er bei der Gründung am 1.1.1876 wird. 1877 erhält er die neugeschaffene Stelle des Vizepräsidenten und wird nach Deschends Tod 1890 zweiter Präsident der Reichsbank, ein Amt, das er fast 18 Jahre bis Ende 1907 bekleidet. Ab 1891 ist er als Kronsyndikus ständiges Mitglied des Preußischen Herrenhauses. Als Präsident der Reichsbank hat Koch wesentlichen Anteil an deren Ausbau in den Jahren 1890 - 1906. In dieser Zeit erhöht sich die Zahl der Filialen von 242 auf 469, die Gesamtumsätze steigen von 108,6 auf 279 Mrd. Mark, das Wertpapierdepot wächst von 2,3 auf 3,2 Mrd. Mark und die Zahl der Beamten verdoppelt sich von 1 507 auf 3 084153. Die Reichsbank spielte eine bedeutende Rolle im Wirtschaftsleben des Kaiserreichs154, ihre Aufgabe war es nach § 12 des Bankgesetzes von 1875, "den Geldumlauf im gesamten Reichsgebiet zu regeln, die Zahlungsausgleichungen zu erleichtern und für die Nutzbarmachung verfügbaren Kapitals zu sorgen", daneben war sie nach § 22 "Hausbank" des Reiches. Im Mittelpunkt von Kochs Arbeit stehen zunächst die Probleme der Währungsvereinheitlichung im neukonstituierten Bismarckreich, wobei er stets die Goldwährung - trotz zeitweiliger bimetallischer Mehrheit im Reichstag entschieden verteidigt hat. Einen weiteren Schwerpunkt setzte er beim Ausbau des Giro-, Scheck- und Clearingverkehrs in Deutschland, ein erfolgreiches Bemühen, das sich in zahlreichen Referaten vor der Juristischen Gesellschaft spiegelt. Das Scheckgesetz von 1908 basiert wesentlich auf seinen Anregungen, ebenso wie die Schaffung einer Hypothekenausgleichsstelle bei der Reichsbank, die der Reduzierung der umfangreichen Bewegungen von Hypothekengeldern durch Verrechnung diente.

153

Pohl, in: NDB Bd. 12, S. 274.

154 Vgl. die kurze Darstellung von Hetttage, Die Reichsbank 1876 - 1918 im Jeserich; Pohl; von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte Bd. 3, S. 263 - 275.

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Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

Kochs Einfluß auf die Finanz- und Wirtschaftsgesetzgebung des Kaiserreichs war erheblich. Er gehörte zahlreichen von der Reichsregierung berufenen Gesetzgebungskommissionen (ζ. B. für das von ihm angeregte, nicht zustandegekommene Pfandbriefgesetz, die Aktienrechtsnovelle, das Lagerhaus- und Warrantgesetz) an, die ihre Arbeit jedoch nicht immer erfolgreich abschließen konnten. Als Vorsitzender der vom Reichskanzler eingesetzen Börsen-EnqueteKommission (1892/93) tritt er für maßvolle Reformen ein, ohne mit den späteren gesetzgeberischen Folgen und der extensiven Auslegung des Begriffs des Börsentermingeschäfts durch die Judikatur einverstanden zu sein155. Kochs Ämter als Reichsbankpräsident und Vorsitzender der Juristischen Gesellschaft begünstigen zahlreiche internationale Kontakte, im Ausland ist er ein gesuchter Gesprächspartner. 1903 etwa führt er den Vorsitz in der von Mexiko und USA angeregten internationalen Währungskonferenz. Dem internationalen Kapitalverkehr gilt seine besondere Aufmerksamkeit in den letzten Jahren der beruflichen Tätigkeit, vor allem der Problematik der Gold- und Devisentransaktionen im Zeichen des wachsenden Außenhandelsdefizits des Deutschen Reichs und der sich verschlechternden Zahlungsbilanz. Dem Ansturm des Auslands auf den Goldschatz der Reichsbank 1906/07 versucht er durch Diskontsatzerhöhungen zu begegnen, was wegen der restriktiven Auswirkungen auf den Kredit Kritik findet, aber 1908, nachdem Koch sein Amt an Havenstein übergeben hatte, von der Banken-Enquete-Kommission insgesamt günstig beurteilt wird. Koch, auch musisch begabt, galt seinem Kollegen Riesser "geradezu als eine Verkörperung der Pflichterfüllung ..., der beste und erfreulichste Typus des alten preussischen Beamten, ohne jemals Bureaukrat zu sein"'5«. Zu seinen Opera, die teilweise aus Referaten vor der Juristischen Gesellschaft entstanden sind, zählen: "Zur Reform des preußischen Konkursrechts" (1868); "Die Reichsgesetzgebung über Münz- und Notenbankwesen, 155

Riesser, in: 52. Jahresbericht der Jur.Ges., S. 94.

i » Riesser, a.a.O., S. 96.

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Papiergeld, Prämienpapiere und Reichsschulden" (1885, 4. Aufl. 1900); "Geld und Wertpapiere, Besprechung der für den Bankverkehr erheblichen Bestimmungen des Entwurfs eines BGB für das Deutsche Reich" (1889).

Ernst Eck

Als Vertreter der Wissenschaft der Phase bis 1909 soll hier Ernst Eck (gest. 1900) gewürdigt werden, der sich als einer der meist verehrten Rechtslehrer der Berliner Fakultät um den juristischen Nachwuchs verdient gemacht hat und dessen Grabinschrift - von Mommsen gesetzt - seine Nachfolger mahnte157: "Docuit multos et quos docuit amavit"15». Nicht unerwähnt bleiben dürfen daneben als aktive Mitgestalter der Geschichte der Gesellschaft und der Berliner Fakultät Beseler (gest. 1888), von Holtzendorff (gest. 1889), Gneist (gest 1895), Levin Goldschmidt (gest. 1897), Dernburg (gest. 1907) und als Extraordinarius Dambach (gest. 1899). Ernst Wilhelm Eberhard Eck wurde am 21. August 1838 als Sohn eines Medizinprofessors in Berlin geboren15», besuchte hier das Friedrich-Werdersche-Gymnasium (1847 - 1851) und fand 1851 in Pforta Aufnahme, wo seine Begeisterung für die römische Antike geweckt wurde. Nach dem Schulabschluß studierte er Rechtswissenschaft in Heidelberg und Berlin, wesentlich beeinflußt von dem Pandektisten Vangerow und dem Kanonisten E. L. Richter, der ihn zu seiner Dissertation "De natura poenarum secundum ius canonicum" (Berlin 1860) anregte. 1865 findet der Gerichtsassessor Arbeit im Handelsministerium, erarbeitet den Entwurf einer Strandungsordnung (1874 Reichsgesetz), fühlt sich aber mehr zur Wissenschaft hingezogen und habilitiert sich deshalb 1866 an der Berliner Universität für Römisches Recht und Zivilprozeß, den er aber spä157

Smend, Zur Geschichte der Berliner Juristenfakultät im 20. Jahrhundert, in: Studium Berolinese, S. 109ff. (128).

158

Zitiert nach Liebmann (Hrsg.), Die Juristische Fakultät der Universität Berlin, S. 159.

159 Vgl. zu den biographischen Daten: Schollmeyer, Zur Erinnerung an Emst Eck, in: 43. Jahresbericht der Jur.Ges. (1901/02), S. 68 - 76; zur Leistung als Lehren Kahl, in: Liebmann, a.a.O., S. 159.

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Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

ter ganz zur Seite lassen wild. Nach seiner Ernennung zum außerordentlichen Professor 1871 beginnt Ecks "Siegeszug" durch die deutschen Universitäten: 1872 finden wir ihn als Ordinarius in Gießen, 1873 in Halle, 1877 in Breslau, ehe er 1881 nach Berlin zurückkehrt, um gemeinsam mit Alfred Pernice die Nachfolge des Pandektisten Carl Georg Bruns anzutreten. Von hoher charakterlicher Integrität, mit feinem Humor und schauspielerischen Talenten ausgestattet findet er bald zahlreiche Freunde unter seinen Kollegen, um deren Förderung er selbstlos und unvoreingenommen bemüht ist. Seine juristische Veranlagung war nach Schollmeyer eine "vorzugsweise kritische"160, wie seine bekannte, der Gesellschaft vorgetragene Kritik an der Stellung des Erben nach dem ersten BGB-Entwurf glänzend belegt. Während sich Pernice als echter Jünger der Historischen Schule vorwiegend an rechtshistorische Arbeiten macht, ihn selbst die Dogmengeschichte wenig interessiert, ist für Eck die Rechtsgeschichte nie Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck; jeder Rechtssatz wird auf seine praktische Brauchbarkeit geprüft, abgestorbene Institute ohne praktische Ausläufer interessieren ihn wenig. Herausragend ist Ecks Bedeutung als meisterhafter Redner und Lehrer, Generationen von Studenten haben ihren zivilistischen Verstand in seiner berühmtesten Vorlesung "Die Entscheidung ausgewählter Rechtsfälle" geschult. So kann es nicht verwundern, daß Eck die Aufgabe übernimmt, nach der Publikation des BGB juristischen Berufskreisen zur schnelleren Orientierung eine Einführung in das neue Recht zu geben. Bei den Bemühungen um die Juristenausbildungsreform 1897 vertritt er aber vehement die Auffassung, daß die Darstellung und Lehre des Römischen Rechts nicht zu sehr in den Hintergrund treten dürfe, sonst werde es in einem Fach, in welchem die deutsche Jurisprudenz im 19. Jahrhundert durch die Verdienste Savignys und der Historischen Schule Weltgeltung erlangt habe, bald an geeignetem Nachwuchs fehlen. Neben Ecks bedeutender Lehrtätigkeit tritt das schriftstellerische Werk et160

Schollmeyer, a.a.O., S. 70.

Von der ReichsgrUndung bis 1914

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was zurück. Erwähnt seien hier: "Über die Verpflichtung des Verkäufers zur Eigentumsgewährung nach Römischem und Gemeinem Recht" (1874), "Das gesetzliche Pfand- und Vorzugsrecht des Vermieters bei seiner Anwendbarkeit auf die unpfändbaren Sachen" (1880) und seine Kritik an der Stellung des Erben nach dem ersten BGB-Entwurf (1890). Namentlich seine Ideen zur Beschränkung der Verfügungsbefugnis des provisorischen Erben, zur Erbengemeinschaft als Gesamthandsgemeinschaft und zur Abzugseinrede des Erben bei Unzulänglichkeit des Nachlasses haben Eingang in den zweiten Entwurf gefundeniei. Vor der Juristischen Gesellschaft, deren zweiter Vorsitzender er lange Jahre war, hat Eck mehrfach referiert, neben Vorträgen über das neue bürgerliche Recht unter anderem zur Erinnerung an Ihering und Windscheid.

Wilke, von Wilmowski, Lesse und Levy Eine prägende Rolle im Vereinsleben hat seit der Gründung die Berliner Anwaltschaft gespielt. Einige hervorragende Vertreter ihres Standes seien deshalb als Mitgestalter der Gesellschaftsgeschicke erwähnt. Richard Wilke galt als einer der angesehensten Anwälte Berlins162, war Schriftführer des Juristentages und seit 1891 Mitglied der zweiten BGBKommissioni«. Zu seinem 50jährigen Dienstjubiläum überreichte ihm Kahl auf dem 25. Juristentage zu Bamberg 1900 das Ehrendoktordiplom der Berliner Fakultät. Gustav Carl Adolf v. Wilmowski zählte zu den bekanntesten und beliebtesten Persönlichkeiten in der deutschen Juristenwelt16*. 1818 in Paderborn geboren, studierte er in Berlin und Bonn, wurde 1844 Richter in Wollstein, 1849 Rechtsanwalt und Notar in Schlawe (Pommern); 1869 ist er in Breslau und ab 1873 in Berlin in dieser Funktion tätig. 1871/72 als Mitglied der Bundesratskommission zur Beratung der ZPO wirkend, wird der Zivilpro161

Schollmeyer,a.a.O., S. 75f.

162 Weißler, Geschichte, S. 554. 163

Ostler, Die deutschen Rechtsanwälte 1871 - 1971, S. 50.

im Weißler, Geschichte, S. 565.

102

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

zeß zu seinem Feld. Gemeinsam mit Levy gibt er einen ZPO-Kommentar heraus, der sich in der Praxis durchsetzt und dessen Einfluß auf die Rechtsprechung Weißler mit dem Einfluß von Windscheids Pandekten auf die gemeinrechtliche Praxis vergleicht165. 1889 - 1891 ist er Vorsitzender des Deutschen Anwaits Vereins. Von Wilmowski stirbt 1896. Theodor Lesse (geb. 1827 in Danzig, gest. 1904 in Berlin)^ zunächst Kreisrichter in Thorn, ab 1869 Rechtsanwalt und Notar in Berlin, war wie viele seiner Kollegen neben der Anwaltstätigkeit als Politiker aktiv (1866 1870 Landtagsabgeordneter, 1867 - 1874 Reichstagsabgeordneter, zuletzt für die nationalliberale Partei Laskers). 1893 übernahm er den Vorsitz der Berliner Anwaltskammer, 1900 ernannte ihn die Juristenfakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität zum Ehrendoktor. Meyer Levy (geb. 1833 in Wollstein, ermordet von "jugendlichen Räubern"'«'' 1896 in Berlin) konnte nur mit Mühen die Kosten des Jurastudiums aufbringen und wurde nach mehrjähriger Assessur Rechtsanwalt und Notar in Fraustadt. Seit 1872 in Berlin tätig, gehörte er zu den publizistisch erfolgreichen Advokaten, neben dem schon erwähnten ZPO-Kommentar (gemeinsam mit von Wilmowski) plante er eine umfassende Kommentierung des BGB, deren Erscheinen durch sein gewaltsames Ende verhindert wurde.

3.5.

Strafrechts- und Strafprozeßreform 1909 - 1913

Die Gesellschaftswirksamkeit in der Phase von 1909 - 1913 ist wesentlich von den Reformbemühungen auf dem Gebiet des materiellen Strafrechts und des Strafprozesses geprägt. Elf Vorträge erschließen die Bandbreite der Arbeiten. Legalitätsprinzip (von Liszt 1909), Vergleich mit den Schweizerischen Strafgesetzbuchentwürfen (von Overbeck 1909), Gesamtcharakterisierung der notwendigen Reformen (Kahl 1909), Maßstab des Strafrichters

165

Weißler, Geschichte, S. 565.

i « Weißler, Geschichte, S. 554. i«7 Weißler, Geschichte, S. 555.

Von der Reichsgründung bis 1914

103

(von Liszt 1910), Strafensystem (Aschrott 1910), Trunkenheit und Trunksucht (Kahl 1911), Kritik an den Ergebnissen der Strafgesetzbuchkommission (Ohlshausen 1912) mögen als Beispiele dienen168. Bereits 1902 hatten die Berliner Rechtslehrer und Vereinsmitglieder von Liszt und Kahl in einer Erklärung die Möglichkeit und Notwendigkeit praktischer Reformarbeit unter Zurückstellung des bekannten Schulenstreits (Binding - von Liszt) gefordert'«, im gleichen Jahr berief Nieberding (Reichsjustizamt) eine freie wissenschaftliche Kommission aus acht Professoren (von Birkmeyer, von Calker, von Hippel, Frank, Kahl, von Lilienthal, von Liszt, Wach), um eine rechtsvergleichende Darstellung aller in Betracht kommenden Strafrechtsmaterien zu erstellen und auf dieser Basis Vorschläge für die deutsche Gesetzgebung herauszuarbeiten. Unter Beteiligung nahezu aller deutscher Strafrechtslehrer wurde bis 1909 die "Vergleichende Darstellung des Deutschen und Ausländischen Strafrechts" in 16 Bänden abgeschlossen, "eine unübertreffliche Fundgrube für gründlichste Orientierung über alle wesentlichen Fragen, die die Reform des Strafrechts betrafen"™. Ebenfalls 1909 legte eine Kommission von fünf praktischen Juristen einen "Vorentwurf zu einem neuen deutschen Strafrecht" mit zweibändiger Begründung vor, der zwischen der klassischen (durch Betonung des Vergeltungscharakters der Strafe) und der modernen Strafrechtsschule (in Ergänzung des Strafensystems durch sichernde und bessernde Maßnahmen) zu vermitteln suchte. Zur Förderung der Weiterarbeit legten von Liszt, Kahl, Goldschmidt und von Lilienthal 1911 einen Gegenentwurf vor^i, bevor eine von 1911 - 1913 unter Beteiligung und ab 1912 unter Vorsitz Kahls tagende Kommission einen "Kommissions-Entwurf1 erstellte, dessen Ergebnisse Ohlshausen im April 1912 vor der Juristischen Gesellschaft wür-

168

Tagungsorte in dieser Zeit: Grand Hotel Excelsior und ab Oktober 1912 das neue Anwaltshaus, Schöneberger Ufer 40, Ecke Blumeshof 17.

" » Vgl. Schmidt, Einführung, S. 394. no Schmidt, Einführung, S. 395. 171 Schmidt, Einführung, S. 396.

104

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

digte17?, wobei er vor allem die Systematik des Allgemeinen Teils, die Regelungen über die Haft, das Arbeitshaus, die Einschließung, die Gegenüberstellung von Haupt- und Nebenstrafe und die Einbeziehung strafrechtlicher Nebengesetze kritisierte, während er die Vorschriften über die Geldstrafe, die SchuldausschließungsgrUnde, das Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen, die Strafzumessung und Veijährung positiv hervorhob. In der Diskussion verteidigte Kahl den Entwurf, während Goldschmidt die Vorschriften Uber den Rechtsirrtum für verfehlt erachtete'73. Nach dem Abschluß der Kommissionsarbeiten brach der Sturm des 1. Weltkrieges los, mehr als eine Unterbrechung der Reformbemühungen, denn die politischen und sozialen Umwälzungen, die er nach sich zog, bedingten das Scheitern einer umfassenden kodifikatorischen ReformΠ4. Ein von Nieberding initiierter Versuch einer Gesamtreform des Strafprozesses war bereits 1909 durch Nieberdings Rücktritt und das Ende der Legislaturperiode, welches eine dritte Lesung des im Reichsjustizamt ausgearbeiteten Entwurfes verhinderte, gescheitertes. Die zeitgleiche Rezeption der Arbeiten am Strafrecht durch die Gesellschaft macht deutlich, daß das Vereinsforum den Reformern dazu diente, die Kommissionsarbeiten einem Publikum aus Wissenschaft und Praxis unmittelbar vorzustellen und von diesem kritisch analysieren zu lassen, so wenn Kahl im Anschluß an Ohlshausens Referat bemerkt, "den Mitgliedern der Kommission sei jede Kritik überaus angenehm. Insbesondere werden Sie für die heutige Beurteilung durch den Herrn Vortragenden ihm sehr dankbar sein"176.

172

54. Jahresbericht der Jur.Ges. (1912), S. 17 - 22; in dieser Sitzung beschloß die Ges. eine Satzungsänderung, nach der das Geschäftsjahr mit dem Kalendeijahr zusammenfiel (§ 21 der Statuten, ia.O. S. 17).

173 54. Jahresbericht der Jur.Ges. (1912) S. 22. 17* Schmidt, Einführung, S. 397. 175 Schmidt, Einführung, S. 414. 17« 54. Jahresbericht der Jur.Ges. (1912), S. 22.

Von der Reichsgründung bis 1914

3.6.

105

Verwaltungsdilemma

Die Gesellschaft beschäftigte sich auch stets mit kommunalpolitischen und berlinspezifischen Fragen. Die Verwaltungsstruktur Berlins, welches im 19. Jahrhundert rasch vom Exerzierplatz zur Welt- und Industriestadt gewachsen war, erwies sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts als völlig unzureichend, was eine einheitliche Verkehrs- und Stadtplanungspolitik äußerst erschwerte177. Es fehlte an einer Steuerung durch eine übergeordnete kommunalpolitische Instanz, denn auch die preußischen Landes- und Provinzialbehöiden nahmen diese Aufgaben in Folge von Kompetenzzersplitterung kaum wari7'. Die im ganzen ziemlich desolate Verkehrslage und die angestrengte Wohnungssituation führten zu Forderungen von Seiten der Stadtplaner nach durchgreifenden Verbesserungen unter Einbeziehung des Berliner Gesamtraums. Diesen Forderungen versuchte man mit dem Zweckverbandgesetz vom 19. Juli 1911 nachzukommen, welches den Zusammenschluß von Städten, Gemeinden, Gutsbezirken, Bürgermeistereien, Ämtern und Landkreisen zur Erfüllung einzelner kommunaler Aufgaben zuließ und als Rahmenregelung vor allen Dingen auf den Raum Groß-Berlin zielte, für den am 1. April 1912 ein "Zweckverbandgesetz für Groß-Berlin" in Kraft trat. Hier wurden die Stadtkreise Berlin, Charlottenburg, Wilmersdorf, RixdorfNeukölln, Lichtenberg und Spandau und die Landkreise Teltow sowie Niederbarnim zu einem Zweckverband zusammengefaßt, mit den Aufgaben, den öffentlichen Schienenverkehr mit Ausnahme der Staatseisenbahn zu regeln, sich an der Feststellung von Fluchtlinien und Bebauungsplänen für das Verbandsgebiet zu beteiligen, an dem Erlaß von Baupolizeiverordnungen mitzuwirken sowie größere unbebaute Flächen (Wälder, Parks, Wiesen, Seen, Sport- und Spielplätze) zu erwerben und zu erhalten. Der Zweckverband verfügte als Körperschaft des öffentlichen Rechts nach dem Rahmengesetz über die obersten Organe eines von den jeweiligen 177

Erbe, Berlin im Kaiserreich (1871 -1918), in: Ribbe (Hrsg.), Geschichte Berlins, Bd. 2, S. 732 - 754.

178 Erbe, a.a.O., S. 745.

106

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

kommunalen Vertretungskörperschaften gewählten Verbandausschusses und eines Verbandsvorstehers, in Groß-Berlin zusätzlich einer Verbandsversammlung sowie eines Verbandsdirektors17'. Die kritische Beurteilung des Zweckverbandgesetzes für Groß-Berlin durch den Neuköllner Stadtrat Glücksmann vor der Juristischen Gesellschaft180 (juristisch-technisch mangelhaft, ungenügende Kompetenzen auf dem sozialpolitischen Sektor) wurde durch die Praxis bestätigt: Der Zweckverband war nur eine notdürftige Kompromißlösung einer notwendigen umfassenden Verwaltungsreform und hat verhältnismäßig wenig bewirkt. Immerhin ist seiner Tätigkeit die außerordentliche Ausdehnung von Waldflächen im Berliner Stadtgebiet zu verdanken. Auch bei der Vereinheitlichung der Straßenbahngesellschaften konnte einiges erreicht werden. Als äußerst schwierig erwies sich die Lösung eines keineswegs auf die Gegenwart beschränkten kommunalen und sozialen Problems: der Wohnungsfrage. Insbesondere die prekäre Lage des seit der Gründerzeit stetig wachsenden Industrieproletariats verschärfte die Situation auf dem Berliner Wohnungsmarkt. Im Jahre 1905 waren 5 % aller Wohnungen übervölkert181. Ausführlich schilderte Staatssekretär a. D. Dernburg 1912 der Gesellschaft die erzieherischen, hygienischen, ökonomischen und sozialen Konsequenzen einer desolaten Wohnungssituation. Demburg war auch Referent einer Großveranstaltung in der Neuen Welt Hasenheide am 3. März 1912 (neben Oberbürgermeister Dominicus u. a., "Was erwarten wir vom Zweckverband?"; das Plakat für diese Veranstaltung hatte Käthe Kollwitz gestaltet1«). Ökonomisch betrachtet hatte das unbefriedigende Wohnungswesen für die Lebenshaltung der minderbemittelten Klassen die schwerstwiegenden Nachteile. 1905 besaß Berlin ca. 1 Mio. Wohnungen, 600 000 Menschen

179

Erbe, a.a.O., S.749f.

·«> 53. Jahresbericht der Jur.Ges. (1911/12), S. 88. 181

Dernburg, Groß-Berlin und das Wohnungsgesetz, in: 54. Jahresbericht der Jur.Ges. (1912), S. 31 - 4 3 (33).

182

Abgedruckt bei Demps u.a., Geschichte, S. 519.

Von der Reichsgründung bis 1914

107

lebten zu fünft oder mehr in einem R a u m i r a . Auch für geringere Ansprüche waren die meisten Wohnungen zu teuer: Für 1906 hatte das Statistische Amt Schöneberg berechnet, daß bei einem Einkommen bis 2100 Mark 3/4 der untersuchten Wohnungen mehr als 24 % des Einkommens und 1/4 mehr als 34 % kosteten184. Dernburg sah zwei Aufgaben für den Gesetzgeber: 1.

Milderung und schließlich Beseitigung der in den Zuständen liegenden Übel im Wege der Wohnungspflege.

2.

Zukünftige Vermeidung der erkannten Übel als Auftrag des Städtebaus.

Der Entwurf des Zweckverbandgesetzes für Berlin hatte die Förderung des Kleinwohnungswesens dem Zweckverband überwiesen, doch ist dieser Plan in der endgültigen Fassung gefallen. Dernburg schlußfolgert: "Der Reichsleitung und den Bundesstaaten ist es gelungen, dem deutschen Arbeiter Sicherung gegen Krankheit und Unfall, Invalidität und die Folgen des Verlustes des Ernährers zu verschaffen, die wirtschaftliche Entwicklung hat ihm gute Löhne und verhältnismäßig sichere Beschäftigung gebracht, die gesunde Wohnung und den eigenen Kleinbesitz ist man ihm noch schuldig! Wo ein Wille ist, da ist ein Weg. Und gerade in Groß-Berlin ist eine unvergleichliche Gelegenheit, diesen Weg auf nunmehr gesicherter Grundlage und als ein Zeichen kommunalen Gleichsinns und staatlicher Voraussicht mit Erfolg zu betreten. Darf ich Sie bitten, so weit ich Sie überzeugt habe, in Ihrer fuhrenden Stellung, all' denen mitzuhelfen, die diese Wege zu ebenen bestrebt sind!!"185 Demburgs Ausführungen und sein Schlußappell belegen erneut, daß die großen sozialen Fragen der Zeit von der Juristischen Gesellschaft erkannt und aufgegriffen wurden und daß man am Vorabend des vieles vereitelnden Weltkrieges bemüht war, legislatorische Maßnahmen zur Lösung der Probleme zu ergreifen. Angemerkt sei hier aber, daß es den konservativen Kräften dabei auch um die Eindämmung der sogenannten "roten Flut" ging. 183

Demps u.a., Geschichte, S. 518.

184

Dernburg, in: 54. Jahresbericht der Jur.Ges. (1912), S. 35.

185

Dernburg, a.a.O. S. 42.

108

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

Im Berlin der Vorkriegszeit verfugte die Sozialdemokratie sowohl bei den kommunalen wie auch bei den Reichstagsmandaten über große Mehrheiten. Berlin wird zwischen 1871 und 1914 zu einer Stadt der Wissenschaften, was sich nicht nur in den bekannten Fortschritten der naturwissenschaftlichen Forschung spiegelt: Die Zahl der immatrikulierten Studenten ζ. B. wuchs von 4 890 im Sommersemester 1900 auf 7 837 im Sommer 1913 (seit 1908/09 waren auch Frauen zur Immatrikulation zugelassen)!8«. Vor 1914 wirken über 700 wissenschaftliche Gesellschaften in der Metropole des wilhelminischen Reichs. Die Haupttätigkeit der metropolitanen Juristenassoziation in dieser Phase lag in der kritischen Analyse der großen Kodifikationsanstrengungen der ersten Jahrzehnte des Kaiserreichs und der alsbald folgenden Reformen, weniger - aber noch vereinzelt zu konstatieren - in der unmittelbaren Anregung legislatorischen Eingreifens. Neben der hier bedeutenderen Wirksamkeit des Deutschen Juristentages tritt der Einfluß des Juristenvereins etwas zurück, ohne jedoch jemals auf bloße kommunale Ebene begrenzt zu sein. Zu übeiTagend ist die Rolle der Juristenelite Berlins, die sich unter der Ägide Richard Kochs nahezu vollständig in der Juristischen Gesellschaft versammelte, um den als überaus wichtig empfundenen Kontakt zwischen Wissenschaft und Praxis herzustellen und zu vertiefen. Kaum ein rechtshistorisch bedeutsames Ereignis der Zeit blieb im Gesellschaftsforum undebattiert, wenn auch für die Bismarckära weiterhin eine Zurückhaltung bei eminent politischen und verfassungsrechdichen Themen zu bemerken ist.

186

Demps u.a., Geschichte, S. 516.

Die Gesellschaftstätigkeit in den Kriegsjahren 1914 bis 1918

4.1.

"Vorboten"

Die unmittelbaren Vorboten des 1. Weltkrieges zeigen sich in einem Referat über "Wehrbeitrag und Besitzsteuer" im Januar 1914 vor der Juristischen Gesellschaft, welches neben Niemeyers Bericht über die Londoner Seekriegskonferenz (Januar 1910) das einzige Zeugnis der Rezeption der außenpolitischen Krisen der letzten Dekade vor dem Kriegsausbruch durch den Berliner Juristenverein darstellt. Zwar hatte in der Balkankrise 1912/131 der allgemeine Friede erhalten werden können, die Kriegsgefahr zwischen Rußland und Österreich-Ungarn im Spätherbst 1912 führte jedoch zu einer erheblichen Verstärkung der Rüstungsanstrengungen der genannten Mächte sowie Deutschlands, Frankreichs und Englands (Wettrüsten 1912 - 1914). Deutschland reagierte auf die russische Heeresvermehrung mit einer Wehrvorlage im Sommer 1913, durch die das deutsche Landheer bis 1915 um 136000 Mann verstärkt werden sollte2. Zur Finanzierung bewilligte das Parlament im Wehrbeitrag eine einmalige außerordentliche Abgabe von über einer Milliarde Mark und daneben im Besitzsteuergesetz, in der Reichsstempelnovelle, der Erhöhung der Kollateralerbschaftssteuer und dem endgültigen Verzicht auf die Ermäßigung der Zuckersteuer eine dauernde Mehrbelastung von über 150 Millionen Mark. Der Geheime Regierungsrat Dr. Hoffmann beurteilt diese Steuermaßnahmen vor der Gesellschaft mit Rücksicht auf den "Opferwillen des deutschen Volkes" weitgehend positiv3. Die politischen Hintergründe klingen im Referat mehrfach an, so wenn Hoffmann auf die bedrohlichen weltpolitischen Spannungen verweist und fortfährt: "...Durch die Opfer der neuen Abgaben

1

Vgl. dazu Born, Von der Rekhsgründung bis zum I.Weltkrieg, in: Gebhardt, Handbuch der Deutschen Geschichte, Bd. 3, S. 373.

2

Born, a.a.O., S. 373.

3

56. Jahresbericht der Jur.Ges. (1914), S. 21 - 42.

110

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

galt es, den notwendigen Schutz unserer Grenzen zu verstärken und den Gedanken der allgemeinen Wehrpflicht in erweitertem Maase zu verwirklichen'·... Die Bewilligung dieses Wehrbeitrages zur Deckung der gewaltigen einmaligen Heeresausgaben wird in unserer Finanzgeschichte immer ein monumentales Ereignis bleiben. Erst der Schreck über die Höhe des militärischen Deckungsbedarfs und dann die Einfachheit der Lösung der Deckungsfrage hat mit der Wucht einer Naturnotwendigkeit gewirkt'...Ein grosses und mächtiges Volk wie das deutsche trägt das Gesetz des Wachstums in sich. Es wird sich Luft und Licht für sein Leben allein durch sein natürliches Wachstum sichern, wie ein kräftiger Baum, der das ihm feindliche Unterholz erstickt. Die Kraft dazu aber muss es aus seinem eigenen Boden schöpfen. Gross kann nur ein opferbereites Volk sein!"« Die markigen Worte Hoffmanns sind ein gutes Beispiel für den Ton der Zeit, der auch die intellektuellen Schichten beherrschte.

4.2.

Nach dem Kriegsausbruch

Die dramatischen Ereignisse (Ermordung des österreichischen Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 in Sarajevo), die letztlich zur Bekanntmachnug des Kriegszustandes (31. Juli 1914) und zur Mobilmachung (1. August) führten, ereigneten sich in den Wochen, in denen die Juristische Gesellschaft satzungsbedingt keine Sitzungen durchführte. Am 4. August hielt Wilhelm Π. seine bekannte, vom Reichskanzler verfaßte Thronrede vor dem im Weißen Saal des Berliner Stadtschlosses versammelten Reichstag: "Hier wiederhole ich: Ich kenne keine Partei mehr, Ich kenne nur Deutsche."7 Die anschließenden Szenen belegen, daß der Kaiser, dessen Verhältnis zu seiner Hauptstadt ansonsten gespannt war, sich in den Augusttagen des Jahres 1914 auf dem Höhepunkt seiner Popularität be-

4

56. Jahresbericht der Jur.Ges., S. 22.

5

56. Jahresbericht der Jur.Ges., S. 28.

6

56. Jahresbericht der Jur.Ges., S. 41.

7

Zitiert nach Huber, Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2, 2. Aufl., S.455.

Die Kriegsjahie 1914 bis 1918

111

fand8. Von Oktober 1914 bis November 1918 widmen sich die vom Vorstand ausgewählten oder von den Referenten vorgeschlagenen Vorträge nahezu ausschließlich den Themenbereichen Einfluß des Krieges auf das Privat-, Sonderprivat-, Straf- und Öffentliche Recht, Kriegsgesetze und Kriegsrecht9. Auch das intellektuelle Berlin - Philosophen, Ökonomen, Juristen, Historiker, Theologen, Naturwissenschaftler, Schriftsteller und Künstler - unterstützte weitgehend die Kriegspolitik des Reichs, wie es im "Aufruf an die Kulturwelt" (Oktober 1914) zum Ausdruck kamio. Stellvertretend für die Stimmung in der Juristischen Gesellschaft kann ein Vortrag ihres Vorsitzenden O. v. Gierke im Lehrerhausverein in Berlin zum Thema "Krieg und Kultur" zitiert werden: "...und doch begrüßen wir den Krieg als ein durch göttliche Fügung gesandtes Heil. Dieser gewaltige Kulturzerstörer ist auch ein mächtiger Kulturbringer. Dem sittlich gesunkenen Frankreich, dem schnöden Mißbrauch mit seiner Seemacht treibenden England, dem vom Panslawismus träumenden Rußland wird ein Ende bereitet. Die Saat des Krieges wird aufgehen im Morgenrot eines neuen Zeitalters alter deutscher Kultur..."n Nachdenklicher werden Gierkes Worte bei der Gedächtnisfeier der Jur.Ges. für Heinrich Brunner am 8. Januar 1916 klingen: "In schweigendem Ernst beugen wir uns vor der ehemen Notwendigkeit, die so viele...dahinrafft und so unendlich reiche Zukunftshoffnungen...schonungslos vernichtet..."!2 Am 10. Oktober 1914 läßt Gierke die Gesellschaft den Eroberer von Antwerpen, General von Beseler, Sohn des Rechtslehrers und Bruder des Justizministers, feiern. Der Vorstand zeichnet 15.000 Mark Kriegsanleihe und überweist der Nationalstiftung für die Hinterbliebenen der Kriegsgefal8

Erbe, Beiiin im Kaiserreich (1871 - 1918), in: Ribbe (Hrsg.), Geschichte Berlins, Bd. 2, S. 791.

®

Vgl. Anhang 1 dieser Arbeit

ι0

Vgl. Demps u.a., Geschichte Berlins, S. 532.

11

Zitiert nach: Der Tagesspiegel vom 1. Oktober 1989, S. 43.

12 58. Jahresbericht der Jur.Ges. (1916), S. 19.

112

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

lenen 4000 Mark sowie dem Generalinspekteur der freiwilligen Krankenpflege 2000 Mark in 4% Preussischen Konsols 13 . Prof. Paul Oertmann (Erlangen) spricht in dieser Sitzung über "Den Einfluß des Krieges auf das private Vertragsrecht", insbesondere über Fragen von Unmöglichkeit und Verzug 14 . Welche Fallkonstellationen dabei herangezogen werden, belegt das folgende Beispiel aus dem Vortrag bezüglich §§ 324, 325 BGB: "...A hat das von ihm bisher mietweise bewohnte Haus ab 1. Oktober vom Vermieter Β gekauft. Das Haus wird inzwischen demoliert, weil entweder A oder Β aus seinen Fenstern auf Truppen geschossen oder das Schießen Dritter geduldet hat - ähnliche Fälle sollen ja leider im Obereisass und in Lothringen vereinzelt vorgekommen sein. Ersterenfalls hat der Gläubiger (A), letzterenfalls der Schuldner (B) die Leistungsunmöglichkeit zu vertreten."15 Einen Schwerpunkt der Vereinstätigkeit bilden bis 1917 die rechtlichen Probleme, welche sich aus den Auswirkungen des Krieges auf die Wirtschaft1« und die Staatsfinanzen ergaben: Hypothekenwesen (1914), Kredit, Kartelle, Einschränkungen der Verfügungen über Miet- und Pachtzinsen, Reichseinheit und Reichsfinanzen (1915), die vermögensrechtlichen Kriegsmaßnahmen der feindlichen Staaten, Reform des städtischen Realkredits (1916), Kriegssteuergesetz, Wucherbegriff und Stempelsteuerreform (1917) können als Stichpunkte dienen. Die Referenten begrüßen meist mit einleitendem nationalen Pathos die Maßnahmen der Reichsregierung und des Parlaments, nur vereinzelt wird Kritik in Detailfragen geäußert (ζ. B. von Strutz am Kriegs steuergesetz, Januar 1917>7). Zweifel an der Kriegspolitik des Reichs werden an keiner 13

56. Jahresbericht der Jur.Ges. (1914), S. 144.

14

56. Jahresbericht der Jur.Ges., S. 145 -161.

>5

56. Jahresbericht der Jur.Ges., S. 147.

16

Auch die Gesellschaft blieb hiervon nicht verschont: Seit Oktober 1917 ("Kohlrilbenw inter") entfiel das sich an die Vorträge anschließende gemeinsame Abendessen aus kriegswirtschaftlichen Gründen zugunsten eines "zwanglosen Beisammenseins bei einem Glase Bier", 59. Jahresbericht der Jur.Ges. (1917), S. 4.

"

59. Jahresbericht der Jur.Ges. (1917), S. 17 - 30.

Die Kriegsjahre 1914 bis 1918

113

Stelle laut Was zur Förderung der Kriegswirtschaft dienlich erscheint - z. B. Kartelle ("Auch sonst hat sich das Bestehen mächtiger Unternehmerverbände als ein Segen für das deutsche Kriegswirtschaftsleben erwiesen"18) wird rechtlich gutgeheißen. Nur ein Diskussionsteilnehmer - der Schriftführer der Gesellschaft A. Seligsohn - wagt es, auf eine für eine der feindlichen Kriegsparteien - England - nicht überaus negative Tatsache hinzuweisen: Er teilt im Anschluß an Kipps Vortrag über die Kampfgesetze Deutschlands und des Auslandes (Januar 19151») mit, daß die Nachrichten in der deutschen Presse bei Ausbruch des Krieges unzutreffend gewesen seien, wonach englische Patente und Warenzeichen, die Deutschen zustünden, ohne weiteres vernichtet worden wären*). Bei allen Angriffen auf die vermögensrechtlichen Kriegsmaßregeln der feindlichen Staaten (insbesondere Englands und Frankreichs) schlägt das Ehrenmitglied der Berliner Juristenvereinigung, der österreichische Justizminister Franz Klein, in seinem Vortrag vom 13. Mai 191621 im Hinblick auf spätere Friedensverhandlungen auch vorsichtigere Töne an:"...die Regeln, die...im Friedensvertrag zu vereinbaren wären, sollen derart sein, dass sich daraus allgemeine Völkerrechtsnormen entwickeln können, die der Herrschaft der Gerechtigkeit und der Achtung vor dem Wohle der anderen in dem Völkerverkehre einen Fussbreit neuen Boden zu erobern imstande sind."22 Freilich geht Klein noch von einem Sieg der Mittelmächte aus. Seine Hoffnungen für den Friedensvertrag erfüllten sich in Versailles nicht.

4.2.1.

"Geheimkonferenzen"

Zwei Referate der Kriegszeit wurden auf Wunsch der zuständigen Behörden 18

Hechtheim, Krieg und Kartelle, in: 57. Jahresbericht der Jur.Ges. (1915), S. 69 - 81 (70); etwas kritischer Eyck in der Diskussion, a.a.O., S.80.

1» 57. Jahresbericht der Jur.Ges. (1915), S. 20-44. 20 2

'

22

57. Jahresbericht der Jur.Ges., S. 43. 58. Jahresbericht der Jur.Ges. (1916), S. 81 - 97. 58. Jahresbericht der Jur.Ges., S.95f.

114

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

entgegen dem usus der Juristischen Gesellschaft weder in juristischen Periodika noch in den Jahresberichten des Vereins publiziert: Dr. Schachian (damals bei der Kommandantur Berlin) am 8. Mai 1915 über "Die Gewalt des Militärbefehlshabers während des Belagerungszustandes. Ihre Einwirkung auf die öffentlichen und privaten Rechte der Bürger"23 und Dr. A. Friedmann über "Das Kriegsrecht in der Praxis der Feldgerichte"24. Ziel der NichtVeröffentlichung dürfte gewesen sein, eine breitere Öffentlichkeit nicht mit (geheimen) Details aus diesen heiklen Themenbereichen zu beunruhigen, während die betroffenen Behörden wohl vom Stillschweigen der durchweg patriotischen, in der Gesellschaft versammelten Juristenelite ausgingen. Eine ähnliche Bitte - Ausschaltung der Presse - äußerte in den zwanziger Jahren nochmals A. Friedmann, der 1928 über den "Dawes-Plan" (1924, Lösung des Reparationsproblems unter amerikanischer Beteiligung durch Rückführung auf das wirtschaftlich Mögliche) sprechen wollte2'. Grundsätzlich bemühte sich die Gesellschaft um möglichst große Publizität, viele Vorträge auch der Kriegszeit kamen - teilweise auszugsweise - in juristischen Fachzeitschriften (z. B. DJZ, DRiZ, JW) zum Abdruck. Die Themen und Termine der Veranstaltungen wurden übrigens in folgenden Tageszeitungen veröffentlicht: Berliner Tageblatt, Vossische Zeitung (für die u. a. Mitglieder der Ges. berichteten), Deutsche Allgemeine Zeitung, Berliner Lokal Anzeiger2*.

4.2.2.

"Keime künftiger Rechtsentwicklungen"

In den Jahren 1917 und 1918 veranstaltete die Berliner Juristenassoziation 23

57. Jahresbericht der Jur.Ges. (1915), S. 87.

24

58. Jahresbericht der Jur.Ges. (1916), S. 61.

25

Schreiben an den damaligen Schriftführer Hagelberg vom 15. 3. 1928, Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR, Akten der Schriftführer der Jur.Ges. 1927 1933, Bd. 17, Bl. 90; der Vortrag fand infolge Erkrankung Friedmanns nicht statt

26

Belegt flir die zwanziger Jahre in den Akten der Schriftführer der Jur.Ges., Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR, ζ. B. Bd. 6, nicht einheitlich paginiert (B1.4 für Januar 1927).

Die Kriegsjahre 1914 bis 1918

115

eine Veranstaltungsreihe Uber die "Keime künftiger Rechtsentwicklung im Kriegsnotrecht" (Privat-, Straf-, Zivilprozeß-, und Konkursrecht), aus der nur das Referat von Ministerialrat Karl Meyer (Strafrecht, Dezember 1917) in einem längeren Vereinsprotokoll dokumentiert ist, denn Oertmanns Vortrag (Privatrecht, Oktober 191727) wurde im Wortlaut in "Krieg und Wirtschaft" (1917, S. 214ff.) abgedruckt, und über die Vereinsjahre 1918 bis 1924 erschienen infolge der wirtschaftlichen Krisen, die auch die Juristische Gesellschaft trafen, keine gesonderten Jahresberichte28, sondern lediglich eine Zusammenfassung der Themen im Bericht für 192529. Meyer sieht keine "übermässige Ausbeute aus unserer strafrechtlichen Kriegsgesetzgebung"30, sondern gibt resümierend der - letztlich vergeblichen - Hoffnung auf eine allgemeine Strafrechtsreform in Friedenszeiten, ein neues modernes, den Interessen der Staatsverwaltung, Rechtspflege, Wissenschaft und des ganzen Volkes dienendes Strafgesetz, Ausdruck3'. Oertmann lehnt die Entwicklung und Festschreibung eines besonderen Kriegsprivatrechts ab, will den richterlichen Zahlungsaufschub in das Friedensrecht übernommen wissen und plädiert, wie auch andere Referenten der Gesellschaft32, für die Abschaffung der kriegsbedingten Einigungsämter für die Verhältnissse der Grundbesitzer und Mieter33. Einigungsämter entstanden teilweise aus der Kriegswohlfahrtspflege heraus, wie ζ. B. im Bereich des Mietrechts (VO vom 15. 12. 1914, erweitert durch VO vom 26. 7. 1917). Hier konnte das Einigungsamt auf Antrag des Mieters einer Kündi-

27

59. Jahresbericht der Jur.Ges. (1917), S. 88f., hier lediglich eine kurze Zusammenfassung durch den protokollierenden Schriftführer, der Üblicherweise nicht den Vortrag zu stenographieren hatte, der von den Referenten schriftlich eingereicht wurde.

28

60 - 67. Jahresbericht der Jur.Ges (1918 - 1925), S. 5.

»

60 - 67. Jahresbericht der Jur.Ges., S. 5 -14.

»

59. Jahresbericht der Jur.Ges. (1917), S. 97 -115 (112).

"

59. Jahresbericht der Jur.Ges., S. 115.

32

Heilberg im Referat über den Zivilprozeß (12. Januar 1918), in: JW 1918, S. 126; Eyck im Referat über Schiedsgerichte und Einigungsämter (9. März 1918), in: JW 1918, S. 21 lf.

33

59. Jahresbericht der Jur.Ges., S. 88f. (89).

116

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

gung aus sozialen Gründen widersprechen und den Mietzins bestimmen34. Wie von Eyck in der Diskussion im Anschluß an Oertmanns Vortrag vorausgesehen35, bestanden die Mieteinigungsämter allerdings nach dem Kriege unter neuen sozialpolitischen Aspekten fem (Gesetz Uber Mieterschutz und Mieteinigungsämter vom 1. 6. 1923 und seine Vorläufer 36 ). Heilberg (Zivilprozeßrecht, Januar 1918 37 ) will die weitgehende Beseitigung der Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte zugunsten von Schiedsgerichten wieder beseitigt wissen, widerspricht einer generellen Ersetzung der kollegialen Gerichtsbarkeit durch den Einzelrichter und dem Ersatz des Urteilstatbestandes durch Bezugnahme auf die Schriftsätze der Parteien, befürwortet dagegen die Beschränkung der Rechtsmittel für kleinere Sachen sowie die Einführung einer Wertgrenze für die Zulässigkeit der Rechtsmittel. Am Ende gibt er der Hoffnung auf Beseitigung der Einschränkungen für Ausländer und Neubelebung des geistigen und wirtschaftlichen Verkehrs zwischen den Völkern nach dem Kriege Ausdruck. Die vor allem von Seiten der Anwaltschaft bekämpften Schiedsgerichte waren in verschiedenen Kriegswirtschaftsgesetzen vorgesehen, teilweise als Schiedsgerichte nach der ZPO. Wirtschaftliche Zentralorganisationen schrieben sie vielfach an Stelle der ordentlichen Gerichte vor (bedeutsam vor allem die Reichsgetreidestelle mit Schiedsgerichten über Getreide- und Mehllieferungen)3». Daneben gab es eine große Anzahl von Schiedsgerichten als rechtsprechende Behörden aufgrund von Bundesratsverordnungen (z. B. für Strick- und Schuhwaren) mit Preisfestsetzungsbefugnissen und dem Recht, im Streit zwischen Käufer und Verkäufer den angemessenen Gewinn festzusetzen. Die Referenten der Gesellschaft sahen in den kriegsbedingten Einigungsämtern eine Bedrohung des freien Marktes und in der großen Zahl der Schiedsgerichte die Gefahr der Aushöhlung der ordentlichen Gerichts34

Vgl. Ostler, Die deutschen Rechtsanwälte 1871-1971, S. 115.

35

59. Jahresbericht der Jur.Ges. (1917), S. 89.

36

Vgl. bei Nörr, Zwischen den Mühlsteinen, S. 91 f.

37

Heilberg, Keime künftiger Rechtsentwicklung im Kriegsnotrecht (Zivilprozeß), in: JW 1918, S. 126.

38

Vgl. Ostler, Diedeutschen Rechtsanwälte 1871 -1971, S. 114.

Die Kriegsjahre 1914 bis 1918

117

barkeit, weshalb man allgemein für die Aufgabe bzw. Einschränkung dieser Maßnahmen zu Friedenszeiten stimmte. Im letzten Kriegsjahr treten zum ersten Male zwei Referenten vor die Gesellschaft, die in der Weimarer Zeit die Wirksamkeit des Juristenvereins wesentlich mitgeprägt haben: Erich Eyck (Schiedsgerichte und Einigungsämter in der Kriegsrechtspflege, März 19183') und Max Alsberg (Das Kriegswucherproblem in Theorie und Praxis, April 1918*°), welche beide zu den weit über Berlin hinaus bekanntesten Vertretern der metropolitanen Anwaltschaft der zwanziger Jahre gehörten.

4.2.3.

Brest Litovsk und Versailles

Während die Fliedensverhandlungen mit Rußland (15. 12. 1917 Waffenstillstand, 22. 12. Beginn der Friedensverhandlungen in Brest Litovsk, 3. 3. 1918 Abschluß des Friedens von Brest Litovsk) noch von zwei Referenten der Juristischen Gesellschaft unmittelbar rezipiert werden (Bruns im Juni und Simons im Oktober 1918), wird der Frieden von Versailles (am 28. 6. 1919 unterzeichnet) erst 1920 (Wolff über die privatrechtlichen Bestimmungen) und 1921 (Wrzeszinski über seinen Einfluß auf das Steuerrecht) im Vereinsforum erörtert Der Vorstand, die Mitglieder und Vortragenden der Juristischen Gesellschaft wurden nach dem Ausbruch des 1. Weltkrieges von der gleichen nationalen Euphorie ergriffen wie fast die gesamte intellektuelle Elite des Kaiserreichs. Man "vergißt" die bis dahin stets gepflegten internationalen Beziehungen (mit Ausnahme der verbündeten Staaten), versteht den Juristen auch als rechtlichen Förderer der Kriegswirtschaft und wagt keine Kritik der Politik der Reichsregierung. Die Reformunwilligkeit der staatstragenden Parteien, insbesondere hinsichtlich der Wahlrechtsfrage - Anlaß der Teilradikalisierung der Sozialdemokratie und der Bevölkerung -, und die vorrevolutionären Versuche eines Umbaus der Verfassung durch Parlamentarisierung der Regierung und Übergang zu demokratischer Legitimität in den

39

JW 1918, S. 211f.

to

JW 1918, S. 414.

118

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

letzten Kriegsjahren werden nicht zum Thema gemacht, das Versagen auch des Juristenstandes in dieser Frage wird überdeutlich. An geeigneten Gesprächspartnern hätte es der Juristischen Gesellschaft nicht gemangelt, zählte sie doch etwa mit Bornhark, V. Bruns, Preuß, von Martitz und Triepel hervorragende Vertreter der Staats- und Völkerrechtswissenschaft sowie mit Delbrück, Drenke, Gündel, Lisko, Lucas, von Simson (Reichsjustizamt), Hefermehl, Jockwer, Mügel, Pistor und Thiesing (Justizministerium) einflußreiche Männer der Praxis zu ihren Mitgliedern. Erst die Geschehnisse während und nach der Revolution 1918/19 werden hier für ein Umdenken in den Reihen des Berliner Juristenvereins sorgen.

Die Zeit der Weimarer Republik

5.1.

Ausbruch der Revolution

Mit der Flucht des Kaisers und der Ausrufung der Republik durch Scheidemann am 9. November 1918 begann für Berlin die bis zu diesem Zeitpunkt unruhigste Phase seiner Geschichte. Bis zum Kapp-Putsch im März 1920 prägten Revolution und Bürgerkrieg, Schießereien und Massendemonstrationen, Streiks und Unruhen das Leben einer Stadt, die nun nicht mehr glänzende Metropole eines expandierenden Kaiserreichs, sondern ein von düsteren Ängsten und heftigen politischen Auseinandersetzungen geprägtes Häusermeer wari. Für den 9. November hatte die Juristische Gesellschaft eine Gedächtnisfeier für Laband und Sohm geplant, auf der der Leipziger Geheime Hofrat Prof. Richard Schmidt sprechen sollte2. Der Generalstreik hunderttausender Berliner Arbeiter und die Besetzung von Rathaus, Polizeipräsidium, Haupttelegraphenamt, Zeitungsverlagen, Reichstag und Bahnhöfen durch bewaffnete Truppen' machte ein solches Vorhaben natürlich unmöglich (auch der Eisenbahnverkehr nach Leipzig war eingestellt worden).

5.2.

Justizreform

Der erste Referent der Gesellschaft nach dem Ausbruch der Revolution beschäftigte sich mit einem Problem, das bereits in der Kriegszeit aktuell geworden war: Umgestaltung der Gerichtsverfassung (Reichsgerichtsrat Neukamp 14.12.1918). Anders als 1789 und 1848 haben allerdings Mißstände in der Justiz nicht zum Umsturz von 1918 beigetragen4, der die Rechtspflege 1

Köhler, Berlin in der Weimarer Republik (1918 - 1932), in: Ribbe, Geschichte Berlins, Bd. 2, S. 797.

2

Vgl. Anhang 1 dieser Arbeit

3

Vgl. Demps u.a., Geschichte Berlins, S. 550.

*

Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 146.

120

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

im wesentlichen unberührt gelassen hat, sieht man von vereinzelten Behinderungen der Gerichte durch Arbeiter- und Soldatenräte ab. Am 16.11.1918 erließ die sozialdemokratische Regierung Preußens einen Erlaß betreffend die Unabhängigkeit der Gerichte, der diese sicherstellen wollte und eine Vorlage von Gerichtsurteilen zur Genehmigung durch Arbeiter- und Soldatenräte für unzulässig erklärte5. Der Vortrag Neukamps nahm u.a. auf die Vorschläge des Unterstaatssekretärs im Reichsjustizamt und Direktors im Justizministerium, Miigel, Bezug. Mügel war aktives und einflußreiches Mitglied der Juristischen Gesellschaft. Der Vorstand griff bei der Themenauswahl häufig auf Anregungen aus dem Mitgliederkreis zurück, wie die erhaltenen Akten des letzten Schriftführers Hagelberg (1927 - 1933) belegen. Bereits 1917 war Mügel von Wilhelm II. mit der Vorbereitung einer landesrechtlichen Justizreform zur Vereinfachung und Verbilligung der Justizverwaltung beauftragt worden und hatte seine Pläne in einer Denkschrift vom 25.1.1918 zusammengefaßt, die er im Mai 1919 herausgab (ζ. B. in der Zivilrechtspflege: Aufhebung eines Großteils der preußischen Landgerichte, Übertragung des Erlasses von Zahlungsbefehlen auf den Urkundsbeamten, Schaffung eines besonderen Bagatellverfahrens; in der Strafrechtspflege: Übertragung der Strafvollstreckung in amts- und schöffengerichtlichen Sachen auf den Amtsanwalt, Einschränkung der Voruntersuchung bei weitgehendem Vollzug der Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft)«. Neukamp ging jedoch noch weiter: Nachdem die Revolution den deutschen Beamtenstaat wohl endgültig beseitigt habe (sie!), werde auch die Gerichtsverfassung diesem Gesichtspunkt Rechnung tragen müssen. Man müsse sich zu einer wesentlichen Erweiterung der Beteiligung von Volksrichtern entschließen. Der Fehler der damaligen Gerichtsverfassung sei das Übermaß von Instanzen''. Die Forderung, daß die Rechtsprechung durch vom Volk gewählte - und damit absetzbare - Richter erfolgen sollte, war im Erfurter Programm der 5

Kern, a.a.O., S. 146.

6

Kein, a.a.O., S. 145.

^

JW 1919, S. 24.

Die Zeit der "Weimarer Republik"

121

MSPD von 1891 vorgesehen*. In der Weimarer Nationalversammlung verwies Prof. Kahl (DVP) auf einen "Vortrag" des Berliner Rechtsanwalts Oscar Cohn (USPD), damals als Beigeordneter beim Reichsjustizamt tätig, vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, wonach man bei der Reform des Gerichtsverfassungsgesetzes vor der Unabsetzbarkeit der Richter nicht halt machen und die Volkswahl einführen wolle®. Kahl und Cohn waren zwar Mitglieder der Gesellschaft, Cohn hat jedoch nie vor ihr referiert. Kahl bezog sich auf einen Diskussionsbeitrag Cohns zu Neukamps Referat10. In der Diskussion war Gierke als Vorsitzender "in offensichtlich starker innerer Erregung"ii den Ausführungen Cohns entgegengetreten. Für die Volkstümlichkeit der Rechtspflege sei er (Gierke) sein ganzes Leben eingetreten. Auch der bisherige Staat sei ein Volksstaat gewesen, aber mit obrigkeitlicher Spitze und starkem Beamtentum. Wenn das souveräne Volk künftig die Unabhängigkeit der Richter nicht mehr achte, so kehre der absolute Staat in umgekehrter Form wieder1^. Bei seiner Ernennung zum Reichsjustizminister in der Nationalversammlung (3.10.1919) nannte der ebenfalls der Juristischen Gesellschaft angehörige Eugen Schiffer (DDP) die Ausschaltung des gelehrten Berufsjuristen zugunsten des Volksrichters eine Untergrabung der Fundamente der stetigen und festen Rechtsprechung. Auch die Sozialdemokratie schwächte ihre Forderung, die im Reich nicht Rechtswirklichkeit geworden ist13, unter Einfluß von Männern wie Radbruch im Görlitzer Programm von 1921 ab14. Bereits an diesem ersten nachnovemberlichen Treffen der Gesellschaft wird deutlich, wieviel stärker nunmehr zeitbedingt die politischen Gegensätze im Vereinsforum aufeinandertrafen. Die Rezeption der Vorträge und Diskus8

Vgl. Kern, a.a.O., S. 147; Ostler, Die deutschen Rechtsanwälte, S. 148.

»

Vgl. Ostler, a.a.O., S. 147.

10 JW 1919, S. 24. 11 JW 1919, S. 24. 12

JW 1919, S. 24.

13

In Bremen gab es eine seit jeher bestehende Richterwahl unter Beteiligung von Politikern, Ostler, Die deutschen Rechtsanwälte, S. 148.

m

Ostler, a.a.O., S. 148.

122

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

sionsbeiträge der Berliner Juristischen Gesellschaft in der Nationalversammlung belegt abermals die bedeutende Rolle der hauptstädtischen Fachvereinigung im deutschen Rechtsleben". Nicht nur die Gerichtsbarkeit, auch die Rechtsanwaltschaft sollte nach dem Umbruch neuorganisiert werden·®, was der Berliner Anwalt Hans Fritz Abraham in seinem Referat vom 10. Mai 1919 zum Thema machte, wobei er unter anderem den Ruf nach einem numerus clausus, wie Uberhaupt jede Absperrung der Anwaltschaft ablehnte und den Einsatz von Rechtsanwälten als Richter und bei der Reform der Gesamtwirtschaft erörtertei7. Abraham charakterisierte nun (ex post) die Kriegswirtschaftsgesetzgebung kritisch als ein "von politischen und wirtschaftlichen Einflüssen beherrschtes, jeden leitenden Rechtsgedanken entbehrendes, undurchsetzbares und unkontrollierbares Zwangssystem"!8. Anschaulich schilderte er die wirtschaftlichen Nöte zahlreicher Anwälte in der unmittelbaren Nachkriegszeit, bedingt auch durch den Zustrom von Kollegen aus den vom Reich abzutretenden Gebieten. Hier und allgemein bei der "Wiederaufrichtung kriegsbeschädigter Existenzen" seien die Anwaltschaft und die Berufsorganisationen zur Mitwirkung aufgerufen^. Abrahams im Vortrag aufgestellte Prognose, daß sich der Kreis zivilprozessualer Streitigkeiten mit fortschreitender Sozialisierung verringern werde, kann aus der Sicht der Justizstatistik nur als Fehleinschätzung gewertet werden. Zutreffend dagegen führte der Oberverwaltungsgerichtsrat Damme in der anschließenden Diskussion aus, daß er die wohlgemeinte Warnung des

15

Baring zitiert den vielsagenden Satz von Katz in der Nationalversammlung: "Wie ich gestan vor der Berliner Juristischen Gesellschaft ausführlich darzulegen die Ehre hatte...'' (wahrscheinlich bezog sich Katz auf die Diskussionsabende der Ges. zum Verfassungsentwurf 20.278.3. 1919), Baring, Die Berliner Juristische Gesellschaft, in: JR1978, S. 133ff. (135).



Vgl. bei Ostler, Die deutschen Rechtsanwälte, S. 164 -168.

Π

JW 1919, S. 427 - 430.

18 JW 1919, S. 428. 19

JW 1919, S. 428.

Die Zeit der "Weimarer Republik"

123

Staatssekretärs Lisco vor der Ergreifung des juristischen Studiums für ein absolut untaugliches Mittel zur Verringerung der Zahl der Studienanfänger halte, da bei der Berufswahl ganz andere Faktoren als allgemeine Ratschläge von noch so hervorragender Stelle maßgebend seiend.

5.3.

Weimarer Nationalversammlung und Reichsverfassung

Vom 16. bis 20. Dezember 1918 tagte ein " Allgemeiner Deutscher Rätekongreß" in Berlin, der die Übernahme des Rätesystems für das Reich ablehnte und Wahlen für eine Nationalversammlung beschloß21, die nach schweren inneren Unruhen22 am vom Kongreß festgesetzten Termin (19. Januar 1919) stattfanden und eine Dreiviertelmehrheit für die Parteien brachten, welche eine parlamentarisch-demokratische Republik anstrebten (SPD, Zentrum und DDP). Die Nationalversammlung trat am 11. Februar wegen der unsicheren Lage in Berlin in Weimar zusammen, wählte Friedrich Ebert zum vorläufigen Reichspräsidenten und bildete eine Reichsregierung der drei genannten Parteien unter Philipp Scheidemann (SPD)23. Die Beratung der Reichsverfassung, vordringlichste Aufgabe der Versammlung, begann am 24. Februar mit einem Vortrag des ersten Innenministers der neuen Regierung, Hugo Preuß, in welchem dieser den am 21. Februar eingebrachten Entwurf ("Entwurf IV", zweiter Regierungsentwurf2'') begründete und erläuterte25. Bereits Preuß' Entwurf vom 3. Januar ("Entwurf I", amtlich nicht veröffentlicht26) ließ die großen Gedanken des geistigen Vaters der Weimarer Nationalverfassung erkennen: Demokratie

20

JW1919, S. 429.

21

Vgl. ausführlich bei Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 5, S. 828 - 850.

22

Infolge dieser Unruhen mußte die Januarsitzung der Ges. ausfallen.

23

Dem Reichskabinett Scheidemann (13.2. - 20.6.1919) gehölten mit Preuß (Innen) und Schiffer (Finanzen, beide DDP) zwei Mitglieder der Jur.Ges. an.

24

Vgl. bei Huber, Deutsche Verfassungsgschichte, Bd. 5, S. 1184.

25

Eyck, Geschichte der Weimarer Republik, Bd. 1, S. 93.

26

Vgl. bei Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 5, S. 1179f.

124

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

und genossenschaftlicher Rechtsstaat, Unitarismus und Selbstverwaltung, Liberalismus und sozialpolitischer Fortschritt, Parlamentarismus und internationale Organisation, den Nationalstaat und zugleich dessen Relativierung27. Preuß' Vorschläge waren am 8. Februar Thema eines Referats Lusenskys vor der Juristischen Gesellschaft und sind in deren Forum am 20. Februar und 8. März diskutiert worden2«. Die Vorstellung eines dezentralisierten Einheitsstaats mit stark unitarischem Charakter und der Gedanke der Auflösung Preußens29 lösten sowohl im Kreis der Berliner Juristen als auch in der Nationalversammlung heftige Debatten aus. Die Protagonisten der Auseinandersetzungen im Juristenverein und in der Nationalversammlung waren zum Teil identisch, vor allem in dem den Entwurf während der Monate März bis Juli beratenden achtundzwanzigköpfigen Parlamentsausschuß^o, in dem auf Seiten der Deutschdemokraten der spätere Reichsjustizminster Erich Koch-Weser31, der unabhängigen Linken Oskar Cohn und auf der Rechten der volksparteiliche Wilhelm Kahl und deutschnationale Clemens Delbrück» hervortraten, während Preuß die geistige Führung fest in der Hand behielt33. Am 11. August 1919 unterzeichnete Ebert die von der Nationalversammlung am 31. Juli verabschiedete Reichs Verfassung3*, nach der das Reich eine demokratische Republik (Art. 1) mit ausgeprägtem Parlamentarismus, einer vom Vertrauen des Reichstags abhängigen Regierung (Art. 54), aber auch mit plebiszitären Elementen (Volksbegehren und Volksentscheid , Volkswahl des Reichspräsidenten ) war. Die starke Stellung des Reichspräsidenten mani27

Gillessen, Hugo Preuß, Studien, S. 8.

28

Vgl. Anhang 1 dieser Arbeit.

29

Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 5, S. 1179f.

30

Huber, a.a.O., S. 1190f.

31

Koch wurde in den zwanziger Jahren Vereinsmitglied.

32

Preuß, Cohn, Kahl und Delbrück gehörten der Gesellschaft seit langem an.

33

Eyck, Geschichte der Weimarer Republik, Bd. 1, S. 93.

M

Sie ist mit der Verkündung im RGBL (1919, S. 1383ff.) am 14. August 1919 in Kraft getreten.

Die Zeit der "Weimarer Republik"

125

fcstìerte sich insbesondere im Notverordnungsrecht des Art. 48 Abs. 2. Preußen wurde nicht aufgelöst und spielte weiter eine maßgebliche Rolle im Reichsgefüge, z. B. über Art. 61 Abs. 1 S. 2. 1930 wird Koch-Weser im Anschluß an ein Referat von Poetzsch-Heffter vor der Juristischen Gesellschaft über Grundfragen der Reichsreform ausführen: "Aber der Dualismus zwischen Reich und Preußen hat die Durchführung von Reformen stets gehemmt,...".^ Die Mehrheit im Ausschuß und im Plenum hatte die Gewährleistung der individuellen Freiheitsrechte als Fundament rechtsstaatlicher Ordnung durchgesetzt (Grundrechte Art. 130 ff.)36. Noch im November 1919 skizzierte der bedeutende Berliner Staats- und Völkerrechtler Triepel vor der Gesellschaft den Gang der Gesetzgebung nach der neuen Reichsverfassung (Art. 68 - 77)37. Hierbei kritisierte er - bei aller Anerkennung des schnellen Abschlusses der schwierigen Arbeiten an der Verfassung - die Lückenhaftigkeit der entsprechenden Bestimmungen38 (so z. B. den Mangel eines Gesetzes über den Volksentscheid, erst 1921 verabschiedet) und ihre teilweise komplizierte Fassung, die noch zu erheblichen Auslegungsproblemen führen sollte. Ausdrücklich wies er auf die Frage des richterlichen Prüfungsrechts in bezug auf die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze hin, eine Frage, die der Verfassungsausschuß offen gelassen hatte. Nach Triepel ist das richterliche Prüfungsrecht in einer parlamentarischen Republik wenn nicht der einzige, so doch der wichtigste Schutz der bürgerlichen Freiheit gegenüber einem machthungerigen Parlament39. 1930 wird Erich Eyck noch einmal zu diesem Thema sprechen (Märzsitzung, "Reichsverfassung und Richtermacht") und für die Errichtung eines Verfassungsgerichts plädieren«. Auch das letzte Referat des Jahres 1919 steht im Zusammenhang mit der verfassungs- und gesetzgeberischen Tätigkeit der Weimarer Nationalver35

72. Jahresbericht der Jur.Ges. (1930), S. 93.

36

Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 5, S. 1199.

37

Triepel, Der Weg der Gesetzgebung, in: AöR 39 (1920), S. 456 - 546.

3

Triepel, a.a.O., S.460ff.

8

39

Triepel, a.a.O., S. 537.

*o

72. Jahresbericht der Jur.Ges. (1930), S. 38 - 41 (40).

126

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

Sammlung und verdeutlicht zugleich die neue sozialpolitische Orientierung der Republik sowie deren unmittelbare Rezeption durch die Juristische Gesellschaft: Der Frankfurter Rechtsanwalt und Honorarprofessor Hugo Sinzheimer (SPD), Mitglied der Nationalversammlung und dort einflußreicher Propagandist eines einheitlichen Arbeitsiechts, spricht im Dezember über die Zukunft des Tarifvertragsrechts, dessen Grundlagen er in seinen Arbeiten bereits in der Vorkriegszeit auf dem Hintergrund von Gierices Genossenschaftslehre entwickelt hatte41. Die verfassungsrechdiche Anerkennung der Kollektivautonomie (Art. 159) zielte auf die zwischen Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden bzw. einzelnen Unternehmen abgeschlossenen Tarifverträge (vgl. Art. 165 Abs. 1 WRV und die Tarifvertragsordnung vom 23.12.1918, welche die normative Wirkung der Tarifverträge statuiert hatte)41. An der weiteren Ausbildung des Tarifrechts in den zwanziger Jahren beteiligte sich allerdings weniger der Gesetzgeber als vielmehr die Lehre und zurückhaltender die Rechtsprechung, wobei nicht die verfassungsrechtliche Sicherung, sondern der Umfang und der Regelungsbereich des Tarifvertrags im Vordergrund standen«. In der Folgezeit machte die Gesellschaft das Verfassungs- und Verwaltungsrecht der Republik immer wieder zum Thema: 1921 berichten der politisch als Abgeordneter des Preußischen Landtages ins zweite Glied zurückgetretene Preuß über die preußische Verfassung und der Richter am OVG Damme über Beamtenstreik, 1922 der Staatssekretär Müller über Voraussetzungen und Ergebnisse des parlamentarischen Systems, 1923 der Reichsgerichtsrat Baumgarten über die Bedeutung des Staatsgerichtshofs, 1924 erneut Triepel über den Föderalismus und die Revision der WRV. 1926 lädt die Berliner Juristenvereinigung den führenden Staatsrechtler der Republik - und später unter anderen Vorzeichen Kronjurist des "Dritten Reichs" - zu einem Vortrag ein: Carl Schmitt (damals in Bonn lehrend) spricht in der Dezembersitzung im großen Saal des Oberverwaltungsgerichts, in dem die Gesellschaft nun häufig tagt, über Volksbegehren und 41

Nörr, Zwischen den Mühlsteinen, S. 187.

«

Nörr, a.a.O., S. 187f.

«

Nörr, a.a.O., S. 189f.

Die Zeit der "Weimarer Republik"

127

Volksentscheid. Das in Art. 73 Abs. 3 WRV vorgesehene Volksbegehren kennzeichnet er als einheitliches, besonderes, neben dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren der Art. 68fF. WRV mögliches "Volksgesetzgebungsverfahren", als Sonderverfahren unmittelbarer Demokratie. Aus dieser Eigenheit erkläre sich, daß in Art. 73 Abs. 4 WRV Haushaltsplan, Abgabengesetze und Besoldungsordnungen dem Volksbegehren entzogen seiend. Schmitt plädiert für eine extensive Auslegung des Art 73 Abs. 4 WRV, es wäre unrichtig, aus vermeintlich demokratischen Prinzipien die Zulässigkeit des Volksbegehrens auf alle Finanzfragen auszudehnen. Die geschichtliche Entwicklung wie die Theorie der demokratischen Grundsätze hätten sowohl für die Initiative als auch für die Materie der Finanzfragen besondere Gesichtspunkte herausgearbeitet, die eine grenzenlose Ausdehnung des Volksgesetzgebungsverfahrens verböten. Es komme zunächst darauf an, sich dessen bewußt zu werden, daß "Volk" im Sinne des positiven Staatsrechts einer demokratischen Verfassung etwas sehr Verschiedenes bedeute: Das "Volk", das sich als Träger des pouvoir constituant die Verfassung gegeben habe, sei etwas anderes als das "Volk", welches beim Volksentscheid im Rahmen dieser Verfassung tätig werde, und wiederum etwas anderes als die Minderheit, die beim Volksbegehren auftrete45. Aufgabe des positiven Staatsrechts einer demokratischen Verfassung und der allgemeinen Staatslehre sei es, die spezifischen Objekte unmittelbar demokratischer Methoden zu erkennen4«. In der Verfassungswirklichkeit der Weimarer Zeit leiteten oppositionelle Gruppen in sieben Fällen das Verfahren der Volksgesetzgebung ein, von denen vier bereits im Vorverfahren scheiterten, während drei in das plebiszitäre Verfahren gelangten, dort aber die erforderliche Mindestbeteiligung nicht erreichten: das kommunistisch-sozialdemokratische Begehren auf Enteignung des Fürstenvermögens (1926, also im Jahr, in welchem Schmitt vor der Ges. referierte), das kommunistische Begehren auf das Verbot des Panzerkreuzerbaus (1928) und das vom Stahlhelm, der DNVP und der NSDAP 44

68. Jahresbericht der Jur.Ges. (1926), S. 77.

«

DJZ 1927, S. 71.

46

68. Jahresbericht der Jur. Ges., S. 76.

128

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

gemeinsam eingeleitete Verfahren gegen den Young-Plan (1929)47. Im Februar 1929 hören die Gesellschaftsmitglieder mit Hans Kelsen*«, in seiner "Reinen Rechtslehre", der Theorie einer von den Seins Wissenschaften und Glaubenssätzen gereinigten Rechtswissenschaft, Theoretiker des Positivismus, einen Antipoden Schmitts. Kelsen argumentiert in seinem Vortrag gegen die historisch-politisch begründete Unterscheidung von Justiz und Verwaltung zugunsten einer Unterscheidung von mittelbarer und unmittelbarer Staatsverwaltung (im weiteren Sinne des Wortes) als theoretischer Grundlage für eine rationellere Gliederung der Behördenorganisation«. Positiv strebt er eine Entpolitisierung der Verwaltung an. In einem Schreiben des Rechtsanwaltes Ernst Schaefer an den Schriftführer der Gesellschaft, Hagelberg, vom 9.2.1929 heißt es: "Der gestrige Abend der 'Juristischen Gesellschaft' mit dem Vortrage des Herrn Professor Kelsen hob sich aus der Reihe der Veranstaltungen ganz besonders heraus. Der Wunsch, häufiger Vortragende zu gewinnen, deren Darlegungen grundsätzliche Fragen in so tiefschürfender Weise behandeln, dürfte unter den Mitgliedern allgemein sein."50 Von den Materien des Besonderen Verwaltungsrechts sei hier noch das Polizeirecht hervorgehoben. Zweimal ergreift der Präsident des Oberverwaltungsgerichts (1921-1937) und ehemalige Innenminster (1917/18) Bill Drews zu diesem Thema das Wort: im Januar 1922 über Schadensersatzforderungen anläßlich polizeilicher Verfügungen und im Oktober 1931 über das wesentlich von seinem Lehrbuch "Preußisches Polizeirecht" (Allgemeiner Teil 1927, Besonderer Teil 1933) und seiner Spruchtätigkeit am OVG beeinflußte Preußische Polizeiverwaltungsgesetz (1931), welches noch für die Gesetzgebung der Nachkriegszeit (ASOG) Vorbildcharakter hatte. 47

Vgl. bei Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 6, S. 433f.

48

Kelsen in einem Schreiben an den Vorsitzenden der Ges., Kipp, vom 9.10.1928: "Ich betrachte es als eine besondere Auszeichnung, in der Berliner Juristischen Gesellschaft sprechen zu dürfen'', Akten der Schriftführer der Jur.Ges. 1927 - 1933, Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR, Bd. 17, Bl. 265.

«

71. Jahresbericht der Jur.Ges. (1929), S. 13 -15.

50

Akten der Schriftführer der Jur.Ges. 1927 - 1933, Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR, Bd. 1, Bl. 63.

Die Zeit der "Weimarer Republik"

129

Auch der "Todeskampf1 der Republik, die Zerstörung des Parlamentarismus als Vorbereitung der Diktatur seit dem Bruch der Großen Koalition unter dem Reichskanzler Hermann Müller (27.3.1930)51 und die praktisch zur Diktaturgewöhnung geratene Präsidialregierung Heinrich Brünings aufgrund des Art. 48 WRV (30.3.1930 - 30.5.1932) werden im Vereinsforum diskutiert. Im letzten staatsrechtlich orientierten Referat vor der "Machtergreifung" erörtert Ulrich Scheuner, damals Privatdozent an der Friedrich-Wilhelms-Universität, die Bedeutung der Diktaturgewalt für die Entwicklung der Reichsverfassung (14.10.1932). In der Diskussion findet die an Carl Schmitt angelehnte These, positive Aufgabe eines Diktators sei nicht der Schutz der formellen Verfassung, sondern der "materiellen Verfassung als Totalität, des konstitutionellen Leben des Staates" (Prof. Heckel), der "Lebensordnung" (Rechtsanwalt Richard Grau), Zustimmung». Hier kumulieren letztlich die von der deutschen Staatsrechtslehre während der zwanziger Jahre vorgetragenen Delegitimierungstendenzen der Weimarer Reichsverfassung. In den Jahren 1919 bis 1932 findet das Verfassungs- und Verwaltungsrecht der Republik ausführliche Behandlung durch die Referenten der Gesellschaft Mit den Professoren Triepel, Erich Kaufmann, Schmitt, Kelsen, dem Präsidenten des Oberverwaltungsgerichts Drews, dem Polizeivizepräsidenten Weiß und anderen sprechen hervorragende Vertreter der Wissenschaft und der Praxis vor den Mitgliedern des Juristenvereins, der damit seine bedeutende Stellung als Ort des außerforensischen Gedankenaustausches in dieser Phase bestätigt. Als Mahner vor den Gefahren der Aushöhlung der Weimarer Reichsverfassung in den Jahren der Präsidialregierungen aufgetreten zu sein, kann die Berliner Juristenvereinigung allerdings nicht für sich in Anspruch nehmen, dies obwohl die weitgehende Zurückhaltung bei politischen Fragen, wie sie für die Zeit bis 1918 festzustellen war, nach der Novemberrevolution aufge-

51

Vgl. bei Funke, Republik im Untergang, in: Bracher; Funke; Jacobsen (Hrsg.), Die Weimarer Republik 1918 - 1933, S. 505ff.

»

74. Jahresbericht der Jur.Ges. (1932), S. 42f.

130

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

geben wurde». Bezeichnend sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen des Königsberger Rechtslehrers Albert Hensel in seinem Vortrag über "Politische Weltanschauung und Grundrechte" (Juni 1930 im Bankettsaal des Zoologischen Gartens, wo man während dieser Jahre die letzte Sitzung vor der Sommerpause hielt): "Ihre Beweiskraft schöpft die Grundüberzeugung politischer Weltanschauung aus ihrer Fähigkeit, die politische Gegenwart zu gestalten. Der Wille zur Gestaltung also ist es, welcher allein eine Evidenz, Richtigkeit, Legitimität zu verleihen mag. Jedes Zeitalter wird das politische Wollen vor andere Probleme stellen; jede Zeit der Verfassungsschöpfung wird also ihre politischen Grundentscheidungen anders treffen müssen. Gefordert wird nur, daß diese Entscheidungen auch wirklich 'entschieden' (im doppelten Sinn!) sind, daß sie also tragende Grundpfeiler eines politischen Systems sein können."54 Was Hensel hier heraufbeschwor - der Wille zur Gestaltung, der Legitimität verleiht -, sollte nach 1933 zur Legitimierung eines diktatorischen Staatsdenkens ("Führerwille ist Recht") dienen. Hensel selber wurde im April 1933 zwangsweise beurlaubt, emigrierte nach Pavia und starb dort eine Woche später".

5.4.

Schwerpunktthemen der zwanziger Jahre: Steuer-, Finanzund Wirtschaftsrecht

Die Schwierigkeiten der Konsolidierung der Republik in den ersten Jahren nach der Revolution auf dem Hintergrund von Wirtschaftskrise und erdrückenden Reparationsforderungen spiegeln sich auch in der Themenwahl 53

Aus einem Schreiben des fünften Präsidenten der Ges., Kipp, an den Schriftführer Hagelberg v. 23.1.1930: "...Es ist freilich ein Kapitel, in welchem...starke Gegnsätze der Meinungen verborgen liegen. Aber wir haben das ja das vorige Mal ganz gut überstanden und werden es auch wieder überstehen." Akten der Schritfiihrer der Jur.Ges. 1927 - 1933, Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR, Bd. 3, Bl. 65.

54

72. Jahresbericht der Jur.Ges. (1930), S. 8 7 - 9 1 (89). Vgl. bei Göppinger, Juristen jüdischer Abstammung im "Dritten Reich", 2. Aufl., S. 287.

Die Zeit der "Weimarer Republik"

131

der Gesellschaft, die das Wirtschafts-, Steuer- und Finanzrecht in den Jahren 1920 bis 1924 in den Mittelpunkt stellt. 5.4.1.

Eine kurze Geschichte der Inflation

Eine "kurze Geschichte der Inflation" läßt sich aus den Jahresberichten der hauptstädtischen Juristenassoziation nachzeichnen: Während man 1921 noch beschlossen hatte, den Jahresbeitrag wieder in satzungsgemäßer Höhe von 20 Mark zu erheben», heißt es 1923: "Der Jahresbeitrag ... ist in der Sitzung vom 13. Januar 1923 auf 300 M festgesetzt worden. Infolge der Geldentwertung wurde in der außerordentlichen Generalversammlung vom 20. Oktober 1923 beschlossen, für das letzte Quartal 1923 den Mitgliedsbeitrag auf 10 Millionen Mark festzusetzen."57 1924 sind es dann 3 Goldmark^ und 1925 beschließt man die wegen der Kriegsnöte aufgegebene alte Sitte des gemeinsamen Abendessens im Anschluß an die Sitzungen wiederaufzunehmen, zunächst allerdings nur in "beschränktem Maße"59.

5.4.2.

Sozialisierung und Steuergesetzgebung

Die unmittelbar nach dem Kriege einsetzende Steuergesetzgebung, mitbestimmende Rahmenbedingung für die Wirtschaftsentwicklung, zielte konzeptionell auf einen Ersatz für die ausgebliebene Sozialisierung. So waren das Reichsnotopfer von 1919 (im Mai 1920 von Regierungsrat Höpker der Ges. vorgestellt) als einmalige Substanzsteuer mit Sätzen bis zu 65% und die Erbschaftssteuer (G vom 10.9.1919, im Oktober 1920 von Prof. Kipp vor der Ges. erörtert) mit konfiskatorischen Sätzen bis zu 90% ausgestaltet60. Die eigentums- und verteilungspolitischen Ziele dieser Gesetzgebung scheiterten jedoch in der Folgezeit am Tempo der Inflation, nach deren

56

60. - 67. Jahresbericht der Jur.Ges. (1918 -1925), S. 10.

57

60. - 67. Jahresbericht der Jur.Ges., S. 13.

58

60. - 67. Jahresbericht der Jur.Ges., S. 14.

»

60. - 67. Jahresbericht der Jur.Ges., S. 15.

«

Nörr, Zwischen den Mühlsteinen, S. 21 Fn. 27, S. lOOf.

132

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

Ende sie gegenüber der nun propagierten Kapitalbildung zurücktraten61. Die von ihrem späteren Kommentator, Reichsfinanzrat Enno Becker, am 14. Februar 1920 im Vereinsforum zur Debatte gestellte Reichsabgabenordnung (13.12.1919) verfolgte, wie die gesamte Erzbergersche Finanz- und Steuerreform, mit der Betonung der direkten Steuern und einer ausgeprägten Progression ebenfalls verteilungspolitische Tendenzen und brachte die Umverlagerung der Steuerhoheit von den Ländern auf das Reich. Die unmittelbare und ausführliche Analyse der Steuergesetzgebung durch die Mitglieder und Referenten der Juristischen Gesellschaft (im Dezember 1920 sprach Popitz noch über das Umsatzsteuergesetz) belegt die Bedeutung, die man im Juristenstand diesen Maßnahmen zumaß. Mit Becker, Höpker und Popitz sind es hier vor allem die die Gesetze mitformenden Praktiker der Ministerialverwaltungen, welche vom Vereinsvorstand gebeten werden, die Leitgedanken der Reformgesetze vorzustellen. Das Finanz- und Steuerrecht bildet auch danach zeit- und personenbedingt62 einen wichtigen Fundus für die Wirksamkeit der Gesellschaft: 1921 wertet der außerordentliche Professor an der Berliner Juristenfakultät Arthur Nußbaum die rechtliche Bedeutung des (inflationsbegünstigenden) Übergangs zur Papierwährung63 und erörtert der Generaldirektor und Professor Flechtheim Fragen von Geldentwertung und Aktienrecht, 1922 sprechen der Senatspräsident am Reichsfinanzhof Kloß über die Gesellschaftssteuer nach dem Kapitalverkehrssteuergesetz, der Berliner Rechtsanwalt Haußmann über die Entwicklung des Steuerrechts im Zeichen der Geldentwertung und der Vermögenssteuergesetze von 1922, 1924 der Staatssekretär a.D. Mügel

61

Nörr, a.a.O., S. 21.

62

So zählte die Ges. ζ. B. mit Max Lion und Johannes Popitz Koryphäen der aufblühenden Steuerrechtswissenschaft (vgl. bei Göppingcr, Juristen jadischer Abstammung im "Dritten Reich", 2. Aufl., S. 389) zu ihren Mitgliedern.

«

JW 1921, S. 672.

Die Zeit der "Weimarer Republik"

133

über Geldentwertung und Hypotheken«, der Oberverwaltungsgerichtsrat Pape über die neue Rechtsprechung zur Wertzuwachssteuer, der Syndicus der Berliner Handelskammer Feilchenfeld über die Goldbilanz, der Ministerialdirektor Popitz über den Finanzausgleich zwischen Reich, Staat und Gemeinde, 1925 der Geschäftsführer der Disconto-Gesellschaft Solmssen über ausländische Kreditbeschaffung, der Landgerichtsdirektor Wunderlich über die Hypothekenaufwertung und der Rechtsanwalt Lion, 1927 Gründer der "Vierteljahresschrift für Steuer- und Finanzrecht", über das Bilanzsteueirecht

5.4.3.

Juristische Arbeitsgemeinschaft für Gesetzgebungsfragen 1924 - 1933

Die erheblichen Bedenken der Fachwelt bei der Durchführung der Dritten SteuerNotVO (14.2.1924) gaben den unmittelbaren Anlaß zur Gründung eines weiteren Sprosses65 aus dem Schoß der Juristischen Gesellschaft: der Juristischen Arbeitsgemeinschaft für Gesetzgebungsfragen. Auf einer Sitzung der Gesellschaft hatte der Berliner Rechtsanwalt Hans Fritz Abraham ausgeführt, daß die gesetzgeberische Tätigkeit der damaligen Zeit vielfachen Widerspruch hervorgerufen habe, da sie ressortmäßig zersplittert sei, zentrale Rechtsgedanken vermissen lasse und sich leichtfertig über die Garantien des Rechtsstaates hinwegsetze66. Anfang 1924 schlossen sich dann unter dem Vorsitz Prof. Kahls (Stellvertreter: Kammergerichtspräsident von Staff) die Vorstände des Deutschen Juristenbundes, des Deutschen Juristentages, der Berliner Juristischen Gesellschaft, des Preußischen Richtervereins, des Berliner Anwaltsvereins und des Berliner Notarvereins sowie die Mitglieder der Juristischen Fakultät der Universität Berlin zur Arbeits64

Am 28.11.1923 war die die wirtschafte- und sozialpolitische Entwicklung der mittleren Jahre der Weimarer Republik stark beeinflussende Aufwertungsentscheidung des Reichsgerichts (RGZ 107, S. 78ff.) ergangen, welche nach der Einführung der Rentenmark die Aufwertung von Hypothekenforderungen zuließ, vgl. bei Nörr, Zwischen den Mühlsteinen, S. 55, 65f.

65

Neben Juristentag und Savigny-Stiftung.

66

Daffis, Juristische Gesellschaften und Vereine, in: Stier-Somlo; Elster (Hrsg.), Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, S. 420 - 434 (422).

134

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

gemeinschaft für Gesetzgebungsfragen zusammen, an deren Sitzungen bald auch Vertreter des Reichsgerichts teilnahmen. Leitgedanke war die Sicherung des Rechtsstaates und der Rechtsordnung durch konstruktive Einflußnahme auf die Gesetzgebung«7. Dies gelang zunächst vor allem dem Unterausschuß für Aufwertungsfragen (unter Vorsitz des Staatssekretärs a.D. Miigel) bei seinen Bemühungen zur Abänderung des Aufwertungsgesetzes vom 16. Juli 192568. Des weiteren haben der Unterausschuß für das Zivilprozeßrecht bei der Novellierung der ZPO und die Ausschüsse für das Strafverfahren und die GoldbilanzVO erfolgreich gewirkt6'. Einen selbständigen Entwurf, der an die zuständigen Stellen weitergeleitet wurde und manche Unebenheiten des amtlichen Entwurfes korrigieren half, erarbeitete der Unterausschuß für das Arbeitsgerichtsgesetz (23.12.1926)70. Die Arbeitsgemeinschaft blieb bis 1933 tätig, ehe sie ihre Bemühungen nach der nationalsozialistischen "Machtergreifung" einstellen mußte71, da bei den selbstgegebenen Prämissen ein Fortwirken einer unabhängigen Vereinigung von freien und beamteten Juristen der Wissenschaft und Praxis zur Sicherung des Rechtsstaates auf dem Hintergrund des alsbald zur "Führer-" und Parteidiktatur pervertierten NS-Staates unmöglich geworden war.

5.4.4.

Sondergerichte für das Wirtschaftsrecht

Zwei Sondergerichte, deren Zuständigkeit auf dem Gebiet des Wirtschaftsrechts lag, haben während der Weimarer Zeit eine gewisse Rolle gespielt, weshalb ihre Stellung und Spruchtätigkeit im Gesellschaftsforum erörtert worden ist: das Reichswirtschaftsgericht, bereits während des Krieges als 67

Daffis, a.a.O., S. 422.

68

Vgl. DJZ 1927, Sp. 257ff.; DJZ 1927, Sp. 583ff.; DJZ 1927, Sp. 872f.

69 Vgl. Daffis, a.a.O., S. 422. TO Daffis, a.a.O., S. 422. 71

Vgl. den Schriftwechsel von RA Fritz Abraham (für die Arbeitsgemeinschaft) mit dem Schriftführer der Jur.Ges. Hagelberg: Akten der Schriftführer der Jur.Ges. 1927 1933, Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR, Bd. 4 am Ende (nicht paginiert) Mai bis Juli 1933.

Die Zeit der "Weimarer Republik"

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"Reichsschiedsgericht für Kriegsbedarf" errichtet und 1920 (VO vom 21.5.) umgetauft72, und das durch die VO gegen den Mißbrauch wirtschaftlicher Machtstellungen (2.11.1923) geschaffene Kartellgericht73. Im Oktober 1922 referierte der Präsident des Reichs wirtschaftsgerichts, Lucas, über dessen Stellung im Gerichtsaufbau, denn es war lebhaft umstritten, ob es sich bei dem Gericht (ebenso wie beim Kartellgericht) um ein Sondergericht im Sinne des § 13 GVG oder um ein Verwaltungs(sonder)gericht handelte74. Lucas qualifizierte das Reichswirtschaftsgericht als Verwaltungsgericht. Er betonte, daß dem RWG mit einer Ausnahme (Berufung gegen schiedsrichterliche Urteile aufgrund der VO über Kohlen-, Elektrizitäts- und Gaswirtschaft) lediglich Streitigkeiten mit öffentlich-rechtlichem Charakter zugewiesen seien (ζ. B. nach dem RAusgleichsG und der VO über die Außenhandelskontrolle). Auch seien die das wirtschaftsgerichtliche Verfahren bestimmenden Grundsätze, insbesondere der Amtsbetrieb, dem Verwaltungsstreitverfahren entnommen75. Die Rechtsprechung des Kartellgerichts, das man errichtet hatte, um den Reichswirtschaftsminister bei der Bekämpfung des Mißbrauchs des Kartellwesens zu unterstützen, da die Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte als zu kartellfreundlich empfunden wurde76, skizzierte der bekannte Berliner Rechtsanwalt und Kartellrechtler Rudolf Isay in seinem Vortrag vom November 1924, nachdem er bereits 1922 über Fragen des privaten und öffentlichen Kartellrechts gesprochen hatte77. Reichswirtschafts- und Kartellgericht sind 1938 durch das Gesetz über das Reichswirtschaftsgericht verschmolzen worden.

72

Vgl. bei Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 180f.; Ostler, Die deutschen Rechtsanwälte 1871 - 1971, S. 162,246.

73

Vgl. Kern, a.a.O., S. 180; Nörr, Zwischen den Mühlsteinen, S. 148.

74

Vgl. bei Kern, a.a.O., S. 181.

75

JW 1922, S. 1665.

76

Kern, a.a.O., S. 180.

77

Vgl. auch R. Isay, Studien im privaten und öffentlichen Kartellrecht, 1922 sowie bei Nörr, Zwischen den Mühlsteinen, z. B. S. 146f.

136

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

5.4.5.

Aktien- und Konzernrecht

Entsprechend seiner eminent praktischen und politischen Bedeutung unter dem in der Weimarer Zeit geprägten Schlagwort vom Strukturwandel der Wirtschaft78 bildete das Aktien- und Konzernrecht bei den Bemühungen der Juristischen Gesellschaft um Vertiefung aktueller juristischer Problematiken einen Schwerpunkt: 1921 bis 1933 beschäftigen sich allein acht Referenten mit Fragen aus diesem Themenbereich (hierzu kann noch das verwandte Thema des GmbH-Rechts gezählt werden, welches Franz Scholz im November 1930 aufgreift). Die Namen der Vortragenden gehören in die erste Reihe der durch wissenschaftliche Vorarbeiten, gutachterlich und praktisch an den Reformanstrengungen Beteiligten: z. B. J. Flechtheim7' (Oktober 1921 über Geldentwertung und Aktienrecht), Heinrich Friedländer80 (April 1926 über die rechtliche Organisation des Großunternehmens und der Konzerne), Gieseke81 (Mai 1926 über die Reform des Aktienrechts), Netter8^ (Januar 1929 über die rechtliche Struktur der Aktiengesellschaft), Schlegelberger" (Dezember 1930 über den Entwurf des Aktiengesetzes) und G.M. Hamburger84 (April 1932 über Kredittäuschung und Schuldenhaftung für Konzerngesellschaften). Auch bei der letzten Zusammenkunft der Juristischen Gesellschaft (10. März 1933) nach der "Machtergreifung" durch die Nationalsozialisten ist das Aktienrecht Thema: Der 1934 in die USA emigrierte außerordentliche Professor an der Berliner Juristenfakultät Arthur Nußbaum85 sprach über ei78

Nörr, a.a.O., S. 107ff.

7

9

Vgl. bei Göppinger, Juristen jüdischer Abstammung, 2. Aufl., S. 279; Nörr, a.a.O., etwa: S. 112 Fn. 16; 117 Fn. 36; 124; 126 Fn. 29; 127 Fn. 37; 131 Fn. 57.

80

Vgl. bei Göppinger, a.a.O., S. 336; Nöir, a.a.O., etwa: S. 123 und Fn. 7,10; 124 und Fn. 12; 126 und Fn. 25; 127 Fn. 37.38,40; 128 Fn. 41,44; 129 Fn. 46.

8

Vgl. bei Nörr, a.a.O., S. 156 Fn. 64.

1

M

Vgl. bei Nörr, a.a.O., S. 110 Fn. 8; 130 Fn. 54.

83

Vgl. bei Nörr, a.a.O., S. 103 Fn. 9,; 113 Fn. 21; 114 Fn. 22.

84

Vgl. bei Nörr, a.a.O., S. 126 Fn. 26; 127 und Fn. 33,39.

85

Vgl. bei Göppinger, Juristen jadischer Abstammung, 2. Aufl. S. 306; Nörr, a.a.O., etwaS. 104 Fn. 17; 107 Fn. 13; llOFn. 5.

Die Zeit der "Weimarer Republik"

137

gene Aktien der Aktiengesellschaft. Dem reformerisehen Bemühen um das Recht der Aktiengesellschaft während der zwanziger und beginnenden dreißiger Jahre lag die schon vor dem ersten Weltkrieg gewonnene Erkenntnis vom Auseinanderklaffen von Norm und Wirklichkeit zugrunde, das mit der Inflation drastische Formen annahm, wobei der Aufstieg der Großunternehmen und die Konzernbildung eine besondere Rolle spielten. Netter äußerte sich dazu im Januar 1929 vor der Juristischen Gesellschaft wie folgt: "Nicht allein die Inflation, die Konzernbildung und die Überfremdung sind die Ursachen für den Strukturwandel im Aktienwesen. Dieser Strukturwandel ist eine allgemeine Erscheinung der neuzeitlichen Rechtsbildung. In der gegenwärtigen Auffassung gewinnt das wirkliche Recht verstärkte Bedeutung gegenüber dem Gesetz. Es muß von der Ermittlung der wirtschaftlichen Tatsachen und von der Erkenntnis ihres rechtlichen Gehalts ausgegangen werden."86 Die politische Forderung nach der Herauslösung des Aktienrechts aus dem Privatrecht, der die Wissenschaft bei grundsätzlichem Festhalten an der privatrechtlichen Gestaltung mit dem Petitum nach Erweiterung der zwingenden Normen (z. B. Sicherung der Außen- und Innenkontrolle durch Ausbau des Publizitätszwangs) entgegenkam, beschäftigte auch die Referenten der Gesellschaft. Die zeitliche und thematische Abfolge der Vorträge erlaubt eine Periodisierung entsprechend der wirtschaftlichen Entwicklung in der Weimarer Republik: zunächst die Phase der Inflation bis 1923 mit dem Kampf um Erhalt von bzw. Erringung neuer Herrschaftsstellungen in der Aktiengesellschaft, dann die Zeit relativer Stabilität mit dem Bemühen um (vorwiegend ausländisches) Kapital87, die mit der Wirtschaftskrise von 1929 ihr Ende findet

86

71. Jahresbericht der Jur.Ges. (1929), S. 10.

87

Im März 1925 referiert Solmssen über ausländische Kreditbeschaffung: "Viel größere Schwierigkeiten als diese Importkrcditc machen diejenigen Kredite, welche der deutschen Wirtschaft neues Betriebskapital zuführen sollen...", 60. - 67. Jahresbericht der Jur.Ges. 1918 -1925, S. 22f.

138

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

und durch den Zusammenbruch zahlreicher Unternehmen und den Bankennotstand eine Vertrauenskrise des gesamten Aktienwesens bedingte", welche den Gesetzgeber auf den Plan rief (erster Entwurf eines Aktiengesetzes des Reichsjustizministeriums 1930, zweiter Entwurf 1931").

5.4.6. Urheber- und Patentrecht, Wettbewerbsschutz Zum in der Weimarer Zeit geprägten Begriff des Wirtschaftsrechts'0 - die Einzelheiten waren streitig91 - sind auch das Urheber-, Patent- und Wettbewerbsrecht zu zählen, denen die Gesellschaft ebenfalls besondere Beachtung zuteil werden ließ: An sieben Abenden stellten ausgewiesene Fachleute wie der Kommentator des Urheberrechts Bruno Marwitz92 (Februar 1928 zur Neugestaltung des literarischen Urheberrechts), der damalige Schriftleiter der Juristischen Wochenschrift Julius Magnus93 (Mai 1932 über die Reform des gewerblichen Rechtsschutzes und des Urheberrechts) und der Kölner Rechtslehrer Nipperdey94 (April 1931 zur Frage des Rechts am Gewerbebetrieb») die - von internationalen Übereinkünften mitbestimmte Rechtsentwicklung auf diesen Gebieten dar, wobei insbesondere Fragen des Urheberrechts auch in zwei weiteren Referaten zu den "neuen Medien" Rundfunk (Bredow und Neugebauer, Mai 1926) und Film (Friedemann, Februar 1927) erörtert wurden.

88

Vgl. bei Nörr, Zwischen den Mühlsteinen, S. 112.

89

Auf diesen Entwürfen beruhte weitgehend das AktienG von 1937.

90

Im Februar 1922 referiert Heydemann über "Die Grundzüge des neuen deutschen Wirtschaftsrechts".

Ol

Nörr, Zwischen den Mühlsteinen, S. 166ff.

92

Vgl. bei Göppinger, Juristen jüdischer Abstammung, 2. Aufl, S. 226; Nörr, a.a.O. S. 164.

93

Vgl. bei Göppinger, a.a.O., S.253; Nöir, a.a.O., S. 162 Fn. 5. Vgl. bei Nörr, a.a.O., z. B. S. 159.

95

Nipperdey verneint in Kritik der reichsgerichtlichen Rechtsprechung die Frage, ob das Untemehnem als subjektives Recht allgemein gegen jeden Eingriff geschützt ist; 73. Jahresbericht der Jur.Ges. (1931), S. 26.

Die Zeit der "Weimarer Republik"

5.5.

139

Strafrecht, Strafprozeß und Strafvollzug

Breiten Raum gewährt die Juristische Gesellschaft - ihrer bereits geschilderten Tradition gemäß - in den Jahren 1919 bis 1933 den Reformbemühungen auf den Gebieten des materiellen und formellen S traf rechts'6. Siebzehn Sitzungen»7 dieser Phase werden zur Darstellung und Diskussion der Strafgesetzbuchentwürfe (1919, 1922, 1925, 1927, 1930) und Novellen, des Strafprozeßentwurfs von 1920 und der Prozeßnovellen (insbesondere der Emminger-Reform 1924) sowie der Suche nach neuen Wegen im Strafvollzug genutzt. So verteidigt im April 1920 James Goldschmidt die am 2. Januar an den Reichsrat gelangten Entwürfe zur Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes bzw. über den Rechtsgang in Strafsachen (letzterer stammte im wesentlichen aus Goldschmidts Feder: "Die um die Jahreswende veröffentlichten Entwürfe...sind - anders als Goethe - nicht unter glücklichen Sternen geboren."»8). Diesem "kühnen Wurf", der erste, der wirklich eine große Linie zeigte, gebührt nach E. Schmidt ein bedeutsamer Platz in der deutschen Strafrechtspflege99: Konsequente Durchführung des Anklageverfahrens bei endgültiger Beseitigung der Reste des Inquisitionsprozesses, Berufung in allen Strafsachen, allgemeine Laienbeteiligung in erster Instanz, Wegfall des gerichtlichen Vorverfahrens, welches ganz in die Hände der Staatsanwaltschaft gelegt wurde, und des gerichtlichen Eröffnungsbeschlusses, starker Ausbau der Verteidigerrechte sowie Bindung der Untersuchungshaft an

96

Vgl. bei Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, S. 397-424; auch bei Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 153 -169.

97

Hinzuzuzahlen wären noch der Vortrag Felischs (Juni 1921) Uber den Jugendwohlfahrtsgesetzentwurf mit den Regelungen aber Schutzaufsicht und Fürsorgeerziehung und der Vortrag Alsbergs (Oktober 1924) über den Prozeß des Sokrates im Lichte moderno- Rechtsprechung.

98

Goldschmidt, Die Kritiker der Strafprozeßentwürfe, in: ZStW 41 (1920), S. 569 - 608 (569).

99

Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, S. 417.

140

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

strengere Voraussetzungen waren einige der Leitgedanken"». Den Strafgesetzbuchentwurf von 1919 (1921 veröffentlicht), im großen und ganzen eine Wiederholung des Kommissionsentwurfs von 1913, erläutern mit Kahl (Februar 1921) und dem Oberreichsanwalt Ebermayer (November 1921 über die "Straftat") erneut zwei aktiv an den Arbeiten beteiligte Juristen'oi. Fragen von Tat und Täterschaft im Entwurf von 1925 greift Kohlrausch auf (Dezember 1925), im Februar 1926 schildert der Landgerichtsdirektor Karl Neumann die Erfahrungen des Praktikers mit der Strafprozeßnovelle von 1924, wobei er auch die Abschaffung der echten Schwurgerichte gutheißt102, woraufhin ihm J. Goldschmidt in der anschließenden Diskussion entgegenhält, die Mitwirkung der Laien in der Rechtsprechung und in der Gesetzgebung sei ein Gut, das der ganzen Kulturwelt eigen sei, Deutschland sei die einzige Nation, welche das Schwurgericht abgeschafft habe, was nicht so leichten Herzens hätte geschehen dürfen"». Das letzte Referat zu Fragen der Strafrechtsreform (Januar 1933) hielt der damalige österreichische Bundesminister für Justiz und letzte Bundeskanzler vor dem "Anschluß" Österreichs 1938, Schuschnigg, dessen eigener Wunsch es gewesen war, anläßlich eines Deutschlandbesuches vor der Berliner Juristenvereinigung zu sprechen"*. Schuschnigg bot einen Überblick über die seit dem Regierungsentwurf von 1927 geleistete Arbeit an der Vereinheitlichung des österreichischen und deutschen Strafrechts und trat der damals spürbaren Resignation mit der Mahnung entgegen, auch Zeiten parlamentarischer Hemmungen zur Verbesserung des gemeinsamen Reformwerkes zu nutzen"». In der Diskussion traten u.a. der seit dem 2.6.1932 am100

Vgl. Goldschmidt, a^.O.; Schmidt, a.a.O., S. 417f.; Kem, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 153f.

ιοί Kahl war Vorsitzender der Kommission 1912/13, Ebermayer Mitglied einer Kommission zur Umarbeitung des Entwurfs von 1913, vgl. bei Schmidt, Geschichte, S. 397f. 102 68. Jahresbericht der Jur.Ges. (1926), S. 15. 103 68. Jahresbericht der Jur.Ges., S. 16. 104 Die Sitzung wurde gemeinsam mit der von Rabel geleiteten Internationalen Vereinigung für vergleichende Rechtswissenschaft veranstaltet 105 DRiZ 1933, S. 119; Akten der Schriftführer der Jur.Ges. 1927 - 1933, Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR: Sitzungsprotokolle 1933,13. Januar 1933.

Die Zeit der "Weimarer Republik"

141

tierende Reichsjustizminister Gürtner und der am 30.9.1934 von seiner Lehrtätigkeit an der Universität entpflichtete und später nach Südamerika emigrierte James Goldschmidt auf, der an den - von ihm bedauerten - weltanschaulichen Charakter vorangegangener Debatten erinnerte106. Das Strafvollzugsrecht wird zweimal zum Thema gemacht (April 1919 durch den Generalstaatsanwalt Plaschke und Oktober 1929 durch den Oberstrafanstaltsdircktor Hauptvogel), wobei die allgemeine Tendenz der Abwendung von der Vergeltungsstrafe hin zum Versuch der Resozialisierung des Straftätersio7 deudich wird. Den freimütigen Diskussionsstil der Gesellschaft belegt unter anderem die Frage des Anwaltes Gustav Goldschmidt (im Anschluß an Hauptvogels Vortrag) nach der Sexualnot der Gefangenen, die von einem der führenden Männer der Gefängnisreform, Werner Gentzioe, beantwortet wird: Das Sexualproblem sei unlösbar, der natürliche Weg zur Lösung könne nicht beschritten werden, auch nicht in Form des Urlaubs, aber die Beschäftigungslosigkeit, die die Spannung erhöhe, könne bekämpft werden'*». Den Rahmen der Kommentierung und Kritisierung der Gesetzgebungsarbeiten sprengen die Vorträge des wohl bekanntesten Strafverteidigers der Weimarer Zeit, Max Alsberguo. So spricht er im Oktober 1927 über das Weltbild des Strafrichters als Ergebnis bewußter theoretischer Reflexion, wechselnd nach der Eigenart und Erlebnisfähigkeit, nach der Weite des Denkens und den sonstigen psychophysischen Bedingungen des jeweiligen Trägers und mitbestimmt vom überindividuellen Bestand des geistigen Lebens, den allgemeinen objektiven Mächten·n. Eine Erfahrung dränge sich

106

DRiZ 1933, S. 119; Akten der Schriftführer der Jur.Ges., a.a.O.

107

Vgl. bei Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, S. 420-424.

1« Schmidt, a.a.O., S. 424. IM 71. Jahresbericht der Jur.Ges. (1929), S. 49. uo Jungfer, Max Alsberg, in: Kritische Justiz (Hrsg.), Streitbare J mi sten, S. 141 - 152; Alsberg hat insgesamt viermal vor der Ges. referiert 1» 69. Jahresbericht der Jur.Ges. (1927), S. 51 - 55.

142

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

dem Richter immer wieder auf, nämlich daß er, um das Recht praktisch zu verwirklichen, Macht brauche. Darum werde der Typus des Machtmenschen, wie er von E. Spranger und F. Meinecke dargestellt worden sei, unter den Richtern besonders häufig vertreten sein. Gerade weil die Ziele des Richters ideale seien, werde er sich unbekümmert der in seine Hand gelegten Macht bedienen112. Er sei überzeugt, daß er dem wahren Recht diene und daß er selbst zwingend formulierte gesetzgeberische Betimmungen beiseite schieben dürfe, wenn sie der in seinem Weltbild verankerten Überzeugung zuwiderliefen1^ - im Hinblick auf die Justiz während des "Dritten Reichs" wahrhaft prophetische Worte! Der Richter fühle sich einer jenseitigen Forderung, einem transzendenten Soll verpflichtet, das sich darin ausdrücke, daß das Recht schlechthin gelten wolle, ohne Rücksicht darauf, ob es sich für den Einzelfall noch als Recht bewähren könne114 - ein herber Imperativ aus dem metajuristischen Jenseits.

5.6.

Bürgerliches Recht und Zivilprozeß

5.6.1.

Privatrecht und Wirtschaftsentwicklung

Das allgemeine Privatrecht (10 Vorträge) und die Zivilprozeßreformen (5 Vorträge) finden in der Phase 1919 - 1933 weiterhin Beachtung im Gesellschaftsforum. Deutlich wird, wie die wirtschaftliche Entwicklung - insbesondere Inflation und Aufwertung - das zivilistische Denken beeinflußt hat: Im März 1923 referiert der Rechtsanwalt am Reichsgericht Wildhagen über die clausula rebus sie stantibus, die vom Reichsgericht auf dem Hintergrund der Inflation entgegen der bisherigen Rechtsprechung als allgemeiner Rechtssatz anerkannt wurde115. Im November 1923 untersucht der Rechtsanwalt Grau die Anpassung des Privatrechts an die veränderten Verhältnisse durch Richter-

112

69. Jahresbericht der Jur.Ges., S. 53.

1

69. Jahresbericht der Jur.Ges., S. 54.

»

H4 69. Jahresbericht der Jur.Ges., S. 55. 115

RGZ 100,129 - 138; vgl. allgemein bei Nöir, Zwischen den Mühlsteinen, S. 62ff.

Die Zeit der "Weimarer Republik"

143

spruch oder Gesetzgebung, denn die wirtschaftlichen Umwälzungen der unmittelbaren Nachkriegszeit hatten in der Zivilrechtspflege teilweise zu einem Übergreifen der richterlichen in die gesetzgeberische Sphäre geführt. Im März 1926 spricht der Hamburger Prof. Reichel über Gesetz und Rechtsgeschäft seit dem Jahre 1914, wobei Inflation und die Lehre von der Geschäftsgrundlage erneut erörtert werden116. Im Mai 1927 befaßt sich der Berliner Rechtslehrer A. Nußbaum in seinem 1928 von E. Rabel herausgegebenen Vortrag mit dem vertraglichen Schutz gegen Geldwertschwankungen bei In- und Auslandsgeschäften und weist einleitend ausdrücklich auf die Bedeutung des Themas trotz Stabilisierung der deutschen Währung hin 1 ". Die mit dem Zusammenbruch der New Yorker Börse Ende Oktober 1929 beginnende Weltwirtschaftskrise findet alsbald ihren Widerhall in den Akten des Schriftführers der Gesellschaft Hagelberg. So teilt am 9.12.1929 der Schatzmeister Rechtsanwalt Gustav Goldschmidt mit: "Weiterhin hat mich Herr Rechtsanwalt Hermann Beer...gebeten, ihn zum zulässig nächsten Termin aus den Listen zu streichen, da die ungewöhnliche Ungunst der Zeit ihn zwinge, auch bei kleinen Beträgen mit denkbaren Einschränkungen vorzugehen."11« Am 23.1.1930 schreibt der Präsident Kipp: "Die Mitteilung des Herrn Schatzmeisters, dass mehrere richterliche Beamte ausgetreten sind wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten, war erschütternd. Sollten wir nicht in all den Fällen, in denen eine derartige Austrittserklärung von einem Herr ausgeht, der bis dahin sich an unseren Sitzungen tatsächlich beteiligt hat, in irgendeiner Form ihm zu verstehen geben, dass er auch weiterhin in unseren Sitzungen als Gast willkommen sei?".11» Die kritische finanzielle Situation in weiten Kreisen der Berliner Anwalt- und Richterschaft erklärt den Rückgang der Mitgliederzahl seit 1929, die nach dem Kriege mit zeitweise über

116

68. Jahresbericht der Jur.Ges. (1926), S. 20.

ι Π 69. Jahresbericht der Jur.Ges. (1927), S. 24. 118

Akten der Schriftführer der Jur.Ges. 1927 - 1933, Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR, Bd. 1, Bl. 317.

119

Akten der Schriftführer der Jur.Ges., a.a.O., Bd. 3, Bl. 65.

144

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

600 ihren Höhepunkt erreicht hatte120, was die Popularität der Juristischen Gesellschaft - gefördert durch die publizistische Rezeption ihrer Veranstaltungen (Erich Eyck, Otto Liebmann, Julius Magnus) in der Tages(Vossische Zeitung, Berliner Tageblatt) und Fachpresse (DJZ, DRiZ, JW) während der Weimarer Zeit belegt. Auch die Jahresberichte, welche 1926 bis 1933 jeweils für das zurückliegende Vereinsjahr wieder regelmäßig erschienen, hatten daran Anteil, wie ζ. B. die Bitte des Direktors der Bibliothek des Reichsgerichts, Dr. Schulz, um Übersendung derselben (25.1.1927) dokumentiert121.

5.6.2.

Internationales Privatrecht

Dem Aufschwung der Rechtsvergleichung und des Internationalen Privatrechts während der Weimarer Republik, manifestiert in der Gründung des Kaiser-Wilhelm-Institutes für ausländisches und internationales Recht (1926) unter Leitung des bedeutentsten Forschers auf diesem Gebiet, Ernst Rabel, zollt die Juristische Gesellschaft in einer gemeinsamen Veranstaltung mit der Internationalen Vereinigung für vergleichende Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre im Mai 1931 Tribut: Rabel spricht über die Arbeiten zur Vereinheitlichung des Kaufrechts122, die sich im Rahmen des Instituts für die Vereinheitlichung des Privatrechts (von der italienischen Regierung dem Völkerbund gestiftet und seit 1928 tätig) in Rom vollzogen und das bekannte Recht des Warenkaufs 1936/1958 hervorgebracht haben 1 » 5.6.3.

Mietrecht

Eine wesentlich größere Bedeutung als das gewissermaßen "zwischen privatem und öffentlichem Recht oszillierende"124 ReichsheimstättenG vom 10.5.1920 mit den Figuren der Wirtschafte- und Wohnheimstätte zum Nut120 vgl. Anhang 6 dieser Arbeit. 121

Akten der Schriftführer der Jur.Ges., a.a.O., Bd. 6, Bl. 41.

122

73. Jahresbericht der Jur.Ges. (1931), S. 28 - 45.

12

3 Nörr, Zwischen den Mühlsteinen, S. 103 Fn. 7.

12

* Nörr, a.a.O., S. 86.

Die Zeit der "Weimarer Republik"

145

zen einkommensschwacher Familieni^ spielte in der Weimarer Zeit das soziale Mietrecht, welches von der Juristischen Gesellschaft in zwei Vorträgen rezipiert wurde: Im Dezember 1921 schildert Erich Eyck die Grundzüge der Neuordnung des Mietrechtsise. Er skizziert die Lage des Wohnungsmarkts als Notmarktlage und nennt als Vorgaben der Wohnungspolitik: Verhinderung übermäßiger Mietzinssteigerungen, Bewirtschaftung des vorhandenen und Beschaffung neuen Mietraums. Anschließend erörtert Eyck die Mietgesetzgebung der Kriegs- und Demobilmachungszeit, die, zunächst als Notrecht erlassen, bald unter dem Gesichtspunkt des Mieterschutzes den Charakter eines sozialen Mietrechts gewann. Die praktische Anwendung des ReichsmietenG vom 24.3.1922127 mit dem Kernbegriff der "gesetzlichen Miete" (Orientierung an der Friedensmiete nach dem Stand von 1914) schildert im Januar 1923 der Rechtsanwalt Goetzel den Vereinsmitgliedern. 1929 wollte der Kölner Prof. Heinrich Lehmann über soziales Mietrecht sprechen. Dazu äußerte sich der damalige Präsident der Gesellschaft Kipp in einem Schreiben vom 3.1.1929 an den Schriftführer Hagelberg: "Herr Professor Lehmann hatte mir schon vor längerer Zeit vorläufig als Thema genannt: 'soziales Mietrecht'. Wir haben vor Jahren einen Vortrag von Herrn Götzel über das Mieterschutzrecht gehört. Das würde ja nichts schaden; aber es scheint mir fraglich, ob wir hier in Berlin, wo der Kampf zwischen Mietern und Vermietern sehr lebhaft ist, diese Materie zum Gegenstand eines Vortrages machen sollen."12» Lehmann referierte dann im April 1929 über die Bedeutung des Art 151 Abs. 1 WRV (über die Ordnung des Wirtschaftslebens nach den Grundlagen der Gerechtigkeit) für die Gesetzgebung und Rechtsprechung.

125

Vortrag von Drenke im März 1920.

126 JW 1922, S.202f. 127 Vgl. bei Nörr, Zwischen den Mühlsteinen, S. 91. 12S Akten der Schritführer der Jur.Ges. 1927 - 1933, Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR, Bd. 1, Bl. 3.

146

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

5.6.4.

Zivilprozeß

Von den großen der Privatrechtsoidnung zuzurechnenden Kodifikationen des 19. Jahrhunderts hat die ZPO in der Weimarer Zeit die einschneidensten gesetzgeberischen Veränderungen erfahren, wobei die Prämissen bereits in der Vorkriegszeit festgelegt und vor allem vom Antagonismus des "liberalen" Modells von 1877 und des "sozialen" Prozeßrechts der von Franz Klein geprägten österreichischen Ordnung von 1895 bestimmt waren 1 ». Die Reformbemühungen der zwanziger und dreißiger Jahre werden an fünf Abenden von Referenten der Juristischen Gesellschaft kommentiert. Themen sind u.a.: Prozeßbeschleunigung (April 1923, Rechtsanwalt Kann), die Prozeßnovelle vom 13.2.1924 ("Emminger-VO", Mai 1925, Kammergerichtsrat Drechsler), Unmittelbarkeit und Rechtsangleichung (Dezember 1929, Prof. Pollak, Wien 1 »). Im Dezember 1931 stellt der Geheime Regierungsrat Erich Volkmar den unter seiner Federführung im Reichsjustizministerium erarbeiteten und 1931 vorgelegten Entwurf einer neuen ZPO vor, dessen Erläuterungen als das bedeutendste legislative Dokument seit der Kodifikation gewertet weiden können131 und noch die Reformbemühungen der sechziger Jahre beeinflußt haben. Im März 1932 schildert der Münchener Ministerialrat Sauerländer die Grundlinien seines Entwurfs zur Rationalisierung des Zwangsvollstreckungsverfahrens und zum Ausbau des Schuldnerschutzes, ein Reformbestreben, das bedingt durch die Wirtschaftskrise stecken blieb'32. Die Vorträge von Volkmar und Sauerländer dokumentieren eindrucksvoll das auf allen Gebieten zu beobachtende Be-

129

Nörr, a.a.O., S. 226f.

130

Im Vorfeld dieses Vortrages äußert sich der damalige Präsident der Ges. Kipp in einer Form, die Auskunft über das Selbstverständnis der Juristenvereinigung gibt: "Es entspricht bekanntlich unseren Gepflogenheiten nicht, dem Vortragenden ein Honorar zu zahlen, und ich würde das auch gerade im vorliegenden Fall ablehnen, da wir nur auf wiederholtes Drängen uns haben bereitfinden lassen, den Vortragenden anzuhören..." Schreiben von Kipp an Hagelberg v. 9.7.1929, Akten der Schriftführer der Jur.Ges. 1927 - 1933, Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR, Bd. 1, Bl. 198; zu Pollak vgl. bei Göppinger, Juristen jüdischer Abstammung im "Dritten Reich", 2. Aufl, S. 228.

131

Nörr, Zwischen den Mühlsteinen, S. 227.

132 Nörr, a.a.O., S.229f.

Die Zeit der "Weimarer Republik"

147

mühen des Vorstandes der Gesellschaft, am legislativen Verfahren entscheidend mitwirkende Männer als Referenten zu gewinnen.

5.7.

Arbeitsrecht

Während wesentliche wissenschaftliche Vorarbeiten des modernen Arbeitsrechts bereits vor und im Kriege geleistet worden sind (Gierke, Sinzheimer u.a.), hat erst die Revolution von 1918 die politischen Voraussetzungen zur deren Durchsetzung - insbesondere der Kollektivautonomie - geschaffen. Legislative Eckpfeiler der Arbeitsrechtsentwicklung in der Republik werden im Vereinsforum beleuchtet: Bereits erwähnt worden ist der Vortrag Hugo Sinzheimers über das Tarifvertragsrecht (Dezember 1919), welchem die Ausführungen des Justizrats Brandt zur praktischen Anwendung des BetriebsräteG (4.2.1920), nach Nörr in der geschichtlichen Entwicklung des Mitbestimmungsgedankens eine "vom Geist der wirtschafdichen Räteverfassung inspirierte Zusammenstellung vor- und nachrevolutionärer Elemente"™, im Februar 1923 folgen. Über die Neuordnung der Arbeitsgerichtsbarkeit, deren vom Dreiinstanzenzug mit dem Reichsarbeitsgericht als Revisionsinstanz ermöglichte einheitliche Rechtsprechung einen gewissen Ausgleich für die unterbliebene Kodifikation des Arbeitsrechts bedeutete134, durch das nach langen Vorarbeiten und heftigen Kämpfen zustandegekommene Arbeitsgerichtsgesetz vom 23.12.1926 berichten der am Gesetzgebungsverfahren beteiligte Geheime Regierungsrat Volkmar in der Sitzung vom Januar 1927 und der Landgerichtsdirektor Sello in der Sitzung vom Mai 1929. Sello betont, daß sich das Gesetz in knapp zwanzigmonatiger Praxis durchaus bewährt und zur sozialen Beruhigung beigetragen habe" 5 . Er schlußfolgert: "Ich bin überzeugt, daß viele bisher noch abseits stehende Richter und Anwälte sich Kenntnisse auf arbeitsrechtlichem Gebiet aneignen, und wenn sie soziales Verständnis und Liebe zur Sache mitbringen, Gutes leisten werden. Der Richter aber, der 133

Nörr, a.a.O., S. 205.

IM Nörr, a.a.O., S. 214. 135 71. Jahresbericht der Jur.Ges. (1929), S. 19 - 29.

148

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

auf exponiertem Posten steht und am Ausgleich der sozialen Spannungen mitzuarbeiten berufen ist, er bedarf des starken Vertrauens des Volkes, aber auch des erhöhten Gefühls der Verbundenheit mit seinen Berufsgenossen, das zu pflegen ja eine der schönsten Aufgaben der Juristischen Gesellschaft iSt."13«

5.8.

Die "Verlrauenskrise der Justiz" 1926 -1928

5.8.1.

Erich Eycks Vortrag "Die Kritik an der deutschen Rechtspflege" (9. Januar 1926)

Der wohl bekannteste, in der Juristischen Gesellschaft während der zwanziger Jahre gehaltene Vortrag steht im Zusammenhang mit der von Erich Kuttneri37 so apostrophierten "Vertrauenskrise der Justiz": Am 9. Januar 1926 kritisiert der publizistische Förderer des "Republikanischen Richterbundes" und Redakteur der linksliberalen Vossischen Zeitung (für die er auch über die Sitzungen der Jur.Ges. berichtete), Erich Eyck, die deutsche R e c h t s p f l e g e ^ . Das Mißtrauen einer breiten Öffentlichkeit gegen die Justiz - aufgegriffen vor allem von führenden Mitgliedern des "Republikanischen Richterbundes"139 wie Ludwig Bendix, Ernst Frankel und Robert Kempner und Thema zahlreicher Aufsätze in der kritschen Zeitschrift "Die Justiz"'«, noch verstärkt durch das die Gemüter besonders erregende sogenannte "Magdeburger Urteil" (23.12.1924) in der Beleidigungsklage des Reichspräsidenten Ebert gegen den Redakteur Rothardt141 - läßt sich auf folgende Kritikpunkte zusammenfassen: Die Weimarer Justiz sei republikfeindlich 136

71. Jahresbericht der Jur.Ges., S. 29.

137

Vgl. bei Kuhn, Die Vertrauenskrise der Justiz, S. 58.

138 68. Jahresbericht der Jur.Ges. (1926), S. 9 - 13; DJZ 1926, Sp. 153; JW 1926, S. 1130f.; spater gedruckt unter dem Titel"Die Krisis der deutschen Rechtspflege; Kuhn, a.a.O., S. 48f. 139 Vgl. bei Schulz, Der Republikanische Richterbund (1921 - 1933), S.45ff. 140 Vgl. bei Rasehom, Justizkritik in der Weimarer Republik - Das Beispiel der Zeitschrift "Die Justiz". 141

Vgl. etwa bei Schulz, Der Republikanische Richterbund, S. 65ff.

Die Zeit der "Weimarer Republik"

149

und reaktionär; die Rechtsprechung in politischen Fällen sei einseitig, nämlich scharf gegen links und mild gegen rechts; diese Einseitigkeit beruhe auf einer negativen Einstellung der Richterschaft gegen den demokratisch-republikanisch-parlamentarischen Staat'«. Eyck begründet zunächst die Notwendigkeit einer streng juristischen Behandlung des Themas in den Juristenkreisen143. Den Grund für die immer lebhaftere Kritik sucht er in der besonderen Rolle, welche die Rechtspflege angesichts der im öffentlichen Leben herrschenden Leidenschaftlichkeit und Rücksichtslosigkeit spiele. Die wirtschaftlichen und politischen Umwälzungen hätten ihre Aufgaben wesentlich komplizierter gestaltet. In der Zivilrechtspflege habe der wirtschaftliche Wandel zu einem Übergreifen der richterlichen in die gesetzgeberische Sphäre geführt. Die neue politische Lage bedeute für den Richter, der die Veränderungen innerlich nicht nachvollzogen habe, eine Schwierigkeit144. Eyck nennt dann Beispiele für überscharfes Vorgehen (die Fälle Loeb und Stoezel) und für zu weitgehende Nachsicht (Fall Otto) der Anklagebehörden. Er kritisiert gewisse Verfahrensformen der Gerichte, wie das Vorgehen gegen die Verteidigung ζ. B. im Tscheka-Prozeß145 vor dem Reichsgericht sowie die Anordnung des Schweigegebots, wie im Fall Fechenbach und in Fememordprozessen, und weist daraufhin, daß Richter wiederholt ihre politischen Ansichten in Urteilen zum Ausdruck gebracht hätten (z. B. im Prozeß wegen Verleumdung des Münchener Erzbischofs Faulhaber)146. Eyck konstatiert den mangelnden Ehrschutz republikanischer Politiker (ζ. B. in den Fällen des Preußischen Ministers Severing und des Reichspräsidenten Ebert) und vergleicht das milde Urteil im Hochverratsprozeß gegen Hitler mit dem harten Urteil im Landesverratsprozeß gegen Fechenbach147, dessen Aufhebung der deutschen

142 vgl. bei Kuhn, Die Vertrauenskrise der Justiz, S. 24. 143

JW 1926, S. 1130.

144

68. Jahresbericht der Jur.Ges. (1926), S. 9.

145 Verteidiger war u.a. das Mitglied der Ges. Kurt Rosenfeld. 146

68. Jahresbericht der Jur.Ges., S. 10.

147

Vgl. bei Schulz, Der Republikanische Richterbund, S. 52ff.

150

Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

Rechtswissenschaft zu verdanken sei148. Er schlußfolgert, daß eine Reform der Rechtspflege notwendig sei: Die Staatsanwaltschaft als Organ der Justizverwaltung müsse streng im republikanischen Geist geleitet werden; die Richter - deren Unabhängigkeit erhalten bleibe - müßten durch Selbstdisziplin und Kritik an fehlgreifenden Urteilen für die Wiederherstellung des früheren Vertrauens sorgen14». An der anschließenden erregten Diskussion nahmen u.a. der Senatspräsident Gioßmann (DDP), im Juli 1926 nach entschiedenem Einsatz für eine "Demokratisierung der Rechtspflege" wegen vereinswidrigen Verhaltens vorübergehend aus dem Preußischen Richterverein ausgeschlossen!», der Rechtsanwalt und Publizist Bendix (SPD), der preußische Justizminister der Revolutionszeit und Verteidiger von Rosa Luxemburg, Eisner und Ossietzky, Kurt Rosenfeld (1917 USPD, später SPD-Linksopposition), die Professoren Kohlrausch und Triepel und der ehemalige Reichsinnenminister und spätere Reichsjustizminister Erich Koch-Weser (DDP) teil. Eycks Vortrag markiert den Übergang von der Justizkritik zur Justizkrise151 (der wenige Monate später gedruckte Text trägt nun den Titel "Die Krisis der deutschen Rechtspflege"). Die Debatte unter dem Schlagwort von der Vertrauenskrise sollte sich - weiter entfacht durch den Magdeburger Mordfall Helling-Haas152 - auf den Juristenversammlungen, wie dem Deutschen Juristentag, in den Parlamenten und in der Tages- und Fachpresse bis 1928 fortsetzen1». Sie dokumentiert deutlich die ungelöste Problematik des revolutionären Wechsels der Staatsform bei weitgehender personaler Kontinuität der Rechtspflege in der Weimarer Zeit.

148 14

68. Jahresbericht der Jur.Ges., S. lOf.

» 68. Jahresbericht der Jur.Ges., S. 11.

150

Vgl. bei Kuhn, Die Vertrauenskrise der Justiz, S. 125f.

151

Kuhn, a.a.O., S. 49.

152

Vgl. bei Kuhn, a.a.O., S. 58 - 84.

15

3 Vgl. bei Kuhn, a.a.O., S. 97 - 238.

Die Zeit der "Weimarer Republik"

5.8.2.

151

Justizkritiker in der Juristischen Gesellschaft

In den Jahren 1918 bis 1933 versammeln sich in der Juristischen Gesellschaft zahlreiche kritische Geister, die, wie etwa die Referate von Max Alsberg und Erich Eyck eindrucksvoll belegen, auch das Vereinsforum nutzen, um ihre Vorstellungen zu artikulieren. So sind zahlreiche Mitglieder der Gesellschaft auf der Autorenliste der 1925 als Organ des Republikanischen Richterbundes 15* gegründeten, rechtspolitisch und publizistisch ausgerichteten Zeitschrift "Die Justiz"155 zu finden: ζ. B. die Anwälte Max Alsberg156, Willy Alterthum15?, Ludwig Bendix15«, Walter Breslauer1», Erich Eyck1«1, Emst Feder161, Georg M. Hamburger1«, Martin Isaac163, Ernst Koch 1 «, Kurt Rosenfeld165 und Johannes Werthauer166, der Bürgermeister von Berlin-Kreuzberg Carl Herz16'', der Reichsinnen- und Justizminster Erich Koch-

154

Aus dem Gründungsaufruf des R R. Januar 1922: "Von dem Gedanken beseelt, daß ein wahres Vertrauensverhältnis des Volkes zur Rechtspflege, sowie der deutsche Aufbau (Iberhaupt nur auf den Grundlagen der demokratischen Republik gedeihen kann, haben sich in Berlin Richter und Angehörige verwandter Berufe zu einem Republikanischen Richterbund vereinigt...Wir wollen endlich ein politisch neu interessiertes Richtertum,...", abgedruckt bei Schulz, Der Republikanische Richterbund, S. 18f.

55

Hrsg. von Wilhelm Komer in Verbindung mit Wolfgang Mittermaier, Gustav Radbruch und Hugo Sinzheimer.

56

Rasehorn, Justizkritik in der Weimarer Republik - Das Beispiel der Zeitschrift "Die Justiz", S. 264.

"

Rasehom, a.a.O., S. 264.

58 Rasehom, a.a.O., S. 66 - 71,265. 5

» Rasehom, a.a.O., S. 266.

«· Rasehorn, a.a.O., S. 269. 61

Rasehorn, a.a.O., S. 269f.