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German Pages 721 Year 2009
Festschrift der Juristenfakultät zum 600jährigen Bestehen der Universität Leipzig Herausgegeben von Mitgliedern der Juristenfakultät
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Festschrift der Juristenfakultät zum 600jährigen Bestehen der Universität Leipzig
Festschrift der Juristenfakultät zum 600jährigen Bestehen der Universität Leipzig Herausgegeben von Mitgliedern der Juristenfakultät
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
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Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-428-13148-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Die Universität Leipzig feiert im Jahre 2009 die 600. Wiederkehr ihrer Gründung. Dieses herausragende Jubiläum nimmt die Juristenfakultät zum Anlass, „ihrer“ Universität eine wissenschaftliche Festschrift zu widmen. Festschriften ehren den Jubilar. Institutionenbezogene Festschriften wie der vorliegende Sammelband spiegeln zugleich die Bedeutung und die Funktion ihres Adressaten, im Falle einer Universität also insbesondere die akademische Forschung. Die in der Festgabe enthaltenen Beiträge zeichnen ein lebendiges Bild der aktuellen rechtswissenschaftlichen Forschungslandschaft in und mit Bezug auf Leipzig wider. Sie zeugen gleichermaßen von der großen Tradition der Juristenfakultät. Bedeutenden Rechtsgelehrten, die an der Leipziger Fakultät wirkten, ist der erste Abschnitt der Festschrift gewidmet, von Benedict Carpzov und Christian Thomasius bis zu Erwin Jacobi. Die Juristenfakultät könnte nicht in dieser Form am Jubiläum der Universität teilhaben, wäre nicht von Leipzig vor 20 Jahren die friedliche Revolution ausgegangen, die zur deutschen Einigung führte. An diese Entwicklung und hierdurch aufgeworfene einigungsbedingte Rechtsfragen erinnert der folgende Abschnitt. Im Gefolge dieser Entwicklungen wurde Leipzig wieder zur Stadt des Rechts – der folgende, dritte Abschnitt der Festschrift ist dem Bundesverwaltungsgericht gewidmet. Die Beiträge zur rechtlichen Verfasstheit der Universität mögen auch daran erinnern, dass die Freiheit der Wissenschaft stets von Neuem behauptet werden muss. Beiträge aus den Fachbereichen der Fakultät sollen schließlich die Breite der wissenschaftlichen Forschung an den Lehrstühlen und Instituten der Juristenfakultät verdeutlichen. Mit der Festschrift bringt die Juristenfakultät zugleich den Wunsch zum Ausdruck, dass sich Freiräume wissenschaftlicher Forschung auch in der vor uns liegenden Zeit bewahren lassen. Für einen großzügigen Druckkostenzuschuss dankt die Fakultät der Kanzlei CMS Hasche Sigle Rechtsanwälte Steuerberater, Leipzig. Leipzig, im Juni 2009 Prof. Dr. Christian Berger Dekan
Prof. Dr. Christoph Degenhart Redaktion der Festschrift
Inhaltsverzeichnis I. 600 Jahre Lehre und Forschung an der Leipziger Juristenfakultät: bedeutende Rechtsgelehrte Wolfgang Schild Der große Leipziger Ordinarius Benedict Carpzov (1595 – 1666) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Michael Kahlo Deutsch als Rechtssprache. Überlegungen im Rückblick auf Christian Thomasius’ Ankündigung einer deutschsprachigen Philosophievorlesung in Leipzig . . . . . . . . . . . . .
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Holger Stadie Das Steuerrecht an der Universität Leipzig. Von Otto Mayer über Exkurse zu Friedrich Geyler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Rudolf Geiger Heinrich Triepels Lehre über den Dualismus von Völkerrecht und Landesrecht: ein Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73
Roman Schmidt-Radefeldt Der Staats- und Völkerrechtler Heinrich Triepel und Leipzig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
89
Justus Meyer Victor Ehrenberg in Leipzig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Ekkehard Becker-Eberhard Friedrich Stein als Wegbereiter eines öffentlich-rechtlichen Verständnisses der Zwangsvollstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Christian Berger Die Aussonderung von Treugut in der Insolvenz des Treuhänders – ein konkursrechtlicher Klassiker im Großkommentar des Leipziger Konkursrechtswissenschaftlers Ernst Jaeger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Christoph Enders Prinzipientreue im Wandel der Staatsformen. Der Leipziger Staatsrechtslehrer Willibalt Apelt (1877 – 1965) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Hendrik Schneider Bleibendes im arztstrafrechtlichen Denken Eberhard Schmidts. Zur rechtlichen Einordnung des lege artis vorgenommenen ärztlichen Heileingriffs als tatbestandsmäßige Körperverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Bernd-Rüdiger Kern Medizinrecht an der Juristenfakultät bis 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
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Inhaltsverzeichnis
Burkhard Boemke Der Betriebsbegriff von Erwin Jacobi und seine Bedeutung für das heutige Arbeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Wolfgang Gitter Arbeits- und Sozialrecht in Forschung und Lehre an der Leipziger Juristenfakultät . . . 221 II. Leipzig im Fokus der deutschen Einigung Helmut Goerlich „Wir sind das Volk“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Karl-Heinz Fezer Pluralistische und sozialistische Rechtstheorie des subjektiven Rechts. Vom marxistisch-leninistischen Pflichtrecht als Aufgabennorm zum demokratischen Teilhaberecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Christoph Degenhart Akademische Abschlüsse zwischen Zusammenführung und Anpassung: verleiht Art. 37 Abs. 1 Satz 2 Einigungsvertrag einen Anspruch auf Umdiplomierung? . . . . . . . 271 III. Leipzig als Stadt des Rechts: Hommage an das Bundesverwaltungsgericht Uwe Berlit Reichsverwaltungsgericht und Reichsgericht. Schlaglichter auf die Bestrebungen zur Errichtung eines Reichsverwaltungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Eckart Hien Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig – Bilanz der ersten fünf Jahre . . . . . . . . . . . . . 307 Ralf Brinktrine Wie arbeitet das Bundesverwaltungsgericht? Ein Überblick zu der Struktur und der Arbeitsweise des höchsten deutschen Verwaltungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 IV. Rechtlich verfasste Universität Tim Drygala Die Aktiengesellschaft als Regelungsvorbild der Universitätsverfassung . . . . . . . . . . . . . 335 Georg Sandberger Die Novelle des Sächsischen Hochschulgesetzes – eine kritische Bestandsaufnahme . . 357 V. Entwicklungen im Recht – Beiträge aus den Fachbereichen Bürgerliches Recht, Wirtschaftsrecht Franz Häuser Das Schicksal des BGB im Prozess der Europäisierung des Zivilrechts. Vom Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) zum europäischen Zivilgesetzbuch (EU-ZGB)? . . . . . . . . . . . 373
Inhaltsverzeichnis
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Reinhard Welter Vom Wechsel auf Leipziger Messen zum Wechselverbot im Verbraucherkreditrecht . . 389 Walter Schönrath Die Normierung des schuldnerischen „Vertretenmüssens“ im BGB einst und jetzt . . . 411 Horst-Peter Götting Das Trennungs- und Abstraktionsprinzip im Urheberrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 Bettina Heiderhoff AGB-Kontrolle im internationalen Kaufvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 Lutz Haertlein Ausländische Parteien im Bankprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 Harry Schmidt Zur „räuberischen“ Nichtigkeitsklage beim Squeeze out . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 Strafrecht Diethelm Klesczewski Die limitierte Akzessorietät der Teilnahme am Mord . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 Öffentliches Recht Markus Kotzur Vorspruch und Versprechen. Der Europäische Integrationsprozess nach Lissabon im Lichte der Präambeltexte des EUV, des AEUV und der EU-Grundrechtecharta . . . . . . . 511 Martin Oldiges Parlamentarische und plebiszitäre Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 Frank Rottmann Toleranz als Verfassungsprinzip? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551 Adrian Schmidt-Recla Wirtschaftliche Zweckverbände und Stadtrechtsentstehung in Obersachsen und der Mark Meißen im 13. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579 Wolfgang Köck Europarechtlicher Artenschutz als Grenze der Stadtentwicklung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597 Stefan Haack Polizeirecht als Risikozuordnungsrecht. Überlegungen zur Funktion des polizeirechtlichen Haftungsregimes, dargestellt an Fällen der Zustandsverantwortlichkeit . . . . . . . . 619 VI. Universität im Rückblick Eva Schumann Von Leipzig nach Göttingen. Eine Studie zu wissenschaftlichen Netzwerken und Freundschaften vor und nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633
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Inhaltsverzeichnis
Georg Nolte Gustav Stresemann in Sachsen – Ein Symbol für den Weg zur westeuropäischen Einigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 679 Walter Gropp Jahre des Wiederaufbaus – Leipzig 1993 bis 1998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 687 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 709
I. 600 Jahre Lehre und Forschung an der Leipziger Juristenfakultät: bedeutende Rechtsgelehrte
Der große Leipziger Ordinarius Benedict Carpzov (1595 – 1666) Von Wolfgang Schild
Eine Festschrift der Juristenfakultät zum 600jährigen Gründungsjubiläum der Universität Leipzig tut gut daran, an die Menschen zu erinnern, die den Ruhm dieser Universität (und Fakultät) begründet haben; und da kommt sie an Benedict Carpzov1 nicht vorbei2, der von 1645 bis 1653 Ordinarius der Juristenfakultät war und damit für acht Jahre an ihrer Spitze stand. Doch gilt dieser Gelehrte bis heute manchen als „furchtbarer Jurist“, dem seit einer Bemerkung des Philipp Andreas Oldenburger aus 16753 die Verantwortung für 20.000 Todesurteile – die dann später ergänzt wurde: zumeist in Hexereiprozessen [und damit als Fehlurteile gebrandmarkt] – zugeschrieben wurde und wird4. Diese Einschätzung konnte und musste ich selbst erleben, als in Leipzig anlässlich seines 400. Geburtstages (27. 5. 1995) ein Symposium zu seinem Gedenken von Walter Gropp (damals Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht und Strafrechtsvergleichung in Leipzig), Günter 1 Genauer: Benedict (II.) Carpzov, da auch der Vater – Benedict (I) Carpzov (1565 – 1624) – bedeutender Gelehrter und Jurist, nämlich Professor für Institutionen und (später) für Pandekten an der Universität Halle-Wittenberg, war (zu ihm vgl. Lieberwirth in: Jerouschek / u. a. 2000, 45; Schieckel). 2 Vgl. auch die Würdigung durch Rößler, der Carpzov zu den „historischen Persönlichkeiten der Juristenfakultät“ zählt und darstellt. Auch die ins Internet gestellte Informationsbroschüre der Juristenfakultät vom August 2000 (aktualisiert April 2008) nennt Benedict Carpzov den „wohl ersten auch über seine Zeit hinaus bedeutenden Juristen in der Geschichte der Fakultät“. 3 Vgl. Trusen 20. 4 Boehm 1941a, 20 übersetzt die entsprechende Stelle aus dem 4. Teil des „Thesaurus rerum publicarum“ des Philipp Andreas Oldenburger wie folgt: „Im Oberhofgericht zu Leipzig glänzte bis vor wenigen Jahren der in ganz Europa unvergleichliche Rechtsgelehrte Benedict Carpzov, der die römische Rechtsgelehrsamkeit mit glücklichster Feinheit auf das bürgerliche Recht und das Strafrecht praktisch angewendet hat. Es wird von ihm erzählt und steht für mich auf Grund der schriftlichen Mitteilung eines vertrauenswürdigen Freundes fest, dass er an die 20.000 wegen Verbrechens Angeklagte durch seine Urteilssprüche und Rechtsauskünfte zum Tode verurteilt habe. Es bewundern ihn außer uns Deutschen auch die Dänen, Schweden, Belgier und, was erstaunlich ist, sogar die Franzosen, die seinerzeit die Absicht hatten, seine Schriften ins Französische übersetzen und in Lyon drucken zu lassen.“ Zu den offensichtlichen Fehlern dieser Information vgl. Boehm 1941a, 20. – Anzumerken ist, dass Johann von Leers in seiner „Deutschen Rechtsgeschichte“ (1939) sogar 50.000 Todesurteile angab (vgl. Boehm 1942, 370 Fn. 384).
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Wolfgang Schild
Jerouschek (damals Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht in Halle) und mir (damals während der Vorbereitung noch Mitglied der Gründungskommission der Juristenfakultät) geplant wurde. Die angefragten höchstrangigen sächsischen Wissenschaftspolitiker weigerten sich, die Schirmherrschaft über diese Veranstaltung zu übernehmen (von der Gewährung finanzieller Unterstützung ganz zu schweigen), wobei ihre „Begründungen“ zum Teil als „aberwitzig“ bezeichnet werden müssen5. Mit einjähriger Verspätung konnte das Symposium dann doch noch vom 3. bis 5. Oktober 1996 in Leipzig und Halle durchgeführt werden6, da die Stiftung Volkswagenwerk die erforderlichen Mittel gewährte. Im Jahre 2000 erschien der Tagungsband, der auch durch einen Zuschuss der Universität Leipzig gefördert wurde; wie auch die Professoren Siegfried Hoyer (von den Historikern) und Günther Wartenberg (von den Theologen) mit je einem Beitrag zum Gelingen der Veranstaltung beigetragen hatten. Die Universität Leipzig war also damals stolz auf einen ihrer bedeutenden Söhne. Und ich denke, dass seit dieser Veröffentlichung 2000 die früheren Vorbehalte und Vorurteile gegenüber Benedict Carpzov nicht mehr vertreten werden können. Daher kann ich diesen großen Juristen nun unbedenklich den LeserInnen in zwei Abschnitten (I. Leben, II. Beruflicher Werdegang) vorstellen, wobei die Ergebnisse dieser Leipziger (und Hallenser) Tagung aufbereitet und auch einige später erschienene Arbeiten verwertet werden; die ursprünglich vorgesehenen Abschnitte über das Werk und die zusammenfassende Würdigung müssen aus Raumgründen an anderer Stelle veröffentlicht werden. Der Titel orientiert sich dabei an dem 1941 erschienenen Aufsatz des damaligen Leipziger Professors Ernst Boehm über den „großen Leipziger Schöffen Benedict Carpzov“. Das Literaturverzeichnis soll nicht nur die Belege ausweisen, sondern auch einen Überblick über die Sekundärliteratur zu Carpzov bilden7. – Mein Beitrag versteht sich als kleine Gabe zum Jubiläum der Universität dieser bedeutenden und wegen des Ansehens Carpzovs zu seinen Lebzeiten wohl bedeutendsten8 deutschen Juristenfakultät, der ich mich auch nach der Auflösung der Gründungskommission noch immer verbunden fühle.
5 So die Herausgeber in der Einleitung zu: Jerouscheck / u. a. 2000, 9; vgl. allerdings Paul Burian in einer Buchbesprechung in GA 2005, 125 ff., der diese Haltung „bis zu einem gewissen Grad verständlich“ findet (S. 126). – Lieberwirth, in: Jerouschek / u. a. 2000, 43, nennt das Buch „Geschichte Sachsens“, das 1989 von Karl Czok in Weimar herausgegeben wurde, als eine neuere Quelle, in der Carpzov bzw. dessen Werk als „lutherischer Hexenhammer“ bezeichnet wurde. Zu dieser Bezeichnung als „Hexenhammer des Protestantismus“ vgl. auch Trusen 19. Die Bezeichnung „protestantischer Hexenhammer“ stammt offensichtlich von Georg Längin (in der Arbeit „Religion und Hexenprozess“) (so Klee 263). 6 Vgl. den Tagungsbericht von G. Jerouschek in ZStW 109, 1997, 390 – 396. 7 Weitere (ältere) Literatur ist abgedruckt in Schild 1997a. 8 So Friedberg 74.
Der große Leipziger Ordinarius Benedict Carpzov
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I. Leben Benedict Carpzov9 wurde am 27. Mai 1595 in Wittenberg geboren. Sein Vater war der aus Kurbrandenburg stammende Dr. Benedict (I.) Carpzov (1565 – 1624), damals Assessor der juristischen Fakultät und Kanzler des Grafen Martin von Rheinstein und Blankenburg, ab 1599 Professor der Institutionen und ab 1601 Professor der Pandekten an der Universität Wittenberg, selbst Spross einer seit dem Ende des 16. Jahrhunderts bedeutenden sächsischen Juristen- und Theologenfamilie10. Seine Mutter Anna war die Tochter des Wittenbergischen Ratsherren und Apothekers Konrad Fluth und Urenkelin des Lukas Cranach d. Älteren, also einer Kursächsin; sie starb bereits 1599 am Kindbettfieber. Neben zwei jüngeren Schwestern hatte Benedict den älteren Bruder Konrad (1593 – 1658), der später selbst als Professor an der juristischen Fakultät und zweimal als Rektor der Universität Wittenberg tätig werden sollte.1602 wurde der Vater, der ein Jahr zuvor in zweiter Ehe Christine, Tochter des bekannten Wittenberger Verlegers, Buchdruckers und Papierhändlers Samuel Selfisch geheiratet hatte (aus welcher Beziehung sieben Söhne hervorgingen, die ebenfalls zum Teil juristische oder theologische Karrieren machten), Kanzler der Witwe des Kurfürsten Christian I. von Sachsen und zog an ihren Hof nach Colditz (bei Grimma), wo die Kinder eine gründliche Erziehung und Ausbildung durch Privatlehrer erhielten. 1610 nahm der 15jährige Benedict gemeinsam mit seinem zwei Jahre älteren Bruder die philosophischen und juristischen Studien in Wittenberg auf11. Sie wechselten im November 1615 an die Universität Leipzig, wo sie für das Wintersemester 1615 / 1616 immatrikuliert wurden; kurz zuvor hatte Benedict offensichtlich drei Disputationen Barthasar Henckels aus dem Lehnrecht verteidigt12. Aus dem Jahr 1616 sind Thesen einer Disputation Benedicts unter Johann Leonhard Agricola über das Thema „De aestimatione quae fit per jusiurandum in litem“ überliefert13. Noch im Jahre 1616 (Oktober) gingen die Brüder nach Jena, an welcher 9 Nach Stintzing 55 Fn. 2 schrieb sich die Familie immer „Carpzov“ bzw. latinisiert „Carpzovius“; Köstlin 221 f. schrieb „Karpzov“ (wobei anzumerken ist, dass – wenn schon, denn schon – dann „Karpzow“ konsequent gewesen wäre), Roßhirt und Kögel schrieben „Carpzow“. – Döhring 1957, 156 nennt als Pseudonym den Namen „Ludovicus de Montesperato“. Der Grund dafür liegt in dem Gerücht (das der Neffe August Benedict Carpzov in seiner Dissertation „de coercitione“ bestätigt hat), dass der unter diesem Namen auftretende Verfasser der 1653 (mit falschem Druckort London) erschienenen politischen Schrift „Vindiciae pacificationis Osnabrügensis a declaratione nullitatis attentata ab Innocentio X.“ (auf deutsch gedruckt als „Eine Rettung des Osnabrüggischen Friedens wider Innocentii X. Nullitätserklärung“) Benedict Carpzov gewesen sei; welches Gerücht aber nicht erwiesen ist (dazu vgl. Jugler 300 [der allerdings dieses Buch als Werk Carpzovs anführt]; Muther 18). 10 Vgl. zu dieser Familie Schieckel. 11 Ranieri 33 nennt vier Universitätsbesuche: Wittenberg (18. 10. 1602), Padua (5. 6. 1611), Leipzig (1615), Jena (1616). Die ersten beiden Angaben sind sicherlich nicht korrekt. 12 So Jugler 280.
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Wolfgang Schild
Universität u. a. Petrus Theodoricus lehrte14, und studierten dort bis 1618. Hier wagten sie die ersten Schritte zu einer akademischen Dozentenlaufbahn, indem sie Disputierübungen und Privatvorlesungen abhielten15. Bereits im Jahre 1616 verfassten die Brüder gemeinsam bei dem Professor des öffentlichen Rechts Dominicus Arumaeus16 eine reichspublizistische Arbeit über die Regalien17, mit der sie nach ihrer im Mai 1618 vorgenommenen Rückkehr nach Wittenberg am 16. 2. 1619 promovierten18. Die näheren Umstände sind nicht wirklich geklärt. Man muss dabei beachten, dass es in der damaligen „Studienordnung“ drei unterschiedliche akademische Grade und Abschlüsse gab19. Nach drei Jahren Besuch von Vorlesungen konnte man das Baccalareat erwerben, womit die Verpflichtung verbunden war, nach Anweisung der Fakultät Vorlesungen zu halten. Nach wieder drei Jahren konnte man Lizentiat werden, was meist mit einer feierlichen Disputation verbunden war. Erneut war der Betreffende zu Vorlesungstätigkeit berechtigt (daher der Name) und auch verpflichtet. Den Abschluss bildete die Promotion, die anfangs nur aufgrund von Thesen ohne eigenes Examen erfolgte, dann ab 1600 eine Dissertation voraussetzte. Stintzing20 nahm an, dass die beiden Brüder ab 1616 in Jena „durch Vorträge und Leitung von Disputationen“ ihre Befähigung zum Lehrberuf zu erproben begonnen, im Dezember 1618 das Lizentiat und im Februar 1619 die juristische Doktorwürde erworben hätten. Am genauesten war Samuel Lange in seiner Leichenpredigt: er nannte eine am 3. 12. 1618 „pro Licentia“ durchgeführte Disputation „de regalibus“ unter der Leitung des Wolfgang Hirsbach; am 14. 12. 1618 hätten die Brüder das Lizentiat in utroque jure erlangt; am 16. 2. 1619 hätten sie von dem damaligen Ordinarius Bartholmäus Reusner „den höchsten graduum Doctoris mit großen Ruhm und Ehre erlanget“21. Anzumerken ist, dass Carpzov in Jena Zeitzeuge der 1618 einsetzenden Hexenverfolgung auf dem Gebiet der vormaligen Grafschaft Henneberg war, für die die Jenaer Juristenfakultät die meist beteiligte Spruchbehörde war; zudem war sein Lehrer Dominicus Arumaeus Mitglied des Jenaer Schöppenstuhls. Wilde sieht darin die erste und sicherlich auch prägende Bekanntschaft des 23jährigen mit den Hexereiverfahren22. 13 Friedberg 51 Fn. 2; Hoyer in: Jerouschek / u. a. 2000, 28. – Ranieri 33 nennt drei nachgewiesene Disputationen (unter den Nummern 237, 251, 270). 14 Schaffstein in: Jerouschek / u. a. 2000, 18. – Zu diesem Strafrechtswissenschaftler vgl. Ebert in: Jerouschek / u. a. 2000, 73 ff. 15 Vgl. Jugler 280; Lange 34; Muther 12. 16 Zu ihm vgl. Hoke. 17 Zu Carpzov als Vertreter des öffentlichen Rechts vgl. Hoke in: Jerouschek / u. a. 2000, 265 ff. 18 So Lange 35; vgl. auch Jerouschek 2006, 819; Jugler 280; Muther 12. 19 Dazu Friedberg 6 f. 20 Stintzing 56. Vgl. dazu auch Ranieri 33 f. 21 So Lange 35. 22 Wilde 418.
Der große Leipziger Ordinarius Benedict Carpzov
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Danach trennten sich die Wege der Brüder. Während Konrad die Stelle eines Hofrats in Pommern antrat, unternahm Benedict die damals übliche und den Abschluss der vollendeten Erziehung darstellende Bildungsreise („peregrinatio academica“), die ihn nach Süddeutschland, dann über Venedig nach Rom – wo er Italienisch lernte23 – und weiter nach Neapel, von da über Savoyen nach Frankreich – wo er die französische Sprache erlernte24 – und nach England bis nach Holland (und Belgien), wo er sich für eine längere Zeit niederlassen wollte, führte. In Savoyen besuchte er den bekannten Rechtsgelehrten Anton Faber, um ihm persönlich seine Verehrung zu bezeugen25. Schaffstein nahm an, dass er auf dieser „akademischen Kavaliersreise“ in Italien die damals führende Rechtsliteratur kennengelernt habe26. Er musste diese Reise aber bereits im April 1620 abbrechen, da er – wohl durch Vermittlung seines Vaters – am 25. 4. 1620 vom Kurfürst Johann Georg I. (1611 – 1656) zum Assessor extraordinarium (Adjunkten) am Leipziger Schöppenstuhl berufen worden war. Er nahm seinen Wohnsitz in Leipzig. Am 28. Mai 1627 verlobte sich Carpzov öffentlich mit Regina Cramer von Clausbruch (Claußbruch) aus dem Geschlechte eines von Kaiser Maximilian II. geadelten Leipziger Handelsherrn27; die Eheschließung erfolgte am 28. August desselben Jahres28. Die Verbindung zu dieser Familie wurde im Übrigen dadurch verstärkt, dass auch der Bruder Konrad 1633 die Schwester Christina Elisabeth zur Ehefrau nahm. Der Ehe war wenig Glück beschieden. Ihr entstammten fünf Kinder29 – die drei Knaben Benedict, Heinrich Julius und Benedict Heinrich und die zwei Mädchen Regina Elisabeth und Regina Christina30 –, die aber alle sehr jung starben. Lange berichtet über eine schriftliche Bemerkung Carpzovs nach dem Tod des jüngsten Kindes: „Es lasse Ihn der Herr erfahren viel und mancherley Angst, aber seine Gnade tröste Ihn wieder“31. Am 14. Juni 1637 erlag auch Regina einem „hitzigen Fieber“, sicherlich eine Folge des Dreißigjährigen Krieges, da wegen des Durchzugs fremder Soldaten, des Zustroms von Flüchtlingen aus der nahen Umgebung und der wirtschaftlichen Notlage der Stadt häufig Seuchen auftraten. Am 22. Oktober 1640 verlobte Carpzov sich öffentlich mit Catharina, der Tochter des Theologieprofessors und Predigers an der Thomaskirche Moritz Bur[c]khard (Burchard); die Heirat folgte am 15. November desselben Jahres32. Catharina starb So Lange 35. So Lange 35. 25 Wie er selbst in seiner Vorrede zur „Jurisprudentia forensis Romano-Saxonica“ (1638), die dem Vorbild Fabers folgte, angab; dazu vgl. Jugler 290; Muther 12; Stintzing 56. 26 Schaffstein in: Jerouschek / u. a. 2000, 18. 27 Dazu Boehm 1941a, 19; Hoyer in: Jerouschek / u. a. 2000, 29 f. 28 Lange 43. 29 Die manchmal genannte Zahl von sechs Kindern ist falsch; vgl. dazu Boehm 1942, 309 Fn. 283. 30 Lange 43; Muther 16. 31 Lange 43. 32 Lange 44; Jugler 283. 23 24
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nach kinderloser Ehe am 20. April 1651, ebenfalls an „hitzigem Fieber“33; offensichtlich war sie schon vorher krank gewesen, da sie Ende 1644 nicht mit nach Dresden ziehen konnte34. Nach ihrem Tod blieb Carpzov Witwer; eine Schwester führte ihm das Hauswesen; als auch diese verstarb, traten an ihre Stelle weiter entfernte Angehörige35. Wie bereits erwähnt, nahm Benedict Carpzov 1620 seinen Wohnsitz in Leipzig, zunächst – von einer kurzen Unterbrechung November 1644 bis Mai 1645 abgesehen, in welcher Zeit er wegen der Ernennung zum Hofrat nach Dresden gezogen war – für 33 Jahre. Im August 1653 zog er erneut berufsbedingt nach Dresden, kehrte aber gerne im Juli 1661 zurück und blieb hier bis zu seinem Lebensende (1666). Überliefert ist seine Bemerkung: „Extra Lipsium vivere est miserrime vivere“36 („ein Leben außerhalb Leipzigs ist ein schreckliches Leben“). Er wohnte zunächst sicherlich nicht in einem eigenen Haus, sondern in einem städtischen oder, was Hoyer37 für wahrscheinlicher hält, in einem kurfürstlichen Freihaus. Während seiner Funktion als Ordinarius der Juristenfakultät (von 1645 bis 1653) ist anzunehmen, dass er in einem Gebäude wohnte, das der Universität gehörte. Beim Tod der ersten Frau (1627) trug der Schreiber im Totenbuch als Wohnort Burgstraße ein38; beim Tod der zweiten Frau (1651) steht im Totenbuch Thomasgäßchen, was auf ein Gebäude aus dem Komplex des ehemaligen Thomasklosters hindeutet, das nun die Universität nutzte. Dieser Todesfall war sicherlich mit ein Grund, warum Carpzov im August 1653 dem Ruf des Kurfürsten an den Dresdner Hof als Geheimer Rat folgte. Er blieb dort bis Juli 1661. Offensichtlich veranlassten Gesundheitsgründe, aber wohl auch der Wechsel des Kurfürsten – nach dem Tod des ihm sehr gewogenen Johann Georg I. im Jahre 1656 regierte Johann Georg II.39 – seine Rückkehr nach Leipzig, was sich auch darin zu zeigen scheint, dass er in diesem Jahr sein erstes Testament verfasste (dem dann 1666 ein zweites mit späteren Korrekturen folgte)40. Nach der Rückkehr aus Dresden kaufte Carpzov ein schönes Haus mit Garten zur Stadtmauer in der Burgstraße41 von dem Juristen Dr. Isaac Leickher zum Preis von 3.228 Reichstalern. Er lebte bis zu seinem Tod 1666 mit seinem Mündel, Fräulein von Beichlingen, und mit Dienern, Kutschern und Mägden in diesem Haus. Lange 44. Vgl. Hoyer in: Jerouschek / u. a. 2000, 34. 35 So Muther 18. 36 Lange 41; Stintzing 59. – Muther 18 nennt als ebenfalls überlieferte Stammbucheintragung: „Extra Academiam vivere est miserrime vivere“. 37 Dazu und zum Folgenden Hoyer in: Jerouschek / u. a. 2000, 33 f. 38 Nach Boehm 1941, 201 stand dieses Haus an der Stelle des heutigen (d. h. 1941) Hauses Burgstraße 18. 39 So Jugler 282. 40 Hoyer in: Jerouschek / u. a. 2000, 35. 41 Dazu genauer Boehm 1941a, 18. 33 34
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Dieser Kauf des Hauses und die noble Lebensweise zeigen, dass Carpzov im Laufe seines Lebens ein reicher Mann geworden war, in den Worten von Stintzing: „auf großem Fuße lebte“42. Doch ist anzumerken, dass er von vornherein aus einer durchaus begüterten Familie stammte, was sich in der kostspieligen Bildungsreise nach seiner Promotion zeigt. Überdies ist zu berücksichtigen, dass während des Krieges viele Kontributionen und Sondersteuern seine Einkünfte schmälerten, weshalb der größte Teil des Vermögens erst nach 1648 erworben wurde43. Seine beiden Ehefrauen werden wahrscheinlich trotz ihrer Herkunft nicht viel Mitgift eingebracht haben; so hatte z. B. Regina Cramer von Clausbruch zwar einen reichen Vater, aber auch neun Geschwister44. Carpzov hinterließ ein Barvermögen in Höhe von 15.590 Reichstalern; dazu kamen noch Fuhrwerk, Pferde, zahlreiche Juwelen und Kostbarkeiten45. Interessant ist, dass Carpzov während seines gesamten Lebens nicht Bürger der Stadt Leipzig wurde, auch keinen diesbezüglichen Antrag stellte46. Er blieb aber Mitglied der „universitas“ (also der Universität), in die er 1615 mit dem Matrikeleintrag aufgenommen worden war, damit also civis academiae. Dieser Rechtsstatus ist nach Hoyer47 durchaus verständlich, wenn man bedenkt, dass die Universität nicht nur Gerichtsherr für ihre Mitglieder war, sondern auch als eigene Institution auftrat. Carpzov war ein gläubiger orthodoxer Lutheraner; und stellte diesbezüglich den Regelfall der neuen Beamtenschaft des Landesherrn dar. Wartenberg48 verweist auf den damaligen Zeitgeist, in dem die Verbindung von Bürgertum, gelehrter Bildung und Hofdienst charakteristisch war. Er bezeichnet das strenge Luthertum sogar als „Staatsräson“: die Staatsdiener mussten bei Amtsantritt die „vier Artikel“ betreffend Abendmahl, Person Christi, Taufe und Prädestination unterschreiben. Deshalb sei die oft genannte Frömmigkeit Carpzovs – das 53maliges Durchlesen der Bibel, verbunden mit eingehendem Studium unter Zuhandnahme gelehrter Hilfsmittel, der sonntägliche Gottesdienst, der regelmäßige Gang zum Abendmahl49 – als normal anzusehen, habe es damals doch eigene „Bibellesepläne“ für den Alltag gegeben und hätten Bibelsprüche an Zimmer- und Hauswänden, an Ofenkacheln oder auf Gegenständen des täglichen Gebrauchs das alltägliche Leben begleitet. Darüber hinaus darf nicht vergessen werden, dass von 1618 an der DreiStintzing 60. Dazu und zum Folgenden Hoyer in: Jerouschek / u. a. 2000, 35. 44 Vgl. Hoyer in: Jerouschek / u. a. 2000, 29, der deshalb folgert, dass die materielle Lage des Paares nicht glänzend gewesen sei (30). 45 Zu den Einzelheiten des Testamentes siehe Hoyer in: Jerouschek / u. a. 2000, 35 f.; Stintzing 60. 46 Hoyer in: Jerouschek / u. a. 2000, 29. 47 Hoyer in: Jerouschek / u. a. 2000, 29. 48 Zum Folgenden vgl. Wartenberg in: Jerouschek / u. a. 2000, 257 ff. 49 Lange 45; Muther 19. 42 43
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ßigjährige Krieg das Leben des damals 23jährigen unmittelbar belastete50. Dabei ging es nicht nur um wirtschaftlichen Niedergang51, der sich selbst nach Kriegsende in den Reparationszahlungen auswirkte, sondern auch um die Schrecken und Folgen für das eigene Leben. Wassermangel, Hungersnot, Seuchen, durchziehende gewalttätige Söldner bedrohten das Leben der Menschen. Der frühe Tod der ersten Ehefrau und der fünf Kinder waren sicherlich auf diese Verhältnisse zurückzuführen. Jerouschek meint, dass Carpzov diese durch und durch krisenhaft erfahrene Lebenswelt durch eine autoritäre Grundhaltung zu kompensieren gesucht habe, die sich besonders unnachgiebig gegen vermeintliche Exponenten dieser Bedrohung gewendet habe52. Es ist aber ebenso anzunehmen, dass der starke religiöse Glaube an den zornigen, diese Schrecken zulassenden, aber trotzdem zuletzt gnädigen Gott und an die von ihm eingesetzte und daher zu unterstützende Obrigkeit den für das Weiterleben notwendigen Halt gegeben hat. Man darf überhaupt den religiösen Hintergrund dieses Krieges nicht vergessen, die Feindschaft zwischen Katholiken, Lutheranern und Calvinisten53, die dadurch aufgeregte Verinnerlichung der individuellen Glaubenshaltung. Die daraus folgende Einbindung der politisch-rechtlichen Sphäre der sich herausbildenden Landesherrschaft in ein religiöses (fundamentalistisch christliches) Weltbild, in dem Gott der höchste Gesetzgeber und Richter war und die Obrigkeit von ihm ihren Auftrag zur Herstellung einer guten Ordnung54 ableitete, wird so verständlich. Benedict Carpzov starb in der Nacht des 30. auf den 31. August 1666, Morgens nach 1 Uhr im Alter von 71 Jahren, 13 Wochen und 5 Tagen55. Die Universität nahm – obwohl er seit 13 Jahren ihr nicht mehr angehörte – in einer großen Feier (wahrscheinlich in der Universitätskirche) Abschied. Carzpzovs Nachfolger als Ordinarius, Georg Tobias Schwendendörffer, hielt die Leichenrede56. Der Leichnam wurde auf dem Paulinerkirchhof begraben. In der 1968 zerstörten Universitätskirche war ein Epitaph des Verstorbenen, der – in viele Teile zerlegt – in die Heilandskirche in Plagwitz ausgelagert worden war, in der er sich heute noch befindet57.
50 Dazu vgl. Hoyer in: Jerouschek / u. a. 2000, 30 ff.; Lieberwirth in: Jerouschek / u. a. 2000, 46 ff. 51 Die Stadt Leipzig stand von 1627 bis 1688 unter kurfürstlicher Zwangsverwaltung (Buchda 1837). 52 Jerouschek in: ders. / u. a. 2000, 10; 2006, 820. 53 Die sicherlich auch ein Grund war, weshalb Carpzov nicht die neue wissenschaftliche Methode des Calivinisten Petrus Ramus übernahm (vgl. Oehler 1999, 112). 54 Zu diesem „Policey“-Gedanken vgl. Härter in: Jerouschek / u. a. 2000, 111 ff. 55 Lange 47. 56 Stintzing 60. – Diese Rede ist wie auch die Leichenrede des Superintendenten Samuel Lange abgedruckt in Schild 1997a. 57 Hoyer in: Jerouschek / u. a. 2000, 36.
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II. Beruflicher Werdegang Die erste berufliche Position erhielt Benedict Carpzov im Jahre 1620, also mit 25 Jahren. Offensichtlich durch Vermittlung seines Vaters wurde er von Kurfürst Johann Georg I. (1611 – 1656) zum Assessor extraordinarius (Adjunkten) am Leipziger Schöffenstuhl ernannt und am 25. April 1620 vereidigt58. Damit zählte er nicht zu dessen Vollmitgliedern (und war daher auch nicht so gut bezahlt wie diese), war also kein Schöffe, sondern hatte lediglich vorbereitende Arbeiten für die sieben Schöffen zu leisten, vielleicht auch deren Sprüche zu konzipieren. Meist wird diese Position als „außerordentlicher Beisitzer“ bezeichnet59; Boehm sprach von „wissenschaftlichem Hilfsarbeiter“60. Dennoch war diese Stelle ein Sprungbrett für die weitere Karriere. 1. Tätigkeit am Leipziger Schöppenstuhl Dies zeigte sich darin, dass er bereits am 17. Februar 1623 (mit 28 Jahren) als jüngstes Mitglied in die Reihe der sieben Schöffen (als ordentlicher Assessor) nachrückte, da Theodor Sitzmann – ein (juristischer Laien-)Schöffe, der gelehrter Kunstrichter und lateinischer Poet war – gestorben war61. Im Jahre 1632 wurde er nach dem Tod von D. Möstel Senior des Schöppenstuhls, also der die Geschäfte leitende Dienstälteste im Stuhl62, welche Position er bis August 1853 (bis zur Übersiedlung nach Dresden als Geheimer Rat) ausübte (auch neben seinem Amt als Ordinarius der Juristenfakultät ab 164563). Am 25. Juli 1661 wurde er nach seiner Rückkehr erneut Schöffe, allerdings zunächst als bloßer Beisitzer, da eine solche Stelle gerade frei geworden war; doch stieg er bald in die Position des Senior auf, da die vor ihm ernannten Schöffen (wohl durch Versterben) ausschieden64. Noch knapp vor seinem Tod (fast 71 Jahre alt) verfasste er noch mit eigener Hand Urteilsvorschläge65. Zum Verständnis dieser 38jährigen Tätigkeit ist es erforderlich, wenigstens kurz auf die Stellung und Bedeutung des Leipziger Schöppenstuhls hinzuweisen66.
Lange 36; Hoyer in: Jerouschek / u. a. 2000, 28. Vgl. nur Muther 12. 60 Boehm 1942, 310. 61 Jugler 281. 62 Boehm 1941a, 19. 63 Dazu Jugler 282. 64 Friedberg 75; Muther 19; Stintzing 59. 65 So Boehm 1941a, 19; Lange 47. – Anders Hoyer in: Jerouschek / u. a. 2000, 35, der davon ausgeht, dass Carpzov sich 1664 aus gesundheitlichen Gründen von diesem Amt zurückzog. 66 Dazu vgl. Boehm 1940, 627 ff.; 1941a, 18; Buchda 1837 ff.; Härter in: Jerouschek / u. a. 2000, 207 ff.; Kisch; Lück in: Jerouschek / u. a. 2000, 58 f.; Wilde 63 ff. – Allgemein zu einem solchen Schöffenstuhl vgl. Battenberg. 58 59
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Ursprünglich war mit dem Schöppenstuhl (scabinatus) das Leipziger Stadtgericht (in der Zusammensetzung Stadtrichter als Leiter des Verfahrens und LaienSchöffen als Urteiler) gemeint. Das Ansehen dieses Gerichtes führte allmählich dazu, dass auswärtige Gerichte sich an die Schöffen um Rechtsbelehrung wandten, die die Schöffen ohne Mitwirkung des Stadtrichters und somit als „Privatleute“ gegen Gebühren erteilten. Um diese Praxis zu verstehen, muss beachtet werden, dass das sächische Gerichtswesen zu dieser Zeit sehr zersplittert war. Noch zu Carpzovs Zeiten mag es an die 2000 Gerichte und Gerichtchen gegeben haben. Denn neben den kurfürstlichen Gerichten der Kreisämter und Amtsschössereien, den Gerichten der Stifter, Standesherren, Städte und Städtchen hatte fast jedes größere Rittergut sein eigenes patrimoniales Gericht, oftmals mit der hohen Gerichtsbarkeit über Hals und Hand. Es war unmöglich, sie alle mit sachkundigen gelehrten Juristen als Richter und Beisitzer zu besetzen und von ihnen eine richtige Anwendung des sehr unübersichtlichen, lückenhaften Rechts und eine leidlich gleichmäßige Rechtsprechung zu verlangen. Da halfen die Spruchkollegien (Dikasterien), die mit Rechtskennern besetzt waren. Wenn ein Gericht die Parteien nicht zufriedenstellen konnte, dann wurden die Akten einem der vier Dikasterien (neben den Schöppenstühlen in Leipzig und Wittenberg den Spruchausschüssen der Leipziger und der Wittenberger Juristenfakultäten) eingesandt, die die Akten „versprachen“, d. h. einen Urteilsvorschlag ausarbeiteten. War mit diesem einer der Streitenden nicht einverstanden, konnte er noch ein anderes Dikasterium befragen lassen oder den Streitfall in die höhere Instanz ziehen, d. h. ihn vor das Appellationsgericht in Dresden oder in manchen Fällen vor das Oberhofgericht in Leipzig bringen. Wer den Prozess verlor, hatte die Kosten zu tragen. Neben diesen Urteilssprüchen gaben die Dikasterien auch (selbst auf Anfragen von Privatpersonen) Rechtsauskünfte. Bis 1500 wurde dabei in Leipzig nur sächsisches Recht angewendet, da die Schöffen immer noch Laien waren; bis zumindest 1520 lehnten die Schöffen es ab, in peinlichen Sachen Belehrungen zu geben67. 1520 und 1526 wurden Verträge mit den Professoren der 1509 gegründeten Universität geschlossen, die die Gelehrten zur Hilfestellung verpflichteten. Seither ist anzunehmen, dass die Schöffen zunehmend studierte Juristen waren68. Im Jahre 1574 gründete Kurfürst August den Schöffenstuhl neu; mit der Folge, dass seit diesem Zeitpunkt festgehalten werden muss, dass er nun kein Gericht (mehr) war, sondern als landesherrliches Spruchkollegium zu charakterisieren ist, das von dem Landesherrn im Interesse an effektiver Herrschaft benutzt wurde, um die Rechtsprechung zu zentralisieren und zu kontrollieren. Die Behauptung, Carpzov sei Richter gewesen und habe als Vorsitzender zahlreiche Prozesse (noch dazu Hexenprozesse) geleitet69, ist deshalb unhaltbar. Für diesen landesherrschaftlichen Zweck wurde das bereits von der Constitutio Criminalis Carolina von 1532 vorgesehene Aktenversendungsverfahren 67 68 69
Vgl. Buchda 1838 f. Vgl. Buchda 1840. So Senn 305.
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gefördert und für Kriminalsachen verändert. Die Fundationsurkunde 1574 übertrug nämlich die ausschließliche Kompetenz in Strafsachen dem Leipziger Schöppenstuhl, was bedeutete, dass allen kurfüstlichen Amtleuten ausdrücklich befohlen wurde, jede peinliche Sachen an dieses Kollegium zu schicken. Deshalb konnten die entscheidenden Verfahrensschritte nicht von den landesherrlichen Gerichten entschieden werden, sondern sie mussten die angefertigten Akten in Strafsachen nach Leipzig an den Schöppenstuhl schicken (wobei für die nicht-landesherrlichen Gerichte eine Ausnahme vorgesehen wurde, weshalb diese ihre Akten auch an die anderen Stellen [wie etwa die Leipziger Juristenfakultät] schicken durften). Die Schöffen fertigten keine eigentlichen Urteile über diese Fragen an, entschieden also im formellen Sinne nicht, sondern gaben eine Rechtsbelehrung oder Rechtsauskunft, an die allerdings die anfragende Stelle in ihrem Urteilen gebunden war (die überdies zuvor noch das Urteil an die Regierung in Dresden schicken und deren Befehl darüber abwarten musste70). Darüber hinaus wurde gegen die Urteilsvorschläge des Schöppenstuhls keine Appellation zugelassen; erst Carpzov setzte sich nachdrücklich und mit Erfolg für die Beibehaltung und den Ausbau der früheren Praxis ein, ein Strafurteil, das einem Verurteilten ungerecht erschien, auf dessen begründetes Nachsuchen von einem anderen Dikasterium nachprüfen zu lassen71. Deshalb muss der Schöppenstuhl trotz der fehlenden Gerichtseigenschaft als Teil der landesherrlichen Gerichtsverfassung aufgefasst werden72, wobei die Betonung auf dem Bezug zur Festigung der Landesherrschaft liegt. Dies gilt ebenso für die zivilrechtlichen Sachen, für die allerdings neben dem Leipziger Schöppenstuhl auch die Leipziger Juristenfakultät, die juristische Fakultät der Universität Wittenberg sowie der Wittenbergische Schöppenstuhl zuständig waren (wie auch – wie bereits erwähnt – für die Strafsachen der nicht landesherrlichen Gerichte). Die Dikasterien und daher auch die Leipziger Schöffen trugen ihre Urteils- und Rechtsauskunftssprüche in große Spruchkopialbände ein. Carpzov fand 400 solcher Bände bei seinem Dienstantritt vor. Heute sind aus der Zeit Carpzovs noch drei dieser Bände erhalten, die zusammen den Wortlaut von 1461 schriftlichen Bescheidungen (Spruchbriefen) enthalten, die an Gerichtsstellen oder Privatpersonen auf von ihnen eingesandte Akten oder Rechtsfragen erteilt worden waren. Lück geht durch Vergleich mit anderen Spruchkörpern von einem jährlichen Eingang von etwa 2300 Akten aus, errechnet damit für die 38 Jahre Carpzovscher Tätigkeit 87.400 Sprüche. Da er weiter annimmt, dass beim Leipziger Schöppenstuhl die Strafsachen circa ein Viertel der anfallenden Anfragen ausmachten, ergeben sich in Strafsachen mehr als 20.000 Sprüche73, also genau die Zahl, die in der Literatur seit Oldenburgers Hinweis aus 1675 angegeben wurde (wobei allerdings zu beach70 71 72 73
Lück in: Jerouschek / u. a. 2000, 62; zu Ausnahmen (bei „Informaten“) 63. Boehm 1941a, 18. So ausdrücklich Lück in: Jerouschek / u. a. 2000, 59. Lück in: Jerouschek / u. a. 2000, 66.
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ten ist, dass es sich dabei weder um richterliche Urteile noch nur um Anordnung der Todesstrafe handelt). Es war zwar vorgeschrieben, dass mindestens die Hälfte der sieben Schöffen anwesend sein musste, wenn der Notar dem versammelten Kollegium die Akten vorlas. Doch ist anzunehmen, dass die Schöffen die Akten mit nach Hause nehmen durften, um sie unter Zuziehung von Helfern durchzuarbeiten und einen Spruch vorzubereiten. Der Bearbeiter trug dann seinen Entwurf in einer der nächsten Sitzungen vor, woran sich Diskussion und Beschlussfassung anschlossen74. Boehm nahm an, dass nur wichtige Sachen im Kollegium diskutiert und abgestimmt wurden, die überwiegende Mehrzahl dagegen in Einzelarbeit bewältigt wurde75. Auch Lück meint, dass diese Vorschriften wohl nie ernsthaft befolgt worden seien, und verweist auf die Ämterhäufung am Beispiel Carpzov76. Man muss aber auch nur bedenken, welche umfangreichen Werke Carpzov neben diesen vielen Tätigkeiten geschaffen hat. Es bleibt daher letztlich offen, für wie viele Sprüche Carpzov selbst verantwortlich war. Lück kann darauf keine Antwort geben. Boehm berücksichtigte damals in seiner großen Arbeit77 nur die Spruchkonzepte, die in Carpzovs Handschrift geschrieben waren, nämlich 195 insgesamt, davon 80 für Strafrechtsachen. Erhalten waren – wie erwähnt – allerdings für die Zeit der Tätigkeit Carpzovs aber nur mehr drei Spruchkopialbände (1619 – 1622, 1633 – 1645, 1656 – 1666) – die Boehm als typisch ansah, weshalb sie auch aufbewahrt worden seien –, aus denen sich ein Durchschnitt von 75 bis 100 Spruchbriefkonzepte pro Jahr ergab. In den drei Bänden finden sich 1461 schriftliche Bescheidungen, von denen 558 Straffälle behandeln. Gegen 423 Inquisiten wurden nach Boehm durch 37 Sprüche Todesstrafe festgelegt, durch 6 bedingt (nämlich nur, wenn sich die Betroffenen keiner freiwilligen Folterung unterwarfen) Todesstrafe, durch 65 Sprüche Freispruch angeordnet. Für Carpzov (aus in seiner Handschrift geschrieben) zählte Boehm insgesamt 194 Spruchbrieftexte, davon 79 in Strafsachen, die sich zum Teil auf mehrere Angeklagte bezogen. Nur die größere Hälfte enthielt Endurteilsvorschläge; die kleinere Hälfte entschied über nötige weitere Erörterungen, über Frist-, Kostenfragen und ähnliches (13 Fälle), über Zulassung des Angeklagten zum Reinigungseid (3 Fälle), über Haftentlassung oder Verschonung mit der Untersuchungshaft gegen Sicherheitsleistung (4 Fälle) und über Folterung der Angeklagten (zusammen 19 Personen). Bei den damals möglichen fünf Foltergraden erkannte Carpzov bei drei Personen auf den ersten Grad, bei zehn bis zum Beginn des zweiten Grades, bei sechs auf den dritten Grad und in keinem Falle auf die schwersten Grade. Von diesen Verurteilten sind vier Personen nicht gefoltert worden, weil sie schon auf die bloße Drohung mit der Folter gestanden; von den Gefolterten beteuerten drei auch auf der Folter ihre Unschuld und wurden daraufhin von Carpzov freigesprochen78. Schließlich fand Boehm End74 75 76 77 78
Lück in: Jerouschek / u. a. 2000, 64 f. Boehm 1941, 208; 1941a, 20. Lück in: Jerouschek / u. a. 2000, 64. Boehm 1940, 395 Fn. 49, 396; 1942, 333 Fn. 316, 370; vgl. auch 1941a, 20. Vgl. Boehm 1941a, 20; Trusen 21. – Zur Folterlehre Carpzovs vgl. Falk 2001.
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urteile für zusammen 52 Personen. Davon wurden 7 zum Tode verurteilt, fünf davon durch Enthaupten, einer durch Säcken (Ertränken in einem Sack als gesetzliche Strafe für Verwandtenmord), einer durch Erhängen am Galgen; 14 Personen wurden ganz oder im Wesentlichen freigesprochen; 7 wurden ausgewiesen (und zwar vier davon nach schwerer körperlicher Züchtigung und deren Wiederausheilung); über zwei junge Täter wurde die Prügelstrafe verhängt; zwei Beamte wurden mit Amtsenthebung bestraft; über eine nicht voll zurechnungsfähige Person wurde dauernde Sicherungsverwahrung ausgesprochen; in je einem Fall wurde die Anklage abgewiesen und das Urteil eines anderen Dikasteriums bestätigt. Boehm rechnete über die drei erhaltenen Bücher auf die gesamte Amtszeit Carpzovs von 38 Jahren hoch und kam auf 250 bis 300 Todesurteile höchstens79. Das Delikt der Hexerei (Zauberei)80 stellte dabei nur einen sehr kleinen Teil der straf- und zivilrechtlichen Anfragen dar, Wilde schätzt ihn auf ein Prozent81. Boehm entdeckte bei seinen Untersuchungen in den drei Spruchkollegialbänden insgesamt 21 Sprüche in Verfahren gegen 16 Inquisiten wegen Hexerei. Für diese wurde fünfmal Folter zugelassen, wobei dann drei Betroffene später freigesprochen wurden. Für sieben Inquisiten wurde in 6 Fällen Freispruch, in einem Fall (im Jahre 1857, d. h. in einem Jahr, in dem Carpzov nicht Schöffe war) Todesstrafe angeordnet82. Diese Angaben von Boehm sind nicht unbestritten geblieben. Kuhne verweist z. B. auf Hexenprozesse in Delitzsch und Umgebung aus dem Jahre 163283. Boehm entdeckte nur zwei Sprüche von Carpzov selbst (also in seiner Handschrift) in Hexereisachen84. Im ersten Fall vom Oktober 1640 ordnete er nicht die Folterung des Angeschuldigten, sondern erst einmal die rechtlich vorgesehene Einleitung des Verfahrens und die sachliche Nachprüfung der wichtigsten Beschuldigung an; doch kam das anfragende kurfürstliche Gericht auf die Sache nicht mehr zurück. Im zweiten Fall (September 1661), der sich in Kolberg in Hinterpommern abspielte, lehnte er die Folterung eines greisen Mannes ab, der durch Segenssprechen seinen Lebensunterhalt verdient hatte, und verfügte statt dessen die dauernde Ausweisung aus dem Gerichtsbezirk von Kolberg. Darüber hinaus fand Boehm heraus, dass zu Carpzovs Zeiten in Leipzig und näherer Umgebung nur zwei Hexenprozesse durchgeführt wurden, die beide – nachdem die beiden alten angeklagten Frauen die Folter ohne Geständnis überstanden hatten – mit dem Freispruch endeten85. So Boehm 1942, 370, 370 Fn. 384; 1941a, 21. Dazu Schild 1997. 81 Wilde 417. 82 So Boehm 1942, 370 Fn. 384. 83 Vgl. Kuhne 1967, 229. Die Hinweise auf Prozesse 1657, 1658 und 1660 betreffen die Amtszeit von Carpzov nicht. 84 Boehm 1941a, 21. 85 Vgl. Sellert 1992, 338 f.; Trusen 21. 79 80
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Ob sich diese Ergebnisse von Boehm nach der neueren Arbeit von Lück halten lassen, ist zweifelhaft: Lück selbst hält zwar diese Ausführungen (wie auch die von Sellert und Trusen) für brillant, doch würden diese Autoren die Frage nach der tatsächlichen Strafgerichtspraxis in Kursachsen vernachlässigen86. In der neuesten Arbeit von Wilde wird überhaupt eine andere Rechnung vorgelegt. Wilde87 geht für die gesamte Zeit der Tätigkeit Carpzovs am Schöppenstuhl in Strafverfahren wegen Hexerei (Zauberei) von nachgewiesenen 30 Sprüchen für Folter, 23 für Todesstrafe, 10 für Landesverweisung, 1 für Geldstrafe und von 11 Sprüchen, die auf Freispruch ergingen, aus. Er betont, dass alle diese Sprüche auf den gesetzlichen Grundlagen beruhten, weshalb er vor voreiligen Wertungen warnt. Insgesamt jedenfalls ist die frühere Abqualifizierung Carpzovs als blutrünstiger Hexenjäger eindeutig unhaltbar88. Im Übrigen änderte für dieses Problem auch die Stellung als Senior nichts. Denn dieser89 war (wie der ehemalige „Schöppenmeister“) vor allem zuständig für die Vertretung des Stuhls nach außen und gegenüber dem Landesherrn und sorgte für die Zuteilung der eingehenden Akten an die einzelnen Schöffen90. Zudem war er der einzige am Schöppenstuhl, der aus der Stadtkasse ein Festgehalt erhielt; wie überhaupt auf der Hand liegt, dass wegen der Gebühren das Schöffenamt sehr lukrativ war91. Dabei gab es vor diesen Spruchkollegien selbst kein Verfahren. Die Aktenversendung im Strafrecht erfolgte ohne Kenntnis des Beschuldigten oder Inquisiten; er hatte auch keinerlei Mitwirkungsrechte; selbst der Spruch wurde ihm nicht mitgeteilt92. Entschieden wurde also nur aufgrund der Aktenlage nach dem Wissen und Gewissen des zuständigen Schöffen; und selbstverständlich im Rahmen des von der Institution (und vom Landesherrn) Erwarteten. Von daher ist verständlich, dass ein dringendes Bedürfnis nach einheitlichen Rechtsgrundlagen für die Beurteilung bestand, das dann von Carpzov mit seinen Werken gestillt wurde. Vorbilder dafür waren die Präjudiziensammlungen, die die Stadtschreiber – juristisch vorgebildet, aber keine Mitglieder des Stuhls – anfertigten, um eine einheitliche Rechtsprechung zu gewährleisten. Battenberg weist daraufhin, dass deshalb unter „Recht“ nicht mehr die alte Gewohnheit, sondern das „Gerichtswissen“ (als das Wissen der [auch Laien-] Schöffen) aufgefasst wurde, bis es ab dem 16. Jahrhundert durch das juristische Sachwissen – das sich an den neuen gesetzlichen Ordnungen im Zusammenhang mit dem römischen und kanonischen Recht orientierte – ersetzt wurde93 So Lück in: Jerouschek / u. a. 2000, 67. Wilde 419. 88 Vgl. das differenzierende Urteil von Lorenz in: Jerouschek / u. a. 2000, 91 ff. 89 Dazu Boehm 1941, 207; Lück in: Jerouschek / u. a. 2000, 64 f. 90 Anders Lück in: Jerouschek / u. a. 2000, 64, der diese Verteilungsaufgabe dem Notarius zuordnet. 91 Vgl. Lück in: Jerouschek / u. a. 2000, 65 f. 92 Lück in: Jerouschek / u. a. 2000, 62. 86 87
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2. Weitere praktische Tätigkeit Als Assessor extraordinarius und dann als Schöffe (ordentlicher Beisitzer) war Carpzov somit Diener – in heutiger Terminologie „Beamter“ – des Landesherrn, der ihn auch zu weiteren Diensten heranzog. So wurde er bereits 1623 beauftragt, mit anderen Juristen die Universität Wittenberg zu visitieren94. Dabei übte er heftige Kritik an der Faulheit der Professoren. Er erwarb sich dadurch aber offenbar die besondere Gunst des Kurfürsten. Deshalb wurde er auch Mitglied einer Untersuchungskommission, die Johann Georg I. 1637 einsetzte, die Beschwerden wegen des Finanzgebarens des Rates der Stadt Leipzig im Zusammenhang mit der Zwangsverwaltung aufgrund hoher Verschuldung zu untersuchen hatte95; wohl auch deshalb, weil Carpzov seit 1636 zum Assessor am Oberhofgericht in Leipzig bestellt worden war. Hoyer berichtet die Überlieferung von der Schlusssitzung dieser Kommission, in der Carpzov der Bürgerschaft mit heftigen Worten das „ungnädigste Missfallen“ des Kurfürsten aussprach und ihre Vollmachten zerriss, um sie dann aufzufordern, ihre Beschwerden vorzutragen (was sie dann wohlweislich unterließen). 1646 war Carpzov erneut Mitglied einer Kommission, die Auseinandersetzungen zwischen Rat und Bürgerschaft untersuchen sollte; und dies, obwohl er als Ordinarius der Juristenfakultät zur Unterstützung des Rates verpflichtet und damit eigentlich Partei war. Doch gab es gegen seine Mitwirkung keinen Protest, was freilich irrelevant war, da der seit 1643 amtierende schwedische Gouverneur in der besetzten Stadt die weitere Tätigkeit der Kommission untersagte96. Neben der Funktion am Schöppenstuhl, die ihn eigentlich dazu verpflichtete, jeden Tag von 7 Uhr (im Winter) bzw. 6 Uhr im Sommer in der Schöppenstube zu erscheinen und dort bis um 10 Uhr vormittags und dann wieder von 13 bis 16 Uhr zu arbeiten97, nahm Carpzov zusätzlich die Ernennung zum Assessor beim Kurfürstlichen Oberhofgericht in Leipzig (12. Dezember 1636)98 und zum Rat beim Appellationsgericht in Dresden (25. Juni 1639)99 an, da die Sitzungen an diesen beiden Gerichten nur an wenigen, periodisch wiederkehrenden Tagen im Jahre stattfanden. 1640 – unmittelbar nach seiner zweiten Eheschließung – lehnte Carpzov den Antrag, eine Hofratsstelle in Weimar zu übernehmen, ab100. Doch entschloss er sich im August 1644, eine solche Stelle (als kursächsischer Hofrat) in Vgl. Battenberg 1476 f. Dazu Hoyer in: Jerouschek / u. a. 2000, 32. 95 Dazu und zum Folgenden Hoyer in: Jerouschek / u. a. 2000, 30 f. 96 Hoyer in: Jerouschek / u. a. 2000, 31. 97 Stintzing 57. Eine formelle Vertretung war den Schöffen nicht erlaubt; doch durften sie sich privater Helfer bedienen (Boehm 1941, 206). 98 Lange 37; zu diesem Gericht vgl. Buchda 1837; Lipp 388 Fn. 20; Wilde 79 ff. 99 Lange 37; zu diesem Gericht vgl. Lipp 388 Fn. 21. 100 Muther 16; Stintzing 57. 93 94
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Dresden zu übernehmen101 (unter Beibehaltung der Stelle im Appellationsgericht), eine Stelle, die Boehm mit der eines vortragenden Ministerialrats seiner Zeit (also 1941) verglich102. Er ging im November dieses Jahres nach Dresden, blieb dort aber nur einige Monate – ohne sein neues Amt anzutreten103 – und kehrte im Mai 1845 nach Leipzig zurück. Erst nach dem Tode seiner zweiten Frau (1651) übersiedelte Carpzov im August 1653 erneut nach Dresden, um dort Mitglied des Geheimen Rates zu werden – eine Stelle, die Boehm mit der eines späteren Staatsministers verglich104 –, wofür er alle seine anderen Ämter (auch die des Schöffen) mit der erneuten Ausnahme der Ratstelle am Appellationsgericht niederlegte. Diese Ernennung führte der Kurfürst gegen die Stellungnahme des Ratskollegiums durch, weil er „ein sonderbares gnädigstes Vertrauen [zu ihm, WS] trage“105. In dieser Funktion kam Carpzov eine bedeutende Rolle bei der Ausarbeitung der neuen Policeyordnung von 1661 zu106. Offenbar aus gesundheitlichen Gründen, aber wohl auch wegen des Wechsels des Kurfürsten – nach dem Tod des ihm sehr gewogenen Johann Georg I. im Jahre 1656 regierte Johann Georg II.107 – kehrte er nach gewährter Entlassung im Juli 1661 nach Leipzig zurück. Er behielt aber die Stelle als Rat am Appellationsgericht in Dresden weiter bei108 und konnte auch wieder – wie erwähnt – in Leipzig als Schöffe tätig werden. 3. Tätigkeit an der Leipziger Juristenfakultät Auf die Übersiedlung nach Dresden 1644 ist bereits hingewiesen worden. Carpzov hat sich dort nicht wohlgefühlt, zumal auch seine Gattin nicht mitkommen konnte. Kurze Zeit später sah er die Chance, zurück nach Leipzig zu gehen. Er bewarb sich um die Stelle als Ordinarius an der Juristenfakultät, die durch den Tod des Sigismund Finckelthaus im Jahre 1844 frei geworden war. Ein solcher Ordinarius109 war der lebenslang vom Landesherrn (ohne vorgängiger Fakultätspräsentation) eingesetzte Vorsitzende der Fakultät als des Spruchkollegiums, das – wie der Schöffenstuhl – im Aktenversendungsverfahren und als Gutachter tätig werden konnte. Der Ordinarius war deshalb zugleich kurfürstlicher Rat110. Er war zudem ständiger Dekan. Zugleich kam ihm die Stelle des Professors Dazu Lipp 388 Fn. 22. Boehm 1941a, 19. 103 So Jugler 281. 104 Boehm 1941a, 19. 105 Stintzing 59, Fn. 1. 106 Dazu Schmidt in: Jerouschek / u. a. 2000, 111 ff.; Wilde 32. 107 So Jugler 282. 108 Nach Jugler 283 behielt Carpzov auch die Bestallung eines geheimen Rates, „damit man sich seiner Feder in nötigen Fällen ferner bedienen möchte“. 109 Vgl. dazu Friedberg 2, 19 ff.; Sellert 1984. 110 Vgl. Muther 16. 101 102
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Benedict Carpzov Ordinarius 1645 – 53.
des Dekretalenrechts, d. h. des kirchlichen (päpstlichen) Rechts, zu111. Diese zuletzt genannte Tätigkeit ist auf den ersten Blick für eine protestantische Universität seltsam. Zwar war sie für die ursprünglich vom Papst bestätigte Universität (gegründet 1409) gut verständlich, hatte sie doch bis 1457 überhaupt nur Professoren für kanonisches Recht (und erst ab diesem Zeitpunkt auch Professoren für römisches Recht [„Legisten“]). Mit der Reformation musste sich aber dieser Charakter verändern. Ab 1580 verstand sich die Leipziger Universität überhaupt (nur mehr) als „zivilistische“. Nur der Ordinarius las weiterhin das kanonische Recht der päpstlichen Dekretalen, allerdings hauptsächlich beschränkt auf prozessuale 111
Friedberg 2. Lange 37 spricht von „Professio Juris Canonici“.
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Materien (und selbstverständlich ohne jeden Bezug auf die päpstlichen Rechte). Dieses Amt (und diese Würde) wurden – wie erwähnt – nach damaliger Übung vom Kurfürsten unmittelbar, ohne vorgehende Präsentation, verliehen. Auf Vorschlag des Geheimen Rates wurde es – das mit der Stellung eines kurfürstlichen Rates verbunden war – Carpzov übertragen, der damit zu seiner akademischen Lehrtätigkeit als Lizentiat zurückgeführt wurde112. Ihm gelang es überdies, ausdrücklich vom Kurfürsten eine weitere Zugehörigkeit zum Schöppenstuhl auszubedingen und seinen alten Platz als Senior einzunehmen113, was sicherlich zugleich die Dispens bedeutete, die Vorlesungen nicht selbst (voce viva) abhalten zu müssen114. Das ehemals von Finckelthaus ebenfalls eingenommene Directorium im geistlichen Consistorium lehnte er ab115. Doch trat er zugleich als Assessor primarius (also als geschäftsführender erster Beisitzer) ins Oberhofgericht ein116. Es ist daher nicht verwunderlich, dass diese vielfältigen Belastungen nur zu einer eingeschränkten Aktivität für die Universität führten. So blieben die Baumaßnahmen, die Finckelthaus nach den Zerstörungen im Krieg tatkräftig eingeleitet hatte, faktisch liegen, was allerdings auch auf den desolaten Zustand der kursächsischen Finanzen nach dem Ende des Krieges zurückzuführen war117. Darüber hinaus kam Carpzov offensichtlich seiner Vorlesungstätigkeit nur in eingeschränkten Maße nach, da er seine collegia nicht selbst abhielt, sondern die Vorlesungen sauber ausarbeitete und die Hefte dann von Vertretern vortragen ließ118, was – wie erwähnt – wohl auf ausdrücklicher Dispens beruhte. Doch verweist Hoyer darauf, dass ihn beim Ausscheiden aus diesem Amt im Jahre 1653 die Studenten auf „zünftige“ akademische Weise – nämlich mit Nachtmusik – verabschiedeten hätten119. Der Ordinarius war – wie im Exkurs zum Schöppenstuhl erwähnt – im Übrigen verpflichtet, „in den raths Vorspruch zu stehen“ und diesem „hulfreich und retig zu sein“. Hoyer120 bringt als ein Beispiel für diese Unterstützungstätigkeit die feierliche Vermahnung einer Zeugin vor ihrer Vereidigung121. Am 24. April 1645 trat Carpzov als Ordinarius in die Juristenfakultät ein; im Mai begann er seine Vorlesungen. Acht Jahre verwaltete er auch dieses Amt. Er schrieb und verteidigte während dieser Zeit eine Reihe von Dissertationen, die teils abgesondert, teils unter dem Titel „Volumen disputationum historico-politico-juridiciarum“ 1651 zusammen gedruckt erschienen122. Aus seiner Verpflichtung zu 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122
Stintzing 58. Jugler 282. So Lipp 388. Lange 37; Muther 16; Stintzing 58. Boehm 1941a, 19; Lange 37. Hoyer in: Jerouschek / u. a. 2000, 34. Boehm 1941a, 19; Friedberg 75; Hoyer in: Jerouschek / u. a. 2000, 34; Stintzing 58. Hoyer in: Jerouschek / u. a. 2000, 34. Hoyer in: Jerouschek / u. a. 2000, 31. Hoyer in: Jerouschek / u. a. 2000, 32. Muther 16.
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Vorlesungen über das kanonische Recht entstand sein kirchenrechtliches System123. Mit seiner Ernennung zum kurfürstlichen Geheimen Rat im Juni 1653 schied Carpzov aus der Juristenfakultät aus. Über seine Tätigkeit als Vorsitzender des Spruchkollegiums der Juristenfakultät ist mangels erhaltener Unterlagen nichts bekannt, außer dass es sich dabei nicht um Gutachten in Strafsachen vor den landesherrlichen Behörden handeln konnte, da dafür allein der Leipziger Schöppenstuhl zuständig war. Hinzuweisen ist nur darauf, dass die Bedeutung der Juristenfakultät als Spruchkollegium nicht bedeutend war124. Für Anfragen der landesherrlichen Behörden in Strafsachen war sie von vornherein nicht zuständig. Für die übrigen sächsischen Interessenten stand sie in Konkurrenz zu der Fakultät und dem Schöppenstuhl in Wittenberg. Diesbezügliches Aktenmaterial ist nicht mehr vorhanden. Abschließend könnte noch die Frage gestellt werden, wie wohl Benedict Carpzov sich als Ordinarius an der Juristenfakultät gefühlt, wie er dieses Amt im Vergleich zu seiner Funktion als Schöffe – welches Amt er neben der Universitätstätigkeit immer ausübte – eingeschätzt hat. Eine Antwort kann nur schwer gegeben werden. Doch überliefert Muther den Spruch Carpzovs, den dieser nach damaligem Brauch manchen Studenten in das Stammbuch schrieb: „Extra Academiam vivere est miserimme vivere“125. Literaturverzeichnis Abegg, Julius Friedrich Heinrich (1833): Historisch-praktische Erörterungen aus dem Gebiete des strafrechtlichen Verfahrens. I. Berlin (auch in: Schild 1997a, 333 – 380) Allmann, Jean Marie (1903): Außerordentliche Strafe und Instanzentbindung im Inquisitionsprozesse nach den wichtigsten Quellen bearbeitet. Diss. Göttingen (auch in: Schild 1997a, 527 – 535) Baruch, Hilde (1924): Carpzovs kulturelle Grundanschauungen, untersucht an Hand der Practica Nova Rerum Criminalium. Diss. Hamburg Battenberg, Friedrich (1990): „Schöffenstuhl“, in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte IV. Berlin, 1474 – 1478 Biener, Friedrich August (1827): Beiträge zur Geschichte des Inquisitionsprocesses und der Geschwornengerichte. xxx. (auch in: Schild 1997a, 323 – 332) Boehm, Ernst (1940 – 1942): Der Schöppenstuhl zu Leipzig und der sächsische Inquisitionsprozeß im Barockzeitalter, in: ZStW 59 (1940), 371 – 410, 620 – 639; 60 (1941) 155 – 249; 61 (1942) 300 – 403
Dazu Landau in: Jerouschek / u. a. 2000, 227 ff. Wilde 70 f. 125 Muther 18 (der allerdings auch den Spruch: „Extra Lipsiam vivere est miserrime vivere“ überliefert). 123 124
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Deutsch als Rechtssprache Überlegungen im Rückblick auf Christian Thomasius’ Ankündigung einer deutschsprachigen Philosophievorlesung in Leipzig Von Michael Kahlo
I. Als Christian Thomasius im Jahre 1687 an der Alma Mater Lipsiensis auf Deutsch eine Philosophievorlesung in deutscher Sprache ankündigte, verursachte er damit einen Skandal,1 obwohl er keineswegs der erste Wissenschaftler war, der im Hörsaal versuchte, auf deutsch zu lesen.2 Dabei scheint es, als wäre dieser „Skandal“ von der Person und dem Wirken dieses berühmten „Sohnes“ der Leipziger Universität kaum zu trennen: Fast immer, wenn die Rede auf ihn kommt, kommt auch dieser Vorgang zur Sprache. Nun ist Thomasius, einer der – oftmals zitiert – „großen Söhne“ der Universität Leipzig, nicht nur durch diesen Vorgang in die Geschichte des deutschen Geistesund Universitätslebens eingegangen. Vielmehr ist er, dessen Werk zunächst zwar mitbestimmend wurde für das Rechtsdenken in der ersten Hälfte des 18. Jahrhun1 Zuletzt berichtet etwa von Helmut Glück, Deutsch als Wissenschaftssprache, in: Deutscher Hochschulverband (Hrsg.), Glanzlichter der Wissenschaft. Ein Almanach, 2008, S. 37 ff., S. 41 (ursprünglich abgedruckt in: Schriften der Stiftung Deutsche Sprache, Ausgabe 1. Juni 2008). 2 Bereits im Jahr 1501, also fast 200 Jahre vor Thomasius, hatte ein gewisser Tilemann Heverling in Rostock eine Vorlesung über Juvenals Satiren gehalten. Auch er fing sich dafür freilich, wie Helmut Glück a. a. O. Fn 1 berichtet, selbst eine Satire ein, natürlich in lateinischer Sprache: „Quidquit Heverlingus legit auditoribus, illud / vulgari lingua teutonicaque docet. / Ergo ad Heverlingum perget meliore relicto / discere qui sordes barbariemque volet.“ Zu deutsch: „Was auch immer Heverling seinen Hörern vorträgt, das lehrt er in deutscher Volksprache. Also wird derjenige, der auf Pöbelhaftes und Ungeschliffenes aus ist, zu Heverling aufbrechen, um [bei diesem] zu lernen, nachdem er einen Besseren hinter sich gelassen hat.“ – Allerdings waren es wohl nur wenige, die sich zuvor mit Deutsch als Wissenschaftssprache versucht hatten; unter ihnen etwa Thomas Murner (1475 – 1537), der 1519 eine römische Rechtssammlung ins deutsche übersetzte, was ihm ähnliche Vorwürfe seitens der Baseler Universität einbrachte; der Mathematiker Albert Linnemann (1603 – 1653), der 1641 in Königsberg über Geodäsie und Festungsbau auf deutsch las; und nicht zuletzt Paracelsus (1493 – 1541), der, ebenfalls in Basel, 1526 / 27 medizinische Vorlesungen in deutscher Sprache hielt.
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derts,3 dessen neuzeitliche Rezeption jedoch lange im Schatten der geistesgeschichtlich herausragenden Denkbewegung des sog. Deutschen Idealismus4 und der Befassung mit diesem stand,5 durch sehr viel mehr und anderes noch hervorgetreten, etwa durch seine vielfach vorgetragene Kritik der Hexenprozesse seiner Zeit6 und seine damit in Zusammenhang stehende engagierte Gegnerschaft und Kritik des prozessualen Instruments der Folter,7 durch seine intensiven Bemühun3 So etwa Werner Schneiders, 300 Jahre Aufklärung in Deutschland, in: ders. (Hrsg.), Christian Thomasius (1655 – 1728). Interpretationen zu Werk und Wirkung, 1989, S. 1 ff., S. 2; ausführlich zur „naturrechtlichen Wirkungsgeschichte“ Thomasius’ Hinrich Rüping, Die Naturrechtslehre des Christian Thomasius und ihre Fortbildung in der Thomasius-Schule, Diss. Bonn 1968. 4 Vom „sog.“ Deutschen Idealismus ist hier deshalb die Rede, weil diese Terminologie sich für die genannte Denkbewegung von Kant über Fichte und Schelling zu Hegel zwar eingebürgert hat, angesichts der nicht unerheblichen Differenzen etwa zwischen dem Denken von Kant und Fichte einerseits, Schelling und Hegel andererseits in ihrer Berechtigung aber durchaus bezweifelt werden kann, wie auch in der Philosophie fortschreitend erkannt wurde und aktuell zunehmend erkannt wird; vgl. dazu statt anderer vor allem Dieter Henrich, Konstellationen, 1991, S. 7 ff. und öfter; ders., Kreativität des Denkens in der Universität. Schelling, Hegel und Hölderlin im Tübinger Stift – Eine Begegnung mit Folgen, in: Deutscher Hochschulverband (Hrsg.), Glanzlichter der Wissenschaft. Ein Almanach, 2008, S. 53 ff., bes. S. 54; Rolf-Peter Horstmann, Die Grenzen der Vernunft, 1995, S. 19 und öfter; ferner die Beiträge zum Stuttgarter Hegel-Kongreß 1981, unter dem Titel: „Kant oder Hegel? Über Begründungsformen in der Philosophie“ hg. von Dieter Henrich, 1983. 5 Darauf (auf den „langen Schatten“ des Deutschen Idealismus) weist beispielsweise Peter Schröder, Christian Thomasius zur Einführung, 1. Aufl. 1999, S. 20 / 21 hin; vgl. auch Panajotis Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, 2002, S. 3. 6 Näher dazu Peter Schröder, a. a. O. Fn. 5, S. 135 ff., der betont, dass Thomasius „einen weiten Weg zurücklegen (musste), bis er sich zu seiner scharfen und deutlichen Ablehnung des Hexenwahns durchrang und sich gegen die durchaus noch vorhandenen, zeitüblichen Vorurteile zu stellen vemochte“ (S. 135, auch S. 137 und öfter); Günter Jerouschek, Christian Thomasius, Halle und die Hexenverfolgungen, JuS 1995, S. 576 ff.; Gerd Schwerhoff, Aufgeklärter Traditionalismus – Christian Thomasius zu Hexenprozeß und Folter, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Band 104, Germanistische Abteilung, 1987, S. 247 ff. 7 Vgl. zu dieser Seite seines Werks Wolfgang Ebner, Christian Thomasius und die Abschaffung der Folter, in: Ius Commune. Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main, hrsg. von Helmut Coing, Band 4, 1972, S. 73 ff.; Rolf Lieberwirth, Vorwort zu ders. (Hrsg.), Christian Thomasius über die Folter. Untersuchungen zur Geschichte der Folter, 1960; Schwerhoff, a. a. O. Fn. 6; wie entschieden Thomasius gegen die Folter auftrat, verdeutlicht seine bei Peter Schröder, a. a. O. Fn. 5 zitierte Polemik gegen Carpzov: „Carpzovius hätte sich schämen sollen, dass er . . . nichts anderes vorbringet als die Zeugnisse der Päbstlichen Scribenten, die ihre Bücher . . . mit ausgefolterten und ausgemarterten Aussagungen anzufüllen pflegen, dadurch freylich die Leute alles dasjenige warum sie gefraget worden, gestehen müssen.“ Bekanntlich ist die Folterproblematik, in Gestalt der Konstellation der sog. Rettungsfolter, gerade in jüngster Zeit wieder zu trauriger Aktualität gekommen – etwa durch den Fall eines ehemaligen Polizei-Vizepräsidenten, der einen der Kindesentführung dringend verdächtigen Jurastudenten im Polizeigewahrsam die Zufügung schwerer Schmerzen androhen ließ, um diesen zur Preisgabe des Verstecks des Kindes zu zwingen (vgl. dazu LG Frankfurt am Main NJW 2005, 692) oder auch durch die Haftpraxis in dem US-amerikanischen Gefangenenlager
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gen um eine neue (nicht länger nur scholastisch inspirierte) juristische Hermeneutik,8 durch sein Wirken als Naturrechtslehrer,9 seine damit verbundene Konzeption von Freiheit und religiöser Toleranz10 und nicht zuletzt durch sein zu seiner Zeit unzeitgemäßes Eintreten für das Selbstdenken, das er als Selbständigkeit des Urteilens verstand.11 Abu Ghraib (Guantanamo); vgl. dazu für die deutsche Rechtslage etwa die Beiträge in dem von Helmut Goerlich edierten Sammelband „Staatliche Folter – Heiligt der Zweck die Mittel?“, Fundamenta Iuris Band 5, 2007; aus verfassungsrechtlicher Sicht grundlegend Christoph Enders, Die Würde des Rechtsstaates liegt in der Würde des Menschen, in: Peter Nitschke (Hrsg.), Rettungsfolter im modernen Rechtsstaat?, 2005, S. 133 ff.; siehe zu dieser Sicht ferner BVerfG NJW 2005, 656 f. sowie Ralf Poscher, Menschenwürde im Staatsnotstand, in: Michael Goldbach (Hrsg.), Die Wahl der Qual. Folter durch Polizei und Militär, 2006, S. 53 ff.; zur psychologischen Dimension Sibylle Rothkegel, Die Psychologien der Opfer, a. a. O., S. 45 ff.; zur strafprozessualen Seite insbesondere Manfred Seebode, Folterverbot und Beweisverbot, in: Otto-FS (2007), S. 999 ff., alle m. w. N. 8 Vgl. dazu vor allem Lutz Danneberg, Die Auslegungslehre des Christian Thomasius in der Tradition von Logik und Hermeneutik, in: Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Christian Thomasius (1655 – 1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung, 1997, S. 253 ff.; Klaus Petrus, Rationalität, Wahrheit und Interpretation. Aspekte der Hermeneutik Christian Thomasius’ in der ,Auszübung Der Vernunfft-Lehre‘, a. a. O., S. 317 ff.; umfassend zur Methodentheorie Thomasius’ Jan Schröder, Christian Thomasius und die Reform der juristischen Methode, Leipziger Juristische Vorträge, Heft 23, 1997, bes. S. 16 ff. (zur Topik als juristische Argumentationstheorie), S. 24 ff. (zu Thomasius’ Theorie der wissenschaftlichen Systembildung) sowie S. 28 ff. (zur Hermeneutik); vgl. ferner die Beträge in: Jan Schröder (Hrsg.), Entwicklung der Methodenlehre der Rechtswissenschaft und Philosophie vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, 1998. 9 Dazu jüngst Georg Steinberg, Christian Thomasius als Naturrechtslehrer, 2005; zuvor bereits Rüping, a. a. O. Fn. 3; Peter Schröder, a. a. O. Fn. 5, S. 36 ff.; zusammenfassend Klaus Adomeit, Rechts- und Staatsphilosophie, Band II: Rechtsdenker der Neuzeit, 1995, S. 95 ff.; siehe auch Martin Kühnel, Das politische Denken von Christian Thomasius. Staat, Gesellschaft, Bürger, 2001; sowie Klaus Luig, Christian Thomasius, in: Michael Stolleis (Hrsg.), Staatsdenker in der frühen Neuzeit, 3. Auflage 1995, S. 227 ff. – Speziell zu Thomasius’ Strafrechtslehren: Mario A. Cattaneo, Staatsräsonlehre und Naturrecht im strafrechtlichen Denken des Samuel Pufendorf und des Christian Thomasius, in: Roman Schnur (Hrsg.), Staatsräson. Studien zur Geschichte eines politischen Begriffs, 1975, S. 427 ff.; Georg Licht, Christian Thomasius’ strafrechtliche Lehren, Diss. Freiburg i. Br., Berlin 1907; Friedrich Matthis, Christian Thomasius. Seine Lehre und seine Bedeutung für die Rechtswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der strafrechtlichen Seite, Diss. Freiburg i. Br. 1901. 10 Vgl. dazu etwa Peter Schröder, a. a. O. Fn. 5, S. 99 ff., der herausstellt, dass religiöse Toleranz sowohl gegenüber den religiösen Überzeugungen des Einzelnen als auch hinsichtlich der mit ihr zwangsläufig verbundenen Trennung von Staat und Kirche für Thomasius geradezu ein Gebot der Staatsräson gewesen sei (S. 121, S. 123 und öfter), und dabei auf die Ähnlichkeit der Position von Thomasius mit derjenigen des Toleranzbriefs von John Locke hinweist (S. 134), dessen Werk Thomasius nachweislich rezipiert hat (vgl. dazu Erik Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Auflage 1963, S. 371 ff., bes. S. 397); um eine Auseinandersetzung mit der Konzeption von Lockes Philosophie der Toleranz habe ich selbst mich bemüht in: Christoph Enders / Michael Kahlo (Hrsg.), Toleranz als Ordnungsprinzip? – Die moderne Bürgergesellschaft zwischen Offenheit und Selbstaufgabe, Fundamenta Iuris, Band 6, 2007, S. 145 ff. – Die Bedeutung der Hobbes’schen Staatsphiloso-
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Gerade dieses zuletzt erwähnte Engagement hat ihm deswegen auch den Ehrentitel des „Begründers der deutschen Frühaufklärung“ eingetragen.12 Dies alles ändert aber nichts daran, dass gerade in der heutigen, durch einen starken Zug zur Europäisierung und zunehmenden Internationalisierung auch des Universitäts- und Wissenschaftsbetriebes gekennzeichneten Zeit es auch der eingangs angesprochene „Skandal“ verdient, nicht etwa nur in der Rubrik der bildungsbürgerlichen Anekdoten abgelegt, sondern vielmehr thematisch aufgegriffen und darauf hin befragt zu werden, was dieser Vorgang uns angesichts der zu vermerkenden, mit den gerade erwähnten „transnationalen Tendenzen“ verbundenen Zunahme der faktischen Bedeutung von Fachfremdsprachen, insbesondere des Englischen,13 aktuell noch zu sagen hat. Dies soll im Folgenden dadurch geschehen, dass zunächst kurz Leben und Wirken von Thomasius, unter besonderer Berücksichtigung von dessen Leipziger Zeit als junger Privatdozent, in Erinnerung phie für die Staatslehre Thomasius’ rekonstruiert Peter Schröder, Naturrecht und absolutistisches Staatsrecht. Eine vergleichende Studie zu Thomas Hobbes und Christian Thomasius, Schriften zur Rechtstheorie. Heft 195, 2001, mit dem Ergebnis, „daß die zentrale Figur der englischen Rechtsphilosophie für Thomasius vor allem Hobbes“ gewesen sei. (S. 222). 11 In dieser Hinsicht wird Thomasius nicht selten in Verbindung mit dem kantischen Verständnis von Aufklärung (vgl. dazu dens., Was ist Aufklärung?, 1786, AA VIII, S. 33 ff.) gebracht, etwa von Peter Schröder, a. a. O. Fn. 5, S. 22: „Die von Thomasius erhobenen Forderungen des Selbstdenkens und des eigenständigen Urteilens nehmen in bemerkenswerter Weise Kants berühmte Erörterung über die Frage Was ist Aufklärung? vorweg.“ Angesichts des gedanklichen Zusammenhangs der kantischen Erörterung mit deren transzendentalphilosophischen Grundlagen, namentlich der Methode der Kritik als bestimmendes und urteilendes Denkverfahren, wird man dem allerdings nur partiell zustimmen können; vgl. dazu näher nachstehend unter II. 2. und 3. 12 Dies entspricht der heute weitgehend anerkannten Einschätzung der geistesgeschichtlichen Bedeutung Thomasius’; vgl. dazu nur Michael Albrecht, Christian Thomasius. Der Begründer der deutschen Aufklärung und seine Philosophie, in: Lothar Kreimendahl (Hrsg.), Philosophen des 17. Jahrhunderts. Eine Einführung, 1999, S. 238 ff.; Hans-Jürgen Engfer, Christian Thomasius. Erste Proklamation und erste Krise der Aufklärung in Deutschland, in: Werner Schneiders (Hrsg.), Christian Thomasius (1655 – 1728). Interpretationen zu Werk und Wirkung, S. 21 ff., S. 23 und öfter; Werner Schneiders, Aufklärung und Vorurteilskritik. Studien zur Geschichte der Vorurteilstheorie,1983, S. 85 und S. 92: Begründer „der deutschen Frühaufklärung“ und „Bahnbrecher der Aufklärung in Deutschland“; Peter Schröder, a. a. O. Fn. 5, S. 7: „erster Aufklärer des deutschen Geisteslebens“; Max Wundt, Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung, 1945, S. 19 ff.; Hans M. Wolff, Die Weltanschauung der deutschen Aufklärung in geschichtlicher Entwicklung, 2. Auflage 1963, S. 27, 45. – Vgl. zum Ganzen auch schon Erik Wolf, Grotius, Pufendorf, Thomasius. Drei Kapitel zur Gestaltgeschichte der Rechtswissenschaft, Heidelberger Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte, Heft 11, 1927. 13 Zu Zeiten von Thomasius war die alles beherrschende Wissenschaftssprache bekanntlich das Lateinische; vgl. dazu nochmals Helmut Glück, a. a. O. Fn. 1, mit dem Hinweis (S. 38), manche meinten, das Englische als „neue Einheitssprache der Wissenschaften repariere einen folgenschweren historischen Unfall, der darin bestehe, dass sich die Wissenschaften seit dem 17. Jahrhundert ,nationalisiert‘ hätten“, wohingegen die „humanistische Gelehrtenwelt der Frühen Neuzeit . . . universal gewesen (sei), weil sie im Lateinischen ihre gemeinsame Sprache gehabt habe.“
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gerufen wird, um so der Frage auf den Grund zu gehen, ob und – falls ja – inwiefern Thomasius’ Plädoyer für das Deutsche als Wissenschaftssprache mit dem von ihm begründeten Projekt der – zunächst vorkritischen – Aufklärung zusammenhängt (dazu nachstehend unter II.). Im Anschluß daran soll die grundlegende Bedeutung von Sprache überhaupt sowie der jeweiligen Muttersprache eines Volkes als Sprachgemeinschaft für alle Erkenntnis, also auch für das rechtwissenschaftliche Denken, in Erinnerung gerufen werden (dazu nachstehend unter III.). Diese Bedeutung führt, wie bereits verschiedentlich vermerkt worden ist, auf ein Problem der Rechtssprache im innerstaatlichen Verhältnis sowie, wie darüber hinaus zu zeigen sein wird, zu einer zunächst antagonistischen Konsequenz hinsichtlich des Verhältnisses verschiedener Sprach- und Rechtskulturen zueinander (dazu nachstehend unter IV.). Abschließend wird deswegen aufzuweisen sein, wie diese Konsequenz dadurch, dass die zunächst nur „innerstaatliche Perspektive“ durch einen Blick auch auf die interkulturelle Dimension des Rechts erweitert wird, behoben werden kann (dazu nachstehend unter V.). II. 1. Thomasius wurde am 1. Januar 165514 in Leipzig als ältester Sohn des Leipziger „Professors der Philosophie und der Beredsamkeit“ und späteren (ab 1676) Direktors der Thomasschule Jacob Thomasius und dessen Ehefrau Maria, geb. Weber, geboren.15 Bereits in seinem achten Lebensjahr verlor er seine Mutter. Aus der schon bald darauf geschlossenen zweiten Ehe des Vaters gingen neben den drei Kindern aus erster Ehe sieben weitere Kinder hervor. 1669, also mit vierzehn Jahren, nahm er ein Studium, zunächst der Philosophie,16 an der Universität Leipzig auf,17 an der er 1672 den Magistergrad erwarb. Schon während seines Philosophiestudiums begann er sich für die Jurisprudenz zu interessieren,18 was schließlich 14 Zu diesem allseits sich findenden Geburtsdatum weist Erik Wolf, a. a. O. Fn. 10, S. 374 in Fn. 1 darauf hin, dass diese Angabe auf dem julianischen Kalender beruht und dass es sich nach dem in Kurbrandenburg am 1. März 1700 eingeführten gregorianischen Kalender um den 12. Januar 1655 gehandelt habe. 15 Die folgenden Ausführungen zu Biographie und Werk Christian Thomasius’ stützen sich im wesentlichen auf die ausführlichen Darstellungen von Max Fleischmann, Christian Thomasius. Leben und Lebenswerk, 1931; Klaus Luig, a. a. O. Fn. 9; Peter Schröder, a. a. O. Fn. 5; Jan Schröder, a. a. O. Fn. 6; Georg Steinberg, a. a. O. Fn. 9; und Erik Wolf, a. a. O. Fn. 10. 16 In diesem Punkt abweichend Peter Schröder, a. a. O. Fn. 5, S. 11, der davon ausgeht, dass Thomasius 1669 „an der Leipziger Universität als Student der Rechte eingeschrieben“ worden sei. 17 Zu seiner Immatrikulation berichtet Gertrud Schubarth-Fikentscher, dass Thomasius aufgrund eines für Professorenkinder seinerzeit bestehenden Privilegs bereits als Säugling eingeschrieben wurde, vgl. dies., Christian Thomasius und die Hochschule seiner Zeit, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Gesellschaftsund Sprachwissenschaftliche Reihe 6, 1956 / 57, S. 11 ff., S. 13.
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dazu führte, dass er sich für das Fachstudium der Rechtswissenschaften entschied, zunächst in Leipzig, seit 1675 aber in Frankfurt an der Oder,19 wo er ein Schüler des schon damals berühmten Rechtslehrers Samuel Stryk wurde, unter dessen Vorsitz er 1679 mit einer Disputation über das Thema „De iure circa frumentum, praecipue de fructibus et frumento in genere“20 zum „Doctor juris“ (beider Rechte) promoviert wurde. Ob er im Anschluß daran tatsächlich eine in der damaligen Zeit nach Studienabschluß übliche „Bildungsreise“ unternommen hat, die ihn in die Niederlande geführt haben soll, ist in der biographischen Literatur umstritten.21 Dagegen ist gesichert, dass er sich nach seiner Rückkehr nach Leipzig erfolglos um eine Aufnahme in das Kollegium des angesehenen Leipziger Schöppenstuhls bewarb, was dazu führte, dass er sich zunächst kurz als Anwalt in Leipzig betätigte, und sodann, da er an dieser Tätigkeit keinen Gefallen fand, als junger Privatdozent eine Lehrtätigkeit an der Universität Leipzig aufnahm. – In diese Zeit (1680) fiel dann auch seine Eheschließung mit der gleichaltrigen Anna Christina Heyland, der Tochter eines braunschweigisch-lüneburgischen Hofrates und dessen Ehefrau, einer Tochter des Leipziger Ratsherrn Philipp Schreiner.22 Aus dieser Ehe waren bereits drei Kinder hervorgegangen, als 1684 Thomasius’ Vater starb. Ob es wirklich dieses Ereignis war, das eine Wendung in seiner Lehrtätigkeit auslöste, wie dies gelegentlich angenommen worden ist,23 mag hier dahingestellt bleiben. Festzuhalten ist aber, dass Thomasius bereits im Folgejahr (1685) mit einer ersten Publikation zum Thema der Mischehe („De crimine bigamiae“) an die Öffentlichkeit trat, in der er – in Fortführung von Überlegungen Pufendorfs – die naturrechtliche Zulässigkeit dieser Eheform behauptete und dadurch zum ersten Mal den Widerspruch insbesondere der orthodox-lutherischen Leipziger Theologen hervorrief. Sein 1688 veröffentlichtes erstes grundlegendes wissenschaftliches Werk, die „Institutiones Jurisprudentiae Divinae“,24 das aus seinen Leipziger 18 Es ist dokumentiert, dass dieses Interesse einerseits darauf zurückzuführen ist, dass sein Vater ihn bereits früh mit dem ersten modernen Naturrechtslehrbuch seiner Zeit, Hugo Grotius’ „De iure belli ac pacis libris tre“ in Berührung gebracht und dass ihn andererseits die Lektüre von Samuel Pufendorfs „De iure naturae et gentium“, erschienen 1672, sehr angeregt hat. 19 Fleischmann, a. a. O. Fn. 15, erklärt den Wechsel nach Frankfurt / Oder (S. 13) damit, dass die Leipziger Juristenfakultät in ihrer damaligen Zusammensetzung Thomasius keinen genügenden Anreiz geboten habe, weil sie in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts keine glänzende Rolle im deutschen Geistesleben gespielt habe. 20 „Von dem Recht, was bei dessen Früchten oder dem Getreide, so in Halmen und Ähren schiesset, zu beobachten“. 21 Zweifelnd etwa Peter Schröder, a. a. O. Fn. 5, S. 11, der bezüglich des genannten Brauchs von „Kavalierstouren“ spricht. 22 In der Trauurkunde vom 17. Februar 1680 im Traubuch der Thomaskirche wird Thomasius als „Dr. jur. und vornehmer Konsulent“ bezeichnet. – Er wohnte mit seiner Frau im schwiegerelterlichen Haus in Leipzig, Am Markt 10. 23 Etwa von Fleischmann, a. a. O. Fn. 15, S. 15 und Erik Wolf, a. a. O. Fn. 10, S. 378.
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Vorlesungen über Pufendorfs Kompendium hervorgegangen war und aufgrund seiner klaren Unterscheidung zwischen theologischer und rationaler Naturrechtsbegründung, zwischen dem „inneren Reich“ der individuellen, durch christliche Regeln bestimmten Gewissensordnung und dem „äußeren Reich“ des sozialen Lebens, der öffentlichen Gesellschaftsordnung, auf die Säkularisierung des Naturrechts abzielte, dürfte die durch die Bigamie-Schrift hervorgerufenen Spannungen eher verschärft haben. Vorangegangen war diesem Werk aber jener „Skandal“, der sich aus heutiger Sicht als eine Art Markstein und Ursprung der deutschen Frühaufklärung darstellt: Die deutschsprachige Ankündigung25 eines philosophischen Kollegiums auf Deutsch über die „Regeln der Lebensklugheit“ des spanischen Moralphilosophen Balthasar Gracian.26 Nicht nur die Tatsache der deutschsprachigen Ankündigung einer nicht auf Latein zu haltenden Vorlesung, die als krasser Verstoß gegen die universitären Traditionen beurteilt wurde,27 sondern wohl mehr noch deren Titel: „Welchergestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle“ erregte Aufsehen und insbesondere den Verdacht, es solle die Einführung französischer Umgangsformen auch im deutschen Universitätsleben propagiert werden. Etwa zur gleichen Zeit, und zwar genauer 1688 / 89, begann Thomasius die „Monatsgespräche“, eine satirische Zeitschrift für „scherz- und ernsthafte, vernünftige und einfältige Gedanken“ (so der Untertitel der ersten Ausgabe) herauszugeben,28 in der ebenfalls nicht in der Gelehrtensprache, sondern in der deutschen Sprache des Volkes geschrieben werden sollte, und in der nicht nur religiöse Fragen und Themen der Kunst und Literatur, sondern auch pädagogische Probleme sowie zeitgenössische soziale Streitfragen und politische Ereignisse mit für die damalige Zeit ungewöhnlicher Freimütigkeit behandelt wurden. Unter den damals von ihm verfassten Artikeln ist für Thomasius’ weiteren Werdegang in Leipzig besonders seine scharfe Entgegnung auf den dänischen Hofprediger Masius zu erwähnen, der 24 Später – 1709 in Halle – zusammen mit der deutschen Fassung der zuerst 1705 publizierten „Fundamenta Juris Naturae et Gentium“ unter dem Titel „Drey Bücher der göttlichen Rechtsgelahrtheit . . . nebst Grundlehren des Natur- und Völkerrechts“ in deutscher Sprache veröffentlicht. 25 Diese erfolgte, entsprechend dem Vorrecht der Juristen in dieser Zeit, an den Toren der Leipziger Kirchen. 26 Näher zu Gracian, der Rektor eines Jesuitenkollegs und durch eine praktische Sittenlehre unter dem Titel „Oraculo manual“ („Handorakel“) bekannt geworden war, und dessen Wirksamkeit zu Zeiten von Thomasius etwa Fleischmann, a. a. O. Fn. 15, S. 17, und Erik Wolf, a. a. O. Fn. 10, S. 384. 27 Thomasius selbst schätzte die Reaktionen so ein, dass die Ankündigung ein „erschreckliches und solange damals die Universität gestanden hatte, noch nie erhörtes crimen“ dargestellt habe (vgl. Juristische Händel III 1, 1720, § 3). 28 Freilich war er nicht nur Herausgeber, sondern in Personalunion auch Redakteur und Bearbeiter, wie Fleischmann, a. a. O. Fn. 15, S. 27 berichtet, der in dieser Zeitschrift die entscheidenden Anfänge des modernen Journalismus sieht (S. 26).
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in einer Schrift eine Verbindung zwischen der protestantischen Religion und der weltlichen Obrigkeit mittels der These hergestellt hatte, dass allein diese Religion den Fürsten den Gehorsam ihrer Untertanen garantiere – eine These, die Thomasius (gewiß zu Recht) als eine Herabwürdigung der evangelischen Lehre empfand und der er deshalb im Dezemberheft der „Monatsgespräche“ mit der lutherisch inspirierten Gegenthese von der Volkssouveränität entgegentrat. Anfang 1689 spitzte sich seine Lage in Leipzig dann freilich weiter und praktisch unerträglich zu, zunächst durch einen Streit mit der theologischen Fakultät, die eine Vorlesung über den Atheismus mit einer unmissverständlichen Spitze ihm gegenüber ankündigte,29 sodann aber durch zwei von Thomasius erstattete Rechtsgutachten: eines unter dem Datum des 22. Oktober 1689 für den damaligen Magister, pietistischen Prediger und späteren Freund sowie Hallenser Fakultätskollegen Hermann August Francke in dessen Streit mit seiner Theologenfakultät,30 vor allem aber die oft geschilderte rechtsgutachtliche Stellungnahme zugunsten einer reformiert-lutherischen fürstlichen Mischehe, die ihm die Gunst des kursächsischen Hofes entzog. Die Theologen31 – nicht die Juristenfakultät, worauf in dieser Festschrift hinzuweisen ist – machten endgültig Front gegen Thomasius und beantragten gar ein Inquisitionsverfahren gegen ihn. Die Summe dieser ungünstigen Umstände führte schließlich dazu, dass er am 10. März 1690 mit einem kurfürstlichen Vorlesungs- und Schreibverbot „bei Strafe von 200 Talern“ und unter Androhung eines Verhaftungsbefehls belegt wurde, das nicht nur seine – modern gesprochen – Wissenschafts- und Lehrfreiheit verletzte, sondern auch seine (und damit seiner Familie) wirtschaftliche Existenz bedrohte, die wesentlich auf die Einnahmen aus Hörergeldern und Bücherverkäufen gestützt war. Bereits am 18. März 1690 verließ er daraufhin Leipzig, zunächst in Richtung Berlin, von wo aus ihn der brandenburgische Kurfürst Friedrich III. (als Friedrich I. später, seit seiner Krönung in Königsberg am 18. Januar 1701 der erste „König in Preußen“) bereits am 4. April 1690 zum Kurfürstlichen Rat ernannte und ihm die Erlaubnis erteilte, in Halle philosophische und juristische Vorlesungen zu halten,32 womit Thomasius alsbald begann, zunächst als eine Art von „Ordinarius 29 Der darin liegende Vorwurf gegenüber Thomasius war nicht etwa nur ein „Glaubenskrieg“, sondern es waren damals der Druck und Verkauf atheistischer Schriften bei schweren Kriminalstrafen verboten. 30 Veröffentlicht 1690: „Rechtliche Bedencken über die Leipziger Universitäts-Acta mit M. Francken“. 31 An der Spitze Thomasius’ entschiedenster theologischer Gegner Valentin Alberti. – Dagegen scheinen sich die überlieferten Kontroversen mit Benedikt Carpzov auf Meinungsverschiedenheiten in Rechtsfragen beschränkt zu haben. 32 Nicht nur dieser zeitlich Zusammenhang hat in der Literatur zu Thomasius nicht selten zu der Annahme geführt, Thomasius sei keineswegs nur „Opfer“ von Machenschaften und Intrigen seiner Gegner in Leipzig geworden, sondern habe, zumindest ab einem bestimmten Zeitpunkt, spätestens seit 1688, selbst auf einen Ortswechsel hingearbeitet; ausdrücklich in diesem Sinne Peter Schröder, a. a. O. Fn. 5, S. 13 ff. unter Verweis auf die Korrespondenz zwischen Pufendorf und Thomasius; ähnlich Fleischmann, a. a. O. Fn. 15, S. 32 ff. – Dies
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ohne Fakultät“,33 sodann (nach der Erteilung des kaiserlichen Privilegs zur Errichtung der neuen Universität Halle vom 19. Oktober 1693 und deren feierlicher Eröffnung am 1. Juli 1694) gemeinsam mit seinem früheren akademischen Lehrer Samuel Stryk, den er 1692 – ebenso wie August Hermann Franke – nach Halle ziehen und für die frisch gegründete Universität gewinnen konnte, deren erster Direktor Stryk wurde. Von Anfang an scheint Thomasius in seiner neuen Stellung als Hallenser Universitätsprofessor großer Erfolg als akademischer Lehrer beschieden gewesen zu sein. So wird berichtet, dass zu dem Kreis von „fünfzig alten Getreuen“, ehemaligen Hörern aus Leipzig, die ihm nach Halle gefolgt waren, in Halle schon bald zahllose neu eingeschriebene Studierende hinzukamen, so dass seine Hörerschaft bereits nach wenigen Jahren auf viele Hunderte angewachsen war.34 – Freilich fand nicht nur sein Einsatz in der universitären Lehre35 zunehmende Anerkennung, sondern Thomasius, der sich in Halle zunehmend von der Philosophie der Jurisprudenz zuwandte,36 trat durch eine beachtliche Zahl wichtiger und schon zu seiner Zeit wirkungsmächtig gewordener Veröffentlichungen hervor, von denen hier – neben den 1691 unter den Titeln „Einleitung zu der Vernunftlehre“ und „Ausübung der Vernunftlehre“ publizierten logischen Arbeiten – beispielhaft37 der universitätspolitische „Discours von der Freyheit der itzigen Zeiten gegen die vorigen“ aus demselben Jahr,38 die 1692 in deutscher Sprache publizierte „Einleitung der Sittenändert allerdings nichts daran, dass Thomasius dort, wo er in seinen späteren Arbeiten auf seinen Lebensweg zu sprechen kommt, sich vor allem auf Ereignisse aus der Zeit seiner Konflikte in Leipzig bezieht, was dafür spricht, dass die Umstände seiner „Verbannung“ von der Leipziger Universität ihn tief getroffen haben müssen. Entsprechendes wird man angesichts der Schärfe mancher seiner juristischen Auseinandersetzungen mit Carpzov im Hinblick auf die Zurückweisung seiner Bewerbung auf den Leipziger Schöppenstuhl mutmaßen können. 33 Im Hinblick darauf spricht Jan Schröder, a. a. O. Fn. 8, S. 14 von einer „Ein-MannFakultät“. 34 Siehe dazu Erik Wolf, a. a. O. Fn. 15, S. 391. 35 Schon für die Leipziger Zeit ist dieses Engagement dokumentiert, wie die sorgfältige Darstellung von Georg Steinberg, a. a. O. Fn. 9, S. 23 ff. zu Thomasius’ Lehrtätigkeit als Privatdozent zeigt; vgl. dazu auch die „Tabellarische Übersicht über Thomasius’ Lehrveranstaltungen“ a. a. O., S. 201 ff. 36 Dieser Befund – etwa von Fleischmann, a. a. O. Fn. 15, S. 41 – darf allerdings schon deswegen nicht überbewertet werden, weil es eine der heutigen Zeit vergleichbare Trennung der beiden Wissenschaften zu Zeiten von Thomasius so nicht gegeben hat. Vielmehr stand das Naturrecht im Mittelpunkt der Jurisprudenz, die schon deswegen philosophische Rechtswissenschaft war. 37 Ein vollständiges Verzeichnis sämtlicher Werke von Thomasius findet sich insbesondere (in alphabetischer Reihenfolge) bei Georg Steinberg, a. a. O. Fn. 9, S. 217 ff.; vgl. ferner bei Fleischmann, a. a. O. Fn. 15, S. 42 ff., dessen Darstellung nach Themenbereichen (Philosophie; Rechtswissenschaft, unterteilt in Völkerrecht, Staatsrecht, Kirchenrecht sowie Strafrecht und Privatrecht) gegliedert ist. 38 Vgl. dazu Georg Gawlick, Thomasius und die Denkfreiheit, in: Werner Schneiders (Hrsg.), Christian Thomasius (1655 – 1728). Interpretationen zu Werk und Wirkung, 1989, S. 256 ff., bes. S. 258 f.
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lehre“,39 die das Verhältnis von Staat und Kirche bestimmende Untersuchung „Das Recht evangelischer Fürsten in theologischen Streitigkeiten“ aus dem Jahr 1696,40 die 1697 erschienenen Schriften zur Häresie,41 der konzeptionelle „Summarische Entwurf der Grundlehren“ für einen Jurastudenten von 1699,42 die kritische Untersuchung „De crimine magiae“,43 die wichtigen „Fundamenta Juris Naturae et gentium ex sensu communi deducta“, die eine Reihe von Änderungen gegenüber der Naturrechtslehre der „Institutiones Jurisprudentiae Divinae“ von 1688 enthalten,44 die „Vorrede“ zur ersten deutschen Übersetzung von Hugo Grotius’ drei Büchern „Vom Recht des Krieges und des Friedens“ im Jahre 1707, die „Cautelae circa Praecognita Jurisprudentiae in usum auditorii Thomasiani“ von 171045 und die Untersuchung „De origine processus inquisitori“ aus dem Jahr 1712 angeführt seien. Es mögen auch einige dieser Veröffentlichungen gewesen sein, die Thomasius 1709, also im Jahr des 300. Geburtstages der Leipziger Universität, einen ehrenvollen Ruf an diese eintrug, den er jedoch ablehnte, woraufhin er noch im selben Jahr zum Geheimen Justizrat und 1710 zum Direktor der Hallenser Universität auf Lebenszeit ernannt wurde. Dieser gehörte er fortan bis zu seinem Tod am 23. September 1728 in Halle an. Und da der Juristischen Fakultät der Universität Halle, der damaligen Übung entsprechend, auch Aufgaben als Spruchkollegium, zum Beispiel in Strafsachen, übertragen waren, hat er in diesem Zeitraum auch in der 39 Der aus heutiger Sicht fast amüsant anmutende vollständige, wahrhaft „barocke“ Titel lautet: „Von der Kunst Vernünftig und Tugendhaft zu lieben, Als dem einzigen Mittel zu einem glückseligen, galanten und vergnügten Leben zu gelangen; Oder Einleitung der Sittenlehre, Nebst einer Vorrede, In welcher unter andern der Verfertiger der curiösen Monathlichen Unterredungen freundlich erinnert und gebeten wird, von Sachen, die er nicht versteht, nicht zu urtheilen, und den Autoren dermaleins in Ruhe zu lassen“; die Schrift erschien erst 1706 in lateinischer Übersetzung unter dem Titel „Introductio in Philosophiam moralem etc.“. 40 Der vollständige Titel lautet: „Das Recht der evangelischen Fürsten in theologischen Streitigkeiten gründlich ausgeführt wider die Papistischen Lehrsätze eines theologi in Leipzig“. – Thematisch zusammenhängend später (1701) die „Dreyfache Rettung des Rechts Evangelischer Fürsten in Kirchen-Sachen“. 41 „An haeresis sit crimen“ („Ob Häresie ein Verbrechen sei“) und „De jure principis circa haereticos“; vgl. insbesondere zu der erstgenannten Schrift näher Gawlick, a. a. O. Fn. 38, S. 260, der unter anderem auf den Zusammenhang des Textes zur Häresiefrage mit den „Gedanken vom Rechte eines Christlichen Fürsten in Religionssachen“ von 1695 hinweist. 42 Vollständiger Titel: „Summarischer Entwurff Derer Grund-Lehren / Die einem Studioso Juris zu wissen / und auff Universitäten zu lernen nötig“. 43 „Von dem Verbrechen der Zauber- und Hexerey“, 1701. 44 Dies hat Thomasius nicht davon abgehalten, beide Schriften zusammen 1709 in deutscher Übersetzung im Rahmen der „Drey Bücher der Göttlichen Rechtsgelahrtheit . . . nebst des Herrn Autoris allerneuesten Grundlehren Des Natur und Völcker Rechts“ zu veröffentlichen. 45 1713 in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Höchstnöthige Cautelen welche ein Studiosus Juris, der sich zur Erlernung der Rechts-Gelahrtheit auff eine kluge und geschickte Weise vorbereiten will, zu beobachten hat“ erschienen.
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Rechtspraxis als Mitglied dieses Kollegiums gegen Hexenprozesse und Folter eintreten können. Deren Abschaffung in Preußen durch Friedrich den Großen im Jahr 1740 hat Christian Thomasius zwar nicht mehr erleben dürfen,46 wohl aber war ihm die Erfahrung noch beschieden, dass Friedrich Wilhelm I. (der sog. Soldatenkönig) 1714, ein Jahr nach seiner Thronbesteigung, verfügte, dass bei Hexenprozessen und Anwendung der Folter der König über den Vorgang in Kenntnis gesetzt werden muss, was praktisch zur Beendigung der Hexenverfolgung in BrandenburgPreußen führte. 2. Blickt man auf diesen Lebenslauf nicht nur rein äußerlich zurück, ist es nun in der Tat auffällig, dass sich gerade in dem eingangs bereits erwähnten „Skandal“, eine philosophische Lehrveranstaltung über Gracians Regeln der Lebensklugheit auf Deutsch in deutscher Sprache anzukündigen, Christian Thomasius’ lebenslanges wissenschaftliches Eintreten für die Denkfreiheit und eine zur Selbständigkeit des Urteilens erziehende Universitätsausbildung47 in ganz besonderer Weise manifestierte.48 Diese Beurteilung betrifft zunächst die Form sowohl der Ankündigung als auch nicht weniger der Vorlesung, verbindet sich mit der bewussten Wahl der deutschen Sprache doch der verfolgte Anspruch, die eigene Muttersprache als Element der personalen lebensweltlichen Identität nicht länger nur als Medium der Kommunikation im Alltagsleben bezüglich dessen mehr oder weniger schlichter Lebenssachverhalte anzusehen, sondern für passend (geeignet) und wert zu halten, auch anspruchsvolle wissenschaftliche Probleme in dieser Sprache zu vermitteln und zu verhandeln.49 Sie betrifft sodann nicht weniger auch den Gehalt der hier in Rede 46 Es ist aber vermerkenswert, was Friedrich der Große über Thomasius geäußert haben soll: „Dass Thomas, ein gelehrter Professor zu Halle, die Hexenrichter und Hexenprozesse lächerlich gemacht hat . . . er redete so laut, dass man sich ferner solcher Rechtshändel schämte.“ (Zitat nach Max Fleischmann, a. a. O. Fn. 15, S. 137) 47 Unter ausdrücklichem Einschluss im Übrigen auch der „Frauenzimmer“; vgl. dazu die Nachweise bei Fleischmann, a. a. O. Fn. 15, S. 19 / 20 sowie bei Erik Wolf, a. a. O. Fn. 10, S. 386 bei und in Fn. 53, der in diesem Zusammenhang aus Thomasius’ oben bereits erwähnter „Einleitung in die Vernunftlehre“ (Kap. I § 41) zitiert: „Weibes-Personen sind der Gelahrtheit so wohl fähig als Manns-Personen“. 48 Als Beispiele für dieses Engagement seien hier pars pro toto zum einen sein oben (bei Fn. 38) bereits erwähnter „Discours von der Freyheit der itzigen Zeiten gegen die vorigen“ (1691) benannt, in dem er zugleich erleichtert und zuversichtlich ausführt, die Philosophie habe „die Last der Scholastischen und Aristotelischen Bürde von Hals und Schultern geschüttelt“ (a. a. O., S. 395), zum anderen die 1712 erschienene „Einleitung zur Hoff-Philosophie, oder kurzer Entwurff und die ersten Linien von der Klugheit zu bedencken und richtig zu schließen“, in der es unter anderem heißt, dass man „alles und jedes was wahr und gut ist, in die Schatz-Kammer seines Verstandes sammeln müsse, und nicht so wohl auf die Autorität des Lehrers Reflexion mache, sondern ob dieser oder jener Lehr-Punct wohl gegründet sey, selbst untersuche, auch von dem Seinigen etwas hinzu thue, also vielmehr mit seinen eigenen Augen als mit andern sehe“ (Nachdruck Hildesheim 1994), S. 50. 49 Darauf, wie schwierig dies gerade für Thomasius gewesen sein muss, der als Sohn eines Universitätsprofessors „in der Doppelsprachigkeit des Gelehrtenhauses aufgewachsen“ war,
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stehenden Vorlesung: Zwar ist uns deren Wortlaut nicht im Einzelnen überliefert, ihr Inhalt lässt sich aber aus späteren Vorlesungen von Thomasius und dessen Schriften aus der damaligen Zeit so weit rekonstruieren,50 dass heute unbestritten ist, dass es in ihr um nichts weniger als eine Werbung für die französische Lebensart, sondern vielmehr gerade darum ging, das Auditorium durch eine Selbstprüfung zum Selbstbewusstsein anzuleiten; durch eine zwar von den bestehenden („rohen“) akademischen Sitten51 ausgehende, jedoch grundsätzlich angelegte Sozialkritik wollte Thomasius dazu auffordern, aus eigener Kraft eine gesellschaftliche Lebensform auszubilden, wozu eben, wie man von den Franzosen lernen könne, gerade nicht zuletzt die Kultivierung und Wertschätzung der eigenen Muttersprache förderlich sein könne.52 Gerade dieser Sozial- und Praxisbezug seiner Lehre ist es denn auch gewesen, der Thomasius die späte Anerkennung eines berühmten Mitgliedes der Leipziger Universität, nämlich Ernst Blochs, eingetragen hat.53 So wahr sich das Projekt der Aufklärung daher als das möglichst ununterbrochene Bemühen um die kritischen Leistungen fortschreitender Selbsterkenntnis und des sich nicht schon mit den bloßen Gegebenheiten des Lebens („Traditionen“) beruhigenden Selbstdenkens verstehen lässt, so wahr hat dieses Projekt in Deutschland mit der vorstehend in Erinnerung gerufenen Ankündigung Christian Thomasius’ in Leipzig begonnen.54 Es ist deshalb durchaus berechtigt, dass dieser Akt als eine „revolutionäre Tat“ bezeichnet worden ist.55 weshalb ihm das Latein für den schriftlichen und akademischen Ausdruck geläufiger als die deutsche Sprache gewesen sein dürfte, weist Fleischmann, a. a. O. Fn. 15, S. 21 hin und stellt in diesem Zusammenhang anerkennend fest, dass Thomasius – anders als Leibniz, dessen Einsatz für den Gebrauch der deutschen Sprache in der Wissenschaft sich mehr oder weniger auf „gelehrte Brieffreundschaften“ beschränkt habe – auch in dieser Frage eben „seine Persönlichkeit eingesetzt“ hat. 50 Etwa durch die Heranziehung der zeitgleich (1687) erschienenen Programmschrift „Discours, welcher Gestalt man denen Franzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle“ oder auch der 1688 publizierten „Introductio ad philosophiam aulicam“; vgl. zu dieser Jan Schröder, a. a. O. Fn. 8, S. 14. 51 Vgl. zu den damals infolge des Dreißigjährigen Krieges schlechten Zuständen nicht allein an der Leipziger Universität und zu der kriegsbedingten „Verrohung“ und „Verwilderung“ des Studententums „bis in die Sprache hinein“, welche ein Anlass für Thomasius’ Vorlesung gewesen ist, Fleischmann, a. a. O. Fn. 15, S. 16 / 17. 52 Vgl. das bei Erik Wolf, a. a. O. Fn. 10, S. 385 in Fn. 48 angeführte Thomasius-Zitat: „So ist auch offenbar, dass wir in Teutschland unsere Sprache bey weitem so hoch nicht halten als die Frantzosen die ihrige.“ 53 Vgl. Ernst Bloch, Christian Thomasius. Ein deutscher Gelehrter ohne Misere, 1953. 54 Übereinstimmend die sorgfältige, auch die Bedeutung des Verständnisses von „Aufklärung“ und deren Begriffsgeschichte berücksichtigende Untersuchung von Werner Schneiders, 300 Jahre Aufklärung in Deutschland, in: ders. (Hrsg.), Christian Thomasius (1655 – 1728). Interpretationen zu Werk und Wirkung, 1989, S. 1 ff., bes. S. 12 ff. (auch wenn Thomasius „kein Aufklärer im Reinformat“ gewesen sei, S. 14), der dabei interessanterweise unter anderem feststellt, dass das Französische über „kein Substantiv bzw. Verbalsubstantiv“ verfügt, „das dem damals schon vorhandenen deutschen Wort Aufklärung entsprechen würde“ (S. 7).
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3. Dies ändert freilich nichts daran, dass auch Thomasius – wie könnte dies am Anfang einer Denkbewegung anders sein? – weniger „Lösungen“, sondern vielmehr Probleme hinterlassen hat, deren gedankliche Bewältigung zur Aufgabe für die Nachfolgenden wurde. Eines dieser – gerade aus Sicht der Rechtswissenschaft interessierenden – Probleme bestand, wie insbesondere Hans-Jürgen Engfer nachgewiesen hat,56 darin, dass der Gedankengang Thomasius’ zunächst zwar durchaus darauf aus gewesen ist, dem Anspruch der Aufklärung entsprechend „eine neue Sicherung und Begründung des Wissens“ zu leisten,57 dass seine dafür insbesondere im Anschluss an Descartes entwickelte „Vorurteilstheorie“58 jedoch aufgrund ihrer späteren Einordnung in und Prägung durch die Übernahme Lutherscher Annahmen – jenseits des allein im christlichen Glauben liegenden Gnadenzustandes sei der (natürliche) Mensch „radikal sündig und von sich aus weder zum Erkennen des Wahren noch zum Tun des Guten fähig“ – diesen Anspruch nicht einzulösen vermochte, sondern ihre „Funktion für die selbstbewusste Selbstvergewisserung des erkennenden Ich weitgehend einbüßte“59 und so am Ende insbesondere für die praktische Philosophie zu der Behauptung sich versteigt, es müssten die wenigen, aufgrund ihrer besonderen affektiven Ausstattung60 exklusiv zu Tugend und Weisheit Begabten „die Handlungen der Uneinsichtigen regieren“.61 55 So ausdrücklich Fleischmann, a. a. O. Fn. 15, S. 16. – Darauf, dass diese „Tat“ in mancher Hinsicht mit Martin Luthers Übersetzung der Bibel ins Deutsche (und manchem anderen Engagement Luthers) vergleichbar ist, ist wiederholt hingewiesen worden, etwa von Erik Wolf, a. a. O. Fn. 10, S. 372, 380 / 381 und 387; eine ausdrückliche Verbindung zu Luthers Einsatz für die deutsche Sprache findet sich auch bei Peter Schröder, a. a. O. Fn. 5, S. 8. 56 Vgl. dazu seinen wichtigen Beitrag a. a. O. Fn. 12. 57 Näher dazu Hans-Jürgen Engfer, a. a. O., S. 23 – 26; siehe zu Thomasius’ Erkenntnistheorie in diesem Zusammenhang auch Luigi Cataldi Madonna, Die Konzeption der Vernunft bei Christian Thomasius. Ein Mittelweg zwischen Empirismus und Rationalismus, in: Friedrich Fulda / Rolf-Peter Horstmann (Hrsg.), Vernunftbegriffe in der Moderne, 1994, S. 153 ff. 58 Vgl. zu dieser als einem „für die gesamte deutsche Aufklärung grundlegend“ bleibenden Theorem bes. Werner Schneiders, a. a. O. Fn. 12, S. 93 und öfter. Es mag deshalb hier auch vermerkenswert sein, dass die letzte Vorlesung, die Thomasius in Leipzig gehalten hat, eben der „Vorurteilstheorie“ gewidmet war. 59 Vgl. dazu unter Hinweis (nicht nur) auf Martin Luther (Von der Freiheit des Christenmenschen (in: ders., Werke in Auswahl, ed. O. Clemen, 5. Auflage 1959, Band II, S. 15 ff.) näher Engfer, a. a. O. Fn. 12, S. 28, 30. 60 Siehe zu Thomasius’ Affektenlehre und deren Zusammenhang mit der Sprache Georg Braungart, Sprache und Verhalten. Zur Affektenlehre im Werk von Christian Thomasius, in: Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung, 1997, S. 365 ff. 61 Zu den Einzelheiten des Gedankengangs näher Engfer, a. a. O. Fn. 12, S. 34 unter Heranziehung insbesondere der „Fundamenta juris naturae et gentium“ als dem bekanntesten naturrechtlichen Werk Thomasius’, in dem dieser „ein geschlossenes System der praktischen Philosophie entwickelt (habe), das Moral, Sitte und Recht umfasst.“ – Diese, von Engfer sorgfältig rekonstruierte Entwicklung verdeutlicht denn auch überzeugend den Grund für das
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Dieses „Schattenseite“ in der gedanklichen Entwicklung des Thomasius62 hat in der Folgezeit erst Kant durch die Grundlegung seiner kritischen Philosophie der Freiheit „belichtet“, indem sein transzendentalphilosophischer Gedankengang zunächst begründet hat, dass allgemeine Selbstaufklärung und Selbstbestimmung (Freiheit) auch im Hinblick auf die Erkenntnis einer (natur-)gesetzmäßig determinierten Welt zu denken möglich bleibt, und wie diese sowohl im kategorischen Imperativ der Sittlichkeit als auch im Recht auf den Begriff zu bringen ist.63 Kant war es auch, der das mit der Einsicht in die Allgemeinheit von Freiheit verbundene Problem gesehen und gelöst hat, indem er zeigt, dass eine nicht wissenschaftlich aufgeklärte praktische Vernunft allzu leicht in Gefahr der Selbst- oder Fremdkorrumpierung gerät.64 Damit war nun zwar ein gewaltiger (Erkenntnisfort-)Schritt getan,65 nicht aber war dadurch auch schon ein zweites, uns von Thomasius hinterlassenes Problem gelöst: Die Frage nämlich, warum der Sprache und der Muttersprache eine für das Projekt der Aufklärung so wichtige Bedeutung zukommt. Die Sprache nämlich vielfach vermerkte Auseinanderklaffen des der Aufklärung verpflichteten Ansatzes von Thomasius’ Denken und seiner absolutistischen Naturrechts- und Staatslehre; vgl. zu dieser Diskrepanz etwa Luig, a. a. O. Fn. 9, S. 230 ff. (u. a. mit der Feststellung S. 251, im Verhältnis zum Staat sei der Bürger bei Thomasius „kein Rechtssubjekt“); Peter Schröder, a. a. O. Fn. 5, S. 80 ff. und öfter; Erik Wolf, a. a. O. Fn. 10, S. 402 – 408. 62 So die Formulierung von Engfer, a. a. O. Fn. 12, S. 34. 63 Um eine gegenwartsbezogene Rekonstruktion seines Gedankengangs habe ich mich besonders in meiner Habilitationsschrift über „Die Handlungsform der Unterlassung als Kriminaldelikt. Eine strafrechtlich-rechtsphilosophische Untersuchung zur Theorie des personalen Handelns“, 2001, vor allem S. 181 ff. bemüht; eine vorzüglich konzentrierte Darstellung zu Kants Denkweg zur Rechtslehre findet sich etwa bei Rainer Zaczyk, Die Freiheit der Person als Zentrum der Rechtsbegründung, in: Siller / Keller (Hrsg.), Rechtsphilosophische Kontroversen der Gegenwart, 1999, S. 51 ff.; vgl. ferner ders., Einheit des Grundes, Grund der Differenz von Moralität und Legalität, Jahrbuch für Recht und Ethik 14 (2006), S. 311 ff. sowie speziell im Hinblick auf das Strafrecht: „Hat er aber gemordet, so muß er sterben“ – Kant und das Strafrecht, in: Manfred Kugelstadt (Hrsg.), Kant-Lektionen, 2008, S. 241 ff.; für einen guten ersten Zugang zur kantischen praktischen Philosophie empfiehlt sich ders., Freiheit und Recht – Immanuel Kant zum 200. Todestag, JuS 2004, S. 96 ff. 64 Vgl. Kant, GMS, AA IV, S. 404 / 405, wo er – nach der Feststellung, es könne „der gemeine Verstand“ sich in praktischen Fragen „eben so gut Hoffnung machen, es recht zu treffen, als es sich immer ein Philosoph versprechen mag“ – im Ausgang von der Frage, ob es „demnach nicht rathsamer (wäre), es in moralischen Dingen bei dem gemeinen Vernunfturtheil bewenden zu lassen“, ausführt, dass es zwar „eine herrliche Sache um die Unschuld“ ist, diese sich aber ohne die Festigkeit durch Denken gesicherter Aufklärung „nicht wohl bewahren lässt und leicht verführt wird“, weswegen „selbst die Weisheit . . . doch auch der Wissenschaft“ bedürfe, um „ihrer Vorschrift Eingang und Dauerhaftigkeit zu verschaffen.“ 65 Es ist mehr als ein „Sprachspiel“, wenn darauf hingewiesen wird, dass der „revolutionären Tat“ Christian Thomasius’ durch Kant eine „Revolution der Denkungsart“ folgte; vgl. dazu Kant, KrV (B), AA III, Vorrede, S. 13 („Veränderung der Denkungsart“) und S. 15 („Revolution“ der Metaphysik). Dass diese „Revolution“, legt man die 2. Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ zugrunde, genau 100 Jahre nach Thomasius’ Leipziger Vorlesungsankündigung von Kant selbst vermerkt wurde, erscheint demgegenüber zufällig.
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hatte Kant selbst, anders als seine Zeitgenossen Hamann,66 Herder67 und Wilhelm von Humboldt,68 nicht mehr zum expliziten Gegenstand seines kritischen Denkens gemacht.69 III. 1. Es war vielmehr erst Hegel, der die kantischen Leistungen in dieser Hinsicht erweitern und vertiefen konnte, indem er das Problem der Sprache in den Blick genommen und ihre Bedeutung sowohl für die Erkenntnis überhaupt als auch für die Identität des Einzelnen wie jedes Volkes als lebendiger Gemeinschaft begriffen hat.70 Besonders diesen zuletzt genannten Gesichtspunkt hat er in seinen zuerst 1805 / 1806 gehaltenen „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie“ folgendermaßen zusammengefasst: „Aber man kann erst sagen [ . . . ] dass eine Wissenschaft nur dann einem Volke angehört, wenn es sie in seiner eigenen Sprache besitzt; und dies ist in der Philosophie am notwendigsten. Denn der Gedanke hat eben dieses Moment an ihm, dem Selbstbewusstsein anzu-
66 Vgl. Johann Georg Hamann (1730 – 1788), Schriften zur Sprache, hg. von Josef Simon (Reihe: Theorie 1), 1967. 67 Siehe dazu bes. Johann Gottfried Herder (1744 – 1803), Abhandlung über den Ursprung der Sprache, 1772, hg. von Hans D. Irmscher (Reclam Universal-Bibliothek), 2001; ferner ders., Sprachphilosophische Schriften, hg. von Erich Heintel (Philosophische Bibliothek, Band 248), 2. Auflage, 1964; eindringliche Auseinandersetzung mit der Sprachphilosophie Herders bei Bruno Liebrucks, Sprache und Bewusstsein, Band 1, 1964; vgl. zum Verhältnis von Kant und Herder insbes. die Untersuchung von Theodor Litt, Kant und Herder als Deuter der geistigen Welt, 2. Auflage, 1949. 68 Vgl. aus Humboldts umfangreichem Werk hierzu, das ihn als einen der Begründer der vergleichenden Sprachwissenschaft und der neueren Sprachphilosophie ausweist, besonders: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die Entwicklung des Menschengeschlechts, 1836, abgedruckt in: Die sprachphilosophischen Werke, hg. und erklärt von H. Steinthal, 1884. 69 Daß die Sprache gleichwohl auch für das Denken Kants bedeutungsvoll gewesen ist, zeigt sich etwa im Hinblick auf seine „Kategorienlehre“ sowie seine wiederholten und für sein Werk zentralen Begründungen der „Mögklichkeit synthetische Sätze a priori“. Zu Recht hat es deshalb vor allem Josef Simon jüngst unternommen, die angesprochene Lücke durch einen Neuansatz in der Interpretation der kantischen Philosophie zu schließen, vgl. dazu dens., Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, 2003; auf diesen Neuansatz aufbauend jüngst Werner Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 2008. 70 Vgl. zu seinen diesbezüglichen Bestimmungen zunächst vor allem dens., Phänomenologie des Geistes, 1807, zitiert nach: Werke in 20 Bänden, ed. Moldenhauer / Michel, Band 3, 1970, A. Bewusstsein, I. Die sinnliche Gewissheit oder das Diese und das Meinen, bes. S. 85 zum Verhältnis von Gewissheit, Allgemeinheit, Wahrhaftigkeit und Sprache; ferner C. Vernunft, dort das Kapitel VI. „Der Geist, Das Gewissen, Die schöne Seele und die Versöhnung“, bes. S. 478 f. zur Bestimmung der Sprache als „Dasein des Geistes“; vgl. eindringlich zu Hegels Auffassung von der Sprache insbesondere die Dissertation von Josef Simon, Das Problem der Sprache bei Hegel, 1966, sowie die Untersuchung von Theodor Bodammer, Hegels Deutung der Sprache. Interpretationen zu Hegels Äußerungen über die Sprache, 1969.
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Wie sehr Hegel dabei auch an die Zeit, in der Thomasius um die Ablösung des Lateinischen durch die Einführung und Anerkennung der eigenen Muttersprache als Wissenschaftssprache kämpfte, gedacht haben muss, kommt in seiner am 29. September 1809 gehaltenen Rede zum Ausdruck, wenn es dort heißt: „Die allgemeine Stimme erhob sich gegen jenes unselig gewordene Lateinlernen; es erhob sich das Gefühl vornehmlich, dass ein Volk nicht als gebildet angesehen werden kann, welches nicht alle Schätze der Wissenschaft in seiner eigenen Sprache ausdrücken und sich in ihr mit jedem Inhalt frei bewegen kann. Diese Innigkeit, mit welcher die eigene Sprache uns angehört, fehlt den Kenntnissen, die wir nur in einer fremden besitzen; sie sind durch eine Scheidewand von uns getrennt, welche sie dem Geiste nicht wahrhaft heimisch sein lässt.“72
Bereits diese beiden Zitate zeigen, wie sehr Hegel, insofern jedenfalls in Übereinstimmung mit Thomasius, davon ausging, dass die Sprache und Sprachkultur eines Volkes diesem ebenso „gehört“, also seine gemeinschaftliche kulturelle Identität ausmacht, wie dessen wissenschaftliche (und, wie man ergänzen darf: künstlerische) Leistungen. Und diese Leistungen können nur dann für die Gemeinschaft wirklich mitkonstitutiv werden, wenn auch die Wissenschaft (und Kunst) sich in der jeweiligen Muttersprache eines Landes ausbildet und bewegt. Damit war ein ursprünglicher und unauflöslicher Zusammenhang zwischen der eigenen Sprache eines Volkes (Muttersprache) und dessen wissenschaftlich-kultureller Identität jedenfalls festgehalten. 2. Zu einer weiteren Aufklärung dieses Zusammenhangs kam es in der näheren Folgezeit freilich deswegen nicht, weil mit dem oft behandelten „Zusammenbruch der Hegelschen Philosophie“73 auch die Beschäftigung mit der Sprache als philosophisches Problem weitgehend wieder verlorenging. – Das änderte sich erst im 20. Jahrhundert nachhaltig. Herausgefordert vor allem durch die Philosophie Ludwig Wittgensteins und hier zunächst besonders dessen sprachphilosophisch inspirierten „Tractatus logico-philosophicus“ aus dem Jahr 192174 kam es zu einem oft 71 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, 1816 / 1820, zitiert nach: Werke in 20 Bänden, ed. Moldenhauer / Michel, Band 20, 1971, S. 259. 72 Vgl. G.W.F. Hegel, Nürnberger Schriften 1808 – 1817, Rede zum Schuljahresabschluß am 29. September 1809, zitiert nach: Werke in 20 Bänden, ed. Moldenhauer / Michel, Band 4, 1970, S. 315. – Diesen Hinweis verdanke ich meinem wissenschaftlichen Assistenten, Herrn Dr. Benno Zabel. 73 Zu Recht kritisch zu dieser Terminologie Marc André Wiegand, Unrichtiges Recht. Gustav Radbruchs rechtsphilosophische Parteienlehre, 2004, S. 20 ff. 74 Vgl. zu diesem Neuansatz etwa Wittgensteins repräsentative Aussage: „Alle Philosophie ist ,Sprachkritik‘“ (vgl. ders., Tractatus logico-philosophicus / Logisch-philosophische Ab-
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schon vermerkten regelrechten „linguistic turn“, der dazu führte, dass praktisch alle maßgebenden philosophischen Konzepte des 20. Jahrhunderts ihr Erkenntnisinteresse fortan auch auf das schon von Hegel reflektierte „Problem der Sprache“ richteten.75 Dabei ging es jetzt allerdings zumeist um die Bedeutungen der Sprache selbst, und auch wenn hier die diesbezüglichen Konzepte im Einzelnen nicht nachzuzeichnen sind,76 wird man doch nicht umhin können, eine Grundunterscheidung anzuführen, nämlich diejenige zwischen der sog. analytischen und der transzendentalen Sprachphilosophie.77 Diese Grundunterscheidung ist nämlich für das hier thematische Problem insofern wichtig, als die Eigenart der analytischen Sprachauffassung78 deren weitgehende Irrelevanz für dieses Problem zumindest nahelegt: Da diese Auffassung Sprache nämlich nur als eine bloße Gegebenheit unter anderen „Objekten“ ansieht (sog. Dritte-Person-Aspekt oder „Beobachterperspektive“) und diese insbesondere darauf hin untersucht, ob und inwiefern sie ein brauchbares handlung, 4.0031, ed. Suhrkamp, 1971), die auf die Grundthese verweist, dass philosophische Probleme nur der verstehen oder auflösen kann, der begreift, welche Fehlanwendungen von Sprache diese erzeugen; vgl. dazu ferner Wittgensteins vielzitierten Programmsatz in seinem Vorwort zum „Tractatus“: „Man könnte den ganzen Sinn des Buches etwa in die Worte fasssen: Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen. Das Buch will also dem Denken eine Grenze ziehen, oder vielmehr – nicht dem Denken, sondern dem Ausdruck der Gedanken: Denn um dem Denken eine Grenze zu ziehen, müssten wir beide Seiten dieser Grenze denken können (wir müssten also denken können, was sich nicht denken lässt)“; näher zu Werk und Wirkung Wittgensteins: Wilhelm Vossenkuhl, Ludwig Wittgenstein, 1995. 75 Übereinstimmende Diagnose etwa im „Vorwort“ von Erich Heintel zu dessen eingehender und problembewußt-informativer „Einführung in die Sprachphilosophie“, 1975. 76 Im deutschen Sprachraum ist diesbezüglich zunächst vor allem Martin Heidegger nach seiner vieldiskutierten „Kehre“ von der Existenzialphilosophie zur philosophisch reflektierten Dichtung wirkungsmächtig geworden (vgl. dazu dens., Unterwegs zur Sprache, 1959), worauf auch Heintel (a. a. O., S. 23 ff.) zutreffend hinweist. 77 Siehe zu dieser Unterscheidung treffend Heintel, a. a. O., bes. S. 11 ff. und S. 56 ff. – Häufig wird diese Differenz auch durch die Attribute „analytisch“ und „nichtanalytisch“ bezeichnet; aber in dieser Bezeichnung tritt aufgrund der Form einer bloßen negierenden Entgegensetzung der eigenständige Gehalt der sog. nichtanalytischen Konzeptionen nicht zutage. 78 Bekanntlich wird gerade Wittgenstein als (Mit-)Begründer der analytischen Sprachphilosophie beurteilt; vgl. für diese statt vieler anderer beispielsweise die Untersuchung von Alfred Jules Ayer: Sprache, Wahrheit und Logik, hg. von Herbert Herring (Reclam UniversalBibliothek), 1970. – Unabhängig von der gerade erwähnten Bedeutung Wittgensteins für die analytische Sprachphilosophie ist im Übrigen darauf hinzuweisen, dass Wittgenstein im Fortgang seines Denkens seine Annäherungen an und seine Sicht auf die Sprache im Vergleich zu den Dimensionen des „Tractatus“ erheblich modifiziert und erweitert hat; vgl. zu diesen Veränderungen im Werk Wittgensteins etwa Heintel, a. a. O. Fn. 75, S. 17 / 18, der außerdem darauf hinweist, dass sich schon im „Tractatus“ über die bloß analytische Auffassung hinausweisende Ansätze finden (S. 65); eindringlich zu den Grenzen einer solchen Interpretation Walter Schulz, Wittgenstein. Die Negation der Philosophie, 1967, der die in Wittgensteins Philosophie liegende „Destruktion des denkend-reflektierenden Subjekts“ nachzeichnet (S. 29 ff. sowie im Hinblick auf den „geistesgeschichtlichen Ort der Sprachanalyse Wittgensteins“ S. 90 ff.).
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„Werkzeug“ für den jeweiligen Zweck ihrer Verwendung darstellt, ist nicht erkennbar, wie diese reduzierte Sicht79 auf das „Wunder der Sprache“ (Humboldt) jenen Zusammenhang von Sprache und Denken einerseits sowie mit der muttersprachlich mitkonstituierten Identität einer Person oder auch eines Volkes andererseits begreifen will, um den es schon Thomasius gegangen war.80 Diese Zusammenhänge erschließen sich vielmehr erst dann, wenn man die Sprache nicht nur als bloße Gegebenheit ansieht und dadurch verobjektiviert, sondern sie vielmehr – dem Ansatz der Transzendentalphilosophie entsprechend – darauf hin reflektiert, ob und inwieweit sie selbst ein grundlegendes Element jener „Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis“ überhaupt darstellt, die zuerst Kant durch die Begründungen seiner kritischen Philosophie rekonstruiert hat.81 Allein auf einem solchen Denkweg gelangt man nämlich in der Tat zu der bereits von Hegel festgehaltenen Einsicht, dass Sprache primär-substantiell nicht etwa ein „Erkenntnisinstrument“ sein kann, mit dem wir eine vorsprachlich wahrgenommene Welt in einem zweiten Schritt bezeichnen (Bezeichnungsfunktion), sondern vielmehr das Medium ist, in dem sich menschliche Vernunfterkenntnis allererst bildet.82 Nicht also stehen sich Mensch und Welt als je für sich zunächst selbständige Größen gegenüber, zwischen denen dann durch die Mittel der Sprache eine Beziehung hergestellt werden kann, sondern vielmehr gestaltet sich das Bewusstsein in 79 So auch Heintel, a. a. O. Fn. 75, S. 12, der – nach der ausdrücklichen Klarstellung der Bedeutung auch der sprachanalytischen Bemühungen – unter anderem treffend zu bedenken gibt, es sei sehr fragwürdig, ob durch diese Bemühungen „die Bedeutung der Sprache in fundamentalphilosophischer Hinsicht und in Bezug auf das von der philosophischen Tradition her ebenso ermöglichte wie unübergehbare Problembewusstsein der Gegenwart ausreichend begriffen ist.“ 80 Schon Humboldt hatte diese Sicht als verfehlten „Naturalismus“ kritisiert; vgl. dazu Heintel, a. a. O. Fn. 75, S. 69 ff.; ferner S. 12 mit dem Hinweis, alle analytische Sprachphilosophie habe „einen Zug von Misstrauen gegen die „natürliche“ Sprache“. 81 Vgl. dazu Kant, KrV (B), Einleitung, AA III, S. 43: „Ich nenne alle Erkenntnis transcendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnißart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt.“ – Weiterführend zur Anwendung dieser Methode der bestimmenden Erkenntniskritik auf die Sprache Erich Heintel, a. a. O. Fn. 75, bes. S. 56 ff. 82 Siehe dazu nochmals Hegel, Phänomenologie des Geistes, a. a. O. Fn. 70, wo – mit deutlicher Kritik der Vorstellung einer bloßen Werkzeug- und Bezeichnungsfunktion der Sprache – „sinnliche Gewissheit“ und „Sprache“ einander gegenüber gestellt werden und die Sprache als das „Wahrhaftere“ bezeichnet wird; dem entspricht a. a. O. Hegels Bestimmung des Verhältnisses von „unmittelbar Gegebenem“, das zwar „bekannt“, aber darum noch nicht „erkannt“ sei, und dem erkennenden Subjekt, „das die Vermittlung nicht außer sich hat, sondern selbst ist“; vgl. dazu grundlegend und weiterführend auch Bruno Liebrucks, der – unter Bezugnahme auf Hegel und Humboldt – die traditionelle Subjekt-Objekt Relation im Hinblick auf die sprachliche Verfasstheit des „Bewußt-Seins“ (a. a. O. Fn. 67, S. 109 f.: „Die Sprache ist das bildende Organ der Gedanken“) dadurch erweitert, dass er herausarbeitet, wie sich in jeder Aussage deren Bezug auf den Sprechenden (Ich), auf den Angesprochenen (Du) und auf die Sache, über die gesprochen wird (Objekt), mitteilt (vgl. zu dieser „Dreistrahligkeit der semantischen Relation“ a. a. O. Fn. 67, S. 186, S. 218 und öfter); vgl. unter Hinweis auf Humboldt auch Heintel, a. a. O. Fn. 75, S. 70.
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der Sprache überhaupt erst zur Welt,83 d. h. die Dinge sind ohne Sprache ebenso wenig als Dinge für den Menschen da wie die Welt eine Welt ist.84 3. Dass dies menschliche Identität überhaupt mit ausmacht, hatte schon Aristoteles klar erkannt, wenn er an einer grundlegenden Stelle seiner „Politik“ – im Zusammenhang mit seiner Vorstellung vom Menschen als einem primär auf die (staatliche) Gemeinschaft bezogenen Wesen (zoô: n politicón) – herausstellt, dass es gerade die Sprache ist, die den Menschen von anderen Lebewesen, die nur Stimme besitzen, unterscheidet. Es sei, so führt er im Zusammenhang seiner Überlegungen zu „Ursprung und Werden des Staates“ aus, der Mensch „aber das einzige Lebewesen, das Sprache (lógos) besitzt“, die dazu bestimmt sei, „das Nützliche und Schädliche deutlich kundzutun und also auch das Gerechte (díkaion) und Ungerechte (ádikon)“. Und weiter: „Denn das ist eben dem Menschen eigentümlich im Gegensatz zu den Tieren, dass er allein fähig ist, sich vom Guten (agathón) und Schlechten (kakón), von Recht und Unrecht Vorstellungen zu machen.“85 Bereits 83 Aus dieser Einsicht in die sprachliche Verfasstheit des Selbstbewusstsein hat insbesondere Jürgen Habermas mit großer Wirkungsmacht (vgl. dazu statt anderer Walter Schulz, Grundprobleme der Ethik, 1989, S. 239 ff.) die wohl am weitesten gehenden Schlussfolgerungen für das philosophische Denken gezogen, indem er zunächst den Wahrheitsbegriff (vgl. dazu dens., Wahrheitstheorien, in: Wirklichkeit und Reflexion. Festschrift für Walter Schulz, 1973, S. 211 ff.) und sodann die Moralität im Rahmen seiner Theorie des kommunikativen Handelns (vgl. ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, 1983) durch die Vorstellung der Idee des herrschaftsfreien Diskurses und dem daraus entwickelten Konsensprinzip neu zu begründen suchte, und diese Vorstellung schließlich zum Recht nach dem Modell einer (freilich neu, differenzierend ansetzenden) Diskurstheorie erweitert hat (vgl. ders., Faktizität und Geltung. Die Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates, 1992); darauf, dass die Idee des herrschaftsfreien Konsenses schon bei Thomasius vorweggenommen ist, hat Hans-Jürgen Engfer, a. a. O. Fn. 12, S. 32 hingewiesen. – Besonders in der Strafrechtswissenschaft hat diese Konzeption nicht wenige Anhänger gefunden, so etwa Klaus Lüderssen, der die Konsensorientierung für das Problem der Rechtsgeltung (vgl. dens., Genesis und Geltung in der Jurisprudenz, 1996, S. 20 ff.), vor allem aber im Hinblick auf die Absprachenpraxis im Strafprozess fruchtbar zu machen sucht (vgl. dazu zunächst dens., Die Verständigung im Strafprozeß. Überlebensstrategie oder Paradigmenwechsel?, StV (Absprachen im Strafverfahren, Sonderheft zum 58. Deutschen Juristentag) 1990, S. 42 ff.; ferner ders., Verständigung im Strafverfahren. Das Modell und seine Implikationen, in: Hamm-FS (2008), S. 419 ff., bes. S. 424 ff.; sowie zuletzt ders., „Regulierte Selbstregulierung“ in der Strafjustiz? Ein unorthodoxer Beitrag zur Frage der Legitimation der „Absprachen“, in: Fezer-FS (2008), S. 531 ff., wo das Konsensprinzip mit der neueren Governance-Forschung in Zusammenhang gebracht wird); ähnlich Matthias Jahn, Zurück in die Zukunft? Die Diskurstheorie des Rechts als Paradigma des neuen konsensualen Strafverfahrens, GA 2004, S. 272 ff.); durchgreifende Kritik dazu bei Stephan Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht. Über Freiheit und Wahrheit in der Straftheorie und Strafprozeßrechtslehre, 2008, S 552 ff., bes. S. 565 ff. und S. 575 ff., der nachweist, dass bereits die Voraussetzungen einer solchen Diskursorientierung, namentlich die behaupteten „Gewißheitsverluste“ im (Straf-)Recht, den strafrechtswissenschaftlichen Forschungsstand verfehlen, und dass darüber hinaus die Bezugnahme auf die Philosophie von Habermas dessen Texten und Intentionen widerspricht; vgl. zur Kritik auch Armin Engländer, Diskurs als Rechtsquelle, 2002, S. 41 ff. (zu den Grundlagen) S. 81 ff. (zur Übertragbarkeit in das Rechtsleben). 84 Vgl. dazu Heintel, a. a. O. Fn. 75, S. 13 m. w. N.
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in der aristotelischen praktischen Philosophie ist damit nicht nur die konstitutive Bedeutung von Sprache für die geistige Identität des Menschen festgehalten, sondern sie wird sogar ausdrücklich auf das Recht und damit eine Realität bezogen, die nicht „der Natur“, sondern der „Welt des Geistes“ angehört,86 folglich nicht vorgefunden, sondern hervorgebracht wird.87 Nun geschieht diese Hervorbringung aber bekanntlich nicht etwa im „luftleeren Raum“, sondern immer schon mit Bezug auf das soziale Leben eines Volkes, dessen historisch sich entwickelnde und wandelnde Lebensformen, und dabei ihrerseits sprachlich vermittelt in dessen je spezifischer, kulturbildender Sprache.88 Es ist nämlich zwar, wie Wilhelm von Humboldt aufgewiesen hat, allen Menschen eine „innere Sprachform“ als das allgemeine Vermögen der Auseinandersetzung von Mensch und Welt eigen, innerhalb dessen sich die Weltansichten der einzelnen Sprachen ausbilden, so dass in jeder Artikulation einer besonderen Sprache eine Einheit von Sprache überhaupt und der gesprochenen Einzelsprache zum Ausdruck kommt; zugleich aber zieht jede Einzelsprache, wie Humboldt dies sehr anschaulich formuliert hat, „um die Nation, welcher sie angehört, einen Kreis, aus dem es nur insofern hinauszugehen möglich ist, als man zugleich in den Kreis einer anderen Sprache hinübertritt.“ Die Verschiedenheit der Sprachen ist so „eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst“.89 Und es stellt deshalb eine Beschränkung, ja Verarmung dar, wenn eine Geistes- und Sozialwissenschaft wie die Jurisprudenz allein (oder auch nur ganz überwiegend) in einer einzigen Sprache betrieben wird. Damit ist aber auch gezeigt, und hier schließt sich der Kreis im Hinblick auf Christian Thomasius, wie recht dieser mit seinem Eintreten für eine Abkehr vom Lateinischen als ausschließlicher Wissenschaftssprache und die Hinwendung zur 85 So Aristoteles, Politik, I 2 (1253a), zitiert nach der Übersetzung von Franz Susemihl, hg. von Ursula Wolf (Rowohlts Enzyklopädie), 1994, S. 47; vgl. zu der dabei berührten Unterscheidung von „Sprache“ und „Stimme“ (die nach Aristoteles, a. a. O. „nur das Angenehme und Unangenehme anzeigt“) vertiefend Heintel, a. a. O. Fn. 75, S. 185 ff., der Aristoteles’ Aussage unter Heranziehung der zeitgenössischen Tierverhaltensforschung verifiziert. – Dass allerdings beim Menschen aufgrund von dessen essentieller sprachlicher Verfasstheit die Stimmbildung und Stimme niemals bloß sinnliches Phänomen, sondern immer auch Sinnbildung ist, ist zutreffend von Bruno Liebrucks herausgearbeitet worden, vgl. dens., a. a. O. Fn. 67, S. 72 i. V. m. S. 198: Weil „die Sinnlichkeit des Menschen selbst sprachlich“ ist, sei „Stimmbildung beim Menschen Sinnbildung.“ 86 Vgl. zu dieser Unterscheidung Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, Einleitung, § 4. 87 Auf die besondere Bedeutung der Sprache für alle Wissenschaften, die mit der Interaktion zwischen Menschen befasst sind, weist Helmut Glück, a. a. O. Fn. 1, S. 39 hin. 88 Insofern treffend die Rede Ernst Forsthoffs von der „geistigen Energie“ der Sprache, vgl. ders., Recht und Sprache, 1940, S. 9. 89 Vgl. dazu die Nachweise bei Heintel, a. a. O. Fn. 75, S. 80; ganz ähnlich hat auch Jakob Burckhardt davon gesprochen, dass an „der Spitze aller Kultur . . . ein geistiges Wunder: die Sprache“ stehe und dass man so viele Herzen besitze wie man Sprachen spreche, vgl. ders., Über das Studium der Geschichte, hg. von Ganz, 1982, S. 277 i. V. m. S. 276 Fn. 3.
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eigenen Muttersprache als Sprache der Philosophie und Rechtswissenschaft gehabt hat. IV. Freilich hat nicht nur er uns weitere, mit der Zuwendung zur Sprache im Allgemeinen und zur eigenen Muttersprache als Wissenschaftssprache im Besonderen zusammenhängende Probleme hinterlassen, von denen sich das erste dadurch zeigt, dass auch an die vorstehend in Erinnerung gerufene, Erkenntnis überhaupt vermittelnde Bedeutung von Sprache in einem zweiten Schritt deren Zeichen- oder Bezeichnungsfunktion anknüpft,90 durch welche die vermittelnde Bedeutung in die Erfahrungswelt, als sinnlich wahrnehmbares, gesprochenes oder geschriebenes Wort konkretisierend transformiert wird. Diese Funktion ist nämlich einerseits gerade für eine „Wortwissenschaft“, wie sie die Jurisprudenz darstellt,91 von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Und dies besonders deswegen, weil auch die wissenschaftliche Behandlung des Rechts – wie jede andere Wissenschaft – zwar einerseits durch eine fachspezifische Besonderheit und Präzision der Sprache geprägt sein muss,92 zum anderen aber auch der Anforderung zu genügen hat, dass sie als Denkbewegung praktischer Vernunft auf das soziale Alltagsleben aller Rechtssubjekte und damit auch auf deren Umgangssprache zurückbeziehbar bleiben muß. Im Strafrecht etwa zeigt sich dies besonders am Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB), demzufolge die Strafbarkeitsvoraussetzungen und die Rechtsfolgen einer Tat bereits im Tatzeitpunkt mit hinreichender Bestimmtheit – und das heißt eben auch: unmissverständlicher Vorhersehbarkeit für „Nicht-Juristen“ – gesetzlich positiviert sein muss. Folglich hat alle wissenschaftliche Fachsprache im Recht so auf den Praxishorizont des Einzelnen zurückbezogen zu sein, 90 Vgl. zu dieser nochmals Hegel, Enzyklopädie, Werke in 20 Bänden, ed. Moldenhauer / Michel, Band 10, 1970, §§ 458 f., wo zur Zeichen- und Werkzeugfunktion der Sprache und deren Verhältnis zum (objektiven / absoluten Geist) ausgeführt wird, die Sprache sei nicht etwa nur ein Produkt des Verstandes, der Intelligenz, sondern immer auch des Geistes, ja sie verobjektiviere sich selbst erst in diesem; vgl. zu dem Mangel einer instrumental-werkzeughaften Auffassung von der Sprache auch schon den Beginn der „Einleitung“ zur Phänomenologie. 91 Siehe dazu Bernhard Großfeld, Sprache und Recht, JZ 1984, S. 1 (unter Hinweis auf Hermann Kantorowicz). 92 Vgl. zu diesem Anliegen vor allem der analytischen Sprachphilosophie nochmals Heintel, a. a. O. Fn. 75, S. 12, der diesbezüglich von einem „sprachkritischen Zug“ der analytischen Sprachphilosophie spricht, den ihr das Vorbild der Mathematik nahelegt und der sie dazu bringt, „ ,künstliche‘, ,formalisierte‘ Sprachen herauszuarbeiten,“ von denen her „das, was Wissenschaft heißen soll, . . . zu definieren versucht“ werde. – Um diese Dimension der Rechtssprache geht es in den Beiträgen der drei von Kent D. Lerch edierten Sammelbände „Die Sprache des Rechts“, vgl. Band 1: Recht verstehen. Verständlichkeit, Missverständlichkeit und Unverständlichkeit des Rechts, 2004; Band 2: Recht verhandeln. Argumentieren, Begründen und Entscheiden im Diskurs des Rechts, 2005; sowie Band 3: Recht vermitteln. Strukturen, Formen und Medien der Kommunikation im Recht, 2005.
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dass dieser auch im Medium seines alltagssprachlichen Denkens und Urteilens verstehen kann, welche Handlungen strafbar sind und welche nicht.93 Nicht weniger bedeutungsvoll ist die zweite, antagonistische, Konsequenz, die sich aus der Erinnerung an die Erkenntnis überhaupt vermittelnde Sprache und die Besonderheit der Einzelsprachen zu ergeben scheint: Wenn es nämlich zutreffend ist, dass eine jede Einzelsprache um die jeweilige Sprachgemeinschaft, der sie angehört, einen „Kreis“ zieht, „aus dem es nur insofern herauszugehen möglich ist, als man zugleich in den Kreis einer anderen Sprache hinübertritt“ (Humboldt), so stehen sich die unterschiedlichen staatlichen Rechtsordnungen nicht nur hinsichtlich ihrer je besonderen rechtlichen Institutionen,94 sondern auch als rechtssprachlich in je spezifischer Weise verfasste (Sprach-)Ordnungen wie zunächst gegeneinander abgegrenzte „Blöcke“ gegenüber,95 die miteinander unvereinbar scheinen.96 Hinsichtlich dieses Antagonismus’ ist nun unlängst mit Blick auf die gegenwärtige Bedeutung der deutschen Sprache als Wissenschaftssprache vermerkt worden, dass das Deutsche zwar „im 19. Jahrhundert neben dem Französischen und Englischen Karriere als eine der wissenschaftlichen Weltsprachen“ gemacht habe, seine Stellung als Wissenschaftssprache jedoch, beginnend mit dem Ende des Ersten Weltkrieges und dann besonders nach dem Zweiten Weltkrieg infolge der Inhumanität der nationalsozialistischen Herrschaft, inzwischen praktisch eingebüßt habe.97 – Dieser Befund kann hier für die Jurisprudenz indessen nicht bestätigt 93 In der im Rahmen der strafrechtlichen Vorsatzlehre im Hinblick insbesondere auf den Verwirklichungswillen bezüglich normativer Tatbestandsmerkmale geführten Diskussion ist dies das im Kern berechtigte Anliegen des Dogmas der „Parallelwertung in der Laiensphäre“; vgl. dazu nur Diethelm Klesczewski, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 2008, § 3 Rn. 184, S. 64; kritisch zu diesem „Dogma“ Michael Köhler, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 1997, S. 156 ff. 94 Aus deutscher Sicht sei diesbezüglich hier nur auf das auch rechtspolitisch vieldiskutierte Abstraktionsprinzip des deutschen Privatrechts hingewiesen. 95 Um die Bewältigung der damit namentlich für die Rechtsvergleichung einhergehenden Probleme hat sich in Deutschland insbesondere Bernhard Großfeld bemüht; vgl. zunächst dens., Sprache und Recht, JZ 1984, S. 1 ff.; ferner ders., Der Buchstabe des Gesetzes. Zur Rechtsvergleichung mit anderen Schriftkulturen, JZ 1987, S. 1 ff.; siehe auch ders., Sprache, Recht, Demokratie, NJW 1985, S. 1577 ff.; vgl. dazu auch die Beiträge in dem von Thomas Lundmark und Astrid Wallow herausgegebenen Sammelband „Law and Language – Sprache und Recht“, Münsteraner juristische Vorträge, Band 17, 2006, der freilich schon im Titel auf das Problem verweist, ob das englische „law“ – angesichts der differenzierten Diskussion um das Verhältnis von Recht und Gesetz in Deutschland – mit „Recht“ tatsächlich bedeutungsgleich übersetzt ist. 96 Nicht zufällig haben daher die Kolonialmächte in ihren Kolonien durchweg die eigene Sprache zur offiziellen Landessprache deklariert. – Darüber hinaus sind in totalitären Staaten die identitätsbildenden Sprachen von Volksgruppen dieser Staaten sogar innerstaatlich durch Verbote und andere repressive Maßnahmen unterdrückt worden; ein trauriges Beispiel dafür ist die katalanische Sprache, die während der Zeit der Franco-Dikatatur durch solche Maßnahmen weitgehend und so nachhaltig aus dem öffentlichen Leben (auch aus der Literatur des Landes) verbannt wurde, dass es auch nach dem Tod Francos (1975) noch drei Jahre dauerte, bis alle Beschränkungen wieder aufgehoben waren.
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werden, wie stellvertretend für die deutsche Strafrechtswissenschaft und deren Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert festgestellt werden kann:98 Zunächst durch die Befassung mit den grundlegenden Erkenntnissen der hegelschen Rechtsphilosophie und deren Strafrechtstheorie beflügelt, anschließend durch den sog. Schulenstreit geprägt, in dem sich die „klassische Richtung“ unter der Meinungsführerschaft Karl Bindings (bekanntlich nicht nur von 1873 – 1913 Mitglied der Leipziger Juristenfakultät, sondern zeitweise, nämlich 1892 / 93 und 1908 / 09, sogar Rektor der Universität)99 mit der „modernen Schule“ Franz von Liszts100 auseinanderzusetzen hatte, und schließlich dadurch wissenschaftlich vorangebracht, dass spätestens seit den Arbeiten Hans Welzels die Theorie des personalen Handelns und deren strafrechtssystembildende Bedeutung (wieder) in den Mittelpunkt des strafrechtswissenschaftlichen Interesses gerückt wurde, nahm die Strafrechtswissenschaft in Deutschland101 eine durchaus produktiv-fortschrittliche Entwicklung, die ihr auch international intensive Aufmerksamkeit verschafft hat102 und dazu 97 So ausdrücklich Helmut Glück, a. a. O. Fn. 1, S. 41 / 42, unter anderem unter Verweis auf die Studie von Roswitha Reinbothe, Deutsch als internationale Wissenschaftssprache und der Boykott nach dem Ersten Weltkrieg, 2006; vgl. auch a. a. O., S. 38: In manchen Fächern seien „Lehrbücher und Überblicksdarstellungen in deutscher Sprache . . . rar geworden.“ – Vgl. dazu auch die Streitschrift von Horst Hensel, Sprachverfall und kulturelle Selbstaufgabe, 1999, S. 33 ff., der unter anderem auf die methodischen Probleme hinweist, die mit einer Lingua franca der Wissenschaft einhergehen (S. 39 ff.). 98 Für die deutsche Privatrechtswissenschaft sei diesbezüglich insbesondere auf die Darstellung von Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, 2. unveränderter Nachdruck der 2. neubearbeiteten Auflage von 1967, für das Öffentliche Recht auf Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, insbesondere deren Zweiten Band: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800 – 1914, 1992, und deren Dritten Band: Weimarer Republik und Nationalsozialismus, 1999, verwiesen. – Darauf, dass infolge der „großen Tradition der deutschen Soziologie“ Deutsch auch als Wissenschaftssprache der Soziologen nicht bedeutungslos geworden sei, weist Horst Hensel, a. a. O. Fn. 97, S. 36 f. hin. 99 Vgl. zu Leben und Werk Bindings ausführlich die Arbeit von Daniela Westphalen, Karl Binding (1841 – 1920), 1989. 100 Siehe zur wissenschafts- und strafrechtsgeschichtlichen Einordnung Franz von Liszts besonders das „Vorwort“ von Michael Köhler zu der Ausgabe des Berliner Wissenschaftsverlages von Franz von Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht (1882 / 83), Juristische Zeitgeschichte, Band 6, 2002; näher zum sog. Schulenstreit Monika Frommel, Präventionsmodelle in der deutschen Strafzweck-Diskussion, 1987. 101 Wie überhaupt „Das deutsche Strafrecht“ (so der Titel des zu Recht vielbeachteten Lehrbuchs von Welzel, zuletzt erschienen in der 11. Auflage, 1969). 102 Anzuführen sind hier etwa die Rezeptionen in Europa (besonders Griechenland und Spanien), Asien (vor allem Japan und Süd-Korea) sowie in Süd-Amerika, wie schon ein Blick in die 1974 erschienene „Festschrift für Welzel“ belegt. In dieser „Internationalisierung“ liegt nicht das geringste Verdienst Hans Welzels und der „Finalisten“. – Weder die nach Welzel eingetretene „Zersplitterung des Finalismus“ noch die Einsicht in die Grenzen der finalen Handlungslehre (insofern auch diese die grundlegende geistige Seite aus dem Begriff des personalen Handelns ausblendet, vgl. dazu Ernst A. Wolff, Der Handlungsbegriff in der Lehre vom Verbrechen, 1964) haben diesem internationalen Interesse an deutschem Strafrecht und der deutschen Strafrechtswissenschaft geschadet, deren Erkenntnisse z. B. durch die Bezugnahme
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führte, dass deutschsprachige strafrechtswissenschaftliche Publikationen in zahlreiche andere Sprachen übersetzt wurden und bis heute werden. V. Indessen mag diese glückliche Entwicklung damit zusammenhängen, dass das Recht (und damit auch die Jurisprudenz), wie bereits Kant gezeigt hat, seiner Begründung nach eine universale Erweiterung fordert, und zwar nicht so sehr deswegen, weil es infolge eines faktischen Zusammenrückens der Völkergemeinschaft „so weit gekommen ist, dass die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird“,103 sondern als Postulat der rechtlich praktischen Vernunft. Kant hat dafür zwei sehr verschiedene Begründungslinien vorgetragen. So ist er einerseits von der Annahme einer „Naturabsicht“ ausgegangen, an der „einzelne Menschen und selbst ganze Völker . . . ihnen selbst unbekannt . . . als an einem Leitfaden fortgehen“, und ist von diesem Ausgangspunkt, den er mit dem Gedanken der Vervollkommnung der Naturanlagen des Menschen, soweit diese „auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind“, zu der zu diesem Zweck bestehenden Notwendigkeit „eines gesetzmäßigen äußeren Staatenverhältnisses“ gekommen, ohne welches das Problem einer vollkommenen bürgerlichen Verfassung nicht gelöst werden könne.104 Und dieses Verhältnis hat er sodann zunächst durch das Eintreten in einen Völkerbund bestimmt, „wo jeder, auch der kleinste Staat seine Sicherheit nicht von eigener Macht, oder eigener rechtlicher Beurtheilung, sondern allein von diesem großen Völkerbunde . . . , von einer vereinigten Macht und von der Entscheidung nach Gesetzen des vereinigten Willens erwarten könnte“, was schließlich zu der weiteren Perspektive einer Entwicklung führt, in der sich die Staaten notgedrungen „zu einem künftigen großen Staatskörper anschicken, wovon die Vorwelt kein Beispiel aufzuzeigen hat.“105 Erst mit einem solchen „Staatskörper“, wie er die damit angesprochene Idee einer Weltrepublik bezeichnet, sei auch ein „allgemeiner weltbürgerlicher Zustand“ hervorgebracht, „worin alle ursprünglichen Anlagen der Menschengattung entwickelt werden.“106 Mit der Annahme einer den Einzelnen verborgenen „Naturabsicht“, also nichts weniger als einer objektiven Teleologie der Natur, dürfte freilich der Boden der kritischen, transzendentalphilosophischen Begründung verlassen sein. Deswegen scheint es aussichtsreicher, auf die zweite Begründung zurückzugehen, die Kant auf die soziologische Systemtheorie Niklas Luhmanns sowie durch produktiv-neue Auseinandersetzungen insbesondere mit der praktischen Philosophie Kants, Fichtes und Hegels erweitert und vertieft worden sind. 103 So die Formulierung von Kant, Zum ewigen Frieden, 1795, AA VIII, S. 360 oben. 104 Vgl. dazu Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 1784, AA VIII, S. 15 ff., bes. S. 17, 18 und 24. 105 So Kant, a. a. O., S. 24, 28. 106 Kant, a. a. O., S. 28.
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zunächst in seinem Traktat Zum ewigen Frieden107 entwickelt und schließlich in die Rechtslehre der Metaphysik der Sitten108 aufgenommen hat. Diese Begründung, die auf den Nachweis eines „rechtlichen Prinzips“ eines gesetzmäßigen Zustandes im Verhältnis der Staaten zueinander, geht – analog zu dem Ansatz des Zweiten Postulats der rechtlich praktischen Vernunft für das Heraustreten aus dem Naturzustand und den Eintritt in einen „bürgerlichen Verein“, in dem sich eine Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ zusammenschließt109 – zutreffend davon aus, dass die Natur uns „alle zusammen (vermöge der Kugelgestalt ihres Aufenthalts, als globus terraqueus) in bestimmte Grenzen eingeschlossen“ hat,110 d. h. dass wir in einer endlichen Welt zusammenleben (müssen),111 was eine freiheitsgesetzliche Willkürkoordination nicht nur im „inneren Staatsrecht“, sondern auch im Verhältnis der Staaten und Völker zueinander erfordert, wenn das Recht als „ewige Friedensordnung“ soll wirksam werden können. Und den dafür notwendigen rechtlichen Zustand entwickelt er über die drei Definitivartikel, denenzufolge erstens die „bürgerliche Verfassung in jedem Staat republikanisch sein“, zweitens das Völkerrecht „auf einen Föderalism freier Staaten gegründet“ und dementsprechend drittens „das Weltbürgerrecht . . . auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein“ soll,112 weil nämlich die „Verschiedenheit der Sprachen und der Religionen“ die „Absonderung vieler von einander unabhängiger Staaten“ voraussetze.113 Nun lässt sich die Rechtslehre Kants, wie sich vor allem an seiner Konstruktion des Staates in Analogie zu einem praktischen Vernunftschluß nach dem kategorischen Imperativ ablesen lässt, als der Versuch einer Bestimmung der Strukturbedingungen verstehen, unter denen praktische Vernunft überhaupt öffentlich werden kann.114 Allein aus dieser Sicht lässt sich ja auch begründen, warum die Befugnis zum Rechtszwang nicht allein freiheitskompatibel, sondern geradezu freiheitsnotwendig ist.115 Kant, Zum ewigen Frieden, S. 341 ff. Vgl. dazu Kant, MdS, Rechtslehre, Des öffentlichen Rechts Zweiter Abschnitt: Das Völkerrecht, 1797, §§ 53 – 61, Des Öffentlichen Rechts Dritter Abschnitt: Das Weltbürgerrecht, § 62 und „Beschluß“. 109 Vgl. dazu Kant, a. a. O., PrivatR, bes. § 2 (Rechtliches Postulat der praktischen Vernunft), i. V. m. dem StaatsR, bes. §§ 43 und 45. 110 Kant, MdS, Rechtslehre, WeltbürgerR, § 62. 111 Vgl. Kant, Zum ewigen Frieden, S. 358, wo er im Rahmen der Explikation des Weltbürgerrechts als Besuchsrecht darauf verweist, dass es „allen Menschen zusteht, sich zur Gesellschaft anzubieten vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde, auf der als Kugelfläche“ wir uns „nicht ins Unendliche zerstreuen können, sondern doch neben einander dulden müssen“ (kursiv nicht im Original). 112 Vgl. dazu Kant, a. a. O., S. 349 ff., 354 ff. und 357 ff. 113 So Kant, a. a. O., Erster Zusatz zum Dritten Definitivartikel, S. 367 (kursiv nicht im Original). 114 Vgl. dazu Kant, MdS, Rechtslehre, StaatsR, § 45 („gleich den drei Sätzen in einem praktischen Vernunftschluß“). 107 108
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Blickt man von hier aus auf den Völkerbund, zeigt sich ein letztes wichtiges Problem: Es fehlt in diesem Rechtsverhältnis an der den Staat ausmachenden Vernunftstruktur einer in Legislative, Exekutive und Judikative gegliederten republikanischen Einheit und damit auch an einer Grundlage für eine der zwangsweisen Rechtsdurchsetzung im innerstaatlichen Verhältnis entsprechende durchgängig legitime Zwangsbefugnis.116 Diese Grenzen der Souveränität jeden Staates sind als durch rechtlich praktische Vernunft gezogene Grenzen zu respektieren. Immerhin erfordert es ja auch in einem so bestimmten internationalen Rechtsverhältnis der etablierte Völkerbund nach Art eines „permanenten Staatencongresses“,117 wie ihn die Vereinten Nationen heute darstellen, zum Zweck der Aufstellung verbindlicher gemeinsamer Regeln des Völkerrechts118 – ganz im Humboldt’schen Sinn – aus dem „beschränkten Kreis“ der jeweils eigenen, muttersprachlich verfassten Rechtsordnung heraus- und in den „Kreis“ auch anderer Sprach- und Rechtsordnungen hinüber zu treten und sich dadurch notwendig auch mit anderen Weltsichten vertraut zu machen. Und die damit verbundene Öffnung der jeweils nationalen „Sprach- und Rechtskreise“ intensiviert sich dann, wenn Staaten (wie dies im Rahmen der Europäischen Union geschieht) sich noch weitergehend füreinander öffnen und Ihren Bürgerinnen und Bürgern nicht allein ein „Besuchsrecht“ einräumen, „welches allen Menschen zusteht, sich zur Gesellschaft anzubieten vermöge des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde“,119 sondern ein echtes „Gastrecht“, worauf jeder „Anspruch machen kann“.120 Gerade die Universität, dies sei im Ausblick gerade von dem besonderen Anlass der vorliegenden Festschrift hier vermerkt, befindet sich deshalb auch auf dem richtigen Weg, wenn sie heute ihren Studierenden – unabhängig von der beruflichen Verwertbarkeit der so erworbenen Erfahrungen als Qualifikationen – die Siehe dazu MdS, Einleitung in die Rechtslehre, § D. Vgl. dazu im Hinblick auf das Problem der sog. humanitären Interventionen grundlegend Diethelm Klesczewski, Die humanitäre Intervention – das letzte Veto der moralisch praktischen Vernunft?, in: Diethelm Klesczewski / Steffi Müller / Frank Neuhaus (Hrsg.), Kants Lehre vom richtigen Recht, Fundamenta Iuris, Band 2, 2005, S. 143 ff. – Zu dem zweiten sich aus der obigen Feststellung ergebenden Problem der „Internationalisierung des Strafrechts“ eindringlich deren Grund und Grenzen klärend Kathrin Gierhake, Die Begründung des Völkerstrafrechts auf der Grundlage der kantischen Rechtslehre, 2005. 117 So die Formulierung von Kant, MdS, Rechtslehre, VölkerR, § 61. 118 Vgl. dazu insbes. die eindringliche Untersuchung von Stefan Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, 1992. 119 In diesem Sinn – nämlich im Hinblick auf den Völkerbund als „negatives Surrogat“ der an sich positiven, durch die Idee des Völkerrechts indessen ausgeschlossenen „Idee einer Weltrepublik“ – hat Kant bekanntlich seine Konzeption des von ihm so genannten „Weltbürgerrechts“ bestimmt; vgl. dazu dens., Zum ewigen Frieden, Zweiter Definitivartikel, am Ende (S. 357) i. V. m. dem Dritten Definitivartikel (S. 357 / 358). 120 Diese Bestimmung Kants, a. a. O., Dritter Definitivartikel (S. 358), dürfte dem Recht der allgemeinen Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit in der Europäischen Union entsprechen. 115 116
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Möglichkeit im Rahmen deren Studiums eröffnet, jenes Hinübertreten in den Kreis auch einer anderen Sprachordnung zu erfahren und sich, etwa im Rahmen eines Jurastudiums,121 einmal mit einer anderen rechtlichen Weltsicht vertraut zu machen.122 Nicht zuletzt eine solche Öffnung für fremde Sprach- und Rechtskulturen und die dadurch gelebte Interkulturalität 123 sind jedenfalls gewiss im Geiste des Projekts der Aufklärung, das zwar in Deutschland durch Christian Thomasius begründet wurde, jedoch von Anfang an eine europäische Denkbewegung gewesen ist:124 Ein „großes Gut, welches das menschliche Geschlecht sogar von der selbstsüchtigen Vergrößerungsabsicht seiner Beherrscher ziehen muß, wenn sie nur ihren eigenen Vortheil verstehen.“125
121 Es ist deshalb – im Unterschied zum sog. Bolognaprozess, dessen Umsetzung jedenfalls in Deutschland, wie mittlerweile vielmals schon vermerkt wurde, eine kaum übersehbare Tendenz zu einem inakzeptabelen Verlust von Geist aufweist (vgl. dazu nochmals Dieter Henrich, Kreativität des Denkens in der Universität, a. a. O. Fn. 4, S. 55: „Die größte Hoffnung, die sich noch mit dem ,Bolognaprozess‘ verbinden lässt, geht inzwischen darauf, dass gerade er alle Aussicht darauf hat, ein . . . kreativitätsförderndes und -forderndes Chaos zu bewirken“, aus dem ein neues Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein der Universitäten erwachsen könne) – ein echter Fortschritt gewesen, dass durch die deutsche Juristenausbildungsreform 2003 aufgrund des „Gesetzes zur Reform der Juristenausbildung“ vom 11. Juli 2002 (BGBl. I, S. 2592) auch das Studium einer Fachfremdsprache zum obligatorischen Teil der deutschen Juristenausbildung geworden ist (vgl. § 5a Abs. 2 DRiG). 122 Wie fruchtbar eine solche Befassung mit einer anderen Rechtskultur sein kann, hat der Verf. im Rahmen der bestehenden Partnerschaft zwischen den Universitäten Ljubljana und Leipzig in mittlerweile zahlreichen deutsch-slowenischen Seminaren zu dem Generalthema „Die staatliche Rechtsordnung vor den Herausforderungen durch Technisierung und Internationalisierung“ erfahren dürfen, für die vor allem unseren slowenischen Kooperationspartnern, an erster Stelle dem Kollegen Janez Kranjc und allen studentischen Teilnehmerinnen und Teilnehmern seiner Veranstaltungen zur „Deutschen Rechtsterminologie“, herzlich zu danken ist. 123 Die Interkulturalität ist gerade in jüngster Zeit auch als ein philosophisches Problem erkannt worden, vgl. dazu zuletzt Niels Weidtmann, Kritik der interkulturellen Vernunft und Perspektiven des Fremden, PhilRdSch 2008, S. 262 ff. sowie Gregor Paul, Einführung in die interkulturelle Philosophie, 2008, bes. S. 74 ff. (zur interkulturellen Ethik) und S. 102 ff. (zum Problem universaler Menschenrechte vor dem Hintergrund besonderer nationaler oder regionaler Lebensformen). 124 Vgl. dazu nochmals Werner Schneiders, a. a. O. Fn. 3, S. 16 mit seinem Hinweis auf die englische und französische Aufklärung; siehe auch schon Verf., Zur Verhältnisbestimmung von Ethik und Recht im Anschluß an die Denkbewegung von Hobbes über Rousseau zu Kant, in: Klaus Hammacher / Irmela Reimers-Tovote / Manfred Walther (Hrsg.), Zur Aktualität der Ethik Spinozas, 2000, S. 243 ff. 125 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 28.
Das Steuerrecht an der Universität Leipzig Von Otto Mayer über Exkurse zu Friedrich Geyler Von Holger Stadie I. Dieser Beitrag befasst sich ausschließlich mit dem Steuerrecht. Der Begriff „Steuer“ findet sich zwar auch in der „betriebswirtschaftlichen Steuerlehre“ der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, es handelt sich beim Steuerrecht und bei der Steuerlehre indes um zwei völlig verschiedene Disziplinen1, die trotz der begrifflichen Nähe ganz unterschiedlichen Fragen nachgehen.2 1 Was indes die Universitätsbibliothek gleichwohl nicht davon abbringen konnte, steuerrechtliche Literatur großzügig dort anzusiedeln, wo sie nicht hingehörte, hingegen selbst elementare steuerrechtliche Werke der Zweigstelle „Rechtswissenschaft“ und dem Lehrstuhl für Steuerrecht vorzuenthalten! 2 Das Steuerrecht als wissenschaftliche Disziplin befasst sich mit dem geltenden Steuerrecht auf verfassungsrechtlicher, europarechtlicher und einfachrechtlicher Ebene und versucht, aus den vorgegebenen Normen mittels deren Auslegung das objektiv richtige (i. S. von maßgebendem) Recht zu gewinnen. Die betriebswirtschaftliche Steuerlehre hingegen interessiert sich nicht für die Auslegung der Rechtsnormen, d. h. die Erforschung ihres objektiven Inhalts, sondern fragt nach der jeweils herrschenden („geltenden“) Auffassung. Als Handlungs- und Beratungslehre hat sie vorrangig die steuerliche Belastung der Unternehmen im Auge. Da diese letztlich davon abhängt, wie die Finanzverwaltung (Steuerverwaltung) in Gestalt der Finanzämter die Steuergesetze auslegt und anwendet, betrachtet die betriebswirtschaftliche Steuerlehre in erster Linie die Anweisungen (sog. Richtlinien und BMF-Schreiben) des Bundesfinanzministeriums an die Finanzämter, mit denen diesen vorgegeben wird, wie sie die Gesetze anzuwenden haben. Die betriebswirtschaftliche Steuerlehre übernimmt mithin für ihre Handlungs- und Beratungslehre unkritisch die Verwaltungsanweisungen und die diese beeinflussenden BFH-Entscheidungen. Die Steuerrechtswissenschaft hinterfragt demgegenüber auf der Suche nach der objektiv richtigen Auslegung der Gesetze die Verwaltungsauffassungen und die Entscheidungen der Gerichte und gibt vor allem diesen Empfehlungen zur Rechtsfindung. Damit wird deutlich, dass das Steuerrecht und die betriebswirtschaftliche Steuerlehre in ihrem jeweiligen Wesen keine Berührungspunkte haben. Die betriebswirtschaftliche Steuerlehre kann mit der Steuerrechtswissenschaft nichts anfangen. Wenn diese sagt, dass eine bestimmte Verwaltungs- oder Rechtsprechungsauffassung falsch ist, so kann (darf!) das die betriebswirtschaftliche Steuerlehre nicht interessieren (genauer: solange nicht, wie sich die Verwaltungs- bzw. Rechtsprechungsauffassung nicht geändert hat. Aber auch dann tritt der „Meinungswandel“ bei der betriebswirtschaftlichen Steuerlehre nicht auf Grund der Äußerungen der Steuerrechtswissenschaft, sondern auf Grund der geänderten Verwaltungs- bzw. Rechtsprechungsauffassung ein).
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Am Anfang der Betrachtung steht Otto Mayer (1846 – 1924).3 Dieser hat nicht nur das deutsche Verwaltungsrecht geprägt, sondern zugleich auch die Dogmatik des deutschen (allgemeinen) Steuerrechts als bedeutsamer Teil des besonderen Verwaltungsrechts4 wesentlich beeinflusst. Otto Mayer hatte von 1903 bis 1918 an der Alma Mater Lipsiensis gewirkt. Zuvor war Otto Mayer von 1882 bis 1903 außerordentlicher Professor für Französisches Zivilrecht und Deutsches Verwaltungsrecht an der Universität Straßburg, nachdem er sich dort 1881 in deutschem und französischem Zivilrecht habilitiert hatte (Titel der Habilitationsschrift5: De concurrence déloyale6). Nachdem 1902 an der Juristenfakultät der Leipziger Universität erstmalig ein Lehrstuhl für Öffentliches Recht errichtet worden war, nahm Otto Mayer im November einen Ruf auf diesen an. Schon bald (1905 / 06) hatte er und später erneut (1912 / 13) das Amt des Dekans der Juristenfakultät inne, um dann anschließend mit 67 Jahren (!) zum Rektor (1913 / 14) gewählt zu werden. Erst zum 1. 10. 1918, d. h. im 73. Lebensjahr, wurde er emeritiert. Otto Mayer wurde nicht erst nach seinem Tode (1924) als „Meister der deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft“7 geehrt, sondern bereits zu Lebzeiten hieß es zu seinem Hauptwerk („Deutsches Verwaltungsrecht“8), dass dessen hervorragende wissenschaftliche Bedeutung „allgemein und widerspruchslos anerkannt (ist). Es gibt nur wenige Werke, welche auf einen Zweig der Rechtswissenschaft einen so großen Einfluss ausgeübt haben wie dieses. Zum ersten Male trat das Verwaltungsrecht als ein in sich geschlossenes System mit fest ausgeprägten Rechts3 Autobiographie in Planitz (Hrsg.), Die Rechtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Leipzig 1924, 153 ff. 4 Dazu nur Jörn Ipsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 2005, Rz. 67: „Die bedeutsamste Materie des Besonderen Verwaltungsrechts ist das Steuerrecht, das sich aber frühzeitig vom übrigen Verwaltungsrecht entfernt und soweit verselbständigt hat, dass die Zugehörigkeit zum Verwaltungsrecht häufig nicht mehr bewusst ist. Mit dieser Entwicklung einher ging eine bedenkliche Vernachlässigung des Steuerrechts an den Universitäten und als Folge hiervon ein Kompetenzverlust der Rechtswissenschaft.“ 5 Diese Habilitationsschrift umfaßte übrigens nur 74 Druckseiten. Angesichts der seit längerem bei den Juristen, aber vermutlich nicht nur dort, zu beobachtenden Tendenz, Habilitationsschriften von weit mehr als 500 Seiten, ja zuweilen sogar schon Monsterschriften von über 1000 Seiten vorzulegen, müssen sich die Fakultäten fragen, ob Wissenschaftlichkeit sich wirklich vorrangig nach der Zahl der Seiten bemisst. Es muss an Goethes Worte erinnert werden: „Getretner Quark wird breit, nicht stark!“ (West-Östlicher Divan, Buch der Sprüche). Gute Wissenschaftler sind, wie Otto Mayer zeigt, offensichtlich in der Lage, Wesentliches auf wenigen Seiten zu entwickeln. Die Länge von Aufsätzen, Dissertationen und Habilitationsschriften steht regelmäßig im reziproken Verhältnis zu ihrem Gehalt. 6 Abgedruckt in der Zeitschrift für das Gesamte Handelsrecht 26 (1881), S. 363 – 437. 7 Triepel, DJZ 1925, Sp. 125. 8 Nicht zu verwechseln mit „Lehrbuch des Deutschen Verwaltungsrechts“ von Georg Meyer (1841 – 1900), 1. Aufl. 1883, 2. Aufl. 1893; 3. Aufl. 1910 (bearbeitet von Franz Dochow).
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instituten hervor.“9 Schon in der ersten Auflage dieses Lehrbuches von 1896 finden sich Kapitel zum Steuerrecht, die bis zur dritten Auflage von 1924 fortgeführt wurden. Damals wurde das Steuerrecht noch selbstverständlich als Teil des Verwaltungsrechts verstanden und deshalb auch von Otto Mayer in seinem Lehrbuch mit behandelt.10 Schaut man in die Vorlesungsverzeichnisse der Jahre von 1903 bis 1918, so muss der Steuerrechtler allerdings enttäuscht feststellen, dass Otto Mayer zwar alles mögliche gelesen hatte, nämlich Allgemeines und Sächsisches Staatsrecht, Deutsches und Sächsisches Verwaltungsrecht, Völkerrecht, Kirchenrecht, Eherecht, Handelsrecht, Seerecht (!) u. a., jedoch bis zum Schluss keine gesonderte Vorlesung zum „Steuerrecht“ bzw. „Finanzrecht“11 angeboten hatte.12 Indes ist anzunehmen, dass Otto Mayer in seinen Vorlesungen zum Verwaltungsrecht entsprechend seinem Lehrbuch das Steuerrecht („Finanzrecht“) mit behandelt hatte. Dieses betraf jedoch nur das allgemeine Steuerrecht. So werden im 2. Abschnitt „Finanzgewalt“ angesprochen: § 27 „Die Steuerauflage“, § 28 „Fortsetzung; Rechte und Gegenrechte aus der Steuerauflage“, § 29 „Fortsetzung; die abgeschwächte Steuerpflicht“, § 30 „Der Finanzbefehl“, § 31 „Die Finanzstrafe“ und § 32 „Der Finanzzwang“. Das Verblüffende ist, dass Otto Mayer zwar in der 2. Auflage (von 1917) des 2. Bandes im zweiten Abschnitt „Das Recht der besonderen Schuldverhältnisse“13 auf fast 330 Seiten behandelt, er zu diesem jedoch nicht das Steuerrecht zählt. Besondere Schuldverhältnisse wurden aus der Sicht von Otto Mayer nur durch öffentliche Dienstpflichten, durch öffentliche und gemeine Lasten (wozu die Steuern nicht zählen sollten), durch Verleihungen, durch öffentlichrechtliche Anstaltsnutzungen und in Entschädigungsfällen begründet. Im Umkehrschluss müsste daraus folgen, dass das Steuerrecht als ein allgemeines verwaltungsrechtliches Schuldverhältnis zu sehen wäre. Das passt schon für die am ehesten als allgemein zu bezeichnende Steuer, die Einkommensteuer, nicht. Laband, DJZ 1916, Sp. 315 f. Ebenso, wenn auch ziemlich kurz, Fritz Fleiner, Institutionen des deutschen Verwaltungsrechts, 1911 (insgesamt 8 Auflagen bis 1928); und Walter Jellinek, Verwaltungsrecht, 1928 (3. Aufl. 1931, § 17 „Grundzüge des Finanzrechts“, S. 382 – 400). 11 Steuerrecht ist ein Teil des Finanzrechts, welches die gesamte finanzielle Seite (soweit rechtlich fassbar) des Staates und damit auch das Haushaltsrecht mit Einnahmen- und Ausgabenseite umfasst. 12 Damit geht einher, dass sich auch kein Aufsatz von ihm zu einer steuerrechtlichen Thematik findet; siehe sein Schriftenverzeichnis im Anhang (S. 175 f.) zu seiner Autobiographie in Planitz (Hrsg.), Die Rechtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Leipzig 1924, 153 ff. Die einzige Veröffentlichung mit steuerrechtlichem Bezug außerhalb seines Lehrbuches „Deutsches Verwaltungsrecht“ ist sein Beitrag „Finanzwirtschaft und Finanzrecht“ im Handbuch der Finanzwissenschaft, Bd. I, 1926, der sich hinsichtlich des Steuerrechts indes auch nur als Aufguß der entsprechenden Passagen seines Lehrbuchs erweist. Die zwischenzeitliche Entwicklung der steuerrechtswissenschaftlichen Literatur wurde von ihm wohl weitgehend nicht mehr beachtet. 13 In der 3. Auflage von 1924 wird dieser Begriff überhaupt nicht mehr als Abschnittsüberschrift verwendet. 9
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Aus heutiger Sicht erscheint so manches, was sich bei Otto Mayer zum (allgemeinen) Steuerrecht findet, als selbstverständlich. Allerdings darf man nicht vergessen, dass er der erste war, der überhaupt Ansätze einer Dogmatik des allgemeinen Steuerrechts entwickelt hatte.14 Um diese und deren Nachwirkungen zu verstehen, muss man sich erst einmal mit den von Mayer gewählten Begriffen vertraut machen. Den staatlichen Willensakt, der die Steuerzahlungspflicht erzeugt, bezeichnet er als „Steuerauflage“, welcher „als Eingriff selbstverständlich der gesetzlichen Grundlage“ bedarf.15 Von dieser „Steuerauflage“ unterscheidet er den „Finanzbefehl“ worunter er die Auferlegung von Gehorsamspflichten zum Handeln, Unterlassen und Dulden versteht, welche die Durchführung der Steuerauflage begleiten.16 In der heutigen Sprache geht es um die Festlegung von Mitwirkungspflichten (insbesondere nach den §§ 93 ff. und §§ 149 ff. AO) durch Verwaltungsakt. Die „Steuerauflage“ ist nun allerdings nach den Vorstellungen Otto Mayers nicht mit dem, was wir heute Steuerbescheid nennen, gleichzusetzen, sondern stellt den abstrakten Gesetzeswillen dar, wie er sich im Steuergesetz niederschlägt. Den „Verwaltungsakt“, welcher, das „was das Gesetz gewollt hat ( . . . ) im Einzelfalle erklärt und bindend“ ausspricht, nennt er die „Veranlagung“.17 Indes sollte dieser nur bei den direkten Steuern18 rechtsstaatlich gefordert sein19, während den indirekten Steuern20 mehr die „Erhebung unmittelbar aus dem Gesetz“ entspreche.21 Letzteres versteht man nur, wenn man bedenkt, dass noch am Beginn des 20. Jahrhunderts die typischen indirekten Steuern Warenverkehrssteuern und Stempelsteuern (z. B. Wechselstempel- und Börsensteuer) waren, bei denen die Steuerverwaltung sich an die Verbringung der Ware in den sog. freien Verkehr bzw. an die Verwendung von Stempelpapier und Stempelmarken hielt. Die Person des Steuerschuldners blieb im Verborgenen, solange es nicht zum Rechtsstreit kam.22 14 Anders als Georg Meyer (Fn. 9), der zwar in seinem Lehrbuch des Deutschen Verwaltungsrecht im „Fünften Buch. Finanzverwaltung“ in den §§ 223 – 250 die verschiedenen Steuerarten, insbesondere die Zölle und Verbrauchsteuern, beschrieb, aber zu einer Dogmatik nichts beisteuerte. 15 Deutsches Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 1914, S. 331. 16 A. a. O., S. 364 f. 17 A. a. O., S. 333. Dieser Begriff ist indes unscharf, weil er den Vorgang der Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen und der Höhe der Steuer beschreibt und nicht das Ergebnis. Gleichwohl beschwert sich Otto Mayer in der 3. Auflage seines Lehrbuchs heftig darüber, dass es der Gesetzgeber mit der RAO von 1919 „über sich gebracht“ habe, auf den Namen „Veranlagung“ zu verzichten und durch die „farblose Bezeichnung ,Steuerbescheid‘“ zu ersetzen; 3. Aufl. 1924, S. 322. 18 Diese „hängt sich an feste Besitzstände, Besitz eines Grundstücks, eines Gewerbebetriebes, eines Einkommens“, a. a. O., S. 334 f. Der Begriff „Besitzsteuern“ ist bis heute nicht ausgemerzt. 19 A. a. O., S. 333. 20 Diese „ergreifen wirtschaftliche Werte in der Bewegung, bei der Hervorbringung oder Ortsveränderung, im Verbrauch“, a. a. O., S. 333. 21 A. a. O., S. 338.
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Hervorgehoben zu werden verdienen von den unter § 28 behandelten „Rechte(n) und Gegenrechte(n) aus der Steuerauflage“ zwei Rechtsinstitute. Unter dem Stichwort „Nachveranlagung“ finden sich erste Ausführungen zu dem, was wir heute unter Bestandskraft der Steuerfestsetzung verstehen. Maßstab für die Zulässigkeit einer Nachveranlagung sollte die Billigkeit sein.23 Das war angesichts der bereits seit 1891 bzw. 1900 im preußischen bzw. sächsischen Einkommensteuergesetz vorzufindenden Normierungen24 recht „mager“. Andererseits ist die von Otto Mayer präzise herausgearbeitete Unterscheidung zwischen der Ausschlussfrist für die Vornahme der Veranlagung bzw. Nachveranlagung und die Verjährung der dadurch erzeugten Zahlungspflicht25 zu vermerken. Diese doppelte Verjährung war 1919 von der Reichsabgabenordnung26 (§ 120) durch eine einheitliche Verjährung ersetzt worden und ist erst 1977 durch die jetzige Abgabenordnung in Gestalt der Festsetzungsverjährung (§ 169 ff. AO) und der Zahlungsverjährung (§§ 228 ff. AO) wieder aufgegriffen worden. II. Während eigenständige Vorlesungen zum Steuer- bzw. Finanzrecht im deutschsprachigen Raum wohl schon vor dem ersten Weltkrieg von Franz von MyrbachRheinfeld (Professor der politischen Ökonomie!) in Innsbruck gehalten worden waren27 und in Berlin schon Privatdozent Ludwig Waldecker28 im Sommersemester 22 A. a. O., S. 338 ff. Enttäuschend ist, dass Otto Mayer auch noch in der 1923 fertiggestellten 3. Auflage seines Lehrbuchs die Passagen über die Warenverkehrssteuern aus der zweiten Auflage von 1914 fast wortwörtlich übernommen hat und lediglich um das Beispiel der Tabaksteuer ergänzt hat; 3. Aufl. 1924, S. 326 (ff.). Die 1916 (noch im Rahmen des Reichsstempelgesetzes) eingeführte Steuer auf den Warenumsatz, welche bereits 1918 in ein eigenes Umsatzsteuergesetz gekleidet worden war, hat er mit keiner Silbe erwähnt. Otto Mayer lebte ganz offensichtlich in der Welt der Steuern des 19ten Jahrhunderts, welche von Zöllen, den herkömmlichen Warenverkehrsteuern und Stempelsteuern geprägt war. Dem entspricht es, dass auch die Steuerreform von 1920 mit der Schaffung der Reichseinkommensteuer-, Körperschaftsteuer-, Vermögensteuer- und Gewerbesteuergesetze in der 3. Auflage seines Lehrbuchs unbeachtet blieb. 23 A. a. O., S. 343 f. 24 § 80 Preuß. EStG v. 1891: nur wegen neuer Tatsachen und Beweise; § 77 Sächs. EStG v. 1900: neue Umstände tatsächlicher Art. 25 A. a. O., S. 345 f. 26 Die Reichsabgabenordnung war eines der ersten reichseinheitlichen Steuergesetze, welches 1919 erging, nachdem die Zuständigkeit für die Gesetzgebung auf diesem Gebiet weitgehend von den Ländern auf das Reich übergegangen war. Sie umfaßte das allgemeine materielle Steuerrecht (Steuerschuldrecht) und das Verfahrensrecht. Sie galt (nach einer Neufassung 1931) bis 1976 und wurde erst zum 1. 1. 1977 durch die Abgabenordnung (AO) ersetzt. 27 Denn von ihm stammt der bereits 1906 (bei Duncker & Humblot in Leipzig in der Reihe „Grundriß des Österreichischen Rechts“) erschienene „Grundriß des Finanzrechts“, der als das erste eigenständige Lehrbuch des Steuerrechts anzusehen ist und wohl aus einschlägigen
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1915 eine vierstündige Vorlesung über „Finanz- und Steuerrecht“ angeboten hatte, zeigen die Vorlesungsverzeichnisse der Leipziger Juristenfakultät29 erst sehr spät eigenständige Vorlesungen mit steuerrechtlichem Bezug auf: Für das Sommersemester 1923 wurde erstmalig von Erich Bley30 eine Vorlesung „Steuerstrafrecht und Steuerstrafprozeß“ und für die Wintersemester 1923 / 24 und 1924 / 25 eine Vorlesung „Die Reichabgabenordnung“ angeboten. Vom Wintersemester 1923 / 24 an bis zum Wintersemester 1927 / 28 finden sich Vorlesungen von Willibalt Apelt31 zum „Finanz- und Steuerrecht“, „Einführung in Vorlesungen entstanden war. Bemerkenswert ist, was von Myrbach-Rheinfeld, der, obwohl Professor der politischen Ökonomie, von der Ausbildung her Jurist gewesen sein muss, im Vorwort zur Literaturübersicht ausführt: „So wie sich der vorliegende Grundriß nur mit der rechtlichen Seite (Hervorhebung im Original) der Finanzeinrichtungen befaßt, so soll auch nur jene Literatur hier erwähnt werden, welche mindestens auch einschlägige Rechtsfragen zum Gegenstande hat. Die juristische Behandlung des Stoffes ist aber bisher nicht nur in Östereich, sondern auch anderwärts, eine äußerst dürftige, so dass man wohl sagen darf, sie befinde sich erst in einem vorbereitenden Stadium. Die Lehr- und Handbücher des öffentlichen Rechts (Staats- und Verwaltungsrechts) schalten das Finanzrecht entweder vollständig aus oder sie erörtern nur einige Grundfragen mit noch wenig befriedigendem Erfolge. Die eingehendste und interessanteste Behandlung lassen diesem Zweige noch angedeihen: Otto Mayer (,Deutsches Verwaltungsrecht‘ in . . . ), dann Tezner (,Handbuch des össterr. Administrativ-Verfahrens‘ und ,Privatrechtstitel im öffentlichen Recht‘ in . . . ) und Bernatzik (,Rechtsprechung und materielle Rechtskraft‘) . . .“. 28 Aus seiner Feder ist auch der Appell „Finanz- und Steuerrecht als juristische Disziplin“, Finanzarchiv 1917, S. 155. 29 Auch an der (1898 errichteten) Leipziger Handels-Hochschule wurde wohl lange Zeit kein Steuerrecht gelesen, denn das 1907 errichtete Institut für Revisions- und Treuhandwesen hatte lediglich zum Ziel, „tüchtige und gewissenhafte Bücherrevisoren“ heranzubilden und diese auch „in der Technik der indirekten und besonders der direkten Steuern“ zu unterweisen (Mittelsteiner / Pausch / Kumpf, Illustrierte Geschichte des steuerberatenden Berufs, Augsburg 3. Aufl. 1999, 166). Nichts anderes dürfte für das dort 1920 ins Leben gerufenen „Institut für Steuerkunde“ (später umbenannt in „Steuer-Institut“) gegolten haben, welches lt. Satzung „steuersachverständige Personen auszubilden“ bezweckte und nach einer Ausbildungszeit von, je nach Vorbildung, zwei bis drei Semestern das Diplom als „Steuersachverständiger“ vergab. Auch wenn es dort Lehraufträge für „Steuerrecht“ gab, wie insbesondere für Friedrich Geyler (ab Fn. 78), so werden sie kaum rechtswissenschaftliche Dogmatik, sondern eher nur (dem Satzungszweck entsprechend) Steuerkunde gelehrt haben. Die Studierenden hatten allerdings auch das Recht, die Vorlesungen an der Universität zu besuchen (Kumpf, Das Steuerinstitut an der Handelshochschule Leipzig, StVj 1990, 288, 289). 30 Erich Bley, Landgerichtsrat, lt. Vorlesungsverzeichnis bis zum Sommersemester 1925 Privatdozent. Im Wintersemester 1925 / 26 hatte er wohl einen Ruf an die Universität Gießen erhalten. Bley wurde vornehmlich bekannt als Verfasser eines Kommentars zur Vergleichsordnung. 31 Willibalt Apelt (1877 – 1965), war 1918 Mitbegründer der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) in Sachsen, 1918 / 19 Mitarbeiter von Hugo Preuß, dem „Vater“ der Weimarer Verfassung, und, nachdem er 1923 zum ordentlichen Professor für Öffentliches Recht an die Juristenfakultät berufen worden war, von 1927 bis 1929 Sächsischer Minister des Inneren. 1929 kehrte er auf seinen Lehrstuhl zurück und wurde 1933 von den Nationalsozialisten entlassen. Von 1946 bis 1952 lehrte er an der Universität München (zu Willibalt Apelt auch der Beitrag von Christoph Enders in dieser Festschrift).
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das Steuerrecht“ bzw. „Steuerrecht“. In dieser Zeit gab es ferner anfänglich von Bley und Apelt gemeinsam, später nur von Apelt veranstaltete steuerrechtliche Seminare.32 Nach einer gemeinsamen Übung im Sommersemester 1925 bot Apelt im Sommersemester 1926 und im Wintersemester 1926 / 27 eine Übung im Steuerrecht an, welche vom Wintersemester 1928 / 29 bis zum Wintersemester 1933 / 34 in unregelmäßigen Abständen gemeinsam33 mit Liebisch im Institut für Steuerrecht34 durchgeführt wurde. Seminare zum Steuerrecht wurden danach für lange Zeit nicht mehr veranstaltet (erst wieder für kurze Zeit ab dem Wintersemester 1951 / 52 von Friedrich Geyler und dann dauerte es erneut rd. 40 Jahre bis zur Neuerrichtung der Juristenfakultät). Arnold Liebisch (1896 – 1958) hatte nach dem Studium in Leipzig und einigen Jahren im sächsischen Justizdienst 1930 einen Ruf an die Juristenfakultät als „planmäßiger außerordentlicher Professor des Steuerrechts und deutschen bürgerlichen Rechts sowie für ergänzende Vorlesungen über Zivilprozeß- und Zwangsvollstreckungsrecht“ erhalten. Daneben war er ehrenamtliches Mitglied des Finanzgerichts beim Landesfinanzamt. 1938 wurde er an die Handels-Hochschule Leipzig berufen.35 Liebisch hatte bereits im Sommersemester 1928 (ergänzend zu der Vorlesung „Steuerrecht“ von Oeschey, s. u.) gesonderte Vorlesungen zum Bilanzsteuerrecht und zum „Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht“ angeboten. Zusammen mit der Übung hatten damit im Sommersemester 1928 die steuerrechtlichen Lehrveranstaltungen einen Umfang von 8 Wochenstunden, was der damals gestiegenen Beachtung des Besonderen Steuerrechts durch die Rechtswissenschaft entsprach. Bis dato befassten sich die steuerrechtlichen Vorlesungen wohl weitgehend nur mit dem Allgemeinen Steuerrecht, was durch die bereits erwähnten führenden Lehrbücher zum Verwaltungsrecht von Otto Mayer, Fritz Fleiner und Walter Jellinek belegt wird, die sich in ihrem steuerrechtlichen Kapiteln nur mit dem allgemeinen materiellen Steuerrecht (Steuerschuldrecht) und dem Steuerverfahrensrecht beschäftigten. Damit geht einher, dass auch das besondere Verwaltungsrecht damals nur in recht bescheidenem Umfang im Schrifttum behandelt wurde und gesonderte VorBemerkenswert ist die jeweilige Zeit dieser Lehrveranstaltungen: stets 20 bis 22 Uhr. Für das Wintersemester 1933 / 34 war die Übung im Vorlesungsverzeichnis allerdings mit „N. N. und Liebisch“ angekündigt, was nur daran gelegen haben kann, dass Apelt bereits von den Nazis verjagt worden war (s. Fn. 32). 34 Anfänglich Petersstraße 36, Aufgang E II, dann Schlossgasse 24 II, dann wieder, ab Sommersemester 1928, Petersstraße 36, Aufgang A III. 35 Er vertrat dort in erster Linie das Wirtschafts-, Handels- und Steuerrecht. 1941 war er Rektor dieser Hochschule geworden, nachdem sein Vorgänger, der Betriebswirt Wilhelm Hasenack, das Amt aus politischen Gründen niedergelegt hatte. Von diesem Amt wurde Liebisch wegen seiner Affinität zum Nationalsozialismus im Mai 1945 enthoben. 1947 übersiedelte er nach Saarbrücken, um dort ab 1949 als Professor für Wirtschafts-, Finanz-, Handels-, Sozial- und Bürgerliches Recht zu wirken. 1957 folgte er einem Ruf an die Universität Würzburg. 32 33
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lesungen zu besonderen Verwaltungsrechtsgebieten an der Juristenfakultät kaum und anfänglich auch nur sporadisch angeboten wurden.36 Es lässt sich also für das Sommersemester 1928 die erstaunliche Feststellung treffen, dass das Steuerrecht anders als die übrigen Teile des besonderen Verwaltungsrechts nicht nur, wie die Jahre zuvor und danach, eine eigene Vorlesung hatte, sondern sogar noch für Teilgebiete in gesonderte Vorlesungen untergliedert war (darin spiegelte sich, wie noch aufzuzeigen ist, eine kurze Blütezeit der Steuerrechtswissenschaft von etwa 1925 bis 1933 wieder). Allerdings stießen diese Vorlesungen wohl nicht auf die erwartete Resonanz, denn spezielle Vorlesungen zum Bilanzsteuerrecht und zum Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht wurden anschließend (bis 1994) nicht wieder angeboten. Gleiches galt für die von Liebisch im Sommersemester 1930 veranstaltete Vorlesung zum Umsatzsteuerrecht. Längerer Exkurs Vermutlich hatte Liebisch diese Vorlesungen zum besonderen Steuerrecht nicht zuletzt auch deshalb angeboten, um einer Entwicklung auf dem Gebiet der Steuerrechtsberatung entgegen zu wirken. Die schon mehrfach erwähnte HandelsHochschule Leipzig hatte nämlich mit dem 1920 errichteten „Institut für Steuerkunde“ (später: „Steuer-Institut“)37 und dem von diesem verliehenen Diplom des „Steuersachverständigen“ die Herausbildung des Berufes des Steuerberaters als „Steuer-Intelligenz“ 38 forciert. Die Reichsabgabenordnung (RAO) von 1919, welche erstmalig das Verfahren in Steuersachen (neben dem allgemeinen Steuerschuldrecht) reichseinheitlich regelte, hatte mit § 88 Abs. 1 Satz 3 Halbs. 2 (= § 107 Abs. 3 Nr. 3 RAO 1931) die Zulassung von „Bevollmächtigten“ vorgesehen, die neben Rechtsanwälten und Notaren für den Bürger gegenüber den Finanzämtern und Gerichten39 tätig werden durften. Damit hatten diese Bevollmächtigten 36 So findet sich lediglich für das Wintersemester 1925 / 26 und dann erst ab dem Sommersemester 1933 regelmäßig eine Vorlesung zum (für die Juristenausbildung nicht gerade bedeutsamen) Beamtenrecht. Ab dem Wintersemester 1928 / 29 wurde in unregelmäßigen Abständen bis zum Sommersemester 1933 das Recht der öffentlichen Fürsorge gelesen. Eine Vorlesung zum Besonderen Verwaltungsrecht („Deutsches Verwaltungsrecht, Besonderer Teil“) gab es nur ein einziges Mal im Wintersemester 1934 / 35 und auch „Polizeirecht“ wurde als gesonderte Vorlesung nur einmal im Wintersemester 1936 / 37 angeboten. Ansonsten waren vermutlich die klassischen Gebiete des besonderen Verwaltungsrechts (wie insbesondere Polizeirecht und Baurecht) in die Vorlesungen „Deutsches Verwaltungsrecht“ und „Sächsisches Staats- und Verwaltungsrecht“ integriert. 37 Siehe bereits Fn. 29. 38 Großmann (damaliger Rektor der Handelshochschule) in Großmann (Hrsg.), FS zum 10-jähr. Bestehen d. Steuer-Instituts an der Handelshochschule, 1931, S. 9. 39 Das ist bis heute so. Nach § 62a Abs. 1 FGO können Steuerberater selbst vor dem Bundesfinanzhof auftreten und dort bar jeder Kenntnis des Verfahrensrechts mit unsinnigen Anträgen die Richter nerven. Ein Juraprofessor kann sich hingegen nicht einmal vor dem Landgericht in eigener Sache vertreten.
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im Bereich des Steuerrechts dieselbe Rechtsstellung wie insbesondere die Rechtsanwälte erlangt. Das Gesetz hatte in erster Linie die „beeidigten Bücherrevisoren“ im Auge (die Bezeichnung „Steuerberater“ wurde in der Praxis zwar bald verwendet, aber erst 1933 gesetzlich verankert40). Mit der Verabschiedung des § 88 RAO 1919 hatte die „Schicksalsstunde der Rechtsanwaltschaft“41 auf dem Gebiet des Steuerrechts geschlagen, denn der Gesetzgeber ging weiterhin von dem Grundsatz aus, dass Rechtsanwälte (und Notare) die berufenen Vertreter und Berater auch in Steuerrechtsangelegenheiten waren, während andere Bevollmächtigte von den Landesfinanzämtern (Vorläufer der Oberfinanzdirektionen) zugelassen werden mussten. Es lag mithin in der Hand der Rechtsanwälte, den rapide steigenden Bedarf nach steuerrechtlicher („steuerlicher“) Beratung und Vertretung auf Grund der zusammen mit der Reichsabgabenordnung im Rahmen der Erzberger’schen Steuerreform 1920 eingeführten reichseinheitlichen Einkommensteuer, Körperschaftsteuer, Gewerbesteuer, Vermögensteuer und Erbschafsteuer (das Umsatzsteuergesetz stammt bereits aus dem Jahre 1918) zu befriedigen. Diese Chance wurde jedoch vertan und das Feld den Steuerberatern überlassen. Warum? Vermutlich, weil man fälschlich meinte, Buchführung und damit Buchungssätze lernen zu müssen, um sich im besonderen Steuerrecht bewegen zu können. Wenn das zutreffend wäre, dann hätten die Juristen damals richtig gehandelt, denn die Niederungen der schlichten Technik der Buchungssätze muss man sich nicht zumuten. Nur diese Annahme war und ist bis heute falsch. Das Einkommensteuer-, Körperschaftsteuer- und Gewerbesteuerrecht knüpfte und knüpft bei der Gewinnermittlung nicht an die Buchführung42, sondern an die Veränderungen des Betriebsvermögens an (§ 4 Abs. 1 Satz 1 EStG, § 8 Abs. 1 Satz 1 KStG, § 7 Abs. 1 GewStG), welche nach den Regeln des Bilanzsteuerrechts (§§ 4 – 7 EStG) erfasst werden. Das Bilanzsteuerrecht lässt sich innerhalb von zwei Semestern mit je zwei Wochenstunden vermitteln (was seit 1994 an der Juristenfakultät Leipzig bewiesen wird). Ein Steuerjurist muss keinen Buchungssatz können.43 Der gegenteilige Irrglaube wurde indes 1937 in den „Richtlinien über Fachanwälte für Steuerrecht“ festGesetz „über die Zulassung von Steuerberatern“ v. 6. 5. 1933, RGBl. I, 375. Ernst Heinitz, Die Rechtsanwaltschaft bei den Finanzgerichten, in: Festgabe für Otto Liebmann, Berlin 1920, S. 219. 42 Aus § 5 Abs. 1 Satz 1 EStG folgt nichts Gegenteiliges. Diese Vorschrift bestimmt lediglich, dass das Betriebsvermögen zu bilanzieren ist, „das nach den handelsrechtlichen Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung auszuweisen ist.“ Damit wird lediglich auf die – seit 1984 in den §§ 238 ff. HGB kodifizierten – Grundsätze verwiesen, welche Rechtsnormcharakter haben, nicht etwa steht dort, dass es im Steuerrecht auf Buchungssätze ankomme. 43 Der Verfasser ärgert sich noch heute, dass auch er Gegenteiliges glaubte und neben seinem Jurastudium zwei Semester lang abends bei den Betriebswirten wie eine Maschine Buchungssätze, Kontenklassen usw. paukte und dadurch unnötige Zeit vergeudete. Er hat diese Kenntnisse während seiner gesamten steuerrechtlichen Tätigkeit niemals gebraucht. 40 41
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geschrieben44, welche besondere Kenntnisse auf den „Gebieten des Buchführungs- und Bilanzwesens und des Steuerrechts“ (man beachte die Reihenfolge!) verlangten. Dahinter steckte der Staatssekretär im Reichsfinanzministerium Fritz Reinhardt, welcher sich als Handelsschullehrer zum Steuerberater fortgebildet, 1925 ein (erstes) Lehrwerk „Der Steuerberater“ herausgegeben und 1933 sogleich als strammer Nazi zum Staatssekretär reüssiert hatte.45 Dieser verstand sich sogleich „zum Sprecher führender Berufsangehöriger, die Leistung und Ansehen des Standes zielstrebig fortentwickeln wollten.“46 Folglich wollte er gewährleisten, „dass der Stand der Steuerberater zu einem Elitestand wird“47 und dass „das Wort ,Steuerberater‘ nur noch diejenigen Rechtswahrer (bezeichnet), die auf dem Gebiet der Steuerberatung die Spitzengruppe bilden.“48 Die lästige Konkurrenz der ungeliebten Juristen ließ sich am einfachsten ausschalten oder jedenfalls erheblich einschränken, indem vor die Zulassung zum Fachanwalt die Hürde intensiven Buchungssätze-Paukens gestellt wurde. Ab 1938 fanden Speziallehrgänge für Fachanwälte für Steuerrecht an der Reichsfinanzschule Berlin49 statt, deren Schwerpunkt auf der Buchführung lag.50 Schlicht unverständlich ist es nach alledem, dass auch heute noch weiterhin beharrlich für den Fachanwalt für Steuerrecht intensive Buchführungskenntnisse verlangt werden. So fordert auch heute noch § 9 Fachanwaltsordung (FAO) an erster Stelle51 besondere Kenntnisse in „Buchführung und Bilanzwesen einschließlich des Rechts der Buchführung und 44 Gemeinsamer Runderlass der Reichsminister der Finanzen und der Justiz v. 10. 11. 1937, RStBl. 1937, 1157, unterzeichnet von Reinhardt und von Freisler (!). 45 Auf ihn ist auch § 1 Abs. 1 StAnpG von 1934 zurückzuführen, der anordnete: „Die Steuergesetze sind nach nationalsozialistischer Weltanschauung auszulegen.“ 46 Mittelsteiner / Pausch / Kumpf, Illustrierte Geschichte des steuerberatenden Berufs, Augsburg, 3. Aufl. 1999, 250. 47 Reinhardt, DStZ 1937, 217. 48 Reinhardt, DStZ 1943, 340. 49 Bei Besuchen dieser und anderer Reichsfinanzschulen ließ Reinhard den Buchführungsunterricht auf einer Bühne wie folgt darstellen: Die Buchführungskonten wurden von Personen repräsentiert. Zur Verdeutlichung von Buchungssätzen mussten die jeweils angesprochenen „Konten“ mit dem Hitler-Gruß vortreten (z. B.: „Heil Hitler, ich bin das zu belastende Bankkonto“). 50 In seinem Vortrag zur Eröffnung der Reichsfinanzschule Berlin betonte Reinhardt dazu (DStZ 1938, 685 ff.): „Der Fachanwalt für Steuerrecht muss mit dem Wesen der verschiedenen Steuern und mit den Vorschriften der Steuergesetze nur vertraut sein, er muss jedoch die Buchführung und das Bilanzwesen und die praktischen Auswirkungen von Buchführung und Bilanz zum Steuerrecht beherrschen. Demgemäß liegt in dem Lehrgang an der Reichsfinanzschule Berlin das Schwergewicht auf dem Unterrichtsfach Buchführung und Bilanzwesen“ (S. 689; Hervorhebung im Original). . . . „Die Grundlage im Unterrichtsfach Buchführung und Bilanzwesen stellen in unserm Lehrgang die Bände 1 bis 3 meines (sic!) Werkes ,Buchführung, Bilanz und Steuern‘ dar“ (S. 690 aE; Hervorhebung durch den Verf.) . . . „Der Leiter der Reichsfinanzschule . . . ist gelernter Betriebswirt . . .“ (S. 691). 51 Demgegenüber verlangt § 14 FAO für den Fachanwalt für Insolvenzrecht schwergewichtig Kenntnisse des Insolvenzrechts neben Kenntnissen des Arbeitsrechts, Steuerrechts, Gesellschaftsrechts usw. und erst zum Schluss auch noch betriebswirtschaftliche Grundlagen.
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des Jahresabschlusses.“52 Damit wird weiterhin das Reinhardt’sche Ziel, die Steuerberater vor unliebsamer Konkurrenz zu schützen, verfolgt und der Zugang der Rechtsanwälte zum Steuerrecht53 durch die eigene Standesorganisation der Rechtsanwälte erschwert! Ein weiterer Grund dafür, dass die Rechtsanwälte von Anfang an weitgehend das Feld den Steuerberatern überlassen haben, dürfte darin gelegen haben, dass die Ausbildung der Juristen zum Beginn der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts noch extrem zivilrechtslastig war (der erste öffentlich-rechtliche Lehrstuhl in Leipzig war, wie wir gesehen hatten, erst 1903 für Otto Mayer eingerichtet worden). Dem entsprach es, dass in Teilbereichen des Steuerrechts, nämlich bei den sog. Verkehrsteuern und bei der Erbschaft- und Schenkungsteuer trotz deren Anforderung (Festsetzung) durch (öffentlich-rechtlichen) Verwaltungsakt der Zivilrechtsweg bis zum Reichsgericht vorgesehen war (bei den übrigen wesentlichen Steuerarten war der Rechtsweg zu den Oberverwaltungsgerichten eröffnet)54. Das änderte sich mit der Erzberger’schen Steuerreform 1920, die für alle Reichssteuern den Rechtsweg zu dem Ende 1918 (anfänglich nur für die Umsatzsteuer) eingerichteten Reichsfinanzhof in München vorsah. Die Schaffung einer eigenen Steuergerichtsbarkeit allein wäre allerdings wohl nicht so bedeutsam gewesen, wenn nicht zugleich mit § 4 RAO 1919 die sog. wirtschaftliche Betrachtungsweise für das Steuerrecht gesetzlich verankert worden wäre. Das Zivilrecht stellte damals noch üblicherweise die Form über den wahren Inhalt des Rechtsgeschäfts und fragte noch wenig nach dem Zweck der Norm. Vor diesem Hintergrund musste es für den zivilrechtlich geprägten Juristen damals (und wohl zum Teil auch heute noch) als Untergang des Abendlandes erscheinen, dass es in § 4 RAO 1919 hieß: „Bei der Auslegung der Steuergesetze sind ihr Zweck, ihre wirtschaftliche Bedeutung und die Entwicklung der Verhältnisse zu berücksichtigen.“ Damit schien die Einheit der Rechtsordnung (im Sinne von Vor52 Auch diese Formulierung kann nur Kopfschütteln hervorrufen, da sie „Buchführung und Bilanzwesen“ und „Recht der Buchführung und des Jahresabschlusses“ als zwei nicht kongruente Gebiete versteht. Das ist eine typisch betriebswirtschaftliche Sicht (wie sie auch an den Fachhochschulen für Finanzen vorherrscht), die für den Fachanwalt für Steuerrecht ohne Bedeutung ist. Das Steuerrecht stellt auf die handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung ab (§ 5 Abs. 1 Satz 1 EStG). Folglich hat den Fachanwalt für Steuerrecht nur das Recht der Buchführung und des Jahresabschlusses, wie es in den §§ 238 ff. HGB niedergelegt ist, zu interessieren. 53 Ein weiteres Unding ist, dass die Teilnahme an Ausbildungskursen ausreicht, die überwiegend von Nichtjuristen veranstaltet werden. So werden laut Internet bei den Fachseminaren von Fürstenberg „Buchführung und Bilanz“ (ohne „Recht“), „Ertragsteuerliche (nicht: steuerrechtliche) Gewinnermittlung“ und Einkommensteuer“ (nicht: Einkommensteuerrecht) von Betriebswirten dargestellt (Stand: Januar 2009). Die Teilnehmer haben dann zwar „steuerliche“, aber keine steuerrechtlichen Kenntnisse, wie sie für einen Fachanwalt für Steuerrecht zu fordern sind! 54 Dazu Stadie, Bemerkenswertes aus der Rechtsprechung des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts zum Steuerrecht, in Reich (Hrsg.), FS zum 100-jährigen Jubiläum des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts, 2002, 221 (222 f.).
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rangigkeit des Zivilrechts) aufgegeben zu sein, so dass der anfängliche Schwung vieler Rechtsanwälte auf dem Felde des Steuerrechts dahin schwand.55 Die Zulassung einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise musste einem ordentlichen Zivilrechtler als Freibrief für eine Abkehr vom Gebot der Tatbestandsmäßigkeit und von sauberer Subsumtion erscheinen und hat vermutlich wesentlich dazu beigetragen, dass die Rechtsanwälte weit überwiegend dem Steuerrecht den Rücken zukehrten. Diese von (dem in der Tat unglücklich formulierten) § 4 RAO mit ausgelöste Abkehr der Juristen vom Steuerrecht war indes ein Geburtsfehler des modernen Steuerrechts. Denn gerade die wirtschaftliche Betrachtungsweise verlangt gute Juristen und eine ausgefeilte Dogmatik dieser Rechtsfindungsmethode, damit sie nicht zur Begründung beliebiger Rechtsfolgen missbraucht wird. Die Steuerberater sind damit überfordert. Dass es sich bei der sog. wirtschaftlichen Betrachtungsweise in Wahrheit um eine im höchsten Maße juristische Betrachtungsweise handelt, wurde damals weitgehend nicht erkannt. Sie ist das notwendige rechtliche Vehikel für die (Finanzverwaltung und) Finanzgerichte, um auf den Erfindungsreichtum, die Phantasie und die Gestaltungsfreude der Bürger bei der Umgehung der Steuergesetze reagieren zu können56. Da das Steuerrecht in seinen Tatbeständen nur die typischen Sachverhalte des Wirtschaftslebens beschreiben kann, das Vertragsrecht des Zivilrechts jedoch vom Grundsatz der Gestaltungsfreiheit beherrscht wird, muss das Steuerrecht auch die atypischen Gestaltungen mit erfassen wollen. Das verlangt der Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG), da anderenfalls wirtschaftlich gleich gelagerte Sachverhalte ungleich besteuert würden. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise ist mithin eine genuin rechtliche, ja sogar verfassungsrechtlich gebotene Rechtsgewinnungsmethode. Ob man diese dann wirtschaftliche Auslegung, Analogie oder wirtschaftliche Beurteilung des Sachverhalts nennt, ist zweitrangig (unwichtig).57 Folglich erfasst z. B. der Begriff „Vermietung“ eines Grundstücks i. S. des § 21 Abs. 1 Nr. 1 EStG jede andere entgeltliche Gebrauchsüberlassung, auch in Gestalt eines Nießbrauchs, einer Grunddienstbarkeit o. ä.58 und ist „Gesellschaft“ i. S. des § 15 Abs. 1 Nr. 2 EStG auch eine Erbengemeinschaft, 59 welche einen Gewerbebetrieb fort55 Mittelsteiner / Pausch / Kumpf, Illustrierte Geschichte des steuerberatenden Berufs, Augsburg 3. Aufl. 1999, 217. 56 Der Steuervermeidungstrieb ist bekanntlich bei der Mehrheit der Menschen stärker ausgeprägt als der Geschlechtstrieb. 57 Ausführlich Stadie, Allgemeines Steuerrecht, 2003, Rz. 196 ff. mwN. und Beispielen. 58 Vgl. BFH v. 27. 6. 1978 – VIII R 54 / 74, BStBl. II 1979, 332; v. 12. 9. 1985 – VIII R 306 / 81, BStBl. II 1986, 252; v. 17. 5. 1995 – X R 64 / 92, BStBl. II 1995, 640; v. 20. 9. 2006 – IX R 17 / 04, BStBl. II 2007, 112 mwN. 59 Vgl. BFH v. 25. 6. 1984 – GrS 4 / 82, BStBl. II 1984, 751 (768, 3b, bb); Weber-Grellet in L. Schmidt, EStG, 27. Aufl. 2008, § 15 Rz. 171 mwN.
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führt, auch wenn man mit der Zivilrechtsprechung das Vorliegen einer Gesellschaft i. S. der §§ 705 BGB, 105 HGB verneint. Zurück zum Ausgangspunkt dieses Exkurses: Der Versuch von Liebisch, 1928 gesonderte Vorlesungen zum Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht und zum Bilanzsteuerrecht an der Juristenfakultät zu etablieren, war erfolglos. Über die Gründe lässt sich nur spekulieren. Ein möglicher Grund könnte gewesen sein, dass am Steuer-Institut der Handelshochschule – von der Bezeichnung her – ähnliche Vorlesungen (von Juristen60) stattfanden. 1938 wechselte er selbst dorthin.61 Zugleich mit Liebisch hatte sich 1928 Oeschey62 auf das Gebiet des Steuerrechts gewagt63 und bis 1930 im Wechsel mit Apelt und Liebisch eine Vorlesung „Grundzüge des Steuerrechts“ bzw. „Steuerrecht“ gehalten. In den Sommersemestern 1931 bis 1933 bot er jeweils am Sonntag (!) vormittags (11 – 12) eine Vorlesung „Sächsisches Landessteuerrecht“ an.64 In der Zeit von 1926 bis 1933 waren mithin drei Professoren (in den Sommersemestern 1930 und 1932 sogar nebeneinander) auf dem Gebiet des Steuerrechts an der Juristenfakultät tätig. Darin spiegelt sich nicht zufällig die kurze Blütezeit der Steuerrechtswissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder. Zu erwähnen sind die allgemeinen Darstellungen65 von Kurt Ball 66, Georg Strutz 67, Ludwig Waldecker68 und 60 So wirkten dort als außerordentliche Professoren Justizrat Feodor Wünschmann (Kürschner 1935, Sp. 1570) und Rechtsanwalt und Notar Friedrich Geyler (ab Fn. 78) sowie als Lehrbeauftragte mehrere Regierungs- bzw. Oberregierungsräte des Landesfinanzamts Leipzig, die später als Oberfinanzpräsidenten, Finanzpräsidenten oder BFH-Richter reüssierten; vgl. Kumpf, StVj 1990, 288, 294, Fn. 63. 61 S. o. Fn. 36. 62 Rudolf Oeschey (1879 – 1944) war nach der Habilitation (1915) an der Universität Leipzig 1920 zum nichtbeamteten außerordentlichen und 1934 zum planmäßigen außerordentlichen Professor für Staats-, Verwaltungs- und Kirchenrecht ernannt (Quelle: catalogus-professorum-halensis.de). Nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Landgerichtsrat beim Sondergericht Nürnberg, welcher 1947 durch das Nürnberger Juristen-Urteil zu lebenslangem Zuchthaus (später reduziert auf 20 Jahre Haft) verurteilt worden war (Quelle: Wikipedia / Juristenprozess). 63 Neben Vorlesungen zu „Kirchenrecht“ (ab WS 1923 / 24), „Recht der Sozialversicherung“ (ab WS 1924 / 25), „Deutsche Verfassungsfragen der Gegenwart“ (ab WS 1925 / 26), „Staat und Kirche“ (SS 1926), „Deutsches Verwaltungsrecht“ (SS 1928), „Recht der öffentlichen Fürsorge“ bzw. „Fürsorgerecht“ (ab SS 1930), „Rechtsentwicklung in Preußen“ (ab SS 1931), „Die Reichsreform“ (WS 1931 / 32), „Deutsches Staatsrecht“ (WS 1934 / 35), „Verfassungsgeschichte der Neuzeit“ (WS 1935 / 36), „Polizeirecht“ (WS 1936 / 37), „Volk und Staat“ (WS 1937 / 38), „Finanzrecht“ (unklar ob im Sinne von Steuerrecht oder von Haushaltsrecht) und „Beamtenrecht“ (WS 1939 / 40) . 64 Voran ging eine Vorlesung „Fürsorgerecht“ (So 9 – 10); es folgte „Rechtsentwicklung in Preußen“ (So 11 – 12). 65 Vgl. auch Ottmar Bühler, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. I, 1927 (2. Aufl. 1953), Bd. II, 1938, der indes weniger die rechtswissenschaftliche, dogmatische Seite im Auge hatte,
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Hermann Mirbt69, welche überragt wurden durch das „Steuerrecht“ von Albert Hensel70 sowie die Kommentare zum Umsatzsteuergesetz von Johannes Popitz71 und zum Einkommensteuergesetz von Georg Strutz72 und Enno Becker73. Diese Blütezeit der Steuerrechtswissenschaft lässt sich anhand der Jahrgänge der 1927 gegründeten und 1933 verbotenen „Vierteljahresschrift für Steuer- und Finanzrecht“ datieren.74 Diese Zeitschrift wurde von Fritz Reinhard (s. o.) verboten, vermutlich, weil ihr Herausgeber Max Lion Jude war und wohl auch, weil ihm die kritische Linie insgesamt nicht passte. Ab dem Wintersemester 1934 / 35 beschränkte sich das Angebot auf eine Vorlesung von Liebisch „Grundzüge des Steuerrechts“, welche im Wintersemester 1935 / 36 einmalig „Finanzrecht (Steuerrecht)“ hieß und mit dem Wintersemester 1937 / 38 (vermutlich wegen des Wechsels von Liebisch zur Handelshochschule75) auslief. In den Wintersemestern 1935 / 36 und 1936 / 37 gab es eine Vorlesung von Boesler „Finanzrecht (Haushaltsrecht)“ bzw. „Finanzrecht“, welche dann in den Wintersemestern 1937 / 38, 1939 / 40 und 1941 / 42 von Oeschey fortgeführt wurde. Ob diese Vorlesungen von Oeschey Steuerrecht und / oder Haushaltsrecht zum Inhalt hatten, ist unbekannt. III. Die ersten steuerrechtlichen Vorlesungen nach dem 2. Weltkrieg an der (bis 1969) „Juristenfakultät“ heißenden Fakultät wurden von dem Lehrbeauftragten Ernst Schmidt 76 vom Wintersemester 1947 / 48 an bis zum Sommersemester 1950 mit „Steuerrecht I“ und „Steuerrecht II“ gehalten. sondern eine „praktisch brauchbare“ Darstellung des Stoffes bieten und der „heiligen Scheu der meisten Juristen vor den Geheimnissen der Buchführungskunde“ begegnen wollte; vgl. Mittelsteiner / Pausch / Kumpf, Illustrierte Geschichte des steuerberatenden Berufs, Augsburg 3. Aufl. 1999, 227. 66 Einführung in das Steuerrecht, 1920 (4. Aufl. 1927). 67 Grundlehren des Steuerrechts, 1922. 68 Deutsches Steuerrecht, 1924. 69 Grundriß des deutschen und preußischen Steuerrechts, 1926. 70 Steuerrecht, 1924, 2. Aufl. 1927, 3. Aufl. 1933 (Nachdruck 1986). Zu Leben und Werk Albert Hensels (1895 – 1933) Ekkehart Reimer / Christian Waldhoff, Albert Hensel. System des Familiensteuerrechts und andere Schriften, 2000. 71 Kommentar zum Umsatzsteuergesetz, 3. Aufl. , 1928. 72 Kommentar zum Einkommensteuergesetz, Bd. I, 1927, Bd. II 1929. 73 Das Einkommensteuergesetz, Bd. I – III, 1928 – 1933. 74 So zutreffend Heinrich Wilhelm Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Allgemeiner Teil, 1991, S. 19. 75 Siehe Fn. 35. 76 Rechtsanwalt und Notar Dr. jur. Ernst Schmidt (1902 – ?), Leipzig.
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Vom Wintersemester 1950 / 51 an finden sich dann Lehrveranstaltungen von Friedrich Geyler (1879 – 1956). Schon dessen Urgroßvater war (von 1825 – 1830) ordentlicher Professor des Römischen und des Deutschen Rechts an der Juristenfakultät. Er hatte des weiteren mit dem o. g. Willibald Apelt einen gemeinsamen Großvater mütterlicherseits in Gestalt des Jenenser Philosophieprofessors ErnstFriedrich Apelt. Geyler musste nach dem Jurastudium in Grenoble und in Leipzig auf die wissenschaftliche Laufbahn verzichten, weil sein Vater (Oberamtsrichter) nicht die erforderlichen Mittel dazu hatte.77 Als Rechtsanwalt und Notar sowie Vorsitzender der Pelzindustriellen Verbände in Leipzig war er dann offensichtlich nicht ausgelastet, obwohl er einer der meist beschäftigten Anwälte und Notare Leipzigs gewesen sein soll.78 Er hatte deshalb seit 1920 einen Lehrauftrag für Steuerrecht an der Handelshochschule Leipzig und war dort seit 1930 sogar als außerordentlicher Professor tätig.79 Nach der 1947 erfolgten Eingliederung des Steuerinstituts der aufgelösten Handelshochschule in die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät bemühte er sich vergeblich um eine Professur an dieser.80 1950 wurde er schließlich doch noch „Professor mit Lehrauftrag“ (d. h. nicht „mit Lehrstuhl“) für Steuerrecht (ab 1952 für Finanzrecht, welches auch das Haushaltsrecht einschließlich der finanzrechtlichen Betreuung der volkseigenen Betriebe umfasste) an der Juristenfakultät. Damit dürfte ein lang ersehnter Wunsch Geylers (wenn auch viel zu spät) in Erfüllung gegangen sein. Denn trotz seiner langjährigen Lehrtätigkeit an der Handelshochschule und seiner Bemühungen um eine Professur bei den Wirtschaftswissenschaftlern galt sein wissenschaftliches Interesse stets eindeutig dem Steuerrecht und nicht der Steuerlehre. Das zeigen seine Veröffentlichungen zum Steuerrecht.81 Selbst sein Beitrag in der Festgabe für den damaligen Rektor der Handelshochschule, den Betriebswirt Herrmann Grossmann, war eine rein rechtliche Abhandlung zu einem auch heute noch aktuellen steuerrechtlichen Thema.82 77 So steht es jedenfalls in seinem Lebenslauf vom September 1945 (Personalakte Nr. 1177, Universitätsarchiv). 78 So Wilhelm Hasenack, Nachruf auf Geyler, in Betriebswirtschaftliche Forschung und Praxis 1957, 48 (49). 79 1937 Ablehnung der Zulassung als Fachanwalt für Steuerrecht durch die Nationalsozialisten; gleichwohl nach mehreren gescheiterten Versuchen 1938 Aufnahme in die NSDAP; 1943 Verfolgung durch die Gestapo (Quelle: Personalakte der Universität, PA 1177 Universitätsarchiv). 80 Seine Familie war bereits in den Westen gegangen. Seine Frau war jedoch ein Jahr vor seinem Tod zurückgekehrt, um den schon fast Blinden zu betreuen. Für den Abend seines Sterbetages hatte der 77jährige noch einen Vortrag über die Finanzierung der Sozialversicherung im Institut für Arbeitsrecht übernommen. Dessen Direktor und Dekan der Juristenfakultät, Erwin Jacobi, hielt die Gedenkrede am Sarg (Quelle: Hasenack, a. a. O., 52). 81 Namentlich Beiträge zur steuerrechtlichen Stellvertretungslehre, Berlin, Wien 1930 (= Veröffentlichungen des Steuer-Instituts an der Handels-Hochschule Leipzig, Nr. 12); Steuerliche Mehrfachbelastungen und ihre normative Abwehr, Leipzig 1931 (618 Seiten). 82 Rentenleistung und Rentenempfang in einkommensteuerrechtlicher Bedeutung, in Festgabe für Herrmann Grossmann, 1932, 70 ff.
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Als Lehrveranstaltungen Geylers sind zu nennen: „Einführung in die Steuerreform“ (sonntags 10 – 12) nebst „Kolloquium“ (Wintersemester 1950 / 51), „Abgabengesetzgebung der DDR“ nebst „Kolloquium“ und „Steuerrechtliches Seminar“ (Sommersemester 1951), „Abgabengesetzgebung der DDR“, „Einkommensteuerrecht„ / „Die Besteuerung der Arbeitseinkommen“, „Hauptseminar für Finanzrecht“ und „Übungen im Abgabenrecht“ (Wintersemester 1951 / 52). Diese Übung fand lt. Vorlesungsverzeichnis im „Institut für Finanzrecht“, Stollestr. 4, statt. Diese Ortsbezeichnung galt ausweislich des Vorlesungsverzeichnisses auch noch für das Wintersemester 1954 / 55. (Geyler als Direktor dieses Instituts standen ein Oberassistent, ein wissenschaftlicher Assistent und ein wissenschaftlicher Aspirant zur Seite). Ab dem Frühjahrssemester / Sommersemester83 1953 / 54 hieß seine Vorlesung „Finanzrecht“, die er letztmalig (nach seiner Emeritierung am 1. 9. 1954 im 75sten Lebensjahr!) noch im Herbstsemester / Wintersemester 1954 / 55 abhielt. Diese betraf nur noch teilweise Steuerrecht, denn das von ihm für das Studienjahr 1954 / 55 ausgearbeitete und vom Staatsekretariat genehmigte Vorlesungsprogramm „Finanzrecht“84 umfasste neben Abgabenrecht auch Staatshaushaltsrecht der DDR, Finanzwirtschaft der volkseigenen Betriebe, Preisrecht und Geld-, Bank- und Kreditwesen. Aus steuerrechtlicher Sicht erwähnenswert ist, dass verfahrensrechtlich noch die Reichsabgabenordnung von 1931 galt und für die Besteuerung der privaten Wirtschaft, die es damals neben den volkseigenen Betrieben und den Genossenschaften noch gab, ein Einkommensteuergesetz (von 1951) galt, welches in seinem System und seinen wesentlichen Vorschriften dem von 1934 und damit auch noch dem heutigen entspricht. Ähnliches galt für das Körperschaftsteuergesetz, das Gewerbesteuergesetz, Umsatzsteuergesetz und das Vermögensteuergesetz, die im Wesentlichen in ihren Fassungen von 1934 bzw. 1936 fortgalten. Für die Zeit danach finden sich bis zur Wiedererrichtung der Juristenfakultät 1993 keine Steuerrechtsveranstaltungen mehr. Erstmalig im Wintersemester 1993 / 94 bot Moris Lehner (als Lehrstuhlvertreter) eine Vorlesung „Steuerrecht“ und ein Seminar „Grundlagen des Steuerrechts, Abgabenordnung“ an. Seit dem Wintersemester 1994 / 95 werden dann vom Verfasser dieses Beitrags regelmäßig Vorlesungen zum Allgemeinen Steuerrecht und zum Besonderen Steuerrecht (Einkommensteuerrecht, Körperschaftsteuerrecht, Gewerbsteuerrecht und Umsatzsteuerrecht) sowie Übungen und Seminare dazu angeboten.
83 Es gab damals zwei verschiedene Vorlesungsverzeichnisse mit unterschiedlichen Semesterbezeichnungen. 84 „Vorlesungsprogramm für die Vorlesung Finanzrecht, Studienjahr 1954 / 55, ausgearbeitet im Auftrag des Wissenschaftlichen Beirates für Rechtswissenschaft beim Staatssekretariat für Hochschulwesen der Regierung der DDR“, Erfurt 1953.
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Post scriptum Dieser Beitrag wurde in dem zuvor erwähnten Gebäude Stollestr. 4, in dem Friedrich Geyler, wie erwähnt, das Institut für Finanzrecht untergebracht hatte, geschrieben. Denn wie es der Zufall will, hatten der Verfasser und seine Ehefrau im Sommer 2007 dieses (denkmalrechtlich geschützte) Gebäude in völlig heruntergekommenem Zustand für eigene Wohn- und Arbeitszwecke erworben und anschließend restauriert. Bei der Befassung mit der Geschichte des Hauses stießen sie auf eine umfängliche Diplomarbeit der Fachhochschule Anhalt, Fachbereich Landespflege, aus dem Jahre 2006, welche die „Gartendenkmalpflegerische Untersuchung der Parkanlage am Haus des Prof. Dr. jur. Geyler in Leipzig-Gohlis“ zum Gegenstand hat und auch eine Fülle biografischer Daten enthält. Dieser Arbeit konnten wir entnehmen, dass Geyler das Grundstück mit dem 1915 errichteten Gebäude 1919 erworben und anschließend das dazugehörige Gelände einer ehemaligen Pulverfabrik als einen großzügigen Park gestaltet hatte. Dieser Park ist leider nicht mehr erhalten, da das Gelände 1993 durch die Stadt Leipzig als damalige Eigentümerin in mehrere Grundstücke parzelliert worden war und dann mit vier Einfamilienhäusern bebaut wurde. An die Großzügigkeit und Schönheit des Parks erinnern nur eine große Platane und eine riesige Buche auf zweien dieser Grundstücke. Der Verfasser dieses Beitrages kann dann wenigstens, wenn er auf der Veranda sitzt und Steuerrechtliches schreibt, beim Blick auf die prächtige Buche davon träumen, wie wohl sein Vorgänger beim Blick auf seinen wunderschönen Park hier gesessen hat und seine steuerrechtlichen Gedanken zu Papier gebracht hat. Allerdings wurde dessen Traum vom Professor für Steuerrecht an der Juristenfakultät erst 1950, im 71. Lebensjahr, sechs Jahre vor seinem Tod und zu einem Zeitpunkt, als es schon mit der Lehr- und Forschungsfreiheit an der Juristenfakultät und auch mit dem Steuerrecht (in der DDR) steil bergab ging, erfüllt. Da begnügt sich der Verfasser dieses Beitrags dann doch schnell mit seinem kleinen Garten und freut sich darüber, dass sein Traum von einem Professor für Steuerrecht ein ganzes Stück früher und vor allem an einer freien Juristenfakultät in Erfüllung ging und er an die steuerrechtliche Tradition der Zwanziger Jahre anknüpfen konnte.
Heinrich Triepels Lehre über den Dualismus von Völkerrecht und Landesrecht: ein Rückblick Von Rudolf Geiger
Im Jahre 1899 erschien in Leipzig die Monographie eines Angehörigen der Juristenfakultät der Universität Leipzig, nämlich des 31jährigen Privatdozenten Heinrich Triepel, die – unter dem Titel „Völkerrecht und Landesrecht“ – in kurzer Zeit auch international als Grundlagenwerk anerkannt wurde und diesen Ruf auch heute noch genießt. Die Feier zum 600. Jahrestag der Gründung der Universität Leipzig bietet einen willkommenen Anlass, an Heinrich Triepel und diese bahnbrechende Monographie zu erinnern. I. Person und Werk 1. Heinrich Triepel Heinrich Triepel entstammte einer Leipziger Kaufmannsfamilie.1 Er hatte in Freiburg im Breisgau und in Leipzig Rechtswissenschaft studiert. 1891 promovierte er in Leipzig bei Georg Binding mit einer Dissertation über das Thema „Das Interregnum“, das ein Problem der monarchischen Regierungsform betraf. Nur zwei Jahre später erteilte ihm die Leipziger Juristenfakultät die venia legendi für Staatsrecht, Völkerrecht und Verwaltungsrecht2, wobei seine Dissertation als Habilitationsleistung anerkannt wurde. Mit seiner weiteren Monographie „Völkerrecht und Landesrecht“ wurde er „mit einem Schlage berühmt“3. Noch 1899 in Leipzig zum außerplanmäßigen Professor ernannt, folgte er kurz darauf einem Ruf an die Eberhard-Karl-Universität Tübingen auf den eben freigewordenen Lehrstuhl von Gerhard Anschütz,4 den er von Oktober 1900 bis zum Sommer 1909 innehatte. Es folgte der Lehrstuhl für Staats-, Völker und Kirchenrecht an der Christian-Albrechts-Universität Kiel, verbunden mit einer Lehrverpflichtung an der Kaiserli1 Zur Person Heinrich Triepels vgl. insbesondere Ulrich Gassner, Heinrich Triepel. Leben und Werk (1999). 2 Gassner, S. 44. 3 Grabrede Mitteis, Gassner, S. 48. 4 Gassner, S. 49.
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chen Marineakademie über „Allgemeines Völker-, Kriegs- und Seerecht“ bzw. „Internationales Recht“. Schließlich fand er den endgültigen Mittelpunkt seines beruflichen Lebens an der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin. Er lehrte dort von 1913 bis 1935, war zweimal Dekan und repräsentierte die Universität 1926 / 27 als Rektor. Von seinen zahlreichen außerakademischen Verdiensten sei hier nur die Gründung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer im Jahre 1922 genannt, die seiner Initiative zu verdanken war. Er war der Vorsitzende der Staatsrechtslehrervereinigung bis 1926. Triepels großes wissenschaftliches Werk umfaßt die weiten Bereiche der allgemeinen Staatslehre, des Staats- und Verwaltungsrechts, des Völkerrechts und der Rechtsästhetik. Heinrich Triepel wurde 1935 entpflichtet. Ein Antrag auf Hinausschieben der Altersgrenze erschien wegen seiner „jüdischen Versippung“ aussichtslos. Immerhin erneuerte seine Leipziger Heimatfakultät zu seinem goldenen Doktorjubiläum im Jahre 1941 die Würde eines Doktors der Rechte. Die Ehrung galt dem „unbeirrten Vorkämpfer für die Idee des Rechts und die Gerechtigkeit in harter und dunkler Zeit“.5 Im Februar 1944 wurde die Wohnung der Familie Triepel in Berlin durch Bomben zerstört. Heinrich Triepel starb im November 1946 in dem am Fuße der Zugspitze gelegenen Ort Grainau. 2. „Völkerrecht und Landesrecht“ – Begründer der dualistischen Theorie Mit seinem überaus gründlichen, alle Facetten des Themas ausleuchtenden „Völkerrecht und Landesrecht“6 hatte Triepel eine rechtswissenschaftliche Untersuchung vorgelegt, die allgemein als Pionierleistung gewürdigt wurde. Es handelte sich um die erste streng systematische und vor allem nach eigenem Verständnis unabhängig von naturrechtlichen Vorstellungen vorgenommene Analyse des Verhältnisses der beiden Rechtsbereiche. Triepel gilt seither als Begründer der Lehre vom Dualismus von Völkerrecht und staatlichem Recht. Auch international wurde sein Werk als grundlegend akzeptiert und diskutiert. 1913 erschien eine italienische, 1920 eine französische Übersetzung. Im ersten Kurs der neu gegründeten Académie de droit international hielt er 1922 eine Vorlesung über dieses Thema.7 Der spätere Präsident des Ständigen Internationalen Gerichtshofs Dionisio Anzilotti knüpfte als weiterer Hauptvertreter des Dualismus8 ausdrücklich an Triepel an.9 Bis heute wird Triepels Monographie, wenn das Verhältnis von Völkerrecht zum staatlichen Recht darzustellen ist, an erster Stelle genannt.10 Gassner, S. 104. Die Monographie umfaßt ca. 450 Seiten. 7 RdC 1 (1923), S. 73 – 121. 8 s. insbes.: Il diritto internazionale nei giudizi interni, 1905, und Corso di diritto internazonale (1912 ff.). 5 6
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In dem vorliegenden Beitrag sollen zunächst einige Grundgedanken der Triepel’schen Monographie vorgestellt und zum Schluss eine Antwort auf die Frage versucht werden, inwieweit sie heute noch überzeugende Antworten geben kann. II. Völkerrecht und Landesrecht: Grundsatzfragen 1. Definition und Begründung des Dualismus a) Grundsätzliches Auf Seite 111 seiner Abhandlung stellt Triepel in berühmt gewordenen Sätzen „als wichtigstes, für alle folgenden Teile dieser Abhandlung präjudizierliches Ergebnis“ fest: „Völkerrecht und Landesrecht sind nicht nur verschiedene Rechtsteile, sondern auch verschiedene Rechtsordnungen . . . . Sie sind zwei Kreise, die sich höchstens berühren, niemals schneiden.“ Eine knappe Erläuterung dieser Aussage findet sich bereits in der Einleitung, wo es heißt, Völkerrecht und Landesrecht seien „in doppelter Hinsicht“ als Gegensätze zu betrachten. „Der Gegensatz ist einmal Gegensatz der normierten Lebensverhältnisse; das Völkerrecht regelt andere Beziehungen als das staatliche. Der Gegensatz ist ferner Gegensatz der Rechtsquellen.“11 b) Verschiedenheit der Rechtsquellen Der letztgenannte Gesichtspunkt, unter dem das Verhältnis der beiden Rechtsordnungen zu betrachten sei, ist für den Dualismus der auch heute noch entscheidende. Die Rechtsquellen seien verschieden. Das Völkerrecht – so Triepel – verdanke seine Existenz einem rechtsetzenden Vorgang, bei dem die Staaten in ihrem Zusammenwirken einen „Gemeinwillen“ erzeugen. Triepel spricht hier von einem „Gesamtakt“ der beteiligten Staaten. Wesentlich sei, dass niemals ein Staat allein eine auch andere Staaten bindende Rechtsnorm schaffen könne. Nur aus ihrer Gemeinsamkeit könne das die beteiligten Staaten untereinander bindende Recht erwachsen. Eine andere Frage sei, woher der in dem Gesamtakt der Staaten zutage tretende „Gemeinwille“ seine rechtsverbindliche Kraft beziehe. Diese Frage will Triepel ausdrücklich nur kursorisch behandeln. Denn: der „Rechtsgrund“ der Geltung des Rechts sei kein rechtlicher. Es handle sich um eine metajuristische Frage.12 Man könne sich wohl mit der Versicherung begnügen, dass die Staaten sich jedenfall dauerhaft an das Völkerrecht gebunden fühlten. Das sei eine TatsaDazu Gaja, Positivism and Dualism in Dionisio Anzilotti, EJIL 3 (1992), S. 123 ff. s. Bernhardt, Völkerrecht und Landesrecht: Neuere Aspekte eines alten Problems, FS Reinhard Mußgnug (2005), S. 281. 11 Völkerrecht und Landesrecht (künftig zitiert: VuL), S. 9. 12 VuL, S. 82. 9
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che, die sich durch keinen Hinweis auf geschehene Rechtsbrüche wegleugnen lasse. Für den Juristen bedürfe es jedenfalls keiner weiteren Ableitung. Dem Völkerrecht stehe die staatliche Rechtsordnung gegenüber. Sie umfasse alles Recht, das dem Rechtswillen eines bestimmten Staates entspringe. Landesrecht sei staatliches Recht, insofern es einem Staate sein Dasein verdanke. Hier ist es der Staat als einzelner, der sein eigenes für seinen Herrschaftsbereich geltendes Recht schafft.13 Für seinen Hoheitsbereich sei nur er allein hierzu befugt. Die Staatsverfassung bilde die grundlegende landesrechtliche Rechtsschicht. Die Frage, woher die staatliche Regelung ihre Rechtsgeltung beziehe, sei auch hier metajuristischer Natur. Für den Juritsten genüge die Beobachtung, dass die Rechtsgeltung im Staat allgemein anerkannt sei. Mit dieser Gegenüberstellung von Völkerrecht und Landesrecht in der gegensätzlichen Besonderheit ihrer Rechtsquellen steht der Ausgangspunkt für eine rechtswissenschaftliche Betrachtung des Verhältnisses der beiden Rechtsordnungen fest. Damit ist zugleich der – wie Triepel es wohl erstmals zusammenfassend nennt – „monistischen Quellentheorie“14 eine Absage erteilt, die das zwischen den Staaten und das in den Staaten geltende Recht auf die Natur oder die Vernunft oder eine diesen gleichbehandelte Quelle zurückführt und damit in ihrem Geltungsgrund verbindet15; aber ebenso wendet Triepel sich gegen die von ihm als „positivistisch“ bezeichnete Lehre16, wonach das Völkerrecht als „äußeres Staatsrecht“ einen Teil des jeweiligen staatlichen Rechts bilde und beide Rechtsbereiche sich demnach auf eine einheitliche staatliche Rechtsquelle zurückführen ließen. c) Verschiedenheit der normierten Lebensverhältnisse Wenn Triepel andererseits das Verhältnis der beiden aus verschiedenartigen Quellen stammenden Rechtsordnungen auch durch einen „Gegensatz der normierten Lebensverhältnisse“ charakterisiert,17 so will er damit nicht etwa behaupten, dass bestimmte Sachbereiche wie Auslieferungs- oder Zollfragen oder kriegsrechtliche Regelungen nur entweder in der einen oder der anderen Rechtsordnung geregelt werden könnten. Selbstverständlich wurden solche Fragen auch damals schon in beiden Rechtsordnungen behandelt. Unter dem Gegensatz der normierten Lebensverhältnisse meint Triepel vielmehr, dass die beiden Rechtsordnungen „andere Beziehungen“ regelten und sich damit an unterschiedliche Rechtssubjekte wendeten. In diesem Sinne ist die Feststellung zu sehen, dass die beiden Rechtskreise sich „niemals schneiden“. Das Völkerrecht erfasst – so Triepels Ausgangspunkt – nur die Rechtsverhältnisse, die zwischen den beteiligten Staaten als Völkerrechts13 14 15 16 17
VuL, S. 9. VuL, S. 130. VuL, S. 128. VuL, S. 131. VuL, S. 11 ff.
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subjekten geschaffen wurden. Es regelt deren Rechte und Pflichten. Insofern befasst sich das Völkerrecht mit anderen Beziehungen als das staatliche Recht; denn dieses wende sich nicht an andere Staaten, sondern befasse sich mit den Rechtsverhältnissen der Individuen („Unterthanen“), und zwar in deren Verhältnis zum Staat und in ihren Beziehungen untereinander. So treffe das Völkerrecht etwa zu der Frage, ob ein Straftäter einem anderen Staat auszuliefern sei, eine Regelung nur im Verhältnis der beteiligten Staaten zueinander. Das staatliche Recht (Landesrecht) regle diesen Sachbereich dagegen, soweit das Verhältnis des Staates zu seinen Amtsträgern und zu dem von einem Auslieferungsbegehren betroffenen Einzelnen in Frage steht. 2. Das Verhältnis der beiden Rechtsordnungen a) Völkerrechtswidriges Landesrecht? Die strenge Trennung der beiden Rechtsordnungen machte es nach Triepels Auffassung unmöglich, „die Quelle des Völkerrechts der des Landesrechts oder diese der des Völkerrechts als übergeordnet in dem besonderen Sinne zu betrachten, dass der Wille der einen für die Geltung der aus der anderen fließenden Rechtssätze entscheidend sei.“18 Ein Widerspruch von Rechtssätzen der beiden Rechtsordnungen führt also weder zur Nichtigkeit der landesrechtlichen Vorschrift noch zur Geltungsbeendigung der völkerrechtlichen Norm. Dass das Landesrecht nicht über die Geltung völkerrechtlicher Normen bestimmen könne, sei so selbstverständlich, dass es sich kaum lohne, die Frage ernsthaft zu erörtern. Das Landesrecht verdanke sein Leben dem Willen eines Staates, das Völkerrecht dagegen einem Gemeinwillen, in den der Einzelwille eingegangen sei. Dieser Einzelwille kann jenem Gesamtwillen nicht überlegen sein.19 Das völkerrechtsgemäße Landesrecht kann zwar durch widersprechendes Landesrecht, auch durch das völkerrechtswidrige, beseitigt werden; „das Völkerrecht selbst ist gegen jede Änderung durch einseitige staatliche Gesetzgebung gefeit.“20 Umgekehrt könne auch das Völkerrecht nicht über die Geltung von Landesrecht entscheiden. Der legislative Akt eines Staatsorgans könne nur von dessen Staatsverfassung mit Geltung ausgestattet werden, „denn die Staatsuntertanen sind nicht Völkerrechtsuntertanen“.21 Das Völkerrecht müßte nämlich als höhere Quelle, die über Sein oder Nichtsein entscheidet, in unmittelbarer Beziehung zu den Subjekten stehen, an die der Urheber dieses Rechtssatzes sich wendet. Nur wenn über dem Gesetzgeber und denen, zu denen er spricht, eine Macht steht, die ihrerseits das Verhältnis zwischen diesen beiden zu regeln vermag, kann die Rechtsfrage entste18 19 20 21
VuL, S. 257. VuL, S. 257. VuL, S. 258. VuL, S. 259.
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hen, ob ein Akt des Ersteren die Letztere zu binden vermag. Denn „gelten“ bzw. „nicht gelten“ heißt innerhalb einer Rechtsordnung für andere wirksam sein oder nicht.22 Deshalb ist ein völkerrechtswidriges Gesetz nicht nichtig.23 Auch lässt sich aus diesem Grund der Satz lex posterior derogat priori nicht auf das gegenseitige Verhältnis von Rechtsätzen des Völkerrechts und des Landesrechts übertragen. Darum auch ist die Gehorsamspflicht des Staatsuntertanen dem Staatsgesetz gegenüber, gleichgültig wie sich dieses zum Völkerrecht verhält, völlig unbedngt. Der Untertan sei weder verpflichtet noch befugt, sich um die Übereinstimmung des Landesrechts mit dem Völkerrecht zu kümmern. Das völkerrechtswidrige Landesgesetz binde ihn ebenso wie das völkerrechtsgemäße. Auch ein Akt der vollziehenden Gewalt sei niemals deshalb nichtig, weil er dem Völkerrecht zuwiderläuft. Die einst viel erörterte Frage, ob der Untertan verpflichtet sei, den Ruf des Herrschers zur Heeresfolge in einem völkerrechtswidrigen Krieg (bellum iniustum) zu beachten24, stelle sich nicht. b) Berührung der Rechtsordnungen aa) Ergänzungsbedürftigkeit des Völkerrechts. Wenn die beiden Rechtsordnungen „sich höchstens berühren, niemals schneiden“, so soll dies nach Triepels Auffassung nicht heißen, dass zwischen ihnen keine die jeweils andere Rechtsordnung beeinflussende Beziehung möglich sei. Im Gegenteil: zum einen bedürfe das Völkerrecht, um seine Aufgabe in der Praxis durchführen zu können, einer Ergänzung durch das Landesrecht. „Ohne dies ist es in vieler Hinsicht ohnmächtig. Der Landesgesetzgeber erweckt es aus der Ohnmacht. Ein Netz, über den Staaten schwebend, will es durch starke Stützen in den Staaten gefestigt sein.“25 Und zur weiteren Charakterisierung gebraucht Triepel ein plastisches Bild: „Es ist einem Feldherrn vergleichbar, der seine Befehle nur an die Truppenführer richten und seinen Zweck nur erreichen kann, wenn er sicher ist, dass die Generäle, den Weisungen entsprechend, neue Befehle erlassen. Lassen ihn die Generäle im Stich, verliert er die Schlacht. Und wie der eine Befehl des Feldherrn oft viele Dutzende von weiteren Befehlen der Unterführer veranlasst, so werden wir weiter sehen, dass sich zuweilen an einen einzigen Satz des Völkerrechts ein weitverzweigtes Geäst von Normen anschließt, die sich alle in dem einen Punkte finden, dass sie das Völkerrecht im innerstaatlichen Leben ,verwirklichen‘“.26 bb) „Unterwerfung“ unter das Völkerrecht. Diese Ergänzungsbedürftigkeit des Völkerrechts werde dadurch kompensiert, dass der Staat dem Völkerrecht unterworfen sei. Er habe, das ist mit dem Begriff der Unterwerfung gemeint, dessen 22 23 24 25 26
VuL, S. 259. VuL, S. 260. VuL, S. 261 Fn. 3. VuL, S. 270 f. VuL, S. 271.
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Regelungen zu beachten. Denn das Völkerrecht wendet sich an die Staaten. In diesem Sinne stehe das Völkerrecht zwar über dem Staat; es stehe aber nicht über dem Landesrecht. Die beiden Rechtsordnungen berühren sich, überschneiden sich aber nicht. Sie berühren sich in den Staatsorganen. Wenn sich das Völkerrecht nur an den Staat als solchen wendet, so wende es sich zugleich an dessen verfassungsrechtlich zuständige Staatsorgane. Denn „der Staat ist nichts ohne seine Organe, und ihn verpflichten wollen, ohne dass ein Staatsorgan verpflichtet würde, hieße einen Pakt mit der Luft schließen.“27 c) Berührung in den Staatsorganen Die völkerrechtliche Verpflichtung des Staates einschießlich seiner Staatsorgane bedeute noch nicht, dass auch die Individuen, die als Amtsträger die Aufgaben der Organe wahrnähmen, dem Völkerrecht unterworfen seien. Das Völkerrecht sei nämlich unfähig, zugleich die Funktion eines Landesgesetzes insoweit zu erfüllen, als dieses die Tätigkeit der Amtsträger zu regeln habe, die als Staatsorgane handelten. Auch für die Träger staatlicher Ämter entscheide nur das Landesrecht, ob sie verpflichtet sind, eine den Staat und dessen Organe treffende völkerrechtliche Verpflichtung auszuführen.28 Ebenso sei die aus der Hierarchie der Behörden entspringende Gehorsamspflicht des unteren Beamten gegenüber dem Vorgesetzten unabhängig von der Beziehung, in der ein Dienstbefehl zum Völkerrecht stehe. Soweit dem Beamten ein Prüfungsrecht hinsichtlich der Legalität der ihm von oben zukommenden Anweisungen eingeräumt ist, könne er doch niemals den Gehorsam um deswillen verweigern, weil seine Prüfung ihm die Völkerrechtswidrigkeit eines landesrechtlich gültigen Befehls dargetan habe. Als provozierendes Extrembeispiel nennt Triepel den Offizier, dem der Vorgesetzte den Befehl zur Plünderung erteilt habe; dieser sei verpflichtet, den Befehl auszuführen, auch wenn die Plünderung völkerrechtlich verboten sei, sofern nicht eben das Landesrecht selbst – wie etwa seinerzeit in § 47 Ziff. 2 Militärstrafgesetzbuch – eine solche Handlung verbiete. Glücklicherweise – so beruhigt Triepel den Leser – werde das Bedenkliche dieser vollkommenen Unabhängigkeit landesrechtlicher Rechts- und Pflichtverhältnisse gegenüber völkerrechtlichen Vorschriften beträchtlich durch die Tatsache gemildert, dass die Übereinstimmung des staatlichen Rechts mit dem Völkerrecht die Regel, der Widerspruch die Ausnahme bilde. Eine ganz andere Frage sei, ob wegen des Verhaltens von Amtsträgern oder Untertanen völkerrechtliche Ansprüche anderer Staaten gegen den Staat selbst bestehen. Hier gelte, dass nicht der Befehlsgeber oder der den Befehl Ausführende eine Völkerrechtsverletzung begehe, sondern der Staat, der dies nicht verhindert oder nicht ahndet. Gegen ihn können andere Staaten mit den völkerrechtlich vorgesehenen Mitteln einschreiten.29 27 28
VuL, S. 121. VuL, S. 263 f.
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3. Die Transformation völkerrechtlicher Verträge Das Völkerrecht gebietet dem Staat die Erfüllung seiner in Verträgen mit anderen Staaten eingegangenen Verpflichtungen. Dementsprechend hat der Staat sein Landesrecht so zu gestalten, dass er seine völkerrechtlichen Pflichten erfüllt oder erfüllen kann. Sollen völkerrechtliche Normen innerstaatlich ausgeführt werden, so begründen sie zwar nach dualistischer Lehre eine nur den Staat als solchen verpflichtende Regelung, „immer aber beruht die Rechtsbildung im Staate auf einem besonderen, von seiner Anteilnahme an der internationalen Rechtsentwicklung geschiedenen Willensakt des Staates“.30 Die Art und Weise, wie dieser gesonderte Willensakt im Einzelfall ausgestaltet ist, hängt von der Verfassung und den Gesetzen des jeweiligen Staates ab. Dieser kann zur Sicherung seiner Pflichterfüllung eine allgemeine Regelung vorsehen, die entsprechendes Landesrecht mit einem gewissen Automatismus schafft.31 Es handelt sich um die „Transformation“ eines völkerrechtlichen Vertrags in Landesrecht. Auch hier sind der auf den Vertragsschluss und der auf den Gesetzeserlass gerichtete Wille insofern zu unterscheiden, als sich der eine in der Vornahme oder Anordnung der Ratifikation, der andere in der Bewirkung oder dem Befehl der Publikation des (vom Gesetzgeber genehmigten) Vertrages äußert. Es handle sich immer um die Vornahme zweier innerlich verschiedener Staatsakte, die gleichfalls regelmäßig auch äußerlich in verschiedener Weise zutage treten. Auch in Fällen dieser Art sei es unrichtig, Staatsvertrag und Gesetz für „identisch“ zu erklären.32 So sei es denkbar, dass die Verfassung eines Staates bestimmt, dass die von den zuständigen Staatsorganen geschlossenen Verträge, vielleicht aber auch andere völkerrechtliche Vereinbarungen, wie etwa die Beschlüsse der Organe eines Staatenbundes, dessen Mitglied jener Staat ist, ohne weiteres die Kraft des Landesrechts haben sollten . Auch in diesem Falle würde im Augenblick der Vollendung des völkerrechtlichen Akts ein staatlicher Akt der Rechtsetzung vollzogen sein; durch den Vertragsschluss oder den Organbeschluss würde auch Landesrecht geschaffen. Aber diese spezifische Wirkung des internationalen Handelns würde doch stets und allein auf der Kraft des vorangegangenen Landesgesetzes beruhen, das eben ein- für allemal die Wirkung eines Staatsvertrags im innerstaatlichen Rechtsraum festgesetzt hat, anstatt im Einzelfalle dem Vertrag das Gesetz folgen zu lassen.
29 30 31 32
VuL, S. 270. VuL, S. 119. VuL, S. 410. VuL, S. 122.
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4. Ansätze eines „gemäßigten“ Dualismus a) Gegenseitige Beeinflussung Besonders die letztgenannten Konsequenzen könnten nun zu der Annahme verleiten, dass Triepels Lehre in ihren Folgerungen zu rigid und deshalb in einer Zeit der engen internationalen oder gar supranationalen Kooperation der Staaten unbrauchbar geworden sei. Dieser Schluss wäre wohl vorschnell gezogen, denn in seinen weiteren Ausführungen zeigt sich, dass Triepel schon an der Wende zum 20. Jahrhundert Argumentationsmuster geliefert hat, die zu dem heute wohl herrschenden „gemäßigten Dualismus“ geführt haben, der den Streit zwischen Dualisten und den nunmehr ebenfalls „gemäßigten“ Monisten zu einer Auseinandersetzung um den Weg, aber nicht mehr um das Ergebnis hat werden lassen33. b) „Völkerrechtsfreundliche“ Auslegung des Landesrechts Triepel lehrt, es bestehe eine allgemeine Vermutung dafür, dass ein Staat seine internationalen Pflichten erfüllen wolle. Diese Vermutung der „Pflichttreue“ bilde ein wichtiges Hilfsmittel zur Erklärung von Sinn und Tragweite landesrechtlicher Normen, ob es sich nun um gesetztes oder ungesetztes Recht handle. Verbiete etwa das Gesetz die Verletzung oder Gefährdung gewisser Rechtsgüter – wie Leben, Freiheit oder Ehre – schlechthin, so sei anzunehmen, dass dieser Schutz sich auch auf ausländische Rechtsgüter erstrecke, wenn der Staat nach Völkerrecht auch ausländische Güter solcher Art zu schützen habe.34 Darüber hinaus rechtfertige diese grundsätzliche Vermutung eine einschränkende Auslegung von Staatsgesetzen, deren Wortlaut auf einen völkerrechtswidrigen Gesetzesinhalt schließen lassen könnte. „Denn nach einem richtigen und durchaus gesunden Prinzip ist die Annahme, es wolle sich der Gesetzgeber mit seiner Satzung seiner völkerrechtlichen Pflichten entschlagen, er wolle völkerrechtlich gebotenes Landesrecht beseitigen, er wolle namentlich über bestehende Staatsverträge hinwegschreiten, solange von der Hand zu weisen, als nicht der Sinn des Gesetzes gebieterisch solche Auffassung verlangt.“35
33 Dazu Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 4. Auflage (2009), S. 14 ff. (zitiert GGuVR). 34 VuL, S. 397 f. 35 VuL, S. 399, ebenso schon S. 264 Fn. 2.
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III. Triepels „Völkerrecht und Landesrecht“ heute? 1. Die dualistische Theorie Das Grundgesetz geht nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts trotz seiner Offenheit für die internationale Kooperation von einem dualistischen Verhältnis von staatlichem Recht und Völkerrecht aus. Dem Grundgesetz – so das Bundesverfassungsgericht im Urteil Görgülü vom 14. 10. 200436 – liege deutlich die klassische Vorstellung zugrunde, „dass es sich bei dem Verhältnis des Völkerrechts zum nationalen Recht um ein Verhältnis zweier unterschiedlicher Rechtskreise handelt, und dass die Natur dieses Verhältnisses aus der Sicht des nationalen Rechts nur durch das nationale Recht selbst bestimmt werden kann; dies zeigen die Existenz und der Wortlaut von Art. 25 und Art. 59 Abs. 2 GG.“ Die hier zum Ausdruck kommende dualistische Sicht dürfte der Haltung Triepels entsprechen. Auch er begnügt sich mit der Beobachtung, dass die Staaten ihre Verfassung als oberste Rechtsschicht in ihrem innerstaatlichen Rechtsraum betrachteten und – wie implizit das Bundesverfassungsgericht – dass die Frage nach dem Geltungsgrund des staatlichen Rechts eine metajuristische und damit für die Rechtsanwendung unerhebliche Frage sei. Im Rahmen seiner Definition der Rechtsquellen fordert Triepel mit großer Bestimmtheit für das Völkerrecht, dass alle Staaten, die an eine bestimmte Völkerrechtsnorm gebunden sein sollen, an deren Zustandekommen mitgewirkt haben müssen. Triepel gesteht aber zu, dass dies nicht etwa das Zustandekommen von Mehrheitsbeschlüssen von vornherein ausschließe. Die Entstehung von Völkerrecht durch Mehrheitsbeschluss innerhalb einer Staatengruppe sei dann möglich, wenn zuvor generell Einigkeit darüber erzielt worden sei, dass Vereinbarungen einer Mehrheit als Vereinbarungen der Gesamtheit aufgefasst werden sollen. Als Beispiel verweist Triepel auf Bundesbeschlüsse, die von Organen eines Staatenbundes getroffen werden. Gleiches gelte für Normierungen „internationaler Kommissionen“, denen durch besondere völkerrechtliche Bestimmung die Fähigkeit beigelegt worden sei, entsprechende Satzungen im Wege des Majoritätsbeschlusses zu erlassen, ohne dass es einer Ratifikation durch ihre Staaten bedarf.37 Insofern läßt sich die völkerrechtliche Bindung an Mehrheitsbeschlüsse internationaler Organisationen bzw. internationaler Organe ohne weiteres mit dem Triepel’schen Verständnis einer dualistischen Theorie vereinbaren. Auch die völkerrechtliche Bindung an Entscheidungen staatsunabhängiger Instanzen wie internationaler Gerichte38 kann gemäß der Triepel’schen Lehre begründet werden. Die von Triepel durchwegs betonte Eigenständigkeit des Landesrechts gestattet es dem Staat allerdings nicht, sich einseitig aus landesrechtlichen – insbesondere BVerfGE 111, 307 (318). Triepel verweist auf die Beispiele des Deutschen Bundes und des Deutschen Zollvereins, s. VuL, S. 87 / 88. 38 s. BVerfGE 111, 307 (319); BVerfG 2 BvR 2115 / 01 vom 19. 9. 2006, Abs.-Nr. 54 ff. 36 37
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verfassungsrechtlichen – Gründen aus einer völkerrechtlichen Bindung zu lösen. Hierin liegt der Unterschied des Dualismus zu der Auffassung, das Völkerrecht sei als „äußeres Staatsrecht“ zu betrachten; denn ein wesentliches Element der dualistischen Theorie bildet die Eigenständigkeit auch des Völkerrechts. Völkerrechtliche Normen verlieren ihre Geltung nicht durch ihre Unvereinbarkeit mit den Bestimmungen einer staatlichen Verfassung. Wenn das Bundesverfassungsgericht erklärt: „Das Grundgesetz erstrebt die Eingliederung Deutschlands in die Rechtsgemeinschaft friedlicher und freiheitlicher Staaten, verzichtet aber nicht auf die in dem letzten Wort der deutschen Verfassung liegende Souveränität. Insofern widerspricht es nicht dem Ziel der Völkerrechtsfreundlichkeit, wenn der Gesetzgeber ausnahmsweise das Vertragsrecht nicht beachtet, sofern nur auf diese Weise ein Verstoß gegen tragende Grundsätze der Verfassung abzuwenden ist“39, so fehlt es hier an jeder Erörterung der internationalrechtlichen Seite des Normenkonflikts. Da es hier – entgegen der Meinung des Bundesverfassungsgerichts – in erster Linie nicht um „Völkerrechtsfreundlichkeit“ geht, sondern um eine völkerrechtliche Vertragsbindung, so ließe sich hierauf mit Triepel antworten: „Wenn nun der Inhalt einer auf Feststellung einer Regel gerichteten Vereinbarung den Vereinbarenden als echter Rechtssatz entgegentritt, so ist es ausgeschlossen, dass sich einer der von ihm ergriffenen Staaten einseitig seiner entledigt. . . . Die Erklärung der Willensänderung durch einen Staat genügt also nicht, um den früher mit seiner Zustimmung proklamierten Rechtssatz für ihn außer Geltung zu setzen. Ja, diese Erklärung wird, wenn sie zugleich ein Zuwiderhandeln bedeutet oder mit einem solchen verbunden ist, als Rechtsbruch aufgefaßt werden müssen.“40 Eine Kollision müßte in diesem Falle durch den Rückgriff der zuständigen Staatsorgane auf völkerrechtliche Mechanismen beseitigt werden. 2. Transformation oder Vollzug? Völkerrechtliche Gebote, die im innerstaatlichen Rechtsraum zu befolgen sind, bedürfen gewöhnlich einer Veränderung und Anpassung des jeweiligen Landesrechts. Es entspricht den Vorstellungen der klassischen dualistischen Theorie, dass die Übernahme völkerrechtlicher Normen durch die Schaffung entsprechenden innerstaatlichen Rechts erfolgt. Wird ein ganzer Vertrag „transformiert“, so liegen im völkerrechtlichen und im innerstaatlichen Bereich inhaltlich einander entsprechende Normen vor, deren Geltungsgrund allerdings verschieden ist. Dieser Transformationstheorie steht heute die Vollzugslehre gegenüber. Auch nach ihr bedarf es für das Eindringen völkerrechtlicher Normen in den innerstaatlichen Bereich eines besonderen Staatsaktes. Doch tritt hier – anders als nach der Transformationstheorie – keine Verdoppelung der Rechtsregel ein. Diese behält vielmehr ihren Rechtscharakter als Völkerrecht. Der innerstaatliche Rechtsakt gibt lediglich den 39 40
BVerfGE 111, 307 (319). VuL, S. 88 / 89.
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Befehl, die betreffende Völkerrechtsregel innerstaatlich zu vollziehen (Vollzugsanordnung). Die Vollzugslehre dürfte heute nicht nur für die Übernahme der „allgemeinen Regeln des Völkerrechts“ (Art. 25 GG), sondern auch für die Übernahme völkerrechtlicher Verträge in den innerstaatlichen Rechtsraum die herrschende Lehre sein,41 doch hat hinsichtlich der Verträge auch die Transformationstheorie ihre Anhänger42. Das Bundesverfassungsgericht hat sich in Bezug auf den völkerrechtlichen Vertrag nicht eindeutig für die eine oder andere Lehre entschieden. Zuweilen spricht das Gericht zwar von einem „Rechtsanwendungsbefehl“, den das Vertragsgesetz erteile.43 Doch deuten seine Ausführungen in anderen Entscheidungen darauf hin, dass es sich seine Position offenhält.44 Die Möglichkeit eines Eindringens des Völkerrechts als solchem in den innerstaatlichen Rechtsraum erscheint Triepel zwar ausgeschlossen. Dies folgt aus dem von ihm festgestellten Gegensatz der geregelten Lebensverhältnisse. Doch schlägt er gleichsam eine Ersatzlösung vor, der seither die Anhänger der Transformationstheorie folgen. Durch Auslegung des Vertragsgesetzes paßt er das transformierte Recht an den jeweiligen Stand der im völkerrechtlichen Bereich bestehenden Regel an. Das gilt insbesondere für den Zeitpunkt des Inkrafttretens und für die Geltungsdauer des transformierten Rechts, die sich nicht nach dem Vertragsgesetz, sondern nach dem völkerrechtlichen Vertrag richten soll. Wenn die Publikation des Vertrages im Gesetzblatt vor der Ratifizierung des Vertrags erfolgt, müsse angenommen werden, dass die materielle Gesetzeskraft bis zum Tag der künftigen Ratifikation hinausgeschoben sein sollte. Enthält der Vertrag oder ein mitabgedrucktes Protokoll eine Bestimmung darüber, wann der Vertrag in Kraft treten soll, so ist im Zweifel der gesetzgeberische Wille darauf gerichtet, nicht nur alles Recht zu schaffen, das nach dem Vertrag geschaffen werden soll, sondern es auch seine Wirksamkeit in dem Zeitpunkt gewinnen zu lassen, in dem es vorhanden sein soll oder unentbehrlich ist.45 Entsprechendes soll für die Geltungsdauer des Vertragsgesetzes gelten. Auch ohne ausdrückliche Bestimmung ist anzunehmen, dass das Gesetz, das auf spezieller internationaler Vereinbarung beruht, nur solange gelten soll wie 41 Geiger, GGuVR, S. 157 f.; Fastenrath, BKGG, Art. 59 Rn. 94; Rojahn, vMünch / Kunig, GG, Bd. 2, 5. Aufl. (2001), Art. 59, Rn. 33a. 42 Dies gilt vor allem für die herrschende Gerichtspraxis, s. Geiger, GGuVR, S. 156 f. sowie Rojahn, Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge in der Entscheidungspraxis des BVerwG, in: Geiger (Hrsg.), Völkerrechtlicher Vertrag und staatliches Recht vor dem Hintergrund zunehmender Verdichtung der internationalen Beziehungen (2000), S. 123 (124 f.). 43 BVerfGE 90, 286 (364); vgl. auch das ISAF-Urteil v. 3. 7. 2007, BVerfGE 118, 244 (258 f.). 44 z. B. in seinem Beschluss vom 19. 9. 2006, 2 BvR 2115 / 01, Abs.-Nr. 52 zur innerstaatlichen Beachtlichkeit des Wiener Konsularrechtsübereinkommens: „Bundesgesetze im Sinne von Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG erteilen innerstaatlich den Befehl zur Anwendung der betreffenden völkerrechtlichen Verträge bzw. setzen diese in nationales Recht um.“ 45 VuL, S. 430.
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diese. Daraus folge, dass das vertragsgemäße Landesrecht in jedem Falle ipso jure sein Ende erreicht, wenn – gleichviel aus welchem Grunde – der Vertrag für den Staat nicht mehr verbindlich ist. Das Außerkrafttreten des Vertrags sei die vom Gesetz selbst gewollte Resolutivbedingung seiner Geltung.46 3. Adressatenwechsel und Anpassung durch Auslegung des transformierten Landesrechts Eine Schwierigkeit bei der Annahme einer Transformation des Vertragsinhalts in Landesrecht besteht in der Überwindung des von Triepel vorausgesetzten „Gegensatzes der normierten Lebensverhältnisse“. Denn den Untertanen könne niemals befohlen werden, den Vertrag zu befolgen, weil dieser nur vom Staat selbst zu erfüllen sei.47 Eine wortgleiche Umwandlung der völkerrechtlichen Norm in Landesrecht müßte deshalb als sinnlos erscheinen. Triepel umgeht diese von ihm behauptete Konsequenz, indem er kraft einer Vermutung für die Pflichttreue des Staates aus der amtlichen Publikation des vom Gesetzgeber gebilligten Vertrages auf den Willen des Staates schließt, in Gesetzesform möglichst alles zu tun, was der Gesetzgeber tun kann, um die aus dem Vertragsinhalt zu ermittelnden Pflichten zu erfüllen, und dass demgemäß alles Recht entstehe, das auf dem eingeschlagenen Weg entstehen kann. Die Publikation bewirke deshalb zunächst die Entstehung des unmittelbar gebotenen Landesrechts. Gebietet der Vertrag etwa die Begründung subjektiver Rechte, Pflichten, Fähigkeiten für die Untertanen oder Beamten des Vertragsgegners, die etwa das Recht zur Niederlassung, zum Gewerbebetrieb, zur freien Bewegung im Staatsgebiet und dergleichen erhalten sollen, so könnten diese Rechte vom verpflichteten Staat nur durch Erlass von Rechtssätzen gewährt werden. Dabei sei anzunehmen, dass die Publikation des (vom Gesetzgeber genehmigten) Vertrages das entsprechende Landesrecht erzeuge. Es komme dabei nicht darauf an, ob sich etwa der Vertragstext in antizipierender Wendung schon selbst ausdrücke wie ein Gesetz – z. B. wie „Es ist verboten, spirituose Getränke an Personen (an Bord eines Fischerfahrzeugs) zu verkaufen“.48 Denn es lasse sich im Wege der Auslegung des transformierten Landesrechts entsprechend dem Zweck der transformierenden Vorschrift ein Adressatenwechsel mit einer entsprechenden Anpassung des Norminhalts annehmen.49 Nach Triepel werden auch Vertragsbestimmungen, die wegen ihres nur allgemein umrissenen Inhalts nicht unmittelbar anwendbar seien, in Landesrecht transformiert. Die allgemein gehaltene Vorschrift etwa, der Staat solle bestimmte Handlungen der Untertanen mit Strafe bedrohen, oder er solle alle Maßregeln er46 47 48 49
VuL, S. 432 ff. VuL, S. 416. VuL, S. 402 / 403. VuL, S. 416, 422 ff.
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greifen, um sie strafen zu können, würde durch die Transformation dieses Vertragstextes zwar nicht in ein anwendbares Strafgesetz umgewandelt, weil Voraussetzung jeder Bestrafung nicht nur der Tatbestand, sondern auch die Androhung bestimmter Strafe sei. Der Wortlaut des Vertrags enthalte in solchen Fällen aber die Vereinbarung der Pflicht, ein ergänzendes Gesetz zu erlassen. Das transformierte Recht sei damit nicht ohne jede landesrechtliche Wirkung.50 Triepel geht mit dieser Auffassung über einen Teil der heute noch geäußerten Lehrmeinungen hinaus. Es handelt sich um das Verhältnis von innerstaatlicher Geltung und unmittelbarer Anwendbarkeit der transformierten Norm. Wenn etwa die Meinung vertreten wird, dass nicht unmittelbar anwendungsfähiges Völkerrecht, d. h. Völkerrecht, das nicht „self-executing“ ist, nicht als Gegenstand einer Transformation in Betracht komme51, so lässt sich Triepel den Vertretern der heute herrschenden gegenteiligen Auffassung zuordnen, wonach der Vertrag auch dann innerstaatlich Geltung erlangt, wenn er reine Staatenverpflichtungen enthält.52 Das Vertragsgesetz begründe in diesem Falle die gesetzliche Pflicht der zuständigen Staatsorgane, entsprechend tätig zu werden. „Die völkerrechtliche, den Staat als solchen ergreifende Pflicht zur Gesetzgebung wandelt sich auf diesem Wege in die landesrechtliche Pflicht der Gesetzgebungsorgane um, das ihrige zur Herstellung des Gesetzes zu tun.“53 4. Individuum und Völkerrecht In einer wichtigen Frage allerdings kann man Heinrich Triepel heute nicht mehr folgen. Es handelt sich um die Stellung des Einzelnen im Völkerrecht. Wenn Triepel schon in der Einführung seiner Monographie meint, Landesrecht und Völkerrecht seinen nicht nur durch den Gegensatz der Rechtsquellen, sondern auch durch den Gegensatz der normierten Lebensverhältnisse gekennzeichnet, und mit letzterem meint, dass das Völkerrecht nur Rechte und Pflichten der Staaten kenne, nicht aber auch Rechte und Pflichten der Einzelnen, weil der Einzelne nur Gegenstand einer völkerrechtlichen Regelung sein könne, nicht aber deren Rechts- oder Pflichtssubjekt,54 dann lässt sich damit der völkerrechtliche Bereich der Menschenrechte ebensowenig erfassen wie die Entwicklung der internationalen Strafgerichtsbarkeit. Die Europäische Menschenrechtskonvention gibt dem Einzelnen die Möglichkeit, sich vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte auf VuL, S. 406. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht (1967), S. 173 ff.; weitere Nachweise bei Amrhein-Hofmann, Monismus und Dualismus in den Völkerrechtslehren (2003), S. 305. 52 Geiger, GGuVR, S. 158 f.; Fastenrath, BKGG, Art. 59 Rn. 98; Rojahn, vMünch / Kunig, Art. 59, Rn. 34; Kempen, Mangoldt / Klein / Starck, GG Bd. 2, 5. Auflage (2005), Art. 59, Rn. 95; Streinz, Sachs, GG, 4. Auflage (2007), Art. 59 Rn. 67. 53 VuL, S. 406. 54 VuL, S. 20 / 21. 50 51
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völkerrechtlich begründete Individualrechte zu berufen. Ebenso muss sich der Einzelne vor internationalen Strafgerichten wegen schwerster Menschenrechtsverletzungen verantworten. Diese Entwicklung des Völkerrechts hatte Triepel bis zum Ende des zweiten Weltkriegs nicht vorhergesehen. Unter dem Eindruck des Verfahrens des Nürnberger Militärgerichtshofs erkannte er allerdings in einem kurz vor seinem Tode verfassten unveröffentlichten Manuskript „Die neuen Wege des Völkerrechts“, dass der Nürnberger Prozess „ein wuchtiger Präzedenzfall für kommendes Recht und kommende Praxis“ sei, so sehr es auch einer weiteren Rechtsbildung bedürfen werde, um über das völkerrechtliche Strafrecht und die internationale Gerichtsbarkeit im einzelnen volle Klarheit zu schaffen.55 IV. Resümee Triepels Verdienste um Ordnung und Entwicklung des Verhältnisses von Völkerrecht und Landesrecht bleiben gleichwohl ungeschmälert. Er hat dieses Verhältnis methodisch strukturiert und mit seinen Klassifikationen und Beispielen die Grundlagen für eine modernen Anforderungen entsprechende, auf internationaler Ebene geführte rechtswissenschaftliche Diskussion gelegt. Dabei stand ihm das Staatensystem vor Augen, wie es sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt hatte. Dies war das System der „geschlossenen“, nach innen und außen souveränen Staaten. Gleichwohl hat Triepel auch Leitlinien für die weitere Entwicklung entworfen. Die im Jahre 1899 verfasste Monographie des jungen Leipziger Privatdozenten ist auch in der heutigen wissenschaftlichen Diskussion noch spürbar. Dass Triepel die Wendung zur „offenen Staatlichkeit“56 und damit die Stärkung der Rolle des Einzelnen im Völkerrecht nicht vorausgeahnt hat, nimmt seinem Werk nichts von seiner fortdauernden grundsätzlichen Bedeutung.
Gassner, S. 502 f. Diese Gegenüberstellung kam wohl erstmals klar zum Ausdruck in dem Habilitationsvortrag von Klaus Vogel, Die Entscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit (1963), S. 42. Vgl. nunmehr z. B. Di Fabio, Das Recht offener Staaten: Grundlinien einer Staats- und Rechtstheorie (1998); Kokott / Vesting, Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes: Konsequenzen von Europäisierung und Internationalisierung, VVDStRL 63 (2004), S. 7 ff. und S. 41 ff.; Fastenrath, Die „Internationalisierung“ des deutschen Grundgesetzes – wie weit trägt die Entgrenzung des Verfassungsstaats?, in: Pitschas / Kisa, Internationalisierung von Staat und Verfassung im Spiegel des deutschen und japanischen Staats- und Verwaltungsrechts (2002), S. 37 ff. 55 56
Der Staats- und Völkerrechtler Heinrich Triepel und Leipzig Von Roman Schmidt-Radefeldt
„Die Schatten großer Juristen wirksam zu beschwören, ist keine leichte und keine sehr dankbare Aufgabe“, wie Rudolf Smend in seinem Beitrag über Heinrich Triepel in der Festschrift für Gerhard Leibholz einmal festgestellt hat.1 Auf den ersten Blick mag dies erstaunlich klingen: Denn verbindet nicht die Fachwelt mit dem Namen Heinrich Triepel eine Gelehrtenpersönlichkeit, deren Name in einem Atemzug mit den großen Staatsrechtlern seiner Zeit wie Jellinek, Laband oder Anschütz zu nennen ist?2 Sind nicht die Ergebnisse von Triepels umfangreichem publizistischen Schaffen – wie z. B. das dualistische Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht oder die Geltungskraft der Grundrechte – längst Teil unserer Verfassungsordnung geworden? Auch die heute selbstverständlich anmutenden Grenzen des Gesetzgebers bei Verfassungsänderungen – gesichert durch das richterliche Prüfungsrecht – bilden das Vermächtnis des Gelehrten aus Leipzig.3 Heinrich Triepel, seines Zeichens Professor für Staats- und Völkerrecht in Leipzig, Tübingen, Kiel und Berlin; Rektor der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität im akademischen Jahr 1926 / 27 und Gründer der Deutschen Staatsrechtslehrervereinigung4 lässt sich „ohne Zögern den Klassikern der deutschen Rechtswissenschaft zurechnen, deren Leben und Werk im Gang der Geschichte exemplarische Bedeutung behalten werden.“5 Wer heute, mehr als 60 Jahre nach dem Tode Heinrich Triepels (1868 – 1946), zu einer Hommage auf diesen großen Juristen anhebt, wird sich aber nicht allein auf die Bedeutung und Aktualität seines Werkes beschränken können. Er muss vielmehr versuchen – und hierin sah Smend die Schwierigkeit der Aufgabe – die 1 Smend, Rudolf, in: Die moderne Demokratie und ihr Recht, Festschrift für GerhardLeibholz zum 65. Geburtstag, Band II: Staats- und Verfassungsrecht, Tübingen 1966, S. 575 – 589. 2 Vgl. die biographische Würdigung von Gassner, Ulrich M., Heinrich Triepel – Leben und Werk, Berlin 1999. 3 Smend, Heinrich Triepel, in: Staatsrechtliche Abhandlungen, Berlin, 2. Aufl. 1968, S. 594 – 608 (606). 4 Über die Berliner Zusammenkunft berichtet Triepel in: AöR 43 (1922), S. 349 ff. 5 Hollerbach, Alexander, Zum Leben und Werk Heinrich Triepels, in: AöR 91 (1996), S. 417 – 441 (441).
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zeitgeschichtlichen und geistigen Entwicklungen, welche die Entstehung des Lebenswerkes bedingten, lebendig werden zu lassen. So erscheint das Werk Heinrich Triepels angesichts seiner Lebensspanne als ein Werk des Übergangs.6 Ausgangspunkt und Prägungen seines Denkens finden sich in der Staatsrechtstradition der späten Kaiserzeit, doch in seiner Gedankenführung und den Schlussfolgerungen zeichnen sich mitunter schon Konturen eines modernen liberalen Staatsrechtsdenkens ab. Die Welt, der Triepels staats- und völkerrechtliches Lebenswerk galt, ist freilich ebenso untergegangen wie die Welt, aus der Triepel stammte und die ihn geistig geprägt hat: Das Leipzig des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Es war eine Epoche, die sich in der Rückschau als wissenschaftliche Glanzzeit der Leipziger Universität bezeichnen lässt. Heinrich Triepel, ein gebürtiger Leipziger, hat die ersten 32 Jahre seines Lebens in Leipzig gelebt und gearbeitet. Dieser Beitrag befasst sich mit diesem maßgeblichen Lebensabschnitt und beleuchtet die persönlichen und akademischen Prägungen Triepels durch Studium und Dozententätigkeit an der Juristenfakultät. Eingedenk der staatsrechtlichen Strömungen der Jahrhundertwendezeit soll gezeigt werden, inwieweit die Leipziger Jahre bereits den geistigen „Nährboden“ für die Leitmotive im Denken und wissenschaftlichen Wirken Heinrich Triepels gelegt haben. I. Jugend in Leipzig Heinrich Triepel wurde am 12. Februar 1868 in der Universitäts- und Messestadt Leipzig geboren – einer Stadt im wirtschaftlichen Aufschwung, die bald 300.000 Einwohner zählen sollte. Leipzig ist seit 1409 Universitätsstadt und Bildungsstätte vieler berühmter Studenten wie Leibniz, Goethe, Lessing, Fichte oder Telemann. Als „Stadt des Rechts“ ist Leipzig seit 1879 Sitz des Reichsgerichts; als „Stadt der Musik“ mit ihrem traditionsreichen Gewandhaus und den Thomanern ist Leipzig untrennbar verbunden mit dem Namen Johann Sebastian Bach. Heinrich Triepel wuchs als Sohn des Leipziger Exportkaufmanns Gustav Triepel und seiner Frau Mathilde – Tochter des Schweizer Literaturhistorikers Heinrich Kurz – in einem von wirtschaftlichen Sorgen unbehelligten, patriotisch-liberalen und gebildeten protestantisch-bürgerlichen Milieu auf. Durch einen Onkel mütterlicherseits, den Schweizer Anwalt und Politiker Erwin Kurz, erhielt der junge Triepel bei Familienbesuchen in Aarau (Nordschweiz) Einblicke in die anwaltliche Praxis, die für seine berufliche Entscheidung zum Juristenberuf ausschlaggebend waren.7 Die humanistisch-musische ebenso wie christlich-reformierte Erziehung und Förderung des begabten Triepel durch Elternhaus und Leipziger Thomasschule – damals das sächsische „Elite“-Gymnasium – prägten den bildungsbürger6 7
Smend, a. a. O. (Anm. 3), S. 594. Gassner, a. a. O. (Anm. 2), S. 30.
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lichen Habitus des späteren Gelehrten und seine lebenslange Liebe zur Musik.8 Nach einer glänzenden Reifeprüfung nahm Triepel im Sommersemester 1886 zunächst an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg ein Jurastudium auf, um nach drei Semestern an die Universität seiner Heimatstadt zu wechseln. II. Die Universität Leipzig am Ende des 19. Jahrhunderts Die Universität Leipzig galt seit langem als die konservative deutsche Universität par excellence und genoss vor allem seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts den Ruf staatstragender Gesinnung. Vor allem in den ’70er und ’80er Jahren des 19. Jahrhunderts nahm die Universität Leipzig einen großen Aufschwung, war neben München und Berlin zeitweise die meistbesuchte Hochschule und genoss weithin nationales Ansehen.9 Im Übrigen verdankte die Leipziger Universität ihre besondere Anziehungskraft nicht zuletzt ihrem traditionellen Selbstverständnis als „Arbeitsuniversität“.10 Dies galt insbesondere auch für die Juristenfakultät, die sich bis 1873 – was die Zahl der Immatrikulationen anbelangt – zur führenden Fakultät der Universität entwickelte. Grund für diese auch in wissenschaftlicher Hinsicht glänzende Entwicklung in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts war nicht zuletzt die weitsichtige Berufungspolitik des sächsischen Kultusministers Carl Friedrich v. Gerber (1823 – 1891)11, eines ehemaligen Leipziger Staats- und Zivilrechtsprofessors, der bei Neuberufungen für eine gute Ausstattung der Professoren sorgte und nur den besten Fachvertretern – unabhängig von ihrer Herkunft – einen Ruf nach Leipzig erteilte.12 Die Liste berühmter Namen der Leipziger Juristenfakultät, bei denen Triepel zwischen 1887 und 1890 zum Teil noch hörte, ist lang: Sie reicht vom Straf- und Römischrechtler Georg v. Wächter (1797 – 1880) über Bernhard Windscheid (1817 – 1892) – einem der Väter des Bürgerlichen Gesetzbuches – den Strafrechtler Carl Binding (1841 – 1920), den Zivilrechtler Adolf Wach (1843 – 1926) sowie den Staats- und Kirchenrechtler (und Chronist der Universitätsgeschichte bei der 500-Jahrfeier) Emil Friedberg (1837 – 1910) und den Römischrechtler Rudolf Sohm bis zum Mitbegründer des deutschen Verwaltungs8 Seit Jugendtagen war Triepel begeisterter Anhänger Richard Wagners (auch er ein Sohn Leipzigs). 9 Stolleis, Michael, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2, München 1992, S. 311. 10 Friedberg, Emil, Die Leipziger Juristenfakultät, ihre Doktoren und ihr Heim, in: Festschrift zur Feier des 500-jährigen Bestehens der Universität Leipzig, Bd. 2, Leipzig 1909, S. 110: „Auf den Fleiß ihrer Hörer kann die Fakultät stolz sein. Leipzig genießt überall mit Recht den Ruf einer Arbeitsuniversität. Die Vorlesungen werden nicht nur belegt, sondern auch gehört ( . . . ).“ 11 Dazu biographisch Schmidt-Radefeldt, Susanne, C. F. v. Gerber und die Wissenschaft des deutschen Privatrechts, Berlin 2003, S. 101 ff. 12 Krause, Konrad, Alma mater Lipsiensis, Geschichte der Universität Leipzig von 1409 bis zur Gegenwart, Leipziger Universitätsverlag 2003, S. 203.
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rechts Otto Mayer (1846 – 1924, ab 1903 in Leipzig). Die Leipziger Juristenfakultät war am Ende des 19. Jahrhunderts gewissermaßen eine „Eliteuniversität“ – in den Augen von Triepels Zeitgenossen „eine der hervorragendsten und angesehensten im Reich“ (Gerhard Anschütz),13 die „damals in Deutschland wohl die besten Köpfe zählte“ (Gustav Radbruch).14 III. Akademische Prägungen In seinen sechs Leipziger Semestern von 1887 – 1890 wurde Triepel eine fundierte juristische und ökonomische Ausbildung zuteil. Noch bei der Eröffnungsansprache zur Leipziger Staatsrechtslehrertagung von 1925 gedachte Triepel „in Dankbarkeit und Wehmut“ der Professoren Wach, Windscheid, Bülow, Friedberg, Sohm und Binding.15 Besondere Erwähnung fand der Verwaltungsrechtler Carl Viktor Fricker.16 Womöglich ist sogar Triepels wissenschaftliche Methode, die ansatzweise soziologische, historische und politische Gesichtspunkte (heute würde man von Interdisziplinarität sprechen) mit einbezog, auf die Prägung durch Fricker zurückzuführen, der gewissermaßen den Keim für die spätere antipositivistische Stoßrichtung in Triepels Denkens legte.17 Die geistige Interdisziplinarität Triepels – das akademische „Grenzgängertum“ – kommt in der Verknüpfung einer juristischen, soziologischen und historischen Herangehensweise, zuweilen angereichert mit den Früchten seiner umfassenden literarischen Bildung, immer wieder zum Ausdruck. Die soziale und geschichtliche Bedingtheit von Recht und Gesetz wird zum Leitmotiv seines juristischen Werks. Nicht von ungefähr wird Triepel 1931 als einziger Jurist seiner Zeit in die Historische Reichskommission berufen.18 Triepels bereits in Leipzig gewecktes Interesse an ästhetischen und philosophischen Fragen des Rechts wird aber erst in dem posthum veröffentlichten Alterswerk Vom Stil des Rechts (1947) zur Blüte gelangen. Triepels „väterlicher Freund“ und akademischer Lehrer wird Karl Binding (1841 – 1920), den Gustav Radbruch, der von 1898 – 1900 selbst in Leipzig studiert hat, als „Künstlererscheinung mit schönem, geistvollen Kopf, als lebhaft beredten Mann und Vollblutjurist“ in Erinnerung behielt.19 Binding, der in Leipzig nicht nur 13 Anschütz, Gerhard, Aus meinem Leben, hrsg. von W. Pauly, Frankfurt 1993 (= Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte Bd. 59), S. 44. 14 Radbruch, Gustav, Der innere Weg. Aufriß meines Lebens, Stuttgart 1951, S. 45. 15 Triepel, in: VVDStRL 2 (1925), S. 2. 16 Carl Viktor Fricker (geb. 1830 in Stutgart, gest. 1907 in Leipzig), Staats- und Völkerrechtler, Studium und Referendariat in Tübingen, 1862 Habil. Uni Tübingen, 1868 Landtagsabgeordneter in Urach, seit 1875 o. Professor für Staatsrecht in Tübingen, seit 1881 o. Prof. in Leipzig, 1895 Hofrat; Fricker war vor allem durch die Aufklärungs- und Naturrechtsphilosophie Karl Christian Krauses (1781 – 1832) beeinflusst. 17 Gassner, a. a. O. (Anm. 2), S. 38 und 231. 18 Gassner, a. a. O. (Anm. 2), S. 162.
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das Straf-, sondern auch das Öffentliche Recht vertrat, betreute Triepels Erstlingswerk20 – eine hochgelobte Dissertation über das Interregnum (1892).21 Die Dissertation ist in Denk- und Stilart freilich noch vom begriffsjuristischen Konstruktivismus geprägt, wie er auch für Binding kennzeichnend ist.22 In seinem Erstlingswerk klingt indes bereits eine Thematik an, die zu einem Leitmotiv in Triepels Lebenswerk – ja zu seiner besonderen Leidenschaft – werden sollte: Die Problematik binnen- und zwischenstaatlicher Staatenverbindungen, die ihn vor allem unter dem Blickwinkel unitarischer Bestrebungen interessiert – 1917 in Die Reichsaufsicht, der letzten großen Darstellung des Staatsrechts des monarchisch-bundesstaatlichen Reiches und 1938 in seinem opus magnum über Die Hegemonie. Als Fachmann für Fragen des Deutschen Bundesstaats berief ihn die Reichregierung 1928 (neben Gerhard Anschütz) in den Verfassungsausschuss der Länderkonferenz.23 Von seinem Lehrer Karl Binding und als „Erbe“ der staatstragenden Leipziger Juristenfakultät übernimmt Triepel einen gewissen „etatistischen Einschlag“ des Denkens (Smend), der sich auch politisch niederschlägt: Als Mitglied der Deutschen Reichspartei (bis 1918) ist Triepel eher dem christlich-konservativen Lager zuzurechnen.24 Triepels staatstragende Gesinnung bewahrt jedoch zeitlebens eine gewisse Distanz zum Staat: Zur obrigkeitlich-gesetzespositivistischen Staatsrechtstradition der Kaiserzeit, die er durch ein wertgebundenes Rechtsstaatsdenken zu überwinden sucht – aber auch zu jenem verhängnisvoll-übersteigerten Etatismus (fast schon eine déformation professionelle der Staatsrechtslehre), dem manche Staatsrechtsprotagonisten der Weimarer Zeit erliegen werden. Die geistige Nähe zum Staat begründet bei Triepel vielmehr eine stärkere Inanspruchnahme des Staates als Träger von Verantwortung: Im Völkerrecht für Humanität und Solidarität; im Staatsrecht für die rechtsstaatliche Ordnung.25 Für Triepel bedingen sich Staatsautorität und rechtsstaatliche Freiheit gegenseitig – allen voran die grundrechtliche Freiheit, welche Triepel in dreifacher Hinsicht aufwertet: „Inhaltsreicher im Vergleich mit dem bisherigen formalisierten Verständnis, geltungskräftiger gegenüber dem Gesetzgeber und geltungsgesicherter durch das richterliche Prüfungsrecht“.26 Radbruch, a. a. O. (Anm. 14), S. 45. Triepels allererste Veröffentlichung galt indes einem strafrechtlichen Thema: Der Beitrag in der Beilage der Münchner Allgemeinen Zeitung v. 30. 6. 1891 über die „bedingte Verurteilung“ befasste sich mit den Reformvorschlägen F.v. Liszts zur Einführung der Freiheitsstrafe auf Bewährung. 21 Rezensiert von Hancke, AöR 9 (1894), S. 153 – 155. 22 So Triepel in seinem Artikel über „Karl Binding“ in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 2, Berlin: Duncker 1955, S. 244. 23 Näher Gassner, a. a. O. (Anm. 2), S. 151 ff. 24 Gassner, a. a. O. (Anm. 2), S. 170 f. 25 Smend, a. a. O. (Anm. 3), S. 605. 26 Smend, ebenda, S. 602. Triepel äußert sich wie folgt: „Mehr und mehr finde ich jetzt, daß die Grundrechte fast den wichtigsten Bestandteil in der ganzen Verfassung bilden“, in: VVDStRL 4 (1927), S. 89. 19 20
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Folgenreich ist die im Rechtsgutachten zur Goldbilanzen-Verordnung und Vorzugsaktien (Berlin 1924) ausgearbeitete materiale Deutung des Gleichheitssatzes (Art. 109 WRV), die später von Gerhard Leibholz – neben Viktor Bruns und Ulrich Scheuner der berühmteste Schüler Triepels – monographisch ausgearbeitet wurde und in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Eingang gefunden hat.27 Aus der individualistischen Grundorientierung im Staatsrecht erwächst ein zweites Leitmotiv in Triepels Lebenswerk: Die Rechtsstaatlichkeit der Verfassungsordnung im Sinne einer normativen Begrenzung staatlicher Machtausübung. Triepel hat keine Theorie des Rechtsstaates entwickelt, aber umso mehr den einzelnen rechtsstaatlichen Elementen der Verfassung Geltung zu verschaffen versucht, die er als „Richtschnur und Schranke“ für die Verwaltung und die Gesetzgebung begriff.28 Gesetzgebung ist für Triepel kein „Souveränitätsakt“, sondern ein verfassungsmäßig gebundener Akt der Staatsgewalt. Überzeugt von dem „Ewigkeitswert“ rechtsstaatlicher Prinzipien, klingt in Triepels Beitrag zum Abdrosselungsgesetz (1926) bereits die Vorstellung vom verfassungsrechtlichen Minimum (Art. 79 III GG) an: „Ein solches Verfahren hebt die Verfassung selbst aus den Angeln; es steht mit den Grundgedanken der Verfassung als eines schlechthin gültigen Ordnungsprinzips in innerem Widerspruch, ( . . . ).“29 IV. Staatsrechtswissenschaftliche Strömungen um die Jahrhundertwende Die deutsche Staatsrechtslehre, wie sie Triepel als Student und Dozent im ausgehenden 19. Jahrhundert erlebte, stand noch ganz im Bann der nationalen Frage. Zu den dogmatischen Hauptfragen jener Zeit gehörte die typologische und begriffliche Verortung des Deutschen Reiches als Bundesstaat und damit einhergehend die Frage nach dem Träger der Souveränität.30 Die zunächst vor allem begriffsjuristisch geprägte Debatte wich im Laufe der Jahre einer pragmatischen Anerkennung der konkreten Verfassungsentwicklung samt ihren historischen und politischen Implikationen. Mit der auf die Tradition der Historischen Rechtsschule zurückgehende Wiedergewinnung von historischen und politischen Elementen im Staatsrecht zeichnete sich um die Jahrhundertwende ein Methodenwandel ab, der nach dem 1. Weltkrieg in eine deutliche „Krise des staatsrechtlichen Positivismus“ einmünden sollte.31 In der Wilhelminischen Zeit lässt sich zwar noch keine programmatische Opposition gegen den seit der Reichsgründung dominierenden Gassner, a. a. O. (Anm. 2), S. 362 ff.; Hollerbach, a. a. O. (Anm. 5), S. 426. Triepel, in: VVDStRL 4 (1927), S. 90. 29 Triepel, Heinrich, Das Abdrosselungsgesetz, in: DJZ 31 (1926), Sp. 845 – 850; dazu Hollerbach, a. a. O. (Anm. 5), S. 427. 30 Stolleis, a. a. O. (Anm. 9), S. 364, 367. 31 Korioth, Stefan, Erschütterungen des staatsrechtlichen Positivismus im ausgehenden Kaiserreich, in: AöR 117 (1992), S. 212 – 238. 27 28
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Gesetzespositivismus Gerberscher Prägung ausmachen, doch versuchte bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine kleine Minorität von Staatsrechtslehrern – unter ihnen auch Heinrich Triepel – aus dem positivistischen „mainstream“ auszubrechen. Doch erst der auf Triepel folgenden, vom Aufbruch der Jugend und den experimentellen Strömungen in Kunst und Literatur nach 1900 geprägten Generation, z. B. Rudolf Smend (1882 – 1975) oder Erich Kaufmann (1880 – 1972), bleibt es vorbehalten, die Abwendung vom staatsrechtlichen Positivismus zu vollenden. Kennzeichnend für die frühen Versuche einer Abwendung vom Positivismus war ein neuer Blickwinkel, der hinter dem Staatsrecht (als einem vom Verfassungsleben losgelösten System abstrakter Begrifflichkeiten) nunmehr das Verfassungsrecht als ein Stück lebendiger Wirklichkeit entdeckte und dabei im Gegensatz zum positivistischen Dogma auch den Zusammenhang des Verfassungsrechts mit der Entwicklung von Staat und Gesellschaft berücksichtigte.32 Damit einher ging eine „Renaissance“ der Allgemeinen Staatslehre als einer an der staatstheoretischen Erkenntnis orientierten Wissenschaft mit interdisziplinären Ansätzen und Inhalten.33 In den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts erschienen gleich vier neue Werke mit dem Titel Allgemeine Staatslehre, darunter das Standardwerk Georg Jellineks (1900). Um die Jahrhundertwende herrschte an vielen deutschen Rechtsfakultäten ein starkes Bedürfnis, das Lehrangebot durch eine politische Betrachtung des Phänomens „Staat“ zu ergänzen.34 Die Staatsrechtslehre beobachtete zudem einen stillen Verfassungswandel als Reaktion auf Veränderungen der Verfassungswirklichkeit und mithin die Entstehung eines „ungeschriebenen Verfassungsrechts“.35 Diese Entwicklung spiegelt den innenpolitischen und sozialen Wandel des Reiches wieder, dem die (formal weitgehend unverändert gebliebene) Reichsverfassung von 1871 nur unzureichend Rechnung trug: Der Positivismus war eingebettet in die Normalität ruhiger Zeiten, in denen außerrechtliche Haltepunkte nicht notwendig erschienen. Seit den Tagen der Kanzlerschaft Bismarcks hatten sich die Gewichte zwischen den politischen 32 Friedrich, Manfred, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, Berlin 1997, S. 275. 33 Zur Renaissance der Staatslehre vgl. näher Kuriki, Hisao, Die Rolle der Allgemeinen Staatslehre in Deutschland von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, in: AöR 99 (1974), S. 556 – 585 (559); Friedrich, a. a. O. (Anm. 32), S. 282 ff.; Stolleis, a. a. O. (Anm. 9), S. 450. 34 Triepel beteiligt sich in Leipzig und Tübingen mit Vorlesungen zur Allgemeinen Staatslehre sowie mit seinem Leipziger Vortrag über Die Entstehung der konstitutionellen Monarchie (Hochschul-Vorträge für jedermann, Leipzig: Seele 1899, 24 Seiten). Triepel bewegt sich dabei noch weitgehend in den Bahnen der traditionellen Staatslehre, die ausschließlich den Monarchen als Träger der Staatsgewalt und das Parlament dementsprechend nur als „Hilfsorgan“ des Fürsten bei Ausübung seiner Kompetenzen begreift. Diese von Laband vertretene „Gehilfentheorie“ bezeichnet Triepel später als „willkürliche Begriffsjurisprudenz“ (Triepel, Der Weg der Gesetzgebung nach der neuen Reichsverfassung, in: AöR 39 (1920), S. 456, 473). 35 Stolleis, a. a. O. (Anm. 9), S. 376 f.
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Gewalten jedoch verschoben und die Beziehungen zwischen Preußen und dem Reich konfliktträchtig zugespitzt. Die Gesamtsituation des in den Kreis der imperialistischen Mächte drängenden Reiches erzeugte Krisenängste und sorgte unter dem Druck der anwachsenden Arbeiterbewegung auch für soziale Spannungen.36 Nicht zuletzt der allmähliche Übergang vom monarchisch dominierten Staat zur parlamentarischen Monarchie verschob auch die Beziehung zwischen Staat und Individuum: aus dem Untertan wurde der mit subjektiven öffentlichen Rechten ausgestattete Bürger.37 Die noch unter dem Einfluss des Positivismus stehende Staatsrechtswissenschaft des späten Kaiserreichs – ihre Vertreter gehörten zum Teil zur Generation von Triepels akademischen Lehrern – schenkten bereits dem (ungeschriebenen) Wandel der Reichsverfassung unter dem Gesichtspunkt einer sich verändernden Wirklichkeit Beachtung: So widmet sich Paul Laband (1838 – 1918) weniger den formellen Verfassungsänderungen als den ungeschriebenen Umgestaltungen der Reichsverfassung.38 Georg Jellineks (1851 – 1911) verfassungssoziologische Studie über Verfassungsänderung und Verfassungswandlung (von 1906) thematisiert erstmals explizit die Verfassungswandlung als stillschweigende, den Verfassungswortlaut nicht berührende Entwicklung. Auch der (in Leipzig gebürtige) Staatsrechtler Albert Hänel (1833 – 1918), dessen Studien des Deutschen Staatsrechts als Höhepunkt begriffsjuristischer Durchdringung des spätkonstitutionellen Staatsrechts der Kaiserzeit angesehen werden können, begann seine Arbeit an Gehalt, Struktur und Funktion des Verfassungsrechts zu orientieren und die Methode des verfassungsstrukturellen Vergleichs für dessen Verständnis fruchtbar zu machen.39 Heinrich Triepel entwickelt Hänels Ansatz fort, indem er die Betrachtung des Verfassungsrechts um verfassungsfunktionale sowie politisch-soziologische Aspekte ergänzt – so wie es eigentlich erst für das staatsrechtliche Schrifttum der Weimarer Zeit kennzeichnend war. Unter dem Eindruck der Tübinger „Schule der Interessenjurisprudenz“ (insb. Philipp Heck und Max Rümelin) löste sich Triepel, der 1900 seinen ersten Ruf an die Universität Tübingen erhielt, endgültig vom Bann des staatsrechtlichen Positivismus40 und nahm, wie Heinrich Mitteis es einmal pathetisch formulierte, seinen „unerbittlichen Kampf gegen alle Formalismus und Begriffskult in Erforschung und Lehre des öffentlichen Rechts“ auf.41 Die in Triepels Korioth, a. a. O. (Anm. 31), S. 232 ff. Zu den Grundrechten als dogmatischer Herausforderung der Staatsrechtswissenschaft um die Jahrhundertwende vgl. Stolleis, a. a. O. (Anm. 9), S. 371 ff. 38 Laband, Paul, Die Wandlungen der deutschen Reichsverfassung, Jahrb. d. Gehstiftung zu Dresden, Bd. 1 (1895), S. 149 – 186; Die geschichtliche Entwicklung der Reichsverfassung seit der Reichsgründung, in: JöR 1 (1907), S. 1 – 46. 39 Friedrich, a. a. O. (Anm. 32), S. 263, 276. 40 Stolleis, Michael, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, München 1999, S. 172. 41 Mitteis, Tagesspiegel v. 7.12.1946, zitiert bei Gassner, a. a. O. (Anm. 2), S. 231, Fn. 251. 36 37
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Tübinger Zeit (1900 – 1909) entstandene Abhandlung über die Kompetenzen des Bundesstaats und die geschriebene Verfassung (1908) überwindet die in Triepels Leipziger Dissertation über das Interregnum (1892) noch vorherrschende positivistische Blickverengung auf einzelne Kompetenznormen, indem er im Wege der Rechtsvergleichung den Bestand an ungesetzten Zuständigkeitsnormen für den deutschen Bundesstaat herausarbeitet. Auch in seiner staatsrechtlichen und politischen Studie über Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche (1907) findet Triepel, der „Doyen antipositivistischer Methodenkritik“ (Gassner), einen für die damalige Zeit (noch) ungewöhnlichen politischen Ton: Das Zusammenwirken von Reich und Staat vollziehe sich in einem gemischten System, das allein historisch und politisch erklärt werden könne.42 Mit seiner (späteren) Feststellung, dass die Verfassung bereits ex definitione politisches Recht enthalte und eine scharfe Trennung von Recht und Politik daher nicht möglich erscheint,43 formulierte Triepel dann Kernbestände der heutigen Staatsrechtslehre vor, wie sie Dieter Grimm später in seinem Bild vom Verfassungsrecht als „geronnener Politik“ auf den Punkt gebracht hat.44 V. Akademische Karriere an der Leipziger Juristenfakultät Ein halbes Jahr nach seiner erfolgreichen Promotion (2. Juli 1891) unter dem Dekanat Adolf Wachs bewarb sich Triepel bei der Leipziger Juristenfakultät um die venia legendi für Staatsrecht, Völkerrecht und Verwaltungsrecht, die ihm im Februar 1893 – also kurz nach Vollendung des 25. Lebensjahres – erteilt wurde. Neben der Qualität seines Erstlingswerkes ist es vermutlich dem großen Einfluss Karl Bindings zu verdanken, dass die Dissertation als habilitationsgleiche Leistung anerkannt wurde. Mit Beginn des Sommersemesters 1893 hält Triepel an der Universität Leipzig als Privatdozent (und später als Extraordinarius) Vorlesungen zur Geschichte des Völkerrechts sowie zur Allgemeinen Staatslehre.45 Als Privatdozent gründete Triepel auch seine Familie: Am 10. August 1894 heiratete er seine langjährige Freundin Maria Ebers aus Tutzing, Tochter des ehemaligen Leipziger Ägyptologen Georg Ebers und zog in die Lessingstraße im Leipziger Waldstraßenviertel. 1896 wurde die erste Tochter Hertha geboren. Als Privatdozent verkehrte er in den „besseren“ Leipziger Kreisen von Geheimräten und Professoren. Einmal wurde er nur als „Schwiegersohn von Georg Ebers“ vorgestellt, woraufhin er sich verneigte und mit seinem schlagfertigen Humor antwortete: „Weiter nichts“!46 Begabung und Erfolg stiegen Triepel nie zu Kopfe. Selbst als Rektor in Näher Gassner, a. a. O. (Anm. 2), S. 298 ff. Triepel, Heinrich, Staatsrecht und Politik (Rektoratsrede in Berlin am 15. 10. 1926), Berlin und Leipzig 1927, S. 19 und 37. 44 Grimm, Dieter, Recht und Politik, in: JuS 1969, S. 501 – 510 (502). 45 Personal-Verzeichnis der Universität Leipzig für das SS 1893, S. 8. 42 43
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Berlin, als ihm ein Dienstwagen zur Verfügung stand, fuhr er im Omnibus zur Universität.47 Soziales Engagement – z. B. als Armenpfleger in Leipzig und später in Berlin als Kirchenvorsteher seiner Gemeinde – war Triepel eine selbstverständliche Christenpflicht. Parallel zum Promotions- und Habilitationsverfahren betrieb Triepel sein juristisches Fortkommen in der forensischen Praxis. Nach seiner ersten juristischen Staatsprüfung trat er 1890 am Amtsgericht Leipzig den vierjährigen juristischen Vorbereitungsdienst an, übernahm nebenbei immer wieder amtsanwaltliche Aufgaben oder Tätigkeiten bei der Leipziger Rechtanwaltskanzlei Heinrich Erlers, der ihm sogar eine Kanzleiübernahme anbot. Die Rechtsanwaltstätigkeit als Lebensperspektive schloss Triepel dann aber letztlich ebenso aus wie die Richterlaufbahn, welche er nach erfolgreichem Abschluss der 2. Juristischen Staatsprüfung im Juni 1894 als Assessor und Hilfsrichter am Landgericht Leipzig zunächst eingeschlagen hatte. Schon während seiner Leipziger Referendarzeit geißelte er das Juristendeutsch der Praxis mit den Worten: „Will man das Deutsch unserer Gesetze erträglich nennen, so muss man das Juristen-Deutsch der Praxis als fürchterlich bezeichnen.“48 1897 schied Triepel, der sich eine Doppelbelastung aus gesundheitlichen Gründen nicht zumuten konnte, aus dem sächsischen Justizdienst aus, um sich fortan der akademischen Laufbahn zu widmen.49 Gleichwohl verschanzte sich Triepel nie im akademischen Elfenbeinturm, sondern bewahrte zeitlebens eine gewisse Verbundenheit mit der Praxis – als Völkerrechtslehrer an der Kieler Marineakademie oder als gefragter Gutachter zu aktuellen Fragestellungen der Staatspraxis. Auch greift Triepel auf die in der landgerichtlichen Praxis gewonnenen Erfahrungen zurück. Zeitlebens bleibt er ein Wissenschaftler, der nirgends die Frage nach den möglichen praktischen Konsequenzen unterlässt.50 So beschließt Triepel sein Werk Völkerrecht und Landesrecht (1899) mit der Frage nach der Anwendbarkeit völkerrechtlicher Regeln in der gerichtlichen Praxis (S. 438 ff.). VI. Völkerrecht Die letzten Jahre in Leipzig nutzte Triepel, um sein Leipziger opus magnum Völkerrecht und Landesrecht (1899), das er seinem Lehrer und Doktorvater Binding widmete, zu Ende zu führen. Das Werk enthält eine – freilich noch streng vom positivistischen Willens- und Souveränitätsdogma der Jahrhundertwendezeit 46 Marie Triepel, Lebenserinnerungen, S. 3, zitiert bei Gassner, a. a. O. (Anm. 2), S. 46, Fn. 62. 47 Gassner, a. a. O. (Anm. 2), S. 190. 48 Leipziger Zeitung Nr. 169 v. 23. 7. 1892, S. 2729. 49 „Er wollte Dozent werden, das war sein ganzes Verlangen und entsprach auch völlig seiner Veranlagung“, hat Triepels Ehefrau Maria rückblickend vermerkt (Maria Triepel, Lebenserinnerungen, S. 2, zitiert bei Gassner, a. a. O. (Anm. 2), S. 41 Fn. 17). 50 Bilfinger, Carl, ,Heinrich Triepel 1868 – 1946‘, in: ZaöRV 1950 / 51, S. 1 – 13 (2).
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her entwickelte – Begründung der Lehre vom Dualismus der beiden Rechtskreise.51 Es befördert den Autor mit einem Schlag in die erste Reihe der deutschen Völkerrechtswissenschaft, die in Deutschland um 1900 noch ein akademisches Randgebiet war.52 Bereits 5 Jahre zuvor hatte er (als frischgebackener Assessor) seine erste völkerrechtliche Abhandlung über Die neuesten Fortschritte auf dem Gebiete des Kriegsrechts veröffentlicht.53 Das Völkerecht bildet nicht nur den Grundstein von Triepels akademischer Karriere, sondern – neben Theorie und Praxis der Staatenverbindungen und der Rechtsstaatlichkeit – gleichsam ein drittes Grundthema seines künftigen wissenschaftlichen Lebenswerkes.54 Das Völkerrecht begleitete Triepel auch auf seinen weiteren Lebensstationen: Kurz vor seinem Weggang aus Tübingen nach Kiel übernahm er die Betreuung und Herausgabe der von Friedrich v. Martens begründeten Sammlung der Völkerrechtsverträge (Recueil Martens) und führte sie bis zum Ende des 2. Weltkrieges fort. 1910 wurde er assoziiertes Mitglied des in Gent gegründeten Institut de Droit International. Als Völkerrechtslehrer an der Marineakademie in Kiel kam er mit der Praxis des Völkerrechts in Berührung, was ihn zu einigen Beiträgen zum See- und Seekriegsrecht (darunter auch eine Studie zur Geschichte des Seekrieges) animierte.55 Dem erhitzen Klima der allgemeinen „geistigen Mobilmachung“ vermochte sich Triepel, der im 1. Weltkrieg wie viele seiner Kollegen einen konsequent nationalen Standpunkt einnahm, nicht zu entziehen.56 Später äußerte er sich zu drängenden völkerrechtlichen Fragen über Versailler Vertrag und Völkerbund.57 Gleichwohl hat sich Triepel auch im Zeitalter der Haager Friedenskonferenzen nicht zu einer größeren Studie zum Ideenkreis von Haag oder Genf durchgerungen – sieht man einmal von der Leipziger Schrift über die Kriegsgefangenschaft ab. Seine Anschauungen wurzeln letztlich im traditionellen Souveränitätsbegriff, der ihn das Völkerrecht allein aus der Warte des Staates betrachten lässt: „Neuerdings halten es viele für ausgeschlossen, ein Völkerrecht auch nur zu denken, ehe nicht der hinderliche Souveränitätsbegriff über Bord geworfen ist, während ich ( . . . ) die Souveränität der Staaten geradezu als Voraussetzung für ein zwischenstaatliches Recht (sehe),“ führt er 1926 in seiner Rede zum Rektoratsantritt in Berlin aus.58 Vgl. dazu eingehend den Beitrag von Rudolf Geiger in dieser Festschrift. Stolleis, a. a. O. (Anm. 40), S. 88. 53 Die neuesten Fortschritte auf dem Gebiet des Kriegsrechts. Völkerrechtliche Bemerkungen zum Schweizer Entwurfe für eine Umgestaltung der Genfer Konventionen und zum frz. Kriegsgefangenenreglement v. 21. 3. 1893, Leipzig: Hirschfeld 1894, 55 Seiten. 54 In der Leipziger Zeit hält er lediglich einen staatsrechtlichen Vortrag über „Wahlrecht und Wahlpflicht“, gehalten in der Dresdner Gehe-Stiftung am 17. 3. 1900. 55 Näher dazu Gassner, a. a. O. (Anm. 2), S. 480 ff. 56 Im Juni 1915 unterstützt er eine von zahlreichen deutschen Intellektuellen und Hochschullehrern unterzeichnete Eingabe, welche die annexionistischen Kriegsziele der Regierung gutheißt (näher Gassner, a. a. O. (Anm. 2), S. 174 f.). 57 So etwa „Die Auslieferung des Kaisers“, in: DeuPol 4 (1919), S. 199 – 305; „Das Völkerrecht und der Weltkrieg“, in: Das neue Deutschland 2 (1913 / 1914), S. 596 – 600; „Der erste Friedensschluß“, in: RuW 7 (1918), S. 37 – 40. 51 52
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Gleichwohl bleibt es das große Verdienst Triepels, das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht und damit die Frage nach der Rechtsnatur des Völkerrechts „von den verschiedensten Seiten angepackt und dadurch eine ganze Generation zum Nachdenken über diese Frage veranlasst zu haben.“59 Als erster Deutscher hielt Triepel in der 1923 eröffneten Haager Völkerrechtsakademie seine grundlegende Vorlesung über „Les rapports entre le droit interne et le droit international“, in der er seine in Leipzig entwickelte Position noch einmal darlegte. An der Initiative zur Gründung des Berliner Kaiser-Wilhelm-Instituts für Völkerrecht im Jahre 1925 (heute MPI in Heidelberg) war Triepel maßgeblich beteiligt.60 Triepels Optimismus hinsichtlich des Völkerrechts blieb bis zum Schluss ungebrochen und geradezu visionär, denn er sah selbst angesichts des Zusammenbruchs 1945 eine „Umwälzung des Völkerrechts“ heraufkommen: „Das Völkerrecht ist heute so lebendig wie damals. Ja, es steht im Begriff, in eine neue Phase einzutreten ( . . . ).“61 VII. Leipzig als akademisches Sprungbrett Seinem Leipziger opus magnum (Völkerrecht und Landesrecht) hatte es Triepel zu verdanken, dass er 1899 zum außerordentlichen Professor an der Leipziger Juristenfakultät avancieren konnte. Die Jahrhundertwende erlebte Triepel noch in Leipzig; dann folgten Rufe an die Universität Tübingen (ab WS 1900 / 01), die ihm 1901 den Ehrendoktor der Staatswissenschaften verlieh, an die Universität Kiel (ab 1909), wo er der Reichsmarine als Völkerrechtslehrer und Berater zur Seite stand,62 und schließlich – der akademische „Olymp“ einer Hochschullehrerkarriere in der Kaiserzeit – an die Universität Berlin (ab 1913), wo er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1935 lehren sollte. Es folgten Ehrungen, wichtige Gutachtertätigkeiten, Herausgeberschaften führender Fachzeitschriften, 63 das Rektorat der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität (1926 / 27) und Mitgliedschaften in internationalen Schiedsgerichten, Verfassungsausschüssen und renommierten Vereinigungen (Institut de Droit International; Institut International de Droit Public, Ständige Deputation des Deutschen Juristentags, Staatswissenschaftliche Gesellschaft zu Berlin sowie in dem Leipziger Verein „Recht und Wirtschaft“64). Triepel war in der Weimarer Staatsrechtswissenschaft eine unangefochtene Autorität. Triepel, a. a. O. (Anm. 43), S. 36. Wehberg, Hans, ,Heinrich Triepel 70 Jahre alt‘, in: Die Friedenswarte 38 (1938), S. 39 – 41 (40). 60 Bilfinger, a. a. O. (Anm. 50), S. 13; Gassner, a. a. O. (Anm. 2), S. 146 ff. 61 Zitiert bei Gassner, a. a. O. (Anm. 2), S. 499. 62 Hierbei bescheinigte er der deutschen Marineleitung sogleich die völkerrechtliche Unbedenklichkeit eines uneingeschränkten U-Boot-Krieges gegen die englische Blockade einschließlich der Torpedierung des britischen Hilfskreuzers Lusitania im Mai 1915 (näher bei Gassner, a. a. O. (Anm. 2), S. 176). 63 1919 tritt Triepel beim AöR die Nachfolge Paul Labands an. 58 59
Der Staats- und Völkerrechtler Heinrich Triepel und Leipzig
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Triepels erfolgreiche akademische vita macht deutlich, worauf schon Bern-Rüdiger Kern aufmerksam gemacht hat:65 Die Leipziger Juristenfakultät „versorgte“ um die Jahrhundertwende andere Juristische Fakultäten mit hoffnungsvollen Nachwuchswissenschaftlern und profilierten Forscherpersönlichkeiten – exemplarisch genannt seien hier der Staats- und Völkerrechtler Walter Jellinek (1885 – 1955)66 oder der Gründer des Kaiser-Wilhelm-Instituts für internationales Privatrecht Ernst Rabel (1874 – 1955).67 Triepel repräsentiert „den Typus des deutschen Professors im besten Sinne des Wortes“ (Hollerbach).68 Seine Lebensleistung – so resümiert Smend in der eingangs zitierten Festschrift für Leibholz – „war die Frucht einer glücklichen Entwicklung, aufgrund einer glücklichen Anlage und zielbewußter Lebensarbeit ( . . . ).“69 Diese Entwicklung nahm in Leipzig ihren Anfang: Seinen Fleiß, seine umfassende Bildung und seine unbedingte Wahrheitsliebe stellte Triepel zeitlebens in den Dienst an Recht und Wahrheit. Sein Individualismus und sein in der Tradition einer vorpositivistischen Staatsrechtslehre verwurzeltes wertgebundenes Rechtsstaatsdenken machten Triepel für kollektivistische Ideologien nationalsozialistischen Zuschnitts wenig empfänglich.70 Zeitlebens – und das ist für Triepel vielleicht das größte Vermächtnis Leipzigs als der „Stadt des Rechts“ – empfindet er sich als „Enthusiast des Rechtstaats“.71
64 Der „Verfassungsentwurf“ (von 1918 / 19) dieses Vereins hatte maßgeblichen Einfluss auf die amtlichen Verfassungsberatungen für die Weimarer Reichsverfassung von 1919 unter der Ägide von Hugo Preuß (vgl. Gassner, a. a. O. (Anm. 2), S. 106 ff. (113). 65 Kern, Bernd-Rüdiger, Die Geschichte der Leipziger Juristenfakultät, in: Wissenschaftsstandort Leipzig – Die Universität und ihr Umfeld – Leipziger Universitätsverlag 1997, S. 125 ff. 66 Als Sohn des noch berühmteren Georg Jellinek habilitierte sich Walter Jellinek 1912 bei Otto Mayer in Leipzig; es folgten Rufe nach Kiel und Heidelberg. 67 Ernst Rabel habilitierte sich 1902 in Leipzig: Es folgten Rufe nach Basel, Kiel, Göttingen, München und Berlin. 68 Hollerbach, a. a. O. (Anm. 5), S. 418. 69 Smend, a. a. O. (Anm. 3), S. 606. 70 1934 wurde Triepel aufgrund „jüdischer Versippung“ aus seinem alten Corps Suevia ausgeschlossen, was ihn zutiefst erschütterte. 71 Triepel, in: VVDStRL 5 (1928), S. 28.
Victor Ehrenberg in Leipzig Von Justus Meyer
Victor Ehrenberg, der in Rostock, Göttingen und schließlich Leipzig lehrte, war einer der großen Handelsrechtler seiner Zeit und ein Pionier des Versicherungsrechts. Aus seinem reichen Werk ragen sein „Versicherungsrecht“ in Bindings systematischem Handbuch1, das zu den „monumentalen Leistungen der deutschen Rechtswissenschaft“ gezählt wurde,2 und das vielbändige „Handbuch des gesamten Handelsrechts“ heraus, das er in seiner Leipziger Zeit herausgab und das bis heute meist als „Ehrenbergs Handbuch“ zitiert wird.3 Neben einer 1924 verfassten Selbstdarstellung4 finden sich vor allem zwei Würdigungen5 und ein sorgfältig herausgegebener Briefwechsel6, die insbesondere die Göttinger Zeit betreffen. Die hiesige Skizze widmet sich vornehmlich der Person Ehrenbergs und legt dabei einen Schwerpunkt auf seine Leipziger Stationen. I. „Jüdischer Geistesadel“ in Wolfenbüttel Victor (Gabriel) Ehrenberg (* 22. 8. 1851 in Wolfenbüttel, y 10. 3. 1929 in Göttingen) entstammt dem jüdischen Bildungsbürgertum. Über die mütterliche Linie schreibt Ehrenberg in seinen unveröffentlichten „Erinnerungen“: „Die Fischels waren seit Urzeiten in Prag ansässig, sehr wohlhabend und sehr wohltätig.“7 1 V. Ehrenberg, Versicherungsrecht I, Leipzig 1893 = Binding (Hrsg.), Systematisches Handbuch der deutschen Rechtswissenschaft, III. Abt., Band 4 / 1 (digitalisiert im MPI für Europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt). 2 So das Grußwort der Tübinger Rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät zum fünfzigjährigen Doktorjubiläum, S. 3. 3 V. Ehrenberg (Hrsg.), Handbuch des gesamten Handelsrechts m. Einschluß d. Wechsel-, Scheck-, See- u. Binnenschiffahrtsrechts, d. Versicherungsrechts sowie d. Post- u. Telegraphenrechts, Leipzig 1913 ff. 4 V. Ehrenberg, Selbstdarstellung, in: H. Planitz (Hrsg.), Die Rechtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Band 1, Leipzig 1924, 59. 5 Blaurock, Victor Ehrenberg, (1851 – 1929) – „Vater der Versicherungswissenschaft“, in: F. Loos (Hrsg.), Rechtswissenschaft in Göttingen, Göttingen 1987, 316; J. v. Gierke, Viktor Ehrenberg. Seine Bedeutung für die Wissenschaft, in: Jherings Jahrbücher 82 (1932), I. 6 Keller, Victor Ehrenberg und Georg Jellinek. Briefwechsel 1872 – 1911 (2005).
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Der Großvater, David Gabriel Fischel, von dem Ehrenberg seinen zweiten Vornamen erhielt,8 ist vor allem durch die Firma „D. G. Fischel Söhne“ bekannt, die mit Bugholzmöbeln lange Zeit den Brüdern Thonet Konkurrenz machte. Die Mutter, Julie Ehrenberg, geb. Fischel (1827 – 1922), war literarisch und philosophisch interessiert, galt als Neukantianerin. Victor Ehrenberg lobt in seinen „Erinnerungen“ ihre „hohe Intelligenz, ihr selbständiges Urteil, . . . ihre reiche Phantasie“ und beschreibt sie als „das Höchste, was ich an edler, vornehmer Weiblichkeit kennengelernt habe“.9 Seinen Vater beschreibt er distanzierter: „Ein mit klugen Augen um sich schauender Mensch von klarem gerechten Urteil und gutem Verstande. Nicht geistreich, . . . auch ohne eigentlichen Drang nach wissenschaftlicher Erkenntnis und ohne künstlerische Bedürfnisse aber doch voll Verständniß für ein höheres Geistesleben.“10 Philipp Ehrenberg (1811 – 1882)11 war promovierter Philologe, wurde Nachfolger seines Vaters, Samuel Meyer Ehrenberg (1773 – 1853)12, als Leiter der Samsonschen Freischule zu Wolfenbüttel und setzte dessen Reform der ursprünglich rückständigen Talmudschule fort.13 Victor Ehrenberg wuchs mit seinen zwei Brüdern, dem zwei Jahre älteren Otto14 und dem sechs Jahre jüngeren Richard15, in der kleinen Beamtenstadt auf, 7 V. Ehrenberg, Erinnerungen, S. 2 mit Hinweis auf die wahrscheinliche Abstammung von dem berühmten Rabbi Löw (ca. 1525 – 1609). Ehrenberg hat seine Erinnerungen 1924 – 1927 von Hand geschrieben. Sie sind fragmentarisch geblieben und nachträglich paginiert. Für eine Kopie der Handschrift, die Durchsicht der Transkription und ihre zahlreichen geduldigen und hilfreichen Auskünften danke ich Frau Prof. Dr. Maria E. Ehrenberg, einer Enkelin Victor Ehrenbergs, herzlich. 8 Ein zweiter „hebräischer“ Vorname entsprach jüdischer Tradition. Der Name „Gabriel“ unterscheidet Ehrenberg von seinem Neffen, dem Althistoriker Victor (Leopold) Ehrenberg (1891 – 1976), der in Prag und nach der Emigration in London lehrte. Hauptwerk: Der Staat der Griechen, 2. Auflage, Zürich / Stuttgart (Artemis) 1965. Zu Leben und Werk insb. J. Vogt, Victor Ehrenberg, in: Gnomon 48 (1976), Sp. 423 m. w. N. 9 V. Ehrenberg, Erinnerungen (Fn 7), S. 11. 10 V. Ehrenberg, Erinnerungen (Fn 7), S. 10. 11 Braunschweiger Biographisches Lexikon, 1996, 155 f. m. w. N. 12 Vgl. insg. Zunz, Samuel Meyer Ehrenberg, Inspektor der Samson’schen Freischule zu Wolfenbüttel, Braunschweig 1854; ferner Braunschweiger Biographisches Lexikon, 1996, 156 f. m. w. N. Samuel Meyer Ehrenberg wählte den Familiennamen Ehrenberg 1806, als feste Nachnamen für Juden Pflicht wurden (V. Ehrenberg, Erinnerungen [Fn 7], S. 4). 13 V. Ehrenberg, Erinnerungen (Fn 7), S. 7; Philipp Ehrenberg, Die Samsonsche Freischule in Wolfenbüttel, Literaturblatt des Orients V (1844), 65; ders., Die Samsonschule in Wolfenbüttel, Allgemeine Zeitung des Judenthums 1859, Nr. 23. 14 Otto Ehrenberg (1849 – 1928) verließ fünfzehnjährig das Elternhaus und war später in Hamburg im Bankwesen tätig. Er ist Vater des Theologen Hans Ehrenberg (1886 – 1929). 15 Richard Ehrenberg (1857 – 1921), Nationalökonom in Rostock. Hauptwerk: Das Zeitalter der Fugger. 2 Bde. Jena 1896; vgl. im Übrigen den Catalogus Professorum Rostochiensium (www. cpr.uni-rostock.de) und die Beiträge in Buchsteiner / Viereck (Hrsg.), „In der Wissenschaft stehe ich allein.“ – Richard Ehrenberg 1857 – 1921 (2008).
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die er als „kleinlich, ja dürftig“ beschreibt. „Die kleine jüdische Gemeinde kam für den gebildeten Umgang überhaupt nicht in Betracht“, und im Übrigen pflegten die Eltern zwar teils auch näheren Kontakt zu „manchen der sogenannten ersten Familien“, wie etwa dem Leiter der berühmten Herzog August Bibliothek, „aber wegen ihres Judentums hatte die Sache doch einen Haken“.16 Victor besuchte wie seine Brüder zunächst die väterlich geleitete Samsonschule (1859 – 1865)17 und bis Ostern 1871 das Wolfenbütteler Gymnasium, das nur er mit dem Abitur abschloss. Die vom jüngeren Bruder verfasste Familiengeschichte beschreibt die Ehrenbergs und Fischels als „Familien des jüdischen Geistesadels“.18 Auch Victor Ehrenbergs Erinnerungen beschreiben die zuhause gepflegten jüdischen Traditionen und diagnostizieren andererseits einen gewissen „Bildungshochmut . . . , der eigentlich unerträglich war, und gegen den ich während meines ganzen Lebens in meiner eigenen Seele und in der Seele meiner Kinder . . . ankämpfen musste“.19 Der Vater „war innerlich ganz frei von allen Gebräuchen und Anschauungen jüdischer Orthodoxie. Er fühlte sich als Deutscher, ohne jeden Widerspruch mit seinem aufgeklärten, gottgläubigen Judentum, zu dem er mit seinem Verstande sich bekannte und an dem er mit seinem Herzen hing.“20 Man besuchte die Synagoge, beging die jüdischen Feiertage; den Kindern war das Schreiben am Sabbat verboten (während der Vater hinter zugezogenen Vorhängen seinen Verwaltungsgeschäften nachging).21 1864 wurde Victors Bar-Mizwa gefeiert, 1865 seine Konfirmation.22 Viel wirksamer war allerdings die klassische bürgerliche Bildung der Söhne. In Wolfenbüttel war das Bild der Freundschaft zwischen Mendelssohn und Lessing sehr gegenwärtig, und das Leitmotiv der bürgerlichen Gleichstellung durch Bildung scheint immer wieder im elterlichen Briefwechsel mit der Familie Zunz durch wie auch in den Erziehungszielen, die der Vater für die Samsonschule forV. Ehrenberg, Erinnerungen, (Fn 7), S. 7 und 26 f. (daraus auch die folgenden Zitate). M. Rosenstock (Hrsg.), Festschrift zur hundertjährigen Jubelfeier der Samsonschule zu Wolfenbüttel, Wolfenbüttel 1886 mit „Chronologischem Verzeichnis der Zöglinge“, S. 21 ff. (Eintrag Nr. 260 auf S. 29). 18 Richard Ehrenberg, Die Familien Ehrenberg und Fischel. Ein Beitrag zur Geschichte des Idealismus (1918). Ich danke Herrn Prof. Dr. Hans Peter Herrmann, einem Enkel Richard Ehrenbergs, und dem Universitätsarchiv Rostock für die Überlassung einer Kopie des maschinenschriftlichen Manuskripts. 19 V. Ehrenberg, Erinnerungen (Fn 7), S. 24 f. 20 V. Ehrenberg, Erinnerungen (Fn 7), S. 10. Ganz ähnlich heißt es bei seinem Bruder: „Die Ehrenbergs wussten ihr Judentum besonders trefflich mit ihrem Deutschtum zu vereinigen, wobei freilich das erstere allmählich etwas in den Hintergrund rückte.“ (Richard Ehrenberg, Die Familien Ehrenberg und Fischel [Fn 18], S. 30). 21 V. Ehrenberg, Erinnerungen, (Fn 7), S. 10 f. 22 L. Zunz, Gratulationsbrief v. 26. 8. 1864 bei Glatzer, Leopold und Adelheid Zunz. An Account in Letters (1958), 433; Maria E. Ehrenberg, Brief an Justus Meyer v. 4. 7. 2008, S. 2, mit Hinweis auf die Konfirmationsurkunde v. 16. 9. 1865 in ihrem Besitz. 16 17
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mulierte. Es passt in dieses Bild, wenn Victor Ehrenberg sich selbst als oft kränkelnden und mäßigen Schüler beschreibt, davon aber Geschichte und Literatur ausdrücklich ausnimmt,23 und die zahlreichen Zitate aus den „vier Evangelien von Kant, Lessing, Schiller, Göthe“ im Briefwechsel von Victor Ehrenberg und Georg Jellinek24 belegen, wie sehr diese Erziehung gefruchtet hat und wie sehr sich die Studenten ihrer Zugehörigkeit zum jüdisch-deutschen Bildungsbürgertum vergewissern mussten. II. Student in Leipzig Ehrenberg entschied sich nach langen Diskussionen im Elternhaus gegen ein Studium der Geschichte und wählte „ohne Begeisterung, aber auch ohne Widerwillen“ das Jurastudium.25 Nach einem Sommersemester in Göttingen wechselte er zum Winter 1871 / 72 nach Leipzig. Über die nun 600 Jahre alte Universität schreibt er: „Die Universität nahm nach dem Kriege einen großen Aufschwung, besonders juristische Studenten, deutsche wie ausländische, strömten herbei . . . damals kam Leipzig in Mode.“26 Tatsächlich hatte Leipzig 1870 (wieder) die Einwohnerzahl einer Hauptstadt erreicht. 1867 komplettierte das Neue Theater am Augustusplatz das Ensemble um den Universitätssitz im Schinkelschen Augusteum. 1869 kam das spätere Reichsoberhandelsgericht nach Leipzig. Bis 1875 wuchs die Einwohnerzahl auf 125.000, und die Juristenfakultät, die mit berühmten Namen wie v. Gerber und Wächter aufwarten konnte, verdoppelte ihre Studentenzahl in dieser Zeit auf über 1.000 und überflügelte bald sogar die Berliner Fakultät.27 Ehrenberg bezog ein Zimmer in der Emilienstrasse28 und führte mit elterlicher Unterstützung ein behagliches Studentenleben.29 Er hörte, der Zeit entsprechend, vor allem Vorlesungen zur Pandektenlehre (bei Wächter und A. Schmidt) und Rechtsgeschichte (bei Albrecht und Stobbe). Zudem besuchte er Roschers Vorlesung zur Nationalökonomie sowie „nebenher“ literarische, philosophische und V. Ehrenberg, Selbstdarstellung (Fn 4), 59. S.o. Fn 6; Zitat aus Jellinek, Brief an Ehrenberg v. 19. 5. 1873. 25 V. Ehrenberg, Selbstdarstellung (Fn 4), 59. 26 V. Ehrenberg, Selbstdarstellung (Fn 4), 60. Daraus auch die folgenden Zitate. 27 Titze, Wachstum und Differenzierung der deutschen Universitäten 1830 – 1945, Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte I / 2 (1995), insb. S. 416. 28 Emilienstraße 1, 3. Etage. Das Haus an der Ecke zum Peterssteinweg (heute LVZ-Gelände) ist zerstört. 29 Vgl. insb. den Briefwechsel zwischen Ehrenberg und Jellinek (Fn 6): Während Jellinek die steigenden Preise in Leipzig beklagt („Das Essen im Theater ist um einen Groschen, der Kaffee um einen halben gestiegen“, vgl. Briefe v. 26. 3. und 9. 11. 1872), stellt Ehrenberg gemeinsames „Spazierengehen und Geldausgeben“ in Aussicht, da seine Eltern ihn „so reich wie eine Braut ausstatten wollen“ (Brief v. 25. 11. 1872). 23 24
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historische Veranstaltungen. In seiner Selbstdarstellung kritisiert er den damals üblichen diktierenden Vorlesungsstil ausführlich und fällt über seine Jura-Professoren in Leipzig (wie in Göttingen und Heidelberg) kein günstiges Urteil.30 Auch ein größerer Einfluss Levin Goldschmidts wird nicht sichtbar. Der berühmte Handelsrechtler, der als erster jüdischer Jurist eine glänzende akademische Karriere machte und von 1870 – 1875 als Reichsoberhandelsgerichtsrat in Leipzig lebte, war mit Ehrenbergs Eltern bekannt. In Ehrenbergs Selbstdarstellung wird er aber nur kurz erwähnt, und es heißt dort später, erst in Straßburg habe er bei Laband und vor allem Sohm „die erste persönliche Fühlung mit juristischen akademischen Kreisen“ gewonnen.31 Auch der erhaltene Briefwechsel beginnt erst später.32 Gleichwohl hat Ehrenberg seine Leipziger Semester als besonders wertvolle Zeit erlebt, denn er lernte, autodidaktisch zu studieren, und erfuhr durch das geistige Klima in Stadt und Universität, den Mittagstisch im Theaterrestaurant und zahlreiche Begegnungen, die teils in lebenslange Freundschaften mündeten, ganz entscheidende Impulse für seine Bildung.33 In der rasch wachsenden jüdischen Gemeinde34 lernte er im Haus des Rabbiners A. M. Goldschmidt Georg Jellinek kennen, der lebenslang ein enger Freund bleiben sollte.35 Ehrenberg beschreibt ihn als „geistreich, witzig, vielseitig, gebildet“ und resümiert: „Ich habe unendlich viel von ihm gelernt, wenn auch nichts Juristisches“.36 Ein enger Freund und auch juristischer Wegbegleiter wurde Horaz Krasnopolski. Auch der Kontakt zu Ernst Zitelmann hat seine Wurzeln in Leipzig, intensivierte sich aber erst später. Kennzeichnend ist auch die Freundschaft zu Wilhelm Windelband, der sich in Leipzig habilitierte. Die Verbindung zu dem Neukantianer war so eng, dass Ehrenberg ihm versprach, sein erster „Famulus“ zu werden. Die Pläne zerschlugen sich allerdings durch Ehrenbergs Krankheit.37 30 Selbstdarstellung (Fn 4), 59 ff.: „Wächter . . . ein Siebziger“, „A. Schmidt . . . ein Mann ohne Geist“, Albrecht ein „Greis mit dünner Stimme“, „Stobbe . . . kein origineller Geist und kein zündender Dozent“. 31 Selbstdarstellung (Fn 4), 65 und 67. 32 Nachlass Victor Ehrenberg, Staatsbibliothek Berlin, Handschriftenabteilung. Die Mappe Levin Goldschmidt enthält 22 Briefe und eine Postkarte aus dem Zeitraum 1873 – 1887. Goldschmidts erster Brief v. 19. 10. 1873 geht von Leipzig nach Heidelberg und enthält insb. einige juristische Leseempfehlungen. 33 V. Ehrenberg, Selbstdarstellung (Fn 4), 62 f. 34 Vgl. nur Schäbitz, Juden in Sachsen – jüdische Sachsen?: Emanzipation, Akkulturation und Integration 1700 – 1914 (2006), insb. 236 ff., 271 ff. und 315 ff. 35 Abraham Meyer Goldschmidt war der Nachfolger von Jellineks Vater Adolf (Aron), der 1855 die Große Synagoge in der Gottschedstraße einweihte. A. M. Goldschmidt führte mit seiner Frau, der Frauenrechtlerin Henriette, in der Rosent(h)algasse ein offenes Haus. Vgl. insg. Siebe / Prüfer, Henriette Goldschmidt – Ihr Leben und Schaffen (1922), insb. 29 f.; Kempter, Die Jellineks 1820 – 1955 (1998). 36 V. Ehrenberg, Selbstdarstellung (Fn 4), 62; ausführlich zu beider Freundschaft Keller (Fn 6).
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Ehrenberg war „von Kindheit an . . . sehr an Krankheiten gewöhnt“38, litt an Asthma und Lungenentzündungen. Schon den Schulbesuch musste er vielfach unterbrechen, hütete als Neunjähriger für ein halbes Jahr durchgehend das Bett. Auch das Studium war durch seine Krankheit beeinträchtigt. Nach dem Sommersemester 1872 muss er erneut monatelang gepflegt werden, das Wintersemester beginnt er verspätet und gegen ärztlichen Rat. Das Wintersemester 1872 / 73 ist Ehrenbergs letztes in Leipzig. Das weitere Studium wird krankheitsbedingt immer mehr zerrissen. Das Sommersemester verbringt Ehrenberg aus gesundheitlichen Gründen in Heidelberg, die Sommerferien krankheitsbedingt im Schwarzwald. Mehrere Rückfälle zerschlagen die Hoffnung auf eine Rückkehr nach Leipzig. Zum Wintersemester geht er nach Freiburg, zum Sommersemester 1874 zurück nach Göttingen. Im Sommer wird er ausgemustert, im Herbst erkrankt er erneut, geht im Januar 1875 für knapp ein halbes Jahr nach Italien. Danach bereitet er sich bei seinen Eltern auf das Doktorexamen vor. III. Der Weg in die Rechtswissenschaft Ehrenberg ging auch in Heidelberg seinen philosophischen wie juristischen Interessen nach, hörte bei Windelbands Lehrer Kuno Fischer ebenso wie Renauds Vorlesung zum Deutschen Privat- und Handelsrecht, Wechsel- und Seerecht. Hier wurde allerdings nicht sein Interesse für das Handelsrecht geweckt. Vielmehr wurde er durch eine Lücke in den üblichen historischen Einleitungen auf ein Thema der deutschen Rechtsgeschichte aufmerksam, das er in Freiburg und Göttingen autodidaktisch zur Doktorarbeit aufbereitete.39 Ehrenberg sieht deutlich, dass er – Sohn seines Vaters – nüchterner und praktischer veranlagt ist als seine Freunde Jellinek und Windelband. In einem Brief an Jellinek wendet er sich gegen das „Dogma von der alleinseligmachenden Philosophie“ und erklärt sein rechtshistorisches Interesse: Gerade in der sehr praktischen Rechtswissenschaft stehe die Philosophie, „wenn sie nicht von der historischen Erkenntnis gehörig gezügelt wird, sofort in der leeren Luft“. Er beschwört Schillers Huldigung der Künste: Erst aus der Kräfte schön vereintem Streben erhebe wirkend sich das wahre Leben. „Mir war von jeher die größte Freude, Werdendes zu betrachten . . . ; Werdendes betrachten heißt aber historisch betrachten.“40 37 Vgl. die Briefe Windelbands an Ehrenberg v. 24. 10. und 13. 12. 1872 (Nachlass Ehrenberg [Fn 32] Mappe Windelband) und den Briefwechsel Ehrenberg – Jellinek v. 16. 11. und 1. 12. 1862 (Fn 6). 38 Brief Ehrenbergs an Jellinek v. 2. 12. 1872. Aus dem Briefwechsel (Fn 6) auch die folgenden Angaben. 39 V. Ehrenberg, Selbstdarstellung (Fn 4), 63 ff. 40 V. Ehrenberg, Brief an Jellinek v. 1. 1. 1874 (Fn 6), Hervorhebung (Unterstreichung) im Original.
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Als Ehrenberg 1874 / 75 krankheitsbedingt seine Vorbereitungen zum Referendarexamen unterbrechen muss, reift zugleich – auch aus Gesundheitsgründen – der noch bange Plan, eine akademische Karriere einzuschlagen. Nachdem er noch im März 1876 in Göttingen summa cum laude promovierte,41 setzte er seinen rechtshistorischen Weg fort, indem er „das im Sommer damals noch recht ungesunde Straßburg“ aufsuchte. Hier zog ihn vor allem Rudolf Sohm in seinen Bann, und es entstand eine lebenslange Freundschaft. Sohms fachlicher Einfluss wird vor allem in Ehrenbergs Habilitationsschrift zum Lehnswesen42 deutlich, die ihm auch gewidmet ist. Ehrenberg hielt seine Probevorlesung zu den Perioden der deutschen Rechtsgeschichte und habilitierte sich noch im Sommer 1877 – mit 26 Jahren – in Göttingen. Hier lehrte Ehrenberg bis Anfang 1882 als Privatdozent für Deutsches Privatrecht und Handelsrecht. Die Selbstdarstellung erklärt die Schwerpunktbildung im Handels- und Seerecht damit, dass die „germanistischen Disziplinen“ durch vier Professoren vertreten waren, so dass er sich vornehmlich auf Nebengebiete beschränkte. Ehrenberg nutzte aber schon die Sommerferien 1877 nach der Habilitation, um seinen Bruder Otto in Hamburg zu besuchen und in der Commerzbibliothek zu arbeiten. Beide Brüder waren in dieser Zeit als Bankkaufleute tätig,43 und so übten wohl auch Ehrenbergs nationalökonomische Interessen und seine Neigung zur praktischen Anschauung ihren Einfluss aus, als er den Weg zum Handelsrechtler einschlug.44 Von 1877 bis 1880 erarbeitete Ehrenberg seine umfangreiche Studie zur beschränkten Haftung des Schuldners im See- und Handelsrecht, das rechtshistorische und rechtsvergleichende Analysen verband.45 Er verfolgte die englische, französische und italienische Entwicklung, bewunderte die französischen Seerechtler des 18. Jahrhunderts und lernte durch die modernere französische Literatur und Rechtsprechung ein „freies Schalten mit dem Gesetzestext“ kennen, das er „fortan zur Richtschnur“ seiner „literarischen und dozentischen Tätigkeit“ machte.46 In dieser Zeit kam es noch zu zwei weiteren Weichenstellungen – in Leipzig und Göttingen. 41 V. Ehrenberg, Das freie Gesinde im fränkischen Reich, Diss. Göttingen 1876 (unveröffentlicht). 42 V. Ehrenberg, Commendation und Huldigung nach fränkischem Recht, Weimar (Böhlau) 1877. 43 Otto Ehrenberg war Geschäftsführer des Bankhauses M.M. Warburg; dorthin ging seinerzeit auch die Post an Victor Ehrenberg. Richard Ehrenberg hatte eine Banklehre und eine Buchhandelslehre absolviert. 44 Über Ehrenbergs „pragmatisches Rechtsverständnis“ auch Blaurock (Fn 5), 318; v. Gierke (Fn 5), S. IV. 45 V. Ehrenberg, Beschränkte Haftung des Schuldners nach See- und Handelsrecht, Jena (Fischer) 1880 (Reprint 2007; digitalisiert im MPI für Europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt). 46 Vgl. das Vorwort (vorige Fn) sowie die Selbstdarstellung (Fn 4), 72 f. (daraus die Zitate).
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IV. Begegnung mit Binding in Leipzig Ehrenberg nutzte die Winterpause 1880 für einen fünfwöchigen Besuch bei seinem anderen Bruder Richard, der mittlerweile in Leipzig eine Anstellung im Buchhandel hatte.47 Victor Ehrenberg sammelte für sein see- und handelsrechtliches Erstlingswerk Material in der Bibliothek des Reichsgerichts, die auch über einen reichen Bestand an französischer Literatur verfügte. Hier begegnete Ehrenberg Karl Binding, der seit 1873 an der Leipziger Juristenfakultät lehrte und seit einiger Zeit als Herausgeber des „Bindingschen Handbuchs“ tätig war.48 Es „war eigentlich eine völlige Überrumpelung“, heißt es in der Selbstdarstellung.49 Ehrenberg berichtete vom Gegenstand seines bald abgeschlossenen Werks, und Binding bot ihm darauf die Darstellung des Seerechts in dem projektierten Handbuch an. Ehrenberg fürchtete, dass er „das Seerecht für einige Zeit satt haben würde, brachte aber das Versicherungsrecht ins Spiel. In seinem Buch zur beschränkten Haftung beschreibt er „das Versicherungsrecht als selbständige Disziplin“, die sich vom Handels- und vom Seerecht losgelöst hatte50, war aber während seiner Studien auch darauf aufmerksam geworden, dass die deutsche Literatur es bislang wenig durchdrungen hatte. Binding ergänzte darauf den Gesamtplan des Handbuchs und ließ Ehrenberg „nach wenigen Tagen“ den Entwurf eines Verlagsvertrags zusenden. Der im Juni 1880 unterzeichnete Vertrag sah die Fertigstellung des ersten Bandes zu den allgemeinen Lehren bis 1885 vor, und Ehrenberg erhielt einige, teils etwas gereizte Briefe Bindings, bis der Band 1893 erschien.51 Zur Fertigstellung des zweiten Bandes, der die einzelnen Versicherungszweige behandeln sollte, kam es nie. Gleichwohl war hier, im Februar / März 1880 in Leipzig, der entscheidende Anstoß für Ehrenbergs Pionierleistungen im Versicherungsrecht erfolgt. V. „Verbindung mit einem christlichen Mädchen“ Die andere zentrale Weichenstellung jener Zeit ergab sich im Hause Rudolf v. Jherings, in dem Ehrenberg als Göttinger Privatdozent verkehrte. Hier lernte er dessen Tochter Helene kennen, und vielleicht ist sie bereits gemeint, wenn er im Januar 1878 schreibt, er sei augenblicklich sehr „mit Courmachen und Schlittschuhlaufen“ beschäftigt.52 Jedenfalls hält Ehrenberg im Frühjahr 1879 brieflich M. Buchsteiner in Buchsteiner / Viereck (Fn 15), 11, 12. Vgl. hierzu Losano, Der Briefwechsel Jherings mit Unger und Glaser (1996), S. 191 f. mit Wiedergabe des damaligen Planungsstands. 49 Vgl. auch zum Folgenden V. Ehrenberg, Selbstdarstellung (Fn 4), 73 f. (Zitat S. 74). 50 V. Ehrenberg, Beschränkte Haftung des Schuldners nach See- und Handelsrecht (Fn 44), 398. 51 S.o. Fn 1. Vgl. den Nachlass Ehrenberg (Fn 32), Mappe Binding (9 Briefe 1880 – 1907). 52 V. Ehrenberg, Brief an Jellinek v. 29. 1. 1878, bei Keller (Fn 6) mit Anm. 1. 47 48
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um ihre Hand an. Jhering äußert jedoch deutlich seine Bedenken, wie er später schreibt, „dass er nämlich noch Privatdozent ist“, und dazu kam noch, „dass er Jude ist und, wie ich hinzufüge, auch bleiben wird, was ich an ihm respectire“.53 Der Schwiegervater verlangte nicht den Übertritt zum Christentum, aber gesicherte Verhältnisse, und eine Professur ohne Übertritt war weiterhin schwer zu erlangen und rückte durch den von Treitschke ausgelösten Antisemitismusstreit wohl noch in größere Distanz.54 Ehrenberg schätzte die Familientradition hoch, spürte sicher die familiären Erwartungen. Er hatte auch als Student in Leipzig in der jüdischen Gemeinde verkehrt und hatte auch als Privatdozent im Familienkreis das Wirken des väterlichen Erbes noch einmal betont.55 Gleichzeitig drängten selbst Freunde wie Sohm zum Übertritt.56 Die Zeit verrann, seine bürgerliche Existenz erschien Ehrenberg immer gefährdeter, und der Weg zu Heirat und Familie war verstellt. Der wachsende Druck führte dazu, dass Ehrenberg im Spätsommer 1881 doch konvertierte. Nun ging alles ganz schnell. Noch im Herbst 1881 plante die Göttinger Fakultät eine Berufung in ein Extraordinariat, 57 doch bereits am 4. März 1882 erhielt Ehrenberg den Ruf an die Universität Rostock – eine erstaunliche Duplizität nach immer bangerer fünfjähriger Privatdozentenzeit. Noch im gleichen Monat, am 28. März 1882 fand die christliche Trauung mit Helene v. Jhering statt. Am 31. Januar 1883 wurde ihr Sohn Kurt geboren.58 Der zweite Sohn Rudolf kommt im Herbst des folgenden Jahres zur Welt,59 die Tochter Hedwig sieben Jahre später in Göttingen.60 Eine traditionsbewusste Familie mit R. v. Jhering, Brief an Glaser v. 3. 8. 1879, bei Losano (Fn 48), 185. Vgl. nur Hammerstein, Antisemitismus und deutsche Universitäten (1995), 48 f. 55 Ein Cousin seines Vaters, der Bibliothekar Dr. Meyer Isler, und seine Frau Emma schrieben ihrer Tochter Sophie Magnus am 14. 8. 1877 über Ehrenbergs Hamburg-Besuch, er spreche „mit grosser Liebe von seinem Vater, der besonders durch seine Religionsstunden grossen Einfluss auf ihn gehabt hat.“ (Der Briefwechsel ist unveröffentlicht. Ich danke Prof. Dr. Hans Peter Herrmann und seiner Frau für die Überlassung der Auszüge). 56 In seinem Glückwunsch zur Verlobung heißt es: „Möchte . . . Ihre Verbindung zu einem christlichen Mädchen Ihnen ein kräftiger Impuls auf diesem Wege sein!“ (Sohm, Brief an Ehrenberg v. 9. 4. 1879, Nachlass Ehrenberg, Mappe Sohm, Blatt 100; Wiedergabe bei Keller [Fn 6], 76). 57 L. Goldschmidt hatte sich an Minister Göppert gewandt (vgl. Keller [Fn 6], 65 f.), und Thöl regte in der Göttinger Fakultät ein entsprechendes Ersuchen an (vgl. Blaurock [Fn 5], 3209). 58 Kurt Ehrenberg arbeitete als promovierter Architekt in München, Berlin und Karlsruhe, verfasste eine „Baugeschichte von Karlsruhe 1715 – 1870“ (Karlsruhe 1908) und emigrierte 1939 wegen seiner jüdischen Frau. 59 Rudolf Ehrenberg (1884 – 1969) wurde Professor für Physiologie (vgl. noch Fn 121). 60 Hedwig Ehrenberg (1891 – 1972) heiratete 1913 den späteren Nobelpreisträger Max Born. Beide lebten 1921 – 1933 in Göttingen und emigrierten dann wegen seiner jüdischen Herkunft nach England; vgl. nur Einstein / Born / Born, Briefwechsel 1916 – 1955 (1986); Born, Hedwig / Born, Max, Der Luxus des Gewissens. Erlebnisse und Einsichten im Atom53 54
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bemerkenswertem Stammbaum. Vater und Onkel hatten ihre Herkunft bis zum Rabbi Löw zurückverfolgt61, und die mütterliche Seite hat ihre Abstammung bis zu Martin Luther erforscht; Helene Ehrenberg verwahrte noch das Hochzeitskleid seiner Frau Katharina.62 Mit der privaten Verbindung wuchs auch Ehrenbergs Nähe zu Jherings Gedankenwelt. Seine Selbstdarstellung berichtet, dass er als Student im Sommer 1874 durch Jherings praktisch-exegetische Übung „Neigung auch für die Wissenschaft des geltenden Rechts“ gewonnen, seine Vorlesungen aber nicht besucht hatte und auch seinen „Zweck im Recht“ zunächst nicht recht wahrnahm, nun aber „Jherings unbedingter und begeisterter Anhänger“ wurde.63 Jherings historisch fundierter teleologischer Ansatz verstärkte den Impuls, den Ehrenberg durch seine rechtsvergleichenden Studien erhalten hatte. So wie die Habilitationsschrift deutlich den Einfluss Sohms erkennen lässt, schimmert dieser Ansatz etwa durch, wenn in dem 1880 erschienenen Werk bereits in der Einleitung die verschiedenen Regeln zur beschränkten Haftung auf wenige Grundprinzipien zurückgeführt werden.64 Jhering schrieb: „Auch in der wissenschaftlichen Richtung steht er mir sehr nahe, nur unser Fach ist verschieden“65. VI. Der Ordinarius in Rostock und Göttingen „Ordinarius, Gatte, Vater!“, Jellineks Gratulation zum ersten Sohn66 charakterisiert die Situation und das Lebensgefühl Ehrenbergs wohl sehr treffend. Er selbst schilderte seinem Bruder Richard „dass er es sehr angenehm in Rostock findet in Bezug auf das Verhältnis zu einer Reihe von jungen Professoren, mit deren Familien er und seine Frau verkehren; es wären nur nicht genug Studenten dort.“67 Er hielt an der kleinen Fakultät viele verschiedene Vorlesungen vor kleinem Auditorium; sieben Studenten im Handelsrecht, fünf in der Rechtsgeschichte.68 Daneben nahmen seine Vorarbeiten zum „Versicherungsrecht“ breiten Raum ein. Bezeichnend wiederum, welchen Stellenwert die Aufbereitung der rechtstatsächlichen Grundlagen für Ehrenberg hatte. „Ich fühlte die Notwendigkeit, das zeitalter (1969); Schäfer-Richter u. a. (Hrsg.), Die jüdischen Bürger im Kreis Göttingen 1933 – 1945 (Göttingen 1982), 44. 61 S.o. Fn 7. 62 Vgl. nur Mendes-Flohr, Jüdische Identität (2004), 92 ff. 63 V. Ehrenberg, Selbstdarstellung (Fn 4), 66, 72 f. (Zitate von S. 66 und 73, Hervorhebung im Original). 64 V. Ehrenberg, Beschränkte Haftung des Schuldners nach See- und Handelsrecht (Fn 45), 19 ff. 65 R. v. Jhering, Brief an Glaser v. 3. 8. 1879, bei Losano (Fn 48) S. 185. 66 Jellinek, Brief an Ehrenberg v. 2. 2. 1883 (Fn 6). 67 Emma und Meyer Isler, Brief an Sophie Magnus v. 4. 10. 1882 (Fn 55). 68 V. Ehrenberg, Selbstdarstellung (Fn 4), 75; Brief an Jellinek v. 14. 6. 1882 (Fn 6).
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Versicherungswesen auch von der praktischen Seite kennenzulernen“, heißt es in der Selbstdarstellung, „und benutzte die großen Herbstferien zur informatorischen Tätigkeit bei einem angesehenen Hamburger Assekuranzmakler“. Der jung Verheiratete und werdende Vater besuchte also nach seinem ersten Rostocker Semester erneut die Brüder, arbeitete sich in das Versicherungsgeschäft ein, sammelte Material wie Rückversicherungsverträge, Schiedssprüche und dergleichen. Diese Arbeit schlug sich zunächst in einer Reihe versicherungsrechtlicher Veröffentlichungen nieder. Insbesondere zwei umfangreiche Arbeiten zur Rückversicherung und Lebensversicherung69 sind als Pionierleistungen einzustufen und zeigen, wie wichtig es Ehrenberg ist, bei der Analyse eines Rechtsinstituts „über den Zweck und die wirthschaftliche Bedeutung des ganzen Instituts vorab ins Reine zu kommen“.70 Dementsprechend mischt sich auch in Ehrenbergs Nachruf auf Thöl immer wieder deutliche methodische Kritik.71 Gleichzeitig bemühte Ehrenberg sich um einen Ruf an eine größere Fakultät. In der Korrespondenz finden sich Hinweise, dass er in Würzburg und Halle im Gespräch war und mit der Nachfolge Sohms geliebäugelt hatte, als dieser nach Leipzig wechselte.72 Schließlich wurde er im Juli 1887 – im zweiten Anlauf – in Göttingen auf den Lehrstuhl für Deutsches Privatrecht, Handelsrecht und Rechtsgeschichte berufen.73 Hier wirkte Ehrenberg zunächst an der Seite seines Schwiegervaters und trat in die Redaktion der Jheringschen Jahrbücher ein. In der Selbstdarstellung heißt es: Diese „vier Jahre gehörten durch den nahen, fast täglichen Verkehr mit Jhering zu den glücklichsten und reichsten meines Lebens“.74 Nach seinem Tod übernahm er in der Redaktion der „Jahrbücher“ die führende Rolle75 und gab mit Helene mehrere Werke aus dessen Nachlass heraus.76 69 V. Ehrenberg, Die Rückversicherung. Festschrift der Rostocker Juristen-Facultät. Georg Beseler zu seinem 50jährigen Doctor-Jubiläum am 6. Januar 1885, Hamburg / Leipzig (Voss) 1885 = Rostock (Adler) 1885; V. Ehrenberg, Die juristische Natur der Lebensversicherung, in: ZHR 32 (1886), 409 ff. und ZHR 33 (1887), 1 ff. 70 V. Ehrenberg, Die Rückversicherung (1885) 5; vgl. auch die Darstellung der „wirtschaftlichen und socialen Grundlagen“ und der geschichtlichen Entwicklung in ders., Versicherungsrecht I (Fn 1), 3 ff. und 25 ff.). 71 Vgl. V. Ehrenberg, Heinrich Thöl, ZHR 31 (1885), 564 ff.; zu seiner logisch deduktiven Methode heißt es z. B. S. 568: „Zu welchen bald absonderlichen, bald gefährlichen Rechtssätzen wusste er auf diesem Wege zu gelangen! Weit hinter ihm im wesenlosen Scheine lagen dann die Bedürfnisse des Verkehrs, die Anforderungen des praktischen Lebens . . .“. 72 Rümelin, Brief v. 15. 10. 1886; Loening, Brief v. 23. 3. 1987; Sohm, Brief v. 13. 6. 1887, alle im Nachlass Ehrenberg (Fn 32); zusammenfassend Keller (Fn 6), 87 ff. 73 1884 hatten Fakultät und Ministerium Richard Schröder vorgezogen. Nach seinem Weggang nach Berlin schlug die Fakultät Andreas Heusler und Ehrenberg vor, und das Ministerium berief Ehrenberg; ausführlich dazu Blaurock (Fn 5), 320 f. 74 Fn 4, S. 76 (Hervorhebung im Original). 75 v. Gierke (Fn 5), S. XXII. 76 Insb. zwei Bände aus dem Material für Jherings Band zu Bindings Handbuch: Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts (1894) und Vorgeschichte der Indoeuropäer (1894).
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Vor allem erlebte Ehrenberg aber in Göttingen eine lange und reiche Schaffenszeit auf dem Gebiet des Versicherungsrechts.77 Er pflegte eine umfangreiche Gutachtertätigkeit und beteiligte sich auf Anregung des Nationalökonomen Wilhelm Lexis mit dem Mathematiker Felix Klein an der Gründung des Seminars für Versicherungswesen, das 1895 / 96 seinen interdisziplinären Vorlesungsbetrieb aufnahm und das Vorbild für alle späteren Gründungen ähnlicher Institute wurde. Er war einer der Gründer und langjähriges Ausschussmitglied des Vereins für Versicherungswesen und aufgrund eines Beratervertrags mit der Reichsjustizbehörde an der Entstehung des Versicherungsaufsichtsgesetzes von 1901 und des Versicherungsvertragsgesetzes von 1908 beteiligt, die er auch literarisch begleitete.78 Hinzu kamen die Tätigkeit im Beirat des Reichsaufsichtsamts und die Tätigkeit als Aufsichtsrat in Versicherungsunternehmen. Das Prorektorat 1904 / 1905 und verschiedene Ehrungen runden das Bild ab, und auch durch die sehr verzögerte Ernennung zum Geheimen Justizrat, mit der sich die Regierung für Ehrenbergs erfolgreiches pro-studentisches Engagement revanchierte, dürfte er sich eher geadelt als tatsächlich zurückgesetzt gefühlt haben.79
VII. Der späte Wechsel nach Leipzig Ehrenberg hatte zwar schon früh einen Wechsel nach Wien diskutiert, den er sich nun, nach Jherings Tod, vorstellen könne.80 Er blieb der Göttinger Fakultät aber gut 23 Jahre treu, bis im Januar 1911 der Ruf aus Leipzig kam. Hier war am 7. September 1910 der Kanonist Emil Friedberg einem Schlaganfall erlegen.81 Friedberg hatte an der Leipziger Juristenfakultät seit 1869 ein ungewöhnlich breites Fächerspektrum vom Kirchenrecht über Staats- und Völkerrecht, deutsches Privatrecht und deutsche Rechtsgeschichte bis zum Handelsrecht mit Wechsel- und Seerecht abgedeckt und hinterließ auch über die Kanonistik hinaus eine empfindliEhrenberg hat auch Neuauflagen der Hauptwerke herausgegeben: Der Zweck im Recht, 3. Aufl. 1893 / 1898 und 4. Aufl. 1904 / 05; Der Geist des römischen Rechts I (6. Aufl. 1907), II (5. Aufl. 1894 / 98), III (5. Aufl. 1906). Zu der dort im Vorwort angekündigten Rekonstruktion der unveröffentlichten 2. Abteilung des 3. Teils ist es nicht gekommen. Von Helene Ehrenberg herausgegeben: Rudolf von Jhering in Briefen an seine Freunde (1913). 77 Vgl. insb. Blaurock (Fn 5), 322 ff. 78 V. Ehrenberg, Zum Entwurf eines Gesetzes über die privaten Versicherungsunternehmen, DJZ 1899, 120 ff.; ders., Entwurf eines Gesetzes über den Versicherungsvertrag, ZVersWiss 1903, 315 ff.; ders., Zum Entwurf eines Gesetzes über den Versicherungsvertrag, DJZ 1905, 1030 ff.; zu Ehrenbergs Einfluss auf das VVG vgl. insb. Duvinage, Die Vorgeschichte und die Entstehung des Gesetzes über das Versicherungsvertrag (1987), 77. 79 Vgl. insg. Blaurock (Fn 5), 324 f.; Keller (Fn 6), 424. 80 Briefwechsel v. 22. und 23. 10. und 29. 12. 1892 (Fn 6). 81 Vgl. insg. nur Link, Emil Friedberg (1837 – 1910). Kirchenrechtler der historischen Rechtsschule, „Staatskanonist“ und Mitstreiter im „Kulturkampf“, in: Heinrichs / Franzki / Schmalz / Stolleis, Deutsche Juristen jüdischer Herkunft (1993), 283 ff.
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che Lücke. Die Nachfolgediskussion in der Fakultät lief rasch auf die Namen Ulrich Stutz und Victor Ehrenberg hinaus.82 Stutz war 17 Jahre jünger und als Kanonist Friedbergs fachlicher Ausrichtung näher. Zudem hatten Binding und andere gewiss noch gut den Eklat im Gedächtnis, für den Ehrenbergs Bruder Richard mit seinen Bemühungen um eine Professur in Leipzig 1909 gesorgt hatte.83 Richard Ehrenberg hatte sich durch seine „exakte Wirtschaftsforschung“, seine Nähe zur Großindustrie und durch seine massive Kritik an der „herrschenden Schule“ der „Kathedersozialisten“ wissenschaftlich stark isoliert. Als der Verband sächsischer Industrieller dem Kultusministerium vorschlug, für Richard Ehrenberg eine Professur in Leipzig zu schaffen und dabei eine jährliche Unterstützung von 30.000 Mark in Aussicht stellte, stieß das auf erbitterten Widerstand nicht nur der Leipziger Nationalökonomen. Karl Binding resümierte als Rektor auf dem Leipziger Hochschullehrertag im Oktober 1909: „Es war eine bestimmte Interessengruppe an das Kultusministerium herangetreten und hatte ihm 30.000 Mark zur Verfügung gestellt, wenn es einen Tendenzprofessor hierher nach Leipzig genehmigen würde. Dies wurde vom Kultusministerium an den Senat gebracht, und der Senat hat einstimmig mit Entrüstung eine solche Zustimmung zurückgewiesen.“84 Auch Victor Ehrenberg hatte für Großunternehmen wie Krupp oder den Noble Dynamit Trust Gutachten erstellt und stand der Versicherungswirtschaft nah. Die alten Auseinandersetzungen mit seinem Bruder hatten hier aber offenbar keine Nachwirkungen, und auch sein Alter hinderte die Juristen der „Endstationsuniversität“85 nicht, ihn noch im Herbst 1910 pari loco mit Stutz, und sonst niemanden vorzuschlagen. Trotz eines motivierten Sondervotums gegen Stutz86 berief das Ministerium zunächst den Kanonisten, der jedoch im Rheinland bleiben wollte.87 82 Lieberwirth, Die Rechtshistoriker an der Leipziger Juristenfakultät in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: FS Hans Thieme (1986), 391, 397 ff.; zu Stutz z. B. Bader, Ulrich Stutz (1868 – 1938) als Forscher und Lehrer (1969); Bauhofer, Aus Leben und Werk von Ulrich Stutz, in: Bader (Hrsg.), Schweizer Beiträge zum Gedächtnis von Ulrich Stutz (1970), 13 ff.; Schultze, Ulrich Stutz, in: ZRG Kann 59 (1939), S. I ff. 83 Vgl. die retrospektiven Darstellungen zweier Hauptkonkurrenten: Richard Ehrenberg, Terrorismus in der Wissenschaft (1910); K. Bücher, Eine Schicksalsstunde der akademischen Nationalökonomie, in: ZGS 73 (1918), 255 ff.; ausführlich jetzt Heilmann, Richard Ehrenberg und die „Kathedersozialisten“, in: Buchsteiner / Viereck (Fn 15), 53 ff.; Viereck, Der Fall der Leipziger „Tendenzprofessur“, ebenda 125 ff. 84 Zitat nach Viereck (vorige Fn), 135. In der Presse wurde betont, dass der Verbandssyndikus (und spätere Reichskanzler) Stresemann „mitgeschoben hat, um die Freiheit der Wissenschaft für 30.000 Mark jährlich an das Großkapital zu verkaufen“ (nach Viereck, 132). 85 Zu Leipzig als „Endstationsuniversität“ vgl. nur Baumgarten, Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert (1997), 214 ff. 86 Vgl. insb. Strohal, Brief an Ehrenberg v. 4. 1. 1911 (Nachlass Ehrenberg [Fn 32], Mappe Strohal, Bl. 27 f.); Auszug bei Keller (Fn 6), 440. 87 Bader, 16; Bauhofer, 20 mit Briefwiedergabe; Lieberwirth, 399; Schultze, S. XVI (alle Fn 82).
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Ehrenberg erhielt den Ruf gleich nach dem Jahreswechsel, reiste sofort in der folgenden Woche nach Leipzig und Dresden und fand dort, in seinen Worten „eine Aufnahme, die alles übertraf, was ich erwarten konnte“.88 Noch aus Dresden teilte er der Göttinger Fakultät mit, dass sein Fortgang „so gut wie sicher“ sei, am 30. Januar 1911 fand die Göttinger Abschiedsfeier statt.89 Hier offenbarte er seine Motive sehr freimütig, konstatierte „eine gewisse seelische Müdigkeit“ und untermalt das eindrücklich mit dem Bild einer endlosen nüchternen Heerstraße. In Göttingen waren die Grenzen abgesteckt, die Kinder dem Haus in der Wilhelm-Weber-Strasse entwachsen. Leipzig war nicht nur die angesehene „Endstationsuniversität“ mit einer erlesen zusammengesetzten Juristenfakultät.90 Leipzig verhieß auch neue Kontakte und Herausforderungen und war die Stadt „der fernen Jugendzeit“, von der Ehrenberg hoffte, „das neue Leben werde ein Jungbrunnen“ sein.91 Zum April 1911 nahm Ehrenberg seine Lehrtätigkeit in Leipzig auf. VIII. Das Institut für Versicherungswesen in Leipzig Ehrenberg las abwechselnd mit Sohm Deutsche Rechtsgeschichte, blieb seiner alten Liebe in der Lehre also treu. Er richtete seine Lehrtätigkeit von Anfang an interdisziplinär aus, behandelte regelmäßig „die für den Handelsverkehr wichtigen Lehren des bürgerlichen Rechts“ und öffnete sein Handelsrechtspraktikum sowie die Vorlesungen zum Handelsrecht und Versicherungsrecht auch den Hörern der 1898 gegründeten Leipziger Handelshochschule.92 Ehrenberg betrieb auch rasch den Aufbau eines Instituts für Versicherungswesen.93 Der Plan stieß aber auf erheblichen Widerstand aus der Philosophischen Fakultät, der seinerzeit auch die Nationalökonomen angehörten. Vor allem Karl Bücher94, der schon zwei Jahre zuvor erbittert gegen die Leipziger „TendenzproV. Ehrenberg, Brief an C. Jellinek v. 19. 1. 1911 (Fn 6), Nr. 212. Blaurock (Fn 5), 325 f. 90 In der Selbstdarstellung (Fn 4) heißt es auf S. 79: „Selten dürfte einer juristischen Fakultät gleichzeitig eine so große Anzahl hervorragender Männer angehört haben wie damals der Leipziger.“ 91 V. Ehrenberg, Brief an C. Jellinek v. 19. 1. 1911 (Fn 6); ganz ähnlich ders., Selbstdarstellung (Fn 4), 78. 92 Vgl. das Personal- und Vorlesungsverzeichnis 1898 / 99 – 1945, Universitätsarchiv Leipzig, Akte HHS 061a. 93 Vgl. den Antrag der Juristenfakultät vom 2. 3.1912 und die Denkschrift Ehrenbergs (Hauptstaatsarchiv Dresden, Akten des Ministeriums für Volksbildung betr. die Universität Leipzig Nr. 10200 / 38, Bl. 4 – 15). 94 Bücher war Leiter eines staatswissenschaftlichen Seminars und Vorsitzender des Senats in der Handelshochschule; vgl. insb. Backhaus (Hrsg.), Karl Bücher (2000), und die Veröffentlichungen der Karl Bücher-Forschungsstelle der Universität Leipzig. 88 89
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fessur“ gekämpft hatte, sah die bestehenden versicherungswirtschaftlichen Aktivitäten und das Mitspracherecht der Philosophischen Fakultät gefährdet, wies insbesondere auf Gerhard Wörners95 versicherungswissenschaftliche Übung hin und wandte sich gegen eine neue Institutsbibliothek und vor allem gegen eine Herauslösung des vorhandenen Bücherbestandes zu ihren Gunsten.96 Vor diesem Hintergrund scheiterte Ehrenbergs Versuch, Wörner einzubinden, und er erntete auch von den Kollegen der Nationalökonomie, Mathematik und Medizin zunächst allenfalls hinhaltende Reaktionen.97 Indes genehmigte das Ministerium am 18. 12. 1912 die Institutsordnung.98 Als Institutsdirektor konzipierte Ehrenberg die Prüfungsordnung nach Göttinger Muster99, bezog Räume im 3. Stock des Collegium Juridicum mit separatem Eingang Schlossgasse 22 und stellte als Assistenten seinen Schüler Friedrich Lübstorff ein.100 Zwei frisch habilitierte Privatdozenten lasen das Arbeiter- und Angestellten-Versicherungsrecht und prüften auch mit: Zunächst mit Walter Jellinek der Sohn von Ehrenbergs Jugendfreund und dann Erwin Jacobi, der später das Institut für Arbeitsrecht gründete.101 Mit G. Höckner und D. Bischoff kamen zwei Direktoren von Versicherungsgesellschaften hinzu,102 und mit Stieda und Hoffmann nun auch zwei Kollegen von der Philosophischen und Medizinischen Fakultät.103 Der erste Weltkrieg und die anschließenden Revolutionsunruhen verhinderten einen Ausbau des Instituts, und in den zwanziger Jahren geriet es zeitweise in den Schatten des neu gegründeten Instituts für Arbeitsrecht.104 Ehrenberg selbst hatte 95 Gerhard Wörner (1878 – 1943) war seit 1905 Lehrbeauftragter der Universität und der Handelshochschule, an der er 1911 außerordentlicher und 1923 ordentlicher Professor für das Versicherungswesen und von 1933 – 1937 Rektor war. Vgl. nur Koch, Geschichte der Versicherungswissenschaft in Deutschland (1998), 146. 96 Vgl. insb. die Eingaben Büchers an das Kultusministerium v. 23. 5. und 23. 8. 1912 und Ehrenbergs Entgegnungen v. 31. 7. und 11. 11. 1912 (HStA DD, Min VB 10200 / 38, Bl. 26 f., 28 – 34, 36 – 38 und 49 – 55); Brief der Philosophischen Fakultät an das Ministerium v. 21. 11. 1912 und das Antwortschreiben v. 7. 12. 1912 (Universitätsarchiv Leipzig, Akten der Philosophischen Fakultät B 1 / 14:46,); Protokolle der Sitzungen der engeren Philosophischen Fakultät v. 13. 11. 1912 und 13. 1. 1913 (Universitätsarchiv Leipzig, Akten der Philosophischen Fakultät A3 / 30:08, Bl. 343 f. und 361). 97 V. Ehrenberg, Brief an das Ministerium für Volksbildung v. 11. 11. 1912 (HStA DD, Min VB 10200 / 38, Bl. 49 ff.). 98 Universitätsarchiv Leipzig, Akten des Rentamts (RA) Nr. 1616, Bl. 11. 99 Die Prüfungsordnung wurde am 3. 4. 1913 genehmig (RA 1616, Bl. 13 – 18). 100 Lübstorff blieb bis 1921 Assistent und blieb nach seinem Wechsel in die Leipziger Kommunalverwaltung bis 1924 außerplanmäßig für das Institut tätig (RA 1616, Bl. 12, 26 und 43). 101 Zu Jellineks s. o. Fn 35, 36; zu Jacobi insb. Otto, Von der Eigenkirche zum Volkseigenen Betrieb: Erwin Jacobi (1884 – 1965) (2008), insb. 20 f., 26 ff., 60, 65 f. und 69 f. 102 G. Höckner war stellvertretender Direktor und ersten Mathematiker der „Alten Leipziger“, D. Bischoff Direktor der Teutonia Versicherung Leipzig. 103 Vorlesungsverzeichnis Universität Leipzig SS 1913, S. 9; RA 1616, Bl. 14 zur Prüfungskommission.
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dieser Entwicklung noch Vorschub geleistet: Als Erwin Jacobi im Herbst 1920 nach einem Semester in Greifswald als Nachfolger Sohms nach Leipzig zurückberufen wurde, willigte er darin ein, das neue Institut für Arbeitsrecht in seinen Räumen mit unterzubringen und seinen Assistenten Lübstorff 1921 durch den von Jacobi eingestellten L. Richter zu ersetzen.105 Die Assistentenfrage ist kennzeichnend für die Situation des Instituts nach Ehrenbergs Emeritierung: Der seinerzeitige Dekan beantragte 1923 (erfolglos), die „erledigte Stellung des versicherungswissenschaftlichen Assistenten“ dem juristischen Seminar zuzuschlagen,106 während Ehrenbergs Nachfolger Paul Rehme 1928 die Dominanz des Arbeitsrechts beklagt: „Erst nach Errichtung des Instituts für Arbeitsrecht und dessen Unterbringung in den Räumen des Instituts für Versicherungswissenschaft ist der gegenwärtige Zustand geschaffen . . . , der den Interessen des Instituts nicht gerecht wird. Er verhindert ein weiteres Aufblühen des Instituts nach der Periode des Niederganges, die sich aus der Kriegs- und Nachkriegszeit ergab.“107 Rehme konnte zwar die Teilung der Assistentenstelle erreichen. Einen deutlichen Aufschwung erlebte das Institut für Versicherungswissenschaft aber erst, als es 1937 der Philosophischen Fakultät unterstellt und mit dem Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre verbunden wurde.108 IX. Ehrenbergs Handbuch Ehrenbergs Wirken in Leipzig wird im übrigen vor allem in dem monumentalen, wenn auch unvollendeten Handbuch für das gesamte Handelsrecht109 deutlich. Der Leipziger Reisland-Verlag, der 1880 – 1885 das vierbändige Endemannsche Handbuch des Handelsrechts herausgegeben hatte, plante eine Neuauflage im gleichen Umfang und sah in Ehrenberg den Mann, der „mit der Beherrschung des weitschichtigen Stoffes die Personenkenntnis verband, um unter den Schriftstellern des Handelsrechts geeignete Mitarbeiter zu finden; der über das zu ihrer Gewinnung nötige Ansehen und über die Arbeitskraft verfügte,“ die für die Redaktion nötig war.110 Ehrenberg hatte im Laufe der Zeit zahlreiche handelsrechtliche Themen Vgl. auch Otto,(Fn 101), 65 ff. und 184 ff. Richters Stelle am Institut für Arbeitsrecht wurde mit der Maßgabe genehmigt, dass er die Aufgaben am Institut für Versicherungswesen mit übernahm (HStA DD, Min VB 10200 / 38 Bl. 19); 1925 wurde eine Schreibkraft mit der gleichen Massgabe eingestellt (RA 1616, Bl. 53). 106 R. Schmidt, Brief an das Ministerium v. 31. 1. 1923, HStA DD, Min VB 10200 / 2, Bl. 135 f. 107 HStA DD, Min VB 10200 / 38 Bl. 213 f. 108 Verordnung des Ministeriums v. 15. 3. 1937 (Universitätsarchiv Leipzig, RA 2056, Bl. 36). 109 S. Fn 2. 110 So der Glückwunsch von Verlag und Mitarbeitern zu Ehrenbergs 70. Geburtstag im August 1921 in einem Vorwort zu Band 3 / II des Handbuchs (Fn 3). 104 105
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jenseits des Versicherungsrechts bearbeitet, 111 sich 1897 auch mit der Neukonzeption des HGB befasst112 und mit dem Gedanken an ein Lehrbuch zum Handelsrecht geliebäugelt und übernahm die Herausgabe 1910 „bereitwillig“. 113 Das Projekt sprengte allerdings schnell den gesteckten Rahmen. Der handelsrechtliche Stoff war durch die Ausdifferenzierung der Spezialmaterien seit 1880 deutlich angewachsen. Zudem geriet das Unternehmen rasch zu einem Prestigeobjekt. Der Verlag gab dem Ganzen viel Raum, Ehrenberg den Autoren viele Freiheiten, und so waren bald nicht vier, sondern acht Bände geplant, und schnell wurden auch Teilbände und Einzellieferungen erforderlich. Auf diese Weise wuchs von 1913 bis 1929 ein systematisches Kompendium heran, das in anderen juristischen Teildisziplinen kaum eine Entsprechung fand. Ehrenberg selbst steuerte im ersten Band (1913) die Einleitung und eine Darstellung des Registerrechts bei und im Band 2 / I (1914) das zentrale Kapitel über die Kaufleute. Er band altbewährte Meister ein wie in Band 1 für das Internationale Handelsrecht den bald verstorbenen Ludwig v. Bar, Paul Oertmann für den Handelskauf (Band 4 / II, 1918) und Hans Wüstendörfer für die grundlegende Darstellung des Seeschiffahrtsrechts (Band 7 / II 1923). Ehrenberg gewann Praktiker wie den Reichsgerichtsrat Brodmann (Handelsgeschäfte, Band 4 / II, 1918) und den Hamburger Senatspräsidenten Mittelstein für das Binnenschiffahrtsrecht (Band 7 / I, 1918), und er gab der „jüngsten Generation“114, die sich mit ihren Beiträgen teilweise stark profilierten, breiten Raum. So steuerte Paul Rehme, Ehrenbergs späterer Nachfolger in Leipzig, in Band 1 die bis heute letzte geschlossene Darstellung der Geschichte des Handelsrechts bei. Hervorhebenswert ist beispielsweise auch die gut 700-seitige Darstellung des GmbH-Rechts von Hans Erich Feine (Band 3 / III), die erst 1929 erschien, nachdem der zuerst eingeplante Bearbeiter „leider versagt hat“.115 Auch Martin Wolffs sachenrechtliche Darstellung „Die Ware“ (Band 4 / I, 1917) sticht hervor und schließlich das 1922 geschlossen vorgelegte zweibändige „Versicherungsrecht“ von Otto Hagen (Band 8 I, II), das mit seinem zweiten Band zu den einzelnen Versicherungszweigen die Materie erfasst, die auch Ehrenberg selbst in seinem zweiten Band in Bindings Handbuch hatte behandeln wollen. 111 Vgl. insb. V. Ehrenberg, Über das Wesen der Firma, ZHR 28 (1882), 25 ff.; ders, Die subsidiäre Haftung des offenen Handelsgesellschafters, Jherings Jb 37 (1897), 191 ff.; Rechtssicherheit und Verkehrssicherheit, Jherings Jb 47 (1904), 273 ff.; ders., Die Pflicht zur Wahrheit und Offenheit in Bilanzen und Jahresberichten der Aktiengesellschaften, Jherings Jb 51 (1907), 291; ders., Bilanz und stille Reserven, Jherings Jb 52 (1907), 215; ders., Handelsregistergericht und Prozeßgericht – Prüfungspflicht und Prüfungsrecht des Registergerichts, Jherings Jb 61 (1912), 423 ff. 112 V. Ehrenberg, Bemerkungen zu dem Entwurfe eines neuen Handelsgesetzbuches, Jherings Jb 37 (1897), 77 ff. 113 V. Ehrenberg, Selbstdarstellung (Fn 4), 77; vgl. auch v. Gierke (Fn 5), S. XX. 114 V. Ehrenberg, Brief an Jellinek v. 15. 6. 1915 (Fn 6). 115 So V. Ehrenberg im Vorwort zu Band 3 / II.
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Durch seinen wachsenden Umfang, die Kriegs- und Nachkriegsereignisse und auch Ausfälle und Säumnisse unter den Autoren hat das Projekt nach Ehrenbergs Resümee „nicht nur außerordentlich viel Zeit und Arbeitskraft beansprucht, sondern auch unendlich viel Ärger verursacht“, und er schließt die Frage an, ob die Genugtuung über das noch unvollendete Werk „nicht zu teuer erkauft wurde“.116 Das Handbuch ist unvollendet geblieben, und die Frage nach dem zu hohen Preis wird unbeantwortet bleiben. Heutige Leser, die sonst über große Lehrbücher hinaus nur noch Kommentarliteratur vorfinden, können jedenfalls nur dankbar sein.
X. Ehrenbergs späte Jahre Die Arbeit für das Institut und die Herausgebertätigkeit nahmen weiten Raum ein. Daneben entstanden in Leipzig wie den letzten Jahren in Göttingen weitere Abhandlungen und Gutachten. Eine Enkelin berichtet: „Wir trafen ihn bei unseren Besuchen immer im Arbeitszimmer an!“117 Im Übrigen pflegten Helene und Victor Ehrenberg auch in der Leipziger Zeit ein geselliges Leben. Sie wohnten, zunächst in der Bismarckstraße und ab 1916 in der Gustav-Adolf-Straße, großzügig118, beherbergten öfters Messegäste und immer wieder Verwandte. Als Ehrenbergs Neffe Franz Rosenzweig119 längere Zeit zu Gast war, kam es hier am 7. Juli 1913 zu dem berühmten „Leipziger Nachtgespräch“, das noch einmal für die folgende Generation das Spannungsfeld zwischen jüdischer Herkunft und christlich geprägter Kultur widerspiegelt.120 Rosenzweig ließ sich in dieser Nacht so stark von dem „bewusst gelebten Christentum“ seines Vetters Rudolf121 und vor 116 V. Ehrenberg, Selbstdarstellung, 78; v. Gierke schreibt (Fn 5, S. XXIV) „Ich habe ihn fast nie ,ärgerlich‘ gesehen, eigentlich nur, wenn er auf unzuverlässige Mitarbeiter seines Handbuches des Handelsrechts zu sprechen kam“. 117 Maria E. Ehrenberg, Brief an Justus Meyer v. 4. 7. 2008. 118 Das Haus Bismarckstraße 8 (heute F. Lassallestraße 8), Ecke Maschenerstraße existiert heute noch; im Nachbarhaus wohnte Binding. Zum 1. 4. 1916 zogen Ehrenbergs in die Gustav-Adolf-Str. 17 um. Auch das Haus ist erhalten. 119 Franz Rosenzweig (1886 – 1929) baute 1912 – 1914 seine Dissertation aus (Hegel und der Staat, 2 Bde. 1920). Hauptwerk: Der Stern der Erlösung (2 Bde. 1921). 120 Vgl. z. B. Horwitz, Warum ließ Rosenzweig sich nicht taufen?, in: Schmied-Kowarzik (Hrsg.), Der Philosoph Franz Rosenzweig I (1988), 79 ff.; Kamper, Das Nachtgespräch vom 7. Juli 1913, ebenda S. 97 ff.; Lux, Franz Rosenzweig: „Ich bleibe also Jude“. Das Leipziger Nachtgespräch – eine jüdisch-christliche Begegnung und ihre Folgen, in: Mitteilungen und Beiträge der Forschungsstelle Judentum Leipzig, Bd. 12 (1997), 19 ff. 121 Victor Ehrenbergs zweiter Sohn Rudolf Ehrenberg war als Kind getauft und vor allem von der Mutter christlich erzogen worden. Seine biologische Arbeit wurde stark durch Franz Rosenzweig beeinflusst. Hauptwerke: Theoretische Biologie vom Standpunkt der Irreversibilität des elementaren Lebensvorganges (1923); Der Lebensablauf (1946); Metabiologie (1950). Die Metabiologie zählte Rosenzweig zu den „prinzipiellen Darstellungen“ des ,neuen Denkens‘; vgl. z. B. Görtz, Rudolf Ehrenbergs Gedanke des „Lebens“, in: Theologie und Philosophie 78 (2003) 81 ff.; ders., Der Stern der Erlösung als Kommentar: Rudolf Ehrenberg
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allem des konvertierten Eugen Rosenstock122 beeindrucken, dass er ihnen – zunächst – seinen Übertritt zum Christentum versprach.123 Die Leipziger Jahre waren für Ehrenberg eine reiche Zeit. Sie war allerdings nicht nur durch die Kriegs- und Nachkriegsereignisse überschattet, sondern auch durch den Tod von Ehrenbergs Frau Helene. Sie starb 1920 während einer Grippeepidemie. Gleichwohl wirkt es authentisch, wenn Ehrenberg später resümiert, die großen Hoffnungen, die er mit seinem Wechsel nach Leipzig verband, hätten ihn nicht betrogen.124 Ehrenberg wurde 1922 emeritiert. Das Leipziger Institut verabschiedete ihn mit einer Feierstunde, und die Fakultät überreichte ein „Wort des Lebewohls und des Dankes“. Er kehrte nach Göttingen zurück, wo er später im Haus seiner Tochter eine Wohnung in der dritten Etage bezog und weiter als Lehrbeauftragter wirkte. 1926 beging er sein fünfzigjähriges Doktorjubiläum, das die Leipziger Juristenfakultät mit einer Festschrift würdigte.125 Am 10. März 1929 starb er, 78-jährig, nach etwa sechswöchiger Krankheit. XI. Ehrenberg heute Victor Ehrenberg ist heute für manche Kenner einer der Wegbereiter unseres Versicherungsrechts; vielen steht sein Name weiterhin für die stattliche Reihe von Handbuch-Bänden. Peter Landau würdigt Ehrenberg zu Recht als einen der „vielseitigsten juristischen Professoren Deutschlands in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts“.126 Seine weit gespannten Interessen haben Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung wie auch Rechtstatsächliches sinnvoll und fruchtbar mit dem Handelsrecht und modernen Spezialmaterien verbunden; auch dafür steht sein Beispiel. und Franz Rosenzweig, in: M. Brasser (Hrsg.), Rosenzweig als Leser. Kontextuelle Kommentare zum „Stern der Erlösung“ (2004), 119 ff. 122 Eugen Rosenstock-Huessy (1888 – 1973) arbeitete als Rechtshistoriker und Soziologe in Deutschland und den USA; vgl. nur Faulenbach, Eugen Rosenstock-Huessy, in: Wehler (Hrsg.), Deutsche Historiker, Bd. 9 (1983), 102 ff.; sein Großvater, Moritz Rosenstock, war Philip Ehrenbergs Nachfolger im Amt des Direktors der Samsonschule in Wolfenbüttel. 123 Rosenzweig hatte 1909 den Übertritt seines Vetters, des Theologen Hans Ehrenberg verteidigt: „Wir sind in allen Dingen Christen, wir leben in einem christlichen Staat, gehen in christliche Schulen, lesen christliche Bücher, kurzum unsere ganze ,Kultur‘ ist ganz und gar auf christlicher Grundlage.“ Nach intensiver Selbstprüfung revidiert er aber seinen Entschluss des Nachtgesprächs in einem Brief an Rudolf Ehrenberg v. 31. 10. 1913, der in dem berühmten Bekenntnis mündet „Ich bleibe also Jude“ (F. Rosenzweig, Briefe und Tagebücher I / 1 (1976), 95 [1. Zitat] und 133. 124 V. Ehrenberg, Selbstdarstellung (Fn 4), 79. 125 Festschrift der Leipziger Juristenfakultät für Dr. Victor Ehrenberg zum 30. März 1926, Leipzig 1927, mit Beiträgen von Jacobi, Molitor, Richter und Rehme. 126 Landau, Juristen jüdischer Herkunft im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Heinrichs / Franzki / Schmalz / Stolleis, Deutsche Juristen jüdischer Herkunft (1993), 133, 200.
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Hinter dem Werk erscheint die Person trotz aller Briefe und Selbstzeugnisse wie in einem sehr unvollständigen Mosaik. Portraitaufnahmen zeigen Ehrenberg in erster Linie als Gelehrten, der Autorität ausstrahlt. Anderes können wir nur ahnen. Zu seinem Tod schrieb Franz Rosenzweig den drei Kindern, er denke immer wieder an „die Zartheit seines Herzens; sie war immer noch ein Stück weitreichender als sein jeweiliges Verstehen, und grade um dieses Überschusses willen musste man ihn lieben.“127
127 Rosenzweig, Brief an Rudolf Ehrenberg, Hedi Born, Kurt Ehrenberg v. 12. 3. 1929, in F. Rosenzweig, Briefe und Tagebücher I / 2 (1976), 1208.
Friedrich Stein als Wegbereiter eines öffentlich-rechtlichen Verständnisses der Zwangsvollstreckung Von Ekkehard Becker-Eberhard
I. Einleitung „Das geltende Zwangsvollstreckungsrecht ist nicht aus dem Jahre 1877,1 sondern stammt von Friedrich Stein.“ Mit diesem Zitat aus Josef Essers „Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts“, 2. Aufl. 1964, S. 312 eröffnete Franz-Jürgen Säcker2 im Jahre 1970 seinen Probevortrag vor der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Eingeleitet wird das von Säcker wiedergegebene Zitat bei Esser wie folgt: „Ein Text ist heute das, was die neuere Jurisprudenz und Lehre daraus gemacht hat, und man kann anachronistisch sagen . . .“. An anderer Stelle3 wird Esser noch deutlicher: „Mit dem Glauben an die dogmatische Autorität des Gesetzgebers, dessen Fehlvorstellungen oft eine unnütze Scheinproblematik hervorgerufen und dringende Lösungen verhindert und erschwert haben, ist ein erstes Stück aus der Idee des Kodifikationswunders herausgebrochen . . .“, und erläutert in einer Fußnote dazu: „Für das Prozeßrecht vgl. etwa die Fehlvorstellungen über öffentliches und Privatrecht im Vollstreckungsrecht im 8. Buch der ZPO (Stellung des Gerichtsvollziehers, Beschlagnahme und Pfandrechtsbegründung etc.), die allein Stein mit seiner Monographie ,Grundfragen der Zwangsvollstreckung‘ (1913) richtiggestellt hat. Man kann wohl sagen, daß damit unter dem gleichen Text ein neues Zwangsvollstreckungsrecht, nicht nur ein neues doktrinäres ,System‘ begründet wurde.“ Während es Esser allerdings darum ging, ein Beispiel dafür zu geben, welche Entwicklung kodifiziertes Recht unter dem Einfluss von Wissenschaft und Praxis legitimer Weise nehmen kann, war es Säcker in seinem Beitrag darum zu tun aufzeigen, dass sich die seinerzeit von Stein vorangetriebene, 1938 vom RG4 übernommene und seither weitaus h.A. mit der Annahme, wer eine Pfandsache in der Zwangsvollstreckung ersteigere, werde selbst dann und zwar kraft Hoheitsakts Eigentümer, wenn die Pfandsache 1 2 3 4
Dem Jahr des Inkrafttretens der CPO. JZ 1970, 156. A. a. O., S. 25 mit Fn. 74. RGZ 156, 395.
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nicht dem Vollstreckungsschuldner gehörte und er selbst bösgläubig war, unzulässig weit von den Wertungen des Gesetzes entfernt habe. In der Tat scheint es so, als hätten sich Dogmatik und Theorie sowie, wo sich aus ihnen konkrete praktische Schlussfolgerungen ergaben, auch die Praxis bei kaum einem anderen Gesetz im Laufe der Zeit so weit von den (soweit sie solche überhaupt schon hegten, oft nur rudimentären) dogmatischen und theoretischen Vorstellungen der Gesetzesverfasser entfernt wie gerade bei der Zivilprozessordnung, und zwar nicht nur auf dem Gebiet der Zwangsvollstreckung. Denn anders als beim Bürgerlichen Recht, das infolge der schon fast legendären Intervention Savignys5 gegen Thibaut6 im Jahre 1814 erst kodifiziert wurde, nachdem die Materie theoretisch und dogmatisch bereits hinreichend durchdrungen war, folgte die theoretische und dogmatische Aufarbeitung des deutschen Zivilprozessrechts der Kodifikation erst nach. An dieser Aufarbeitung hatten Hochschullehrer der Leipziger Juristenfakultät bis zum nach dem zweiten Weltkrieg hierorts eintretenden Bruch einen ganz wesentlichen Anteil. Erinnert sei neben Friedrich Stein nur an den frühen Interpretator der CPO Adolf Wach7, dessen „Vorträge über die ReichsCivilprozessordnung“8 ebenfalls schon zur Legende geworden sind. Diese der Kodifikation erst nachfolgende dogmatische Durchdringung musste beinahe zwangsläufig dazu führen, dass sich die Interpretatoren und Anwender von CPO bzw. ZPO ganz erheblich über die dogmatischen Vorstellungen der Gesetzesverfasser hinaus entwickelt und von ihnen entfernt haben. Dabei ging es, so lässt sich heute rückblickend mit einer die Mühsale dieses langjährige Ringens vollständig vernachlässigenden Leichtigkeit konstatieren, im Grunde immer wieder um eines: Wie an vielen Stellen des Gesetzestextes zum Ausdruck kommt, waren die Gesetzesverfasser bei dessen Abfassung durchweg privatrechtlichen Kategorien verhaftet. In der Folgezeit zeigte sich jedoch im Zuge der theoretischdogmatischen Durchdringung und praktischen Handhabung des Gesetzes in nahezu allen relevanten Bereichen, dass jeweils nur ein prozessrechtliches, d. h. öffentlichrechtliches Verständnis der Materie angemessen ist. Es ging also um die Emanzipation des Prozessrechts von den Denkkategorien des materiellen Zivilrechts, wo diese zu keinen gedeihlichen prozessualen Ergebnissen führen. Im Mittelpunkt stehen dabei im Erkenntnisverfahren bekanntlich vor allem zwei Institute: der Anspruchs- bzw. Streitgegenstandsbegriff und die Rechtskraft. Das Gesetz verwendet den Begriff des Anspruchs zweifellos in einem materiellrechtlichen Sinne. Das die Prozessrechtswissenschaft so lange beschäftigende Ringen um den Streitgegenstandsbegriff, an dem sich auch der Leipziger HochschulVom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1814. Ueber die Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland, 1814. 7 Zu ihm näher die Leipziger Dissertation von Unger, Adolf Wach (1843 – 1926) und das liberale Zivilprozeßrecht, 2005. 8 Vorträge über die Reichs-Civilprozessordnung, gehalten vor praktischen Juristen im Frühjahr 1879, 1879. 5 6
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lehrer Arthur Nikisch maßgeblich beteiligt hat,9 brachte aber zu Tage, dass sich die mit ihm verbundenen prozessualen Probleme nur mit einem prozessualen Anspruchs- bzw. Streitgegenstandsbegriff lösen lassen. Ebenso hielten die Verfasser der CPO mit Blick auf Savigny wohl auch die Rechtskraft noch eher für eine materiellrechtliche Einrichtung. Das zeigt sich nicht zuletzt darin, dass die ZPO in den §§ 322 ff. nur ihre Reichweite, nicht aber ihre Wirkungsweise behandelt, und wird dadurch bestätigt, dass letztere anfangs noch im allgemeinem Teil des BGB geregelt werden sollte.10 Im Laufe der Zeit wurde jedoch erkannt, dass nur ein prozessrechtliches und damit öffentlichrechtliches Verständnis der Rechtskraft die anstehenden Probleme sinnvoll zu lösen vermag.11 Weniger intensive und lang andauernde Diskussionen mussten geführt werden, um bei anderen in der CPO / ZPO enthaltenen, dem Privatrecht entlehnten Begriffen zu erkennen, dass es sich um prozessuale Institute mit einer vom materiellen Recht durchaus unterschiedlichen Bedeutung handelte, nämlich dem sich auf den Streitgegenstand bzw. den prozessualen und nicht den materiellrechtlichen Anspruch beziehenden prozessualen Anerkenntnis nach § 307 ZPO12 und dem prozessualen Verzicht nach § 306 ZPO.13 Schließlich stellen auch der Prozessvergleich und die Prozessaufrechnung vom materiellrechtlichen Vergleich und der materiellrechtlichen Aufrechnung durchaus unterschiedliche, zumindest auch prozessuale Erscheinungen dar. Eine ähnliche Emanzipation des Prozessrechts von den Kategorien des materiellen Privatrechts fand auf dem Gebiete der Zwangsvollstreckung statt. Wie die eingangs wiedergegebenen Worte Essers unterstellen, kommt auch das im 8. Buch der ZPO kodifizierte Zwangsvollstreckungsrecht nicht nur in seiner Diktion, sondern auch in den in ihm zum Ausdruck kommenden Vorstellungen seiner Verfasser stark von den Kategorien des materiellen Rechts geprägt daher. So ist im § 754 ZPO von einem „Auftrag“ und der Beauftragung des Gerichtsvollziehers die Rede und lautet (allen zwischenzeitlich gewonnenen dogmatischen Erkenntnissen über den heute einhellig angenommenen verfahrensrechtlichen Charakter des Verhältnisses zwischen Gerichtsvollzieher und Gläubiger zum Trotz – dazu sogleich) jetzt auch des9 Nämlich in seinem Werk: Der Streitgegenstand im Zivilprozeß, 1935 sowie in AcP Bd. 34 (1955), S. 271 ff.; zu Nikisch näher die Leipziger Dissertation von Böhm, Arthur Philipp Nikisch – Leben und Wirken, 2003. 10 Vgl. §§ 191, 192 des 1. Entwurfs – dazu Motive Bd. I, 1898, S. 367 ff.; die 2. Kommission schlug vor, die Vorschriften mit einigen Streichungen in die ZPO zu übernehmen – dazu Protokolle Bd. I, 1897, S. 253 ff.; bei der Revision der 2. Lesung wurden die Vorschriften ganz gestrichen, vgl. Mugdan, Bd. I, S. 811; s. a. Gaul, Festschrift für Flume, 1978, S. 443, 503 f. 11 Dazu insbesondere Gaul, a. a. O., S. 443 ff., 503 ff. 12 Vgl. nur Stein / Jonas / Leipold, 22. Aufl. 2008, § 307 Rn. 17; Münchener Kommentar ZPO / Musielak, 3. Aufl. 2008, § 307 Rn. 4 und 1, jeweils m.w.Nachw. 13 Vgl. nur Stein / Jonas / Leipold, § 306 Rn. 6; Münchener Kommentar ZPO / Musielak, § 306 Rn. 1, jeweils m.w.Nachw.
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sen mit der ZPO-Reform von 2002 eingefügte Überschrift „Vollstreckungsauftrag“. Diese Wortwahl legt eine Anlehnung an den bürgerlichrechtlichen Auftrag nach den §§ 662 ff. BGB nahe. Des weiteren bezeichnet § 803 ZPO den Akt, mit dem der Gerichtsvollzieher auf bewegliches Vermögen zugreift, als Pfändung und damit mit einem Begriff, der eine Assoziation zu dem in den §§ 1204 ff. verschiedentlich verwendeten Begriff der Verpfändung wecken könnte. Hinzu kommt, dass der Gläubiger nach § 804 I ZPO durch die Pfändung ein Pfandrecht an der Pfandsache erwirbt, was sich leicht dahingehend deuten ließe, die Gesetzesverfasser hätten in der Pfändung einen auf die Begründung eines Pfandrechts gerichteten Vorgang gesehen. Unter diesen Umständen mag es zunächst kaum verwundern, wenn in der Anfangszeit von CPO und ZPO das Verhältnis zwischen Gläubiger und Gerichtsvollzieher tatsächlich als ein bürgerlichrechtliches Mandats-, also ein Auftragsverhältnis verstanden14 und der Gerichtsvollzieher bei Vornahme der Pfändung und der weiteren Durchführung der Vollstreckung gar als Vertreter des Gläubigers angesehen wurde.15 Der Verweis auf die Rechte, die ein durch Vertrag erworbenes Faustpfandrecht gewährt, in § 804 II ZPO galt anfangs als Beleg für ein rein privatrechtlich ausgestaltetes, abgesehen von der Art seiner Begründung grundsätzlich den Vorschriften des BGB unterliegendes Pfändungspfandrecht, das als dritte Art von Pfandrecht neben das Vertrags- und das kraft Gesetzes entstehende tritt.16 Schließlich schien es nahtlos in dieses Konzept zu passen, auch die Pfandverwertung einschließlich des Erwerbs der Pfandsache durch den Ersteher und des Erlöses durch den Gläubiger als dem materiellen Recht folgende Übereignungs- bzw. Zahlungsvorgänge zu begreifen. In all diesen Punkten haben sich Lehre und Praxis bekanntlich längst von diesem privatrechtlichen Verständnis des Pfändungs- und Verwertungsvorgangs gelöst. Die Pfändung wird heute im Sinne einer Beschlagnahme als ein Hoheitsakt des Gerichtsvollziehers verstanden, der allein auf die Herstellung einer öffentlichrechtlichen Verstickung der Pfandsache und nicht (auch) auf die Begründung eines Pfändungspfandrechts gerichtet ist.17 Letzteres entsteht vielmehr bei Vorliegen der Voraussetzungen als gesetzliche Folge der Pfändung.18 Der Eigentumserwerb des So RGZ (VZS) 16, 396 ff. (Beschl. vom 10. Juni 1886). So RGZ 9, 361, 362; 16, 396, 408, 409. 16 RGZ 60, 70, 71; 61, 330, 333; 97, 34, 40 f.; 104, 300, 301 f. (wo allerdings erstmals nur noch von entsprechender Anwendung der bürgerlichrechtlichen Vorschriften die Rede ist); 114, 384, 386; so auch Goldschmidt, Zivilprozessrecht, 2. Aufl. 1932, § 94 I. 17 Rosenberg / Gaul / Schilken, Zwangsvollstreckungsrecht, 11. Aufl. 1997, § 50 II 1, III 1; Jauernig / Berger, Zwangsvollstreckungs- und Insolvenzrecht, 22. Aufl. 2007, § 16 Rn. 1; Baur / Stürner / Bruns, Zwangsvollstreckungsrecht, 13. Aufl. 2006, Rn. 27.1 f.; Münchener Kommentar ZPO / Gruber, 3. Aufl. 2007, § 803 Rn. 29, 32; Schuschke / Walker, Vollstreckung und vorläufiger Rechtsschutz, 4. Aufl. 2008, Vor §§ 803, 804 Rn. 1 ff.. 18 Rosenberg / Gaul / Schilken, § 50 III 3; Brox / Walker, Zwangsvollstreckungsrecht, 8. Aufl. 2008, Rn. 374; Jauernig / Berger, § 16 Rn. 7; Baur / Stürner / Bruns, Rn. 27.6 f.; Münchener Kommentar ZPO / Gruber, § 803 Rn. 59; Schuschke / Walker, Vor §§ 803, 804 Rn. 10, 14. 14 15
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Erstehers an der gepfändeten Sache erfolgt ebenfalls durch Hoheitsakt des Gerichtsvollziehers, im Gesetz als „Ablieferung“ bezeichnet19 (wobei auch die Annahme eines öffentlich-rechtlichen Übereignungsvertrages mit dem Ersteher vertretbar erscheint20). Ebenso erwirbt der Gläubiger durch die Erlösauskehrung kraft Hoheitsakts (oder auch öffentlich-rechtlichen Übereignungsvertrags) das Eigentum am Erlös.21 An diesem Wandel hat Friedrich Stein in der Tat einen ganz wesentlichen Anteil. Der Wandel und der steinsche Anteil daran sollen im folgenden näher nachgezeichnet werden. Abschließend soll erörtert werden, ob das heutige durchweg hoheitliche Verständnis des Vollstreckungsvorgangs sich wirklich so weit vom Gesetz und den Vorstellungen seiner Verfasser entfernt hat, dass mit Esser von einem anderen Vollstreckungsrecht gesprochen werden kann. II. Biographisches zu Friedrich Stein Friedrich Stein wurde im Jahre 1859 in Breslau geboren, legte dort 1877 das Abitur ab und studierte in Tübingen, Berlin und Leipzig, wo er sich der wachschen Prozessrechtsschule anschloss. Am 27. 5. 1881 bestand er die Erste Juristische Staatsprüfung und wurde am 2. 3. 1882 von der Juristenfakultät Leipzig mit einer Arbeit „Zur Lehre vom forum contractus“ summa cum laude promoviert. Am 29. 4. 1887 habilitierte er sich ebendort mit einer Schrift über die Urkunde im Wechselprozess für die Fächer Zivilprozessrecht, Strafprozessrecht und Strafrecht. Am 10. 5. 1890 wurde er zum außerordentlichen Professor ernannt. Zum 1. 7. 1896 folgte er einem Ruf auf eine ordentliche Professur für Zivilprozessrecht, Strafprozessrecht und Strafrecht an die Universität Halle. Im Jahre 1897 begann mit der Mitarbeit an der 3. Auflage sein Engagement beim Gauppschen Kommentar zur Zivilprozessordnung, dessen 4. – 10. / 11. Auflage (1900 – 1911 / 13) er allein besorgte und der seither (mit einer im Vorwort des damaligen Alleinkommentators Jonas mit keinem Wort motivierten Unterbrechung bei der 16. Aufl. von 1938) u. a. seinen Namen trägt. Durch eine Erbschaft finanziell unabhängig geworden legte er im Herbst 1907 die Hallenser Professur nieder, um sich mehr seinen literarischen Plänen zu widmen. Am 31. 12. 1907 wurde er zum ordentlichen Honorar19 Rosenberg / Gaul / Schilken, § 53 III 1 b; Brox / Walker, Rn. 411; Jauernig / Berger, § 16 Rn. 17; Baur / Stürner / Bruns, Rn. 29.7; Stein / Jonas / Münzberg, Kommentar zur ZPO, 22. Aufl. 2002, § 817 Rn. 21; Schuschke / Walker,§ 817 Rn. 7; Arwed Blomeyer, Festgabe für von Lübtow, 1970, S. 803, 806. 20 Dazu Rosenberg / Gaul / Schilken, § 53 III 1 b mit a; Münchener Kommentar ZPO Gruber, § 817 Rn. 12 m.w.Nachw. 21 Rosenberg / Gaul / Schilken, § 53 III 1 c mit b und a; Brox / Walker, Rn. 455; Jauernig / Berger, § 16 Rn. 25; Baur / Stürner / Bruns, Rn. 29.8 und 29.17; Münchener Kommentar ZPO / Gruber, § 817 Rn. 7; Stein / Jonas / Münzberg, 89 ZP Rn. 9; Schuschke / Walker, § 819 Rn. 6; Schuschke / Walker / Raebel, Anhang zu § 771 Rn. 2; Arwed Blomeyer, Festgabe für von Lübtow, S. 803, 806.
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professor an der Leipziger Juristenfakultät ernannt. In der folgenden Zeit entsteht das eingangs erwähnte, 1913 erschienene und hier vor allem interessierende Werk über die „Grundfragen der Zwangsvollstreckung“. Am 12. 7. 1923 starb Friedrich Stein in Halle. III. Die Grundfragen Steins und seine Antworten Ausgangspunkt für die steinschen Überlegungen ist ein Satz Karl Bindings:22 „Im geltenden Recht hat das Recht zum Zwange nur noch der Staat; der Gläubiger hat nur das Recht auf den Zwang.“ Zwar beteuert Stein in seinem Vorwort, kaum eine einzige seiner Aufstellungen sei neu. Wenn ihnen ein Verdienst zukomme, so bestehe es in der folgerichtigen Durchführung weniger Grundgedanken, von denen der Bindings der wichtigste und fruchtbarste, gewissermaßen das Leitmotiv des Ganzen sei. Was er jedoch sodann tatsächlich präsentierte, sollte in der Folgezeit das herrschende Verständnis der Zwangsvollstreckung ganz maßgeblich verändern. Dementsprechend wird jedermann in der folgenden zusammenfassenden Wiedergabe der wesentlichen Fragen und Antworten Steins unschwer die Grundzüge des „modernen“ deutschen Zwangsvollstreckungsrechts wiedererkennen. 1. Aus dem Satz Bindings folgerte Stein als erstes und vor allem, dass es (auch) in der Zwangsvollstreckung nur der Staat als Träger des Gewaltmonopols sein kann, der durch seine jeweils zuständigen Vollstreckungsorgane Zwang auf den Schuldner ausübt, und nicht etwa der Gläubiger, dem der Staat, weil jenem die eigenen Kräfte dazu abgehen, seine Vollstreckungsorgane als Ausübungswerkzeuge zur Verfügung stellt.23 Stein spickte seine Ausführungen allerdings mit Aussagen über den Staat, die man angesichts ihres Pathos’ heutige bestenfalls belächeln, schlimmstenfalls als dem damaligen Zeitgeist entsprechende düstere Vorboten der noch folgenden Zeiten deuten mag. So heißt es etwa, zwar lägen Ausgangs- und Endpunkt der Zwangsvollstreckung auf dem Gebiete des Privatrechts. Der Weg vom zivilrechtlichen Ausgangspunkt zum zivilrechtlichen Erfolg aber „erhebt sich aus den Niederungen des Privatrechts in die Höhe der Sphäre staatlicher Rechtsausübung, wenngleich er sich am Schlusse wieder zum Privatrecht hinabsenkt“, oder: „Es gibt auch für meine Vorstellung keinen Punkt in unserem gesamten staatlichen Leben, wo der Staat so sehr er selbst, d. h. eine Macht über den Privaten ist, wie gerade in der Zwangsvollstreckung.“ Schließlich ist die Rede von der „hohen und ernsten staatsrechtlichen Stellung und Aufgabe des Prozesses und der Vollstreckung“, die bedauerlich verkenne, wer die Zwangsvollstreckung als Ganzes zu einem privatrechtlichen Vorgange stemple. In: Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 1, 2. Aufl. 1890, S. 483 ff. So aber RGZ 16, 396, 409 (er – der Staat – stelle „seine Beamten und Vollzugsorgane in den Dienst der Parteien“); vehement dagegen Stein, a. a. O., S. 7 („Es . . . gibt für mich keine Verständigung mit denjenigen, die . . . ). 22 23
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2. Gewissermaßen nebenbei widerlegt Stein damit zugleich die Vorstellung, die Erzwingbarkeit sei eine dem vollstreckten Anspruch kraft materiellen Rechts immanente Eigenschaft.24 3. Nur konsequent ist die nächste steinsche Folgerung: „Ist die Zwangsvollstreckung Betätigung der Staatsmacht, so folgt daraus, daß der Staat die Voraussetzungen, Mittel und Wirkungen dieser Tätigkeit von sich aus feststellt“ und entsprechende Normen erlässt.25 4. Von diesen Normen stehen am Anfang die §§ 704 und 794 ZPO. Danach ist Grundlage für den Einsatz des staatlichen Vollstreckungszwanges allein das Vorliegen eines den Anforderungen der Vollstreckungsgesetze entsprechenden wirksamen Titels.26 Allein er bestimmt Vollstreckungsgläubiger und -schuldner sowie zu vollstreckende Leistung. 5. Die Durchführung der Zwangsvollstreckung ist also vom Bestehen oder Fortbestehen des vollstreckten Anspruchs unabhängig.27 Er spielt erst dann (wieder) eine Rolle, wenn der Schuldner die Klage aus § 767 ZPO erhebt. Von ihr erkannte schon Stein, dass es sich nur um eine prozessuale Gestaltungsklage handeln kann.28 6. Der „ersichtlich schiefe Ausdruck“ der Pfändung bezeichnet nicht etwa einen auf die Begründung eines Pfandrechts gerichteten Vorgang, sondern meint nichts anderes als eine hoheitliche Beschlagnahme im Sinne einer „Entziehung aus dem rechtlichen Machtbereich des Schuldners“.29 Sie bewirkt die Verstrickung des betreffenden Gegenstandes, d. h. rechtliche Gebundenheit für den Staat, wenn auch zugunsten des Gläubigers.30 7. Seine durchweg öffentlich-rechtliche Sichtweise der Zwangsvollstreckung führte Stein allerdings keineswegs dazu, sich das Pfandrecht, das der Gläubiger nach § 804 ZPO „durch die Pfändung erwirbt“, „als ein rein prozessuales, d. h. publizistisches Recht zu denken“.31 Stein trat vielmehr für ein allein nach der ZPO, d. h. kraft Hoheitsaktes und als gesetzliche Folge von Pfändung und Verstrickung – jedoch nicht an schuldnerfremden Gegenständen – entstehendes, sich im Übrigen aber insbesondere hinsichtlich seiner Akzessorietät nach dem BGB richtendes Pfandrecht, also für eine gemischte Pfandrechtstheorie ein.32 A.a.O, S. 2, 6 f. A. a. O., S. 8. 26 A. a. O., S 10 ff.; 18. Es ist auch nicht etwa so, dass Grundlage der Zwangsvollstreckung der durch den Titel prima facie bewiesene Anspruch wäre, a. a. O., S. 11 f. 27 A. a. O., S 16 ff. 28 A. a. O., S. 21 ff. 29 A. a. O., S. 24 ff. 30 A. a. O., S. 26 f. 31 A. a. O., S. 29 ff., 30. 32 A. a. O., S. 31 ff. 24 25
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8. Dass der gepfändete Gegenstand zum Schuldnervermögen gehören muss, versteht sich (nicht nur) für Stein von selbst.33 Diese Zugehörigkeit wird als solche vom Vollstreckungsorgan jedoch nicht geprüft. Vielmehr prüft es in einer je nach Vollstreckungsobjekt abgestuften Intensität nur gewisse Indizien dieser Zugehörigkeit: bei der Immobiliarvollstreckung die Eintragung des Schuldners als Eigentümer im Grundbuch, bei der Vollstreckung in bewegliche Sachen den Schuldnergewahrsam und bei der Zwangsvollstreckung in Forderungen und Rechte sogar nur noch, ob der Gläubiger mit seinem Vollstreckungsantrag deren Existenz schlüssig dartut.34 Stein verbindet damit die auch heute noch herrschende Erkenntnis, dass die Drittwiderspruchsklage nach § 771 ZPO eine prozessuale Gestaltungsklage sein muss. 9. Für die der Pfändung folgende Zwangsverwertung des gepfändeten Gegenstandes kommt ein Grundsatz zum Tragen, den Stein als den weitaus wichtigsten der Geldvollstreckung bezeichnete: Alle der Pfändung nachfolgenden Akte beruhten nicht auf dem Pfandrecht, sondern der Pfändung. „Nur die Pfändung und ihre Grundlage, der Titel, können und müssen vor den weiteren Vollstreckungsschritten nachgeprüft werden, nur ihr Mangel kann in dem weiteren Verfahren geltend gemacht werden, wogegen das Pfandrecht von keiner Seite in Frage gezogen werden darf, so daß auch sein Mangel ohne Bedeutung ist.“35 Das Pfandrecht sei „Appendix der Vollstreckung, nicht aber ihr Lebensnerv“. Sie könne ihren Weg auch ohne Pfandrecht gehen.36 Stein unterstreicht seine Geringschätzung des Pfändungspfandrechts mit dem Hinweis auf der CPO vorangegangene partikulare Kodifikationen, die kein Pfändungspfandrecht kannten, sowie die um seine Einführung geführte Diskussion in der Kommission, in der der Abgeordnete Grimm betont hatte, die neuere Wissenschaft leite die Verkaufsberechtigung nicht aus dem Pfandrecht, sondern der öffentlichen Gewalt des Richters her.37 10. Dieser Grundsatz hat zunächst zur Konsequenz, dass es bei der Verwertung keineswegs um einen Pfandverkauf im herkömmlichen Sinn des Verkaufs eines Gegenstandes aufgrund seiner Belastung mit einem Pfandrecht geht, auf den die §§ 1233 ff. BGB anzuwenden sich zumindest anböte. Es geht vielmehr allein um eine hiervon wesensverschiedene (und nur „ziemlich ungenau als Pfandverkauf bezeichnete“38) Verwertung gepfändeter, d. h. beschlagnahmter Gegenstände,39 auf A. a. O., S. 37 ff. A. a. O., S. 31 ff. 35 A. a. O., S. 55 ff., 56. 36 A. a. O., S. 59. 37 A. a. O., S. 61; zur Kommissionsdiskussion Hahn, Die gesammten Materialien zur Civilprozeßordnung, 1881, 1. Abt., S. 825 ff. 38 A. a. O., S. 61. 39 Vgl. dazu auch den Wortlaut von § 806 ZPO: Veräußerung „auf Grund der Pfändung“ (und nicht des Pfandrechts) und von § 814 ZPO: „gepfändete“ (und nicht mit einem Pfändungspfandrecht belastete) Sachen sind . . . öffentlich zu versteigern. 33 34
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die sich die bürgerlichrechtlichen Vorschriften über den Pfandverkauf nicht – auch nicht entsprechend – anwenden lassen.40 11. Bei dieser Verwertung handelt es sich vielmehr um einen auf der staatlichen Verstrickung beruhenden „publizistischen Vollstreckungsakt“, dessen Subjekt nicht der Gläubiger vertreten durch den Gerichtsvollzieher, sondern der Staat vertreten durch seine Organe ist,41 und der je nach Vollstreckungsobjekt von ganz unterschiedlicher Art ist.42 12. Als Hoheitsakt stellt die verwertungsweise Verschaffung des Eigentums an einer durch Pfändung verstrickten Sache seitens des Gerichtsvollziehers keine den §§ 929 ff. BGB unterfallende rechtsgeschäftliche Verfügung dar. Der Ersteher erwirbt das Eigentum (als dominium ex causa iudicati captum) unabhängig davon, ob die Sache dem Schuldner gehörte oder nicht, ein Pfandrecht bestand oder nicht und er insoweit gutgläubig war.43 Als Vorschrift über den Pfandverkauf, der hier nicht vorliegt, ist § 1244 BGB unanwendbar. 13. Die Rechtsverhältnisse am Erlös folgen gemäß dem Surrogationsprinzip als einem vom Gesetz als selbstverständlich vorausgesetzten Grundsatz des Vollstreckungsrechts und ohne, dass dazu auf § 1247 BGB zurückgegriffen werden müsste, denen an der verwerteten Sache.44 14. Die Erlösauskehrung an den Gläubiger (Recht auf den Erlös, § 817 Abs. 4 ZPO) erfolgt auf der Grundlage und nach Maßgabe des Titels und ohne Rücksicht auf das Bestehen der Forderung sowie das Pfandrecht ebenfalls durch Hoheitsakt. Der Anspruch auf Auskehrung gegen den Staat ist ein öffentlichrechtlicher und entspricht dem Vollstreckungsanspuch, den der Gläubiger durch seinen Titel gegen den Staat hat.45 15. Auch die Auszahlung eines etwaigen Übererlöses an den Schuldner erfolgt nach Stein auf der Grundlage eines öffentlich-rechtlichen Anspruchs. Er ist gerichtet auf die Entstrickung der gepfändeten Sache und steht dem Schuldner nicht etwa als deren Eigentümer, sondern als demjenigen zu, bei dem sie gepfändet worden ist.46 16. Nach beendeter Vollstreckung sind für Stein Ausgleichsansprüche aus Bereicherungs- oder Deliktsrecht sowohl für den Dritten, dessen Gegenstand der Vollstreckung zum Opfer gefallen ist, als auch für den Schuldner bei nichtbestehender Forderung möglich. Bemerkenswert ist, dass das Pfandrecht auch in diesem Zusammenhang für ihn keine Rolle spielt.47 40 41 42 43 44 45 46 47
A. a. O., S. 59 f., 71. A. a. O., S. 61, 71. A. a. O., S. 61. A. a. O., S. 71, 75 f. A. a. O., S. 78 f. A. a. O., S. 84 ff. A. a. O., S. 86. A. a. O., S. 90 ff.
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17. Nicht mehr überraschen kann, wenn Stein am Ende seiner Abhandlung der auch von ihm selbst bisher angenommenen allgemeinen Vertreterstellung des Gerichtsvollziehers abschwört und erklärt, dass dieser überall da, wo er hoheitliche Vollstreckungshandlungen vornimmt, nicht als Vertreter des Gläubigers, sondern als Staatsorgan tätig wird.48 Dies ist anders, wenn der Gerichtsvollzieher im Rahmen der Vollstreckung Handlungen vornimmt, die keine staatliche Zwangsvollstreckung sind, wie etwa die Annahme der Gegenleistung nach § 756 ZPO oder die Entgegennahme freiwilliger Zahlungen des Gläubigers.49 18. Aus heutiger Sicht bemerkenswert und schwer nachvollziehbar ist das Festhalten Steins an der dem Wortlaut des § 754 ZPO entsprechenden Annahme eines privatrechtlichen Auftragsverhältnisses zwischen Gläubiger und Gerichtsvollzieher.50 IV. Die Thesen Steins im Umfeld des damaligen Meinungsstandes Mit seinen Thesen, von denen manche uns heute als geradezu selbstverständlich erscheint, wich Stein in vielerlei Hinsicht von den oben bereits skizzierten und seinerzeit allgemeinen, teils sogar von ihm selbst in seinem eigenen Kommentar vertretenen Ansichten ab. So war zwar immer anerkannt,51 dass das Vollstreckungsorgan mit seinem Vollstreckungszugriff, insbesondere der Gerichtsvollzieher mit der Pfändung, einen Hoheitsakt vornimmt. Jedoch war die zu III 1 erwähnte Vorstellung, es handele dabei als bloßes Ausübungswerkzeug der Anspruchsbetätigung des Gläubigers, werde also letztlich nur gebraucht, um die dem Gläubiger abgehende Befugnis, selbst Zwang auszuüben, zu kompensieren, durchaus verbreitet.52 Von der von ihm im Jahre 188653 noch so eifrig begründeten Ansicht, das Verhältnis zwischen Gerichtsvollzieher und Gläubiger sei nach dem klaren Wortlaut insbesondere des § 754 ZPO (damals noch § 675 CPO) ein bürgerlichrechtliches Auftragsverhältnis, hatte sich das RG54 allerdings bereits 1913 wieder verabschiedet, als Stein selbst noch ausdrücklich an ihr festhielt (vgl. oben III 18). Es zog daraus aber zunächst noch nicht den Schluß, der Gerichtsvollzieher könne bei der Vornahme von Vollstreckungshandlungen fortan auch nicht mehr wie bisher55 als Vertreter des GläuA. a. O., S. 110 ff. A. a. O., S. 115 unter Berufung auf den seinen Kommentar, 10. Aufl. 1911, Vorbem. V 2 vor § 166 ZPO. 50 A. a. O., S. 114 und deutlich in seinem Kommentar, Vorbem. V 1 vor § 166 ZPO. 51 So schon RGZ 16, 396, 407, 408, 409. 52 Nachw. oben Fn. 23. 53 RGZ 16, 396; schon RGZ 9, 361, 362 f. 54 RGZ (VZS) 82, 85; s. a. RGZ 144, 262, 263 ff. 48 49
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bigers angesehen werden.56 Die Qualifizierung des Gerichtsvollziehers als Vertreter hatte das RG freilich nicht aus einer gezielten Bewertung des Außenhandelns des Gerichtsvollziehers gewonnen. Vielmehr kommt sie anfangs als selbstverständliche Erscheinung des zunächst noch angenommenen Mandatsverhältnisses daher und beruht insoweit auf einer mangelnden, ohnehin erst durch das BGB gesetzlich vollzogenen Unterscheidung von Mandat und Vollmacht.57 Später wird sie einfach tradiert. Außerdem war die inhaltliche Bedeutung des Pfändungsakts umstritten. Manche sahen in ihm in der Tat einen auf die Begründung eines Pfändungspfandrechts gerichteten Hoheitsakt,58 während der Pfandrechtserwerb für Stein eine gesetzliche Folge der Pfändung und der durch sie ausgelösten Verstickung war (vorausgesetzt, der die titulierte Forderung bestand und gepfändete Sache stand im Eigentum des Schuldners – s. o. III 6, 7, 8). Mit seinen Überlegungen zur Bedeutungslosigkeit des vollstreckten Anspruches für den Ablauf des Vollstreckungsverfahrens (oben zu III 5 und hinführend 2 – 4) setzte sich Stein von denen ab, die sich den Vollstreckungsbetrieb als nach wie vor vom zugrundeliegenden Anspruch getragen vorzustellen versuchten. Mit dieser Vorstellung war vor allem nicht erklärbar, warum die Vollstreckungsorgane an keiner Stelle des Verfahrensablaufs die Existenz dieses Anspruches zu prüfen haben und ihnen – abgesehen von der nur vorläufigen Einstellung nach § 775 Nr. 4 und 5 ZPO – selbst dann die Befugnis zur endgültigen Verfahrenseinstellung fehlt, wenn ihnen das Nicht(mehr)bestehen des Anspruchs positiv nachgewiesen wird, es hierfür vielmehr gewissermaßen einer Rückversetzung des Verfahrens in ein Erkenntnisverfahren durch Erhebung einer Vollstreckungsabwehrklage nach § 767 ZPO bedarf. Indem bei Stein der (wirksame) Titel zur alleinigen gesetzlichen (vgl. §§ 707 und 794 ZPO und dazu oben III 4) Grundlage des Vollstreckungsbetriebes wird, sind diese Erklärungsnöte beseitigt. Weiterhin brach Stein insoweit mit der damals h. M., als er alle dem Pfändungsakt nachfolgenden weiteren Vollstreckungshandlungen bis hin zur Auskehrung eines etwaigen Übererlöses an den Schuldner nicht als „Evolutionen des gläubigerischen Pfandrechts“59 ansah, sondern sie auf die Pfändung und den sie tragenden Titel gründete (s. o. III 9). Außerdem erklärte er sie allesamt ebenfalls zu Hoheitsakten (s. o. III 11 ff.). Demgegenüber erschien es, nachdem der Gesetzgeber sich einmal für die Einführung eines Pfändungspfandrechts entschieden hatte, der daVgl. RGZ 9, 361, 363; 16, 396, 408. Sondern ließ dies unter Hinweis auf die notwendige Trennung von Mandat und Vollmacht und die Möglichkeit einer gesetzlichen Vertretungsmacht einstweilen noch dahingestellt, vgl. RGZ 82, 85, 90. 57 So etwa in RGZ 9, 361. 58 Etwa RGZ 97, 37, 40: „eine auf die Entstehung von Rechten gerichtete Handlung“. 59 Vgl. Stein, a. a. O., S. 57; so aber etwa Goldschmidt, Zivilprozessrecht, § 94 1 („Die ganze weitere Vollstreckung stellt sich als Verwirklichung des Pfändungspfandrechts dar“). 55 56
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mals h.A. nur konsequent, die der Pfändung nachfolgenden weiteren Akte, insbesondere die Verwertungshandlungen, als einen auf dem Pfändungspfandrecht beruhenden Pfandverkauf zu begreifen.60 Basierend auf der Vorstellung vom Pfändungspfandrecht als einem (zumindest auch) bürgerlichrechtlichen Pfandrecht hielt sie es weiterhin für naheliegend, diesen Pfandverkauf als einen der bürgerlichrechtlichen Pfandverwertung zumindest ähnlichen Vorgang zu begreifen. Nur so ist es etwa zu verstehen, wenn das RG über lange Zeit in ständiger Rechtsprechung die Vorschriften des BGB über das Vertragspfandrecht auf das Pfändungspfandrecht für anwendbar erklärte, soweit nicht Vorschriften der Zivilprozeßordnung entgegenstehen, und es ihm dabei vor allem um die Anwendung der bürgerlichrechtlichen Pfandverwertungsvorschriften, insbesondere wiederholt des § 1244 BGB, auf den Erwerb gepfändeter Sachen durch den Ersteher in der Zwangsvollstreckung ging.61 Damit spielte das Pfändungspfandrecht für die damals h.A. im weiteren Ablauf der Zwangsvollstreckung eine tragende Rolle. Stein dagegen verdammte es mit seiner Art der Verhoheitlichung des gesamten Vollstreckungsvorgangs weitgehend zur Bedeutungslosigkeit (oben III 9 ff.), ließ es nicht einmal im Rahmen der Ausgleichansprüche nach beendeter Zwangsvollstreckung eine Rolle spielen (s. o. III 16) und maß ihm überhaupt nur für die Rangfolge Bedeutung bei, in der die einzelnen Pfändungsgläubiger im Verteilungsverfahren nach den §§ 872 ff. ZPO aus dem erzielten Erlös zu befriedigen sind.62 V. Die Aufnahme der Thesen Steins durch die Praxis Gemessen an den Zeiträumen, in denen sich rechtswissenschaftliche Erkenntnisse sonst in der Praxis durchzusetzen pflegen, vollzog sich der Wandel hin zu einem rein hoheitlichen Verständnisses der Zwangsvollstreckung vergleichsweise zügig. Zwar sollte das RG in den Jahren 1922 und 1929 seine Aussage, auf die Veräußerung gepfändeter Sachen in der Zwangsvollstreckung seien bürgerlichrechtliche Vorschriften, insbesondere 1244 BGB, anwendbar, noch zwei weitere Male erneuern.63 Jedoch vollzog es bekanntlich bereits in zwei Entscheidungen von 193664 und 193865 endgültig und vollständig den Wandel zu einem insgesamt hoheitlichen Verständnis der Zwangsvollstreckung. Der erste Fall betraf, wie in diesem Zusammenhang schon so oft zuvor in der Rechtsprechung des RG,66 die Haftung des Staats für Gerichtsvollzieherhandeln. Dazu Stein, a. a. O., S. 57 ff. RGZ 61, 330, 333; 104, 300, 301 f.; 126, 21, 26. 62 Stein, a. a. O., S. 99 ff., 104 f. 63 RGZ 61, 330, 333; 104, 300, 301 f. (auf S. 302 ausdrücklich gegen Stein im Kommentar, Bem. IV zu § 817 ZPO); 126, 21, 26. 64 RGZ 153, 257. 65 RGZ 156, 395. 66 Vgl. die Aufzählung in RGZ 144, 262. 60 61
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Das RG betonte, der Gerichtsvollzieher handele bei der Versteigerung nach § 817 ZPO „ebenso wie der Versteigerungsrichter im Falle des § 90 ZVG,67 als Staatsorgan kraft der ihm vom Gesetz gegebenen Macht“, und verschaffe „dadurch, dass er die ersteigerten Gegenstände an den Ersteher abliefert, . . . diesem nach dem Gesetz das Eigentum“.68 Dies entsprach vollauf den steinschen Vorstellungen. In der zweiten Entscheidung ging es einmal mehr um die Anwendbarkeit des § 1244 BGB auf den Erwerb des Erstehers in der Zwangsvollstreckung. Sie wurde jetzt unter Berufung auf die neuere „Auffassung von der Stellung des Gerichtsvollziehers und dem Wesen der Zwangsvollstreckung“ geradezu in Bausch und Bogen verworfen. In der weiteren Begründung schwenkte das RG – allerdings ohne dessen Schrift über die Grundfragen der Zwangsvollstreckung zu zitieren69 – vorbehaltlos auf die Lehren Steins ein. Manche Formulierung des RG erinnert so unvermittelt an die Steins, dass es sich lohnt, sie wörtlich wiederzugeben:70 „Die Zivilprozeßordnung hat besondere Vorschriften über die Verwertung gepfändeter Sachen. Diese Verwertung steht auch unter einem ganz anderen Gesichtspunkt als der Pfandverkauf. Mit dem Pfandverkauf nutzt der Pfandgläubiger das dem Pfandrecht wesentlichste Recht, also ein Privatrecht aus. Bei der Zwangsvollstreckung wegen Geldforderungen in bewegliche Sachen entsteht zwar auch ein Pfandrecht, das zahlreichen Vorschriften des bürgerlichen Rechts über das rechtsgeschäftliche Pfandrecht unterliegen mag, die Verwertung der gepfändeten Sache geschieht aber nicht in Ausnutzung des privatrechtlichen Pfandrechts, sondern im Verlaufe der Zwangsvollstreckung auf Grund des Rechts und der Pflicht der Rechtsordnung, dem Gläubiger nicht nur ein Pfandrecht, sondern das Geld, das er von dem Schuldner verlangen kann, durch Verwertung der durch die Pfändung und Verstrickung der Vollstreckung zugeführten Sache zu verschaffen. Nicht das Pfandrecht, sondern die Pfändung ist die Grundlage der Verwertung (§ 806 ZPO). Die Zwangsgewalt des Staats kommt dabei zum sinnfälligsten Ausdruck.“ . . . „Der Gerichtsvollzieher aber ist nicht Beauftragter des die Zwangsvollstreckung betreibenden Gläubigers (RGZ. Bd. 82 S. 85, Bd. 104, S. 283 [285], er steht vielmehr allen Beteiligten als Beamter gegenüber, er nimmt auch mit der Versteigerung und Ablieferung der versteigerten Sache an den Ersteher einen staatlichen Hoheitsakt vor (RGZ. Bd. 153, S. 257 [261]).“
Dass der Versteigerungsrichter hoheitlich handelt, war nie umstritten. RGZ 153, 257, 261. 69 Wer möchte, mag darin Zeichen einer rassistischen Gesinnung der Mitglieder des Senats sehen, wie sie auch darin zum Ausdruck kommt, dass die 1938 erschienene 16. Auflage des steinschen Kommentars nur noch den Namen des Ministerialbeamten Jonas nennt, der seinerseits selbst in seinem Vorwort Stein mit keinem Wort erwähnt. Denn Stein war jüdischer Herkunft und sein eigentlicher Name lautete Goldstein. Eher dürfte es jedoch Ausdruck der ohnehin zurückhaltenden Zitierweise des RG und im speziellen Fall allenfalls des dem Vernehmen nach zwischen den Richtern des RG und der Juristenfakultät gepflegten „Nichtverhältnisses“ gewesen sein. 70 RGZ 156, 395, 398. 67 68
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VI. Schlussbetrachtung Die von Stein so maßgeblich mit vorangetriebene Wende zu einem hoheitlichen Verständnis des gesamten Vollstreckungsvorganges hat die Bedeutung des Pfändungspfandrechts gegenüber der, die es unter dem anfangs verbreiteten privatrechtlichen Verständnis noch hatte, ganz erheblich geschmälert. Zum einen hat das Pfändungspfandrecht die Funktion, Grundlage der Verwertung zu sein, an die Pfändung, genauer die damit verbundene hoheitliche Verstrickung abgeben müssen, also den Charakter eines Verwertungsrechts verloren. Diese Sichtweise hatte sich seit der Aufgabe der rein privatrechtlichen Pfändungspfandtheorie auch allgemein etabliert,71 bis ungeachtet dessen jüngst der BGH72 in der vom Vollstreckungsgericht gemäß § 825 II ZPO angeordneten Versteigerung durch einen privaten Auktionator einen Akt der privatrechtlichen Verwertung des Pfändungspfandrechts sah und bei fehlendem Eigentum des Schuldners für den Erwerb des Erstehers doch wieder § 1244 BGB zur Anwendung brachte, d. h. dessen guten Glauben in das Eigentum des Schuldners verlangte. Bemerkenswert an dieser Entscheidung ist, dass der BGH sich zwar ausführlich mit den Pfändungspfandrechtstheorien auseinandersetzte (und den Streit dahinstehen ließ). Die (eigentlich problematische) Frage, ob das Pfändungspfandrecht nach rein öffentlich-rechtlicher oder gemischter Lehre überhaupt (noch) ein Verwertungsrecht gibt, hat er dagegen gar nicht angesprochen. Zum zweiten spielt das Pfändungspfandrecht für Stein, obwohl bei ihm durchaus von auch privatrechtlicher Natur, wie erwähnt nicht einmal im Rahmen der bereicherungs- und schadensersatzrechtlichen Ausgleichsansprüche eine Rolle. Demgegenüber misst ihm die von Gaul73 besonders deutlich formulierte moderne Lehre in dieser Hinsicht die Funktion eines Rechtsgrundes für das Behaltendürfen bzw. eines Rechtfertigungsgrundes bei. Diese Minimierung der Funktion des Pfändungspfandrechts widerspricht indessen keineswegs den Intentionen des historischen Gesetzgebers, im Gegenteil: Zwar hat sich der CPO-Entwurf auf der Grundlage des norddeutschen Entwurfs bewusst für die Einführung eines Pfändungspfandrechts entschieden. Er folgte damit den Rechten, die (darunter auch Sachsen) vom gemeinen Recht geprägt ein solches (noch) kannten, während andere (darunter Preussen) es nach französischem Vorbild mittlerweile aufgegeben hatten.74 Schon die Entwurfsbegründung motivierte, 71 Rosenberg / Gaul / Schilken, § 50 IV mit III 1 a bb, 3 a; Jauernig / Berger, § 16 Rn. 10 und 12; Brox / Walker, Rn. 361; s. a. Arwed Blomeyer, Festgabe für von Lübtow, S. 803, 811, 820 f., 822 f. sowie Gaul, Rpfleger 1971, 1, 4, letzterer allerdings mit der zutreffenden Richtigstellung, dass die Verwertungsbefugnis des Gerichtsvollziehers im Grunde auch nicht auf die Verstrickung zu gründen ist, sondern nur aus dem ihn zum staatlichen Eingriff ermächtigenden Gesetz folgen kann. 72 BGHZ 119, 75. 73 Rpfleger 1971, 1, 4 ff.; Münchener Kommentar ZPO / Gruber, § 804 Rn. 40, 42, 43; Rosenberg / Gaul / Schilken, § 50 III 3 a aa , 53 V 1 d aa u. bb, 2 a u. b; Schuschke / Walker, Vor §§ 803, 804 Rn. 15 und § 819 Rn. 6; Schuschke / Walker / Raebel, § 767 Rn. 45 und Anhang zu § 771 Rn. 2; s. a. Jauernig / Berger, § 16 Rn. 19 ff. und Brox / Walker, Rn. 470.
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nachdem man sich einmal für das Prioritäts- und gegen das Ausgleichsprinzip entschieden hatte,75 die Einführung des Pfändungspfandrechts jedoch damit, mit ihm lasse sich der pfändende Gläubiger „erfolgreich“ schützen, und nennt dazu vier Punkte: seine Befriedigung vor anderen Gläubigern, die Gewährleistung seines Absonderungsrechts im Konkurs, seinen Vorrang vor später pfändenden Gläubigern sowie die Gewährung der Pfandklage.76 Von der Einräumung eines Verwertungsrechts durch das Pfandrecht ist in diesem Zusammenhang nicht die Rede. Auch als während der Kommissionsberatungen beantragt war, im Gesetz ausdrücklich festzuschreiben, dass der Gläubiger durch die Pfändung kein Pfandrecht an dem gepfändeten Gegenstand erwerbe,77 spielte eine Verwertungsfunktion des Pfändungspfandrechts in der schließlich in seine Beibehaltung einmündenden Diskussion keine Rolle. Die Diskussion konzentrierte sich vielmehr auf die mit dem Pfändungspfandrecht verbundene Vorrangfunktion. Allerdings richtete sich auch der Antrag weniger gegen das Pfändungspfandrecht als solches als vielmehr eben gegen den Vorrang des Pfändungspfandgläubigers vor anderen Gläubigern überhaupt, war also der Versuch, das Blatt doch noch weg vom Prioritäts- hin zum Ausgleichsprinzips zu wenden. Diese enge Fixierung des Pfändungspfandrechts auf seine Vorrangfunktion hat schließlich auch im Gesetzestext deutlichen Ausdruck gefunden. Denn nach § 804 II ZPO gewährt es dem Gläubiger nicht allgemein dieselben Rechte, wie vertragliches Faustpfandrecht, sondern eben nur „im Verhältnis zu anderen Gläubigern“. Blickt man heute, nachdem das hoheitliche Verständnis der Zwangsvollstreckung längst unangefochten ist, auf den Gesetzestext als den methodisch zwingenden Ausgangspunkt jeder Gesetzesdeutung, so wird man bei der gebotenen Unvoreingenommenheit (und vor dem Hintergrund der immer wieder auf den Wortlaut einzelner Vorschriften zurück kommenden Thesen Steins kaum mehr zu überraschen) feststellen können: Gerade das 8. Buch der ZPO enthält weit weniger Belege für ein privatrechtliches Verständnis der Gesetzesverfasser von der Zwangsvollstreckung, als es in anderen Teilen der ZPO für das dort Behandelte der Fall sein mag. Denn im 8. Buch sucht man – abgesehen vom Begriff des „Vergleichs“ in § 794 I Nr. 1 ZPO – vergeblich nach eindeutig zumindest auch zivilrechtlich belegten Begriffen, wie sie andernorts in entscheidenden Normen der ZPO so häufig anzutreffen sind und dort den Prozess der Emanzipation des Zivilprozessrechts vom materiellen Zivilrecht erheblich erschwert haben („Anspruch“ – insbesondere in den §§ 260, 322 I ZPO, „Anerkenntnis“, „Verzicht“ – s. o.). Besonders bemerkenswert ist, dass das Gesetz gerade in den Vorschriften, die die PfandDazu Hahn, a. a. O. (Fn. 37), S. 448, 825. Dazu Hahn, a. a. O., S. 449; zur Dogmatik des Prioritätsprinzips zuletzt ausführlich Berger, ZZP Bd. 121 (2008), S. 407, 408 ff. 76 Dazu Hahn, a. a. O., S. 449 f. 77 Dazu Hahn, a. a. O., S. 825 ff. 74 75
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verwertung als den eigentlichen Kristallisationspunkt der ehedem zivilistischen Betrachtung betreffen, nämlich in den §§ 814 ff. ZPO (aber auch schon davor in §§ 813 a und b ZPO) eindeutig zivilrechtlich belegte Begriffe vermeidet und sich eher neutraler Begriffe wie „Verwertung“, „Zuschlag“ und „Versteigerung“ bedient.78 Vor allem werden die seitens des Gläubigers und des Erstehers bezüglich gepfändeten Geldes bzw. des erzielten Erlöses sowie der Pfandsache anstehenden Erwerbsvorgänge jedwede Anlehnung an privatrechtliche Erwerbstatbestände (wie vor allem die Übereignung) vermeidend als „Ablieferung“ (§ 815 I, 817 II ZPO) bezeichnet. So muss man zu guter Letzt sagen: Entgegen den eingangs zitierten Worten Essers und Säckers war es nicht Stein, der sich vom geschriebenen Gesetzesrecht entfernt und darin zum Ausdruck gekommene Fehlvorstellungen des Gesetzgebers richtig gestellt hat. Vielmehr waren es ein anfangs allzu zivilistischer Umgang mit dem Gesetzestext und die Vorstellung, überall, wo sich die CPO / ZPO den Begriffen des Zivilrechts annähere, müsse es sich auch um zivilrechtlich zu qualifizierende Erscheinungen handeln, die sich nicht nur vom Geist des Gesetzes, sondern teils auch von seinen Formulierungen entfernt hatten. Ein – angesichts der damals noch verbreiteten Einordnung des Zivilprozesses als eine bloße Fortentwicklung des materiellen Rechts79 und eines noch nicht so ausgeprägten öffentlichen Rechts historisch vielleicht sogar nachvollziehbares – zu einseitig privatrechtlich geprägtes Vorverständnis ließ die damals h.A. am in der CPO geregelten Vollstreckungsrecht zivilrechtlich deuten, was gar nicht so klar zivilrechtlich gesetzlich niedergelegt war. Diese Fehldeutungen des Gesetzes durch die damals zunächst h.A. hat Stein richtig gestellt und dadurch das Verständnis der Zwangsvollstreckung wieder auf den Boden des Gesetzes zurückgeholt! Aber so ist es eben um ein Gesetz, bei dem die dogmatische Durchdringung der Materie der Kodifizierung im Wesentlichen erst nachfolgt wie bei der CPO / ZPO und ihr nicht vorangeht wie beim BGB. Es dauert naturgemäß eine gewisse Zeit, sich dieses Gesetzes dogmatisch zu vergewissern. Dazu hat Friedrich Stein für das deutsche Vollstreckungsrecht wie kaum ein anderer beigetragen in einem Werk, das nach seinen eigenen Beteuerungen angeblich so „kaum eine einzige neue Aufstellung enthält“!
78 Allerdings verwendet § 806 ZPO zunächst noch den auch zivilistisch vereinnahmten Begriff der „Pfandveräußerung“. 79 Für die sich die anfängliche Einordnung der Rechtskraft als Institut des materiellen Rechts (dazu Fn. 10), die von Stein so bekämpfte Vorstellung, die Vollstreckbarkeit sei eine dem Anspruch kraft materiellen Rechts innewohnende Eigenschaft (oben III 2) sowie die frühen materiell-rechtlichen Streitgegenstandslehren als Beispiele nennen lassen.
Die Aussonderung von Treugut in der Insolvenz des Treuhänders – ein konkursrechtlicher Klassiker im Großkommentar des Leipziger Konkursrechtswissenschaftlers Ernst Jaeger Von Christian Berger
I. Einleitung Die Universität Leipzig feiert im Jahre 2009 ihr 600-jähriges Bestehen. Obgleich eine Rechtsfakultät nicht von Beginn an nachgewiesen werden kann, gehörten Juristen mit zu den Gründern der Universität. Eine juristische Fakultät besteht spätestens seit dem Jahre 1452. Ihre wechselvolle Geschichte ist zum Jubiläumsjahr 1909 eindrucksvoll beschrieben worden1. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, also auch zum Zeitpunkt der 500-Jahr-Feier der Universität Leipzig, zählte man die Leipziger Juristenfakultät zu den angesehensten Rechtsfakultäten in Deutschland2. In diese Zeit fällt auch die Berufung Ernst Jaegers an die Universität Leipzig, des bedeutendsten Konkursrechtswissenschaftlers der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Jaeger wurde am 22. Dezember 1869 in Landau in der Pfalz geboren. Von 1888 bis 1892 studierte er Rechtswissenschaft in Straßburg, Heidelberg, Leipzig und Erlangen, wo er 1893 bei Konrad Hellwig aufgrund einer Dissertation „Die Voraussetzungen eines Nachlaßkonkurses“ zum Doktor beider Rechte promoviert wurde. 1895 trat Jaeger in den Bayerischen Justizdienst ein. Aufgrund seiner Schrift über den Konkurs der offenen Handelsgesellschaft (1897) wurde er 1899 – ohne Habilitation – zum außerordentlichen Professor an die Universität Erlangen bestellt und im folgenden Jahr als ordentlicher Professor nach Würzburg berufen. 1905 folgte Jaeger dem Ruf an die Universität Leipzig. Er lehrte dort bis zu seiner Emeritierung „Deutsches Bürgerliches Recht und Zivilprozeßrecht“ 3. Jaeger galt als die „erste Autorität auf dem Gebiete des Konkursrechts“4. Er verstarb am 12. Dezember 1944 in Leipzig. Sein Lebenswerk wirkt bis heute fort; der seit 2004 1 Friedberg, Die Leipziger Juristenfakultät; Ihre Doktoren und ihr Heim, Festschrift zur Feier des 500jährigen Bestehens der Universität Leipzig, Band 2, Leipzig 1909. 2 Vgl. beispielsweise Künne, Gläubigerschutz (1939), S. 89 in einer Würdigung Ernst Jaegers zu dessen 70. Geburtstag, der sie sogar zur „bedeutendsten Rechtsfakultät“ erhebt; ähnlich Bernhardt, ZZP 1951, 1. 3 Knappe Würdigung von Jaeger bei Bernhardt, ZZP 1951, 1 ff. 4 Vgl. Bernhardt, ZZP 1951, 1.
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im de Gruyter-Verlag erscheinende Großkommentar zur Insolvenzordnung steht in der Tradition des von Jaeger begründeten Großkommentars zur Konkursordnung und trägt weiterhin seinen Namen. Im Jubiläumsjahr 2009 ehrt die Juristenfakultät der Universität Leipzig das akademische Leben und das wissenschaftliche Werk Ernst Jaegers mit der Gründung des Ernst-Jaeger-Instituts für Unternehmenssanierung und Insolvenzrecht. Die folgenden Zeilen befassen sich mit einem kleinen Ausschnitt aus dem literarischen Schaffen Ernst Jaegers. Die Frage, ob der Treugeber im Konkurs des Treuhänders das Treugut aussondern kann, ist eines der klassischen Themen des Konkursrechts. Zahlreiche höchstrichterliche Entscheidungen und unzählige wissenschaftliche Abhandlungen befassen sich mit dieser Frage. Auch Ernst Jaeger hat sich im Rahmen der Kommentierung des § 43 KO intensiv mit der Problematik auseinander gesetzt. Ein Aussonderungsrecht des Treugebers hat er dabei im Einklang mit der damals herrschenden Meinung5 stets bejaht. Der dabei zu Tage tretende Wandel der Begründungen ist interessant und aufschlussreich für sein wissenschaftliches Denken. Die folgende Untersuchung beschränkt sich auf den von Jaeger begründeten Kommentar zur Konkursordnung in sämtlichen Auflagen6. II. Zur Treuhand allgemein 1. Begriff der Treuhand § 43 KO regelte die Aussonderung nicht näher, sondern bezog sich auf die außerhalb des Konkursverfahrens geltenden Gesetze7. Von einer Aufzählung der zur Aussonderung berechtigenden Rechte sah der Gesetzgeber der KO ab, da er keine materiellrechtlichen Bestimmungen treffen wollte. § 43 KO war daher als bloße Verweisungsnorm konzipiert. Gleichwohl hatten die Kommissionsmitglieder die Frage der Aussonderung von Treugut diskutiert; der namentlich von Goldschmidt unternommene Versuch, das Aussonderungsrecht bei der Treuhand zu normieren, fand indes keine Mehrheit8. In einer umfassenden Kommentierung zu § 43 KO waren die einzelnen Fallgruppen der Aussonderung und ihre materiellrechtlichen Grundlagen freilich darzustellen. Hinsichtlich der Treuhand musste dieses Unterfangen indes auf Schwierigkeiten stoßen, denn über die Grundlagen der Treuhand bestand keine Einigkeit. Dieses Vakuum spiegelt sich auch im Werk Ernst Jaegers wider. In den frühen Auflagen Vgl. die Darstellung bei Löhnig, Treuhand, 2006, S. 52 ff. Jaeger, Konkursordnung, 1. Aufl. 1901; 2. Auflage 1904; 3. / 4. Auflage 1907; 5. Auflage 1916; 6. / 7. Auflage 1931. 7 „Die Ansprüche auf Aussonderung eines dem Gemeinschuldner nicht gehörigen Gegenstandes aus der Konkursmasse auf Grund eines dinglichen oder persönlichen Rechts bestimmen sich nach den außerhalb des Konkursverfahrens geltenden Gesetzen.“ 8 Vgl. Hahn, Materialien zur Konkursordnung, 1881, S. 541 f. 5 6
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seiner Kommentierung zur Aussonderung von Treugut verzichtet Jaeger auf eine präzise Begriffsbestimmung. In der 1. Auflage 1901 wird die „fiducia“ (ab der 2. Auflage 1904: „Anvertrauung“) eher umrissen denn definiert als eine Vereinbarung, mit der die Parteien bewusst ein in seinen Wirkungen über den erstrebten praktischen Zweck hinausgehendes Rechtsgeschäft abschließen9. Es folgen Beispiele wie die „Übereignung zu Pfandzwecken“ und die „Forderungsübertragung zu Inkassozwecken“, in der 3. / 4. Auflage 1907 ergänzt um die Übereignung zum Zwecke der „freieren Verwaltung“10. Die gewählten Beispiele umfassen damit die Verwaltungs- und Sicherungstreuhand, ohne dass Jaeger diese als solche benennt. In der 6. / 7. Auflage 1931 erweitert Jaeger die Beispiele für Treuhandverhältnisse nochmals um die Sicherungsübertragung eines Patents und die Treuhandübertragung zum Zwecke der Verfügung11. Jetzt grenzt Jaeger auch die verschiedenen Erscheinungsformen der Treuhand ab: „Treuhand“ sei kein fester Rechtsbegriff, einen „typischen Treuhandvertrag“ gebe es nicht12. Er definiert Treuhand als „Zuwendungen mit zwecküberschreitender Rechtsmacht“13, worunter sowohl die eigennützige als auch die uneigennützige Treuhand falle14. 2. Von der „fiducia“ zur „Treuhandverfügung“ a) Begriffsentwicklung und Abgrenzung zum Scheingeschäft Die dogmengeschichtliche Entwicklung des Treuhandverhältnisses steht zu Beginn des 20. Jahrhunderts ganz unter dem Eindruck der Simulationseinrede15. Ursache hierfür war, dass die Verkehrskreise angesichts des für die praktischen Bedürfnisse ungeeigneten Besitzpfands auf den Sicherungsverkauf und später auf die Sicherungsübereignung ausgewichen waren. Nach der Auffassung der ersten Kommission zur Schaffung des BGB stand die Übereignung mittels Besitzkonstitut vorneweg unter Simulationsverdacht16. Die Kommission gab damit ein weit verbreitetes Meinungsbild wieder. Dem Spannungsverhältnis zwischen Simulation und Treuhand konnte sich auch Jaeger nicht entziehen. Den Abschnitt über das Aussonderungsrecht des Treugebers leitet er von der 1. Auflage 1901 bis zur letzten von ihm bearbeiteten 6. / 7. Auflage 1931 durchweg mit einer Abgrenzung der Rechtsübertragung zu treuhänderischen Zwecken vom Scheingeschäft ein. Da die Jaeger, Konkursordnung, 2. Aufl. 1904, § 43, Anm. 17. Jaeger, Konkursordnung, 3. / 4. Aufl. 1907, § 43, Anm. 38. 11 Jaeger, Konkursordnung, 6. / 7. Aufl. 1931, § 43, Anm. 38. 12 Jaeger, Konkursordnung, 6. / 7. Aufl. 1931, § 43, Anm. 38. 13 Im Lehrbuch des Deutschen Konkursrechts, 8. Aufl. 1932, S. 103 spricht Jaeger von „Zuwendungen mit zwecküberschreitender Rechtseinräumung“. 14 Jaeger, Konkursordnung, 6. / 7. Aufl. 1931, § 43, Anm. 38. 15 Zum folgenden Löhnig, Treuhand, 2006, S. 13 ff. 16 Vgl. Motive zum BGB III, S. 335. 9
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simulierte Übertragung nach § 117 Abs. 1 BGB nichtig sei, könne der Veräußerer im Konkurs des Erwerbers aussondern, habe aber die Scheinabrede zu beweisen. Klarstellend hebt Jaeger bis zur 2. Auflage 1904 hervor, die Konkursgläubiger seien nicht „Dritter“, die sich auf einen Erwerb in gutem Glauben berufen können17. Dieser Hinweis entfällt ab der 3. / 4. Auflage 1907. Vom Scheingeschäft unterscheidet Jaeger die „Anvertrauung“; an die Stelle dieses Begriffs tritt ab der 3. / 4. Auflage 1907 der Ausdruck „fiduziarische Rechtsübertragung“ und in der 6. / 7. Auflage 1931 die Bezeichnung „Rechtsübertragung zu treuen Händen“; synonym verwendet Jaeger ab der 3. / 4. Auflage 1907 den Begriff „Treuhandverfügung“18. Das fiduziarische Geschäft sei – im Unterschied zum Scheingeschäft – „ernstlich und nach außen vollwirksam“19. Im Jaegerschen Kommentar spiegelt sich damit die Entwicklung der Treuhand als Gegenbegriff zur Simulation20. b) Zulässigkeit der Treuhandverfügung Die Frage der Zulässigkeit der Treuhand und des damit anzuerkennenden Aussonderungsrechts steht für Jaeger in engem Zusammenhang mit der Wirksamkeit der Treuhandverfügung. Folgerichtig setzt sich Jaeger mit der Zulässigkeit fiduziarischer Geschäfte auseinander. Infolge der abstrakten Natur der Übertragung obligatorischer und dinglicher Rechte sowie nach § 223 Abs. 2 BGB a.F. sei die Geltung solcher Rechtsgeschäfte auch unter dem BGB anzuerkennen21. Bestärkend führt Jaeger die „zwingende Macht der Verkehrsbedürfnisse“ an. Mit dem Hinweis auf die abstrakte Natur der Rechtsgeschäfte, also das vom gerade in Kraft getretenen BGB betonte Abstraktionsprinzip, setzt Jaeger freilich eine dogmatische Prämisse, die seine folgende dogmatische Absicherung des Aussonderungsrechts des Treugebers als wenig folgerichtig erscheinen lässt. Jaeger stützt sich auf die vom Parteiwillen getragene, dem Erwerber gegenüber bestehende relative Unwirksamkeit der Treuhandverfügung22 (dazu sogleich im folgenden Text). Die innere Abstraktion der dinglichen Verfügung lässt für eine vom Parteiwillen getragene Modifikation der Rechtsfolgen des Verfügungsgeschäfts gerade keinen Raum.
17 Jaeger, Konkursordnung, 1. Aufl. 1902, § 43, Anm. 17; Jaeger, Konkursordnung, 2. Aufl. 1904, § 43, Anm. 17. 18 Jaeger, Konkursordnung, 3. / 4. Aufl. 1907, § 43, Anm. 38; Jaeger, Konkursordnung, 6. / 7. Aufl. 1931, § 43, Anm. 38. 19 Jaeger, Konkursordnung, 2. Aufl. 1904, § 43, Anm. 17. 20 Dazu eingehend Löhnig, Treuhand, 2006, S. 13 ff. 21 Jaeger, Konkursordnung, 2. Aufl. 1904, § 43, Anm. 18. 22 Jaeger, Konkursordnung, 2. Aufl. 1904, § 43, Anm. 18.
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c) Wandlungen der Dogmatik der Treuhandverfügung aa) Ermächtigung neben Treuhandverfügung Bis zur 2. Auflage 1904 stützt Jaeger die Treuhandkonstruktion zudem auf eine Ermächtigung; der Erwerber sei zur Geltendmachung des ihm übertragenen Rechts als „unbeschränkt ermächtigt“ anzusehen23. Ein Rückgriff auf die Ermächtigung des Treuhänders erscheint aber nicht erforderlich, nachdem Jaeger zuvor klargestellt hatte, dass der Erwerb des Treuhänders voll wirksam sei. Der Rückgriff auf eine neben dem Vollrechtserwerb stehende Ermächtigung wurde dementsprechend in den folgenden Auflagen fallen gelassen. In der 3. / 4. Auflage 1907 korrigiert Jaeger seinen Standpunkt: Die Rechtsübertragung erlange Wirksamkeit; „dementsprechend“ werde der Erwerber in Stand gesetzt, das ihm übertragene Recht gegen Dritte geltend zu machen24. Eine zusätzlich neben die Treuhandübertragung tretende Ermächtigung erwähnte Jaeger in diesem Zusammenhang nicht mehr. bb) Innenverhältnis zwischen Treuhänder und Treugeber In der 3. / 4. Auflage 1907 erfolgt ferner eine Klarstellung hinsichtlich des Innenverhältnisses zwischen dem Veräußerer und dem Erwerber. Noch in der 2. Auflage 1904 rückt Jaeger allein die Frage des Missbrauchs der Rechtsbefugnisse durch den Treuhänder in den Mittelpunkt: „Allein er [der Treuhänder] ist gegenüber dem Veräußerer gehalten, das ihm geschenkte Vertrauen nicht zu mißbrauchen“25. Danach scheint der Treuhänder im Innenverhältnis allein dem Rechtsmissbrauchsverbot zu unterliegen, von einer schuldrechtlich pflichtenbegründenden Rechtsbeziehung spricht Jaeger nicht26. Diesen Punkt präzisiert er erst in der Folgeauflage von 1907, indem er die Rechtspflicht des Treuhänders betont und zudem mit der zwischen Veräußerer und Erwerber bestehenden Vertragsbeziehung die wesentliche Rechtsgrundlage der Treupflicht des Treuhänders benennt: „Allein dem Veräußerer gegenüber hat er die Treupflicht, es nur nach Maßgabe des zwischen ihnen bestehenden Vertragsverhältnisses auszuüben.“27 Jaeger greift damit auf die schuldrechtliche Treuhandabrede zurück. In der 6. / 7. Auflage 1931 entwickelt Jaeger sein Verständnis der Treuhand weiter und benennt das Schuldverhältnis ausdrücklich als „Schaltstelle“ der Treuhand. Durch die Treuhandverfügung werde der Erwerber Rechtsinhaber und könne daher – also ohne Rückgriff auf eine Ermächtigung – das Recht selbständig geltend machen. Allein dem Veräußerer gegenüber sei der Erwerber nach Maßgabe des der Verfügung zugrunde liegenden 23 Jaeger, Konkursordnung, 2. Aufl. 1904, § 43, Anm. 17; in der 1. Auflage 1902 gleichbedeutend noch mit „legitimiert“ umschreiben. 24 Jaeger, Konkursordnung, 3. / 4. Aufl. 1907, § 43, Anm. 38. 25 Jaeger, Konkursordnung, 2. Aufl. 1904, § 43, Anm. 17. 26 Der in Jaeger, Konkursordnung, 1. Aufl. 1902, § 43, Anm. 17 enthaltene Hinweis auf die „obligatorische“ Natur des Missbrauchsverbots entfällt in der 2. Auflage 1904. 27 Jaeger, Konkursordnung, 3. / 4. Aufl. 1907, § 43, Anm. 38.
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Schuldverhältnisses gebunden. „Dieses Schuldverhältnis bestimmt den Zweck der Verfügung und damit die Aufgaben des Treuhänders.“28 d) Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Jaeger seine Kommentierung zum Aussonderungsrecht bei der Treuhand mit weit reichenden Überlegungen zu materiellrechtlichen Fragen der Treuhand einleitet. Die anfängliche Unsicherheit in der Bestimmung der materiellrechtlichen Struktur der Treuhand (Ermächtigung, „relative“ Zuordnung, [obligatorisches] Innenverhältnis) weicht ab der 3. / 4. Auflage 1907 der sich verfestigenden herrschenden Meinung außerhalb des Konkursrechts. Diese freilich bietet keine dogmatische Anbindung für ein Aussonderungsrecht. Dementsprechend stützte sich Jaeger insofern auf gewohnheitsrechtliche Begründungsansätze und praktische Verkehrsbedürfnisse, wie im Folgenden nachzuzeichnen ist: III. Zur Frage der Aussonderung 1. Der ursprüngliche Standpunkt Jaegers in der 1. Auflage 1901 a) Relatives Eigentum Hinsichtlich der Jaeger eigentlich beschäftigenden Frage, ob dem Treugeber im Konkurs des Treuhänders ein Aussonderungsrecht bezüglich des Treuguts zustehe, referiert er zunächst die Ansichten, die ein Aussonderungsrecht mit dem Argument begründen, dem Treuhänder „gehöre“ das anvertraute Gut im Sinne des § 43 KO nicht29: Der Treuhänder sei Eigentümer, aber in seinem „Vermögen“ stehe das Treugut nicht (R. Schmidt); im Sinne des Verkehrs gehöre ihm die Sache nicht (Dernburg). Jaeger skizziert in diesem Zusammenhang auch die berühmte Unterscheidung des Reichsgerichts zwischen formellem und materiellem bzw. wirtschaftlichem Eigentum (RGZ 45, 81, 85). Jaeger schließt sich den das Aussonderungsrecht bejahenden Stimmen im Ergebnis an. In der 1. Auflage 1901 stützt er dies noch entscheidend auf die Ermächtigung: Der Verwalter könne die Vermögensrechte des Gemeinschuldners nur in den Grenzen ausüben, die dem letzteren gesetzt seien. „Für das Verhältnis der Parteien untereinander ist nun aber der Treuhänder nur ermächtigt, nicht selbst berechtigt.“30 Im Innenverhältnis zwischen Treugeber und Treuhänder sei der Treugeber Eigentümer: „Unseres Erachtens steht auch das Eigentum der anvertrau28 29 30
Jaeger, Konkursordnung, 6. / 7. Aufl. 1931, § 43, Anm. 38. Jaeger, Konkursordnung, 2. Aufl. 1904, § 43, Anm. 18, 2. Absatz. Jaeger, Konkursordnung, 1. Aufl. 1902, § 43, Anm. 19.
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ten Sache im Verhältnisse zwischen dem Geschäftsherrn und dem Treuhänder nicht beim Treuhänder, sondern beim Geschäftsherrn.“31 Dies liegt ganz auf der Linie der zuvor geäußerten Ansicht, die fiduziarische Verfügung sei (nur) „nach außen“ voll wirksam, damit – so ist zu folgern – nicht im Innenverhältnis. Jaeger spricht folgerichtig von einem „relativen Rechtserwerb“ des Treuhänders: „Inter partes gehört er (der anvertraute Gegenstand) dem Geschäftsherrn und darf darum von diesem ausgesondert werden.“32 Als Grundlage der Aussonderung wird in der 1. Auflage 1901 ein „persönliches Recht, z. B. die actio mandati“33, in der 2. Auflage 1904 der dingliche Herausgabeanspruch (z. B. der rei vindicatio) benannt, mit dem ein obligatorischer Herausgabeanspruch konkurrieren könne34. Mit der Einordnung des Treuhandeigentums als „relatives Eigentum“ steht Jaeger insbesondere der Auffassung von Wolff nahe, der als Hauptvertreter der Lehre von der relativen Rechtszuständigkeit beim Treuhandeigentum anzusehen ist35. Durchgesetzt hat sich diese Auffassung freilich nicht. Schon vor Inkrafttreten des BGB hatte RGZ 45, 81, 82 betont, dass der „Eigentumsbegriff“ einer Spaltung des Eigentums entgegenstehe. Gleichwohl greift Jaeger auf die Figur relativen Eigentums zurück, ohne jedoch eine eingehende dogmatische Begründung anzuführen36. Der Kritik von Lang, eine solche Rechtsfigur sei juristisch unmöglich, begegnet Jaeger mit dem Hinweis auf die §§ 135, 136 BGB; ebenso wie bei einer gegen ein gesetzliches bzw. gerichtliches Veräußerungsverbot verstoßenden Verfügung sei auch bei der Treuhandverfügung eine relative Unwirksamkeit möglich. § 137 BGB stehe dem relativen Treuhanderwerb nicht entgegen37. b) Aufgrund Parteiwillens Dogmatisch stützt Jaeger das relative Eigentum des Treugebers nicht auf das Gesetz; der Verweis auf die §§ 135 f. BGB dient nur dazu darzulegen, dass relative Zuordnungen mit dem BGB vereinbar sein können und jedenfalls keine „unmögliche“ Rechtsfolge darstellen. Grundlage des relativen Eigentums ist der Parteiwille: „Das (gemeint: [Eigentum des Geschäftsherrn]) ergibt sich unmittelbar aus der Willensmeinung der Parteien: auf eine auch gegenüber dem Geschäftsherrn durchgreifende Übertragung ist die Absicht der Parteien nicht gerichtet; weiter als der Jaeger, Konkursordnung, 2. Aufl. 1904, § 43, Anm. 18, 2. Absatz. Jaeger, Konkursordnung, 2. Aufl. 1904, § 43, Anm. 18, 2. Absatz. 33 Jaeger, Konkursordnung, 1. Aufl. 1902, § 43, Anm. 19. 34 Jaeger, Konkursordnung, 2. Aufl. 1904, § 43, Anm. 18, 2. Absatz, S. 366 oben. 35 Vgl. Martin Wolff, Sachenrecht, 9. Bearbeitung 1932, § 88 V; auch noch Wolff / Raiser, Sachenrecht, 10. Bearbeitung 1957, § 88 V. 36 Siebert, Das rechtsgeschäftliche Treuhandverhältnis, 1933, S. 335 spricht daher auch nur von einem verdeutlichendem Bild; eine dogmatische Begründung liege darin nicht. 37 Jaeger, Konkursordnung, 2. Aufl. 1904, § 43, Anm. 18, 2. Absatz. 31 32
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Parteiwille reicht auch die Wirksamkeit der Willenseinigung nicht.“38 Bezugspunkt dieser Willensbeschränkung ist nicht der schuldrechtliche Treuhandvertrag, sondern die willensgetragene Begrenzung der Rechtsfolgen der dinglichen Einigung zwischen Treugeber und Treuhänder. Mit dem naheliegenden Einwand, die Beschränkung der Rechtsfolgen der dinglichen Einigung auf ein das Außenverhältnis des Erwerbers beschränkendes Eigentum kollidiere mit dem numerus clausus der Sachenrechte, setzt sich Jaeger nicht auseinander. Das erstaunt umso mehr, als er sich zur Begründung der Zulässigkeit von Treuhandverfügungen auf die „abstrakte Natur“ der Verfügungen berufen hatte39. Das Prinzip der geschlossenen Zahl der Sachenrechte steht indes in untrennbarem Zusammenhang mit dem Gedanken innerer Abstraktion des Verfügungsgeschäfts. Mit wenigen Worten und ohne Begründung bejaht Jaeger auch die Vereinbarkeit des relativen Treuhandeigentums mit § 137 BGB. Nach § 137 Satz 1 BGB sind rechtsgeschäftliche Beschränkungen der Verfügungsbefugnis über ein veräußerliches Recht unwirksam. Bei Lichte besehen liegt indes in der Konstruktion eines nur relativen Eigentums des Treuhanderwerbers durchaus eine Beschränkung seiner Verfügungsmacht über das Treugut. Der Treuhänder vermag zwar das Treugut weiter zu übertragen. Die Rechtsstellung des (Zweit-)Erwerbers kann aber nicht weiter reichen als die des verfügenden Treuhänders. Folglich bleibt im Verhältnis zwischen dem (Zweit-)Erwerber und dem Treugeber weiterhin der Treugeber Eigentümer. Die Verfügungsbefugnis des Treuhänders ist also durch die von Jaeger vorausgesetzte Treuhandabrede insofern beschränkt, als der Treuhänder dem (Zweit-)Erwerber kein „absolutes“, auch gegenüber dem Treugeber wirksames Eigentum verschaffen kann. Damit wird seine Verfügungsbefugnis durch die Treuhandabrede begrenzt. Die Treuhandabrede könnte danach gemäß § 137 Satz 2 BGB allenfalls schuldrechtliche Wirkung entfalten. Eine solche verneint Jaeger indes40. Die Konstruktion eines auf dem Parteiwillen beruhenden relativen Treuhandeigentums in der 1. Auflage 1901 und – weiter ausgearbeitet – in der 2. Auflage 1904 stand daher auf unsicherer Grundlage. Jaeger hat sie in den Folgeauflagen aufgegeben. 2. Der neue Begründungsansatz in der 3. / 4. Auflage 1907 In der 3. / 4. Auflage 1907 vollzieht Jaeger einen durchgreifenden Auffassungswandel hinsichtlich der Dogmatik der Treuhandverfügung. Den Ansatz, das Aussonderungsrecht auf (nur) relatives Eigentum des Treuhänders zu stützen, das aufgrund Parteiwillens entsteht, lässt er fallen. Jaeger stützt das Aussonderungsrecht 38 Jaeger, Konkursordnung, 2. Aufl. 1904, § 43, Anm. 18, 2. Absatz; in der 1. Auflage 1902 noch nicht enthalten. 39 Jaeger, Konkursordnung, 2. Aufl. 1904, § 43, Anm. 18, 1. Absatz. 40 Jaeger, Konkursordnung, 2. Aufl. 1904, § 43, Anm. 18, 2. Absatz, S. 365 unten.
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des Treugebers im Konkurs des Treuhänders in erster Linie auf seine gewohnheitsrechtliche Anerkennung in der Rechtsprechung. Den Kern der „Begründung“ sieht er in der berühmten Unterscheidung des Reichsgerichts, dass die formal-juristische Zugehörigkeit des Treuguts zum Vermögen des Treuhänders im Bereich des § 43 KO hinter der „materiell-wirtschaftlichen Zugehörigkeit des Gutes zum Vermögen des Treugebers zurücktreten müsse“41. Eine juristische Begründung enthält diese Unterscheidung zwischen juristischem und wirtschaftlichem Eigentum indes gerade nicht. Sie bestätigt sogar ausdrücklich, dass das Treugut juristisch zum Vermögen des Treuhänders zählt. Die Zuerkennung des Aussonderungsrechts unter Hinweis auf „wirtschaftliches Eigentum“ des Treugebers ist eine Ad-hoc-Konstruktion ohne Begründungswert. Nur sehr vorsichtig distanziert sich Jaeger von diesen und ähnlichen Begründungsversuchen: „Mag aber auch das Aussonderungsrecht des Treugebers in den einzelnen Entscheidungen unzulänglich begründet worden sein . . .“42. Jaeger stützt sich im Folgenden denn auch – neben der Entstehungsgeschichte des § 43 KO – (nur) auf die „Verkehrsauffassung“, wonach Treugut keinen Bestandteil des Treuhändervermögens bilde43. Ergänzt wird dies durch den Hinweis, es widerstreite „Billigkeit“ und „Verkehrsanschauung“, das Treugut „Beute“ der Gläubiger des Treuhänders werden zu lassen44. 3. „Geminderte Wirkung“ der Treuhandverfügung Andeutungsweise schon in der 5. Auflage 1916, vertieft ausgearbeitet in der 6. / 7. Auflage 1931 findet sich eine weitergehende Überlegung, die in der These von der geminderten Wirksamkeit der Treuhandverfügung mündet: „Diese Abschwächung besteht darin, daß Treugut keinen Bestandteil des dem Zugriff der Gläubiger des Treuhänders offenstehenden Schuldnervermögens bildet, daß es im Sinne der §§ 1, 43 dem Treuhänder als Gemeinschuldner ,nicht gehört‘“45. Jaeger hat damit eine – modern würde man sagen: – haftungsrechtliche Deutung gesucht, freilich noch sehr unvollkommen. Insbesondere musste sich Jaeger mit seiner Grundannahme auseinander setzen, dass sich das „Gehören“ streng nach der formalen „Rechtszuständigkeit“ bestimme. Der noch in der 5. Auflage 191646 enthaltene Hinweis auf dieses Prinzip entfiel in der 6. / 7. Auflage 193147. Den Grundansatz bei der Treuhandverfügung hat Jaeger indes nicht aufgegeben. Von daher musste er eine „Abschwächung der sonst mit der Verfügung verknüpften 41 Jaeger, Konkursordnung, 3. / 4. Aufl. 1907, § 43, Anm. 40, 2. Absatz unter Hinweis insbesondere auf RGZ 45, 85. 42 Jaeger, Konkursordnung, 3. / 4. Aufl. 1907, § 43, Anm. 40, letzter Absatz S. 508. 43 Jaeger, Konkursordnung, 3. / 4. Aufl. 1907, § 43, Anm. 40. 44 Jaeger, Konkursordnung, 3. / 4. Aufl. 1907, § 43, Anm. 40, 1. Absatz. 45 Jaeger, Konkursordnung, 6. / 7. Aufl. 1931, § 43, Anm. 40. 46 Jaeger, Konkursordnung, 5. Aufl. 1916, § 43, Anm. 40. 47 Jaeger, Konkursordnung, 6. / 7. Aufl. 1931, § 43, Anm. 40.
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Folgen“48 suchen. Der gewohnheitsrechtliche Rechtssatz schwäche schon die Folgen der Verfügung zugunsten des Treuhänders (die erst das Aussonderungsrecht ermögliche) ab49. Zugleich distanziert sich Jaeger von der Unterscheidung zwischen dem formal-juristischen und dem wirtschaftlichen Eigentumsbegriff des Reichsgerichts. Wesentlich sei: „Treuhandverfügungen haben eine geminderte Wirksamkeit“50. 4. Analyse: Treuhandverfügung als Grundlage von Treuhandeigentum Jaeger beschränkt sich bei seinen Ausführungen nicht auf sein eigentliches Thema, nämlich die Frage des Aussonderungsrechts des Treugebers. Er hält weiterhin den Zusammenhang zwischen der Treuhandverfügung und dem Aussonderungsrecht fest. Weniger das Aussonderungsrecht ist danach gewohnheitsrechtlich anerkannt, sondern die beschränkte Wirkung der Treuhandverfügung, aus der das Aussonderungsrecht folgt. Diese fortdauernde Anbindung der Frage des Aussonderungsrechts an den Entstehungsgrund des Treuhandrechts, also die rechtsgeschäftliche Treuhandverfügung, führt im Zusammenspiel mit dem gewohnheitsrechtlichen Begründungsansatz zu einer dogmatischen Starre, aus der sich das Treuhandrecht erst langsam löst. Drittzuwendungen, die direkt vom Zuwendenden an den Treuhänder erfolgen, können danach nicht zur Aussonderung führen. Das Aussonderungsrecht beruht auf dem fortdauernd relational gedachten Verfügungsvorgang, der eine zur Aussonderung legitimierende Rechtsposition beim Verfügenden zurück lasse. Maßgeblich ist nicht die Treuhand als besondere Rechtszuordnung, sondern das aus der Treuhandverfügung erwachsene Treuhandverhältnis. Von daher ist es folgerichtig, ein Aussonderungsrecht zu verneinen, soweit der Treuhänder das Treugut nicht vom Treugeber, sondern von einem Dritten erworben hat. Die Unmittelbarkeitslehre, wonach der Treugeber nur aussondern könne, wenn er dem Treuhänder das Treugut direkt übertragen habe, findet hier einen Ursprung. Folgerichtig wendet sich Jaeger denn auch gegen die Aussonderung von Treugut, das der Treuhänder von Dritten erworben hat. Nur ein aus „dem Vermögen des Treugebers selbst entstammender Gegenstand“ unterliege der Aussonderung51. Immerhin hat Jaeger keine Bedenken, die Ersatzaussonderung auch hinsichtlich des Treuguts anzuerkennen, wenn nur das Treugut selbst aus dem Vermögen des Treugebers stamme52. In diesem Zusammenhang erweitert Jaeger die Möglichkeit 48 49 50 51 52
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der Aussonderung in einem besonderen Fall: Weist der Treugeber seinen Schuldner an, den geschuldeten Gegenstand unmittelbar an den Treuhänder zu leisten, so könne der Treugeber im Konkurs des Treuhänders aussondern53. Mit Ersatzaussonderung hat dies nichts zu tun, denn der Anspruch, auf den die Leistung erfolgte, stand dem Treuhänder nicht zu. Wohl aber beruht Jaegers Lösung auf dem Gedanken, die treuhänderische Abtretung einer Forderung mit nachfolgender Einziehung durch den Treuhänder der Leistung des Drittschuldners aufgrund einer Weisung des Treugebers gleich zu setzen. Den Schritt zu einer Rechtsfortbildung, der als solche offen ausgesprochen wird, ist Jaeger nicht gegangen. IV. Die weitere Entwicklung nach 1944 1. Jaeger / Lent Ernst Jaeger ist 1944 verstorben. Die in den 1930er Jahren aufbrechende literarische Auseinandersetzung um die Treuhand und die prägende Arbeit von Siebert, Das rechtsgeschäftliche Treuhandverhältnis, 1933, konnte er nicht mehr aufnehmen. Eine Neuauflage aus seiner Feder ist nicht erschienen. Lent und Weber haben sein Werk gemeinsam fortgeführt. Lent gibt der Kommentierung zur Frage der Aussonderung von Treugut ein anderes äußeres Gepräge. Lent greift insbesondere die unterdessen geläufige Unterscheidung von eigennütziger (regelmäßig: Sicherungs-)Treuhand und uneigennütziger (gewöhnlich: Verwaltungs-)Treuhand auf. Lent stellt zwar Jaegers Ansicht von der beschränkten Rechtswirkung der Treuhandverfügung (nochmals) dar, verzichtet aber auf Kritik und Stellungnahme. Das wesentliche Argument ist allein die gewohnheitsrechtliche Anerkennung des Aussonderungsrechts des Treugebers durch die Rechtsprechung54. Lent streift damit alle auf der materiellrechtlichen Struktur der Treuhand fußende Begründungselemente ab. Der Rückgriff auf Gewohnheitsrecht macht diese Lösung unangreifbar. Immerhin hält Lent an der von Jaeger dargelegten Prämisse fest, dass ein Aussonderungsrecht nur in Betracht kommt, wenn das Treugut aus dem Vermögen des Treugebers selbst stammt. Ebenso wie Jaeger begründet Lent dies mit der Regelwidrigkeit des Aussonderungsrechts des Treugebers und der Notwendigkeit enger Auslegung des zugrunde liegenden Rechtssatzes55.
Jaeger, Konkursordnung, 6. / 7. Aufl. 1931, § 43, Anm. 40 a.E., S. 771. Jaeger / Lent, Konkursordnung, 8. Aufl. 1958, § 43, Rn. 39. 55 Jaeger / Lent, Konkursordnung, 8. Aufl. 1958, § 43, Rn. 39 unter weitgehender Übernahme der Formulierungen von Jaeger. 53 54
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2. Jaeger / Henckel Henckel bejaht in der 10. Auflage 200456 ein Aussonderungsrecht des Treugebers in der Insolvenz des Treuhänders. Grundlage hierfür sei, dass dem Innenverhältnis zwischen Treugeber und Treuhänder eine „haftungsrechtliche Außenwirkung“ beigelegt werde. Obgleich das Treugut dem Treuhänder gehöre, hafte es nicht für die Verbindlichkeiten des Treuhänders57. Bemerkenswert ist ein zweiter Begründungsansatz, der sich vom Blick auf den Treuhänder löst und die haftungsrechtlichen Verhältnisse beim Treugeber in den Mittelpunkt rückt: Das Treugut hafte den Gläubigern des Treugebers unmittelbar, der es durch die rechtsgeschäftliche Vereinbarung, dass es der Treuhänder für Rechnung des Treugebers verwalte, der Haftung im Vermögen des Treugebers nicht entziehen könne. Der Treuhandvertrag entfaltet danach eine weitreichende haftungsrechtliche Modifikation der dinglichen Zuordnung. Henckels haftungsrechtlicher Ansatz knüpft nicht mehr an an den rechtsgeschäftlichen Entstehungsgrund des Treuguts. Die Treuhandverfügung – also der Erwerbsvorgang zwischen Treugeber und Treuhänder – bildet nicht länger die Grundlage der Treuguteigenschaft. Folgerichtig löst sich Henckel vom Unmittelbarkeitsprinzip58. Er postuliert eine „haftungsrechtliche Statusbetrachtung“ des Treuguts, die an die Treuhandabrede, nicht aber an die Treuhandverfügung anknüpft. Das zur Aussonderung berechtigende Treuhandeigentum ist – anders als noch bei Jaeger und Lent – einerseits nicht mehr „regelwidrig“ und damit andererseits zugleich prinzipiell offen für eine Vielzahl von Treuhandverhältnissen. Zugleich verliert allerdings die sich nach bürgerlichem Recht bestimmende dingliche Rechtsträgerschaft für die haftungsrechtliche Zuordnung an Bedeutung. Diese Entwicklung ist nicht unproblematisch, denn sie eröffnet einen Bruch zwischen der Möglichkeit privatautonomer Schuldentilgung durch Verfügung (über das Treugut) und der Befriedigung im Wege der zwangsweisen Haftungsverwirklichung59. Zugleich rückt die Frage in den Mittelpunkt, welches Kriterium an die Stelle der Unmittelbarkeit treten könnte. Hierbei dürfte die Publizität der Treuhandeigenschaft eines Gegenstands besondere Bedeutung gewinnen.
56 Die 9. Auflage 1977 ff. wurde nicht vollendet. Eine Kommentierung des § 43 KO ist nicht erschienen. 57 Henckel, in: Jaeger / Henckel / Gerhardt, InsO, § 47, Rn. 68. 58 Henckel, in: Jaeger / Henckel / Gerhardt, InsO, § 47, Rn. 70 ff. 59 Gleichwohl lässt sich eine abweichende Behandlung von rechtsgeschäftlicher Verfügung und Zwangsverfügung rechtfertigen, vgl. Berger, Rechtsgeschäftliche Verfügungsbeschränkungen, 1998, S. 156 ff.
Die Aussonderung von Treugut in der Insolvenz des Treuhänders
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V. Abschließende Würdigung Die Kommentierung des Aussonderungsrechts des Treugebers in der Insolvenz des Treuhänders bildet einen Spiegel der allgemeinen Treuhandlehre des materiellen Rechts. Bis zur 2. Auflage 1904 hatte Jaeger noch versucht, das Aussonderungsrecht aus materiellrechtlichen Besonderheiten der Treuhandverfügung abzuleiten. Dieser Ansatz wurde in der 3. / 4. Auflage 1907 aufgegeben. Mit der Aufgabe der Relativität der Treuhandverfügung und der Abkehr von der Ermächtigung des Treuhänders hat die Kommentierung in dieser Auflage ihre wesentliche Prägung erfahren. Jaeger stützt das Aussonderungsrecht auf den Willen des Gesetzgebers, bestehende Verkehrsbedürfnisse und die gewohnheitsrechtliche Anerkennung. Vollständig gelöst hat Jaeger die Lehre vom Aussonderungsrecht des Treuhänders von materiellrechtlichen Vorgaben indes nicht, soweit er am Unmittelbarkeitsprinzip festhielt und damit der Treuhandverfügung nach wie vor maßgeblichen Einfluss auf die Reichweite des Aussonderungsrechts zusprach. Erst Henckel hat sich in der 10. Auflage 2004 einem völlig anderen haftungsrechtlichen Ansatz zugewandt. Formal gesehen hat sich die Struktur der Kommentierung zu Zeiten Jaegers kaum geändert. Die Punkte: Scheingeschäft, Abgrenzung zur Treuhand, Anvertrauung und Treuhandverfügung, die Zulässigkeit fiduziarischer Geschäfte, das Innenverhältnis zwischen Treuhänder und Treugeber und die Begründung des Aussonderungsrechts bilden in den Folgeauflagen durchweg wiederkehrende strukturbildende Elemente der Kommentierung. Diese ist überdies gekennzeichnet durcheinen Verlust lateinischer Begriffsbildung; beispielsweise tritt an die Stelle der Simulation60 die Scheinabrede61, die „fiducia“62 wird ersetzt durch die „Anvertrauung“63, diese in Folgeauflagen verdrängt durch die „fiduziarische Rechtsübertragung“ und schließlich durch den Begriff „Treuhandverfügung“ abgelöst64. Die Kommentierung wird mit den Folgeauflagen durchweg breiter, Rechtsprechung und Literatur sind akribisch rezipiert worden, zuweilen schleichen sich Redundanzen ein. Ernst Jaeger hat den Großkommentar zur Konkursordnung zu einer Zeit begründet, als die Literaturgattung „Kommentar“ von wissenschaftlicher Seite eher geringschätzig als Praktikerwerk angesehen wurde65. Auch nach seiner Berufung zum ordentlichen Professor in Leipzig ist Jaeger diesen Weg weiter gegangen. Er hat damit einen Kommentar begründet, der in der Reihe der althergebrachten Jaeger, Konkursordnung, 2. Aufl. 1904, § 43, Anm. 17. Jaeger, Konkursordnung, 3. / 4. Aufl. 1907, § 43, Anm. 38 62 Jaeger, Konkursordnung, 1. Aufl. 1902, § 43, Anm. 17. 63 Jaeger, Konkursordnung, 2. Aufl. 1904, § 43, Anm. 17. 64 Jaeger, Konkursordnung, 3. / 4. Aufl. 1907, § 43, Anm. 38. 65 Vgl. Henne, in: Wendehorst (Hrsg.), Bausteine einer jüdischen Geschichte der Universität Leipzig, 2006, S. 201 mit Nachweisen. 60 61
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Großkommentare von Staudinger zum BGB, Staub zum HGB und Stein / Jonas zur ZPO einen würdigen Platz einnimmt. Verlag, Herausgebern und Autoren der 10. Auflage des Jaegerschen Kommentars ist es zu danken, dass sie diese Tradition unter der Insolvenzordnung fortführen.
Prinzipientreue im Wandel der Staatsformen Der Leipziger Staatsrechtslehrer Willibalt Apelt (1877 – 1965) Von Christoph Enders* I. Die nationalsozialistische Machtergreifung – und die Frage nach Notwendigkeit und Chance eines moralischen Rigorismus’ Bestürzend wirkt nicht nur die Radikalität, mit der im Gefolge der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 die nationalsozialistische Machtergreifung in die verfassungsmäßige Ordnung der Weimarer Republik einbrach. Binnen kurzem waren deren Strukturen im Kern getroffen – insbes. durch die „Reichstagsbrandverordnung“ vom 28. Februar 19331 – und bereits mit dem berüchtigten „Ermächtigungsgesetz“ vom 24. März 1933 im Wesentlichen beseitigt.2 Mit dem Gesetz über den Neuaufbau des Reiches vom 30. Januar 1934,3 das die Eigenstaatlichkeit der Länder aufhob, vor allem aber mit dem Gesetz über das Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches vom 1. August 1934,4 das die Staatsgewalt in der Person Hitlers konzentrierte, war ihr rechtsstaatlich-demokratischer Funktionszusammenhang endgültig zerstört.5 * Herrn stud. iur. Norman Jäckel danke ich für wertvolle Unterstützung bei der Auffindung und Auswertung der Akten. 1 Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat, RGBl. I S. 83. Diese auf den „Diktaturartikel“ des Art. 48 Abs. 2 WRV gestützte Verordnung, die bis 1945 in Geltung blieb, setzte unter anderem die Freiheit der Person außer Kraft und bildete so die Rechtsgrundlage der „Schutzhaft“-Praxis, vgl. auch Frotscher, Werner / Pieroth, Bodo: Verfassungsgeschichte, 4. Aufl. 2003, Rn. 567 f., auch Rn. 633. Sie erlaubte außerdem Gleichschaltungsmaßnahmen auf Länderebene „zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“; vgl. Frotscher / Pieroth, ebd., Rn. 580. Dazu und zum folgenden auch Plum, Günter: Übernahme und Sicherung der Macht 1933 / 34, in: Broszat, Martin / Frei, Norbert (Hg.): Das Dritte Reich im Überblick, 2007, S. 34 (38 ff.). 2 Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich, RGBl. I S. 141. Zu dessen Bedeutung etwa G. A. Walz, DJZ 1933, S. 1334. Vgl. zusammenfassend Dreier, Horst: Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, VVDStRL 60 (2001), S. 9 (20 ff.). 3 RGBl. I S. 75. 4 RGBl. I S. 747. Vgl. Frotscher / Pieroth (Fn. 1), Rn. 593. 5 Dazu auch die zeitgenössische Äußerung von Ernst Rudolf Huber, Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, 2. Aufl. 1939, S. 44.
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Ebenso bedrückend ist, wie schnell der Wandel der politischen Verhältnisse unmittelbar und nachhaltig die Lebensumstände der Einzelnen umwälzen konnte und schon bevor Deportationen und systematische Vernichtung begonnen hatten, Unzählige aus ihrer Bahn warf. Dieses Schicksal widerfuhr, wie anderen Hochschulprofessoren auch, dem Leipziger Staatsrechtslehrer Willibalt Apelt. Apelt, der, in Löbau (Sachsen) geboren, aus der sächsischen Verwaltung kam, hatte sich bei Otto Mayer in Leipzig, im Wintersemester 1916 / 17, mit einer Arbeit über den verwaltungsrechtlichen Vertrag6 habilitiert.7 Unter Hugo Preuß war er als Referent im Reichsamt des Innern (um die Jahreswende 1918 / 19) maßgeblich an den Vorarbeiten für eine neue deutsche Reichsverfassung beteiligt gewesen8 und wurde dann – nach einer Zwischenstation als Hochschulreferent im Sächsischen Ministerium für Volksbildung (ab Juni 1919) und wenig später auch außerordentlicher Honorarprofessor für Öffentliches Recht an der Leipziger Juristenfakultät – zum Sommersemester 1923 als ordentlicher Professor an die Leipziger Juristenfakultät berufen. Dort legte man Wert auf einen (neben Jacobi) zweiten Ordinarius für Öffentliches Recht, der besonders mit dem sächsischen Recht und seiner Praxis vertraut sein sollte.9 Diese Anforderungen erfüllte Apelt dank seiner vita auf das Beste. Seine Leipziger Lehrtätigkeit10 wurde freilich durch den Ruf in ein neues Amt unterbrochen: Apelt, der Mitbegründer und seither Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei war,11 wurde im Jahre 1927 in Sachsen, wo seinerzeit eine Koalition unter Beteiligung der DDP regierte, zum Staatsminister des Innern ernannt.12 Nachdem sich freilich aufgrund von Neuwahlen (1929) die politischen Machtverhältnisse in Sachsen geändert und die Nationalsozialisten im Parlament an Gewicht gewonnen hatten, war an einen Verbleib des entschiedenen Demokraten Apelt13 an einflussreicher Stelle innerhalb der neu zu bildenden Regierung nicht mehr zu denken.14 Apelt kehrte zum Wintersemester 1929 / 30 auf seinen Leipziger Lehrstuhl zurück.15 Apelt, Willibalt: Der verwaltungsrechtliche Vertrag, 1920. Apelt, Willibalt: Jurist im Wandel der Staatsformen, 1965, S. 33, 40 ff. 8 Apelt (Fn. 7), S. 78 ff. 9 Apelt (Fn. 7), S. 126. 10 Apelt (Fn. 7), S. 133 ff., las regelmäßig im Sommersemester Deutsches Verwaltungsrecht sowie Sächsisches Staats- und Verwaltungsrecht, im Wintersemester Deutsches Reichsund Landesstaatsrecht sowie Allgemeines Steuerrecht. Ferner behandelte Apelt in seinem Seminar sommers Probleme des Steuerrechts, im Winter des Staats- und Verwaltungsrechts. Insbes. errichtete Apelt auch ein Institut für Steuerrecht. Näher hierzu der Beitrag von Holger Stadie in dieser Festschrift. 11 Apelt (Fn. 7), S. 73. 12 Apelt (Fn. 7), S. 140 ff. 13 Apelt hatte als Innenminister u. a. die Organisation „Konsul“ aufgelöst und sich auch auf Reichsebene für Verbote radikaler nationalsozialistischer Organisationen eingesetzt, Apelt (Fn. 7), S. 186 f. 14 Apelt (Fn. 7), S. 187: „Ich hatte keine Lust mich unter solchen Umständen etwa auf den politisch belanglosen Posten des Justizministers abdrängen zu lassen“. 15 Apelt (Fn. 7), S. 194 ff. 6 7
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Doch mit dem Wintersemester 1932 / 33 ging die Zeit ungestörter Lehrtätigkeit zu Ende. Das Referat, das Apelt in Vorbereitung der für April 1933 anberaumten Tagung der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer zur Frage der Reichsreform erarbeitet hatte,16 konnte bereits nicht mehr gehalten werden, weil die Tagung auf unbestimmte Zeit verschoben war. Vom 29. April 1933 datiert dann eine Verfügung des Ministeriums für Volksbildung, mit der Apelt einstweilen beurlaubt wird. Es seien, so die Begründung, Vorwürfe aus der Studentenschaft17 laut geworden, er habe in seinen Veranstaltungen die Anhänger der nationalen Bewegung in ihren vaterländischen Gefühlen verletzt; auch Zweifel an seinem rückhaltlosen Eintreten für den nationalen Staat (§ 4 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 [BBG]18) werden nach Apelts autobiographischem Bericht als weiterer Grund seiner Beurlaubung bereits angeführt.19 Tatsache ist, dass die Behauptung, Apelt habe die Gefühle von Anhängern der nationalen Bewegung verletzt, sich – auch durch Befragung nationalsozialistischer studentischer Funktionsträger – schlechterdings nicht erhärten ließ. Weil aber die beiden beschwerdeführenden Studenten sich gleichwohl mit einer Wiedereinsetzung Apelts nicht abfinden wollten und beim Ministerium in diesem Sinne telegraphisch intervenierten, weil schließlich auch in einer Kabinettssitzung vom 22. Mai 1933 die Aufhebung seiner Beurlaubung „aufgrund der Kenntnis einzelner Mitglieder“ des Kabinetts ausgeschlossen wurde, musste Material beigebracht werden, das den Vorwurf des § 4 BBG rechtfertigen konnte, Apelt biete nicht die Gewähr, jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat einzutreten.20 Aber auch aus dem Ministerium des Innern, wo man am 23. Mai 1933 mit Blick auf die Ministertätigkeit Apelts um Unterstützung nachsuchte, wurde Fehlanzeige erstattet.21 So erreichte Apelt schließlich am 9. Oktober 1933 ein Schreiben, mit dem er stattdessen aufgrund des § 6 BBG endgültig in den Ruhestand versetzt wurde,22 aufgrund einer Ermessensvorschrift, die ursprünglich der „Vereinfachung der Verwaltung“ diente und, nach einer erweiternden Novellierung, die Versetzung in den Ruhestand nun auch „im Interesse des Dienstes“ zuließ.23 Dass solche funktionsbezogenen Gründe unter 16 Apelt (Fn. 7), S. 210 f.; vgl. auch Apelt, Willibalt: Staatstheoretische Bemerkungen zur Reichsreform, 1932. 17 Es handelte sich nicht um Studenten der Rechtswissenschaften, vgl. Aktenvermerk des Ministeriums für Volksbildung vom 23. 5. 1933, Hauptstaatsarchiv Dresden, 10736 Ministerium des Inneren, Nr. 8913, Bl. 133. 18 RGBl. I S. 175. 19 Apelt (Fn. 7), S. 212 f. Der Aktenvermerk (Fn. 17), Bl. 133, nennt als ursprünglichen Grund der vorläufigen Beurlaubung nur die vaterländischen Gefühle der Hörer. 20 Aktenvermerk (Fn. 17), Bl. 133. 21 Auskunftsersuchen des Ministeriums für Volksbildung (Dr. Hartnacke) vom 23. 5. 1933, Akte (Fn. 17), Bl. 134; Antwort des Ministeriums des Innern (Entwurf) vom 10. 6. 1933, ebd. Bl. 135. 22 Apelt (Fn. 7), S. 221 f.; vgl. Universitätsarchiv Leipzig, PA 60, Bl. 1 und 2. 23 Das Gesetz erlebte mehrere Novellen in schneller Abfolge: G. v. 23. 6. 1933, RGBl. I 389; G.v. 20. 7. 1933, RGBl. I S. 518; G. v. 22. 9. 1933, RGBl. I 655.
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allen denkbaren Aspekten fehlten, macht schon der Umstand deutlich, dass im Falle einer Pensionierung nach § 6 BBG eine Wiederbesetzung der Stelle ausscheiden musste.24 Selbstverständlich aber trachtete man danach, Apelts Lehrstuhl nach dessen Pensionierung schnellstmöglich wiederzubesetzen – auch wenn diesem Unterfangen aufgrund verschiedener Umstände dann erst vergleichsweise spät mit der Berufung Ernst Rudolf Hubers zum 1. Juli 1937 Erfolg beschieden war.25 Die Pensionierung Apelts auf der Basis von § 6 BBG war jedenfalls auch nach damals geltendem Recht rechtswidrig. Apelt vermerkt in seinen autobiographischen Aufzeichnungen nicht nur diese Anwendung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums auf seine Person, den von jeher pflichtbewussten Beamten und nicht zuletzt Beamtenminister, mit Bitterkeit.26 Er konstatiert auch die im Umfeld der Machtergreifung verbreitete Passivität und mangelnde Entschlossenheit gerade derjenigen, denen als Hochschullehrern an juristischen Fakultäten die Unverbrüchlichkeit des Rechts hätte ein Anliegen sein müssen. Das wird deutlich am Schicksal der Rechtsschutzgemeinschaft der deutschen juristischen Fakultäten, die im Juni 1932 in Leipzig (unter dem Dekanat Apelts) gegründet worden war, nicht nur um die Freiheit der Lehre und Forschung zu wahren, sondern um sich darüber hinaus da einzusetzen, „wo der Rechtsgedanke bedroht oder erschüttert“, die „Unverbrüchlichkeit des Rechts“ gefährdet würde.27 Die Rechtsschutzgemeinschaft sollte – nach der 24 Vgl. Seel: Neues Beamtenrecht, DJZ 1933, Sp. 592 (595); dens.: Neugestaltung des deutschen Beamtenrechts, DJZ 1933, Sp. 936 f.; auch Hoche: Die Durchführungsvorschriften zum Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, DJZ 1933, Sp. 720 (725). 25 Eine zunächst von der Fakultät ins Auge gefasste Berufung des Tübinger Privatdozenten Karl („Carlo“) Schmid fand zwar die Zustimmung der Hochschulkommission beim Stabe des Stellvertreters des Führers, der für Hochschulfragen zuständigen Parteistelle der NSDAP (vgl. Aktenvermerk Hauptstaatsarchiv Dresden, 11125 Ministerium für Volksbildung, Nr. 10200 / 48, Bl. 29), scheiterte jedoch an Widerständen im Reichs- und Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (vgl. Aktenvermerk ebd. Bl. 32); vgl. auch Schmid, Carlo: Erinnerungen, 1980, S. 172. Erfolgreich verlief zunächst die Berufung des auch der Partei genehmen Bremer Staatsrechtlers Poetzsch-Heffter, Akte ebd. Bl. 94. In einem Schreiben des zuständigen Reichsministerialbeamten Eckhardt an das sächsische Ministerium für Volksbildung, Akte ebd. Bl. 69, heißt es: „Daß Poetzsch-Heffters politische Vergangenheit nicht gerade erfreulich ist, weiß ich natürlich. Er hat sich aber nicht nur im Laufe des Jahres 1932 völlig und, wie ich glaube, ehrlich umgestellt, sondern macht auch seit 1933 eisern Dienst in der SA, in der er es bis zum Scharführer gebracht hat. Immerhin für einen Mann seines Alters sehr erfreulich und weit mehr als sonst die Gleichgeschalteten zu tun pflegen.“ Freilich verunglückte Poetzsch-Heffter, nachdem langwierige Berufungsverhandlungen zum Abschluss gekommen waren, bei seinem Umzug nach Leipzig noch vor Dienstantritt zum 1. 10. 1935, am 24. 9. 1935, tödlich. Daraufhin wurden verschiedene Kandidaten erwogen (Peters, Berlin; Genzmer, Tübingen; Walz, Breslau) und aus unterschiedlichen, teils politischen Gründen , wieder verworfen, bis die Wahl auf den einschlägig ausgewiesenen Kieler Professor Ernst Rudolf Huber fiel, der den ihm erteilten Ruf zum 1. 7. 1937 annahm. 26 Apelt (Fn. 7), S. 222. 27 Näher Apelt (Fn. 7), S. 208 f.; vgl. auch Gräfin von Lösch, Anna-Maria: Der nackte Geist, 1999, S. 115 ff. (m. Fn. 528), S. 150 f.
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Reichstagswahl vom 5. März 1933 – in Berlin wieder zusammenkommen (wohl am 9. März), wohin Apelt in Absprache mit den Berliner Kollegen eingeladen hatte. Das Ergebnis der Zusammenkunft war enttäuschend: „Bei den Beratungen in Berlin zeigte sich sehr bald, daß der deutsche Rechtsstaat, falls er von der neuen Regierung bedroht werden würde, von den Juristenfakultäten nicht mehr viel zu erwarten haben würde. Von allen Seiten wurde zu Vorsicht und Zurückhaltung gemahnt . . . Die Beratungen verliefen im Sande, ohne daß man zu einem Beschluß gekommen wäre.“28 Diese Taktik des Abwartens und Stillhaltens unter dem Eindruck der Machtergreifung wird vielfach beschrieben.29 Und doch scheint erstaunlich, dass die Betroffenheit, die man nicht oder nur bedingt selbst erfuhr, die man aber zum Zeitpunkt der Reichstagswahl im März 1933 in Umrissen, als Möglichkeit deutlich erkennen30 und alsbald in nächster Nähe im Kollegenkreis miterleben konnte, keine deutlicheren Reaktionen, etwa des lautstarken Protests oder eines passiven solidarischen Widerstands der (noch) Verschonten auslöste. Solcher Widerstand gegen nationalsozialistische Vereinnahmung und Gleichschaltung blieb alles in allem sehr begrenzt. Obwohl die Professorenschaft zunächst ganz überwiegend nicht aktiv in den Machtwechsel involviert war,31 wurden an den Universitäten und eben auch an den juristischen Fakultäten die tradierten Positionen, erprobten Einrichtungen und guten Übungen einer freiheitlichen Wissenschaftskultur zugleich mit der Auflösung des – allerdings von vielen jedenfalls in seinen konkreten Erscheinungsformen abgelehnten – Weimarer Systems zügig aufgegeben. Man mag darin eine Korruption durch die an sich gute Absicht sehen, gefährdete, insbes. jüdische Kollegen nicht zu exponieren und statt dessen auf diplomatische Lösungen zu sinnen. Und man mag diesen Verzicht auf Rigorismus erklären und verstehen, wenn auch nicht schlechthin moralisch entschuldigen, weil es „ohne das Akzeptieren fremddefinierter Situationen nicht geht“, weil also jede vernünftige Praxis den schieren Rigorismus ausschließt.32 Gleichwohl werden in Apelts Schilderung der nationalsozialistischen Machtergreifung und ihrer Begleitumstände Momente sichtbar, die die scharfsinnige 28 Apelt (Fn. 7), S. 209 f.; anders verhielt sich nach Apelts Erinnerung nur der Berliner Staatsrechtler Triepel. Lösch (Fn. 27), S. 151, bezweifelt, dass es überhaupt noch zu der von Apelt hier im Einzelnen geschilderten Tagung gekommen sei; im Übrigen ähnlich die Einschätzung von Triepel, vgl. Lösch (Fn. 27), S. 151 f. 29 In einem autobiographischen Bericht heißt es: „Man wartete allgemein ab, wie sich die Dinge entwickeln würden und vermied jede eigene Bloßstellung. Auch hatte ein jeder genug mit sich selber zu tun, weil ja fast keiner in der Partei war und sich daher unsicher fühlte“, Löwith, Karl: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933, 1986, S. 75. Diese Einschätzung findet Bestätigung z. B. bei Martin, Bernd: Martin Heidegger und der Nationalsozialismus, in: ders. (Hg.): Martin Heidegger und das „Dritte Reich“, 1989, S. 14 (19); vgl. auch Lösch (Fn. 27), S. 149 f. 30 Zu den Terroraktionen der Nationalsozialisten, vor allem der SA, im Vorfeld der Märzwahlen 1933, vgl. Plum, (Fn. 1), S. 41 f.; auch Frotscher / Pieroth (Fn. 1), Rn. 568 f. 31 Vgl. Martin (Fn. 29), S. 14 (19). 32 Schlink, Bernhard: Sommer 1970, in: ders., Vergangenheitsschuld, 2007, S. 142 (164 ff., 168 f.).
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Frage nach den Chancen eines moralischen Rigorismus’ in ein anderes Licht rücken. Die oft gehörte Wendung vom „vorauseilenden Gehorsam“33 charakterisiert freilich den bei Apelt mehr beiläufig anklingenden als zentral thematisierten Vorwurf nur bedingt. Auch solchen vorauseilenden Gehorsam mag es gegeben haben. Doch mehr noch als dieser machte sich wohl in der Situation der Machtergreifung und unter den von ihr heraufgeführten schwankenden Verhältnissen ein um die Gestaltung des eigenen Schicksals bemühter Opportunismus bemerkbar. Denn die auf Wechsel gerichteten neuen politischen Verhältnisse boten Vielen, die sich der „nationalen Erhebung“ anschlossen,34 bislang versperrte Möglichkeiten eigenen Fortkommens und ausgedehnteren Wirkens. Dem einen (Privatdozenten, außerplanmäßigen Professor) mochte sein Engagement zur ordentlichen Professur verhelfen, anderen eröffnete sich der Weg in einflussreiche Positionen35 – wo sie sich zudem zugute halten konnten, durch ihr Mitmachen Schlimmeres zu verhüten, indem sie mäßigend oder ordnend Einfluss nahmen,36 ein Argument, das wohl nie außer Mode kommen wird. In vieler Hinsicht wurden so Gestaltungschancen ergriffen, die nicht notwendig hätten ergriffen werden müssen.37 Nicht zuletzt von dieser unangenehmen Erfahrung kündet Apelts Bericht über die Umstände seines Ausscheidens aus dem Reichsverband Deutscher Verwaltungsakademien, den er im Jahre 1921 mitbegründet hatte und als dessen Erster Vorsitzender er seither fungierte:38 Auf der Tagung des Reichsverbandes, die am 24. April 1933 in Berlin stattfand, wurde die Gleichschaltung auch dieses Verbandes mit dem NS-Apparat betrieben, die eine Neuwahl des Vorstandes erforderlich machte. Apelt, dem Gründungsvorsitzenden, wurde nicht nur der Rücktritt abgenötigt, seine weitere Mitarbeit wurde gleich als unerwünscht bezeichnet. Und wie durch Zufall waren unter den Anwesenden auch schon Kollegen (Koellreutter, Giese, Genzmer), die den neuen Machthabern genehm und dazuhin bereit waren, sich unter den veränderten Umständen zur Verfügung zu stellen und das Ruder in die Hand zu nehmen, um den Verband in ruhige Gewässer zu steuern. Selbst persönZ. B. Martin (Fn. 29), S. 14 (22). Vgl. Dreier (Fn. 2), S. 9 (18 ff.). 35 Vgl. Löwith (Fn. 29), S. 73; auch Martin (Fn. 29), S. 14 (19 f., 32). 36 Diese Begründung wurde etwa von Heidegger als rechtfertigende Erklärung seines Freiburger Rektorats (1933 / 34) bemüht, vgl. hierzu die autobiographische Aussage von Löwith (Fn. 29), S. 57 f. m. Fn. 19; näher und mit Quellenverweisen Martin (Fn. 29), S. 14 (21 f., 23, 38 f.). 37 In diesen Zusammenhang gehört auch Carl Schmitts Würdigung der Vergeltungsmaßnahmen des NS-Regimes im Gefolge des sogenannten Röhm-Putsches (Der Führer schützt das Recht, DJZ 1934, S. 945). Man mag in der Interpretation dieser staatsterroristischen Mordtaten als „Richtertum des Führers“ den verzweifelten Versuch einer Rückbindung des Willkürregimes an die Rechtsidee sehen. Aber während man in den Taten und in dem rückwirkend sie „legalisierenden“ Gesetz vom 3. 7. 1934 (RGBl. I S. 529) vergeblich einen solchen Bindungswillen sucht, bleibt doch entscheidend der Eindruck der Rechtfertigung des Unrechts, vgl. Dreier (Fn. 2), S. 20 f. m. Fn. 51. 38 Apelt (Fn. 7), S. 118, 211 f. 33 34
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liche Näheverhältnisse verloren aber angesichts neuer oder erhoffter Wirkungsbefugnisse oftmals ihre verpflichtende Kraft. So musste Apelt erleben, dass seinem Sohn Heiner, der mit einer von Ernst Jaeger betreuten Dissertation zur Zulässigkeit des Rechtswegs „summa cum laude“ an der Leipziger Juristenfakultät promoviert und dessen Leistung mit einem Fakultätspreis (1934) honoriert worden war, die Veröffentlichung ebendieser Arbeit in den rechtswissenschaftlichen Studien der Fakultät verweigert wurde: Sie nehme auf die inzwischen veränderten – freilich, so Apelt, für die Fragestellung der Arbeit auch irrelevanten – politischen Machtverhältnisse nicht die gebotene Rücksicht. Vorgetragen wurde dieses Argument durch den außerordentlichen Professor Liebisch, den früheren Assistenten Apelts39 an seinem Institut für Steuerrecht.40 Ganz ungeachtet derartiger persönlicher Verletzungen, denen sich Apelt wie viele andere auch im Alltag des öffentlichen Lebens ausgesetzt sah, blieb offenkundig selbst im Innenverhältnis zwischenmenschlicher, wenn auch beruflich geprägter Beziehungen wenig Raum für Solidarität gegenüber den von Ausgrenzung Betroffenen. Der endgültige Abschied von Leipzig, wo sich Apelt „von vielen Seiten mit unfreundlichen Blicken beobachtet und . . . unsicher (fühlte)“ ,41 war daher nur eine Frage der Zeit. Ende 1933, Anfang 1934 verließ Apelt mit seiner Familie Leipzig, „was uns nicht mehr allzu schwer wurde. Auch die persönliche Fühlung mit einem großen Teil der früheren Bekannten und Kollegen war infolge der politischen Ereignisse verlorengegangen. Entweder schnitten Sie mich ganz oder begegneten mir wenigstens mit vorsichtiger, ja fast mißtrauischer Zurückhaltung; denn man war ängstlich und wünschte, möglichst nicht mit mir zusammen gesehen zu werden. Nur sehr wenige hielten unverändert zu mir, besuchten mich noch und drückten mir unter unverhohlener Mißbilligung des mir angetanen Unrechts ihre Teilnahme aus. Von den auswärtigen Fachgenossen waren es nur Anschütz und Thoma, die mir in sehr freundlichen Schreiben ihre Empörung und unveränderte freundschaftliche Gesinnung bekundeten.“42 Leipzig jedenfalls war Apelt „gründlich verleidet.“43 II. Die Weimarer Reichsverfassung: Wertentscheidung auf verlorenem Posten Apelt siedelte an den Walchensee in Oberbayern um, wo er die Kriegszeit verbrachte. Bald nach Kriegsende, im April 1946, erreichte ihn eine Verfügung des bayerischen Ministers für Kultus und Unterricht, die ihn, wie mit der Münchner Juristischen Fakultät vorbesprochen und von dieser angeregt, mit der kommissari39 40 41 42 43
S. auch hierzu den Beitrag von Holger Stadie in dieser Festschrift. Apelt (Fn. 7), S. 217. Apelt (Fn. 7), S. 224. Apelt (Fn. 7), S. 226. Apelt (Fn. 7), S. 227.
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schen Verwaltung einer Professur für öffentliches Recht an der Universität München betraute. Die endgültige Berufung erfolgte nach längeren Verhandlungen 1951.44 Apelt hatte die Zwangspause indessen auch wissenschaftlich genutzt. Bereits im Jahre 1946 konnte er seine wegweisende Arbeit über die „Geschichte der Weimarer Verfassung“ publizieren. Nur auf den ersten Blick überrascht, dass sich in dieser Untersuchung nun keinerlei Ressentiments gegenüber dem Verfassungswerk finden, dessen Scheitern doch Apelt zum persönlichen Schicksal wurde. Auch seine spätere Auseinandersetzung mit dem Grundgesetz,45 die an der intimen Kenntnis der Vorgängerverfassung geschult ist, betont nicht etwa einseitig eine größere, aus Schaden erwachsene Klugheit der Bonner Verfassung, aus der sich dann die vielfach zu beobachtende Distanzierung des Grundgesetzes vom Weimarer Modell ohne weiteres rechtfertigen ließe. Gehörte es vor 1933 wie nach 1945 schon nahezu zum guten staatsrechtlichen Ton, der Weimarer Reichsverfassung wertblinden und letztlich selbstmörderischen Relativismus vorzuwerfen,46 bescheinigt ihr Apelt rückblickend eine deutliche, vor allem in den Grundrechten zum Ausdruck kommende Wertentscheidung, „ein Wertsystem, welches die demokratische Staatsform mit einem sachlichen, ethisch begründeten sozialen Inhalt füllte.“47 Freilich: Es bedurfte der Bereitschaft der Adressaten, vornehmlich der von der Verfassung vorgesehenen Institutionen der Gesetzgebung, aber auch der Bürgerinnen und Bürger, diese Botschaft aufzunehmen und zu verwirklichen. Dabei waren die organisatorischen und materiell-rechtlichen Regelungen der Weimarer Reichsverfassung keineswegs von vornherein außerstande, einem solchen Unterfangen den Rahmen zu setzen und so die Konstituierung des freiheitlichen Gemeinwesens zu fundieren. Allerdings hing auch die Weimarer Reichsverfassung, nicht weniger als andere Verfassungen, in ihrer Wirksamkeit von real sie tragenden Kräften ab, ohne die ihre Grundsätze über die Papierform nicht hinauswachsen konnten.48 Im 44 Apelt (Fn. 7), S. 268 ff., 287. Die Leipziger Juristenfakultät hatte im Dezember 1945, unterstützt vom Rektor der Universität, bei der Sächsischen Zentralverwaltung für Wissenschaft, Kunst und Erziehung beantragt, Apelt zum Zwecke der Wiedergutmachung in die Liste der Emeriti aufzunehmen, vgl. Universitätsarchiv Leipzig, PA 60, Bl. 1. Damit sollten auch die Bezüge emeritierter Professoren verbunden sein, Universitätsarchiv Leipzig, PA 60, Bl. 3. Die Aufnahme in die Liste wurde (mit Schreiben vom 12. 1. 1946) genehmigt, der Antrag auf Bewilligung von Bezügen wurde dagegen (mit Schreiben vom 20. 2. 1946) abgelehnt, Universitätsarchiv Leipzig, PA 60, Bl. 4. 45 Etwa: Apelt, Betrachtungen zum Bonner Grundgesetz, NJW 1949, S. 481 – 485. Zusammenfassend Apelt (Fn. 7), S. 291 ff. 46 Vgl. hier nur Lösch (Fn. 27), S. 146. 47 Apelt (Fn. 7), S. 98, vgl. ebda, S. 288. Etwas anders und skeptischer freilich der Duktus bei Apelt, Willibalt: Geschichte der Weimarer Verfassung, 1946, S. 296 f., 300, 366: Hier legt Apelt die Betonung auf den insgesamt unfertigen Charakter der nicht widerspruchsfreien grundrechtlichen Maßgaben, aus denen ein demokratisches Wertsystem durch gewissermaßen gesamthänderische Interpretation und Konkretisierung hätte herausgearbeitet werden müssen. 48 Apelt, Weimarer Verfassung (Fn. 47), S. 365 f.; ders. (Fn. 7), S. 154 f.
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zwangsläufig blinden Vertrauen der Norm auf solche Kräfte der sozialen Wirklichkeit bot sie auch reaktionären politischen Strömungen einen Entfaltungsraum, die zentralen Verfassungsprinzipien ablehnend gegenüber standen. Apelt hat in großer Nüchternheit auch die neuralgischen Punkte der Verfassungskonstruktion analysiert, von denen aus verfassungsfeindliche, rückwärtsgerichtete Kräfte vom Staatsleben Besitz ergreifen konnten. So lud nicht nur der „Diktaturartikel“ des Art. 48 Abs. 2 WRV49 zum Missbrauch der Verfassung ein, indem die Anbindung an den tradierten Kodex der polizeirechtlichen Schutzgüter angesichts politischer Lähmung der gesetzgebenden Instanzen gelöst und die Ermächtigung zum Instrument einer weithin ungehemmten, autoritären Ersatzgesetzgebung umfunktioniert wurde.50 Scharf kritisiert Apelt vor allem die Lehre vom richterlichen Prüfungsrecht,51 die sich – mit der Entscheidung des Reichsgerichts vom 4. November 192552 – auch in der Praxis durchsetzte und die mit einer weithin propagierten Ausdehnung der Grundrechtsgeltung einherging, etwa des Gleichheitssatzes (Art. 109 WRV), der nun den Gesetzgeber an einen höheren Gerechtigkeitsmaßstab binden sollte. Vor allem aber und mit großer praktischer Wirkung wurde die Eigentumsgarantie (Art. 153 WRV) in Gestalt des Eigentums- wie des Enteignungsbegriffs durch Lehre und Rechtsprechung erweitert, so dass vermögenswerte Rechtspositionen in weitem Umfang vor gesetzlicher (entschädigungsfreier!) Regulierung geschützt waren.53 Diese einem tiefen Misstrauen gegen den demokratisch legitimierten (möglicherweise sozialistischen oder gar kommunistischen) Gesetzgeber geschuldete Grundrechtsauslegung des Reichsgerichts verurteilte Apelt als „ebenso engherzig wie der Autorität des Weimarer Staates abträglich . . . Gegen die Auslegung des politischen Verfassungsrechts im geordneten Wege der Gesetzgebung die Justiz als Element der Reaktion einzuschalten ist ein bedenklicher Fehlgriff, der die Autorität der Rechtsprechung nicht weniger als die der Gesetzgebung schädigen muß“. Denn eine derartige Positivierung (d. h.: Effektivierung) der Grundrechte diente dazu, „ein energisches Vorwärtsschreiten in der Richtung auf ein von sozialem Geiste erfülltes demokratisches Gemeinwesen zu hemmen . . . Die Wirkung dieser Entwicklung belastete die Weimarer Verfassung mit einem Odium, das Wasser auf die Mühlen ihrer Feinde trieb.“54 Nicht zuletzt das Reichsgericht führte also, nach Art einer self-fulfilling prophecy, durch seine hypertrophe Grundrechtsinterpretation diejenigen Auflösungs- und Lähmungserscheinungen herauf, die vom Rechtsradikalismus stets dem verfehlten wertneutral-pluralistischen und liberalistischen Weimarer System ange49 Zu ihm zusammenfassend Anschütz, Gerhard: Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, Kommentar, 14. Aufl. 1933, Art. 48, S. 267 ff. 50 Apelt (Fn. 7), S. 121, 155, 192; ders., Weimarer Verfassung (Fn. 47), S. 260 ff. 51 Zu diesem gleichfalls kritisch Anschütz (Fn. 49), Art. 102, Anm. 3, 4 (S. 475 ff.). 52 RGZ 111, 320. 53 Apelt (Fn. 7), S. 120; ders., Weimarer Verfassung (Fn. 47), S. 286 ff., 304 ff., 339 ff. 54 Apelt, Weimarer Verfassung (Fn. 47), 1946, S. 300.
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lastet wurden.55 Mit diesem Hinweis auf die zielorientierte Instrumentalisierung der Grundrechte entlarvt Apelt aber zugleich die These von der rechtspositivistisch erzogenen und dem Subsumtionsautomatismus verhafteten Juristenschaft, die Gesetzesbefehlen, von wem sie auch kamen, blind Folge leistete.56 Sie erweist sich als wohlfeile Entschuldungsstrategie, die einer un- oder überpersönlichen Konditionierung die Verantwortung zuschiebt. Das eigenverantwortliche Verhalten eines jeden Einzelnen, das zeigen Apelts Überlegungen, bildete vor wie nach 1933 den Dreh- und Angelpunkt im Kampf um die Durchsetzung oder Verhinderung eines bestimmten Rechts- und Sozialmodells. III. Lehren für das Grundgesetz? Der nüchtern unaufgeregte Grundton, die wirklichkeitsorientierte praktische Perspektive bestimmen das wissenschaftliche Urteil Apelts auch in seiner Auseinandersetzung mit dem Bonner Grundgesetz, in der er die Lehren aus seiner vertieften Beschäftigung mit der Weimarer Verfassung zieht und bestrebt ist, die verfassungsrechtlichen Errungenschaften von Weimar für die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik zu bewahren. Sicher mutet nicht alles zwingend an, aber Apelts Thesen zeigen doch, dass in einer wohlwollend und im freiheitlichen, demokratisch-rechtsstaatlichen Sinne interpretierten Weimarer Verfassung auch Alternativen zu dem von vielen Ängsten geprägten Grundgesetz57 aufscheinen. Zweifellos könnte etwa dem Bundespräsidenten eine stärkere, über bloße Repräsentation hinausreichende Stellung zugemessen werden, ohne dass gleich „Weimarer Zustände“ einträten.58 Andererseits hat das Grundgesetz, so sieht es Apelt in Anknüpfung an eine zu Weimarer Zeiten vorgetragene Kritik, auch Fehler der Weimarer Verfassung wiederholt und etwa erneut den Bismarckschen Bundesrat festgeschrieben, anstelle ein echtes Zwei-Kammer-System nach amerikanischem Vorbild mit einem Repräsentantenhaus und einem Senat als Länderorgan, bestehend aus gewählten und nur ihrem Gewissen verpflichteten Abgeordneten vorzusehen.59 Zweifellos richtig ist aber, dass die Gefahr einer undemokratischen Überdehnung der Grundrechte auch wieder unter dem Bonner Grundgesetz, das nunmehr ausdrücklich die Grundrechtsbindung der staatlichen Gewalt unter Einschluss des Gesetzgebers vorsieht (Art. 1 Abs. 3 GG), besteht und keineswegs nur als entfernte Möglichkeit. So Apelt, Weimarer Verfassung (Fn. 47), S. 344. Vgl. Radbruch, Gustav: Fünf Minuten Rechtsphilosophie (1945), in: Dreier, Ralf / Paulson, Stanley L. (Hg.): Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, Studienausgabe, 2. Aufl. 2003, S. 209; ferner dens.: Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht (1946), ebd., S. 211 (215). Zu dieser Auffassung ist das Nötige ausgeführt bei Dreier, Horst: Naturrecht und Rechtspositivismus, in: Härle, Winfried / Vogel, Bernhard (Hg.): „Vom Rechte das mit uns geboren ist“, 2007, S. 127 (137 ff.). 57 Vgl. Apelt (Fn. 7), S. 291. 58 Apelt (Fn. 7), S. 294. 59 Apelt (Fn. 7), S. 294 f. 55 56
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versteht sich, dass Apelt im verfassungshistorisch neuen Satz von der Menschenwürde lediglich eine Zusammenfassung der nachfolgenden Grundrechte und eine bloß moralische Wertung sehen mag,60 nicht eine den Gesetzgeber eigenständig verpflichtende, justitiable Norm von im Kern naturrechtlicher Provenienz. In die nämliche Richtung weisen seine Einwände gegen die Gesetzesverfassungsbeschwerde und gegen die verfassungsprozessuale Institution der abstrakten Normenkontrolle:61 In beiden ist, wie zu Weimarer Zeiten in der Annahme eines richterlichen Prüfungsrechts, eine bedenkliche Schwächung der Autorität des demokratisch und in verfassungsmäßigen Formen legitimierten Gesetzgebers angelegt,62 zugunsten einer Übersteigerung der Jurisdiktionsgewalt des Bundesverfassungsgerichts in originär politischen Angelegenheiten. Bedenklich ist diese vom Grundgesetz in Kauf genommene Schwächung (die zugleich eine Politisierung der Verfassungsrechtsprechung bedeutet), weil eine Verkümmerung des politischen Verantwortungsbewusstseins und Gestaltungswillens die Folgen sein könnten. Gerade eine solche Verkümmerung gilt es, wie Weimar lehrt, unbedingt zu vermeiden. Fragt man weiter nach Lehren, die über die Jahrzehnte hinweg und auch für die Zukunft uneingeschränkt Gültigkeit im Verfassungsrecht beanspruchen könnten, so zeigen Apelts von unbestechlicher Prinzipienfestigkeit getragene Reflexionen, dass weder eine freiheitliche Verfassung noch die Idee der Unverbrüchlichkeit des positiven Gesetzes Schuld tragen an der Verblendung der Menschen. Damit ist aber auch eine Aufgabe formuliert, die sich allen stellt, denen am Erfolg des modernen Freiheitskonzepts gelegen ist. Denn auch eine noch so ambitionierte Wertordnung der Freiheit, Gleichheit und der Toleranz gegenüber Andersdenkenden taugt nur, wenn sie von den dafür eingerichteten und verfassungsmäßig bestimmten Institutionen ins Werk gesetzt, von den Bürgerinnen und Bürgern mit Leben erfüllt wird.
60 Apelt, NJW 1949, S. 481 (482); ders.: Die Gleichheit vor dem Gesetz nach Art. 3.Abs. 1 des Grundgesetzes, JZ 1951, S. 353 in Fn. 3. 61 Apelt (Fn. 7), S. 296. 62 Apelt (Fn. 7), S. 292 f.
Bleibendes im arztstrafrechtlichen Denken Eberhard Schmidts Zur rechtlichen Einordnung des lege artis vorgenommenen ärztlichen Heileingriffs als tatbestandsmäßige Körperverletzung Von Hendrik Schneider
I. Eberhard Schmidts Position zwischen Vernunfthoheit des Arztes und Autonomie des Patienten Eberhard Schmidt lehrte von 1935 bis 1945 an der Juristenfakultät der Universität Leipzig.1 1939 veröffentlichte er in der Schriftenreihe „Leipziger rechtswissenschaftliche Studien“ die Monographie „Der Arzt im Strafrecht“, die zu den bedeutendsten Pionierleistungen auf dem Gebiet des Arztstrafrechts zählt2 und in allen Kommentaren und einschlägigen Abhandlungen noch heute zitiert wird.3 Die sei1 Der am 26. Juni 1935 ergangene Ruf wurde durch den Wechsel Friedrich Schaffsteins nach Kiel ermöglicht. Die Juristenfakultät der Universität Leipzig hatte Schmidt bereits 1933 im Verfahren zur Wiederbesetzung des Lehrstuhles von Franz Exner vorgeschlagen, die Berufung war seinerzeit aber aufgrund des Schreibens eines „SA-Gruppenführers und Rechtsberaters der Obersten SA-Führung“ (Rechtsanwalt und Notar Dr. Luetgebrune) vereitelt worden (Gräfin von Hardenberg, Eberhard Schmidt [1891 – 1977]. Ein Beitrag zur Geschichte unseres Rechtsstaats, Duncker&Humblot 2009). Luetgebrune hatte dem damaligen der NSDAP angehörenden Ministerpräsidenten von Sachsen (Manfred v. Killinger) mitgeteilt, Schmidt sei „Demokrat und absoluter Schüler Franz von Liszt“ und habe sich „publizistisch gegen das faschistische Strafrecht festgelegt und orbi ac nobis verkündet, er sei meilenweit vom faschistischen Strafrecht entfernt.“ 1935 ging der Vorschlag zur Berufung Schmidts von dem Nationalsozialisten Karl August Eckhard, einem Historiker und Personalreferenten des „Ministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung“ in Berlin aus (Grundlegend zu Leben und Werk Eb. Schmidts: Gräfin von Hardenberg a. a. O.). 2 Lange, Eberhard Schmidt – Seine Stellung im Wandel des strafrechtlichen Denkens, JZ 1978, 541 ff., 543, bezeichnet das Arztstrafrecht als „dogmatisches Lieblingsgebiet“ Eberhard Schmidts. 3 Vgl. z. B.: Bockelmann, Strafrecht des Arztes, Stuttgart 1968, Vorwort S. V: „Es ist keine strafrechtswissenschaftliche Äußerung zu Fragen des Arztrechtes denkbar, die nicht auf den Fundamenten fußt, welche Eberhard Schmidt und Engisch gelegt haben“ (unter Bezug auf die oben genannte Schrift); ferner: LK10-Hirsch, vor § 223, Rn. 3; LK11-Lilie, vor § 223, Rn. 3, 5; Schönke / Schröder-Eser, StGB27, 2006, § 223 Rn. 27; Schroth, Ärztliches Handeln und strafrechtlicher Maßstab, in: Roxin / Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, Stuttgart u. a. 2007, S. 23 ff., 24 f.
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nem Schwiegervater Dr. med. Albert Aschoff zum 70. Geburtstag gewidmete Schrift4 verfolgt das von gewichtigen strafrechtsdogmatischen Argumenten getragene kriminalpolitische Anliegen, die Strafbarkeitsrisiken des Arztes wegen Körperverletzung auf eine Einstandspflicht für „Kunstfehler“ zu reduzieren und damit der Sache nach auf fahrlässige Körperverletzung zu beschränken.5 Da Schmidt Fälle der Missachtung des Patientenwillens nicht für straflos erklärt, sondern unter die §§ 239, 240 StGB subsumiert6 und sich bereits in der Schrift „Der Arzt im Strafrecht“ sowie in späteren Arbeiten dezidiert für die Schaffung eines Straftatbestands der eigenmächtigen Heilbehandlung eingesetzt hat,7 nimmt er im Spannungsfeld zwischen „salus und voluntas aegroti“8 eine vermittelnde Position ein. Sein Standpunkt im politisch „scheinbar neutralen Strafrecht des Arztes“9 ist nicht nur mit Blick auf das von den Nationalsozialisten eingeführte „Zwangsbehandlungsrecht“ von historischem Interesse. Er verdient auch unter den 4 Schmidt versteht seine Schrift als Huldigung des „großen ärztlichen Können(s)“ durch die Rechtswissenschaft (Vorbemerkung, S. 1). Er knüpft dabei an die dem Geh. Sanitätsrat Ludwig Aschoff gewidmete Schrift seines Berliner Lehrers Wilhelm Kahl (Der Arzt im Strafrecht, ZStW 29 [1917], 351) an. Ludwig Aschoff ist der Vater Albert Aschoffs. Schmidt hatte Albert Aschoffs Tochter Elisabeth in Berlin über Kahl kennen gelernt (Gräfin von Hardenberg [Fn. 1] unter Bezug auf ein Gespräch mit Schmidts Tochter Gisela Friederich) und mit ihr im Jahr 1922 die Ehe geschlossen. Zu den biographischen Hintergründen der Hinwendung zum Arztstrafrecht vgl. auch den Nachruf von Lange, ZStW 89 (1977), 871 ff., 874. 5 Vgl. zu dieser Interpretation Deutsch, Arztrechtler in Göttingen, in: Loos (Hrsg.), Rechtswissenschaften in Göttingen. Göttinger Juristen aus 250 Jahren, Göttingen 1987, S. 289 ff., 297. 6 Schmidt, Der Arzt im Strafrecht 1939, S. 111: „Wird an einem Patienten ein von ihm nicht gewollter, vielleicht geradezu abgelehnter Heileingriff vollzogen, so ist seine Freiheit, hinsichtlich der ihm genehmen Behandlungsweise Entschließungen zu fassen und diese in entsprechende Taten umzusetzen, gewiß beeinträchtigt. Die persönliche Freiheit, die § 240 schützen will, ist bei ihm verletzt.“ Bei „ahnungslos auf den Operationstisch“ gelangten Patienten will er (auf der Grundlage des § 2 S. 2 in der Fassung des „Gesetzes vom 28. Juni 1935 [RGBl. I 838] „Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken des Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient. Findet auf die Tat kein bestimmtes Strafgesetz unmittelbar Anwendung, so wird die Tat nach dem Gesetz bestraft, dessen Grundgedanken auf sie am besten zutrifft“) „§ 240 StGB . . . mit Hilfe des § 2 StGB analog“ anwenden. Ein Hinweis auf den „nach 1935 möglich gewesenen Analogieschluß“ findet sich auch in Schmidts Anmerkung zu BGH JR 1958, 225 f., JR 1958, 226 f., 226. Grundlegend zu § 2 RStG in der Fassung des Gesetzes vom 28. Juni 1935: Werle, Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich, Berlin 1989, S. 147 ff.; ferner Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil Band I, 4. Aufl., München 2006, § 4, Rn. 14; § 5, Rn. 15 f. 7 Schmidt, Empfiehlt es sich, dass der Gesetzgeber die Fragen der ärztlichen Aufklärungspflicht regelt? Gutachten für den 44. Deutschen Juristentag, in: Verhandlungen des 44. Deutschen Juristentages, Hannover 1962, Bd. I Gutachten, 4. Teil, Tübingen 1962, S. 1 ff., 158 ff.; vgl. auch ders., JR 1958, 226 f., 226 (Anmerkung zu BGH JR 1958, 225 f.). 8 Geilen, Der ärztliche Spagat zwischen „salus“ und „voluntas aegroti“, in: Feltes / Pfeiffer / Steinhilper (Hrsg.), Kriminalpolitik und ihre wissenschaftlichen Grundlagen. Festschrift für H.-D. Schwind zum 70. Geburtstag, Heidelberg 2006, S. 289 ff. 9 Lange (Fn. 2), S. 543.
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heute völlig veränderten tatsächlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen der ärztlichen Tätigkeit und der hiermit einhergehenden zunehmenden Verabsolutierung der Patientenautonomie besondere Beachtung. II. Der historische und politische Hintergrund der Position Schmidts 1. Die Entscheidung des Reichsgerichts vom 31. Mai 1894 und die Kritik aus Leipzig Den Reibungspunkt des strafrechtswissenschaftlichen Schrifttums bildet bis heute10 die berühmte Entscheidung des Reichsgerichts vom 31. Mai 1894,11 die den Ausgangspunkt auch der gegenwärtigen Rechtsprechung zum Arztstrafrecht bildet.12 Nicht ohne Pathos bzw. „Schärfe“13 wird in diesem Urteil die Auffassung begründet, „erheblichere Substanzverletzungen“ beim ärztlichen Heileingriff seien tatbestandsmäßig als Körperverletzung zu beurteilen. Die dogmatisch damit eingeschlagene „Rechtfertigungslösung“14 betont in Abgrenzung zur Vorinstanz (LG Hamburg) und den im damaligen Schrifttum vertretenen Auffassungen15 die Autonomie des Patienten, auf dessen Einwilligung es für die Strafbarkeit des Arztes 10 Vgl. aus dem neueren Schrifttum z. B. Tag, Der Körperverletzungstatbestand im Spannungsfeld zwischen Patientenautonomie und lex artis. Eine arztstrafrechtliche Untersuchung, Berlin u. a. 2000; Kargl, Körperverletzung durch Heilbehandlung, GA 2001, S. 538 ff.; LK11-Lilie, vor § 223, Rn. 3 ff. und Geilen (Fn. 8). 11 RGSt 29, 375. 12 Vgl.: BGHSt 11, 111 ff., 112: „Die Strafkammer hat in Übereinstimmung mit der reichsgerichtlichen Rechtsprechung durch den ärztlichen Eingriff den äußeren Tatbestand einer Körperverletzung als erfüllt angesehen. Sie hat überdies, auch insoweit im Einklang mit dem Reichsgericht, die Rechtswidrigkeit dieses Eingriffes bejaht, weil die Beschwerdeführerin nicht damit einverstanden war . . . . Diese Grundsätze der früheren höchstrichterlichen Rechtsprechung hat der Bundesgerichtshof bereits gebilligt (vgl. Urteil des VI. Zivilsenats des BGH v. 10. Juli 1954 in NJW 1956, 1106). Der erkennende Senat schließt sich dieser Auffassung an, ohne daß er sich veranlaßt sieht, die hiergegen im Schrifttum geltend gemachten Einwände (siehe hierzu Eb. Schmidt „Der Arzt im Strafrecht“ . . . ) zu erörtern“. Schmidt (JR 1958, 227) ist dieser Entscheidung mit Vehemenz entgegen getreten. Die Rechtsprechung ist hiervon unbeeindruckt geblieben, vgl.: BGHSt 16, 309 ff.; 43, 306 ff. Im Schrifttum findet die Position der Rechtsprechung Zustimmung bei Dölling, Nomos Kommentar Gesamtes Strafrecht, Heidelberg 2008, § 223, Rn. 9; Kargl (Fn. 10); Fischer, StGB55, 2008, § 223 Rn. 9; Kindhäuser, Strafrecht Besonderer Teil I, 2. Aufl. 2005, § 8 Rn. 27; Rengier, Strafrecht Besonderer Teil II, 7. Aufl. 2006, § 13 Rn. 17; SK-Horn / Wolters, StGB7, Stand: August 2003, § 223, Rn. 33. 13 Schreiber, Zur Reform des Arztstrafrechts, in: Weigend / Küpper (Hrsg.), FS-Hirsch 1999, S. 713 ff., 715. 14 Bollbacher / Stockburger, Der ärztliche Heileingriff in der strafrechtlichen Fallbearbeitung, Jura 2006, 908 ff., 908. 15 Nachweise bei Binding, Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts Besonderer Teil. Erster Band, Leipzig, 2. Aufl. 1909, S. 53; Engisch, Ärztlicher Eingriff zu Heilzwecken und Einwilligung, ZStW 58 (1939), 1 ff., 12 f. und Geilen (Fn. 8), S. 292.
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wegen Körperverletzung somit entscheidend ankommt: An diesem Prinzip der „Willensübereinstimmung“ zwischen Arzt und Patient sei „unter allen Umständen als dem leitenden und entscheidenden Gesichtspunkte festzuhalten“.16 Es sei „unhaltbar“, ja abwegig, das „nicht rechtswidrige darein setzen zu wollen, daß der Zweck oder gar der Erfolg der Körperverletzung sich als dem Verletzten heilsam, als vernünftig darstelle“17. In der sich anschließenden Diskussion der Entscheidung trat das strafrechtswissenschaftliche Schrifttum dem Ansatz der Rechtsprechung insbesondere mit der teleologischen Auslegung der §§ 223, 212 StGB entgegen. Die sachgerecht durchgeführte ärztliche Heilbehandlung greife auch dann nicht in die Rechtsgüter „Leben“ und „Gesundheit“ ein, wenn der Eingriff des Arztes schwer und schmerzvoll sei. Maßgeblich seien Ziel und Zwecksetzung der ärztlichen Maßnahme, die bei der kunstgerechten Behandlung auf Erhaltung und nicht auf die Beschädigung der Gesundheit ausgerichtet sei.18 Prononciert wurde diese Rechtsauffassung in der damaligen Zeit insbesondere von Karl Binding, Ordinarius an der Leipziger Juristenfakultät von 1873 bis 1913, vertreten:19 „Von jeher hat das Wundenheilen den löblichen Gegensatz zum Wundenschlagen gebildet! . . . Ist es aber die für Leben oder Gesundheit bestimmungsgemäß heilsame Wirkung der Heilbehandlung, also ihre objektive Beschaffenheit der Lebenserhaltung, der Gesundheitsmehrung, welche sie als unverboten erscheinen läßt, so muß einleuchten, daß sie diese ihre Eigenschaft nicht gewinnen kann durch vorhandene und nicht verlieren kann durch nicht vorhandene Einwilligung des Patienten“.20
Ab 1909 fand die „viel ventilirte Streitfrage“21 schließlich Eingang in die Strafrechtsreform. Alle Entwürfe seit dem Vorentwurf 1909 haben sich, wenn auch letztlich folgenlos, mit der Problematik des ärztlichen Heileingriffs auseinandergesetzt und unterschiedliche Vorschläge zum Ausschluss der ärztlichen Heilbehandlung aus dem Tatbestand der Köperverletzung sowie zu einem Tatbestand der eigenmächtigen Heilbehandlung formuliert.22
RGSt 29, 375, 381. RGSt 29, 375, 378. 18 Überblick über die Argumente der „Tatbestandslösungen“ bei Tag (Fn. 10), S. 18 ff.; LK10- Hirsch, vor § 223, 3 ff.; LK11-Lilie, vor § 223, Rn. 3. 19 Kern, Rechtswissenschaft an der Universität Leipzig (im Druck 2009), vgl. auch dens., Die Geschichte der Leipziger Juristenfakultät, in: Rektorat der Universität Leipzig (Hrsg.), Wissenschaftsstandort Leipzig. Die Universität und ihr Umfeld. Beiträge der Konferenz anläßlich des „Dies academicus“ am 2. Dezember 1996, S. 125 ff. 20 Binding (Fn. 15), S. 56 f. 21 Binding (Fn. 15), S. 54. 22 Überblick über die Reformdiskussion bei Hans-Ludwig Schreiber (Fn. 13), zum Vorentwurf 1909 vgl. Rufterdinger, Das Strafrecht im Wandel der Zeit, Leipzig 1913, S. 70 ff. 16 17
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2. Die Diskussion im Schatten des Nationalsozialismus Der von Eb. Schmidt im Jahr 1939 entwickelte Ansatz setzt nicht unmittelbar bei dieser Reformdiskussion, sondern bei der verhängnisvollen Wende ein, die das Arzt-Patient-Verhältnis seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten genommen hatte. Nach der nationalsozialistischen Grundposition war die Idee der „Patientenautonomie“, auf deren Stärkung und Absicherung das Reichsgericht bedacht war, ein Relikt des „individualistischen Liberalismus“23 und somit für die Begrenzung der Befugnisse des Arztes, der insbesondere dem „Volk“ und allenfalls mittelbar dem Individuum zu dienen hatte, praktisch bedeutungslos. Diese Grundauffassung spiegelte sich zum Beispiel in den Eingriffsermächtigungen des „Erbgesundheitsgesetz“ und seiner den Anwendungsbereich dieses Gesetzes erweiternden Ausführungsverordnung wider und kam allgemein auch in §§ 1 und 19 der Reichsärzteordnung (RÄO) vom 13. 12. 1935 zum Ausdruck. Nach den §§ 1, 19 RÄO erfüllte der Arzt eine „öffentliche Aufgabe“ und war dazu berufen, „zum Wohle von Volk und Reich für die Erhaltung und Erhebung der Gesundheit, des Erbguts und der Rasse des deutschen Volkes zu wirken“.24 Wenige Jahre später konkretisierte die Berufsordnung der Reichsärztekammer (v. 13. 11. 1937) bereits in ihrer Einleitung die „öffentliche Aufgabe“ als Pflicht des Arztes, „allen Bestrebungen entgegenzutreten, die geeignet sind, die Volkskraft und Volkszahl herabzusetzen“ und postulierte als „Sollbestimmung“ zur Steigerung von Geburtenzahlen, keine der Empfängnisverhütung dienenden Maßnahmen vorzunehmen oder solche Maßnahmen zu empfehlen. Andererseits wurde der Arzt zu Zwangssterilisationen und Abtreibungen bei so genannten „erbkranken“ Personen angehalten.25 Auf der Grundlage der genannten Bestimmungen der Reichsärzteordnung und allgemein angesichts des Bedeutungsverlustes der Patientenautonomie im ArztPatient-Verhältnis nach nationalsozialistischem Verständnis, geriet die oben skizzierte Position der Rechtsprechung ab Mitte der 30er Jahre ins Wanken. In einer damals viel beachteten Entscheidung des Reichsgerichts in Zivilsachen vom 19. Juni 193626 wurde zur Bestimmung der Reichweite der Patientenautonomie 23 Lohmann, Arzt und Patient (Rezension von RGZ JW 1936, 3112 ff.), DJZ 1936, 1482 f., 1482. Nach nationalsozialistischer Doktrin war eine Freiheitssphäre des Einzelnen sowohl gegenüber dem Staat, als auch gegenüber anderen Bürgern grundsätzlich abzulehnen. Autoren der so genannten „Stoßtruppfakultät“ (Eckert, Was war die Kieler Schule, in: Recht und Rechtslehre im Nationalsozialismus. Ringvorlesung der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Baden-Baden 1992, S. 37 ff., 46) der Universität Kiel („Kieler Schule“), wie z. B. der Staats- und Verwaltungsrechtslehrer Huber, betonten in ihren Publikationen, dass „Freiheitsrechte des Individuums“ „mit dem Prinzip des völkischen Rechts nicht vereinbar“ seien (Huber, Verfassung 1937, S. 213, zu weiteren Nachweisen aus dem Schrifttum der „Kieler Schule“, vgl. Eckert a. a. O., S. 64 [Fn. 95]. 24 Näher: Heyder, Die Reichsärzteordnung von 1935 und ihre Folgen für den ärztlichen Berufsstand in den Jahren der nationalsozialistischen Diktatur, Aachen 1996, S. 38 ff. 25 Heyder (Fn. 24), S. 83 ff. 26 RG, JW 1936, 3112 ff.
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nunmehr explizit auch auf die „öffentliche Seite der ärztlichen Tätigkeit“ abgestellt. Der erkennende 3. Zivilsenat war jedoch ersichtlich darum bemüht, eine weit gehende Erosion des Grundsatzes der Patientenautonomie, die dem Urteil des OLG Köln in der Vorinstanz zugrunde lag, zu verhindern. Während das OLG Einschränkungen des „Grundsatzes der Einwilligungsgebundenheit“ bei „praktischem ärztlichem Bedürfnis“ und „gesunde(m) Volksempfinden“ angenommen hatte, sah das Reichsgericht unbeschadet der „stärkeren Betonung der öffentlichen Seite der ärztlichen Tätigkeit“, keinen Anlass dafür, allgemeine Ausnahmen vom Grundsatz der Patientenautonomie zuzulassen. Allerdings seien (in der Entscheidung ausdrücklich nicht näher konkretisierte) Fälle denkbar, in denen das Interesse des Einzelnen „hinter dem öffentlichen Interesse an der Erhaltung der Gesundheit der Volksgesamtheit zurücktreten muß“. Auch für dieses Urteil hat das Reichsgericht durch die Literatur Kritik erfahren. Insbesondere den nationalsozialistisch gesonnenen Autoren ging die Entscheidung nicht weit genug. Drei aus heutiger Sicht argumentativ und vom Ergebnis her geradezu groteske Entscheidungsrezensionen27 von Praktikern sind insofern bemerkenswert: Amtsgerichtsrat Dr. Kallfelz aus Cottbus will zwar am Einwilligungserfordernis festhalten. Er beschränkt dessen Anwendungsbereich aber auf „Menschen, die ihre Lebensaufgabe, ihren Dienst für die Volksgemeinschaft erfüllt haben . . . oder zu dieser Erfüllung ohnehin untauglich sind“. „Gebärfähige Frauen“, „Wehrpflichtige“, „alte Staatsmänner“ und „Gelehrte“, die dem „Volke unersetzliche Dienste“ leisten können, seien demgegenüber verpflichtet, sich ärztlich behandeln zu lassen. Auf der Grundlage der „nationalsozialistischen dynamischen Rechtsauffassung“ seien zur Legitimation des Zwangsbehandlungsrechts auch keine „komplizierten juristischen Konstruktionen“ erforderlich.28 Lohmann und Hofmann geht diese Forderung nicht weit genug. Beide Autoren plädieren für einen Behandlungszwang gegenüber allen „Volksgenossen“ und wollen grundsätzlich von der Rechtsfertigungs- bzw. Einwilligungslösung des Reichsgerichts Abstand nehmen. Insbesondere Lohmann wendet Hofmann, DR 1936, 502 ff.; Kallfelz, JW 1936, 3114 ff. und Lohmann, (Fn. 23). (Strafrechts-)dogmatik war nach nationalsozialistischem Verständnis überflüssig und lästig, weil nach Auffassung damaliger Autoren der Inhalt des Rechts unmittelbar der nationalsozialistischen Weltanschauung entnommen werden kann, vgl. z. B.: Mezger, Die materielle Rechtswidrigkeit im kommenden Strafrecht, ZStW 55 (1936), 1 ff., 9: Rechtswidriges Handeln ist „Handeln gegen die deutsche nationalsozialistische Weltanschauung“ und Bruns unter Bezug auf Freisler in seiner 1938 erschienenen Habilitationsschrift „Die Befreiung des Strafrechts vom zivilistischen Denken“: „An die Stelle juristischer Konstruktionen“ tritt „das gesunde Volksempfinden“. Wolf, Befreiung des Strafrechts vom nationalsozialistischen Denken? HFR 1996, 1 ff., 4, sieht das Kennzeichen der nationalsozialistischen Rechtslehre deshalb zu Recht darin, dass diese lediglich eine „Tarnung der politischen Doktrin“ darstellt: „Recht ist das politische Programm des Führers und der NSDAP. Recht und Macht sind dasselbe“, eingehend zur Auslegung nach „nationalsozialistischer Weltanschauung“ und „Führerwille“: Werle, (Fn. 6), S. 150 ff.; zur medizinischen Zwangsbehandlung im Strafvollzug im Nationalsozialismus, vgl. Laue, Zwangsbehandlung im Strafvollzug, in: Hillenkamp / Tag (Hrsg.), Intramurale Medizin – Gesundheitsfürsorge zwischen Heilauftrag und Strafvollzug, Berlin, Heidelberg 2005, S. 217 ff., 223. 27 28
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sich gegen die „geradezu ungeheuerliche“ 29 Differenzierung zwischen leistungsfähigen und nicht leistungsfähigen Patienten und spricht sich deshalb für ein „uneingeschränktes, allein unter der öffentlichen Verantwortung stehendes ärztliches Behandlungsrecht“ aus,30 weil auch „alte Volksgenossen“ noch eine Aufgabe erfüllen, wenn sie „z. B. ihren Angehörigen oder auch der Allgemeinheit Gelegenheit zur Pflege geben“.31 In einem Beitrag in der Zeitschrift für die Gesamte Strafrechtswissenschaft aus dem Jahr 193932 nahm sich sodann der Heidelberger Strafrechtslehrer Karl Engisch33 der Problematik des ärztlichen Heileingriffs aus strafrechtlicher Sicht an. Obgleich auch diese Arbeit nicht ohne argumentativen Einbezug der nationalsozialistischen Doktrin34 auskommt, enthält sie doch ein für die damalige Zeit bemerkenswertes Plädoyer für die Patientenautonomie, das sich eindeutig gegen die „umstürzlerische(n) Äußerungen“35 der Rezensenten der Entscheidung des Reichsgerichts in Zivilsachen vom 19. Juni 1936 richtet. Nach Engisch führt die Verletzung des Selbstbestimmungsrechts bei der lege artis vorgenommen Heilbehandlung entgegen der vom Reichsgericht vertretenen Rechtfertigungslösung zwar nicht zu einer Strafbarkeit wegen Körperverletzung, aber sie bleibt auch nicht straffrei. Denn de lege lata soll die Missachtung des Patientenwillens auch bei einem indizierten und regelgerecht vorgenommenen Eingriff „zur Not . . . durch eine vom Rechtsgutsbegriff losgelöste Auslegung des § 2 n. F.“36 als Nötigung oder Freiheitsberaubung und de lege ferenda als „eigenmächtige Heilbehandlung“ gemäß einem in Kraft zu setzenden Tatbestand strafbar sein.37 Den Willen des Patienten und allgemein Individualinteressen zu ignorieren und stattdessen nur auf die Gemeinschaft abzustellen, stelle eine „Übersteigerung der Idee oder wenigstens des Ausdrucks“ dar.38 An eine grundsätzliche39 „Opferung des ärztlichen Lohmann (Fn. 23), 1482. Lohmann (Fn. 23), 1484. 31 Lohmann (Fn. 23), 1484. 32 Engisch (Fn. 15). 33 Bereits im Jahr 1938 wollte die Leipziger Juristenfakultät den vakanten zweiten Lehrstuhl für Strafrecht mit Karl Engisch besetzen. Dieser zog es allerdings vor, in Heidelberg zu bleiben, vgl. zu den Hintergründen des Berufungsverfahrens: Gräfin von Hardenberg (Fn. 1). 34 Vgl. z. B. Engischs Ausführungen zu § 2 StGB (Fn. 15, 3 ff., 19 f. [Fn. 44]), insbesondere zur Frage einer analogen Anwendung von spezialgesetzlichen Regelungen des Behandlungszwanges oder seine Differenzierung zwischen dem Interesse an der Erhaltung des Lebens des „tüchtigen Ernährers einer großen Familie“ einerseits und des „unbrauchbaren, alleinstehenden Geistesschwachen“ andererseits (Fn. 15, 8). 35 Engisch (Fn. 15), 2. 36 Vgl. zum Wortlaut des § 2 in der Fassung des Gesetzes vom 28. 06. 1935: Fn.: 6. 37 Engisch (Fn. 15), 4. 38 Engisch (Fn. 15), 17. 39 Ausnahmen will Engisch (Fn. 15), 33 für die Fälle übertragbarer Krankheiten anerkennen. 29 30
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Eingriffen entgegentretenden Selbstbestimmungsrechts“ sei zumindest „vorläufig“ schon deshalb nicht zu denken,40 weil es – „auch auf der Grundlage der nationalsozialistischen Rechtsauffassung“ – kein anerkennungswertes Interesse der Gemeinschaft an der „polizeistaatlichen Unterwerfung des Einzelwillens“ gebe.41 Im Jahr des Beginns des „Euthanasieprogramms“42 stärkt Schmidt sodann dem jüngeren Heidelberger Kollegen mit der Monographie „Der Arzt im Strafrecht“ den Rücken:43 „Das Ergebnis Engischs ist in jeder Hinsicht zu billigen. Engisch hat, was er als besonderes Verdienst in Anspruch nehmen darf, den Nachweis geführt, daß auch vom Standpunkt der heute maßgebenden politischen Grundauffassungen aus der Wille des Patienten bei den Fragen nach dem ,Ob’ und dem ,Wie’ eines ärztlichen Eingriffs, wie überhaupt einer ärztlichen Behandlung, berücksichtigt werden, das Selbstbestimmungsrecht des Patienten, das Engisch als eine Ausstrahlung des weiter greifenden Problems der ,Privatautonomie’ betrachtet, Anerkennung finden muß. Er hat dabei in lesenswerter Auseinandersetzung mit den interessanten Ausführungen von Kallfelz, Lohmann und Hoffmann jedes ärztliche Behandlungszwangsrecht – von ganz bestimmten Sonderfällen abgesehen – abgelehnt, sich in dieser Ablehnung mit Recht auch nicht durch die §§ 1 und 19 RÄO irre machen lassen.“44
Während bei Engisch die Verteidigung des Grundsatzes der Patientenautonomie im Vordergrund steht, widmet sich Schmidt vornehmlich den mit dieser Lösung verbundenen dogmatischen Detailproblemen. Insbesondere fundiert er die Lehre von der eigenmächtigen Heilbehandlung als Freiheitsdelikt in der sozialen Handlungslehre und verdeutlicht damit, dass es für die strafrechtliche Würdigung des Eingriffs zu Heilzwecken nicht auf das „äußerlich sich bietende Bild“,45 sondern Engisch (Fn. 15), 32. Engisch (Fn. 15), 31. Ob es sich insoweit um eine absichtliche oder unbewusste Fehleinschätzung der politischen Lage handelt, lässt sich heute nicht mehr klären. 42 Vgl. hierzu Schmidt (Fn. 7): „Seit Ende September 1939 lief das auf Hitlers Geheimbefehl (zurückdatiert auf 1. 9. 1939) beruhende ,Euthanasieprogramm‘, das die utrierteste Verachtung des Selbstbestimmungsrechtes involvierte und über das Schicksal leidender Menschen von ,Ärzten‘ entscheiden ließ, die sich in den Dienst dieses Programms des Massenmordes gestellt hatten. Der Justiz blieben diese Ereignisse nicht unbekannt. Daß man im Reichsgericht von diesen Opfern eines sich im zynischen Kalkül mit Menschenschicksalen ergehenden Totalitarismus nichts gewußt haben sollte, ist völlig undenkbar“. 43 Vgl. Schmidt (Fn. 6), S. 69: „In dankbarer Auseinandersetzung mit der ausgezeichneten Förderung, die das Problem des ärztlichen Eingriffs zu Heilzwecken kürzlich durch einen Aufsatz von Engisch erfahren hat, handelt es sich nur darum, die von Engisch angebahnte Lösung nach manchen Richtungen hin zu festigen, da ich in ihr einige dogmatisch schwache Punkte zu sehen glaube“. In seiner Rezension des Buches „Der Arzt im Strafrecht“ in der Monatsschrift für Kriminalbiologie und Strafrechtsreform 1939, S. 414 ff. hat Engisch das Kompliment erwidert: Das neue Buch von Schmidt „zu dessen Lob man nicht mehr zu sagen braucht, als daß es einen unserer besten und verdienstreichsten Kriminalisten mit der gesammelten Kraft reifen juristischen Könnens am Werk zeigt“ behandele Probleme, die „wissenschaftlich interessant, weltanschaulich belangreich und praktisch aktuell sind“. 44 Schmidt (Fn. 6), S. 92. 40 41
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die „soziale Sinnhaftigkeit“ des Geschehens insgesamt,46 das heißt auf die dem Eingriff innewohnende „Heiltendenz“ und die „Förderung der körperlichen Interessen“ ankomme. Daneben setzt er sich differenzierter als Engisch mit den Voraussetzungen der Einwilligung, dem Umfang der ärztlichen Aufklärungspflicht und der Problematik der Subsumtion eigenmächtiger Heilbehandlungen unter die §§ 239, 240 StGB auseinander. Ohne diese Gedankengänge im Einzelnen nachzeichnen zu müssen, kann man Schmidts Arbeit aus dem Jahr 1939 als Versuch interpretieren, die von ihm kriminalpolitisch auch mit Blick auf den Berufsalltag des „praktischen Arztes, der Allgemeinpraxis treibt“47 als richtig empfundenen Ergebnisse gegen den Zeitgeist zu verteidigen. Ebenso wie Karl Engisch nimmt er dabei zwar nicht offensiv gegen die nationalsozialistische Rechtslehre oder die Auslegung von Rechtsbegriffen nach der „nationalsozialistischen Weltanschauung“ Stellung. Vielleicht sieht er in der Möglichkeit einer Analogie zulasten des Täters auf der Grundlage des § 2 S. 2 RStGB in der Fassung des „Gesetzes vom 28. Juni 1935“ sogar die Chance, der befürworteten „Freiheitsdeliktslösung“ auch ohne einen Tatbestand der eigenmächtigen Heilbehandlung zur Anerkennung durch die Gerichte zu verhelfen, weil in von ihm klar identifizierten, praxisrelevanten Fällen eine Subsumtion unter die Tatbestandsvoraussetzungen der §§ 239, 240 StGB48 ohne dieses Mittel nicht möglich ist.49 Maßgeblich für seine im Grundsatz „unbestechliche Haltung“50 ist aber die auch nach dem Krieg unverändert abgewogene Position51 im Spagat zwischen Patientenwohl und Patientenwille, die bereits in seiner Monographie im Jahr 1939 Schmidt (Fn. 6), S. 71. Schmidt (Fn. 6), S. 75, Fn. 29; vgl. dazu im Einzelnen Roxin (Fn. 6), § 8, Rn. 27 ff. 47 Schmidt (Fn. 6), S. 2. 48 Vgl. aus heutiger Sicht zum Lösungsansatz der Rechtslehre z. B. Wessels / Hettinger, Strafrecht Besonderer Teil 1, 32. Aufl. 2008, Rn. 326: „Schutz vor eigenmächtiger Heilbehandlung würden mithin nach dieser Ansicht allein die §§ 239, 240 bieten, die freilich in Fällen solcher Art zumeist versagen“ . . . und Rn. 329: „ . . . der Rückgriff auf §§ 239, 240 kann dem Schutzbedürfnis des Patienten gegenüber ärztlicher Eigenmacht in weiten Bereichen nicht Rechnung tragen“ (Hervorhebung im Original). Insbesondere ist § 240 unanwendbar im Fall der praxiswichtigen durch Täuschung erschlichenen Einwilligung, näher Kargl (Fn. 10), S. 541. 49 Auf diese Art von Erfolg kam es ihm explizit an, vgl. Schmidt (Fn. 6), S. 71: „Die wissenschaftliche Arbeit . . . hat nun im Laufe der Zeit als die zunächst einmal entscheidende Frage diejenige nach der Tatbestandsmäßigkeit ärztlicher Heileingriffe im Sinne der Körperverletzungs- und Tötungsdelikte erwiesen. Schon Binding und Kahl . . . hatten bald nach der Jahrhundertwende bei dieser Frage den Hebel angesetzt – leider ohne den Erfolg, auf den es für rechtswissenschaftliches Arbeiten letzten Endes ankommt: die Praxis der Gerichte . . . wollte die Lösungsmöglichkeit . . . nicht sehen.“ 50 Lange (Fn. 2), S. 543. 51 Schmidt, Empfiehlt es sich, dass der Gesetzgeber die Fragen der ärztlichen Aufklärungspflicht regelt? Gutachten für den 44. Deutschen Juristentag, in: Verhandlungen des 44. Deutschen Juristentages, Hannover 1962, Bd. I Gutachten, 4. Teil, Tübingen 1962, S. 1 ff. 45 46
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klar zum Ausdruck gebracht wird. Danach spricht er sich deutlich für die Strafwürdigkeit der Missachtung des Patientenwillens aus. Bei lege artis ausgeführter Heilbehandlung ist die Verletzung des Selbstbestimmungsrechts aber – unabhängig davon, ob die Behandlung erfolgreich war oder nicht52 – niemals Körperverletzung oder Tötung, sondern „Freiheitsdelikt“. III. Die gegenwärtige Bedeutung der Problematik 1. Tatbestandslösung versus Rechtfertigungslösung Die vorstehenden Ausführungen zeigen eindrucksvoll die Schwächen der Tatbestandslösung. In den sich auf Engisch und Schmidt berufenden Arbeiten, die sich der Tatbestandslösung anschließen, fehlt durchgängig der Hinweis darauf, dass beide Autoren die sich ergebenden Strafbarkeitslücken durch eine Analogie zum Nachteil des Täters schließen.53 Durch die Tatbestandslösung wird deshalb de lege lata das heute verfassungsrechtlich in Art. 2 Abs. 1 u. 2 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG54 verankerte Selbstbestimmungsrecht des Patienten gerade in den praxiswichtigen Fällen einer durch Täuschung erschlichenen Einwilligung für strafrechtlich schutzlos erklärt. Im „Bohrerspitzenfall“ des Bundesgerichtshofs55 hätte diese Lösung beispielsweise zu einem auch nach Schmidts kriminalpolitischem Grundverständnis ungerechtfertigten Freispruch des Arztes geführt, der sich die Einwilligung seines Patienten „durch dreiste Lügen erschlichen“56 hatte. Die Täuschung über den wahren Anlass der Operation, die Behebung eines vorausgegangenen Kunstfehlers durch Entfernung einer abgebrochenen Bohrerspitze, ist we52 Zu „missglückenden“ Eingriffen: Schmidt (Fn. 6), S. 76 ff. Sein Lösungsansatz, das Problem des erfolglosen Heileingriffs mit Hilfe der Dogmatik des unechten Unterlassungsdelikts zu lösen, konnte sich auch in der Rechtslehre nicht durchsetzen. Zu den einzelnen heute vertretenen Positionen der Rechtslehre, siehe Wessels / Hettinger (Fn. 48), Rn. 328. 53 Siehe die in Fn. 3 genannten Autoren. 54 BVerfGE 32, 98, 110; 52, 131, 170; Dreier-Schulze-Fielitz, GG, 2. Aufl. 2004, Art. 2 Rn. 73; Maunz / Dürig, GG, Stand: 2. Aufl. Stand: Sept. 1968, Art. 2 Abs. II Rn. 36 ff.; Maunz / Dürig-Di Fabio, GG, Stand: 43. EL Feb. 2004, Art. 2 Abs. 2 Rn. 69 ff.; Sachs-Murswiek, GG, 4. Aufl. 2007, Art. 2 Rn. 206; v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, 5. Aufl. 2005, Art. 2 Rn. 237; v. Münch / Kunig, GG, 5. Aufl. 2000, Art. 2 Rn. 72. 55 BGH JR 2004, 469. 56 Puppe, Anmerkungen zu BGH JR 2004, 469 f.; JR 2004, 470 ff. Nach dem in der Entscheidung mitgeteilten Sachverhalt brach bei einer Operation der Schulter eines 18jährigen Patienten ein zwei Zentimeter langes Bohrerstück ab und blieb fast vollständig versenkt im Knochen stecken. Die Bergung der Bohrerspitze durch Stichinzision während der Operation schlug fehl. Am Abend des Operationstages spiegelte der Arzt dem Patienten sodann wahrheitswidrig vor, es bestünde eine Indikation für eine dorsale Kapselraffung im Rahmen einer zweiten Operation. In Wahrheit diente die nach Einwilligung des Patienten durchgeführte zweite Operation nur der in keinem Operationsprotokoll erwähnten Bergung der abgebrochenen Bohrerspitze.
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der eine „Beraubung der Freiheit“ im Sinne des § 239 StGB, noch „Gewalt“ oder „Drohung“ im Sinne des § 240 StGB und deshalb nach der Tatbestandslösung de lege lata straflos. Die „Rechtfertigungslösung“ kennt diese Strafbarkeitslücken zwar nicht.57 Die Entwicklung der Rechtsprechung seit der Entscheidung des Reichsgerichts im Jahr 1894 zeigt aber, dass die Konsequenzen der Rechtfertigungslösung im Hinblick auf die Strafbarkeit des Arztes in praxisrelevanten Fallkonstellationen rechtsunwirksamer Einwilligungen durch „Hilfs- bzw. Umgehungskonstruktionen“58 vermieden werden, die weniger dogmatischen Einsichten als vielmehr kriminalpolitischen Bedürfnissen folgen. Ist der ärztliche Heileingriff nach der „Rechtfertigungslösung“ eine tatbestandsmäßige Körperverletzung, müsste nämlich z. B. das Skalpell konsequenterweise als gefährliches Werkzeugs (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB) und das Narkosemittel als Gift (§ 224 Abs. 1 Nr. 1 StGB) eingestuft werden. Chirurgische Eingriffe, die zum Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit führen59 oder bei denen erkrankte Körperglieder abgetrennt werden, wären grundsätzlich als Fälle des § 226 Abs. 2 StGB mit Freiheitsstrafe nicht unter 3 Jahren zu bestrafen. Führt der Eingriff zum Tod des Patienten, käme bei fehlender oder unwirksamer Einwilligung sogar eine Körperverletzung mit Todesfolge in Betracht.60 Von Ausnahmen abgesehen,61 haben das Reichsgericht und der Bundesgerichtshof aber stets Wege gefunden, die Anwendung dieser Straftatbestände, durch die ärztliche Fehler auf eine Ebene mit der Schwerkriminalität gerückt werden, zu verhindern. Drei unterschiedliche Strategien lassen sich dabei ausmachen. In den Entscheidungen des Reichsgerichts wurde die Problematik einer Strafbarkeit wegen einer qualifizierten Körperverletzung zunächst schlicht übergangen. Das epochale Urteil aus dem Jahr 189462 schließt z. B. mit den Worten, der Angeklagte habe „normwidrig“ gehandelt und ein nach „§§ 223 flg. StGB zu ahndendes Delikt verübt“. In den vorausgegangenen ausführlichen Darlegungen begründet das Gericht zwar umfangreich die „Rechtfertigungslösung“. Es fehlen aber Ausführungen zu der Frage, ob der Arzt, der immerhin das Leben seines an Knochentuberkulose erkrankten 7jährigen Patienten gerettet hatte, aufgrund der 57 Zu den einzelnen in der Literatur entwickelten Spielarten der „Rechtfertigungslösung“, vgl. Tag (Fn. 10), S. 14 ff. Aus diesem Grund subsumiert z. B. Dürig in Maunz / Dürig / Herzog, Art. 2 Rn. 36 ff. den Heileingriff unter Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG. Hierzu kritisch Schmidt (Fn. 51), S. 41 f. 58 Wessels / Hettinger (Fn. 48), Rn. 329. Sternberg-Lieben (Anmerkung zu BGH StV 2008, 189 [„Hallenser-Schönheitschirurgen-Fall“], StV 2008, 190 ff., 190) bezeichnet die Rechtfertigungslösung insgesamt als „eine zum Schutze der Selbstbestimmung des Patienten wohl unerlässliche Hilfskonstruktion“. 59 Vgl. z. B. den ersten „Myomfall“ (BGHSt 11, 111 ff. = JR 1958, 225 ff.) ferner BGHSt 45, 219 ff. (Sterilisation nach Kaiserschnitt). 60 Eingehend: Bockelmann (Fn. 3), S. 51 ff. 61 Vgl. aus der neueren Rechtsprechung z. B. BGH StV 2008, 189. 62 RGSt 29, 375 ff.
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gegen den ausdrücklich erklärten Willen des Vaters durchgeführten Amputation des Fußes auch wegen beabsichtigter schwerer Körperverletzung zu bestrafen sei.63 In den frühen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs wurde die Anwendbarkeit der §§ 224 ff. StGB sodann zunächst noch ohne argumentative Vertiefung durch eine fragwürdige Subsumtion unter den Tatbestand der fahrlässigen Körperverletzung ausgeschlossen.64 So hatte im „ersten Myomfall“ der angeklagte Arzt bei seiner Patientin die Gebärmutter entfernt,65 obwohl diese einer so weitgehenden Operation nicht zugestimmt und nur in die operative Entfernung einer Gebärmuttergeschwulst eingewilligt hatte. Da somit die (medizinisch indizierte) Entfernung des Organs ohne Einwilligung erfolgt ist,66 wäre eine Strafbarkeit des Arztes wegen einer beabsichtigten schweren Körperverletzung (Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit) zu prüfen gewesen.67 Gleichwohl sah der BGH nur Raum für eine fahrlässige Körperverletzung, weil es der Arzt vor der Operation versäumt habe, „sich der Zustimmung der Nebenklägerin zu der möglicherweise erst während des Eingriffs offenbar werdenden Notwendigkeit der Entfernung der Gebärmutter zu vergewissern“.68 Seit den 60er Jahren setzte sich die höchstrichterliche Rechtsprechung ferner erstmals explizit mit der Problematik auseinander, ob Operationsbestecke gefährliche Werkzeuge im Sinne des § 224 StGB (bzw. § 223a a.F. StGB) darstellen.69 Obwohl es bei der Bewertung des Heileingriffs von der Rechtsprechung gerade als verfehlt angesehen wird, auf die „Heiltendenz“ und damit auf Ziel und Zweck der Körperverletzung abzustellen, verneint sie bei Operationsbestecken den objektiven Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung unter Bezug auf die Willensrichtung des Arztes: Das Skalpell oder die Operationszange würden vom Arzt nicht als Angriffs- oder Verteidigungsmittel, sondern bestimmungsgemäß eingesetzt und stellten in Folge dieser Verwendungsabsicht kein gefährliches Werkzeug im Sinne 63
Ebenso: Geilen (Fn. 8), S. 294: Das Reichsgericht ist „auf halbem Wege stehen geblie-
ben“. 64 Auch heute wird in den einschlägigen Entscheidungen hervorgehoben, die „Erörterung der Frage, ob der Arzt den Patienten vorsätzlich an Leben oder Gesundheit geschädigt“ habe, sei „nur unter bestimmten Umständen geboten“ (BGH NStZ 2004, 35 ff.). 65 BGHSt 11, 111 ff. = JR 1958, 225. 66 Die Figur der hypothetischen Einwilligung war damals noch unbekannt, siehe dazu näher unten. 67 Vgl. hierzu bereits Schmidt, Anmerkung zu BGH JR 1958, 225, JR 1958, 226, 227: „Hier müsste man im Grunde genommen fragen: wieso eigentlich ,fahrlässig‘? Was an Wundsetzung und Organentfernung geschehen ist, also nach Auffassung des RG und des BGH dem Tatbestande der §§ 223 ff. entspricht, das alles hat der betr. Arzt doch wohl ,mit Wissen und Willen‘, also vorsätzlich . . . getan“. 68 BGH JR 1958, 225, 226. 69 BGH Urt. v. 24. 05. 1960 (zit. nach BGH NJW 1978, 1206); BGH NJW 1978, 1206 („Zahnextraktionsfall“); BGH MDR 1987, 445 (Spritze des Nicht-Heilkundigen).
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des § 224 (bzw. § 223a a.F.) StGB dar.70 Neben diesem Systembruch hinsichtlich der Frage der Relevanz bzw. Irrelevanz der seitens des Arztes verfolgten Ziele ist nach heutiger Rechtslage darüber hinaus auch die Begründung des Ergebnisses anhand der grammatikalischen Auslegung fraglich. Der BGH hatte die Anwendung des § 223a a.F. StGB bei einer Operationszange bzw. einem Skalpell mit dem Argument verneint, das gefährliche Werkzeug werde im Gesetz (§ 223a StGB) nur als Beispiel für eine Waffe genannt.71 Der Begriff Waffe, dem die Verwendung als Angriffs- oder Verteidigungsmittel immanent ist, stellt nach dieser Argumentation folglich den Oberbergriff des gefährlichen Werkzeugs dar. Seit den Rechtsänderungen durch das 6. StrRG ist diesem Argument der Boden entzogen worden, weil nunmehr ausweislich des Wortlauts des § 224 StGB das „andere gefährliche Werkzeug“ den Oberbegriff der in § 224 Abs. 1 Nr. 2 genannten Tatmittel bildet und die „Waffe“ als spezielles Beispiel vorangestellt ist.72 Die Rechtsprechung hat dieser Änderung des Gesetzes jedoch keine Rechnung getragen und wendet § 224 StGB unverändert auch in neueren Entscheidungen bei einem Gebrauch von Operationsbestecken durch den Arzt nicht an73. Als Folge der zunehmenden Präzisierung und Steigerung der Anforderungen an die notwendige Aufklärung des Patienten74 ist in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts von der Rechtsprechung zur Korrektur unbilliger Ergebnisse schließlich die 70 Kritisch zu diesem „Finalitäts-Element“: Wolski, Zur Typizität des gefährlichen Werkzeugs im Sinne des § 223a StGB, GA 1987, 527 ff., 528. Bei der Täuschung über den Zweck des Eingriffs stößt die Argumentation der Rechtsprechung auch dann an ihre Grenzen, wenn man über den oben aufgezeigten Systembruch hinwegsieht; näher: Sowada, Anmerkung zu BGH JR 1988, 122 f., JR 1988, 123 ff. 71 § 223a Abs. 1 a.F. StGB lautete: „Ist die Körperverletzung mittels einer Waffe, insbesondere eines Messers oder eines anderen gefährlichen Werkzeugs, . . . begangen, so ist die Strafe Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren“. 72 Sch / Sch-Stree, § 224 Rn. 4: Der zu § 223a a.F. geführte Streit, ob Waffe oder gefährliches Werkzeug der Oberbegriff ist, hat sich mit der Neufassung erledigt; vgl. ferner Wessels / Hettinger (Fn. 48) und Küper, Strafrecht Besonderer Teil. Definitionen mit Erläuterungen 2008, S. 453 f.: Die Begründung der Rechtsprechung zur Problematik der bestimmungsgemäß verwendeten ärztlichen Instrumente sei „nach der Neufassung überholt“. Grundlegend zur Problematik zum Begriff des gefährlichen Werkzeugs nach dem 6. StrRG, ders., „Waffen“ und „Werkzeuge“ im reformierten Besonderen Teil des Strafgesetzbuchs, in: Ebert u. a. (Hrsg.), Festschrift für E.W. Hanack zum 70. Geburtstag, Berlin / New York 1999, S. 569 ff. 73 BGH BGH JR 2004, 469 f. („Bohrerspitzenfall“); BGH StV 2008, 189 („Hallenser Schönheitschirurgen-Fall“). 74 Vgl. BGH JZ 2000, 898 f.: Bei einer freiwilligen Impfung muss der Arzt z. B. auch dann über die möglichen Folgen einer Erkrankung an Poliomyelitis aufklären, wenn das Erkrankungsrisiko 1:5 Mio. beträgt. Aus der neueren Rechtsprechung siehe ferner BGH NJW 2005, 1716 f.: Eine niedergelassene Gynäkologin, die einer Raucherin ein Antikonzeptionsmittel („Pille“) verschreibt, muss diese auch über das (sich selten verwirklichende) Risiko eines Schlaganfalls aufklären. Kritisch zu dieser Tendenz: Maunz / Dürig-Di Fabio, GG, Stand: 43. EL Feb. 2004, Art. 2 Abs. 2 Rn. 70: „Vom Recht aufgezwungene Bürokratisierung der Heilbeziehung“.
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Figur der „hypothetischen Einwilligung“75 herangezogen worden.76 Nach dieser von der Rechtsprechung der Zivilsenate des Bundesgerichtshofs77 in Arzthaftungssachen entwickelten Lehre begründen Aufklärungsdefizite die Strafbarkeit des Arztes wegen Körperverletzung nur dann, „wenn der Patient bei einer den Anforderungen genügenden Aufklärung in den Eingriff nicht eingewilligt hätte“.78 Die Umgehungsstrategie über die Figur der „hypothetischen Einwilligung“ ist allerdings schon deshalb problematisch, weil hier die Strafbarkeit des Arztes in die Hände des Patienten gelegt wird, der in den einschlägigen Verfahren häufig nicht nur als Zeuge, sondern auch als Nebenkläger in Erscheinung tritt und parallel zum Strafverfahren (bzw. im Adhäsionsverfahren) zivilrechtliche Ansprüche geltend machen wird. Auch wenn man unterstellt, dass sich der Patient im Rahmen der Selbstreflexion unvoreingenommen mit der Frage seiner Entscheidung im Falle zureichender Aufklärung beschäftigt, kann er nur Vermutungen äußern und versuchen, sich in die jeweilige Situation hinein zu versetzen. Denn im Unterschied zur Prüfung der hypothetischen Kausalität geht es bei der hypothetischen Einwilligung um fiktives menschliches Verhalten, das auch vom Handelnden selbst nur anhand von Erfahrungssätzen auf Plausibilität, nicht aber anhand von Naturgesetzen auf empirische Richtigkeit hin überprüft werden kann.79 In vielen Fällen, bei denen es etwa um eine Operation zur Beseitigung eines lebensbedrohlichen Zustandes geht, wird es Patienten aufgrund der Einzigartigkeit der Situation zudem an dem erforderlichen Erfahrungswissen über sein Verhalten in vergleichbaren Lebenslagen fehlen. Verstirbt der Patient bei dem Eingriff, sind Feststellungen zur hypothetischen Einwilligung von vornherein ausgeschlossen.80 Neben diesen Problemen auf der Ebene der Tatsachenermittlung sind auch die strafrechtsdogmatischen Konsequenzen der „hypothetischen Einwilligung“ ungeklärt und dem Normadressaten kaum mehr vermittelbar. Sofern die Beachtlichkeit der hypothetischen Einwilligung nicht schon grundsätzlich verneint wird,81 ist 75 Mitsch, Die „hypothetische Einwilligung“ im Arztstrafrecht, JZ 2005, 279; Kuhlen, Hypothetische Einwilligung und „Erfolgsrechtfertigung“, JZ 2005, 713 ff.; ders., Ausschluss der objektiven Zurechnung bei Mängeln der wirklichen und der mutmaßlichen Einwilligung, in: Britz u. a. (Hrsg.), Grundfragen staatlichen Strafens. FS-Müller-Dietz, München 2001, S. 431 ff.; Böcker, Die „hypothetische Einwilligung“ im Zivil- und Strafrecht, JZ 2005, 925. 76 Der BGH (NStZ 1996, 34, 35 [„Surgibone-Dübelfall“]) deutet ferner an, dass eine strafrechtliche Verantwortlichkeit wegen vorsätzlicher Körperverletzung auch „unter dem Gesichtspunkt des Schutzzweckgedankens“ entfallen kann. 77 BGH NJW 1984, 1397; BGH NJW 1991, 2344. 78 BGH NStZ 1996, 34, 35 („Surgibone-Dübelfall“); BGH StV 2004, 376 („Bandscheibenvorfall“). 79 Ausführlich Puppe, Anmerkung zu BGH JR 2004, 469 f. („Bohrerspitzenfall“), JR 2004, 469 ff.; Roxin (Fn. 6), § 13, Rn. 124 ff. löst dieses Problem durch Anwendung seiner Risikoerhöhungslehre. 80 Sternberg-Lieben, Rezension von BGH StV 2008, 189 („Hallenser Schönheitschirurgen-Fall“), StV 2008, 190 ff., 192.
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fraglich und streitig, ob im Fall der hypothetischen Einwilligung schon die objektive Erfolgszurechung und damit der Tatbestand der Körperverletzung entfällt82 oder erst die Rechtswidrigkeit,83 ob Straflosigkeit anzunehmen ist oder eine Strafbarkeit des Arztes wegen einer versuchten Körperverletzung84 in Betracht kommt. Die dogmatischen Unsicherheiten häufen sich, wenn zusätzlich ein Behandlungsfehler vorliegt. Nach Auffassung des BGH85 soll sich auch die hypothetische Einwilligung „nur auf eine lege artis, d. h. nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft durchgeführte Heilbehandlung“ beziehen, so dass in Fällen eines Zusammenspiels von Aufklärungsdefiziten und einer nicht fachgerecht durchgeführten Behandlung gegebenenfalls § 227 StGB einschlägig ist. Auch diese Rechtsprechung ist in der Literatur umstritten.86 In der Praxis führt sie jedoch zu dem problematischen Ergebnis, dass die Umgehungslösungen versagen, wenn zwei Sorgfaltspflichtverletzungen (eine sorgfaltswidrig unzureichende Aufklärung und ein sorgfaltswidriger ärztlicher Eingriff) vorliegen. Insgesamt bestehen in den genannten Konstellationen erhebliche Unklarheiten über den Umfang und die Begründung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des handelnden Arztes, die mit den Geboten der Transparenz des Strafrechts und der Rechtssicherheit nicht zu vereinbaren sind. 2. Die Position der Rechtsprechung als Interimslösung Die Ausführungen zur Rechtfertigungslösung zeigen, dass die Schließung von Strafbarkeitslücken entweder mit Systembrüchen, dogmatischen Unklarheiten und insgesamt mit Defiziten an Rechtssicherheit oder mit einer überzogenen Einordnung der Fälle in das Spektrum der Schwerkriminalität einhergeht. In unterschiedlichen Diskussionsphasen hat die Rechtsprechung deshalb über die Problematik der an sich folgerichtigen Anwendbarkeit von Qualifikationen oder Erfolgsqualifikationen der Körperverletzung entweder hinweggesehen, oder sie hat den Fall mit fragwürdiger Begründung in den Bereich fahrlässiger Deliktsbegehung gezogen. Die neueren Strategien mit Hilfe der Figur der hypothetischen Einwilligung sind Musterbeispiele einer kreativen Strafrechtsdogmatik,87 die sich durch immer sub81 Puppe, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Arztes bei mangelnder Aufklärung über eine Behandlungsalternative, GA 2003, 763 ff.; dies. (Fn. 79). 82 Kuhlen, Ausschluss der objektiven Erfolgszurechnung bei hypothetischer Einwilligung, JR 2004, 227 ff.; ders., Hypothetische Einwilligung und „Erfolgsrechtfertigung“, JZ 2004, 713 ff.; Roxin (Fn. 6), § 13, Rn. 120. 83 BGH JR 2004, 251; BGH JR 2004, 469. 84 Kuhlen (Fn. 82), S. 229; LK12-Rönnau, vor § 32, Rn. 231. 85 BGH StV 2008, 189 („Hallenser Schönheitschirurgen-Fall“). 86 Vgl. hierzu grundlegend die Rezension der in Fn. 85 genannten Entscheidung von Sternberg-Lieben, StV 2008, 190 ff. 87 Schneider / Morguet, Gefährliches Strafrecht. Zu den Grenzen avantgardistischer Strafrechtsdogmatik, in: Th. Uwer, Bitte bewahren sie Ruhe. Leben im Feindrechtsstaat, Berlin 2006, S. 335 – 352.
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tilere Kriterien und Verästelungen zunehmend von der Lebenswirklichkeit der Normadressaten und ihrer Fähigkeit zur Verarbeitung strafrechtlicher Komplexität entfernt und auch die Tatsachenermittlung im Strafverfahren vor kaum lösbare Probleme stellt. Mit Blick auf das Verfassungsrang genießende Autonomieprinzip ist allerdings de lege lata auch die Tatbestandslösung kriminalpolitisch nicht hinnehmbar. Im Ergebnis kann daher die Lehre von der Tatbestandsmäßigkeit des lege artis durchgeführten Heileingriffs als Körperverletzung allenfalls als Interimslösung Bestand haben, bis die von Eb. Schmidt in aller Eindringlichkeit geäußerte Forderung, einen Straftatbestand der eigenmächtigen Heilbehandlung zu verabschieden, durch den Gesetzgeber umgesetzt wird.88 IV. Fazit Seit der Grundsatzentscheidung aus dem Jahr 1894 bürdet die Rechtsprechung dem Arzt ein hohes Strafbarkeitsrisiko auf, indem sie den Heileingriff als tatbestandsmäßige Körperverletzung beurteilt. Um im Einzelfall zu gerechten und angemessenen Ergebnissen zu kommen, benötigt sie dogmatische Hilfskonstruktionen, die in ihrem Anwendungsbereich aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen unberechenbar sind. Eberhard Schmidt hat zur Kompensation der schon damals erkennbaren Schwächen dieser Lösung in seiner Leipziger Veröffentlichung und später immer wieder den Gesetzgeber aufgefordert, einen Straftatbestand der eigenmächtigen Heilbehandlung zu schaffen. Wer sich gegen ein „Sonderstrafrecht für Ärzte“89 ausspricht, übersieht, dass sich ein solches längst entwickelt hat. Mangels einschlägiger Tatbestände, die dem Unwertgehalt der Verletzung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten angemessen über die Einordnung in die Gruppe der Freiheitsdelikte Rechnung tragen, hat sich die Diskussion in den Allgemeinen Teil des Strafrechts verlagert und findet dort – wie zum Beispiel die Problematik der hypothetischen Einwilligung, die außerhalb arztstrafrechtlicher Fallkonstellationen praktisch keine Relevanz hat, zeigt – außerhalb des geschriebenen Rechts statt. Vor diesem Hintergrund ist die Forderung Schmidts und der Ruf nach dem Gesetzgeber auch 70 Jahre nach ihrer Veröffentlichung in den „Leipziger rechtswissenschaftlichen Studien“ noch aktuell und verdient uneingeschränkt Zustimmung.
88 Zu entsprechenden Regelungen im österreichischen und portugiesischen Strafrecht, vgl. Bruckmüller / Schumann, Die Heilbehandlung im österreichischen Strafrecht; in: Roxin / Schroth: Handbuch des Medizinstrafrechts, 3. Aufl. Stuttgart u. a. 2007, S. 647 ff. und Eser: Zur Regelung der Heilbehandlung in rechtsvergleichender Perspektive; in: FS-Hirsch 1999, S. 465 ff., 470. Zum gescheiterten Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz aus dem Jahr 1996: Müller, Von der Körperverletzung bis zur eigenmächtigen Heilbehandlung; DRiZ 1998, 155 ff.; Meyer, Reform der Heilbehandlung ohne Ende – ein Beitrag zum geltenden Strafrecht und zum Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums 1996, GA 1998, 415 ff. 89 Tag (Fn. 10), S. 29.
Medizinrecht an der Juristenfakultät bis 1945 Von Bernd-Rüdiger Kern
I. Einleitung Das Fach „Medizinrecht“ gilt als sehr modernes Rechtsgebiet, dem kaum eine geschichtliche Entwicklung zugestanden wird. Das ist für den Gegenstand, mit dem es sich beschäftigt, gänzlich falsch. Zu den ältesten überlieferten Rechtsregeln gehören medizinrechtliche im Codex Hammurapi. Aber auch als akademisches Fach ist es älter als gemeinhin angenommen1. Der Begriff Medizinrecht soll, einem modernen Ansatz folgend2, weit verstanden werden. Es „beschäftigt sich mit der Gesamtheit der Regeln, die sich unmittelbar oder mittelbar auf die Ausübung der Heilkunde beziehen.“ Exemplarisch lassen sich Arzthaftungsrecht, Krankenhausrecht, Krankenversicherungsrecht einschließlich des Kassenarztrechts, Recht des öffentlichen Gesundheitswesens, Arzneimittelrecht, Berufsorganisations- und Standesrecht anführen. Daneben gibt es noch eine Fülle medizinrechtlicher Fragestellungen, wie etwa Transplantationsrecht, Recht der Humangenetik, Schwangerschaftsabbruch und das rechtliche Instrumentarium zur Kostenbegrenzung im Gesundheitswesen. Manche dieser medizinrechtlichen Felder sind uralt (Schwangerschaftsabbruch), andere ganz neu (Telemedizinrecht). Neue Rechtsfelder entwickeln sich parallel zu den Fortschritten der Medizin. Innerhalb der juristischen Fakultäten wird das Medizinrecht – wenn überhaupt – in den Grenzen des traditionellen juristischen Fächerkanons des Zivil-, Straf- und öffentlichen Rechts betrieben. Letztlich ist wohl niemand in der Lage, das Fach, das sich in seinem Umfang und disziplinübergreifenden Charakter etwa mit dem 1 Vgl. dazu knapp Bernd-Rüdiger Kern, Entwicklung des Medizinrechts aus der Sicht des Zivilrechts, in: Albin Eser / Hansjörg Just / Hans-Georg Koch, (Hrsg.) Perspektiven des Medizinrechts = Ethik und Recht in der Medizin Bd. 38, 2004, S. 55 – 62. 2 Vgl. dazu allgemein Albin Eser / Hansjörg Just / Hans-Georg Koch (Hrsg.), Perspektiven des Medizinrechts = Ethik und Recht in der Medizin Bd. 38, 2004 und speziell in diesem Band Plädoyer für ein „integratives Medizinrecht“, S. 293 ff. Daraus die folgenden Zitate. Erwin Deutsch, Arztrechtler in Göttingen, Ludwig von Bar, Ernst Rabel und Eberhard Schmidt, in: Fritz Loos (Hrsg.), Rechtswissenschaften in Göttingen. Göttinger Juristen aus 250 Jahren, 1987, S. 289 – 298, 289, bestritt hingegen, daß es sich bei dem Arztrecht um eine eigene Disziplin handelt.
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Umwelt- oder dem Wirtschaftsrecht vergleichen läßt, in allen Verästelungen zu beherrschen. Dieser aktuelle Befund gilt für die Vergangenheit erst recht. Dennoch findet sich in Leipzig zumindest ein Medizinrechtler, der sich umfassend mit dem Fach beschäftigt hat. Weiterhin wird sich auch in Leipzig zeigen, daß der Schwerpunkt innerhalb der drei großen juristischen Disziplinen wechselt, wenn auch hier eher das öffentliche Recht und das Strafrecht im Vordergrund standen. Wissenschaftler3, die sich zwar mit medizinrechtlichen Fragen beschäftigt haben, aber nicht in ihrer Leipziger Schaffensperiode, bleiben im folgenden unberücksichtigt. II. Einzelne Fachvertreter 1. Georg Häpe Am Anfang der Betrachtung steht mit Georg Häpe4 ein eher unbekannter Fachvertreter. Häpe wurde am 24. Juli 1848 in Dresden geboren. Nach dem Studium an der Leipziger Juristenfakultät promovierte er hier und habilitierte sich 1885 mit einer Arbeit über das gerade verabschiedete Krankenversicherungsgesetz. Obwohl er bereits 1885 Regierungs-Assessor war, gehörte er der Leipziger Fakultät zunächst als Privatdozent an und blieb ihr auch neben dem Verwaltungsdienst in der Kreishauptmannschaft Leipzig5 als Honorarprofessor (1899) verbunden. Häpe starb in Leipzig am 9. Januar 1914. Seine Lehrgebiete waren das Deutsche und Sächsische Verwaltungsrecht. Das Sächsische Verwaltungsrecht wurde erstmals von ihm im WS 1886 / 87 und danach in jedem Semester als selbständige Vorlesung gehalten. Von 1890 bis 1910 las er zudem „Das Recht der Kranken-, Unfall- und Invaliden- und Altersversicherung der Arbeiter“. Dabei dürfte es sich um die erste Leipziger Vorlesung handeln, die in erheblichem Umfang auch medizinrechtliche Fragestellungen aufgegriffen hat. Seit 1899 / 1900 lehrte er zudem Gewerberecht. 3 Erich Molitor (1886 – 1961, in Leipzig von 1922 – 1930), veröffentlichte 1951 eine Monographie über „Krankenhaus und Chefarzt“, 1935 und 1956 erschienen wenige medizinrechtliche Aufsätze zu sozial- und arbeitsrechtlichen Themen, 1958 veröffentlichte er 58 Artikel in Kuhns, „Das gesamte Recht der Heilberufe“. Das gilt erst recht für Karl Engisch (1899 – 1990), der 1936 einen Ruf nach Leipzig abgelehnt hatte und für Georg Schwalm, vgl. dazu unten Anm. 177. 4 Über ihn vgl. knapp Deutsches Biographisches Jahrbuch. Überleitungsband 1: 1914 – 1916, Totenliste 1914, S. 335; Hermann A. L. Degener (Hrsg.), Wer ist’s. Unsere Zeitgenossen, 4. Ausgabe 1909, S. 339. Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. 2. Bd., Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800 – 1914, 1992, S. 350, kommt über die bloße Namensnennung nicht hinaus. 5 Das entspricht dem heutigen Regierungspräsidium (Landesdirektion). Zur Kreishauptmannschaft Leipzig vgl. Thomas Klein, Grundriß zur deutschen Verwaltungsgeschichte 1815 – 1945, Bd. 14 Sachsen, 1982, S. 353 – 413.
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Häpes Werk über „Das Krankenversicherungsrecht nach dem Reichsgesetze vom 15. Juni 1883“ ist zwar bei weitem nicht das erste Werk über die neuen Sozialgesetze, wohl aber das früheste, das sich nicht mit wirtschaftlichen und politischen Fragen beschäftigte, sondern mit den juristischen. Auffällig ist insoweit, daß der Verfasser im wesentlichen mit zivilistischer Literatur arbeitet. Die bevorzugte Literatur ist Windscheids Pandektenlehrbuch. Häpe bleibt insoweit im System des Gesetzes und untersucht die Rechtsbeziehungen zwischen den Parteien des Versicherungsvertrages. Von durchaus noch aktuellem Interesse ist seine Einleitung, in der er schildert, wie sich die Rechtslage ohne Gesetzliche Versicherung darstellte. Dieser Aspekt wird heute gerne übersehen. Die von den Kollegen günstig aufgenommene Arbeit6 blieb ohne dauernden Einfluß, weil Häpe selbst zu dem Thema nicht mehr veröffentlichte. 2. Ernst Rabel So unbekannt Georg Häpe bis heute geblieben ist, so bekannt ist der zweite Fachvertreter, nämlich Ernst Rabel7. Rabel wurde am 28. Januar 1874 in Wien geboren, wo er auch studierte und das Studium 1895 mit der Promotion abschloß. Zunächst trat er in die väterliche Kanzlei ein, dann arbeitete er bei einem anderen Rechtsanwalt. 1896 legte er während eines Parisaufenthalts die Grundlagen für seine Kenntnisse in einer ausländischen Rechtsordnung. 1899 folgte er seinem Lehrer Ludwig Mitteis nach Leipzig. Hier wandte er sich der römischen Rechtsgeschichte und insbesondere der Papyrologie zu. 1902 habilitierte er sich demzufolge mit einer historischen Arbeit. Von 1902 bis 1906 gehörte er der Juristenfakultät als Privatdozent und Extraordinarius an. 1906 wechselte er nach Basel, 1910 nach Kiel, 1911 nach Göttingen und 1916 nach München, wo für ihn ein Institut für Rechtsvergleichung eingerichtet wurde. 1926 ging er nach Berlin, wo er 1935 als Jude seinen Lehrstuhl verlor, aber noch bis 1937 Institutsdirektor blieb. 1939 verließ er mit seiner Familie Deutschland und wanderte über Belgien in die Vereinigten Staaten von Amerika aus. Hier konnte er mit Forschungsstipendien versehen weiterarbeiten. Nach dem Kriegsende lehrte er an der FU Berlin und in Tübingen. Rabel starb am 7. September 1955 in Zürich. Heute ist Rabel als Internationalrechtler und Rechtsvergleicher bekannt. In seinen Leipziger Jahren lag sein Arbeitsschwerpunkt hingegen noch auf dem Gebiet der römischen Rechtsgeschichte. Alle hier gehaltenen Vorlesungen entstammen diesem Gebiet. Breitere Interessen zeigen seine Veröffentlichungen, darunter dieje6 Rassow, Beiträge zur Erläuterung des deutschen Rechts, Jg. 28, 1884, S. 866 f. Christian Friedrich Rassow war Reichsgerichtsrat. Damit setzte Rassow eine Tradition der Reichsoberhandelsgerichtsräte fort. Vgl. dazu Bernd-Rüdiger Kern, Universität – Juristenfakultät – Reichsgericht, in: Bernd-Rüdiger Kern / Adrian Schmidt-Recla, 125 Jahre Reichsgericht, 2006, S. 97 – 108, 101. 7 Über ihn vgl. zuletzt Rolf-Ulrich Kunze, Ernst Rabel und das Kaiser-Wihelm-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht 1926 – 1945, 2004; und Deutsch, S. 293 – 295.
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nige, die im Zusammenhang meines Beitrages von Interesse ist: „Die Haftpflicht des Arztes“. Das Gutachten wurde 1904 in Leipzig veröffentlicht. Spätere Arbeiten zu diesem Rechtskreis fehlen. Das Gutachten beruht auf einem Vortrag vor Ärzten und richtet sich auch in der Veröffentlichung an Ärzte. Als Haftungsgrundlagen behandelt Rabel den „Mangel der Einwilligung zu einer Operation, Kunstfehler, Bruch des Berufsgeheimnisses“. Den Behandlungsvertrag wertet Rabel als Dienstvertrag. Fragen der Kausalität und des Schadensumfangs werden eher zurückhaltend aufgegriffen, weil sie für den Arzt nicht von so starkem Interesse seien8. H. Boethke verfaßte in den „Beiträgen zur Erläuterung des deutschen Rechts“ eine sehr wohlwollende Rezension9, deren Schlußsatz hier wiedergegeben sei, weil Rabel gegen seinen Rezensenten Recht behalten sollte10: „Was hier der Verf. über die Bemessung des Verschuldens nach objektivem Maßstabe sagt, dürfte kaum Anfechtung erfahren, wogegen die Ansicht, daß der Vertrag des Arztes stets Dienstvertrag (nicht Werkvertrag) sei, und daß der § 680 B.G.B. neben § 276 überflüssig sei und zu üblen Konsequenzen führe, wohl nicht allgemeine Billigung finden wird.“ 3. Karl Binding Der umstrittenste in diesem Zusammenhang zu nennende Autor ist Karl Binding11, umstritten wegen eines Buchtitels, den er möglicherweise nicht einmal selbst zu verantworten hat. Karl Binding wurde am 4. Juni 1841 in Frankfurt am Main geboren. Von 1860 bis 1863 studierte er zunächst Geschichte, dann Rechtswissenschaft an der Universität Göttingen, die er 1863 mit der Promotion verließ. 1864 habilitierte er sich bei Karl Joseph Anton Mittermaier in Heidelberg für Straf- und Strafprozeßrecht. Seine Lehrtätigkeit nahm Binding noch im WS 1864 / 65 auf. Bereits 1866 wurde er nach Basel berufen, 1870 nach Freiburg, 1872 nach Straßburg und 1873 nach Leipzig. Zweimal stand er der Universität als Rektor vor, 1892 und im Jubliläumsjahr 1909. Das Ansehen, das er in der Stadt genoß, führte zur Verleihung der Ehrenbürgerschaft der Stadt Leipzig12. Den Leipziger Lehrstuhl Zum Inhalt im einzelnen vgl. Deutsch, S. 293 ff. H. Boethke, Beiträge zur Erläuterung des deutschen Rechts, Jg. 49, 1905, S. 148. 10 Zum Charakter des Behandlungsvertrages als Dienstvertrag vgl. Bernd-Rüdiger Kern, Arzt-, Behandlungsvertrag, in: Rieger / Dahm / Steinhilper (Hrsg.), Heidelberger Kommentar Arztrecht, Krankenhausrecht, Medizinrecht, 2008, S. 335 / 1.; zur Nichtanwendbarkeit von § 680 BGB vgl. Wilhelm Uhlenbruck / Adolf Laufs, in: Adolf Laufs / Wilhelm Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl. 2002, § 45 Rdnr. 19. 11 Über ihn vgl. Jan Schröder, in: Gerd Kleinheyer / Jan Schröder (Hrsg.), Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, 5. Aufl. 2008, S. 62 – 66; Daniela Westphalen, Karl Binding – Material zur Biographie eines Strafrechtsgelehrten, Frankfurt / Main u. a. 1989; und Arnd Koch, in: HRG, Bd. I, 2. Aufl. 2005, Sp. 594. 8 9
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hatte er bis 1913 inne. Nach seiner Emeritierung siedelte er nach Freiburg über, wo er am 7. April 1920 starb. Binding ist bekannt als Vertreter des klassischen Strafrechts im Schulenstreit mit Franz von Liszt. Seine Normentheorie konnte sich zwar – wohl, weil es an wirkungsmächtigen Schülern fehlte – insgesamt nicht durchsetzen, blieb aber nicht ohne Einfluß auf das moderne Strafrecht13. Binding ist mit einer Reihe von umfassenden Strafrechtslehrbüchern hervorgetreten. Daneben hat er aber auch beachtliche rechtshistorische Werke verfaßt. Immer wieder Anlaß zu Streit und Herabwürdigungen14 gibt sein posthum herausgegebenes, mit A. Hoche verfaßtes Werk „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form“, das in seinem Todesjahr 1920 erschien15. Während heute Bindings Buch oft generell im Zusammenhang mit den Verbrechen der Nationalsozialisten genannt wird, behandelt es tatsächlich einen Gegenstand, der in der aktuellen Diskussion als „Sterbehilfe“ bekannt ist16. Inhaltlich gehen Bindings Vorschläge – abgesehen von den „Blödsinnigen“ – nicht über das hinaus, was in den europäischen Nachbarländern heute als Recht praktiziert und in der Bundesrepublik im Zusammenhang mit dem Gesetzgebungsverfahren diskutiert wird. Es handelt sich insoweit um die Zulassung der straffreien Tötung auf Verlangen von Schwerstkranken. Die verfahrensmäßige Absicherung, die Binding vorschlägt, geht sogar noch über das hinaus, was etwa in den Niederlanden und Belgien insoweit erforderlich ist. Bleibt als überschießender Rest die Tötung von Geistesbehinderten. Mit den Geistesbehinderten meint Binding allerdings lediglich die Gruppe der geistig derartig schwer Behinderten, bei denen es an einem bewußten Leben und einer Willensbildung fehlt. Solange bei ihnen ein entgegenstehender Wille feststellbar ist, ist er beachtlich und verbietet jede Tötung. Auch die Geisteskranken, bei denen dieser Wille nicht vorhanden ist, sind nicht etwa zum Tode bestimmt, sondern können nur unter besonderen Voraussetzungen und der Einwilligung der sie Pflegenden beziehungsweise der Vormünder getötet werden. Bei der Frage der verfahrensmäßigen Absicherung greift Binding auf diese Gruppe dann allerdings bemerkenswerterweise nicht mehr zurück. Das bedeutet, daß die Hauptstoßrichtung der Arbeit Bindings nicht über die heute aktuelle Debatte in der Sterberechtsproblematik hinausgeht. Sie liegt in etwa 12 Vgl. dazu Steffen Held, Die Ehrenbürger von einst, in: Leipziger Volkszeitung, 29. 12. 2008, S. 19. 13 So auch Schröder, S. 63 f. 14 Vgl. dazu Held, LVZ v. 29. 12. 2008, S. 19. 15 Vgl. dazu umfassend Ortrun Riha (Hrsg.), ,Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘. Beiträge des Symposiums über Karl Binding und Alfred Hoche am 2. Dezember 2004 in Leipzig, 2005. 16 Vgl. dazu Bernd-Rüdiger Kern, Karl Binding und Alfred Hoche: ,Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘. Juristische Perspektiven, in: Riha (Hrsg.), ,Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘, 2005, S. 145 – 154.
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auf der Linie der belgischen und niederländischen Regelung und entspricht dem, was im Bundestag als Gesetzgebungsvorhaben erörtert wurde. Das Werk Bindings gehört also nicht in den Kontext von Euthanasie und Vernichtung lebensunwerten Lebens im Dritten Reich, in den es aufgrund seines Titels häufig nur allzuschnell und voreilig eingeordnet wird17, sondern in den der Sterbehilfedebatte im aktuellen Sinne, in die Debatte um eine Reform des § 216 StGB. In diesem Zusammenhang seien noch einige Worte über den Sprachgebrauch Bindings verloren. Den heutigen Leser berührt es unangenehm, mit welcher Selbstverständlichkeit Binding von minderwertigen, normalwertigen und höherwertigen Leben und Euthanasie redet. Überhaupt entspricht seine Diktion weithin nicht der heutigen, die durch die weitere geschichtliche Entwicklung bestimmt ist. Das bedeutet nicht, daß Binding Begriffe unreflektiert verwendet. Vielmehr wählt er bewußt den Begriff der Euthanasie, den er dem zweideutigen „unschönen Namen der ,Sterbehilfe‘“ vorzieht18. Bindings Werk stieß bei den juristischen Kollegen überwiegend auf Ablehnung19, blieb aber als Feindbild von ungebrochener Aktualität20. Erst in jüngster Zeit wurde unter ausdrücklichem Bezug auf Binding21 hervorgehoben, daß die „maßgebliche Triebfeder der Euthanasie . . . die dem leidenden Mitmenschen zuteil“ werdende Solidarität sei. Ein ähnlich brisantes – wenn auch zeitgeschichtlich unbelastetes – Thema griff Binding mit der bis heute aktuell gebliebenen Auseinandersetzung um die juristische Einordnung des ärztlichen Heileingriffs22 auf. Den Heileingriff hatte das Reichsgericht in seiner berühmten Entscheidung vom 31. Mai 189423 als Körperverletzung gewertet, die ihre Rechtfertigung in der Einwilligung finde. Gegen diesen Ansatz wandte sich Binding mit Vehemenz, etwa in der zweiten Auflage seines 17 So z. B. Holger Steinberg, Die Leipziger Universitätspsychiatrie – Eine Tour d’horizon durch zwei Jahrhunderte Psychiatriegeschichte, in: Holger Steinberg (Hrsg.), Leipziger Psychiatriegeschichtliche Vorlesungen, BLUWiG, Bd. B 7, 2005, S. 13 – 73, 41; Zvi Lothane, Daniel Paul Schreber on his own terms, or how interpretive fictions are converted into historical facts, in: Holger Steinberg (Hrsg.), Leipziger Psychiatriegeschichtliche Vorlesungen, BLUWiG, Bd. B 7, 2005, S. 129 – 156, 151; und Eva Schumann, Karl Bindings Schrift, ,Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘. Vorläufer, Reaktionen und Fortwirkungen in rechtshistorischer Perspektive, in: Riha (Hrsg.), ,Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘, 2005, S. 35 – 67, 65. 18 Binding, Freigabe, S. 16. In diesem Sinne auch Dieter Lorenz, Aktuelle Verfassungsfragen der Euthanasie, JZ 2009, S. 57 – 67. 19 Vgl. nur Ludwig Ebermayer, Die Freigabe der Vernichtung des lebensunwerten Lebens, LZ 1920, Sp. 599 – 604. 20 Vgl. dazu Schumann (Anm. 17) und Christian Merkel, „Tod den Idioten“ – Eugenik und Euthanasie in juristischer Rezeption vom Kaiserreich zur Hitlerzeit, 2006. 21 Lorenz, S. 57 Anm. 3. 22 Vgl. dazu jüngst Karsten Fehn, Der medizinische Heileingriff als Körperverletzung und die strafrechtliche Bedeutung von Aufklärungsmängeln im Überblick, GesR 2009, S. 11 – 17. 23 RGSt 25, 375.
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Lehrbuch(s) des Gemeinen Deutschen Strafrechts aus dem Jahre 190224. Die deutsche Strafrechtsgesetzgebung hat es bis heute nicht vermocht, diesen verfehlten Ansatz des Reichsgerichts durch eine eigene Strafnorm des eigenmächtigen Heileingriffs zu ersetzen25. Abschließend sei das Urteil eines wissenschaftlichen Gegners, des v. Liszt-Schülers Eberhard Schmidt angeführt, der Binding als ein „echtes Kind seines rechtsstaatlich-liberalen Zeitalters“ bezeichnete 26. 4. Ludwig Ebermayer Zu den erklärten Gegnern der Bindingschen Sterbehilfevorschläge gehörte Ludwig Ebermayer27, Arztrechtler in dem eingangs geschilderten weitem Sinne. Ebermeyer wurde am 15. April 1858 in Nördlingen geboren. Nach juristischen Studien in Würzburg und München trat er in den bayrischen Justizdienst ein und war als Staatsanwalt und Richter in Straubing, Neuburg, Bayreuth und Bamberg tätig. 1901 wurde er an das Reichsgericht in Leipzig berufen, in dessen 3. Strafsenat er eintrat. Seit 1911 gehörte er mehreren Strafrechtskommissionen an. 1912 wurde ihm in Göttingen die Ehrenpromotion verliehen. 1918 wurde er zum Senatspräsidenten ernannt. 1921 lehnte er den Ruf an die Juristenfakultät der Universität Leipzig als Nachfolger von Adolf Wach ab28 und wechselte in das Amt des Oberreichsanwalts. Als höchster Ankläger der Weimarer Republik vertrat er das Reich in mehreren Staatsschutzprozessen, aber auch in den Kriegsverbrecherprozessen. Nachdem er am 31. August 1926 in den Ruhestand versetzt worden war, wurde er 1927 zum Honorarprofessor an der Juristenfakultät ernannt. Hier bot er bis zu seinem Tode am 30. Mai 1933 in jedem Semester Lehrveranstaltungen an. Neben Vorlesungen über Strafrechtsreform29 und – auf Wunsch der Fakultät30 – Strafprozeßrecht bot er auch praktische Übungen an. Medizinrechtliche Vorlesungen hielt er nicht ab. Wahrscheinlich hat er aber einige arztrechtliche Dissertationen betreut. Jedenfalls spricht viel dafür, daß die Arbeit von Helmut Tegetmeyer „Die nichtärztlichen Heilbehandler, ihre Rechtslage und deren Weiterentwicklung“ (1935) auf 24 Karl Binding, Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts. Besonderer Teil, 1. Bd., Leipzig 1902, S. 53 – 58. Speziell zur Auseinandersetzung mit dem Reichsgericht, 58, Anm. 1. 25 Vgl. dazu kurz Bernd-Rüdiger Kern, Die neuere Entwicklung in der Rechtsprechung zur Aufklärungspflicht, in: GesR 2009, S. 1 – 11, 11; und Hendrik Schneider, in diesem Band, S. 165. 26 Eberhard Schmidt, Karl Binding, Vortragsmanuskript, 1939, S. 4, zitiert nach Simone von Hardenberg, Eberhard Schmidt. Ein Leben für den Rechtsstaat, 2009, S. 303. 27 Über Ebermayer vgl. Ludwig Ebermayer, Fünfzig Jahre im Dienst am Recht. Erinnerungen eines Juristen, 1930; und Andreas Staufer, Ludwig Ebermayer, Diss. Leipzig, 2009. 28 Ludwig Ebermayer, Fünfzig Jahre, S. 207. 29 Vgl. dazu Ebermayer, Fünfzig Jahre, S. 207 f. 30 Ebermayer, S. 208.
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seine Initiative zurückgeht. Von erheblicher Bedeutung ist seine Arbeit am Leipziger Kommentar, den er als Herausgeber31 wesentlich mitgestaltete. Wie schon erwähnt war Ebermayer Medizinrechtler in einem umfassenden Sinne. Nicht erklärlich ist sein Interesse am Medizinrecht. Weder beruflich noch persönlich hatte er erkennbar damit zu tun. Die erste literarische Auseinandersetzung mit einer medizinrechtlichen Materie fand vor genau 100 Jahren statt, als er eine Rezension über Julius Hahns „Das Krankenversicherungsgesetz“ in der JZ veröffentlichte32. Nach einigen weiteren Rezensionen erschienen 1911 die ersten Aufsätze in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift (DMW): „Rechtsfragen aus der ärztlichen Praxis“33 und „Zum Entwurfe eines Gesetzes gegen Mißstände im Heilgewerbe“34. Strafrechtlich bestimmt waren auch zwei weitere Veröffentlichungen aus diesen Jahren: „Zum Zeugnisverweigerungsrecht der Ärzte und der Rechtsanwälte“35 und „Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Arztes bei operativen Eingriffen nach geltendem und künftigem Deutschen Strafrechte“36. Die „Rechtsfragen aus der ärztlichen Praxis“ erschienen von 1915 bis 1924 nahezu in vierteljährlichem Abstand37. Bis zu einem gewissen Grad kriegsbedingt ist sein Aufsatz über „Krieg, Geschlechtsleiden und ärztliches Berufsgeheimnis“38. Auch die übrigen Veröffentlichungen greifen häufig Themen aus dem Sexualmedizinrecht auf: „Antikonzeptions- und Schutzmittel im Lichte des Strafrechts“39, „Die Bestrafung des Geschlechtsverkehrs Venerischer“40 und „Straflose Abtreibung bei Notzucht“41. Grundsätzlicher fällt sein Beitrag zur Strafrechtsreform aus: „Die Stellung des Arztes im Entwurf zum Deutschen Strafgesetzbuch“42. Aber auch Themen wie „Der Streit der Ärzte mit den Krankenkassen“43 griff Ebermayer auf. Im WS 1928 / 29 beteiligte sich Ebermayer gemeinsam mit Lutz Richter an einer interdisziplinären Vortragsreihe, die vom Institut für Geschichte der Medizin an 31 Ludwig Ebermayer (Hrsg.), Reichs-Strafgesetzbuch mit besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Reichsgerichts. Leipziger Kommentar, 1920. 32 JZ 1909, S. 1220 – 1221. 33 DMW 1911, S. 267 – 269. 34 DMW 1911, S. 413 – 415. 35 JW 1911, S. 199 – 200. 36 LZ 1914, S. 1079 – 1089. 37 DMW 1915, S. 1316 f., 1344 f., 1373 f., 1404 f.; 1916, S. 261 f., 290 f., 325 f., 358 ff., 856 f., 884 f., 952 f.; 1917, S. 1364 f., 1397 ff., 1450 f.; 1918, S. 773 f., 807 f.; 1921, S. 782 ff., 839 f., 870 f.; 1922, S. 394 f., 1621, 1655 f., 1707 f.; 1924, S. 806 ff. 38 DMW 1916, S. 1043 – 1045. 39 Dermatologische Wochenschrift 1916, S. 10 – 14. 40 DMW 1916, S. 19 f. 41 DMW 1916, S. 1009. 42 DMW 1921, S. 134 f. 43 DMW 1920, S. 718 f.
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der Universität Leipzig44 veranstaltet wurde und sprach über das Thema „Der Arzt in Gesetz und Rechtsprechung“. Dieser Vortrag wurde in der Schriftenreihe des Instituts veröffentlicht45. In den letzten Schaffensjahren konzentrierte sich Ebermayers medizinrechtliche Arbeit auf das Verfassen von mehreren umfassenden Monographien. Sein erstes einschlägiges selbständiges Werk „Arzt und Patient in der Rechtsprechung“46 systematisierte den Stoff seiner Aufsatzserie „Rechtsfragen aus der ärztlichen Praxis“47. Als sich nach der 4. Auflage 1929 der Zuschnitt des Werkes als zu eng erwies, konzipierte Ebermayer ein neues Werk: „Der Arzt im Recht. Rechtliches Handbuch für Ärzte“48. Den einzelnen Kapiteln stellte er theoretische Einführungen voran, denen die Nachweise aus der Praxis folgten49. In seiner Autobiographie nahm er nochmals Stellung zu den medizinrechtlichen Fragen, die ihm besonders wichtig waren50. Eine der zentralen Fragen, die Ebermayer aufgriff51, war die nach der Stellung des Arztes als Angehöriger eines freien Berufes, nicht als Gewerbetreibender. Daraus folgte für ihn die Geltung eines restriktiven Berufsrechts, für das jede Berechtigung fehlte, würde der Arzt als Gewerbetreibender angesehen. Auch die Ärztekammern und die Berufsgerichtsbarkeit beruhen auf dieser Grundentscheidung. Eng mit der Kurierfreiheit, die sich aus der Reichsgewerbeordnung von 1869 ergab, hing nach der Ansicht Ebermayers das Problem der Kurpfuscherei zusammen52, dem er eine größere Veröffentlichung widmete53.Vehement setzte er sich für ein Kurpfuschereiverbot ein, das fast überall sonst auf der Welt galt. Dabei geht es ihm nicht darum, die Kurpfuscher für ihre schlechte Behandlung zu bestrafen, sondern um den vorbeugenden Schutz der Bevölkerung. Die Heilbehandlung sollte nur Ärzten und examiniertem nichtärztlichem Personal gestattet werden. Nur in Notfällen sollte anderes gelten. Ein zu schaffendes Gesetz müßte daher die gewerbsmäßige Kurpfuscherei verbieten. Den Erlaß des Heilpraktikergesetzes, das wohl seinen Vorstellungen entsprochen hätte, im Jahre 1938 erlebte Ebermayer nicht. 44 Zur Bedeutung des Instituts in diesen Jahren vgl. Ingrid Kästner, 100 Jahre institutionalisierte Medizingeschichte in Leipzig, in: Ortrun Riha (Hrsg.), 100 Jahre Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften an der Universität Leipzig, 2006, S. 27 – 50, 28. 45 Der Arzt und der Staat. Vorträge des Instituts für Geschichte der Medizin an der Universität Leipzig, Bd. 2, 1929. 46 1924, 3. Aufl. 1925. 47 Ebermayer, Fünfzig Jahre, S. 98 f. 48 1930. 49 Vgl. dazu Ebermayer, Fünfzig Jahre, S. 99. 50 Ebermayer, Fünfzig Jahre, S. 132, 98 – 132. 51 Vgl. dazu Ebermayer, Fünfzig Jahre, S. 99 – 102. 52 Ebermayer, Fünfzig Jahre, S. 126 – 132. 53 Ludwig Ebermayer, Die notwendige Bekämpfung der Kurpfuscherei, 1927.
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Als wesentliche Berufspflicht hat Ebermayer die ärztliche Schweigepflicht angesehen. Heute selbstverständlich ist seine Ansicht, daß der Schutz der dem Arzt anvertrauten Geheimnisse zu eng sei und auch die Wahrnehmungen des Arztes unter den Geheimhaltungsschutz fallen. Beifall verdient seine heute noch ungleich aktuellere Befürchtung, die Offenbarungspflichten des Arztes könnten zu weit ausgedehnt werden: „Man hat hier häufig das Gefühl, daß der Gesetzgeber nicht immer die erforderliche Rücksicht nimmt auf die Bedeutung des ärztlichen Berufsgeheimnisses und dem Arzt zuweilen eine zu weitgehende Offenbarungspflicht auferlegt.“54 Von Interesse ist auch der von Ebermayer zustimmend zitierte Entwurf zu einem § 325 StGB: „Der Täter ist straffrei, wenn er ein solches Geheimnis zur Wahrnehmnung eines berechtigten öffentlichen oder privaten Interesses offenbart, das nicht auf andere Weise gewahrt werden kann, und wenn das gefährdete Interesse überwiegt.“55 Ein weiteres grundlegendes Thema ist das „ärztliche Operationsrecht“56. Dabei handelt es sich um das schon bei Binding angesprochene Problem, ob die fehlerfreie Behandlungsmaßnahme als Körperverletzung anzusehen ist oder nur als eigenmächtige Heilbehandlung. Wie Binding vertritt auch Ebermayer gegen die ständige Rechtsprechung des Reichsgerichts die letztere Ansicht. Zur Begründung führt er unter anderem die strafrechtliche Konsequenz der Qualifikationen der Körperverletzungsdelikte an57, ein Problem, das bis heute nicht zufriedenstellend gelöst ist58. Aufgrund der von ihm miterarbeiteten Entwürfe konnte Ebermayer indessen noch die Hoffnung auf eine alsbaldige Änderung haben. Schon aus einigen Aufsatztiteln wird Ebermayers Interesse an einer Reform des Schwangerschaftsabbruchsrechts deutlich59. Dabei geht es nicht etwa um die Freigabe der Abtreibung, sondern um die Anerkennung der medizinischen Indikation60. Bestand bei der Frage der eigenmächtigen Heilbehandlung ein Schulterschluß zu Binding, dessen Werke Ebermayer häufig rezensiert hatte, so gilt das nicht für die „Frage der Euthanasie, der Sterbehilfe“61. In dieser Frage ist Ebermayer sehr zurückhaltend. Obwohl gute Gründe für eine Freigabe der Sterbehilfe sprächen, plädiert er für eine grundsätzliche Beibehaltung der Strafbarkeit. Allerdings möchte er den starren Strafrahmen des § 216 StGB aufweichen und spricht sich Ebermayer, Fünfzig Jahre, S. 102 – 108, 104. Ebermayer, Fünfzig Jahre, S. 105. Vgl. dazu aus der neueren Rechtsprechung OLG Frankfurt / M., MDR 1999, 1444. 56 Vgl. dazu Ebermayer, Fünfzig Jahre, S. 108 – 114. 57 Ebermayer, Fünfzig Jahre, S. 110. 58 Vgl. dazu zuletzt das völlig in die Begriffsjurisprudenz abgedriftete Urteil des BGH, MedR 2008, 435. 59 Ebermayer, Fünfzig Jahre, S. 114 ff. 60 Vgl. den Text des Entwurfs bei Ebermayer, Fünfzig Jahre, S. 116. 61 Ebermayer, Fünfzig Jahre, S. 116 – 120, 116. 54 55
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mit dem Entwurf für eine ausgesprochen geringfügige Mindeststrafe aus, um „der gerade hier so großen Verschiedenheit der Fälle und insbesondere allen zugunsten des Täters sprechenden Umständen Rechnung zu tragen.“62 Hingegen lehnt er die Vernichtung „lebensunwerten“ Lebens ausdrücklich ab. Mit diesem Thema hat er sich zweimal in Besprechungen des Werkes von Binding / Hoche63 auseinandergesetzt. Er erkennt zwar den utilitaristischen Standpunkt, der zu der Forderung Bindings und Hoches geführt hat, lehnt es aber ab, „fremde Menschenleben lediglich aus wirtschaftlichen und fiskalischen Gründen zu vernichten“. Das soll selbst gelten, wenn jeder Lebenswille des Betroffenen fehlt64: „Einer Freigabe der Tötung steht . . . die mangelnde Einwilligung der zu Tötenden entgegen.“65 Ebermayers Einstellung zur Sterilisation aus „sozialen, rassehygienischen oder eugenischen Gründen“ de lege ferenda war hingegen durchaus offen. Zwar waren sie nach geltendem Recht verboten, aber sollten in der Zukunft zulässig sein, allerdings auch nur mit der Einwilligung des Betroffenen66 und nicht in allen Fällen. Zur Lösung des Problems sah der damalige Strafgesetzbuchentwurf eine Vorschrift vor, die dem heutigen § 228 StGB entspricht67. Die zwangsweise Sterilisation lehnte Ebermayer – trotz guter Erfahrungen in einigen Staaten der USA – ab68. Ebermayers Herangehensweise an das Arztrecht war von praktischen Gesichtspunkten bestimmt. Immer stand ihm die gerichtliche, mehr noch allerdings die ärztliche Praxis vor Augen. Das zeigt beispielsweise seine Mahnung an den Richter im Kunstfehlerprozeß, die auch heute noch so aktuell ist, wie vor 85 Jahren: Sachverständige „zumal wenn sie aus dem Kreise der sog. Koryphäen genommen werden“ vergessen, „daß der berühmte Kliniker unter ganz anderen Verhältnissen arbeitet, als der oft unter schwierigsten Verhältnissen zur Tätigkeit gezwungene Landarzt“69. Alles in allem läßt sich nach der erneuten Beschäftigung mit Leben und Werk Ebermayers sagen, daß seine Bedeutung für das Medizinrecht deutlich unterschätzt wurde.
Ebermayer, Fünfzig Jahre, S. 118. Ebermayer, Die Freigabe der Vernichtung des lebensunwerten Lebens, LZ 1920, Sp. 599 – 604; LZ 1923, Sp. 40. 64 Ebermayer, Fünfzig Jahre, S. 120. 65 Ebermayer, LZ 1920, Sp. 604. 66 Ebermayer, Fünfzig Jahre, S. 121. 67 Ebermayer, Fünfzig Jahre, S. 122. 68 Ebermayer, Fünfzig Jahre, S. 123 – 126. 69 Ludwig Ebermayer, Rechtsfragen aus der ärztlichen Praxis, DMW 1924, S. 547. Zur aktuellen Rechtslage vgl. Adolf Laufs, in: Adolf Laufs / Wilhelm Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl. 2002, § 99 Rdnr. 11. 62 63
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5. Lutz Richter Handelt es sich bei Ebermayer um einen Medizinrechtler im umfassenden Sinne, so konzentriert sich das Arbeitsfeld von Lutz Richter im wesentlichen auf einen Aspekt, das Kassenarztrecht oder das Kassenärzterecht, wie es zu seiner Zeit hieß. Lutz Richter wurde am 19. März 1891 in Crimmitschau geboren. Nach dem Schulbesuch in Dresden nahm er 1910 das Studium der Rechtswissenschaft in Heidelberg auf. Das Studium setzte er in München fort, bevor er an die Landesuniversität Leipzig wechselte, wo er 1913 das Erste Staatsexamen ablegte. Nach Referendar- und Wehrdienst legte er 1921 die Zweite Juristische Staatsprüfung ab, promovierte in Leipzig mit einer strafrechtlichen Arbeit und wurde Assistent am Leipziger Institut für Arbeitsrecht70, dessen Direktor Erwin Jacobi71 war. 1923 habilitierte er sich mit einer Arbeit über „Das subjektive öffentliche Recht“. Richter wurde 1926 zum nichtplanmäßigen und 1930 zum planmäßigen außerordentlichen Professor für Arbeitsrecht ernannt und blieb in dieser Funktion dem Institut erhalten72. 1931 hat er für ein Gastsemester in Riga gelesen. Nachdem Jacobi schon zum 1. November 1933 aus rassischen Gründen in den Ruhestand versetzt worden war73, hätte es nahegelegen, Lutz Richter die Leitung des Instituts zu übertragen, aber das Ministerium für Volksbildung legte Wert darauf, ihn „nicht zu stark hervortreten zu lassen“74. Daher übernahm der Dekan Koschaker selbst die kommissarische Leitung des Instituts. Am 14. Juni 1935 wurde dann allerdings Richter doch zumindest mit der Geschäftsführung des Instituts beauftragt75. Diese faktische Direktorenstellung übte Richter bis zu seiner Übersiedlung nach Königsberg im Jahre 1944 aus76. Der Grund für die beharrliche Weigerung des Ministeriums, Richter auch formell die Institutsleitung zu übertragen, ist in seiner politischen Gesinnung zu suchen. Er war weder Mitglied der 70 Schreiben des Ministeriums des Kultus und des öffentlichen Unterrichts zu Dresden an das Justizministerium vom 27. 4. 1921, Sächs. HStA, Nr. 10200 / 41, Blatt 41. 71 Über ihn vgl. Martin Otto, Von der Eigenkirche zum Volkseigenen Betrieb: Erwin Jacobi (1884 – 1965), 2008. 72 Schreiben des Instituts f. Arbeitsrecht und des Instituts f. Versicherungswissenschaft an das Sächs. Ministerium f. Volksbildung Dresden vom 16. 9. 1930, Sächs. HStA, Nr. 10200 / 41, Blatt 152; Schreiben des Instituts f. Arbeitsrecht an das Sächs. Ministerium f. Volksbildung Dresden vom 20. 12. 1930, Sächs. HStA, Nr. 10200 / 41, Blatt 157. 73 Vgl. dazu Otto, S. 231 – 240. 74 Schreiben des Sächs. Ministeriums f. Volksbildung Dresden an den Dekan der Juristenfakultät der Universität Leipzig Paul Koschaker vom 25. 10. 1933, Sächs. HStA, Nr. 10200 / 41, Blatt 171 A. 75 Schreiben des Dekans der Juristenfakultät der Universität Leipzig an den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Berlin durch den Leiter des Sächs. Ministeriums f. Volksbildung Dresden vom 22. 7. 1941, Sächs. HStA, Nr. 10200 / 41, Blatt 183. 76 Feldrundbriefe Nr. 16 (November 1942); 23 (März 1944); 24 (Juli 1944), Deutsche Bücherei Leipzig, AK 1913 – 1973, Signatur: ZB 40866.
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NSDAP noch einer ihrer Unterorganisationen77 und galt demzufolge als „politisch unzuverlässig“78. Wie viele seiner Fakultätskollegen war er allerdings Mitglied der Akademie für Deutsches Recht79. Im Jahre 1942 wurde Richter auf ein Ordinariat nach Königsberg berufen, nahm aber bis 1944 noch kommissarisch die Aufgaben seines Amtes in Leipzig wahr. Erst 1944 erfolgte die Übersiedlung nach Königsberg, verbunden mit einer Vorlesungstätigkeit in Breslau. In Königsberg wurde er zum Volkssturm eingezogen, geriet in russische Kriegsgefangenschaft, die er nicht überlebte. Er starb im Winter 1945 / 46 an Tuberkulose80. Während Jacobi das Arbeitsrecht zum Hauptgegenstand seiner wissenschaftlichen Tätigkeit gemacht hatte, widmete sich Lutz Richter stärker dem Sozialversicherungsrecht. Bis heute gilt er zu Recht als Begründer der wissenschaftlichen Durchdringung des Kassenarztrechts81, ohne daß sich seine Arbeit darauf beschränkt hätte. Vorlesungen im Sozialversicherungsrecht hielt er unter verschiedenen Titeln seit dem Wintersemester 1924 / 2582; zuletzt im WS 1944 in Königsberg83. Unterschiedliche Lehrveranstaltungen aus dem Themenbereich hat Richter fast in jedem Semester angeboten, so etwa „Übungen im Sozialversicherungsrecht“ (jährlich im Sommer von 1927 bis 1933), „Arbeitnehmerschutz und Sozialversicherung“ (1929 / 30, 1930 / 31, 1931 / 32, 1932 / 33, 1934 / 35), „Übungen zur neuen Sozialverfassung“ (1934), „Seminar zur neuen Sozialverfassung“ (1935), „Rechtsvergleichendes Seminar – Sozialverfassung des Faschismus“ (1935 / 36), „Sozialrechtliches Seminar“ (1936, 1937, 1937 / 38, 1939 / 40, 1940, 1941, 1941 / 42, 1942, 1942 / 43), „Sozialrechtliche Aussprachen“ (1939, 1940), „Übungen im Sozial- und Individualversicherungsrecht“ (1940) und „Übungen im Sozial- und Versicherungsrecht“ (1940). Die seit 1930 / 31 in dichter Folge zunächst mit Paul Rehme, Erwin Jacobi und Große, seit 1934 / 35 ohne Jacobi, seit 1935 / 36 mit Hans Oppikofer und seit 1936 / 37 mit Weichsel, seit 1941 mit Günter Haupt und Burkhardt durchgeführten „Gemeinsamen versicherungswissenschaftlichen Übungen“ enthielten mit großer Wahrscheinlichkeit auch sozialrechtliche Anteile. Sei77
Gutachten vom 02. 10. 1941, Bundesarchiv Berlin, Personalakte L. Richter, R 240, Blatt
15. 78 Schreiben der NSDAP-Reichsleitung München an Reichserziehungsminister Wacher vom 28. 10. 1937, Bundesarchiv Berlin, Personalakte L. Richter, R 240, Band I, Blatt 2750. Kritischer gegenüber Richter: Otto, S. 248. 79 Werner Schubert (Hrsg.), Akademie für Deutsches Recht 1933 – 1945. Protokolle der Ausschüsse. Bd. X. Ausschuß für die Reform der Sozialversicherung / für Sozialversicherung (1934 – 1944) Versorgungswerk und Gesundheitswerk des Deutschen Volkes (1940 – 1942), 2000, S. XXXIIf. 80 Vgl. dazu auch Otto, S. 280. 81 So auch Wolfgang Gitter, Arbeits- und Sozialrecht an der Leipziger Juristenfakultät, Leipzig, 1994, S. 26; vgl. Richter, Die kassenärztlichen Rechtsverhältnisse, Leipzig, 1926; Richter, Die Einrichtung der kassenärztlichen Selbstverwaltung, Leipzig, 1927. 82 Vgl. dazu Lutz Richter, Sozialversicherungsrecht, Berlin, 1931. 83 Die zweistündige Vorlesung war zumindest angekündigt. Ob sie kriegsbedingt noch gehalten werden konnte, muß offen bleiben.
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nem Lehrbuch zum „Sozialversicherungsrecht“ von 1931 kommt Pionierfunktion zu84. Es stellt eine einzigartige schöpferische Leistung dar, die – wie das gesamte Werk Richters – „zu Unrecht weitgehend vergessen“ wurde85. Wolfgang Gitter spricht zu Recht von einem „Klassiker“ der Materie86. Daneben hat Richter öffentlich- und arbeitsrechtliche Lehrveranstaltungen abgehalten. In unserem Zusammenhang von besonderem Interesse ist, daß Richter 1936 / 37 die vermutlich einzige arztrechtliche Lehrveranstaltung im Berichtszeitraum gehalten hat. Gemeinschaftlich mit Dr. med. Weichsel bot er das sozialrechtliche Seminar „Der Arzt“ an. Von den 14 während der Jahre 1933 bis 1945 abgeschlossenen arztrechtlichen Dissertationen in Leipzig lassen sich neun wegen der öffentlichrechtlichen und noch mehr der kassenarztrechtlichen Themenstellung Richter sicher zuordnen. In seinem umfangreichen Literaturverzeichnis nimmt das kassenarztrechtliche Schrifttum einen bedeutenden Raum ein. Seit seiner ersten einschlägigen Monographie aus dem Jahre 1925 „Beamte und Angestellte in der Sozialversicherung“ erschienen Jahr für Jahr Arbeiten: „Die kassenärztlichen Rechtsverhältnisse – Zusammenstellung und Erläuterung der reichsrechtlichen Vorschriften über Ärzte und Krankenkassen“87, „Kassenarztvertrag“88, „Die Einrichtung der kassenärztlichen Selbstverwaltung“89, „Prüfungsausschüsse – Ärzte und Krankenkassen“90, „Die Richtlinien über Gesundheitsfürsorge in der versicherten Bevölkerung“91, „Neue Bestimmungen und Richtlinien des Reichsausschusses für Ärzte und Krankenkassen vom 14. 11. 1928“92, Beteiligung der Ärzte an der Selbstverwaltung der Krankenversicherung“93, „Hanseatisches Oberlandesgericht zur Rechtsnatur der Zulassungsausschüsse“94, „Neuerungen im Kassenärzterecht kraft Diktatur-VO vom 25. 7. 1930“95, „Das Kassenärzterecht von 1931 / 32“96 und „Her84 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3 Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914 – 1945, 1999, S. 218: „Insofern steht das erste Lehrbuch . . . relativ einsam da.“ Zum Inhalt vgl. knapp ders., Geschichte des öffentlichen Rechts, S. 218, ders., Geschichte des Sozialrechts in Deutschland, 2003, S. 172; und Gitter, S. 26 f. 85 Otto Bachof, Über öffentliches Recht, Festgabe für das Bundesverwaltungsgericht, 1978, S. 1 – 21, 9 Fn. 38. 86 Gitter, 27. 87 2. Auflage 1930. 88 Deutsche Verwaltungsrechtskarthothek, 1926. 89 Festschrift der Leipziger Juristenfakultät für Victor Ehrenberg, 1927, S. 77 – 170. 90 Ärztliche Mitteilungen (Deutsches Ärzteblatt) 1927, S. 709 – 714. 91 Der Dienst in der deutschen Sozialversicherung, Heft 46, 1929. 92 Monatsschrift für Arbeiter- und Angestellten-Versicherung 1929, S. 57 – 68. 93 Ärztliche Mitteilungen (Deutsches Ärzteblatt) 1929, S. 482. 94 Ärztliche Mitteilungen (Deutsches Ärzteblatt),1930, S. 282. 95 Monatsschrift für Arbeiter- und Angestellten-Versicherung 1930, S. 561 – 571, 624 – 635.
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anziehung der Ärzteschaft zu den Errichtungs- und Wahlkosten der Schiedsämter“97. Nach 1933 setzte er seine Veröffentlichungstätigkeit fort, mit der er die einschlägige Gesetzgebung kommentierte, ohne Nationalsozialist zu sein98: „Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands und kassenzahnärztliche Vereinigung Deutschlands“99, „Kann ein Kassenangestellter fahrlässige Körperverletzung dadurch begehen, daß er einem Versicherten die Krankenhauspflege versagt?“100, „Die neue Zulassungsordnung“101, „Rechtsstellung des Kassenarztes“102, „Ersatzkassen im Kreise der Krankenversicherungsträger“103, „Schadensersatzpflicht der Krankenkassen für Kassenkranke“104, „Haftung für Fehler des Vertrauensarztes“105, „La protezione della saluta a mezzo della assicurazione sociale tedesco“106, „Rechtsbeziehungen zwischen Ersatzkasse und gesetzlicher Krankenkasse bei Fehlversicherung“107, „Personenschädenverordnung und Krankenversicherung“108, „Neue Maßnahmen in der Krankenversicherung“109 und „Weiteres zur Personenschädenverordnung“110. Gleich in drei Beiträgen beschäftigte er sich mit dem Verhältnis der Verhütung erbkranken Nachwuchses zum Kassenarztrecht: „Verhütung erbkranken Nachwuchses und Krankenversicherung“111, „Krankenkassenversicherung und Verhütung erbkranken Nachwuchses“112 und „Krankenkassenleistungen bei Unfruchtbarmachung zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“113. Sein letzter Beitrag trägt einen Titel, der geradezu an eine Endbetrachtung denken läßt: „Soziale Krankenversicherung mit 60 Jahren“114. Nur wenige Beiträge Richters griffen über das Kassenarztrecht hinaus, berührten aber in der Regel verwandte Rechtsfragen, wie das Arbeitsrecht: „Ärztliches KoaliDer Arzt in Recht und Gesellschaft, Beitrag 6, 1932. Ärztliche Mitteilungen (Deutsches Ärzteblatt) 1932, S. 344 – 349. 98 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, S. 286. 99 Juristische Wochenschrift 1933, S. 2501. 100 Zentralblatt für Reichsversicherung und Reichsversorgung 1934, S. 49. 101 Zentralblatt für Reichsversicherung und Reichsversorgung 1934, S. 256 – 262. 102 Deutsche medizinische Wochenschrift 1934, S. 1022 – 1025. 103 Deutsche Ortskrankenkasse 1935, S. 323 – 327. 104 Deutsche Ortskrankenkasse 1936, S. 365 – 367. 105 Deutsche Ortskrankenkasse 1937, S. 265 – 270. 106 Europa e L’Assistenza sociale, 1938, Nr. 6 – 7. 107 Festschrift der Leipziger Juristenfakultät für Alfred Schultze, 1938, S. 151 – 170. 108 Die Betriebskrankenkasse, 1941, S. 81 – 91. 109 Privatklinik und Sanatorium 1941, S. 85. 110 Die Betriebskrankenkasse 1942, S. 329 – 337. 111 Deutsche Ortskrankenkasse 1936, S. 265 – 271. 112 Deutsche Ortskrankenkasse 1936, S. 932 – 935. 113 Monatsschrift für Arbeiter- und Angestellten-Versicherung 1937, S. 194 – 199. 114 Deutsches Recht 1943, S. 629. 96 97
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tionsrecht – Ärztlicher Organisationszwang“115, „Zuständigkeit des Arbeitsgerichts für Ärzte“116 und „Arbeitszeit in den Privatkassenanstalten“117. In der schon angesprochenen Vorlesungsreihe des Instituts für Geschichte der Medizin der Universität Leipzig im WS 1928 / 29 hielt Richter eine Vorlesung zum heute wieder hochaktuellen Thema118 der „Verstaatlichung des Arztes“119. Weitere Themen kamen hinzu: „Arzt und Unfallversicherung“120, „Sachleistungsprinzip in der Individualversicherung“121, „Reichsärzteordnung und Reichsrechtsanwaltsordnung“122 sowie zwei Veröffentlichungen zum Hebammenrecht123: „Die Rechtsstellung der Hebamme“124 und „Die Bezahlung der Hebammenhilfe“125. Zudem war er Herausgeber der Schriftenreihe „Der Arzt in Recht und Gesellschaft“, in der u. a. drei einschlägige Doktorarbeiten aus den 30er Jahren erschienen: Heinz Grundmann, Der Begriff der Medizinalpolizei und die geltenden medizinalpolizeilichen Bestimmungen des Reichs und der Länder unter Berücksichtigung ihrer Entwicklung, Heinrich Haberkorn, Die rechtliche Stellung des Vertrauensarztes in der sozialen Krankenversicherung und Alexander Sörup, Die Rechtsverhältnisse zwischen Kassenzahnärzten, Kassendentisten und Krankenkassen126. Wie schon angedeutet, liegt Richters Bedeutung im Kassenarztrecht. Diese Materie war geprägt durch starke Veränderungen in der Weimarer Republik und im Jahre 1933127. Diese Veränderungen betrafen insbesondere das Verhältnis zwischen Kassenärzten und Krankenkassen. Nachdem es 1920 zu großen Ärztestreiks gekommen war, wurde das Verhältnis zwischen beiden Gruppen durch die Verordnung vom 30. Oktober 1923 und noch stärker durch die Neufassung der RVO vom 15. Dezember 1924 festgelegt. Das Ungleichgewicht zwischen beiden Guppen wurde indessen erst durch die Einführung der Kassenärztlichen Vereinigungen am 2. August 1933 und bald darauf der Kassenzahnärztlichen Vereinigungen zu einem Ausgleich gebracht. Ärztliche Mitteilungen (Deutsches Ärzteblatt) 1926, S. 216, 249. Ärztliche Mitteilungen (Deutsches Ärzteblatt) 1927, S. 204. 117 Privatklinikum und Sanatorium 1940, S. 95. 118 Vgl. dazu den Vortrag von Adolf Laufs während des 1. Kölner Symposions zum Medizinrecht: Das Bild des Arztes im 21. Jahrhundert. Zum Symposion: Björn Schmitz-Luhn, Vom Heiler zum Gesundheitsmanager?, in MedR 2009, 38 – 40, 39. 119 Der Arzt und der Staat. Vorträge des Instituts für Geschichte der Medizin an der Universität Leipzig, Bd. 2, 1929, S. 91 – 106. 120 Ärztliche Mitteilungen (Deutsches Ärzteblatt) 1929, S. 764. 121 Ärztliche Mitteilungen (Deutsches Ärzteblatt) 1933, S. 18. 122 Reichsverwaltungsblatt 1936, S. 669. 123 Zur Relevanz dieses Themas vgl. Stolleis, Geschichte des Sozialrechts, S. 199. 124 Privatklinik und Sanatorium 1940, S. 151, 171. 125 Privatklinik und Sanatorium 1940, S. 175. 126 Beiträge 8 bis 10. 127 Vgl. dazu Stolleis, Geschichte des Sozialrechts, S. 154 ff., 199 f. 115 116
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In dieser Situation verfaßte Richter seine kassenarztrechtlichen Arbeiten. Gleich sein erstes Werk – eine Gemeinschaftsarbeit mit dem Arzt Wilhelm Sonnenberg – aus dem Jahre 1926 „Die kassenärztlichen Rechtsverhältnisse“ wurde als erster „Versuch einer nicht nur praktischen Bedürfnissen Rechnung tragenden, sondern auch wissenschaftlichen Behandlung dieses Rechtsstoffs“ begrüßt128. Nicht alle Ansichten konnten sich in der Folgezeit durchsetzen. So verneint Richter z. B. die Existenz jeder Rechtsbeziehung zwischen Kassenarzt und Patient und sieht den Arzt nur als Erfüllungsgehilfen der Krankenkasse129, eine Ansicht, die heute nicht mehr vertreten wird130 und auch damals schon auf Widerspruch stieß: „Gelegentlich mag man anderer Meinung sein . . . Indessen beweist das nichts gegen den Wert des Werkes, das auch da, wo das Ergebnis Bedenken begegnet, sich durch Vollständigkeit und Klarheit der Darstellung auszeichnet.“131 Wie auch heute noch erzwang die neuere Gesetzgebung eine rasche 2. Auflage, die auch sorgfältig die Rechtsprechung des Reichsschiedsamtes berücksichtigte.132 Das Verhältnis zwischen Krankenkassen und Kassenärzten untersucht Richter 1927 in seiner zweiten einschlägigen Monographie „Die Einrichtungen der kassenärztlichen Selbstverwaltung“. Die weiteren Änderungen fanden dann nur Niederschlag in den beiden Aufsätzen über „Das Kassenarztrecht von 1931 / 32“ und die „Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands und Kassenzahnärztliche Vereinigung Deutschlands“. Alles in allem ging es ihm um die Rechtsbeziehungen in dem immer mehr „Ecken“ gewinnenden „vieleckigen“ Gebilde133 des Rechts der Gesetzlichen Krankenversicherung. Der Ruhm Lutz Richters als Kassenarztrechtler mag verblaßt sein, nicht zuletzt auch dadurch bedingt, daß er nach dem Kriege nicht wieder in die Diskussion eingreifen konnte. Vergessen ist er nicht. Das beweist etwa Günther Schneider in seinem „Handbuch des Kassenarztrechts“ von 1994, in dem er schon im Vorwort die „eindrucksvolle“ Darstellung Richters hervorhebt134. Auch Gitter135 betont zu Recht die Leistungen Richters im Kassenarztrecht.
Kühne, JW 1927, S. 155. Lutz Richter, Die kassenärztlichen Rechtsverhältnisse, 1. Aufl. 1926, S. 5. 130 Vgl. dazu z. B. Peter Hinz, Das Behandlungsverhältnis zwischen Vertragsarzt und Patient in der gesetzlichen Krankenversicherung = Leipziger Schriften zum Gesundheitsrecht, Bd. 2, 2003, der die Frage gar nicht mehr stellt, sondern nur untersucht, ob dieses Verhältnis öffentlich- oder bürgerlichrechtlich ausgestaltet ist. 131 Kühne, JW 1927, S. 155. 132 Thiersch, JW 1931, S. 1435. 133 Zum geltenden Recht vgl. das Schaubild bei Hinz, S. 45. 134 Günther Schneider, Handbuch des Kassenarztrechts, 1994, S. VII; das Literaturverzeichnis weist immerhin 3 Titel Richters auf. 135 Gitter, S. 26. 128 129
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6. Eberhard Schmidt Der bis heute bekannteste Medizinrechtler Leipzigs indessen dürfte der „Altmeister des Arztrechts“136 Eberhardt Schmidt137 sein. Zu diesem Titel verhalf ihm im wesentlichen ein einziger Titel: „Der Arzt im Strafrecht“138, wiewohl er noch einige andere – wenn auch deutlich weniger als Ebermayer und Lutz Richter – einschlägige Werke veröffentlicht hat. Bekannt ist Schmidt aber bis heute auch als Strafrechtshistoriker und Strafprozessualist. Ludwig Ferdinand Eberhard Schmidt wurde am 16. März 1891 in Jüterbog geboren, wo er auch zunächst die Schule besuchte. Das Abitur legte er 1909 am Wittenberger Melanchthon-Gymnasium ab. Nachdem er eine Laufbahn bei der Kriegsmarine aus gesundheitlichen Gründen bereits nach einem Jahr abbrechen mußte, studierte er von 1910 bis 1913 Rechtswissenschaft und Nationalökonomie in Berlin. 1913 wurde er in Göttingen mit einer Arbeit über „Die Kriminalpolitik Preußens unter Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II.“ promoviert. Im selben Jahr trat er in den Referendardienst ein. Franz von Liszt übertrug ihm im Juni 1914 die Assistentenstelle an seinem Kriminalistischen Institut, die er – unterbrochen durch einen kurzen Kriegsdienst – bis 1917 innehatte.Von 1917 bis 1920 arbeitete Schmidt in der Wissenschaftlichen Gruppe des Reichsamts des Inneren. In ihrem Auftrag untersuchte er die wirtschaftlichen Maßnahmen, die im 1. Weltkrieg getroffen worden waren. Nach der Auflösung der Wissenschaftlichen Gruppe habilitierte sich Schmidt 1920 in Berlin mit der Arbeit „Fiskalat und Strafprozeß“. Seine venia legendi umfaßte die Fächer Strafrecht, Strafprozeßrecht und Preußische Rechtsgeschichte. Bis 1921 wirkte er als Privatdozent in Berlin, dann erhielt er einen Ruf nach Breslau. In rascher Folge wechselte er 1926 nach Kiel und 1929 nach Hamburg, wo er 1933 / 34 als Rektor amtete. 1935 wurde er als Liszt-Schüler nach Leipzig auf den Binding-Lehrstuhl berufen, den er bis zum Kriegsende innehatte. 1945 geriet er in amerikanische und französische Kriegsgefangenschaft, in der ihm nur knapp das Schicksal Lutz Richters erspart blieb139. Obwohl Schmidt nicht Mitglied der NSDAP war und trotz Unbedenklichkeitserklärungen von Heisenberg und Jacobi konnte er nicht nach Leipzig zurückkehren und lehrte von 1945 bis 1948 in Göttingen. 1948 wechselte er letztmalig nach Heidelberg, wo er nach seiner Emeritierung im Jahre 1959 lebte. Auch in Heidelberg bekleidete er – 1952 / 53 – das Rektoramt. Schmidt starb am 17. Juni 1977 in Heidelberg. Über seine Dozententätigkeit in Leipzig ist ein Bericht eines sächsischen Studenten überliefert: „Der zweite Neuerwerb war Professor Eberhard Schmidt, ein 136 So noch Wilhelm Uhlenbruck / Adolf Laufs, in: Adolf Laufs / Wilhelm Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl. 2002, § 39 Rdnr. 6. 137 Über ihn vgl. Simone von Hardenberg, – Eberhard Schmidt – Ein Beitrag zur Geschichte unseres Rechtsstaats, 2009. 138 Leipziger rechtswissenschaftliche Studien, herausgegeben von der Leipziger JuristenFakultät, Heft 116, 1939. 139 Vgl. dazu v. Hardenberg, S. 334 ff.
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Straf- und Öffentlichrechtler, seinem Aussehen und Vortrag nach ein Preuße, aber einer von der sympathischen Art: Alter um die 40, straffgescheiteltes Haar, Brille, die Nase etwas eingedrückt (so daß die Studenten bei der Weihnachtsfeier die Vermutung äußerten, es sei ihm ein Auto darüber gefahren), Lesung exakt und lebhaft nach Manuskript, Aussprache brandenburgisch.“140 Wie auch Ebermayer war Schmidt über lange Jahre hinweg Mitglied in mehreren Gesetzgebungskommissionen. Schriftstellerisch lassen sich vier Schwerpunkte erkennen, die preußische und allgemein deutsche Rechtsgeschichte mit seiner geradezu klassischen, bis heute wichtigen „Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege“141, das Strafrecht mit der Fortführung des v. Lisztschen Lehrbuchs142, das Strafprozeßrecht mit seinem Lehrkommentar143 und das Arztrecht mit seinem Werk „Der Arzt im Strafrecht“144. Hinzukommt eine intensive Beschäftigung mit dem Wehrstrafrecht. Den Bezug zum Arztrecht erhielt er als Arztsohn wohl schon im elterlichen Hause145; auch seine Frau enstammte einem Arzthaushalt. Diese Erfahrung hatte zur Folge, daß er dem Arztberuf immer mit großem Verständnis gegenüberstand146. Erstmals veröffentlichte Schmidt 1925 einen arztrechtlichen Beitrag, der die Herkunft aus dem Strafrecht nicht verleugnet: „Juristisches zur Indikation der Schwangerschaftsunterbrechung“ 147. Das Thema griff er immer wieder auf: „Über § 218“148, „Schwangerschaftsunterbrechung und Sterilisation nach geltendem und künftigem Recht“149 sowie „Die ärztliche Schwangerschaftsunterbrechung und die Rechtsprechung des BGH“150. Die einmal mitbehandelte Sterilisation griff Schmidt nochmals in einem selbständigen Aufsatz über „Das Sterilisationsproblem nach dem in der Bundesrepublik geltenden Strafrecht“ auf151. Mehrfach – auch in seinem arztrechtlichen Hauptwerk – beschäftigte sich Schmidt mit der ärztlichen Schweigepflicht152: „Ärztliche Schweigepflicht und 140 141 142
Bericht von Werner Rother, im Manuskript, S. 31. 1947, 2. Aufl. 1951, 3. Aufl. 1965. Lehrbuch des Deutschen Strafrechts von Dr. Franz v. Liszt, 25. Aufl. 1927, 26. Aufl.
1932. 143 Lehrkommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, 1952 – 1960, 2. Aufl. 1964, 1967, 1970. 144 Leipziger rechtswissenschaftliche Studien Bd. 116, 1939. 145 So auch v. Hardenberg, S. 20. 146 So auch v. Hardenberg, S. 481. 147 Schlesische Ärztekorrespondenz 1925, S. 184 ff. 148 Vortrag auf der Tagung der Nordwestdeutschen Gesellschaft für Gynäkologie in Göttingen am 30. Juni 1946, DMW 1946, S. 206 – 210. Vgl. dazu v. Hardenberg, S. 385 f. 149 Archiv für Gynäkologie 1951, S. 289 – 304. 150 NJW 1960, S. 361 – 365. 151 JZ 1951, S. 65 – 70. 152 Vgl. dazu v. Hardenberg, S. 481 ff.
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Meldeordnung“153, „Brennende Fragen des ärztlichen Berufsgeheimnisses“154, „Ärztliche Schweigepflicht und kein Ende“155 und „Ärztliche Schweigepflicht und Zeugnisverweigerungsrecht im Bereiche der Sozialgerichtsbarkeit“ 156. Wie auch Binding und Ebermayer beschäftigte sich Schmidt intensiv mit der juristischen Natur des ärztlichen Heileingriffs. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang der Aufsatz über die „Operation ohne Einwilligung“157 und verstärkt sein bis heute aktuell gebliebenes Gutachten für den 44. Deutschen Juristentag 1962 das sowohl vom Umfang als auch von der Bedeutung her als sein zweites arztrechtliches Hauptwerk anzusehen ist. Die aufgeworfene Frage – „Empfiehlt es sich, daß der Gesetzgeber die Fragen der ärztlichen Aufklärungspflicht regelt?“158 – hat nichts an Aktualität verloren. Eng mit der Frage nach der Natur des ärztlichen Heileingriffs verbunden ist die nach dem Behandlungsfehler, mit dem sich Schmidt nicht nur in seiner Monographie beschäftigte. Zentrale Bedeutung kommt insoweit dem Aufsatz „Der ärztliche Kunstfehler“159 zu. In das Umfeld gehören aber noch weitere Veröffentlichungen: „Behandlungspflicht und Nothilfepflicht des Arztes“160, „Die Besuchspflicht des Arztes unter strafrechtlichen Gesichtspunkten“161 und „Rechtsfragen zur chirurgischen Operation“162. Hinzukommen zwei Aufsätze, die sich nicht recht einem seiner großen Arbeitsgebiete zuordnen lassen: „Ärzteordnung und Strafgesetzbuch“163 und „Rechtsfragen zur inneren Leichenschau in den Pathologischen Instituten von Krankenanstalten“164. Außerdem verfaßte Schmidt noch einige unveröffentlichte arztrechtliche Gutachten165. Genauer vorgestellt werden soll seine arztrechtliche Monographie „Der Arzt im Strafrecht“166 von 1939, ein Titel, den er 1950 im Ponsoldschen „Lehrbuch der DRiZ 1950, S. 172 ff. Herausgegeben vom Deutschen Bund für Bürgerrechte, 1951. 155 DMW 1954, S. 1649 ff. 156 NJW 1962, S. 1745 – 1750. 157 Ärztliche Sachverständigen Zeitung 36, 1930, S. 193 – 196. 158 Gutachten für den 44. Deutschen Juristentag, Verhandlungen des Vierundvierzigsten Juristentages, Hannover 1962, S. 1 – 178. 159 DMW 1947, S. 145 ff. und 199 – 202. 160 MschrKrimBio 1942, S. 85 – 102. Vgl. dazu v. Hardenberg, S. 290 f. 161 Recht und Zeit, Rechtswissenschaftliche Studien zu Gegenwartsfragen, Heft 11, 1948; und dazu v. Hardenberg, S. 483 f. 162 Langenbecks Archiv und deutsche Zeitschrift für Chirurgie (Kongreßbericht) 273, 1953, S. 410 – 427. 163 Deutsche Zeitschrift für die gesamte gerichtliche Medizin 39, 1948 / 49, S. 25 – 34. 164 Ein Referat vor der Deutschen Gesellschaft für Pathologie erstattet am 5. Juni 1952, Der Krankenhausarzt 1952, S. 209 – 218. 165 v. Hardenberg, S. 487 ff. 153 154
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gerichtlichen Medizin“ abermals aufgriff167. Der Titel lehnt sich bewußt an eine Aufssatzüberschrift von Wilhelm Kahl aus dem Jahre 1909 an168. Schmidts Werk untergliedert sich in drei Teile, Schweigepflicht, juristische Natur des Heileingriffs und Behandlungsfehler. Bezüglich des ersten Teiles lobte Karl Engisch die „schönen Analysen des Geheimnis- und Offenbarungsbegriffs, die höchst verständige Abgrenzung des Kreises der Geheimnispflichtigen und die ingeniöse Lösung des Problems der ärztlichen Schweigepflicht im Prozeß“169. Im Ergebnis setzte sich Schmidt zu recht für eine Erweiterung des Geheimnisschutzes ein. Die Rechtsprechung, derzufolge jeder Heileingriff als Körperverletzung zu werten sei, hielt er für inakzeptabel170. Zur Begründung entwickelte Schmidt seine soziale Handlungslehre; für ihn kam es bei der Beurteilung des ärztlichen Heileingriffs auf dessen soziale Sinnhaftigkeit an171. In diesem Zusammenhang ist noch sein Eintreten für die ärztliche Aufklärungspflicht zu nennen172. Eng mit dem Begriff der Heilbehandlung verbunden ist der „Kunstfehler“, den Schmidt als Gegenteil der Heilbehandlung definierte173. Von zukunftsweisender Bedeutung war auch Schmidts umfangreiches Gutachten zur Aufklärungspflicht für den 44. Juristentag 1962. Nach der Mißachtung des Selbstbestimmungsrechtes im Nationalsozialismus erkannte er nun „im geschichtlichen Pendelrückschlag“ eine Überbewertung des Patientenwillens174. In der Konsequenz wollte er eine „Gewaltherrschaft des Selbstbestimmungsrechts“ verhindern175. Auch die Herleitung der Aufklärungspflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG hielt er für verfehlt176. Die im Titel aufgeworfene Frage beantwortete er negativ177. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Eberhard Schmidt der wirkungsmächtigste der Leipziger Medizinrechtler war. Nicht nur ist die Bezeichnung „Altmeister des Arztrechts“ nahezu Gemeingut, nein, ihm gelang es auch, für einen Bereich des Arztrechts, dem Behandlungsvertrag, eine bis heute gültige Formulierung zu finden. Seine Aussage, daß das Arzt-Patienten-Verhältnis „weit mehr als eine juriZum Inhalt vgl. auch Deutsch, S. 295 – 298. Der Arzt im Strafrecht, in: Albert Ponsold (Hrsg.), Lehrbuch der gerichtlichen Medizin, 1950, S. 1 – 65, 2. Aufl. 1957, S. 1 – 79. Vgl. dazu v. Hardenberg, S. 484 – 487. 168 Wilhelm Kahl. Der Arzt im Strafrecht, in: ZStW 49, 1909, S. 350 – 371. 169 Karl Engisch, Rezension, in: MschrKrimBio 1939, S. 414 – 429, 414. 170 Schmidt, Der Arzt im Strafrecht, S. 69 ff. 171 Schmidt, Der Arzt im Strafrecht, S. 75 f. 172 Schmidt, Der Arzt im Strafrecht, S. 93. 173 Berechtigte Kritik daran übte Richard Lange, Rezension zu: W. Hofacker, Die Heilbehandlung im Strafrecht, ZStW 61, 1942, S. 199 – 203, 201. 174 Schmidt, Gutachten, S. 40 f. 175 Schmidt, Gutachten, S. 70. 176 Schmidt, Gutachten, S. 95. 177 Schmidt, Gutachten, S. 178. 166 167
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stische Vertragsbeziehung“ darstelle178, fand nicht nur verbreitete Aufnahme in der Literatur, sondern sogar in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts179. III. Schluß Mein kurzer Überblick hat gezeigt, welche Bedeutung der Juristenfakultät in der Geschichte des Medizinrechts zukommt. Die klangvollsten Namen gehörten der Fakultät an. Die Forschung wurde seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts in zunehmendem Maße betrieben, Lehrveranstaltungen hingegen hat es – mit der Ausnahme der interdisziplinären Ringvorlesung im WS 1928 / 29 – nicht gegeben. Allerdings hat zumindest Lutz Richter eine ganze Serie von einschlägigen Doktorarbeiten betreut. Nach dem Tod Lutz Richters und nachdem Eberhard Schmidt nicht nach Leipzig zurückkehren konnte, erlosch die medizinrechtliche Tradition in Leipzig, die auch, zumindest hier, nicht von seinem Schüler Georg Schwalm fortgeführt wurde, der indessen in Freiburg und Erlangen durchaus gewichtige Beiträge zu diesem Fach verfaßte180. Damit endete die Existenz einer, wenn nicht der Hochburg des Medizinrechts in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wie vielfach auch sonst ernteten den Ruhm die westdeutschen Fakultäten, die die Leipziger Kollegen nach der Teilung Deutschlands aufnahmen und ihnen Zuflucht gewährten. Eberhard Schmidt und seine Schüler setzten die Arbeit mit großem Erfolg im Westen fort. Die Erinnerung daran, wieviel das Fach der Leipziger Juristenfakultät verdankt, möge dieser Beitrag wachhalten.
Schmidt, Der Arzt im Strafrecht, in: Ponsold, 2. Aufl., S. 2. BVerfG NJW 1979, S. 1925, 1930. 180 Vgl. dazu Erik Hahn, Schwalm, Georg August, in: Baden-Württembergische Biographien, Bd. 4, 2007, S. 348 f. 178 179
Der Betriebsbegriff von Erwin Jacobi und seine Bedeutung für das heutige Arbeitsrecht Von Burkhard Boemke
I. Einleitung Auch wenn sich Erwin Jacobi in erster Linie als einen „ausgesprochenen Vertreter des Öffentlichen Rechts“ ansah1, gestand er doch selbst ein, mit seinen arbeitsrechtlichen Ausführungen einem bestimmten Bedürfnis in der Bevölkerung entgegengekommen zu sein2. Derlei Aussage zeigen jedoch nur seine Bescheidenheit und verklären, welche herausragende Bedeutung er für das deutsche Arbeitsrecht hatte und immer noch hat. Bereits seine Stellung als Direktor des Instituts für Arbeitsrecht an der Juristenfakultät der Universität Leipzig ließ erahnen, dass sich sein Wirken keineswegs auf öffentlich- und kirchenrechtliche Fragen beschränkte. Vielmehr gehörte er trotz seiner öffentlichrechtlichen Präferenzen seinerzeit zu den führenden Arbeitsrechtlern der Weimarer Republik und verhalf der Juristenfakultät der Universität Leipzig zu deutschlandweitem Ruf. Gemeinsam mit seinem Leipziger Kollegen Molitor schaffte er es, die „Alma Mater Lipsiensis“ neben Jena (A. Hueck, H. C. Nipperdey) als die Hochburg des Arbeitsrechts der damaligen Zeit zu etablieren. Auch heutzutage ist das Wirken Jacobis noch allgegenwärtig. Einer der bedeutendsten Verdienste Jacobis ist die Entwicklung eines einigermaßen allgemeingültigen und greifbaren Betriebsbegriffs. Die von ihm erarbeitete Definition liefert immer noch die Kernelemente der heute herrschenden Begriffsbestimmung. Dies ist umso erstaunlicher, als der Betriebsbegriff von Teilen der Literatur zu den schwierigsten Materien des Arbeitsrechts gerechnet wird3. Anlässlich des 600-jährigen Bestehens der Forschungsheimat Jacobis sollen im Folgenden dessen herausragende Verdienste um den Betriebsbegriff dargestellt werden.
Jacobi, Grundlehren des Arbeitsrechts, 1927, Vorwort. Jacobi, Einführung in das Gewerbe- und Arbeiterrecht, 3. Aufl. 1922, Vorbemerkung zur dritten Auflage. 3 Köhler, JZ 1953, 713. 1 2
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II. Betriebsbegriff von Jacobi 1. Der Betriebsbegriff vor Jacobi Die Bedeutung und Tragweite der Begriffserarbeitung durch Jacobi wird umso deutlicher, wenn man sich zunächst überblickartig mit der vorherigen Entwicklung des Betriebsbegriffs auseinander setzt. a) Ursprung des Betriebsbegriffs Erste positivrechtliche Verwendung fand der Begriff „Betrieb“ bereits im Allgemeinen Preußischen Landrecht. Dort wurde er im Wesentlichen als Synonym des Tätigkeitsworts „Betreiben“ gebraucht. Dieser Bedeutungszusammenhang fand sich auch in zahlreichen anderen Gesetzen der damaligen Zeit4. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erfuhr dieses Begriffsverständnis insoweit eine Erweiterung, als „Betrieb“ zunehmend auch mit dem Gegenstand des Betreibens, also dem, was betrieben wird, gleichgesetzt wurde5. Kennzeichnend war allerdings weiterhin, dass der Begriff „Betrieb“ in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Tätigkeitsort gebraucht wurde6. b) Der Betrieb als Bezugspunkt der Arbeiterrepräsentation Mit dem Gesetz über den Vaterländischen Hilfsdienst vom 05. Dezember 1916 wurden erstmals auch arbeitsrechtliche Folgen an den Begriff des Betriebs geknüpft, indem § 11 die Bildung von Arbeiterausschüssen anordnete, wenn in dem Betrieb in der Regel mindestens 50 Arbeiter beschäftigt waren7. Im Hinblick auf die Arbeitervertretung stellte die Verwendung des Begriffs „Betrieb“ insoweit ein Novum dar, als Anknüpfungspunkt der Repräsentationsorgane zuvor regelmäßig die „Fabrik“ gewesen war. Angesichts der Gesetzesmaterialien ist allerdings nicht anzunehmen, dass der Gesetzgeber mit diesem Begriffswechsel eine grundlegende Änderung des Bezugspunkts der Arbeiterrepräsentation herbeiführen wollte8. Entstehungsgeschichtlich wurde der Begriff des Betriebs daher weiterhin als Tätigkeitsort verstanden9. Eine Unterscheidung zwischen „Betrieb“ und „Unter4 Joost, Betrieb und Unternehmen als Grundbegriffe im Arbeitsrecht, 1988, S. 20 m. w. Nachw. Vgl. auch Natzel, Die Betriebszugehörigkeit im Arbeitsrecht, 2000, S. 11. 5 Joost, Betrieb und Unternehmen als Grundbegriffe im Arbeitsrecht, 1988, S. 20 ff. m. w. Nachw. 6 Joost, Betrieb und Unternehmen als Grundbegriffe im Arbeitsrecht, 1988, S. 21 f. 7 Natzel, Die Betriebszugehörigkeit im Arbeitsrecht, 2000, S. 11. 8 Joost, Betrieb und Unternehmen als Grundbegriffe im Arbeitsrecht, 1988, S. 19 und 23 ff. m. w. Nachw. 9 Joost, Betrieb und Unternehmen als Grundbegriffe im Arbeitsrecht, 1988, S. 24.
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nehmen“ fand zu dieser Zeit dagegen noch nicht statt. Vielmehr wurden diese Begriffe weitgehend gleichbedeutend verwendet10. c) Der Betrieb im Betriebsrätegesetz von 1920 Eine Trennung zwischen den Begriffen Betrieb und Unternehmen erfolgte erst im Rahmen des Betriebsrätegesetz (BRG) vom 04. Februar 1920. Diese Differenzierung machte es erforderlich, Abgrenzungskriterien zwischen diesen Begrifflichkeiten herauszuarbeiten 11. Hierbei half die durch § 9 Abs. 1 BRG vorgegeben „Begriffsbestimmung“ wenig weiter, weil sie den Betrieb durch den Betrieb zu erklären versuchte und sich somit als wenig brauchbare Teilautologie darstellte12. d) Begriffsbestimmungen in der rechtswissenschaftlichen Literatur aa) Nicht-arbeitsrechtliche Literatur Angesichts dieser recht unpräzisen, positivrechtlichen Vorgaben versuchten einige Autoren einen konkretisierenden Betriebsbegriff zu entwickeln. Aus dem Blickwickel des Gewerberechts versuchte Dochow bestimmte Arten von sächlichen Betriebsmitteln, namentlich die Betriebsanlagen, mit dem Betrieb gleichzusetzen13. Seiner Ansicht nach waren Betriebe daher „Anlagen – Fabriken, Werften, Bauhöfe und ihnen gleichzustellende Einrichtungen – die als Grundlage für gewerbliche Unternehmungen dienen können“14. Rosenstock15 wählte dagegen einen stärker tätigkeitsbezogenen Ansatz und ging dabei allgemein von den Verhältnissen des Industriebetriebs aus. Die dort tätigen Menschen erschienen ihm als Kräfte eines Produktionsprozesses. Hierauf aufbauend definierte Rosenstock den Betrieb als die einheitliche, bewusste und dauernde Zusammenordnung dieser Kräfte und stellte damit die Bündelung von Arbeitskraft in den Vordergrund16. 10 Vgl. Joost, Betrieb und Unternehmen als Grundbegriffe im Arbeitsrecht, 1988, S. 24 f. m. w. N. Vgl. auch Natzel, Die Betriebszugehörigkeit im Arbeitsrecht, 2000, S. 12. 11 Natzel, Die Betriebszugehörigkeit im Arbeitsrecht, 2000, S. 12. Zur fehlenden Durchhaltung der Trennung der Begrifflichkeiten in den Gesetzesmaterialien: Joost, Betrieb und Unternehmen als Grundbegriffe im Arbeitsrecht, 1988, S. 31. 12 § 9 Abs. 1 BRG: „Als Betriebe im Sinne dieses Gesetzes gelten alle Betriebe, Geschäfte und Verwaltungen des öffentlichen und privaten Rechts“. Hierzu Joost, Betrieb und Unternehmen als Grundbegriffe im Arbeitsrecht, 1988, S. 34. – Kritisch dazu auch Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 1 m. w. N. in Fn. 1. 13 Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 5 f. Fn. 12. 14 Dochow, Gewerbebetriebsrecht, 1923 – zitiert nach Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 5 f. Fn. 12. 15 Rosenstock, Vom Industrierecht, 1926, S. 17 ff.
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bb) Arbeitsrechtliche Literatur Der Österreicher Hans Hecht beschrieb den Betrieb bereits im Jahre 1921 als einen „lebendigen Organismus, der im Prinzip auf ein dauerndes regelmäßiges Zusammenwirken bestimmter Personen und Sachen zur gemeinschaftlichen Erzielung regelmäßig wiederkehrender Ergebnisse gerichtet ist“17. Maßgeblich war seiner Ansicht nach hierbei, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer trotz ihrer gegenteiligen Interessen kooperativ zusammenwirken, um einen einheitlichen, wirtschaftlichen Erfolg zu erzielen18. Auch sei diese insoweit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer bestehende „Interessengemeinschaft“ durch eine gewisse Dauerhaftigkeit gekennzeichnet, weil nur so ein effektives Zusammenspiel von Mitarbeitern und sachlichen Hilfsmitteln ermöglicht werde19. Auch in Deutschland gab es in den frühen 20er Jahren des 20. Jahrhunderts Bemühungen, um einen arbeitsrechtlichen Betriebsbegriff. Die Definitionsversuche rankten sich jedoch in erster Linie um den Begriff des Betriebs im Sinne des § 9 BRG. Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang insbesondere die Ausführungen Kaskels. In seinem Werk „Arbeitsrecht“ beschrieb Kaskel den Betrieb als „Inbegriff der von einem Unternehmer ausgehenden, nach seiner Absicht einem bestimmten Gesamtzweck dienenden Verrichtungen“. Hierbei seien sämtliche Verrichtungen erfasst, ohne dass es auf die Art der Verrichtungen oder ihre Gegenstände ankomme. Entscheidend sei allein, dass sie subjektiv durch die Person des Unternehmers und objektiv durch den vom Unternehmer bestimmten Zweck zusammengehalten würden20. Der Betriebsbegriff Kaskels knüpfte also wesentlich an den Willen des Betriebsinhabers an21. Auch in der Kommentarliteratur zum Betriebsrätegesetz wurde versucht, die wenig hilfreiche Definition des § 9 BRG durch einen allgemeinen Betriebsbegriff zu ergänzen. Vorrangig wurde hierbei auf das Vorhandensein von Arbeitgebern und Arbeitnehmern abgestellt. Feig / Sitzler verlangten beispielsweise „eine Sammlung von Arbeitnehmern unter einem gemeinsamen Arbeitgeber zu einer nicht nur vorübergehenden gemeinsamen Arbeit“22. Flatow nahm dagegen einen Betrieb immer dann an, wenn ein Arbeitgeber mit mindestens einem Arbeitnehmer durch Arbeitsvertrag privatrechtlich verbunden war23. Ergänzend stellte Flatow allerVgl. dazu Joost, Betrieb und Unternehmen als Grundbegriffe im Arbeitsrecht, 1988, S. 62. Hecht, Die Prinzipien des Arbeitsrechts der Gegenwart, 1921, S. 54. 18 Vgl. Hecht, Die Prinzipien des Arbeitsrechts der Gegenwart, 1921, S. 51. 19 Hecht, Die Prinzipien des Arbeitsrechts der Gegenwart, 1921, S. 52 f.. 20 Kaskel, Arbeitsrecht, 2. Aufl., 1925, S. 240. 21 Vgl. Joost, Betrieb und Unternehmen als Grundbegriffe im Arbeitsrecht, 1988, S. 63 Fn. 103. 22 Feig / Sitzler, Betriebsrätegesetz, 9. und 10. Aufl., 1922, § 9 Anm. 1, S. 45. 23 Flatow, Kommentar zum Betriebsrätegesetz, 11. Aufl., 1923, § 9 Anm. 3, S. 36. – Kritisch dazu Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 5 Fn. 12. – Ebenso kritisch bereits Kaskel, Arbeitsrecht, 2. Aufl., 1925, S. 240 Fn. 2. 16 17
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dings auch auf eine räumliche Einheit ab. Immer dann, wenn ein Arbeitgeber mehrere Betriebe unterhielt, die nicht nahe beieinander lagen, müssten diese auf Grund der gesetzlichen Wertung in § 9 Abs. 2 BRG zwingend als selbstständige Betriebe behandelt werden24. e) Begriffsbestimmung durch das Reichsgericht Das Reichsgericht hatte sich ebenfalls mit dem Begriff des Betriebs auseinander zu setzen. Bekannt geworden ist dabei die Entscheidung vom 16. 02. 1926, in der das Reichsgericht den Begriff des Betriebs i. S. d. BRG zu definieren versuchte. Offensichtlich in Anlehnung an Hechts Begriffsbestimmung bezeichnete das Reichsgericht den Betrieb als einen „lebendigen Organismus, innerhalb dessen Unternehmer und Arbeiter zu einer Produktionsgemeinschaft zusammengeschlossen sind und in gemeinsamer Tätigkeit demselben Ziele, der Erreichung eines möglichst hohen Standes und möglichster Wirtschaftlichkeit der Betriebsleistungen zustreben“25. Eine solche Orientierung am gemeinschaftlichen Zusammenwirken von Unternehmer und Arbeiterschaft hatte das Reichsgericht bereits in einer Entscheidung vom 06. 02. 1923 herausgestellt gehabt. Auch hatte das Reichsgericht bereits zu diesem Zeitpunkt betont, dass ein Unternehmer nicht allein durch sein Kapital oder allein durch seine Arbeitsmittel die gewünschte betrieblichen Ergebnisse erreichen könne, sondern dies erst durch die Einbindung der Arbeiter in den Arbeitsprozess ermöglicht werde und diese somit als lebendige Glieder der Arbeitsgemeinschaft fungierten26. 2. Jacobis Betriebsbegriff a) Definition Angesichts der seiner Ansicht nach weitgehend fehlenden, fundierten, arbeitsrechtlich orientierten Untersuchungen27 des Betriebbegriffs nahm Jacobi die zu Ehren seines emeritierten Kollegen Victor Ehrenberg erscheinende Festschrift zum Anlass, sich einer näheren Untersuchung dieses Begriffs zu widmen. Im Rahmen seines in dieser Festschrift veröffentlichen Beitrags „Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe“ setzte er sich zum Ziel, eine dem „verwirrenden mannigfaltigen Sprachgebrauch“ trotzende und für alle Rechtsdisziplinen brauchbare Begriffsbestimmung zu entwickeln. Vgl. Flatow, Kommentar zum Betriebsrätegesetz, 11. Aufl., 1923, § 9 Anm. 3, S. 37. RG vom 16. 02. 1926 – III 428 / 25 – RGZ 113, 87. 26 Vgl. RG vom 06. 02. 1923 – III 93 / 22 – RGZ 106, 275. 27 Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 2 m. w. N. in Fn. 2. 24 25
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Als Ausgangspunkt stellte Jacobi auf die sprachliche Bedeutung des Begriffs „Betrieb“ bzw. des zugehörigen Tätigkeitsworts „betreiben“ ab. Hierauf aufbauend leitete er unter praktischen Gesichtspunkten die Voraussetzungen ab, die erforderlich seien, um „etwas fortgesetzt betreiben“ zu können, und versuchte hierbei zugleich die einzelnen Merkmale näher abzugrenzen28. Anschließend bemühte er sich um eine zusammenfassende, allgemeingültige Beschreibung und definierte den Begriff des Betriebs im objektiven Sinne als „die Vereinigung von persönlichen, sächlichen und immateriellen Mitteln zur fortgesetzten Verfolgung eines von einem oder von mehreren Rechtssubjekten gemeinsam gesetzten technischen Zweckes“29. Danach betrachte Jacobi in seiner Arbeit den Begriff des Unternehmens und bemüht sich in diesem Zusammenhang darum, dass Verhältnis von Betrieb und Unternehmen zueinander zu klären. Im Anschluss hieran teilte Jacobi Betriebe nach verschiedenen Kriterien ein und untersuchte abschließend, inwieweit die gefundene Definition des Betriebsbegriffs Allgemeingültigkeit beanspruchen könne und auf verschiedene Rechtsbereiche anwendbar war. Hierbei ging er insbesondere darauf ein, ob sich die Definition mit dem Betriebsbegriff des BRG decke30. In seinem im gleichen Jahr erschienen Werk „Grundlagen des Arbeitsrechts“ griff Jacobi unmittelbar auf die von ihm entwickelte Definition zurück, ohne hierbei vertieft auf Herleitung des Begriffs oder die einzelnen Merkmale einzugehen und etabliert seine Definition insoweit als feststehenden, unangefochtenen Betriebsbegriff31. b) Tatbestandsmerkmale Im Folgenden sollen die einzelnen, von Jacobi herausgearbeiteten Tatbestandsmerkmale seines Betriebsbegriffs näher beleuchtet werden. Dies wird zeigen, wie substantiiert sich Jacobi bereits damals mit dieser Frage auseinander gesetzt hat und wie weit die Ursprünge mancher noch heutzutage in Streit befindlichen Merkmale zurückliegen. aa) Zweckverfolgung Zu Beginn seiner Ausführungen stellte Jacobi zunächst das Paradigma auf, dass der Begriff „Betrieb“ sprachlich auf das Tätigkeitswort „Betreiben“ zurückgehe. Diese Grundannahme steht nicht nur im Einklang mit der anfänglichen Be28 Vgl. Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 4 ff. 29 Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 9. 30 Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 36 ff. 31 Vgl. Jacobi, Grundlehren des Arbeitsrechts, 1927, S. 286.
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griffsverwendung durch den Gesetzgeber32, sondern ist auch bis heute weder in Schrifttum oder Rechtsprechung ernsthaft in Zweifel gezogen worden. Hierauf aufbauend arbeitete Jacobi heraus, dass das Tätigkeitswort „Betreiben“ wiederum von dessen sprachlichem Ursprung her betrachtet eine „auf Dauer gerichtete Betätigung eines Menschen zur Verfolgung eines über die Tätigkeit hinausgehenden Zweckes“ bezeichne33. Fortgesetztes „Betreiben“ sei also dadurch gekennzeichnet, dass nacheinanderfolgende Handlungen dergestalt in einem bewussten Zusammenhang stünden, dass bereits die erste Handlung unter der Vorstellung vorgenommen werde, dass ihr eine Reihe weiterer, auf den gleichen Zweck gerichteten Handlungen folgen würden34. Auf dieser sprachlichen Basis erhob Jacobi somit die Verfolgung eines bestimmten Zwecks zum zentralen Element seines Betriebsbegriffs. Eine Bestätigung dieser Zweckorientierung sah Jacobi darin, dass § 20 Abs. 2 BRG eine dreijährige Zugehörigkeit zu einem bestimmten Gewerbe- bzw. Berufszweig verlange, damit eine Betriebsvertretung gewählt werden könne. Somit gehe bereits das Gesetz von einer entsprechenden Orientierung an einem verfolgten Zweck aus. Aus dieser Annahme schlussfolgerte Jacobi auch, dass in einem vollständigen Wechsel des verfolgten Zwecks, eine Beendigung des alten und Begründung eines neuen Betriebs zu sehen sei und deshalb auch in diesem Fall das Fortbestehen einer identischen Betriebsvertretung ausgeschlossen wäre35. bb) Vereinigung von Betriebsmitteln (1) Überblick Weiterhin stellte Jacobi in seinen Ausführungen heraus, dass ein mit dem fortgesetzten Betreiben verfolgter Zweck nur dann erreicht werden könne, wenn die hierfür nötigen sachlichen und persönlichen (Betriebs-)Mittel in den Dienst dieses Zwecks gestellt würden36. Ein Betrieb wäre somit regelmäßig durch eine Bündlung und Ausrichtung der betrieblichen Mittel auf den verfolgten Zweck gekennzeichnet. Als betriebliche Mittel in diesem Sinne kämen nach Jacobi einerseits sachliche Güter wie Werkzeuge, Maschinen, Rohstoffe oder Grundstücke in Betracht. Andererseits könne aber auch der Einsatz anderer Menschen der Zweckverfolgung dieSiehe dazu oben II. 1. a). Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 3, mit weiterem Verweis auf Molitor, Das Wesen des Arbeitsvertrages, Schriften des Instituts für Arbeitsrecht, Heft 7 S. 6. 34 Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 3. 35 Vgl. Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 5 Fn. 12 Abs. 2. 36 Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 5 ff. 32 33
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nen, so dass auch persönliche bzw. „menschliche“ Betriebsmittel eingesetzt werden könnten37. (2) Sächliche Betriebsmittel In welcher rechtlichen Form auf die eingesetzten sächlichen Betriebsmittel zurückgegriffen wird, sollte für die Feststellung eines Betriebs ohne Belang sein. Insbesondere sollten nicht nur im Eigentum des Betreibenden stehende sächliche Betriebsmittel zur Zweckverfolgung eingesetzt werden können. Vielmehr könne auch dann ein Betrieb angenommen werden, wenn der Betreibende zur Verfolgung des erstrebten Zwecks ausschließlich auf Betriebsmittel zurückgreife, die ihm infolge Nießbrauch, Miete, Pacht oder eines Nutzungsrechts eines Verwandten zur Verfügung stehen38. Etwas anderes folge insoweit auch nicht aus der in § 50 BRG zu findenden Bezeichnung des Betriebsinhabers als „Eigentümer“. Aus der Entstehungsgeschichte und Entwurfsbegründung ergebe sich nämlich, dass es sich hierbei lediglich um einen versehentlichen Missgriff des Gesetzgebers handele39. (3) Persönliche bzw. „menschliche“ Betriebsmittel Auch hinsichtlich der eingesetzten persönlichen bzw. „menschlichen“ Betriebsmittel sollte es nach Jacobi nicht auf die Rechtsform ankommen. Gleichgültig sei insbesondere, ob die eingesetzten Personen auf Grund Arbeitsvertrags, öffentlicher Dienstpflicht oder familiärer Verpflichtung zur Verfügung standen40. Als „menschliche“ Betriebsmittel kämen daher nach Jacobi Arbeitnehmer, Beamte, Familienangehörige und Strafgefangene in Betracht41. Jacobi stellte allerdings auch heraus, dass das Bestehen eines Betriebs nicht zwingend die Tätigkeit anderer Menschen als dem Betreibenden voraussetze. Vielmehr könne auch ein sog. „Alleinbetrieb“ die Voraussetzungen des Betriebsbegriffs erfüllen. Dies ergebe sich sowohl aus der staatlichen Betriebsstatistik als auch aus den §§ 176, 1058, 1229, 1243 RVO42. Der Einsatz „menschlicher“ Betriebsmittel sei daher keine unbedingte Voraussetzung für die Annahme eines Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 5 f. Vgl. Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 16. 39 Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 16 Fn. 40 und S. 24 Fn. 53. Ebenso bereits Gieseke, Der Betriebsrat, in: Mahlberg u. a., Grundriß der Betriebswirtschaftslehre, S. 40. Vgl. auch Flatow, BRG, S. 124 f. 40 Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 16. 41 Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 5. 42 Vgl. Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 5 Fn. 11 und 12 m. w. N. 37 38
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Betriebs, womit sich Jacobi klar von den durch Flatow und Feig / Sitzler entwickelten Betriebsbegriffen abgrenzte. Klarstellend wies Jacobi in diesem Zusammenhang jedoch darauf hin, dass hieraus nicht im Umkehrschluss gefolgert werden könne, dass es ausschließlich auf die sächlichen Betriebsmittel ankäme. Zur Begründung verwies Jacobi auf den vom Reichsgericht in Bezug auf das BRG entwickelten Betriebsbegriff. Ein als „lebendiger Organismus“ verstandener Betrieb sei gerade durch das Zusammenwirken von Personen und Sachen gekennzeichnet, so dass regelmäßig erst die Vereinigung dieser sächlichen und persönlichen Mittel den Betrieb ausmache43. Daher müssten nicht zwingend „persönlichen Mittel“ eingesetzt sein, damit ein Betrieb angenommen werden könne, jedoch bildeten diese regelmäßig einen wesentlichen Bestandteil der zur Zweckverfolgung eingesetzten Betriebsmittel und seien daher in der Regel kennzeichnendes Merkmal eines Betriebs. (4) Immaterielle Betriebsmittel Neben dem Einsatz derartiger sächlicher und persönlicher bzw. „menschlicher“ Mittel kämen nach Jacobi auch noch immaterielle Betriebsmittel in Betracht. Hiermit meinte er insbesondere die Betriebsorganisation, Fabrikationsmethoden, Patente, Urheberrechte, gesicherte Absatzgelegenheiten, Kundschaft und bestimmte Bezugsquellen44. Auch diese könnten zur Erreichung des verfolgten Zwecks gezielt eingesetzt werden, so dass sie ebenfalls bei der Feststellung eines Betriebs zu berücksichtigen wären. In diesem Zusammenhang wies Jacobi auch darauf hin, dass zu den genannten immateriellen Betriebsmitteln nicht nur tatsächlich bestehende immaterielle Rechte, sondern auch bloße Möglichkeiten oder Chancen zu rechnen sein sollten. (5) Vereinigung der Betriebsmittel Nach Jacobis Begriffsbestimmung zeichnete sich ein Betrieb gerade durch die Vereinigung dieser Betriebsmittel aus. Wann allerdings von einer solchen Vereinigung auszugehen ist, wird von Jacobi im Rahmen seiner Arbeit nicht näher dargelegt45. Geht man jedoch davon aus, dass es nach der Definition Jacobis darauf ankam, dass die Betriebsmittel zur Erreichung des verfolgten Zwecks eingesetzt werden, kann „Vereinigung“ in diesem Zusammenhang nur so verstanden werden, dass die betrieblichen Mittel in koordinierter Weise gebündelt und auf einander abgestimmt zum Einsatz gebracht werden46. Für ein solches Verständnis der „Vereini-
43 Vgl. Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 5 f. Fn. 12. 44 Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 7. 45 So auch die Kritik von Joost, Betrieb und Unternehmen als Grundbegriffe im Arbeitsrecht, 1988, S. 51.
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gung von Betriebsmitteln“ spricht auch die von Jacobi als eigenständige immaterielle Betriebsmittel eingestufte Betriebsorganisation. Eine solche ermöglicht nämlich gerade ein derart koordiniertes Zusammenwirken der Betriebsmittel, wie es für die effektive Erreichung eines verfolgten Zwecks erforderlich ist47. Auch ist zu berücksichtigen, dass Jacobi davon ausging, dass die verfolgten Zwecke selbst unter Zuhilfenahme der Betriebsmittel nur dann erreicht werden könnten, wenn diese „unter Verwertung von Erfahrungen über die Methode der Zweckverfolgung planmäßig“ geordnet eingesetzt würden48. Eine nutzbare Vereinigung von Betriebsmitteln setzte somit nach der Vorstellung Jacobis eine entsprechende Planung und Organisation des Mitteleinsatzes voraus. Im Sinne einer derartigen „Vereinigung von Betriebsmitteln“ war daher eine übergeordnete Koordination bzw. einheitliche Leitung erforderlich49. Das Kriterium der Vereinigung der Betriebsmittel zielte also gerade auf die zweckgerichtete Organisation und Koordination der eingesetzten Mittel ab. cc) Technischer Zweck Nach Jacobi sollte der mit der fortgesetzten Betätigung verfolgte Zweck durch den Sprachgebrauch „objektiviert“ und mit den sächlichen, persönlichen und immateriellen Mitteln verknüpft werden. Dieser „objektive Begriff des Betriebs“ stelle hinsichtlich des Zwecks lediglich auf den unmittelbar mit der Tätigkeit verfolgten Zweck (z. B. Herstellung von Brettern; Einkauf und Verkauf von Waren; Transport von Personen oder Sachen) und nicht den „entfernteren Zweck“ (z. B. Verdienst; Befriedigung eines Verwaltungsbedürfnisses) ab50. Dementsprechend sollten nur die ohne weitere Zwischenschritte mit der Tätigkeit erstrebten – von Jacobi auch als „technische Zwecke“ bezeichneten – Ziele maßgeblich sein. Die hinter diesen unmittelbaren Zielen stehenden (insbesondere wirtschaftlichen) Zwecke sollten dagegen für den Betriebsbegriff keine Bedeutung erlangen. Auf Grund der von Jacobi verwendeten Bezeichnung „technische Zwecke“ könnte man versucht sein, die ursprünglich im Unfallversicherungsrecht entwickelten Beschränkungen des Betriebsbegriffs auf technische Vorgänge auch hier anwenden zu wollen51. Bedenkt man jedoch, dass Jacobi den unfallversicherungsrechtlichen Betriebsbegriff ausdrücklich als Einschränkung des allgemeinen Be46 Vgl. dazu auch Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 6 f. 47 Siehe dazu auch sogleich unten zu Planung und Organisation II. 2. b) ee). 48 Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 6 f. 49 Vgl. Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 7 Fn. 15 m. w. N. 50 Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 7. 51 Vgl. dazu Joost, Betrieb und Unternehmen als Grundbegriffe im Arbeitsrecht, 1988, S. 52.
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triebsbegriffs bezeichnet hat52, kann man daraus nur folgern, dass Jacobi die „technische Zwecke“ gerade nicht im Sinne des Unfallversicherungsrechts verstanden wissen wollte53. Der unmittelbare bzw. technische Zweck dürfte daher allgemeiner als Arbeitsergebnis einer Betätigung zu verstehen sein54. dd) Erlaubtes Ziel In Bezug auf die Legalität des verfolgten Zwecks als eigenständiges Kriterium der Begriffsbestimmung bezog Jacobi in seiner Arbeit keine eindeutige, abschließende Position. Zwar stellte er klar, dass „in aller Regel diejenigen Fälle aus[scheiden], wo objektiv unerlaubte Zwecke verfolgt werden“, und verwies beispielhaft auf Bordelle, Bettelgeschäfte und verbotenes Glückspiel55. Jedoch grenzte Jacobi derartige Fälle nicht generell vom Betriebsbegriff aus, sondern traf nur eine Aussage zum Regelfall, und wies zugleich darauf hin, dass gerade im Bereich der Wirtschaftswissenschaften, aber auch im Steuerrecht keine absolute Beschränkung des Betriebsbegriffs auf erlaubte Tätigkeiten bestehe56. Im Interesse einer möglichst umfassend anwendbaren Begriffsbestimmung verzichtete Jacobi somit bewusst darauf die Legalität des verfolgten Zwecks zum eigenständigen Kriterium zu erheben57. ee) Betreibender Als Betreibender komme – so Jacobi – generell „jede physische [gemeint ist wohl „natürliche“] wie juristische Person“ in Betracht58. Auch eine Mehrheit von Gesellschaften solle Betreibender sein können. Voraussetzung hierfür sei lediglich, dass eine gemeinsame Zwecksetzung erfolge und nicht nur parallel die gleichen, sachlich übereinstimmenden, unmittelbaren Zwecke verfolgt würden59.
Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 38 f. So auch Joost, Betrieb und Unternehmen als Grundbegriffe im Arbeitsrecht, 1988, S. 52 f. 54 Joost, Betrieb und Unternehmen als Grundbegriffe im Arbeitsrecht, 1988, S. 53. 55 Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 10. 56 Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 10 Fn. 20 m. w. N. 57 Anderenfalls hätte Jacobi die Begriffsbestimmung beispielsweise folgendermaßen fassen können: „Betrieb ist die Vereinigung von persönlichen, sächlichen und immateriellen Mitteln zur fortgesetzten Verfolgung eines von einem oder von mehreren Rechtssubjekten gemeinsam gesetzten technischen, objektiv erlaubten Zweckes.“ 58 Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 9. 59 Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 9. Vgl. auch unten zur Problematik mehrerer verfolgter Zwecke, II. 3. b). 52 53
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ff) Wirkung nach außen Kein eigenständiges Abgrenzungskriterium sollte nach Jacobi die „Auswirkung nach außen“ sein60. Ein solches – nach Ansicht Jacobis vornehmlich der Herausnahme von Haushalt und Hauswirtschaft dienendes – Kriterium sei für die Feststellung eines Betriebs nicht erforderlich. Vielmehr genüge es, wenn innerhalb der Gesamtgruppe der Betriebe zwischen solchen mit und solchen ohne „Auswirkung nach außen“ unterschieden werde61. 3. Kritische Auseinandersetzung mit dem gefundenen Betriebsbegriff Angesichts der Vielzahl der vorherigen Definitionsbemühungen verkannte Jacobi nicht, dass auch die von ihm gefundene Begriffsbestimmung einige Schwachpunkte aufwies, und versuchte deshalb, die sich aus seiner Sicht ergebenden Probleme kritisch zu beleuchten und zu klären. a) Subjektivität des Betriebsbegriffs Zunächst räumte Jacobi ein, dass sich sein Betriebbegriff nicht an rein objektiven Kriterien orientierte. Nach seiner Definition allein entscheidend sei nämlich der subjektive Wille des Betreibenden. Nur dieser könne durch die Zwecksetzung und Mittelbündelung den Zusammenschluss zu einer Betriebseinheit erreichen62. Diese Subjektivität des Betriebsbegriffs bedeute allerdings nicht, dass der Betreibende die einmal erfolgte Zwecksetzung durch bloße Erklärung ändern könnte. Der subjektive Zwecksetzungswille komme nämlich stets in der Vereinigung der Betriebsmittel zum Ausdruck, so dass die tatsächlichen Verhältnisse Rückschlüsse auf die innere Willensbildung zuließen, an denen sich der Betreibende festhalten lassen müsse63. Die formal subjektive Ausrichtung des Betriebsbegriffs würde also nach Ansicht Jacobis insoweit durch objektiv bestimmbare Kriterien gestützt und verliere dadurch ihren Willkürlichkeitscharakter.
60 Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 8. Vgl. demgegenüber Feig / Sitzler, Betriebsrätegesetz, 9. und 10. Aufl., 1922, § 9 Anm. 1, S. 45. 61 Vgl. Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 8. 62 Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 10. Ähnlich bereits Kaskel, Arbeitsrecht, 2. Aufl., 1925, S. 240 Fn. 2. 63 Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 10 Fn. 22.
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b) Verfolgung mehrerer technischer Zwecke Ausführlich widmete sich Jacobi der Frage, wie der Betrieb zu bestimmen sei, wenn durch einen Betreibenden nicht nur ein, sondern zeitgleich mehrere technische Zwecke verfolgt würden. aa) Grundsatz: individueller Maßstab Zunächst stellte Jacobi heraus, dass die Einheit des Betriebs auch durch verschiedene, gleichzeitig verfolgte technische Zwecke nicht aufgehoben werde, soweit es sich nur im Ganzen um eine einheitliche Zwecksetzung handele64. Für die Frage, ob mehrere besondere Betriebe desselben Inhabers oder aber ein einheitlicher Betrieb mit mehreren Betriebsabteilungen vorliege, wollte Jacobi stets auf die tatsächlichen Verhältnisses des einzelnen Falles abstellen. Bei der Beurteilung der Einheitlichkeit des Betriebs sollte somit ein individueller Maßstab anzulegen sein. Trotz dieser im Grundsatz auf eine Einzelfallabwägung gerichteten Beurteilung, hob Jacobi in seiner Arbeit einige Kriterien hervor, die bei der individuellen Bewertung, ob ein einheitlicher Betrieb vorliege, von erheblicher Bedeutung seien und daher besondere Berücksichtigung verdienten65. bb) Einheit des betreibenden Rechtssubjekts Ein erstes Beurteilungskriterium sollte nach Jacobi die „Einheit des betreibenden Rechtssubjekts“ sein. Hiermit meinte Jacobi offensichtlich die rechtliche und tatsächliche Identität der die verschiedenen technischen Zwecke verfolgenden natürlichen oder juristischen Person. Soweit die Zweckverfolgung durch mehrere Rechtsubjekte gemeinsam betrieben werde, müsste sich dieses gemeinschaftliche Engagement auch auf die verschiedenen verfolgten technischen Zwecke gleichermaßen beziehen. Der Gesichtpunkt der „Einheit des betreibenden Rechtssubjekts“ sollte nach Jacobi allerdings nur in einer Richtung einen zwingenden Rückschluss auf die Einheit des Betriebs ermöglichen: Immer wenn die Einheit des betreibenden Rechtssubjekts fehle, also die verschiedenen technischen Zwecke nicht von den identischen natürlichen oder juristischen Personen verfolgt würden, scheide ein einheitlicher Betrieb generell aus66. Dagegen könne aus der Identität der betreibenden Rechtssubjekte nicht im Umkehrschluss gefolgert werden, dass ein einheitlicher Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 10. Vgl. Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 10 f. 66 Ähnlich auch Feig / Sitzler, Betriebsrätegesetz, 9. und 10. Aufl., 1922 § 9 Anm. 1, S. 46 f. 64 65
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Betrieb vorliege, weil die Rechtsordnung in verschiedenen Vorschriften anerkenne, dass ein Betriebsinhaber auch mehrere Betriebe haben könne67. In diesen Fällen müsse daher bei der Beurteilung der Einheitlichkeit des Betriebs auf weitere Gesichtspunkte abgestellt werden. cc) Räumliche Einheit Als weiteres Beurteilungskriterium könne grundsätzlich die „räumliche Einheit“ herangezogen werden. Aus der positivrechtlichen Regelung des § 9 Abs. 2 BRG68 ergäbe sich, dass jedenfalls dann kein einheitlicher Betrieb angenommen werden könne, wenn die verschiedenen technischen Zwecke in unterschiedlichen, nicht wirtschaftlich zusammenhängenden und nahe beieinander liegenden Gemeinden verfolgt würden69. Damit erhob Jacobi die räumliche Einheit indirekt zur zwingenden (Teil-)Voraussetzung eines Betriebs. Allerdings betonte er gleichzeitig, dass aus dem Vorliegen einer räumlichen Einheit umgekehrt noch nicht stringent folge, dass auch ein einheitlicher Betrieb gegeben sei. Vielmehr könne eine Person in zwei nebeneinander liegenden Fabrikgebäuden oder gar „in demselben Gebäude verschiedene Betriebe haben“70. Auch das Kriterium der räumlichen Einheit könne daher nur der negativen Abgrenzung dienen. Für die positive Feststellung eines einheitlichen Betriebs müssten dagegen wiederum weitere Kriterien herangezogen werden. dd) Verbundenheit durch Betriebseinrichtung, Betriebsleitung oder Arbeitsverfahren Als Indiz für das Vorliegen eines einheitlichen Betriebs konnte nach Jacobi beispielsweise das gemeinsame Nutzen von Betriebseinrichtungen dienen. Bereits das Gesetz stelle nämlich in verschiedenen Vorschriften auf die Verwendung gemeinsamer Betriebseinrichtungen und -anlagen, wie etwa einheitliche Wirtschaftsgebäude oder gemeinsam genutzte Fahrzeuge, ab, um eigenständige Betriebe abzugrenzen71. Neben gemeinsamen Betriebseinrichtungen dürfe auch das Vorliegen einer einheitlichen Betriebsleitung als Indiz eines gemeinsamen Betriebs herangezogen Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 11. § 2 Abs. 2 BRG lautete: „Nicht als besondere Betriebe gelten Nebenbetriebe und Bestandteile eines Unternehmens, die durch die Betriebsleitung oder das Arbeitsverfahren miteinander verbunden, sofern sie sich innerhalb der gleichen Gemeinde oder wirtschaftlich zusammenhängender, nahe beieinanderliegender Gemeinden befinden.“ 69 Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 11 f.; Flatow, Kommentar zum Betriebsrätegesetz, 11. Aufl., 1923, § 9 Anm. 6, S. 41. 70 Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 12. 71 Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 12. 67 68
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werden72. Hierbei genüge jedoch noch nicht, dass eine einheitliche wirtschaftliche Oberleitung vorhanden ist. Erforderlich sei vielmehr eine gemeinsame technische Leitung, die beispielsweise in Form eines gemeinsamen technischen Direktors oder sonstiger technischer leitender Angestellter bestehen könne73. Die primäre Aufgabe dieser Leitungsebene müsste sich somit auf die Erreichung des technischen Zwecks und nur sekundär auf die gleichzeitige (Mit-)Verfolgung wirtschaftlicher Interessen beziehen. Schließlich komme auch einer Verbundenheit durch das Arbeitsverfahren eine entsprechende Indizwirkung zu. Diese sei beispielsweise auch dann gegeben, wenn in verschiedenen Betriebsstätten dieselben Arbeitnehmer abwechselnd tätig seien oder wenn gemeinsame Kraftanlagen, Bahnanlagen oder Fuhrwerke benutzt würden74. Darüber hinaus könne ein einheitlicher Betrieb dann angenommen werden, wenn ein Betrieb dergestalt Hilfsbetrieb eines Anderen sei, dass der Eine technische Erfordernisse des Anderen befriedige, wie dies etwa bei einer Maschinenfabrik mit Modelltischlerei anzunehmen wäre75. III. Der Betriebsbegriff im geltenden Recht Diese auf Jacobi zurückgehende und von Hueck weiterentwickelte Definition prägt noch heute das arbeitsrechtliche Verständnis des Begriffs „Betrieb“. Schon deshalb wird in einer Reihe wichtiger Werke explizit auf die herausragende Bedeutung Jacobis für den Betriebsbegriff verwiesen76. Im Folgenden soll daher knapp gezeigt werden, in welcher Weise die heutige Rechtsprechung und Literatur noch immer auf die Definition Jacobis zurückgreift und damit weiterhin den Geist Jacobis am Leben erhält. 1. Rechtsprechung Bereits frühzeitig hatte das BAG77 einen Fall zu entscheiden, in dem es indirekt auch um das begriffliche Verständnis des „Betriebs“ ging. In einer von der RechtJacobi bezieht sich hierbei auf § 9 Abs. 2 BRG. Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 12. Vgl. auch Gieseke, Der Betriebsrat, in: Mahlberg u. a., Grundriß der Betriebswirtschaftslehre, S. 9 f. 74 Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 12. 75 Vgl. Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: FS Ehrenberg, 1927, S. 12. 76 Vgl. nur Fitting / Kaiser / Heither / Engels / Schmidt, BetrVG, 24. Aufl. 2008, § 1 Rn. 68; Preis, Legitimation und Grenzen des Betriebsbegriffes im Arbeitsrecht, RdA 2000, 257, 258; Richardi, Betriebsverfassungsgesetz, 11. Aufl., 2008, § 1 Rn. 16; Richardi, in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, 2. Aufl. 2000, § 31 Rn. 5. Kritisch: Trümner, in: Däubler / Kittner / Klebe (Hrsg.), BetrVG, 11. Aufl. 2008, § 1 Rn. 37. 72 73
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sprechung ungewohnten Deutlichkeit hat das BAG allerdings herausgestellt, dass dieser Begriff „durch die Wissenschaft und Praxis des Arbeitsrechts so geklärt“ sei, dass „längere Ausführungen“ durch den Senat entbehrlich wären78. Das BAG beschränkte sich vielmehr auf eine kurze Wiedergabe der nach Ansicht der Richter gefestigten Begriffsbestimmung und definierte den Betrieb als „organisatorische Einheit von Arbeitsmitteln, mit deren Hilfe jemand allein oder in Gemeinschaft mit seinen Mitarbeitern einen bestimmten arbeitstechnischen Zweck fortgesetzt verfolgt“79. Einen ausdrücklichen Bezug auf Jacobi oder Hueck lässt die Entscheidungsbegründung trotz der inhaltlichen Nähe80 vermissen und enthält stattdessen Verweise auf damals aktuellere Literatur81, die jedoch ihrerseits Jacobi als Beleg heranziehen82. In der Folgezeit wurde in einer Reihe von Entscheidungen des BAG und der Instanzgerichte der Arbeitsgerichtsbarkeit auf diese Begriffsbestimmung zurückgegriffen83. Teilweise wurde der „Betrieb“ in der Arbeitsgerichtsbarkeit aber auch als „organisatorische Einheit [angesehen], innerhalb derer der Unternehmer allein oder zusammen mit seinen Mitarbeitern mit Hilfe sächlicher oder immaterieller Mittel bestimmte arbeitstechnische Zwecke fortgesetzt verfolgt“ definiert84. Diese 77 Vgl. zu den vorherigen Begriffsbestimmungen durch die Instanzgerichte: LAG Hamm vom 19. 12. 1951 – 3 Sa 399 / 51 – SAE 1952, 128; LAG Kiel vom 27. 07. 1953 – 1 Ta 6 / 53B, 1 Ta 51 / 53N – DB 1953, 716; LAG Düsseldorf vom 04. 08. 1953 – 2a BV Ia 6 / 53 – DB 1953, 823; LAG Düsseldorf vom 10. 12. 1953 – 3 BVTa 6 / 53 – DB 1954, 215; LAG Hannover vom 13. 02. 1954 – 4 Ta 57 / 53 – BB 1954, 773. 78 BAG vom 03. 12. 1954 – 1 ABR 7 / 54 – AP Nr. 1 zu § 88 BetrVG 1952. 79 BAG vom 03. 12. 1954 – 1 ABR 7 / 54 – AP Nr. 1 zu § 88 BetrVG 1952. 80 Vgl. Hrubesch, Die betriebsratfähige Einheit im Wandel der Arbeitswelt, Diss., 2002, S. 24; Richardi, Betriebsverfassungsgesetz, 11. Aufl., 2008, § 1 Rn. 16. 81 Vgl. den Verweis auf „Nikisch, Lehrbuch Arbeitsrecht, 1951, S. 69 ff.“ und „Dietz, BetrVG § 1 Bem. 36“, BAG vom 03. 12. 1954 – 1 ABR 7 / 54 – AP Nr. 1 zu § 88 BetrVG 1952. 82 Nikisch, Lehrbuch Arbeitsrecht, 1951, S. 69 ff. 83 BAG vom 13. 07. 1955 – 1 ABR 20 / 54 – AP Nr. 1 zu § 81 BetrVG 1952; BAG vom 28. 09. 1971 – 1 ABR 4 / 71 – AP Nr. 14 zu § 81 BetrVG 1952; BAG vom 23. 09. 1982 – 6 ABR 42 / 81 – AP Nr. 3 zu § 4 BetrVG 1972; vgl. LAG Hamm vom 28. 11. 1958 – 4 BVTa 86 / 58 – BB 1959, 157; LAG Frankfurt a. M. vom 08. 05. 1973 – 5 Ta BV 6 / 73 – BB 1974, 785; LAG Hamm vom 09. 12. 1977 – 3 TaBV 71 / 77 – DB 1978, 1282. Vgl. auch Hrubesch, Die betriebsratfähige Einheit im Wandel der Arbeitswelt, Diss., 2002, S. 25. 84 BAG vom 24. 09. 1968 – 1 ABR 4 / 68 – AP Nr. 9 zu § 3 BetrVG 1952; BAG vom 22. 05. 1979 – 1 AZR 848 / 76 – AP Nr. 3 zu § 111 BetrVG 1972; BAG vom 29. 01. 1987 – 6 ABR 23 / 85 – AP Nr. 6 zu § 1 BetrVG 1972; BAG vom 25. 09. 1986 – 6 ABR 68 / 84 – AP Nr. 7 zu § 1 BetrVG 1972; BAG vom 23. 03. 1984 – 7 AZR 515 / 82 – AP Nr. 4 zu § 23 KSchG 1969; BAG vom 16. 06. 1987 – 1 ABR 41 / 85 – DB 1987, 1842; BAG vom 18. 01. 1990 – 2 AZR 355 / 89 – AP Nr. 9 zu § 23 KSchG 1969; BAG vom 29. 05. 1991 – 7 ABR 54 / 90 – AP Nr. 5 zu § 4 BetrVG 1972; LAG Tübingen vom 29. 10. 1971 – 7 TaBV 1 / 71 – DB 1971, 2267; LAG Hamm vom 10. 06. 1981 – 3 TaBV 15 / 81 – DB 1981, 2235; LAG Berlin vom 28. 06. 1999 – 9 TaBV 479 / 99 – NZA-RR 2000, 246. Weitere Nachweise bei Hrubesch, Die betriebsratfähige Einheit im Wandel der Arbeitswelt, Diss., 2002, S. 25, Fn. 175.
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Abweichungen in der Definition beschränkten sich jedoch auf sprachliche Modifikationen und zielten nicht auf eine inhaltliche Änderung des Begriffsverständnisses ab85. Daher lässt sich feststellen, dass auch die neuere Rechsprechung letzten Endes inhaltlich auf die von Jacobi herausgearbeitete und von Hueck verfeinerte Definition des Betriebs zurückgegriffen hat. 2. Rechtslehre Auch der überwiegende Teil des neueren arbeitsrechtlichen Schrifttums hat sich dem von Jacobi und Hueck erarbeiteten Begriffsverständnis angeschlossen86. Herrschende Lehre und Rechtsprechung legen insoweit also eine gewisse Geschlossenheit und inhaltliche Übereinstimmung an den Tag. Trotz der großen Zahl an Befürwortern der Begriffsbestimmung Jacobis, ist die Kritik hieran nie völlig verstummt. Ebenso wie zu Zeiten Jacobi gab es auch in der jüngeren Vergangenheit immer wieder Bestrebungen, den Betrieb anderweitig zu definieren. Beanstandet wurde vor allem, dass sich der Betriebsbegriff Jacobis in zu geringem Maße am Normzweck orientiere87. Die Notwendigkeit einer solchen teleologischen Begriffsbestimmung wird insbesondere mit der effektiven Wahrnehmbarkeit der Mitwirkungsrechte durch den Betriebsrat begründet88. Angesichts des inzwischen bestehenden breiten Konsenses über die Definition und die weitgehend anerkannte Zweckmäßigkeit und Praktikabilität89 des auf Jacobi zurück85 Hrubesch, Die betriebsratfähige Einheit im Wandel der Arbeitswelt, Diss., 2002, S. 25; Joost, Betrieb und Unternehmen als Grundbegriffe im Arbeitsrecht, 1988, S. 148. 86 Bepler, ArbuR 1997, 54; Birk, JZ 1973, 758; Eisemann / Koch, in: Müller-Glöge / Preis / Schmidt (Hrsg.), Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, BetrVG, § 1 Rn. 8; Etzel, Betriebsverfassungsrecht, 8. Aufl. 2002, Rn. 1; Fitting / Kaiser / Heither / Engels / Schmidt, BetrVG, 24. Aufl. 2008, § 1 Rn. 63; Hanau, ZfA 90, 117; Hess, in Hess / Worzalla / Glock / Nicolai / Rose (Hrsg.), BetrVG, 7. Aufl. 2008, § 1 Rn. 2; Hoyningen-Huene, Anm. zu LAG Hamm vom 05. 06. 1985, EWiR 1985, 727; Kloppenburg, in: Düwell, Handkommentar BetrVG, § 1 Rn. 11; Löwisch, in: Heinze / Söllner (Hrsg.), FS Kissel, S. 679; Peter, DB 1990, 424; Reuter, Anm. zu BAG vom 14. 09. 1988, AP Nr. 9 zu § 1 BetrVG; Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 12. Aufl. 2007, § 18 Rn. 1; Sick, BB 1992, 1129; Trümner, in: Däubler / Kittner / Klebe (Hrsg.), BetrVG, 11. Aufl. 2008, § 1 Rn. 36; Wendeling-Schröder, NZA 1984, 248; Wiese, in: Boewer / Gaul (Hrsg.), FS Gaul, 1992, S. 559; Kritisch: Christiansen, Betriebszugehörigkeit, Diss. 1998, S. 50, die eine Orientierung der herrschenden Lehre am Betriebsbegriff Jacobis mit der Begründung bezweifelt, dass in praxi eine Abgrenzung anhand eines Merkmalkatalogs erfolge. Sie verkennt hierbei jedoch, dass auch bereits Jacobi klargestellt hatte, dass es im Einzelfall auf die Beurteilung verschiedener Einzelmerkmale ankomme. 87 Joost, Betrieb und Unternehmen als Grundbegriffe im Arbeitsrecht, 1988, S. 94 ff. und 171 ff.; Richardi, Betriebsverfassungsgesetz, 11. Aufl., 2008, § 1 Rn. 19; Richardi, in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, 2. Aufl. 2000, § 31 Rn. 5; Wedde, in: Däubler / Kittner / Klebe (Hrsg.), BetrVG, 11. Aufl. 2008, Einl. Rn. 98; Vgl. auch Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht Band II, S. 257 ff. 88 Vgl. Richardi, Betriebsverfassungsgesetz, 11. Aufl., 2008, § 1 Rn. 20.
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gehenden Betriebsbegriffs konnte sich ein derartiger normzweckorientierter Begriff ebenso wenig durchsetzen wie andere, abweichende Begriffsbestimmungen90. Auch in der heute herrschenden Literatur dominiert somit immer noch die von Jacobi herausgearbeitete Verständnis des Begriffs „Betrieb“. IV. Zusammenfassung Betrachtet man die gesamte bisherige Entwicklung des Betriebsbegriffs, so ist evident, dass die wesentliche Prägung des Begriffs bereits einige Zeit zurück liegt und in die erste Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zu verorten ist. Bereits in dieser Zeit sind die maßgeblichen Grundlagen für das heutige Begriffsverständnis gelegt und die primären Abgrenzungsmerkmale herausgearbeitet worden. Im Rahmen dieses Prozesses kommt gerade auch der Arbeit von Erwin Jacobi besondere Bedeutung zu. Mit seinem 1926 erschienen Aufsatz „Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe“ hat er es geschafft, einen Betriebsbegriff zu entwickeln, der sowohl in der Rechtsprechung als auch beim überwiegenden Teil der Literatur Zustimmung fand und nicht ohne Grund auch heute noch das Verständnis des Begriffs „Betrieb“ seine maßgebliche Prägung verleiht. Mag der Wortlaut der Definition Jacobis im Laufe der Zeit einige Veränderungen erfahren haben – die von Jacobi herausgearbeiteten wesentlichen Strukturen und inhaltlichen Grundsätze sind geblieben und beanspruchen auch mehr als 80 Jahre nach Jacobis Präzisierungen in der FS Ehrenberg noch ihre Gültigkeit. Insofern erscheint es nicht verfehlt, die Verdienste Jacobis um den Betriebsbegriff auch anlässlich des 600-jährigen Bestehens seiner früheren Wirkungsstätte als besonders herausragend hervorzuheben.
89 Besgen, in: Rolfs / Giesen / Kreikebohm / Udsching, Beckscher Onlinekommentar zum Arbeitsrecht, BetrVG, § 1 Rn. 14; Fitting / Kaiser / Heither / Engels / Schmidt, BetrVG, 24. Aufl. 2008, § 1 Rn. 63; Heither JbArbR Bd 36 (1988) S. 37 ff. 90 Siehe dazu oben II. 5. e). Vgl. auch den Versuch von Fromen, in: Boewer / Gaul (Hrsg.), FS Gaul,1992, S. 151, 174, den „Betrieb“ als Typusbegriff zu begreifen.
Arbeits- und Sozialrecht in Forschung und Lehre an der Leipziger Juristenfakultät Von Wolfgang Gitter
Die Leipziger Juristenfakultät hat mit der Gründung des Instituts für Arbeitsund Sozialrecht im Jahre 1998 an eine Institution angeknüpft, die die Entwicklung dieser Rechtsgebiete maßgeblich beeinflusst hat, das im Jahr 1921 gegründete Institut für Arbeitsrecht1. Bevor auf die Entstehung dieses Instituts und dessen Arbeit in Forschung und Lehre eingegangen wird, sollen in einem historischen Rückblick die grundlegenden rechtlichen Veränderungen des Arbeitsrechts und deren juristische Bearbeitung im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert skizziert werden. I. „Grundlinien“ der Entwicklung des modernen Arbeitsrechts im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert Ausgangspunkt für die Entwicklung des modernen Arbeitsrechts2 war die zu Beginn des 19. Jahrhunderts einsetzende Industrialisierung, die Massenarbeitsverhältnisse mit sich brachte. Damit verbunden war die Entstehung der „sozialen Frage“, die sich aus dem vorhandenen Überangebot von Arbeitskräften und dem Fehlen jeglichen Arbeitnehmerschutzes ergab. Der wirtschaftlich deutlich überlegene Arbeitgeber konnte einseitig die Vertragsbedingungen diktieren, was zu niedrigen Löhnen, zu außerordentlich langen Arbeitszeiten und zur Beschäftigung von Frauen und Kindern in Fabriken und Bergwerken führte. Staat und Gesellschaft haben nebeneinander und im Zusammenwirken zur Bewältigung der sozialen Problematik ein umfangreiches System von Rechtsnormen geschaffen, das sich zu einer Sonderrechtsmaterie entwickelt hat. Auf die getroffenen Regelungen kann nicht im Einzelnen eingegangen werden, es können vielmehr nur einige „Grundlinien“ der arbeitsrechtlichen Entwicklung genannt werden.3 1 Gitter, Arbeits- und Sozialrecht an der Leipziger Juristenfakultät, in Heft 4 / 1994, Universität Leipzig, S. 13 ff. 2 Richardi, Münchener Handbuch Arbeitsrecht, Band 1: Individualarbeitsrecht I, 2. Auflage, S. 17 ff.; Zöllner / Loritz / Hergenröder, Arbeitsrecht, 6. Auflage, S. 24 ff.; Söllner / Waltermann, Arbeitsrecht, 14. Auflage, S. 20 ff. 3 Zöllner / Loritz / Hergenröder, a. a. O., S. 24 f.
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Besondere Bedeutung kam der spezifischen Arbeitsschutzgesetzgebung zu. Als erstes typisches Arbeitsschutzgesetz ist das preußische „Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Bergwerken und Fabriken“ von 1839 anzusehen, das die Beschäftigung von Kindern unter 9 Jahren gänzlich und von Jugendlichen bis 16 Jahren über zehn Stunden täglich verbot. Eine weitere Verbesserung des Jugendschutzes und eine erste Einbeziehung von Erwachsenen in die Arbeitsschutzgesetzgebung wurden in Preußen durch Gesetze von 1849 und 1853 sowie die Gewerbeordnung von 1869 vorgenommen. Durch die Novellierung der Gewerbeordnung im Jahre 1878 wurde die sog. Fabrikinspektion als Vorläufer der heutigen Gewerbeaufsicht eingeführt. Eine Ausweitung erfuhr der Arbeiterschutz durch die große Novelle der Gewerbeordnung von 1891, das Kinderschutzgesetz von 1903 und das Hausarbeitsgesetz von 1911. Nur ansatzweise wurde der Schutzgedanke in den Dienstvertragsnormen des BGB (§§ 615 bis 619) und des HGB (§§ 62 – 64, 74 ff.) angesprochen. Neben der staatlichen Schutzgesetzgebung hat die Koalitionsbildung und das Tarifvertragswesen die Entwicklung des Arbeitsrechts maßgeblich beeinflusst. Arbeitnehmerzusammenschlüsse waren zwar in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in allen deutschen Staaten verboten, aber das Koalitionsverbot wurde zunächst im Jahre 1861 in Sachsen und durch die Gewerbeordnung von 1869 in den Mitgliedsstaaten des Norddeutschen Bundes aufgehoben. Damit war die Voraussetzung für die Entwicklung der Gewerkschaften geschaffen, die allerdings nochmals durch das Sozialistengesetz von 1878 gebremst wurde. Mit dem Gewerkschaftswesen war die Einführung des Tarifvertrags als Regelungsinstrument verbunden. Als erster Tarifvertrag wurde der Buchdruckertarif von 1873 abgeschlossen, gegen Ende des 19. Jahrhunderts kommen Tarifverträge in weiteren Branchen dazu. Der Gedanke einer Arbeitnehmervertretung im Betrieb wurde ebenfalls schon in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts durch die Errichtung von Arbeiter- und Angestelltenausschüssen in einer Reihe von Betrieben umgesetzt. Gesetzlich anerkannt wurde die Möglichkeit der Errichtung von Fabrikausschüssen in den Betrieben in der Novelle zur Gewerbeordnung von 1891. Auch die Herausbildung einer besonderen Arbeitsgerichtsbarkeit wurde bereits im 19. Jahrhundert mit der Errichtung der Gewerbegerichte im Jahr 1890 eingeleitet. Ihnen folgten im Jahre 1904 die Gewerbe- und Kaufmannsgerichte, für die bereits in erster Instanz Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeisitzer vorgesehen waren. Von entscheidender Bedeutung für den Sozialschutz war die Einrichtung der Sozialversicherung, die mit der Kaiserlichen Botschaft von 1881 und mit Einzelgesetzen zur Krankenversicherung von 1883, Unfallversicherung von 1884 und Invaliditäts- und Alterssicherung 1889 ausgebaut wurde. Durch die Reichsversicherungsordnung von 1911 erfolgte eine Zusammenfassung dieser Regelungen und durch das Angestellten-Versicherungsgesetz von 1911 eine weitere Ergänzung. Zwar wurden durch die öffentlich-rechtlichen Pflichtversicherungen keine arbeits-
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rechtlichen Regelungen im engeren Sinne getroffen, aber die Sozialversicherung hat für die Konzeption eines einheitlichen Arbeitsrechts einen grundlegenden Beitrag durch die im Rahmen der Versicherungspflicht notwendige Abgrenzung zwischen Selbständigen und abhängig Beschäftigten geleistet. II. Wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Neuregelungen Mit den Entwicklungen des modernen Arbeitsrechts setzte sich die juristische Literatur zunächst nur zurückhaltend auseinander. Die Wissenschaft vom Arbeitsrecht ist deshalb auch als eine „verspätete Disziplin“ bezeichnet worden.4 Zu den ersten fachjuristischen Abhandlungen dieses Rechtsgebiets gehört eine 1875 erschienene Untersuchung des Anwalts H. Dankwardt zum „Arbeiterrecht“. Darunter verstand Dankwardt den Komplex von Rechtssätzen, welcher sich auf die „arbeitende Klasse“ in ihrer Gesamtheit bezieht. Dass es sich dabei sowohl um öffentlich-rechtliche als auch um zivilrechtliche Regelungen handelt, war für Dankwardt selbstverständlich. Zivilrechtlich knüpft er an die locatio conductio operarum („Dienstmiete“) an, deren Ergänzung durch vielfache Analogien zu anderen Vertragstypen er jedoch für erforderlich hält, um zu angemessenen Regelungen zu gelangen. Auf diese Weise entwickelt Dankwardt einen Rechtsrahmen für Begründung, Inhalt und Beendigung von Arbeitsverhältnissen, der auch Billigkeitsgebote und die Anweisung an den Richter „im Zweifel zugunsten des Arbeiters“ zu entscheiden, enthält.5 Vom Bonner Professor Wilhelm Endemann wird im Jahr 1896 eine Studie zum Thema „Die Behandlung der Arbeit im Privatrecht“ vorgelegt.6 Endemann geht dabei auf die Versuche ein, den Typus des entgeltlichen Arbeitsvertrags in der Gemengelage von Sach- und Dienstmiete sowie Werkvertrag und Auftrag zu erfassen. Er kritisiert im Hinblick auf das neue BGB, dass man nicht zu einer breiteren Auffassung der Arbeit als Vertragsgegenstand gekommen sei. An die Rechtswissenschaft wendet er sich mit der Forderung, den „umfassendsten einheitlichen Begriff der Arbeit“ zum Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Behandlung zu nehmen.7 Für die Arbeitsrechtswissenschaft werden drei im Zeitraum der Jahrhundertwende erschienene Veröffentlichungen als die „bahnbrechenden Werke“ bezeichnet.8 Es handelt sich um „Das Arbeiterrecht“ (1895) mit folgenden Auflagen von 4 Dubischar, Zur Entstehung der Arbeitsrechtswissenschaft als Scientific Community – Eine Erinnerung, in: RdA 1990, S. 83 ff., 84. 5 Dubischar, a. a. O., S. 84. 6 Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Separatdruck, 1896. 7 Dubischar, a. a. O., S. 84. 8 Dubischar, a. a. O., S. 85 ff.
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Arthur Stadthagen, „Der Arbeitsvertrag nach dem Privatrecht des Deutschen Reiches“ (1902, 1908) von Philipp Lotmar und „Der kooperative Arbeitsnormenvertrag“ (1907, 1908) von Hugo Sinzheimer. Das „Arbeiterrecht“ von Stadthagen bezieht sich auf das gesamte Recht für Eingehung, Inhalt und Lösung von Arbeitsverträgen, die Rechtsverhältnisse nach den Gesetzen über Unfall-, Kranken-, Invaliden- und Altersversicherung sowie für Streitigkeiten aus den gewerblichen Arbeitsverhältnissen. Mit dem Buch verfolgt Stadthagen das Ziel, umfassend de lege lata zu informieren und dem gewerblichen Arbeiter die Möglichkeit zu erleichtern, „die wenigen Rechte, die ihm aus dem Arbeitsvertrag und der sog. sozialpolitischen Gesetzgebung erwachsen, kennen zu lernen und möglichst selbständig wahrzunehmen“. Das zweibändige Werk „Der Arbeitsvertrag nach dem Privatrecht des Deutschen Reiches“ von Lotmar wird als die „erste professoral-gründliche Abhandlung zum Arbeitsvertrag“ bezeichnet.9 Lotmar analysiert den Arbeitsvertrag eingehend vom Privatrecht her und geht auf öffentlich-rechtliche Normen nur insoweit ein, als diese den privatrechtlichen Inhalt mitbestimmen. Bei der Entwicklung des Rechts vom Arbeitsvertrag hält er es für geboten, die „faktische Unterlage“ zu berücksichtigen, da bei einer juristischen Auslegung nur anhand der Gesetze und der Spruchpraxis bedeutsame Erscheinungen und Probleme übersehen werden. Rechtstatsächliches Material wertet er auch im Hinblick auf das Tarifvertragswesen aus, schafft aber zugleich den Umriss einer ersten Dogmatik des Tarifvertrags. Die Bedeutung eines funktionierenden rechtlich abgesicherten Tarifvertragswesens für die Arbeitsrechtsentwicklung wird von Sinzheimer besonders betont. In seinem „Arbeitsnormenvertrag“ untersucht er zunächst den Tatbestand des Tarifvertrags anhand der Fülle der praktizierten Verträge. Daran anschließend befasst sich Sinzheimer mit der „Rechtswirkung“ des Tarifvertrags, wobei er zwischen normativen, obligatorischen und sozialrechtlichen Rechtsfolgen, letztere beziehen sich auf das Binnenverhältnis der Tarifvertragsparteien zueinander, unterscheidet. Im Hinblick auf die normative Wirkung schließt Sinzheimer im Gegensatz zu Lotmars strengem Konzept der Unabdingbarkeit günstigere Arbeitsbedingungen für den Einzelfall nicht aus.10 Die im „Arbeitsnormenvertrag“ gewonnenen Ergebnisse werden von Sinzheimer in seinem Buch „Ein Arbeitstarifgesetz“ umgesetzt, in dem er einen ausformulierten Gesetzesvorschlag unterbreitet, der auf alle für ein funktionierendes Tarifvertragssystem regelungsbedürftigen Sachverhalte eingeht. Neben Stadthagen, Lotmar und Sinzheimer wird als „Gründerpersönlichkeit“ für die Arbeitsrechtswissenschaft Heinz Potthoff genannt.11 In seinem 1912 veröffentlichten Buch „Probleme des Arbeitsrecht“ mit dem Untertitel „RechtspolitiDubischar, a. a. O., S. 86 f. Dubischar, a. a. O., S. 88 f. 11 Mikesic, Sozialrecht als wissenschaftliche Disziplin, 2002, S. 52. 9
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sche Betrachtungen eines Volkswirts“ hat er anders als Stadthagen nicht nur über die arbeitsrechtlichen Regelungen informiert, sondern sich als konstruktiver Kritiker der juristischen Institutionen erwiesen. Dabei hat er sich mit den noch ungelösten Problemen der Vereinheitlichung und der zeitgemäßen Normierung von Arbeitsverfassung und Arbeitskampf auseinandergesetzt.12 III. Sozialversicherungsrecht als wissenschaftliche Disziplin Auf das Sozialversicherungsrecht ist in den genannten Veröffentlichungen teilweise eingegangen worden, eine umfassende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Rechtsgebiet hat aber nicht stattgefunden. Als derjenige, der das Sozialversicherungsrecht im Prozess seiner Disziplinwerdung begleitete und wissenschaftlich aufarbeitete und damit als „Begründer der deutschen Wissenschaft des Sozialversicherungsrechts“ wird Heinrich Rosin bezeichnet.13 Rosin hat sich in einer großen Zahl von Veröffentlichungen mit dem Sozialversicherungsrecht auseinandergesetzt,14 von denen hier nur die beiden Bände zum „Recht der Arbeiterversicherung“ 1893 und 1905 und der Aufsatz in der Laband-Festschrift 1908 „Die Rechtsnatur der Arbeiterversicherung“ genannt werden sollen. Rosin ist davon ausgegangen, dass es sich bei der Arbeiterversicherung nicht um ein einheitliches und zweiseitiges Rechtsverhältnis handelt, „sondern um zwei einseitige, von denen das eine prinzipale, die den arbeitenden Klassen von Staats wegen zugesicherte Fürsorge, das andere aber sekundäre und mit dem ersteren nicht in notwendiger rechtlicher Verbindung stehende, die behufs Aufbringung der nötigen Mittel gewissen Personen auferlegte Leistung von Beiträgen zum Gegenstande hat“.15 Zur Frage der Rechtsnatur des Sozialversicherungsrechts geht Rosin davon aus, dass dieses als Ganzes eine im Interesse des Staates zu erfüllende Aufgabe sei, deren Durchführung prinzipiell öffentlich-rechtlichen Charakter habe. Zugleich weist er aber auf die „Relativität des Gegensatzes von Privat- und öffentlichem Recht“ hin.16 Basierend auf diesem Grundverständnis setzt sich Rosin mit den Einzelfragen des Sozialversicherungsrechts auseinander. Die intensiven Bemühungen Rosins um das Sozialversicherungsrecht haben mit der Gründung des „Versicherungswissenschaftlichen Seminars“ 1906 in Freiburg einen „institutionellen Niederschlag“17 gefunden. Die Anregung dazu war bereits im Jahr 1895 vom Justizministerium in Karlsruhe an die juristische und philosophische Fakultät der Universität Freiburg gerichtet worden. Jedoch bekundete zu12 13 14 15 16 17
Dubischar, a. a. O., S. 90. Mikesic, a. a. O., S. 51. Verzeichnis der Veröffentlichungen bei Mikesic, a. a. O., S. 209 ff. Rechtsnatur der Arbeiterversicherung, S. 52. Recht der Arbeiterversicherung, Band 1, S. 788 f. Mikesic, a. a. O., S. 50.
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nächst keine der Fakultäten Interesse an dieser Idee. Nachdem im Jahre 1906 das Akademische Direktorium der Universität diese Idee wieder aufgegriffen hatte und dabei auch Rosin als Vertreter des öffentlichen Rechts benannt wurde, kam es zur Gründung des Seminars. Rosin übernahm 1908 die „Direktion des Seminars und die Leitung des versicherungswissenschaftlichen Studiums“. Zielgruppe eines besonderen Studiengangs für Versicherungswissenschaften waren neben Studenten auch Referendare und Praktiker aus dem Versicherungswesen, denen Möglichkeiten zur Weiterbildung gegeben werden sollten. Flächendeckend angeboten werden sollten Vorlesungen und Übungen zur Ökonomie und Statistik des Versicherungswesens, zum privaten und öffentlichen Versicherungsrecht, vor allem dem Arbeiterversicherungsrecht, zur Versicherungsmathematik und zur Versicherungsmedizin. Nach der Programmatik des Seminars lag also ein deutlicher Schwerpunkt auf der Ausbildung. Jedoch wurde auch eine Schriftenreihe „Die Versicherungswissenschaftlichen Abhandlungen“ von Rosin und Hoeniger, erstmals erschienen 1914, herausgegeben.18 In zeitlicher Nähe zum Freiburger „Versicherungswissenschaftlichen Seminar“ wurde im Jahre 1913 von Victor Ehrenberg als erstes Leipziger Institut der Juristenfakultät das „Institut für Versicherungswissenschaft“ gegründet.19 Schon vorher waren in Leipzig Vorlesungen zum Sozialversicherungsrecht angeboten worden. Sie beginnen im Wintersemester 1899 / 1900 mit einer Lehrveranstaltung zum Recht der Kranken-, Unfall-, Invaliden- und Altersversicherung von Häpe, einem bekannten Autor zum Krankenversicherungsrecht. Von Ehrenberg wurde ab dem Wintersemester 1911 / 1912 eine Vorlesung zum Versicherungsrecht – wohl vorwiegend zum Privatversicherungsrecht – angeboten. Jellinek, der als Privatdozent organisatorisch mit dem „Versicherungsrechtlichen Seminar“ verbunden und in die Prüfungskommission des Instituts berufen worden war, konnte die von ihm angekündigte Vorlesung zum Recht der Arbeiter- und Angestelltenversicherung und die versicherungsrechtlichen Übungen wegen seiner Berufung nach Kiel im Wintersemester 1913 / 1914 nicht halten. Diese Aufgabe wurde dem Privatdozenten Erwin Jacobi übertragen, der ab dem Sommersemester 1914 die Vorlesung zur „Arbeiter- und Angestelltenversicherung“ und die versicherungsrechtlichen Übungen planmäßig hielt.20 Eine Einbeziehung des Sozialversicherungsrechts in die universitäre Lehre war damit in Leipzig schon mit der Gründung des „Instituts für Versicherungswissenschaft“ herbeigeführt worden.
18 19
Mikesic, a. a. O., S. 110 f. Kern / Mannschatz, Die Geschichte des Instituts für Arbeits- und Sozialrecht, (mschr.),
S. 1. 20 Otto, Von der Eigenkirche zum Volkseigenen Betrieb: Erwin Jacobi (1884 – 1965), S. 27 f.; Gitter, a. a. O., S. 13.
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IV. Arbeitsrecht an den Universitäten – das Leipziger Institut für Arbeitsrecht als erstes Institut in Deutschland Das Arbeitsrecht als Gesamtrechtsgebiet ist von den Universitäten zunächst nicht in ihr Lehr- und Forschungsprogramm aufgenommen worden. Dies findet in folgender Feststellung Ausdruck: „Am längsten dauerte es, bis das Arbeitsrecht eine Heimstatt an den Universitäten fand.“21 Dabei wird Bezug genommen auf den Leitartikel der ersten Nummer der Zeitschrift „Arbeitsrecht“ vom Februar 1914, in dem betont wird, dass „die Universitäten bis heute nicht die Bedeutung des Arbeitsrecht gewürdigt“ hätten. Kritisiert wird vor allem, dass das Arbeitsrecht, obwohl es einen einheitlichen Lehrgegenstand bilde, in diesem Zusammenhang noch an keiner Universität vorgetragen werde.22 Als Grund dafür wurde in einem späteren Heft der Zeitschrift „Arbeitsrecht“ von Schücking23 angegeben, dass der Dozent des Öffentlichen Rechts nur über die öffentlich-rechtliche Seite des Arbeitsrechts, der Dozent des Privatrechts nur über das Privatrecht dieser Materie Vorlesungen halten dürfe. Gerade in der Tatsache, dass das Arbeitsrecht weder rein privatrechtlich noch rein öffentlich-rechtlich sei, liege die absolute Notwendigkeit begründet, daraus eine besondere Disziplin zu machen. Von der Leipziger Juristenfakultät sind diese Mängel erkannt und Initiativen zur Beseitigung ergriffen worden. Ausgangspunkt ist ein einstimmig gefasster Beschluss der Juristenfakultät vom 12. Juli 1919 „beim Ministerium des Kultus und öffentlichen Unterrichts die Gründung eines der juristischen Fakultät angegliederten Instituts für Gewerbe- und Arbeitsrecht in Anregung zu bringen“.24 Die Begründung des Antrags stützte Prodekan Koschaker im wesentlichen auf zwei Argumente: die fachübergreifende Natur des Arbeitsrechts und die notwendige Verknüpfung von Theorie und Praxis:25 „Das Rechtsgebiet, das man neuerdings gerne zusammenfassend als Arbeitsrecht bezeichnet, zerfällt in privatrechtliche, prozessuale, staats- und verwaltungsrechtliche Materien der verschiedensten Art. . . . Eine planmäßige wissenschaftliche Bearbeitung dieses Rechtsgebietes erscheint gegenwärtig dringend geboten . . . Geeignete Männer der Praxis sind zu beteiligen. . . . Dadurch wird es ermöglicht werden, dass die wissenschaftlichen Arbeiten sich im engen Anschluss an die lebendige Entwicklung vollziehen und so einen Einblick in diese gewähren. Durch die geeignete Verbindung von Wissenschaft und Praxis dürften die (im Institut abzuhaltenden) Übungen ein für die Gegenwart besonders Dubischar, a. a. O., S. 85. Unsere Aufgabe, in: Arbeitsrecht, Jahrbuch für das gesamte Dienstrecht der Arbeiter, Angestellten, Beamten, Jahrgang 1, Heft 1, S. 1. 23 Schücking, Die Disziplin des Arbeitsrechts und die juristischen Fakultäten, Arbeitsrecht, Jahrgang II, Heft 2, S. 218 ff. 24 Schreiben des Dekanats der Juristenfakultät an das Ministerium des Kultus und öffentlichen Unterrichts zu Dresden vom 18. 7. 1919, Sächs. HStA, Nr. 10200 / 41, Blatt 16. 25 Vgl. hierzu Kern / Mannschatz, a. a. O., S. 2. 21 22
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wichtiger Faktor für die Ausbildung von Juristen wie Volkswirtschaftlern werden. Die gemeinsame Arbeit von Vertretern des öffentlichen und privaten Rechts sowie Männern der Praxis ist nur in einem besonderen Institut für Gewerbe- und Arbeitsrecht möglich, das der juristischen Fakultät angegliedert werden müsste. . . .“. Diese überzeugende Begründung gab den Anstoß für die Errichtung des „Instituts für Arbeitsrecht“ in Leipzig, das Ostern 1921 seine Arbeit „als erstes derartiges Institut in Deutschland“26 aufnehmen konnte. Untergebracht war das Institut zunächst in den Räumen des „Instituts für Versicherungswissenschaft“, zu dem bereits vorher eine enge Beziehung bestand. Erster Institutsdirektor war der im Jahre 1921 zum Ordinarius für Öffentliches Recht, Arbeitsrecht und Kirchenrecht ernannte Erwin Jacobi,27 der schon mit seiner 1919 erschienenen „Einführung in das Gewerbe- und Arbeitsrecht“ zur dogmatischen Durchdringung der Arbeitsgesetzgebung beigetragen hatte. Er wird mit den bereits Genannten zu den „Gründerpersönlichkeiten“ des Arbeitsrechts gerechnet.28 V. Ziele der Arbeit des Leipziger Instituts und deren Verwirklichung Der Zweck des Instituts war in § 1 der Institutsordnung nicht so eingehend umschrieben wie im Antrag zur Gründung des Instituts.29 In § 1 der Institutsordnung heißt es, dass „den Studierenden die Möglichkeit einer vertieften wissenschaftlichen Ausbildung in allen Zweigen des Arbeitsrechts gewährt werden soll. Zum anderen soll Personen, die in der Praxis des Arbeitsrechts tätig sind oder gewesen sind, Gelegenheit zu einer wissenschaftlichen Erweiterung ihrer Berufsausbildung gewährt werden“. Zur Umsetzung dieser Ziele legte das „Institut für Arbeitsrecht“ in den Jahren 1922 bis 1924 ein komplettes Vorlesungsprogramm mit folgenden Veranstaltungen vor: Sozialversicherungsrecht, Betriebsrentengesetz, Tarifvertragsgesetz, Übungen zum Arbeitsrecht und Betriebsrentengesetz, Arbeitsschutz, später kamen Arbeitsgerichts- und Schlichtungsverfahren und Erwerbslosenfürsorge dazu. Im Sommersemester 1926 erhielt das „Arbeitsrecht“ im Vorlesungsverzeichnis eine eigene Sparte. Unter diesem Oberbegriff wurden die Vorlesungen zum Arbeitsrecht und Sozialversicherungsrecht vereinigt.30 Ersichtliches Ziel war 26 Kern / Mannschatz, a. a. O., S. 3; nach Schnorr, Erwin Jacobi zum Gedenken, in: RdA 1984, S. 359 f., 360 ist mit der Gründung des Leipziger Instituts für die arbeitsrechtliche Forschung „die erste Heimstätte auf deutschem Boden“ geschaffen worden. 27 Mikesic, a. a. O., S. 53; Inhaber der ersten arbeitsrechtlichen Professur in Deutschland war Walter Kaskel, der 1920 in Berlin den Lehrstuhl für Arbeitsrecht übernahm. Mikesic, a. a. O., S. 90, 106; nach Dubischar, a. a. O., S. 90 ist die Frage noch offen, wo und wann an den Universitäten erste arbeitsrechtliche Lehrstühle eingerichtet wurden. 28 Mikesic, a. a. O., S. 52. 29 Kern / Mannschatz, a. a. O., S. 4.
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es, das Sozialversicherungsrecht nicht als ein „Rechtsgebiet für sich“ erscheinen zu lassen. Jacobi brachte dies folgendermaßen zum Ausdruck: „Das Sozialversicherungsrecht gehört ins Arbeitsrecht und zwar nicht an den Schluss, sondern . . . mitten hinein.“31 Für das gesamte Arbeitsrecht betonte Jacobi, dass das Institut für Arbeitsrecht bemüht sei „die Verbindung des Arbeitsrechts mit dem Gesamtrechtssystem herauszuarbeiten, um so erst die wirklichen Besonderheiten des Arbeitsrechts ans Licht stellen und würdigen zu können.“32 Für die wissenschaftliche Behandlung des gesamten Arbeitsrechts ergab sich daraus das Erfordernis einer Beherrschung sowohl des Privatrechts wie des Öffentlichen Rechts. Jacobi betonte, dass diesem Erfordernis eine einzelne Persönlichkeit nur ganz ausnahmsweise gewachsen sein wird. Ihm ging es aber darum, das Recht der Sozialversicherung als den Teil des Arbeitsrechts, dessen Zusammenhang mit der besonderen Dogmatik des öffentlichen Rechts am offensichtlichsten ist, nicht aus dem Arbeitsrecht auszuklammern und an einen Vertreter des öffentlichen Rechts zu übertragen, sondern das Arbeitsrecht als Rechtsdisziplin von Vertretern des Privatrechts wie des öffentlichen Rechts nebeneinander zu behandeln.33 Diese Zielsetzung wurde im Institut für Arbeitsrecht umgesetzt, wie Jacobi in den „Grundlehren des Arbeitsrechts“ betonte.34 Am Institut für Arbeitsrecht bestand eine ordentliche Professur für Arbeitsrecht, die mit Erwin Jacobi als Vertreter des öffentlichen Rechts besetzt war, eine planmäßige außerordentliche Professur, die Erich Molitor als Vertreter des Privatrechts inne hatte und eine mit dem ÖffentlichRechtler Lutz Richter besetzte Assistentenstelle, die später in eine außerplanmäßige außerordentliche Professur umgewandelt wurde. Zu deren Zusammenwirken bemerkte Jacobi:35 „Die Grundlehren des Arbeitsrechts werden abwechselnd von allen drei Rechtslehrern vorgetragen; im übrigen wird der Rechtsstoff zwischen dem Vertreter des Arbeitsprivatrechts und den Vertretern des öffentlichen Arbeitsrechts aufgeteilt, selbstverständlich unter Einbeziehung der Sozialversicherung. An den das gesamte Arbeitsrecht umfassenden gemeinschaftlichen seminaristischen Übungen des Instituts für Arbeitsrecht sind alle drei Rechtslehrer beteiligt und in jeder Übungsstunde gleichzeitig anwesend. Daneben erscheinen noch Übungen des einzelnen Dozenten für sein Spezialgebiet.“ Auf diese Weise wurde dem in § 1 der Institutsordnung genannten Zweck einer vertieften wissenschaftlichen Ausbildung der Studierenden in allen Zweigen des Arbeitsrechts Rechnung getragen. Zur Erfüllung des weiteren Institutszwecks, Praktikern oder ehemaligen Praktikern des Arbeitsrechts Gelegenheit zu einer wissenschaftlichen Erweiterung ihrer Kenntnisse zu geben, wurden vom Institut für 30 31 32 33 34 35
Mikesic, a. a. O., S. 107 f. Jacobi, Grundlehren des Arbeitsrechts, 1927, S. 75. Jacobi, a. a. O., S. 2 Anm. 3. Jacobi, a. a. O., S. 75. A. a. O., S. 75, Anm. 25. A. a. O., S. 75, Anm. 25.
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Arbeitsrecht gemeinsame Übungen unter Beteiligung von Vertretern der Praxis durchgeführt.36 Lutz Richter37 hat dazu wie folgt Stellung genommen: „Das Handin-Hand-Arbeiten von Theoretikern des Öffentlichen und des privaten Rechts und von Praktikern der verschiedensten Richtungen sichert eine allseitige Beleuchtung des Erörterungsgegenstandes. Jeweils wird ein in sich abgeschlossenes Thema aus dem gesamten Gebiet des Arbeitsrechts (einschließlich der Sozialversicherung) in Vortrag und Aussprache erörtert. Die Vorträge werden gewöhnlich von Studierenden oder von Dozenten des Instituts bestritten. Nach Gelegenheit und Mitteln werden aber auch namhafte auswärtige Vertreter des Arbeitsrechts um Vorträge gebeten“. Die Liste derer, die im Institut für Arbeitsrecht in den ersten fünf Jahren seit der Gründung Vorträge gehalten haben, bestätigt, dass es gelungen ist, alle, die auf dem Gebiet des Arbeitsrechts, Sozialrechts, Versicherungsrechts und Handels- und Gewerberechts Rang und Namen hatten, für die Mitarbeit zu gewinnen. Von den Vortragenden seien nur die bekanntesten Kaskel, Hueck, Nipperdey, Potthoff, Nickisch, Cahn-Freund, Sinzheimer und Rosenstock genannt.38 Neben den Hochschullehrern waren aber auch Rechtsanwälte, Gerichts- und Regierungsräte sowie Gewerkschaftsangestellte und Unternehmer als Vortragende in die Institutsarbeit einbezogen. Vom späteren Vorsitzenden des Landesarbeitsgerichts Leipzig, Carl Wunderlich, wurden Besprechungen praktischer Arbeitsrechtsfälle abgehalten. Nach Verabschiedung des Arbeitsgerichtsgesetzes im Dezember 1926 wurde im folgenden Jahr ein „Einschulungskurs für die künftigen Vorsitzenden der Arbeitsgerichte und Landesarbeitsgerichte“ durchgeführt.39 Dieser knappe Überblick über Veranstaltungen für Studierende und Praktiker macht deutlich, in welch hohem Maße die Arbeit des Instituts darauf ausgerichtet war, das Arbeitsrecht umfassend in der Lehre zu vermitteln.40 Über die Forschungsarbeit geben zunächst die „Schriften des Instituts für Arbeitsrecht an der Universität Leipzig“41 Aufschluss. In dieser Schriftenreihe haben Lutz Richter, Arbeitsrecht als Rechtsbegriff 1923, Heinz Potthoff, Die Einwirkung der Reichsverfassung auf das Arbeitsrecht 1925, Erwin Molitor, Das Wesen des Arbeitsvertrags 1925 und Artur Nickisch, Die Grundformen des Arbeitsvertrags und der Anstellungsvertrag 1926 ihre Untersuchungen zu grundlegenden Fragen des Arbeitsrechts publiziert. Die weiteren Bände der Schriftenreihe befassten sich mit Einzelfragen des Individualarbeitsrechts, des Tarifvertragsrechts, des Arbeitszeitrechts, des Arbeitsgerichtsverfahrens und verschiedener Zweige des Sozialversicherungsrechts. Vgl. dazu Kern / Mannschatz, a. a. O., S. 6. Institut für Arbeitsrecht an der Universität Leipzig, JW 1928, S. 609 f. 38 Mikesic, a. a. O., S. 114; Kern / Mannschatz, a. a. O., S. 6. 39 Kern / Mannschatz, a. a. O., S. 7. 40 Mikesic, a. a. O., S. 114 bezeichnet den Unterricht als den „produktiven Kern der Institutsaktivitäten“. 41 Zusammenstellung aller Schriften dieser Reihe bei Mikesic, a. a. O., S. 206 f. 36 37
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Besondere Bedeutung kommt den Publikationen von Erwin Jacobi42 und Lutz Richter43 zu. Allerdings lassen sich für den Bereich der Forschung gewisse Schwerpunkte feststellen. Während Jacobi und Richter Lehrveranstaltungen sowohl im Arbeitsrecht als auch im Sozialversicherungsrecht durchführten, zeichnet sich im Forschungsbereich eine gewisse „Arbeitsteilung“ zwischen beiden ab:44 Jacobi setzt sich in erster Linie mit den Problemen des Arbeitsrechts, Richter mit den Problemen des Sozialversicherungsrechts auseinander. Im Vorwort zu seinem großen Lehrbuch „Grundlehren des Arbeitsrechts, 1927“ hat Jacobi folgendes bemerkt:45 „Die junge Wissenschaft des Arbeitsrechts hat das Stadium der Sammlung und ersten systematischen Ordnung des Rechtsstoffs, das ich seinerzeit mit meiner „Einführung in das Gewerbe- und Arbeitsrecht“ eröffnet habe, mit dem in diesem Sinne abschließenden „Arbeitsrecht“ von Walter Kaskel beendet. Nun gilt es, im Wege der Einzeluntersuchung die wissenschaftliche Erkenntnis zu vertiefen. Dieses Ziel stecken sich die Arbeiten des von mir geleiteten Instituts für Arbeitsrecht an der Universität Leipzig, dessen Schriftenreihe den arbeitsrechtlichen Einzeldarstellungen eine Stätte bereiten soll. Ein tieferes wissenschaftliches Eindringen in den Rechtsstoff erstrebt auch das vorliegende Buch, das seinen monographischen Charakter nicht verleugnet.“ Jacobi verstand sein Lehrbuch danach als monographische Studie zu den Grundlagen des Arbeitsrechts als eigenständige Disziplin.46 Unter diesem Aspekt vertritt er seine Grundthesen: Die Differenzierung zwischen öffentlichem und privaten Recht muss bestehen bleiben. Eine Abdrängung des gesamten Arbeitsrechts in das öffentliche Recht muss verhindert werden. Das Arbeitsrecht enthält vielmehr Elemente von öffentlichem und privatem Recht, aber eine Verschmelzung zu einem „einartigen Recht“ findet nicht statt. Vielmehr wird privates wie öffentliches Recht durch die arbeitsrechtliche Entwicklung befruchtet. Öffentlich-rechtlichen Neubildungen stehen ebenso wichtige Neubildungen privatrechtlicher Art gegenüber. Bei der Sozialversicherung, die notwendiger Bestandteil des Arbeitsrechts ist, werden öffentliche Rechtsverhältnisse begründet, die der Wohlfahrtspflege dienen. Der Begriff des Sozialrechts wird nicht im Sinne eines Zwischengebiets zwischen privatem und öffentlichem Recht verstanden, sondern als Bezeichnung für das Recht „insoweit es Beziehungen der menschlichen Willensträger als Gemeinschaftswesen ordnet.“47 Dazu gehören sowohl die öffentlich-rechtlichen Rechtssätze des Arbeitsrechts wie auch des Privatrechts, soweit sie sich mit privatrechtlichen Verbänden und Personenvielheiten befassen, wie das bei Gesamtvereinbarungen, Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen der Fall ist. 42 43 44 45 46 47
Mikesic, a. a. O., S. 211 ff. Mikesic, a. a. O., S. 214 ff. Mikesic, a. a. O., S. 114. A. a. O., S. V. Mikesic, a. a. O., S. 56 f.; Jacobi, a. a. O., S. 377 ff., 410 ff., 421 ff. Jacobi, a. a. O., S. 424.
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Dieser Teil des Arbeitsrechts wird schwerpunktmäßig in den „Grundlehren des Arbeitsrechts“ behandelt. Dabei setzt sich Jacobi eingehend mit der Rechtsnatur des Tarifvertrags48 und der Betriebsvereinbarungen49 auseinander. Ausgehend vom Rechtssetzungsmonopol des Staates hält er es für unzulässig, die Rechtsgestaltung durch Tarifvertrag und Betriebsvereinbarung als Rechtssetzung zu qualifizieren. Er sieht vielmehr in beiden „neuartige kollektive Rechtsgeschäfte des Privatrechts“, wobei er die Betriebsvereinbarung als einseitig kollektive Regelungsvereinbarung, den Firmentarif als einseitig kollektiven und den Verbandstarif als zweiseitig kollektiven Schuldvertrag bezeichnet.50 Insgesamt gesehen geht es Jacobi, wie diese Ausschnitte aus seinen „Grundlehren des Arbeitsrechts“ zeigen, darum, ein arbeitsrechtliches System zu schaffen und ihm ein rechtsdogmatisches Fundament zu geben.51 Zugleich verfolgt er eine klare und doch behutsame Abgrenzung zwischen Arbeitsrecht und Sozialrecht unter Betonung der gemeinsamen Wurzeln.52 Für Lutz Richter ist sein Lehrbuch „Sozialversicherungsrecht“ von 1931 die herausragende Publikation. Er beginnt die Gesamtdarstellung dieses Rechtsgebietes mit der Feststellung, dass die Zuordnung der Sozialversicherung zum öffentlichen Recht heute unbestritten sei.53 Zwar kämen auch privatrechtliche Beziehungen der Träger vor, diese seien aber für den Gesamtcharakter des Sozialversicherungsrechts ohne Bedeutung. In Übereinstimmung mit Jacobi geht Richter davon aus, dass das Sozialversicherungsrecht zum Arbeitsrecht gehört, dort aber ein verhältnismäßig eigenständiges Teilgebiet sei. Die Einordnung des Sozialversicherungsrechts als Teildisziplin des Arbeitsrechts stützt Richter darauf, dass es das Grundverhältnis der Arbeitnehmer und Arbeitgeber zum Staat ausdrückt und zur Untergruppe des Rechts der Wohlfahrtspflege innerhalb des Arbeitsverwaltungsrechts gehört.54 Nach diesen systematischen Grundfragen setzt sich Richter eingehend mit den Versicherungsträgern auseinander, ihrer Verfassung (Art der Trägerschaft, Errichtung und Auflösung, innere Verfassung), ihren Geschäften (Rechtsverhältnisse gegenüber den Versicherten, Beitrags- und Leistungsverhältnis) und ihrer inneren Verwaltung. Im Anschluss behandelt Richter die einzelnen Versicherungszweige nicht getrennt, sondern integriert unter dem Kapitel „Leistungsverhältnis“ als „Geschäft der Versicherungsträger“. Richters Ziel war es dabei, „geläufige, aus den Rechtsquellen bekannte Zusammenhänge“ aufzulockern und „geistige Verbin48 49 50 51 52 53 54
Jacobi, a. a. O., S. 246 ff. Jacobi, a. a. O., S. 344 ff. Jacobi, a. a. O., S. 353. Schnorr, RdA 1984, S. 359. Mikesic, a. a. O., S. 52. Richter, Sozialversicherungsrecht, S. 8. Mikesic, a. a. O., S. 74.
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dungslinien durch den ganzen überreichen Stoff der äußerlich geschiedenen Sozialversicherungsgesetze hindurch“ zu legen.55 Man wird die Feststellung treffen können, dass es Richter hervorragend verstanden hat, diese geistigen Verbindungslinien zwischen den einzelnen Versicherungszweigen herzustellen, gemeinsame Begriffe zu erarbeiten und rechtssystematische Zusammenhänge aufzudecken. Sein Lehrbuch gehört daher zu den „Klassikern des Sozialversicherungsrechts“.56 Durch ihr wissenschaftliches Werk und ihr fachliches und persönliches Zusammenwirken haben Jacobi und Richter die Arbeit des Instituts für Arbeitsrecht über Jahre maßgeblich beeinflusst. Das Ergebnis dieser Arbeit ist so umschrieben worden, dass Jacobi „zusammen mit seinen Leipziger Mitstreitern der gesamten Materie – Arbeits- wie Sozialrecht – Ordnung und Struktur aufgeprägt“ haben.57 VI. Die Arbeit des Instituts in der Zeit des Nationalsozialismus Ein tiefer Einschnitt in die Entwicklung des Instituts erfolgt durch die Entlassung Erwin Jacobis aus dem Staatsdienst aufgrund des berüchtigten Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. 4. 1933. Im Sommersemester 1933 hat Jacobi noch die „Gemeinschaftlichen Übungen“ des Instituts durchgeführt. Nach den Protokollen hat er dabei zum Ausdruck gebracht, dass er sich vom „Neuaufbau des Arbeitsrechts“ Kodifikationen erhofft, zu denen es in der Weimarer Republik nicht gekommen war. Kritisiert wurde von studentischer Seite Jacobis Berufsbegriff und seine Unterscheidung von Berufs-, Arbeitgeber-, Arbeitnehmer- und Wirtschaftsverbänden. Kritik wurde von den Studenten auch daran geübt, dass Jacobi „im Gegensatz zum Arbeitsgemeinschaftsgedanken“ an der „kontradiktorischen Gestaltung des Arbeitsrechts“ festhalten wolle.58 Mit diesen „Gemeinschaftlichen Übungen“ endet zunächst die Lehrtätigkeit Erwin Jacobis an der Leipziger Juristenfakultät.59 Für das Wintersemester 1933 / 34 finden sich für Jacobi keine Eintragungen im Vorlesungsverzeichnis. Durch die Versetzung in den Ruhestand ist zugleich seine Tätigkeit als Direktor des Instituts für Arbeitsrecht beendet. Die Leitung des Instituts wurde, obwohl es nahegelegen hätte, nicht Lutz Richter übertragen.60 Der Grund dafür war die politische Gesinnung Richters. Er war weder Mitglied der NSdAP noch einer ihrer Unterorganisationen und galt daher als 55 56 57 58 59 60
Richter, a. a. O., Vorwort. Gitter, in: Universität Leipzig, Heft 4 / 1994, S. 14. Mikesic, a. a. O., S. 52. Otto, a. a. O., S. 236 f. Otto, a. a. O., S. 240; Jacobi datiert das Ende seiner Lehrtätigkeit auf „September 1933“. Vgl. zum folgenden mit Nachweisen: Kern / Mannschatz, a. a. O., S. 10 ff.
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„politisch unzuverlässig“. Nachdem zunächst Dekan Koschaker die kommissarische Leitung des Instituts übernommen hatte, wurde am 14. Juni 1935 Richter doch zumindest mit der Geschäftsführung des Instituts beauftragt. Diese Aufgabe übte er bis zu seiner Übersiedlung nach Königsberg im Jahre 1944 aus. Forschung und Lehre des Instituts wurden durch den politischen Umbruch des Jahres 1933 maßgeblich geprägt. Zwar konnten alle bisherigen Unterrichtsformen bis zum Kriegsbeginn, danach nur mit unterschiedlich starken Beeinträchtigungen angeboten werden,61 aber es dominierte die ideologische Ausrichtung. Das zeigte sich auch bei den Themen der Untersuchungen, die in der Schriftenreihe veröffentlicht wurden. Die Themen waren überwiegend dem nationalsozialistischen Arbeitsrecht entnommen, etwa die Untersuchungen über den Treuhänder der Arbeit und zu speziellen Problemen des „Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit“. Im Institut wurde eine „selbständige Fachbibliothek“ aufgebaut, die im Jahre 1941 über 6.000 Bände, einen breit ausgebauten systematischen Handapparat, eine systematisch geordnete Sammlung von Entscheidungen und eine ebenso geordnete, sehr umfangreiche arbeitsrechtliche Materialsammlung verfügte.62 Durch den Luftangriff am 4. Dezember 1943 erlitten das Juridicum und mit ihm das Institut „allerschwersten Schaden“. Nur der systematische Katalog, der wissenschaftliche Handapparat des Instituts konnte geborgen werden. Das Institut fand mit dem Juridicum ein vorläufiges Unterkommen in der Hochschule für Musik in der Grassistraße.63 VII. Das Institut für Arbeitsrecht nach Kriegsende und nach der Gründung der DDR Unmittelbar nach Kriegsende wurde Arthur Nikisch vom Rektor der Universität Leipzig mit Wirkung vom 1. Juli 1945 zum Institutsdirektor bestellt. Damit war im Hinblick auf die vorherige Tätigkeit von Nikisch im Institut eine „erstaunliche personelle Identität“64 gegeben. Bereits am 1. November 1945 wurde Erwin Jacobi, der das Dritte Reich unbeschadet an Leib und Leben als freier Mitarbeiter eines Rechtsanwalts am Reichsgericht überstanden hatte, zum Mitdirektor ernannt. Nach der Übersiedlung von Nikisch nach Westdeutschland im März 1950 übernahm Jacobi die alleinige Direktion, die er bis zu seiner Emeritierung am 1. März 1958 inne hatte. Mit der Arbeit des Instituts wurde bereits im WS 1945 / 46, noch vor der offiziellen Wiedereröffnung der Fakultät am 5. Februar 1946 begonnen.65 Es wurden 61 62 63 64 65
Kern / Mannschatz, a. a. O., S. 12; Mikesic, a. a. O., S. 106. Vgl. die Nachweise bei Kern / Mannschatz, a. a. O., S. 11. Kern / Mannschatz, a. a. O., S. 12. Kern / Mannschatz, a. a. O., S. 14. Kern / Mannschatz, a. a. O., S. 15.
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Gemeinschaftliche Übungen „in alter Form mit etwa 100 Teilnehmern“ wieder durchgeführt. Dabei zählten zu den Teilnehmern „die neuen Arbeiterstudenten, die – nach Auffassung Jacobis – „hier an ihre eigene soziale Erfahrung anknüpfen und so am leichtesten den Zugang zum Recht finden“ sollten. Zugleich wurden in Form von freien Aussprachen die neuen Gewerkschaften, die neue Sozialversicherung, Kündigungsfragen und das Deutsche Arbeitsgerichtsgesetz des Kontrollrats vom 30. März 1946 besprochen. Jacobi hat diese Übungen bis zu seiner Emeritierung und sogar noch eine kurze Zeit danach abgehalten. Mit der Emeritierung war für Jacobi eine besondere Ehrung verbunden. Ihm wurde aus Anlass des 50. Doktorjubiläums eine Festschrift überreicht – ein für die DDR ungewöhnlicher Vorgang66. In dieser Festschrift sind Beiträge zu allen im Lebenswerk Jacobis bearbeiteten Themen, soweit diese im Rahmen der Rechtswissenschaft der DDR Platz gefunden hatten, enthalten67. Das Arbeitsrecht hatte dabei ein hohes Gewicht. Hervorzuheben ist der Beitrag des Schülers von Jacobi, Rudolf Schneider zum Thema „Zu den bürgerlichen Theorien über den Arbeitsvertrag im Kapitalismus bis zur Jahrhundertwende“68. Mit der Rechtsnatur der Sozialversicherung hat sich Heinz Paul in seinem Beitrag „Von der Sozialversicherung zur Sozialversorgung“69 auseinandergesetzt. Dabei sieht er in der Debatte um die Rechtsnatur der Sozialversicherung ein überwundenes Problem der bürgerlichen Gesellschaft und interpretiert Jacobis Ablehnung des Versicherungscharakters der Sozialversicherung im Sinne eines „avantgardistischen Vorreiters für eine neu zu gestaltende Gesellschaft“. Im sozialen Sicherungssystem in dieser Gesellschaft seien keinerlei privatrechtliche Versicherungselemente mehr nötig, maßgebend für die Versorgung sei allein, was der Arbeiter oder Angestellte für die Gesellschaft geleistet hat, wobei dieser Maßstab nicht näher bestimmt wird. Jacobi selbst hat vor seiner Emeritierung nur noch wenige Beiträge zum Arbeitsrecht verfasst70, so etwa den Beitrag „Arbeitsstreitigkeiten“ im Handwörterbuch der Sozialwissenschaften und den Aufsatz „Kollektivverträge im deutschen Arbeitsrecht“, beides im Jahr 1954. Zum Sozialversicherungsrecht hat er nichts mehr veröffentlicht. Durch die Emeritierung Jacobis zum 1. März 1958 ergab sich die Notwendigkeit, einen Nachfolger als Leiter des Instituts für Arbeitsrecht einzusetzen. Mit dieser Aufgabe wurde der Schüler Jacobis, Erhard Pätzold71 betraut. Für die Institutsarbeit stand das neue sozialistische Arbeitsrecht im Mittelpunkt. Die folgenden Arbeitsgebiete wurden 1963 vom Institut benannt:72 „Aufgaben und 66 67 68 69 70 71
Otto, a. a. O., S. 367. Mikesic, a. a. O., S. 61. Festschrift für Erwin Jacobi, S. 362 – 389, Otto, a. a. O., S. 369. Festschrift für Erwin Jacobi, S. 390 – 427, Mikesic, a. a. O., S. 61. Mikesic, a. a. O., S. 60. Zu Person und Werdegang Pätzolds vgl. Otto, a. a. O., S. 362 Anm. 17.
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Funktionen des Arbeitsrechts beim Aufbau des Sozialismus in der DDR und bei Lösung der nationalen Frage in Deutschland, Leitung des sozialistischen Betriebes nach dem Prinzip des demokratischen Zentralismus, Arbeitsvertrag – Arbeitslohn – Berufsausübung und Qualifizierung – Arbeitszeit – Erholungsurlaub – Gesundheits- und Arbeitsschutz und Sozialversicherung – Arbeitsdisziplin – Kulturelle und sportliche Betätigung – soziale Betreuung im Betrieb – Förderung der werktätigen Frauen, Förderung der Jugend – Entscheidung bei Arbeitsstreitigkeiten, Aufgaben des Arbeitsrechts in den halbstaatlichen und privaten Betrieben.“ Diese Rechtsgebiete waren Gegenstand der Vorlesungen, dagegen erscheinen die Gemeinsamen Übungen nicht mehr im Lehrangebot. Stattdessen wurden arbeitsrechtliche Seminare veranstaltet, in denen Schwerpunkte der Vorlesungen anhand von Fällen nachgearbeitet wurden73. Durch die Hochschulreform von 1969 / 70 und die damit verbundene Umwandlung der Juristenfakultät in die „Sektion Rechtswissenschaft“, der die gegenüber der früheren umfassenden Juristenausbildung eingeschränkte Ausbildung von Wirtschaftsjuristen oblag, wurde auch das Institut für Arbeitsrecht betroffen. Zwar wurde das Arbeitsrecht – wie die Rechtsgebiete der anderen Institute und Lehrstühle – als Wissenschaftsbereich weitergeführt, aber formal bedeutete dies das Ende des Instituts. Im Vorlesungs- und Personalverzeichnis der folgenden Studienjahre wurde das Institut für Arbeitsrecht nicht mehr benannt. Grundlegende Konsequenzen für die wissenschaftliche Arbeit waren damit aber offenbar nicht verbunden.74 Zum 100. Geburtstag Jacobis im Jahre 1984, der mit dem 575. Jubiläum der Leipziger Universität zusammenfiel, veranstaltete Erhard Pätzold mit der „Sektion Rechtswissenschaft“ am 18. 1. 1984 ein arbeitsrechtliches Colloquium mit Beiträgen mehrerer Arbeitsrechtswissenschaftler75. Die von Pätzold als „Ehrenvortrag“ gehaltene biographische Würdigung Jacobis war die Grundlage für einen Beitrag zum mehrbändigen Werk „Namhafte Hochschullehrer der Karl-Marx-Universität Leipzig“76. Teile dieses Vortrags wurden allerdings nicht in die Druckfassung übernommen77. So wurde der Hinweis auf das Ende der gemeinsamen Übungen, „als die Gewerkschaften, die Betriebe und Institutionen eigene umfassende Schulungssysteme und Bildungseinrichtungen auf dem Gebiet des Arbeitsrechts eingerichtet hatten und die Wissenschaftler dort die rechtspropagandistische Arbeit übernehmen konnten“, gestrichen. Auch Inhaltsangaben zu den arbeitsrechtlichen Schriften Jacobis aus der Weimarer Republik wurden gestrichen. Besonders problematisch erscheinen die Äußerungen Pätzolds zum Arbeitsrecht als selbständige 72 73 74 75 76 77
Kern / Mannschatz, a. a. O., S. 16. Kern / Mannschatz, a. a. O., S. 16. Kern / Mannschatz, a. a. O., S. 14 f. Otto, a. a. O., S. 408 f., Tagungsbericht von Spalteholz, in: SuR 1984, S. 426 f. Erhard Pätzold, Erwin Jacobi (1884 – 1965), in: Band 3, S. 58 – 67. Otto, a. a. O., S. 408.
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Rechtsdisziplin. In seinem Vortrag war er davon ausgegangen, „die Ablehnung der Selbständigkeit des Arbeitsrechts, seine teilweise Behandlung als öffentliches Recht und damit dem Staat der Bourgeoisie vorbehalten und andernteils als Zivilrecht und somit der formalen Rechtsgleichheit zugeschrieben“ seien „Teil des Klassenkampfes, der vor allem nach dem Ersten Weltkrieg zu führen war“ gewesen. In seinem Bericht über das Colloquium78 hat er ausgeführt, dass Jacobi den Boden für den erforderlichen Schritt zur Herauslösung des Arbeitsrechts aus dem öffentlichen Recht und dem Zivilrecht sowie seine Verselbständigung als eigener Rechtszweig wissenschaftlich geebnet habe. Eine derartige Herauslösung hat aber Jacobi niemals vertreten. Er hat vielmehr betont, dass das Arbeitsrecht Elemente von öffentlichem und privatem Recht enthalte. Für eine „Verselbständigung“ im Sinne Pätzolds ist er nie eingetreten. Pätzold war für den Wissenschaftsbereich Arbeitsrecht bis zu seinem Ausscheiden im Jahr 1987 zuständig. Danach übernahm Robert Heuse den Wissenschaftsbereich und führte die arbeitsrechtlichen Lehrveranstaltungen bis zur Abwicklung der Sektion Rechtswissenschaft infolge der Revolution 1989 durch.79 VIII. Arbeits- und Sozialrecht an der Juristenfakultät nach der Wende Nach der Wende war es ein vorrangiges Ziel der Gründungskommission, den akademischen Unterricht in allen Rechtsgebieten aufrecht zu erhalten. Um dieses Ziel zu erreichen, haben sich eine Reihe westdeutscher Kollegen bereit erklärt, Lehrveranstaltungen zu übernehmen. Im Arbeitsrecht haben die Professoren Konzen / Mainz und Gitter / Bayreuth gemeinsam mit Prof. Heuse in den Jahren 1991 / 92 Lehrveranstaltungen durchgeführt. In den Jahren 1992 / 1993 haben die Professoren Gitter und Hromadka / Passau das Arbeitsrecht in der Lehre vertreten. Im Sozialrecht konnten nicht durchgehend Lehrveranstaltungen angeboten werden. Besonders hervorzuheben ist aber, dass im Sommersemester 1992 der Präsident des Bundessozialgerichts, Prof. Reiter und Prof. Schulin / Konstanz Vorlesungen im Sozialrecht hielten. Im Sommersemester 1993 hat Prof. Gitter diese Vorlesung wieder übernommen. Nach der Wiedererrichtung der Juristenfakultät am 26. April 1993 und der Neubesetzung der Lehrstühle konnte wieder eine planmäßige Durchführung der Lehrveranstaltungen erfolgen. Prof. Häuser wurde auf den Lehrstuhl für „Bürgerliches Recht, Arbeitsrecht, Handels- und Gesellschaftsrecht“ berufen und hat, obwohl der Lehrstuhl primär auf das Handels- und Gesellschaftsrecht ausgerichtet war, ab 78 Pätzold, Ein Leben im Dienst der Entwicklung der Rechtswissenschaft – zum 100. Geburtstag von Erwin Jacobi, in: SuR 1984, S. 123 ff., 127. 79 Kern / Mannschatz, a. a. O., S. 15.
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Wintersemester 1993 / 94 planmäßig auch Lehrveranstaltungen im Arbeitsrecht durchgeführt. Im Sommersemester 1997 erfolgte die Besetzung des Lehrstuhls „Bürgerliches Recht, Arbeits- und Sozialrecht“ mit Prof. Boemke, für den seit seiner Habilitation an der Universität Heidelberg das Arbeitsrecht im Mittelpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit stand. Damit waren wieder die Voraussetzungen für die umfassende Vertretung des Arbeitsrechts an der Juristenfakultät geschaffen. IX. Das Institut für Arbeits- und Sozialrecht 1. Gründung Der Wiederaufbau der Juristenfakultät, der von den neuberufenen Professoren mit großem Engagement vorgenommen wurde, verfolgte das Ziel, wieder ein Profil der Fakultät mit der Bildung von Schwerpunkten in Forschung und Lehre zu entwickeln. In diese Zielsetzung fügte sich der Vorschlag der Kollegen des Zivilrechts vom 21. Juli 1998 ein, die Gründung eines Instituts für Arbeits- und Sozialrecht zu beantragen. Dieser Vorschlag wurde bereits in der Fakultätssitzung am 22. Juli 1998 einstimmig, ohne Enthaltungen vom Fakultätsrat der Juristenfakultät angenommen und mit dem von Prof. Boemke eingereichten Arbeits- und Forschungsplan des zu gründenden Instituts an den Prorektor für Universitätsentwicklung Prof. Blaschczok weitergeleitet. Nach der vom Rektoratskollegium beschlossenen Gründung des Instituts für Arbeits- und Sozialrecht in der Juristenfakultät genehmigte der Sächsische Staatsminister für Wissenschaft und Kunst, Prof. Meyer, mit Schreiben vom 7. Dezember 1998 die Gründung. In der Akademischen Feier aus Anlass der Gründung des Instituts am 1. Dezember 1999 hob der Rektor der Universität Leipzig, Prof. Bigl, hervor, dass damit die „Wiedererrichtung“ eines Instituts stattfinde, das in der relativ kurzen Zeit seines Bestehens eine Bedeutung erlangt habe, die es erlaubt, von einer großen Tradition zu sprechen. Der Dekan der Juristenfakultät, Prof. Häuser, betonte, dass bei den Überlegungen zur Struktur der Fakultät von Anfang an eine besondere Rolle gespielt habe, dass die Pflege des Arbeits- und Sozialrechts in Leipzig vor allem in der Zwischenkriegszeit auf eine herausragende Tradition zurückblicken kann. Man könne deshalb auch behaupten, dass „in Leipzig eine Wiege des modernen Arbeitsrechts als einer selbständigen Rechtsdisziplin“ stand. Mit dieser Formulierung wird treffend die historische Situation gekennzeichnet, die für das Leipziger Institut für Arbeitsrecht bestimmend war. Dessen Arbeit war von Anfang an darauf gerichtet, das „moderne Arbeitsrecht“ in aller Breite ohne Beschränkung auf zivil- oder öffentlich-rechtliche Teilbereiche zu erforschen. Dass bei der „Wiedererrichtung“ nicht die Bezeichnung „Institut für Arbeitsrecht“ gewählt wurde, erscheint aber überzeugend, da damit aus heutiger Sicht eine Verengung des Forschungsbereichs hätte verbunden werden können. Es sollte aber
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auch – wie sich aus dem von Prof. Boemke eingereichten Arbeits- und Forschungsplan ergab – das „Sozialrecht unabhängig von der schillernden Vielfalt der Definitionsbemühungen“ – mit in den Arbeitsbereich des Instituts einbezogen werden. Dabei wurde als Sozialrecht „eher pragmatisch die weitgehend dem öffentlichen Recht zuzuordnende Gesamtheit der Gebiete Sozialversicherung, Soziale Entschädigung und Soziale Förderung und Hilfe, wobei das Hauptaugenmerk der praktischen Arbeit auf dem Sozialversicherungsrecht, insbesondere dessen Schnittpunkten zum Arbeitsrecht und auf dem Sozialhilferecht liegt“, verstanden. Letztlich war damit eine weitgehende Identität der Arbeitsbereiche des historischen und des neuen Instituts unter Berücksichtigung der Rechtsentwicklung umschrieben, die zu Recht als „Wiedererrichtung“ bezeichnet werden konnte. 2. Aufgaben Die „Pflege und Fortsetzung der Tradition des früheren Instituts für Arbeitsrecht an der Universität Leipzig“ ist in der neuen Institutsordnung (§ 2 Ziff. 6) ausdrücklich als Aufgabe des Instituts bezeichnet worden. Da die Aufgabe des Instituts für Arbeitsrecht durch grundsätzliche Auseinandersetzungen und Weiterentwicklungen der neuen Rechtsgebiete gekennzeichnet war, ist diese Aufgabe auch dem Institut für Arbeits- und Sozialrecht zugewiesen. Diese Zielrichtung soll auch im Rahmen der zentralen Aufgabe des Instituts, der „wissenschaftlichen Forschung und Lehre auf dem Gebiet des Arbeits- und Sozialrechts, der zugehörigen Verfahrensrechte, des internationalen Arbeits- und Sozialrechts einschließlich der Rechtsvergleichung auf diesem Gebiet sowie der Rechtsvereinheitlichung arbeits- und sozialrechtlicher Standards in Europa (§ 2 Ziff. 1) Berücksichtigung finden. Bei zwei weiteren in der Institutsordnung genannten Aufgabenbereichen sind deutliche Übereinstimmungen mit den vom Institut für Arbeitsrecht verfolgten Zielsetzungen zu erkennen. So soll nach § 2 Ziff. 2 der Institutsordnung die „Kooperation mit den an den Forschungsgegenständen des Instituts interessierten Kreisen, Berufszweigen, Verbänden und sonstigen Institutionen in Gesellschaft, Wirtschaft und Staat“ erfolgen. In § 2 Ziff. 3 ist „die Fortbildung der in der Praxis mit den Gebieten der Forschungsgegenstände des Instituts befassten Berufszweige und Verbände“ zur Aufgabe des Instituts für Arbeits- und Sozialrecht erklärt worden. Sowohl die Kooperation mit den Praktikern des Arbeitsrechts und ihren Verbänden als auch deren Fortbildung waren vom Institut für Arbeitsrecht als zentrale Aufgaben angesehen worden. Der weitere in § 2 Ziff. 4 der Institutsordnung angesprochene Arbeitsbereich, „die Förderung der wissenschaftlichen Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Arbeits- und Sozialrechts im In- und Ausland sowie die Förderung des Wissenstransfers zwischen Theorie und Praxis im Sinne eines modernen Wissenschaftsverständnisses“ war dagegen – speziell im Hinblick auf die auslandsbezogene Zusammenarbeit – für das Institut für Arbeitsrecht noch nicht bestimmend. Dagegen wird in § 2 Ziff. 4 der Institutsordnung mit der „Herausgabe der
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Schriftenreihe des Instituts“ wieder ausdrücklich an die „vormalige Schriftenreihe des ehemaligen Instituts für Arbeitsrecht an der Universität Leipzig“ angeknüpft. Seit seiner Gründung war die Arbeit des Instituts für Arbeits- und Sozialrecht auf die Erfüllung dieser Zielvorstellungen ausgerichtet. Als Vorlesungen wurde durchgehend im Semesterwechsel Individualarbeitsrecht und Kollektives Arbeitsrecht sowie einmal im Studienjahr das Sozialversicherungsrecht angeboten. Daneben wurde eine Übung zum Arbeitsrecht durchgeführt und in jedem Semester fand ein Seminar im Arbeitsrecht statt. Seit im Jahre 2005 von der Fakultät eine Umstellung auf den Schwerpunktbereich Unternehmen – Arbeit – Steuern vorgenommen wurde, werden in jedem Semester auf diesen Schwerpunktbereich zugeschnittene Vorlesungen angeboten. Dazu gehören „Betriebsverfassungsrecht, Koalitionsrecht (Tarifvertrag- und Arbeitskampfrecht), Unternehmensmitbestimmung, grenzüberschreitender Arbeitnehmereinsatz, arbeitsgerichtliches Verfahren, Sozialrecht und Europäisches Arbeitsrecht. Daneben findet ein Falltraining im Schwerpunktbereich statt und in der Sommersemesterpause haben die Studenten die Gelegenheit am Examensrepetitorium im Individualarbeitsrecht teilzunehmen. Einen Schwerpunkt der Arbeit des Instituts stellen die Veranstaltungen dar, durch die die Kooperation mit Personen und Verbänden der Praxis hergestellt werden soll. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang der 1. Leipziger Zeitarbeitstag zum Thema „Zeitarbeit am Wendepunkt“ im November 2003, der in den folgenden Jahren fortgesetzt wurde. Arbeits- und sozialrechtliche Fortbildungsveranstaltungen haben seit der Gründung des Instituts in außerordentlich großer Zahl stattgefunden. Dabei haben sich mit aktuellen Problemen des Arbeitsrechts führende Vertreter aus Wissenschaft und Praxis – beispielhaft seien nur Prof. Richardi, der Vizepräsident des BAG Dörner und der Präsident des Sächsischen LAG von Bergen genannt – auseinandergesetzt. Diese Veranstaltungen zum aktuellen Arbeitsrecht sind seit 2005 nicht nur in Leipzig, sondern auch in Erfurt und Dresden durchgeführt worden. Mit einer großen Zahl von Publikationen hat Prof. Boemke zur pädagogisch-didaktischen und wissenschaftlichen Durchdringung des Arbeitsrechts beigetragen. Dazu gehören neben seinem Studienbuch „Arbeitsrecht“ (2001, 2004) und der Fallsammlung zum Arbeitsrecht (2001, 2007, 2008) seine 1999 publizierte Habilitationsschrift „Schuldvertrag und Arbeitsverhältnis“ und die Kommentare zum Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (2002, 2005) und zum Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (2007). Gemeinsam mit seinem Leipziger Kollegen Kern hat er eine Untersuchung zur Arbeitszeit im Gesundheitswesen (2004) publiziert. Die wissenschaftliche Bearbeitung arbeits- und sozialrechtlicher Themen in Dissertationen wurde in den letzten Jahren ebenfalls gefördert. Seit Gründung des Instituts konnten 17 Dissertationen angenommen werden. Allerdings ist die in der Institutsordnung angekündigte Schriftenreihe des Instituts noch nicht eingerichtet worden. Es wäre zu begrüßen, wenn auch mit der Fortführung der Schriftenreihe an die Tätigkeit des Instituts für Arbeitsrecht angeknüpft würde.
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Forschung und Lehre auf dem Gebiet des Arbeits- und Sozialrechts haben die Entwicklung der Leipziger Juristenfakultät maßgeblich mitgeprägt. Die Dynamik dieser Materie wird auch in der künftigen Arbeit des Instituts für Arbeits- und Sozialrecht Ausdruck finden.
II. Leipzig im Fokus der deutschen Einigung
„Wir sind das Volk“ Von Helmut Goerlich „Wir sind das Volk, wir sind die Kraft, die hier die neue Freiheit schafft“, so lautete die Parole auf einem Transparent auf dem Leipziger Ring gegen Ende November 1989.1 Die das aussprachen, beschritten noch nicht den Weg zur imaginierten Gemeinschaft2 einer immer noch ungleichzeitigen Nation.3 Die Losung war noch auf einen eigenen Pfad aus, der eine eigene demokratische Legitimation besaß. Wer hier das Volk sei,4 wer also im Sinne jenes berühmten Diktums von Bertolt Brecht zum 17. Juni 1956 von der Regierung aufgelöst werden müsse,5 war nicht mehr offen. Die Option der gewaltsamen Auflösung des demokratischen Rätsels in Gestalt des allfälligen Verfassungskonstrukts stand nicht mehr zur Verfügung. Es gab ein Fenster offener Zeit, um den Spuk zu beenden. Was aber ist geblieben, wo ist das Volk, die Kraft und was ist nun die neue Freiheit? Die erste Frage erscheint vor allem auch von Interesse insofern, als die ältere und schlichtere, nur aus vier Worten bestehende Parole „Wir sind das Volk“ er1 Vgl. Leipziger Demontagebuch, zusammengestellt mit einer Chronik von W. Schneider, Leipzig und Weimar 1990, S. 123. 2 Dazu B. Anderson, Imagined Communities (1983), 2. Aufl. in Übersetzung unter dem Titel „Die Erfindung der Nation – Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts“, Frankfurt und New York 1996. 3 Ungleichzeitig waren auch die Deutungen der Parole „Wir sind das Volk“ in der vor dem Zusammenbruch befindlichen DDR; anzumerken ist auch, dass die ostdeutschen Intellektuellen im Gegensatz zu denen in Polen und Tschechien weder Opposition noch Ausgangspunkt des Umbruchs waren, vgl. insgesamt mit treffender Analyse auch anderer Ungleichzeitigkeiten W. Lepenies, Kultur und Politik – Deutsche Geschichten, München 2008, S. 377 ff. (400 ff.). Älteres zu Ungleichzeitigkeiten bei H. Plessner, Die verspätete Nation (1959), Frankfurt / Main 1974, S. 32 ff. u. E. Bloch, Die Erbschaft dieser Zeit (1935), Erw. Ausg., Frankfurt / Main 1962, S. 104 ff. 4 Dazu F. Müller, Wer ist das Volk? Die Grundfrage der Demokratie. Elemente einer Verfassungstheorie, Bd. VI, Berlin 1997; u. nun Ch. Möllers, Expressive versus repräsentative Demokratie, in: R. Kreide u. a. (Hrsg.), Transnationale Verrechtlichung. Nationale Demokratien im Kontext globaler Politik, H. Brunkhorst z. 60. Geb., Frankfurt / Main 2008, S. 160 ff. (168 ff.). Zum Begriff H. Keller, Kulturelle Vielfalt und Staatsvolk: Gilt es den Begriff des Volkes zu überdenken?, in: G. Nolte u. a. (Hrsg.), Pluralistische Gesellschaften und Internationales Recht. Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Bd. 43, Heidelberg 2008, S. 39 ff. 5 Vgl. B. Brecht, Die Lösung, in: ders., Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Bd. III, Frankfurt / Main 1997, S. 404.
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sichtlich schon am 9. Oktober im Herbst 1989 auftrat, damals aber noch im Anschluss an den Sprechchor „Wir sind keine Rowdys“6, also in einer gewissen Furcht davor, diskriminiert, ausgegrenzt und ohne neues demokratisches Selbstbewusstsein zu enden. Im Dezember jenes Jahres wandelte sich die Parole, es wurde nun daraus „Wir sind ein Volk“.7 Darauf hat im Gedenken an Ulrich Mühe einer seiner Kollegen vor kurzem im Fernsehen noch einmal besonders hingewiesen.8 Mit dieser Formulierung entfiel jedenfalls zu einem großen Teil der Anspruch auf Eigenständigkeit, selbst aus der DDR heraus Neues zu schaffen. Nun traten Hoffnungen auf die Vereinigung mit der Bundesrepublik hinzu, in der Sendung von Mühes Kollege als „Anschluss“ tituliert. Die Geschichte ist über die Option „ohne Anschluss“ hinweg gegangen. Es bleibt also, was gekommen ist. Sicher ist aber Eigenes von dem zuvor Erhofften und von dem Erlebten geblieben. Dies gilt schon im Sinne eines Rechtspluralismus, bezieht man die jüngeren Ergebnisse der Rechtsethnologie ein, die von der normativen Vielfalt geschriebenen, ungeschriebenen und ganz unterschiedlich legitimierten Rechtsbewusstseins in Gesellschaften wissen.9 Das gilt sicher auch für Gesellschaften, die erst zusammenwachsen. Anders gilt es aber auch für so komplexe Strukturen, wie man sie in Indien antreffen kann. Dies war etwa eine Erfahrung, die aus einer gemeinsamen Konferenz der Leipziger Juristenfakultät und der West Bengal National University of Juridical Sciences in Kolkata / Kalkutta, Indien, im März 2008 zu dem Thema „Cultural Diversity and Law“ hervorgegangen ist, auf der schon der Eröffnungsvortrag nicht nur den Nationalstaat westlichen Typs, sondern auch sein von ihm autorisiertes Recht in Frage stellte.10 Im Sinne der Vielfalt der Rechtserwartungen und des damit jeweils verbundenen Rechtsbewusstseins ist es mithin nicht möglich, die Ergebnisse, welche „das Volk“ bewirkt hat, als das darzustellen, was damals erstrebt wurde. Aber gerade die oben angesprochene Fernsehsendung präsentierte Ulrich Mühe mit einer Äußerung dahin, dass dieses Volk die freie Debatte erst einüben, ja lernen musste. Insofern war auch offen, welche Vorstellungen sich durchsetzen würden. In einer gewissen 6 Dazu H. Zwahr, Ende einer Selbstzerstörung. Leipzig und die Revolution in der DDR, Göttingen 1993, S. 79 ff. (97). 7 Vgl. Leipziger Demontagebuch, (Anm. 1), S. 154. Die Differenz auch bei F. Stern, Fünf Deutschland und ein Leben (2006), 5. Aufl., Hamburg 2007, S. 578; u. im Bericht v. J. Behrens, in: B. Lindner / R. Grüneberger (Hrsg.), Demonteure. Biographien des Leipziger Herbst, Bielefeld 1992, S. 223 ff. (232). 8 In der Sendung v. 26. 7. 2008, 20.15 Uhr in 3sat: „Jetzt bin ich allein“: Ulrich Mühe – Leben und Werk. 9 Jüngst dazu P. L. Wiater, Kulturpluralismus als Herausforderung für Rechtstheorie und Rechtspraxis. Eine völkerrechtsdogmatische und ethnologische Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Diss. iur., Leipzig und Strasbourg 2008; sowie F. v. Benda-Beckmann, Pluralismus von Recht und Ordnung, in: 1 Behemoth – A Journal on Civilization (2008), 58 ff. 10 Die Konferenz wird in einem Tagungsband, hrsgg. v. M. P. Singh und M. Kotzur, bei Oxford University Press, Delhi, Indien, dokumentiert.
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Weise ist diese Debatte, zumindest unterschwellig, nicht zu Ende. Sie wird immer noch geführt im Sinne der Vielfalt, die sie voraussetzt und erfordert. Zu dieser Debatte kann es beitragen, einmal die „Errungenschaften“ aufzulisten, die Teil des Erreichten sind. Vorab ist allerdings anzumerken, dass hier nicht genug Platz ist, auf die sozialund vermögenspolitischen Folgen mancher Politiken der Vereinigung einzugehen. Hier wäre beispielsweise zu sprechen von den Chancen der Ostdeutschen insgesamt, an Vermögensbildung oder Unternehmen in der Landwirtschaft teilzuhaben. Daran hinderten einerseits Steuervorteile, die westliche Investoren mit hohem Einkommen im Osten wahrnehmen konnten. Ostdeutschen fehlten dafür die erforderlichen hohen Einkommen. Andererseits konnten nur wenige, zuvor oft leitende Figuren in den LPGen, dann alsbald „rote Barone“ genannte Landwirte rechtlich neue Formen schaffen, um in diesem Gewand die Betriebsgrößen der Produktionsgenossenschaften der DDR fortzusetzen; sie kauften oder pachteten oft langjährig die Flächen der zuvor vergenossenschafteten Eigentümer und erhielten zudem nicht selten Flächen aus dem Bestand der Besatzungsenteignungen, die nicht rückgängig gemacht wurden, vom Staat. Dies führte nicht nur zu einer großen Zahl „abwesender Eigentümer“ des Grundes in Städten und in Forsten, sondern auch zur Minderung der Möglichkeiten einer selbstständigen beruflichen Entwicklung, neben Unzufriedenheit sowie Deklassement eines schon zuvor in der DDR sukzessive verarmten Mittelstandes auf dem Lande und damit zu bisher nicht gekannter Ungleichheit. I. Zunächst verwirklichte sich die Freizügigkeit als „Ausreisefreiheit“, zu schweigen von Auswanderungsfreiheit. Heute beansprucht sie vor allem die Jugend in Gestalt der Freizügigkeit. Sie scheint nun manchmal ins Touristische verkürzt.11 Zudem haben diese Freiheiten eine stete Migration nach Westen ausgelöst. Die damit verbundene Mobilität wird zurückwirken, auch wenn sich selbst unter Studierenden diese Route leider immer noch vor allem als Einbahnstrasse darstellt.12 Der Hochschulpakt 2020 des Bundes und der Länder hofft auf eine andere Entwicklung. Die Studierenden, die in Leipzig angekommen sind, schätzen den Standort. Zunächst – in der Wendezeit – zerbrachen diese Freiheiten das bisherige starre, der Devisen wegen allerdings zum Teil löchrige Gehege des vorgeblich sozialistischen Polizeistaats. Das war angesichts des Wandels im eigenen Lager nicht mehr 11 Das ist zu finden in I. Schulze, Adam und Evelyn, Berlin 2008, samt Hintergrund zum „Arbeiter- u. Bauernparadies“; insgesamt u. distanzierter aus bürgerlich-intellektueller Perspektive U. Tellkamp, Der Turm, Frankfurt am Main 2008. 12 Ohne nähere Überprüfung kann man lesen: 22% der Abiturienten des Ostens gehen in den Westen, aber nur 4% der Abiturienten des Westens beginnen das Studium im Osten, vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 173 v. 26. / 27. Juli 2008, S. C 8.
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rückgängig zu machen. Daher fiel alsbald – nicht nur versehentlich – die Mauer selbst. II. Auch die Mauern, in denen jede öffentliche Debatte unmöglich war oder aber nur in Andeutungen das Wort fand, kamen damit zu Fall. Die freie Kommunikation schien zunächst in einen herrschaftsfreien Diskurs13 zu münden. Die Herrschaftsfreiheit schien wörtlich Wirklichkeit, so wenig man dies im „Alltag“ für möglich halten kann. Schließlich gab es in der DDR keine freie Verbandsbildung, sodass sich organisierte Interessen als solche nicht rasch artikulieren konnten. Anders lag es nur bei den Kirchen; sie hatten auch Personal, das in der öffentlichen Rede geübt war; daher fanden sie sich alsbald in einer außerordentlichen Rolle, die sie heute nicht mehr innehaben.14 Außerdem suchten manche aus dem Staatsapparat die Debatte zu beeinflussen, oft durchschaubar und erfolglos. Die politischen Parteien konnten als Blockparteien des alten Regimes diese Lücke in der Organisation des politischen Willens ebenso wenig schließen. Die neuen Parteien waren noch nicht auf dem Plan. Es entstand in der Tat eine herrschaftsfreie Situation. Diese Situation schien einem bei J. J. Rousseau anzutreffenden, bekannten Misstrauen gegenüber intermediären Mächten zu entsprechen. Dort erscheinen die Verbände nämlich als Störenfriede im Prozess der Willensbildung.15 Eine neue demokratische Debatte lässt sich im Sinne einer revolutionären Situation ohne von Verbandsmacht beeinflusste Interventionen besser durchführen. Die ungetrübte gleiche Freiheit des Geistes trat allerdings dergestalt in jenem historischen Moment nur in diesem Herbst hervor. Sie kam zu Wort. Und sie verhinderte zunächst den vorauseilenden Gehorsam einer Gesellschaft, welche die Techniken der Machthaber kennt und sich ihnen nur in einem den eigenen Fortbestand nachhaltig sichernden Maß aussetzt. Diese Geschmeidigkeit trat zurück und die freie Rede griff Platz. Dabei schien der so entstehende Diskurs nicht nur frei von Herrschaft, sondern insbesondere frei von partikularen Interessen. Die – jedenfalls an der Oberfläche – gemeinsame Identität, gewonnen aus langjährigen, gemeinsam erlittenen repressiven Erfahrungen der Diktatur, sicherte die Perspektive des gemeinsamen Ziels. Neues, 13 Für das Modell J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt / Main 1981; u. etwa ders., Vorwort zur Neuauflage 1990, in: ders., Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt / Main 1990, S. 11 ff. (36 ff.). 14 Dazu E. Neubert, Von der Volkskirche zur Minderheitskirche – Bilanz 1990, in: H. Dähn (Hrsg.), Die Rolle der Kirchen in der DDR. Eine erste Bilanz, München 1993, S. 36 ff.; zur „Opposition“ der Kirchen u. ihrer Mitglieder, die ja nicht den Umsturz betrieben, vgl. W. Lepenies, (Anm. 3), S. 403; auch R. v. Weizsäcker im Gespräch mit G. Hofmann u. W. A. Perger, Frankfurt / Main 1992, S. 59 ff. 15 Dazu H. P. Bull, „Freiheit der Arbeit“ als Unterdrückung der Koalitionsfreiheit. Die loi Le Chapelier v. 1791 u. ihre Folgen, in: G.-H. Gornig u. a. (Hrsg.), Staat, Wirtschaft, Gemeinde. Festschrift f. W. Frotscher zum 70. Geb., Berlin 2007, S. 129 ff. (131 ff.).
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glaubte man, habe nun freie Bahn. Darauf folgte die Verfassungsdebatte derer, denen es um neue Freiheit ging, während sich anderen schon der Konsum aufdrängte. Indes bleibt nicht nur die Erinnerung an herrschaftsfreie Kommunikation. Die Dialektik dieser Kommunikation erlaubte, gemeinsame Interessen in den Vordergrund zu stellen, die Gleichheit der Ausgangsposition – nahezu in einem philosophischen Sinne – festzuhalten und privaten Interessen nur eine zunächst zweitrangige Bedeutung zuzuweisen, selbst wenn sie sich im Hintergrund schließlich doch zu formieren wussten. In privaten Gesprächen stößt man bis heute auf Offenheit für Alternativen. Privatheit ist daher immer noch von größerem Gewicht, weil sie diese Alternativen beheimatet, selbst wenn diese öffentlich auf den ersten Blick keine Rolle mehr spielen. Das private Gespräch birgt immer noch Elemente jenes zeitweilig realen herrschaftsfreien Diskurses, den dieser Herbst mit sich brachte. Dem, der von außen hinzutrat, erschien dieser Diskurs indes manchmal in gewisser Weise unwirklich, jedenfalls dann, wenn die eigene Erfahrung von der an Interessen orientierten Struktur der öffentlichen Meinungsbildung geprägt war. III. Im Rahmen dieses Diskurses gewann die Informationsfreiheit zusätzliches Gewicht. Zwar hatte man Zugang zu Informationen weithin über Radio und Fernsehen gehabt. Der Staat beschränkte seine Bürger aber darauf und belegte die Inanspruchnahme dieser Quellen zudem mit einem Verbot, das sanktioniert werden konnte. Auch hatten keineswegs alle gleichen Zugang dazu. Beschränkungen der Informationsfreiheit hatte es als Teil des Kalten Krieges16 auch im Westen gegeben; sie wurden aber rechtsstaatlich gestutzt und behielten den entsprechenden Geschmack.17 Nun öffnete sich die ganze Breite der kommunikativen Instrumentarien, es kamen Möglichkeiten hinzu: Literatur und Kunst eröffneten neue Dimensionen und beanspruchten die größere Öffentlichkeit des geschichtlichen Augenblicks in diesem Herbst.18 Die vielfältigen Ebenen der Kommunikation und das neue Spektrum der Informationen wurden gangbar. Die alten und die neuen Länder etablierten gemeinsam einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der hierzu wesent16 Zu „Presse-, Zeitungs-, Brief- u. Postzwang“, mit denen sich der Krieg verteidigt, J. Paul, Friedenspredigt an Deutschland (1808), Offenburg 1946, S. 18; u. ders., Sämtl. Werke, Berlin 1842, Bd. 25, S. 21; u. dazu G. de Bruyn, Das Leben des J. P. F. Richter (1975), Frankfurt / Main 1991, S. 262 ff., 275 ff. 17 Für Verbringungsverbote, die wohl eine Überflutung mit Propaganda-Presse abwendeten, aber mit der Informationsfreiheit in Konflikt gerieten, i. Ü. BVerfGE 27, 71, 81 ff. sowie BVerfGE 90, 27, 32 u. H. Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. I, 2. Aufl., Tübingen 2004, Rn. 76 ff. zu Art. 5 I, II. 18 Es blieb nicht mehr bei den Zwischentönen der DDR-Literatur, der „Sklavensprache“, wie Hans Mayer sie nannte, vgl. ders., Der Turm von Babel, Frankfurt / Main 1993, S. 246 und passim.
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lich beitrug und bis heute beiträgt, selbst wenn die irregeleitete Debatte um die Rundfunkgebühr19 derlei ausblendet. Das stabilisierte die öffentliche Meinungsbildung weitgehend, obwohl eine entsprechend stabile soziale Struktur nicht bestand, da sie sich nicht sozusagen über Nacht entwickeln konnte. Die Kommunikation wurde dadurch nicht esoterisch, aber es verband sich die Innerlichkeit eines diskreten Wissens aus der Zeit der Diktatur mit den neuen Möglichkeiten der Begründung schon vertretener Sichtweisen; die Außenperspektive zu den eigenen Anschauungen wurde möglich. Die Außenwahrnehmung hat sicher die schon genannte Abwanderung der Bevölkerung verstärkt. Diese Migration ist aber mit einem Rückfluss an Informationen verbunden, löst also stetig neue Kommunikationsprozesse aus. Dies gilt auch dann, wenn die Migration noch geraume Zeit auf einer Einbahnstrasse stattzufinden scheint. Rasch ergab sich übrigens ein gesteigertes Informationsbedürfnis, auch um die eigene „Weltanschauung“ zu überprüfen; für viele war sie neu zu justieren. Auch die gesamtgesellschaftlichen Deutungsmuster mussten sich nun legitimieren. Auch dafür war nicht nur der freiere Zugang zu Informationen von Gewicht, sondern auch eine aufblühende Kultur von informellen Arbeitskreisen, Zirkeln und Initiativen, wobei passivere und private Formen solcher Kommunikation in manchen Kreisen schon eingeübt waren und nun nach außen traten. Wenige hatten schon in der DDR riskiert, diese Instrumente im Ansatz auch öffentlich einzusetzen. IV. Viel unmittelbarer war die neue Freiheit zudem dadurch eröffnet, dass der Zugang zu Schulen und Ausbildung nicht mehr von der Anpassung an Herrschaftsstrukturen abhing. Er wurde mehr als Zugang zur Bildung denn als Berufszugang erfahren, vor allem im Laufe der Entwicklung, als immer undurchsichtiger wurde, wie man sich vor den Folgen des Wandels und dann weithin des Fortfalls der Arbeitswelt der DDR würde schützen können. Bildung musste nicht mehr nur innerlich gepflegt werden, sie konnte nun auch hervortreten. Dabei schlug im Übrigen zu Buche, dass beide deutsche Diktaturen etwas von den Bildungswelten des 19. Jahrhunderts – im nationalen Bewusstsein versteckt – hatten überleben lassen; dies war anders als im Westen, wo diese Welten seit Ende der fünfziger Jahre zunehmend neuen Anpassungsprozessen zum Opfer fielen. Die neue Freiheit eröffnete so ersehnte Zugänge zu dem, was man fast verloren glaubte. Die Neugier war breit gestreut und die Rezeptionsbereitschaft beträchtlich. Dabei behielt Bildung ihren Selbstwert, ja für viele gewann sie an Statur. Zugleich konnte sie auch zur Orientierung oder sogar zu Neuorientierungen verhel19 Sie trägt Züge einer Kampagne u. verschweigt oft die Befreiungstatbestände des Gebührenrechts, die Belastungen abfangen, vgl. H. Goerlich, in: W. Hahn / Th. Vesting (Hrsg.), Beck’scher Komm. zum Rundfunkrecht, 2. Aufl., München 2008, Rn. 2 und 9 ff. zu § 6 RGebStV.
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fen. So wuchs ihr ein Eigengewicht neben den Ausbildungen und Ausbildungsgängen zu, zumal die Misere auf dem Arbeitsmarkt dazu zwang, Bildung, Ausbildung und Berufszugang entkoppelt zu sehen. Damit etablierte sich früher als in Gesamtdeutschland ein Entkopplungsprozess, den nicht nur arme, sondern auch reiche Gesellschaften durchlaufen; beide bewahrt die staatliche Steuerung nicht mehr davor, solche Erfahrungen zu machen und sie in verallgemeinerungsfähige Maximen umzusetzen. Größere Flexibilität ist neben der Ausbildung vor allem auch in der Grunddisposition des Arbeitssuchenden gefragt. Sie kann ein Ergebnis der Ausbildung sein, die im moderneren Sinne Bildung indiziert. Dies ist einer der Gründe, weshalb die Arbeitslosigkeit von Personen mit einem akademischen Abschluss wesentlich geringer ist als unter Personen aus anderen Gruppen.
V. Erhalten blieb als Teil der neuen Freiheit die Gleichheit als soziale Disposition, nicht vor allem als normatives Postulat gegenüber bestehender gesellschaftlicher Ungleichheit. Dies unterscheidet die Geister bis heute. Diese Disposition ist im Übrigen nicht nur eine Folge der Politik der DDR, darunter die der Beseitigung des Bürgertums, was vollständig allerdings nicht gelungen ist. Sie ist vielmehr schon angelegt in der stratifizierenden Wirkung des NS-Regimes und des von ihm initiierten Krieges. Nicht nur hatten die älteren Eliten, die diesem Regime in den Sattel halfen, ihre Glaubwürdigkeit endgültig verloren. Neben dem Kriegstod kam erneut und in viel stärkerem Maße eine Umwälzung der Besitzverhältnisse, nun auch infolge von Vertreibung und territorialen Verlusten, hinzu. Innovativ wirkt dabei, dass nicht die Furcht vor dem Verlust des jeweiligen sozialen Besitzstandes, sondern die Mobilität von einer gemeinsamen Ausgangsposition aus die Mentalitäten prägt. Die egalitäre Grunddisposition motiviert zu größerer Risikobereitschaft und erzeugt geringere Hemmungen, sich einzulassen. Verdeckt mag sich zwar die Unterscheidung zwischen Bürgertum und anderen Herkünften sogar bis in das Ende der DDR erhalten haben. Sie drückte sich aber nicht mehr in Besitzverhältnissen und Besitzständen aus. Daher hat diese Unterscheidung auf die soziale Disposition sehr viel geringeren Einfluss als in einer Gesellschaft wie der westdeutschen, die zu traditionellen Strukturen zurückkehrte und vom neuen Reichtum des „Wirtschaftswunders“ schon länger geprägt war. Die egalitäre Grunddisposition findet auch Ausdruck in der Erhaltung eines gebührenfreien Zugangs zum ersten akademischen Abschluss; sie schlägt sich nieder in der Bereitschaft zu einer breiteren Förderung zusätzlich qualifizierender Abschlüsse. Ob dies alles – ebenso wie die aus der DDR überkommene Tradition der Kinderbetreuung – ohne eine erhebliche Steigerung der Sprachkompetenzen und der sozialen Geschicklichkeit wirklich Bestand haben wird, das kann dahinstehen. Jedenfalls sind damit Instrumente für selbstkritische Reflexionen gegenüber Anpassungsprozessen im Osten möglich, die in der Tabuisierung der egalitären
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Komponenten der „Volksgemeinschaft“ des Nationalsozialismus im Westen nach dem Kriege nicht stattfanden. In diesem Sinne ist die neue Freiheit noch gleiche Freiheit, leidet also nicht unter einer in der politischen Theorie klassischen, vorkonstitutionellen, ja manchmal reaktionär vorgetragenen Entgegensetzung von Gleichheit und Freiheit.20 Vielmehr versteht die Gesellschaft in den neuen Ländern, durchaus auch unter Anknüpfung an die Ideologie der DDR als Gegenmodell, dass hier Erhaltenswertes repräsentiert und kultiviert wird. Das verhindert allerdings nicht, dass unterschwellig Klassenstrukturen erhalten blieben, die Unterschiede bezeichnen zwischen Angehörigen des früheren Bürgertums und des gebildeten Pfarrhauses sowie denen, die als Aufsteiger „Akademiker“ wurden, und solchen, die den proletarischen Charakter ihrer Herkunft nicht abstreiften. VI. Schwieriger war es, einzuüben, dass die Freiheit des Andersdenkenden antifaschistische Schutzwälle nicht kennt. Zwar erinnerte man Rosa Luxemburg, ihre Freiheit galt aber nicht als gleiche Freiheit auch für Neonazis. Diese Ansicht war in den befassten Verwaltungen Ostdeutschlands durchaus verbreitet, fand jedoch obergerichtliche Schützenhilfe vor allem im Westen. Das OVG Münster21 rechtfertigte die von ihm bestätigten Versammlungsverbote nicht etwa über eine antifaschistische Doktrin, es setzte vielmehr ein wertorientiertes Verständnis einer revitalisierten öffentlichen Ordnung als Teil guter Polizei entgegen. Dies führt zu einem Grundrechtsverständnis, das schon vom Schutzbereich her Ausnahmen von der Reichweite solcher Rechte kennt oder aber Beschränkungen mit gleichem Ergebnis schafft. Dieses Verständnis hat das Bundesverfassungsgericht zurückgewiesen.22 Den Demonstrationsverboten der Verwaltungen lagen ähnliche Maximen zu Grunde. Hier war zu vermitteln, dass Auflagen und Nebenbestimmungen ermöglichen, Aufmärsche und Versammlungen zu domestizieren, ohne sie schlechthin zu verbieten. Diese Sicht setzten die Gerichte gegen die Kommunen durch. Das bekräftigte die Demonstrationsfreiheit als die gleiche Freiheit auch Andersdenkender und es vermittelte das rechtsstaatliche Instrumentarium differenzierter Sanktionierungen. Die Verwaltungen nutzen nun ihre Möglichkeiten einer rechtsstaatlichen 20 Zur antiegalitären Polemik aus der Perspektive der Freiheit „der Reichen“ schon A. de Rivarol, Politisches Journal eines Royalisten. 5. Mai bis 5. Oktober 1789, Frankfurt / Main 1989, S. 101 f. 21 Siehe OVG Münster, B. v. 29. 6. 2001 – 5 B 832 / 01 –, NJW 2001, S. 2986 f.; B. v. 30. 4. 2001 – 5 B 585 / 01 –, NJW 2001, S. 2113 f.; B. v. 23. 3. 2001 – 5 B 395 / 01 –, NJW 2001, S. 2111 f. 22 Eingehend BVerfG (K), B. v. 26. 1. 2001 – 1 BvQ 9 / 01 –, NJW 2001, S. 1409 ff. (1410); B. v. 24. 3. 2001 – 1 BvQ 13 / 01 –, a. a. O., S. 2069 ff. (2071); dazu H. Schulze-Fielitz, (Anm. 17), Rn. 94 zu Art. 8.
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Ausdifferenzierung, wenn nicht der Steuerung, so jedenfalls der Begleitung des Grundrechtsgebrauchs mit Hilfe von Auflagen, Nebenbestimmungen und anderen Maßgaben. Ausgangspunkt war aber das Verständnis der Versammlungsfreiheit als eines „tolerierenden Rechts“, das im Rahmen von „Sicherheit und Ordnung“ die Meinungen Andersdenkender respektiert.23 Dieses Verständnis setzte sich nur mühsam durch, letztlich – wie schon erwähnt – vor allem mit Hilfe des Bundesverfassungsgerichts. VII. Zur neuen Freiheit gehörte auch die Freiheit des Gewissens, zumal der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen, heute Art. 4 Abs. 3 Satz 1 GG. Die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen war insbesondere ein Desiderat der Jugend. Hinter ihr stand aber die prinzipielle Frage der Zuordnung von Staatsgewalt und Individualfreiheit, Staatsleitung und Volk. Zu verstehen ist nämlich in diesem Sinne die Kriegsdienstverweigerung nicht als eine bloße Duldung,24 sondern als verrechtlichte Gewährleistung; sie ist mithin sehr viel mehr als ein bloßes „Schönwetter-Recht“, das die Staatsleitung im Ausnahmefall zurücknehmen kann. Daneben liegt in dieser Gewährleistung eine rechtliche Anerkennung der Willensmacht des Einzelnen, die – übt er sie in großer Zahl gemeinsam mit anderen gleichgerichtet aus – dieser Staatsleitung den Souverän entgegenstellt. In diesem Sinne war hier neue Freiheit diejenige des Grundgesetzes, welche die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen als unveräußerliches Recht versteht. Dies ist auch eine unmittelbare Folge der demokratischen Legitimation aller Staatsgewalt, die nie von oben nach unten, sondern immer von unten nach oben zu verstehen ist, mithin niemandem die Befugnis einräumt, solche Rechte im Sinne staatspolitischer Notwendigkeit oder revolutionärer Unausweichlichkeit zu überspielen und damit als Rechte beiseite zu schieben. Für die Politik im Ganzen wurde übrigens eine gewisse moralische und rechtsorientierte Fundierung konkreter Entscheidungen bedeutsam. Sie manifestierte sich in der deutschen Haltung zum Irakkrieg, als sich die Bundesrepublik der „Koalition der Willigen“ verweigerte. Auch schlug sich die Fundierung in der Rechtsprechung nieder, sobald der Irakkrieg aus Anlass der Befehlsverweigerung eines Offiziers auf den verwaltungsgerichtlichen Prüfstand kam.25 Bei allen Schwierig23 OVG Bautzen, B. v. 30. 4. 1998 – 3 S 253 / 98 –, bes. S. 6 d. U.; B. v. 27. 4. 2001 – 3 BS 104 / 01 –, Orientierungssatz, Rn. 4. 24 So aber Ch. Enders, Toleranz als Rechtsprinzip? Überlegungen zu den verfassungsrechtlichen Maßgaben anhand höchstrichterlicher Entscheidungen, in: Ch. Enders / M. Kahlo (Hrsg.), Toleranz als Ordnungsprinzip? Die moderne Bürgergesellschaft zwischen Offenheit und Selbstaufgabe, Paderborn 2007, S. 243 ff. (257 f.). 25 Siehe BVerwGE 127, 302 ff. (306 ff.); krit. M. Kotzur, Gewissensfreiheit contra Gehorsamspflicht oder: der Irakkrieg auf dem verwaltungsgerichtlichen Prüfstand, JZ 2006, S. 25 ff.
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keiten mit den jüngeren Entwicklungen im Völkerrecht liegt in der damit zum Ausdruck kommenden Distanz gegenüber einer imperialen Politik auch ein Stück Erbschaft aus der ostdeutschen Perspektive, das nun zu den Optionen deutscher Außenpolitik gehört. VIII. Innerstaatlich hat die Vereinigung gewiss das Verhältnis von Religion und Staat, von Kirchen und Republik verändert. Dies manifestiert sich in Einzelfällen, etwa zum Religions- und Ethikunterricht. Die Veränderung ist in vielen Einzelfragen auch noch nicht ausgestanden. Manchmal, wie im Falle der Leipziger Universitätskirche, stellt sich der Verlauf der Debatte als ein Parcours der Irrtümer dar. Obwohl die Rechtslage erlaubt, eine Verständigung zu finden, setzte sich dieser Parcours erstaunlich lange fort. Die hinkende Trennung von Staat und Kirchen scheint abgelöst von einem Trennungsmodell, das der Rechtslage nicht entspricht.26 Im größeren Rahmen besteht indes eine Tendenz, das Staatskirchenrecht als Interpretationsrahmen zu ergänzen oder gar abzulösen durch ein Religionsrecht, das manche verengen wollen zum Religionsverfassungsrecht.27 Diese Perspektive, die auch das Zivilrecht, die europäische Ebene und insbesondere das jeweilige Verbandsrecht einbeziehen kann, scheint einer Gesellschaft angemessen, die keine Großkirchen mehr kennt, weil diese Kirchen weithin Mitglieder verloren haben. Auch treten andere „Religionsgesellschaften“ – wie sie die aus der Weimarer Verfassung stammenden Artikel des Grundgesetzes nennen – hinzu. Diese mögen in den neuen Ländern weniger Fuß gefasst haben und manchmal dort eher auf eine gewisse Feindlichkeit stoßen. Zweifellos aber sind sie präsent, zumal in den großen Städten des Westens und in Berlin. Auch können sie nicht mehr als vorübergehende Erscheinung abgetan werden. Will man angemessen mit ihnen umgehen, so ergibt sich unweigerlich eine Betonung des säkularen Charakters des Staates. Konkretisiert hat sich dies zuletzt im Streit um das Kopftuch der Auszubildenden28, der Lehrerin29 und der Verkäuferin30. Hier zeigt sich zugleich die Bereit26 Dazu H. Goerlich / H. Kahl, Zur staatskirchenrechtlichen Freundschaftsklausel in Sachsen: Der Universitätsprediger und die Universitätskirche in Leipzig als Beispiel, SächsVBl. 2008, S. 205 ff. u. H. Goerlich / T. Schmidt, Res sacrae u. die Universitätskirche etc., i.E. 27 Vgl. dazu H. M. Heinig / Ch. Walter (Hrsg.), Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht, Tübingen 2007; und schon im Titel das Lehrbuch C. D. Classen, Religionsrecht, Tübingen 2006; auch H. Goerlich, Menschenrechte u. Verfassungen zwischen Aufklärung u. Fundamentalismus – Fragen zu ihrer Auslegung, JöR 55 (2007), S. 73 ff. (94 ff.). 28 BVerwG, Urt. v. 26. 6. 2008 – 2 C 22.07 –, NJW 2008, S. 3654 ff. – Brem. Referendarin. 29 VGH Mannheim, Urt. v. 14. 3. 2008 – 4 S 516 / 07 – u. dazu BVerwG, B. v. 16. 12. 2008 – 2 B 46.08 – Cannstatter Lehrerin. 30 BAGE 103, 111 ff. (= NJW 2003, S. 1685 ff.); BVerfG (K), B. v. 30. 7. 2003 – 1 BvR 792 / 03 –, NJW 2003, S. 2815 f.
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schaft der Gerichte, differenziert zu reagieren, sodass die Gesellschaft allmählich mit den Phänomenen umzugehen lernt und der Staat sich auf die Freiheitlichkeit seines Rechts besinnen kann. Diese Geschicklichkeit besitzen die Gerichte nur, wenn sie sich ihrer Rolle bewusst bleiben, und zwar selbst dann, wenn nach dem schnellen Richter gerufen wird.31 Zugleich führt die neue Sensibilität für die Sachverhalte auch dazu, dass der reale Kontext der Wahrnehmung von Freiräumen bei der Würdigung der Rechtslage stärker einbezogen wird. Dies ist etwa der Fall, wenn verschiedene rechtliche Regelungsmuster aufeinander stoßen. So kann eine neoliberale Politik des Ladenschlusses nicht nur mit dem Feiertags- und – man könnte sagen – Regenerationsschutz des Art. 139 WRV i. V. m. Art. 140 GG konfrontiert werden,32 sondern auch mit den Wirkungen einer weitgehenden Beseitigung der Ladenschlusszeiten auf Ehe und Familie, Elternrollen und Erziehungsrechte, neben Fragen der körperlichen Erschöpfung und notwendiger Rücksicht auf Gesundheit und körperliche Unversehrtheit. Damit wird die reale Freiheit als Perspektive sichtbar: die Rekonstruktion der sozialen Wirklichkeit macht die Komplexität neuer Freiheit deutlich. Grundrechtseingriffe werden dann erst in dieser Rekonstruktion der kombinierten Wirkungen einer Maßnahme auf verschiedene Grundrechtsbereiche sichtbar. Es steht also nicht die Sonntagsruhe allein auf dem Spiel, abgesehen davon, dass die dank dieser Rekonstruktion der Wirkungen erkennbar betroffenen Grundrechtsbereiche von ganz verschiedenen Verbänden – von den Kirchen bis zu den Gewerkschaften – verteidigt werden. Das führt indes zu der realen Freiheit, die schon erwähnt wurde. Sie findet statt. Eine solche Freiheit setzt nicht nur den Anspruch des Souveräns voraus, sich, d. h. seine Lebensformen, selbst zu bestimmen. Sie verlangt auch die Realanalyse. Dafür entwickelt sich im Osten größere Aufgeschlossenheit, nachdem die Gesellschaft weitgehend säkular angelegt ist. Zugleich enthält diese Analyse auch ein aufklärerisches Element in der juristischen Arbeit. Dies ist gerade dort nötig, wo Vorurteile, Vorverständnisse, Voreingenommenheiten und Unkenntnis – mögen sie auch auf einer jahrelangen Abschottung von der Umwelt beruhen – besondere Verirrungen ermöglichen. Sie können nur sehr langsam überwunden werden und juristische Hilfen mögen solche Lernprozesse stabilisieren.
31 H. Goerlich, Soziale Integration als Aufgabe des Rechts – am Beispiel der Rechtsprechung auf dem Weg zu einem Religionsrecht in gleicher öffentlicher Freiheit, in: R. Christensen / B. Pieroth (Hrsg.), Rechtstheorie in rechtspraktischer Absicht. Freundesgabe zum 70. Geburtstag von F. Müller, Berlin 2008, S. 93 ff. 32 Hierzu ist eine Verfassungsbeschwerde der Berlin-Brandenburgischen Kirche anhängig; vgl. aber nicht nur einstweilen M. Morlok, in: H. Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. III, 2. Aufl., Tübingen 2008, Rn. 10 zu Art. 139.
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IX. Am Geringsten ausgeprägt war in Ostdeutschland außerdem vielleicht die Erfahrung der gesellschaftlichen Selbstorganisation. Dies klingt paradox, ergab sich aber aus dem Etatismus des Ostens, dem jede Akzeptanz der Anarchie gesellschaftlicher Selbstorganisation abging. Daher mussten die Vereinigungsfreiheit, d. h. auch freie Verbandsbildung33 und die Freiheit der politischen Parteien, erst re-etabliert werden, zu schweigen erst recht von einer offenen, d. h. auch freien Gesellschaft der Verfassungsinterpreten.34 Die Selbstorganisation der Religion hingegen hatte das Regime nicht beseitigen können. Es hatte nur die rechtlichen Grundlagen zunehmend in Frage gestellt. Selbst der Byzantinismus der SED vermochte nicht, andere Grundlagen zu etablieren. Aber auch die Kirchen haben unter dem Regime und dann dem Wandel der Verhältnisse sehr gelitten. Das zeigt bis heute Wirkung, wenn das Selbstvertrauen freier Verbände fehlt. Bei den Kirchen beruht das auch auf der Vorgeschichte der Vereinnahmung durch den monarchischwilhelminischen sowie dann durch den NS-Staat, der gerade auch in Ostdeutschland sich anmaßte, Bischöfe einzusetzen und die Binnenstrukturen der Kirchen gemäß dem Führerprinzip in Partei und Staat gleichzuschalten, wie etwa im Falle des zweiten Bischofs der Landeskirche in Sachsen am 30. Juni 1933. Die Verbände setzen sich daher auch gegenüber und in der Bürokratie oft nicht durch. Das fördert Selbstherrlichkeit in der Verwaltung ebenso wie in ihren Spitzen, bis hinein in die Kabinettsebene. Deshalb kommt auch häufig das in Verbänden akkumulierte Sach- und Fachwissen nicht zum Tragen. Der Verwaltung wird nicht aufgeholfen, die synergetische Wirkung von Bürokratie und Verbänden bleibt aus. Das parlamentarisch-politische Personal kann dieses Defizit nicht kompensieren. All das im Zusammenspiel mit einer Ausgangsdisposition, die demokratische Willensbildungsprozesse kaum kennt, verstärkt eher Antipathien gegen den westlichen Parlamentarismus. Autoritäre Lösungen scheinen dann manchen rasch zur Hand. Auch die innovativen Effekte der Regeln der freien Verbandsbildung kommen seltener zum Tragen. Die timiden Führungsebenen selbst lassen innerhalb der Verbände eine Einflussnahme auf die politische Ebene selten zu. Neue Verbandsgründungen sind rar. Allerdings gibt es sicher eine Subkultur des Verbandslebens, auch im Feld der Religionsgesellschaften; sie haben aber zunächst keinen sichtbaren politischen Einfluss. Er wird jedoch zunehmen, je dauerhafter die Verhältnisse sind und die Verbände Lebensfelder ihrer Mitglieder und ihrer Anhänger besetzen. Bei Sportverbänden ist dies gewiss schon der Fall; andere Verbände werden folgen. 33 Zu den Potentialen der Vereinigungsfreiheit G. Biaggini, Die Vereinigungsfreiheit etc., in: Festgabe zum Schweiz. Juristentag 2006, hrsgg. i. A. d. Rechtswiss. Fak. d. Universität Zürich, Zürich 2006, S. 415 ff. (419 ff.). 34 Klassisch im Westen P. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, S. 297 ff.
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X. Der allgemeine Freiheitsbegriff erschien hingegen in den letzten Jahren stetig stärker umhegt von den Bindungen des Rechts. Dies zeigte sich nicht nur aus Anlass so genannter Antiterrorgesetze. Im Sinne älterer deutscher Traditionen wurde verstärkt Freiheit als in einen sozialen Verpflichtungszusammenhang eingebunden verstanden. Dies entspricht vielleicht auch der deutschen Tradition im guten Sinne eher35 als eine Beliebigkeit von Tun und Lassen, was man will, obwohl letztgenannte Lesart Art. 2 Abs. 1 GG zugrunde liegt, selbst in der Rücknahme auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Dabei kreuzen sich verschiedene Traditionslinien, wie man meinen möchte. Zunächst die Solidarität der Angst, des Gemeinwohls und des Krieges in den verschiedenen Stadien der Antiterrorkampagne. Dann zeigt sich auch hier eine gewisse Autoritätsgläubigkeit. Älter ist die Einbindung der Freiheit in der Genossenschaftstradition im Sinne von Gierkes und in den katholischen Soziallehren.36 Schließlich spielt neben der Ideologie der Gemeinschaft, die sich gegen die westliche Zivilisation und ihren Gesellschaftsbegriff wendet und insbesondere im NSRegime fröhliche Urständ feierte, die quasi-sozialistische Ideologie des DDRRegimes hinein. Letztere verstand die Bevölkerung der DDR gewiss in einer Vielschichtigkeit, die erlaubte, den humanistisch-historischen Kern von der aktuellen Propaganda zu trennen. Das schließt nicht aus, dass individuell unter einem egalitär-solidarischen Mäntelchen das eigene Interesse massiv verfolgt wurde – was in einer Gesellschaft permanenter Knappheit der Güter und Möglichkeiten überhaupt nicht erstaunen kann. Daneben steht allerdings auch in der DDR-Tradition das durch die Sache geprägte und insofern altruistische Aufbegehren der Künstler und Schriftsteller. Ihnen ging und geht es aber mehr um die Freiheit der Kunst und des Geistes denn um die Beliebigkeit einer Freiheit bar jeder gemeinsamen Sinnstiftung.37 35 Vgl. A. Janssen, Otto von Gierkes Freiheitsbegriff als Beitrag zur Auslegung der Allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), Eröffnungsvortrag des Symposions „Grundrechtsdemokratie und Verfassungsgeschichte“ anlässlich des Übergangs von J.-D. Kühne in den Ruhestand, Welfenschloss, Hannover, 17. 7. 2008. 36 Für Gierke A. Janssen, a. a. O., u. für Soziallehren BVerfGE 4, 7, 15 ff. – Investitionshilfe – sowie die gesamte Rechtsprechung später. Zum Gegensatz Gesellschaft und Gemeinschaft U. Volkmann, Freiheit und Gemeinschaft, in: D. Merten / H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. II, Heidelberg 2006, § 32 Rn. 11, 15 ff.; auch H. Goerlich, „Gemeinschaft“ aus der Sicht der Staatsrechtslehre, Theodor-Litt-Jahrbuch 3 (2003), S. 67 ff. 37 Auch diese sind gefährdet, vgl. BVerfGE 119, 1 ff. – Esra – mit abw. M. einerseits Richterin Hohmann-Dennhardt u. Richter Gaier u. anderseits Richter Hoffmann-Riem; dazu Anm. v. Ch. Enders, JZ 2008, S. 581 ff.; wer allerdings auf eine Definition von Kunst hofft, irrt, da gerade die Offenheit des Schutzbereichs das Grundrecht am Leben erhält, ebenso wie sonst das Selbstverständnis der Berechtigten und die Letztentscheidungsbefugnis des Staates im Gleichgewicht bleiben müssen; darin liegt das Geheimnis der Leistungskraft und Entwicklungsoffenheit solcher Rechte.
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XI. Wirtschaftliche Selbstorganisation war in Ostdeutschland sehr rasch auf dem Plan, zunächst allerdings versteckt und manchmal belächelt. Zweifellos aber trugen die Erfahrungen der Schattenwirtschaft, der Selbsthilfe, des nachbarschaftlichen und freundschaftlichen Zusammenwirkens Früchte. Das führte sogar zu Unternehmensgründungen, die bis heute erfolgreich sind. Es führte dank der staatlichen und europäischen Förderung auch zu Neuansiedlungen innovativer Industrien, die langfristig Früchte tragen werden. Teilweise schloss das – insbesondere im Bereich erneuerbarer Energien – an Forschungstraditionen der DDR an, deren Mangelsituation solche Anstrengungen viel früher erforderte. Auf diesem Feld ist Ostdeutschland südlich der Elbe ein innovativer Konkurrent westdeutscher Regionen. In „Ostelbien“ wird das erst noch Wirkung zeigen, etwa wenn die Erfordernisse der Energiegewinnung auch ertragsarme Böden attraktiv machen. Die Organisationsdichte wird auf Seiten der Arbeitnehmer allerdings in jenen Verhältnissen gering bleiben, die zunächst noch von hoher Arbeitslosigkeit, Abwanderungsproblemen und schlechtem Ausbildungsstand unter den Daheimgebliebenen geprägt sind. Es zeichnet sich aber, schon als Folge der Abwanderung, ein Arbeitskräftemangel ab, der auch Folgen für den Organisationsgrad der Arbeitnehmerschaft haben wird. Politisch-parlamentarisch schließt das nicht aus, dass zugleich bürgerliche Koalitionen stabiler bleiben als rot-rote Bündnisse, jedenfalls so lange die Linke ihrer historischen Belastung nicht ledig wird. Wie andere Parteien und wie auch die Verbände im Übrigen leiden ihre Führungsebenen an den Schwierigkeiten einer Elitenbildung, nachdem die „Politik“ und ihre Trabanten durch zwei totalitäre Regime diskreditiert sind. Typischerweise dominieren dann relativ lange die bisherigen Kader, jedenfalls in den größeren Parteien, abgesehen von dem schwindenden Personal aus dem Westen, dem Sonderfall der katholischen Herkünfte aus dem Eichsfeld, der Diaspora, der Oberlausitz und der Region um Erfurt sowie den anderen jüngeren Kräften, die nach der Wende geblieben sind. Letztere kommen meist zurecht dank einer Bereitschaft, neue Lebensweisen aufzugreifen, ihren beruflichen Rahmen zu verlassen und das Risiko einer „Politik als Beruf“ aufgreifenden Kaderkarriere unter den ganz anderen Bedingungen eines freien Verbandswesens einzugehen. Teilweise haben sich dabei aber ganz außerordentliche Begabungen etabliert, denen Fehler kaum unterlaufen. Daher wird die Misere des Personals der Politik und Verbände zu überwinden sein, vielleicht sogar etwas leichter im Osten als im Westen, wo kein Wechsel durch Neuanfang möglich war und sich deswegen ältere Bestände der Diskreditierung der Politik, der Parteien und der Verbände noch leichter halten, zumal im Osten das Personal der Blockparteien langsam aus Altersgründen abtritt.
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XII. Den „Errungenschaften“ steht eine Verlustliste dessen gegenüber, was an Rechtserwartungen, Hoffnungen und Wünschen auf einem historischen Weg am Rande liegen geblieben ist. Eine Verständigung darüber, was auf diese Liste gehört, dürfte sehr viel schwieriger sein als die Auflistung von Erträgen der geschichtlichen Entwicklung. Es gibt sicher weitere Verlustlisten: etwa solche, die man an den Verfassungsentwürfen der runden Tische würde festmachen können oder die sich auf andere Weise aus historischem Material würden erschließen lassen. Abgesehen von der Gelegenheit dieses Beitrags würde das indes zu gegenwärtigen Fragen wenig weiterhelfen.38 Grundsätzlich ist im Übrigen an der These festzuhalten, dass das geschichtliche Fenster nur offen war für den Ausweg der Vereinigung beider deutscher Staaten, nicht für eine Fortsetzung des Versuchs einer autochthonen Entwicklung der DDR als deutschem, postsozialistischen und vom totalitären Regime befreiten Staat einer eigenen Nation. Die weitere Frage der rechtlichen Grundordnung eines vereinten Gemeinwesens ergab sich bei näherer Betrachtung von selbst. Angesichts der Ungleichzeitigkeiten nicht nur der Gesellschaften in den bisherigen Teilstaaten, sondern auch der revolutionären Disposition – hier ein Machtvakuum nach dem Zerfall des totalitären Regimes und die Abwesenheit von strukturierend wirkenden gesellschaftlichen Gruppen jenseits der Kirchen und der allerdings zunächst in Verfall befindlichen Blockparteien, dort eine saturierte Gesellschaft, durchdrungen von etablierten, in Verbänden organisierten Interessen und der Reorganisation ihrer bürgerlichen Strukturen seit der Nachkriegszeit – wäre eine Verfassungsgebung kaum gelungen. Sicher hätte sie kein Gleichgewicht auch mit der ostdeutschen Perspektive erreicht. Daher war es besser, auf die pouvoir constituante in actu zu verzichten und im Wesentlichen das Grundgesetz zu übernehmen. Solange diese Verfassung in ihrer spezifischen Offenheit ausgelegt, mithin bewahrt wird, ist es in diesem Rahmen möglich, Ziele des Herbstes des Jahres 1989 zu verfolgen. Dabei darf man nicht übersehen, dass auch nach der staatlichen Einheit eine Pluralität der Rechtserwartungen im Sinne eines Rechtspluralismus fortbestehen wird. Diese Pluralität verbindet sich allmählich mit den Ergebnissen der über die Jahre fortgeführten irreversiblen Immigration und den Folgen der europäischen Integration. Das nationale Verfassungsrecht und das europäische Recht müssen dieser Vielfalt genügen. Es ist nicht zufällig, dass sie versuchen, ihr angemessene Formen des gegenseitigen Respekts, der Toleranz als Ausdruck des Rechts und des Schutzes aller Gruppen und Gruppierungen zu geben. Erst die Fülle freier Gemeinschaften konstituiert die Nation in offener Staatlichkeit und die Europäische Union als Union ihrer Bürger. Dabei müssen allerdings jene Gemeinschaften ebenso offen 38 Vgl. hist. den Abdruck des Verfassungsentwurfs des Berliner Zentralen Runden Tisches in: B. Guggenberger / U. K. Preuß / W. Ullmann (Hrsg.), Eine Verfassung für Deutschland, München 1991, S. 99 ff. in Synopse mit dem GG in der damaligen Fassung.
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sein wie der Staat; sie sind als herausgeforderte Gemeinschaften zu verstehen, also Gemeinschaften, die sich fortgesetzt in Transparenz und Offenheit rekonstituieren und nicht vor allem der Ausgrenzung und Diskriminierung dienen.39 Dabei werden immer zugleich auch jene imaginierten Gemeinschaften eine Rolle spielen, die man zunächst für die Schaffung der Nationalstaaten als erforderlich angesehen hat. Sie werden Elemente einer Nation sein, die es versteht, ihre eigene Vielfalt in rechtlich offenen Formen zu erhalten.40 Ausgangspunkt einer solchen Gemeinschaft kann auch die Erinnerung an jenen Herbst sein, die den Gang der Geschichte nicht verleugnet, sondern angemessen ist für weltoffene Stadtbürger, einen akademischen Lebensstil der Studierenden und nicht nur der Lehrpersonen gerade in einer historischen Messestadt, einem Zentrum der Musik und eines freien Geistes und für eine alte, aber immer noch lebendige Universität. Die Juristenfakultät ist im Verlauf dieser geschichtlichen Entwicklung wieder ins Leben getreten. Es steht zu hoffen, dass die Universität ihre Jubiläumsgabe als Gegenstück ihres Bestandes gerade auch in der Tradition der Stadt als Residenz des Rechts versteht.
39 Dazu J.-L. Nancy, Die herausgeforderte Gemeinschaft (2001), Zürich u. Berlin 2007, bes. 17 ff. 40 Eine solche Nation nimmt im Sinne westlicher republikanischer Tradition ethnische und kulturelle Vielfalt in sich auf; vgl. dazu am Beispiel einer fragwürdigen Alternative R. Hermann, Wohin geht die türkische Gesellschaft?, München 2008, S. 25 ff., 82 f., der zunächst – anders dann später – Mustafa Kemal Atatürk selbst, also nicht nur einen insoweit fehlorientierten Kemalismus mit den Jungtürken in einem Boot sieht, was zweifelhaft erscheint, da man auch findet, dass Atatürk insoweit das französische Modell bevorzugte. Die westliche säkulare Republik setzt individuelle und später i. d. R. auch kollektive Autonomie – also latent breite Vielfalt – voraus. Zu den Auswirkungen für den Begriff des Volks vgl. H. Keller, (Anm. 4), a. E.
Pluralistische und sozialistische Rechtstheorie des subjektiven Rechts Vom marxistisch-leninistischen Pflichtrecht als Aufgabennorm zum demokratischen Teilhaberecht Von Karl-Heinz Fezer
I. Die Wiedererrichtung der Juristenfakultät im Jahre 1993 als ein Akt lebendiger Demokratie Im Rahmen der Hochschulreform in der DDR wurde die Juristenfakultät im Jahre 1968 von der Sektion Rechtswissenschaft abgelöst. Die rechtswissenschaftlichen Fakultäten in der DDR waren nach der jeweiligen Berufsqualifikation organisiert. An der Karl-Marx-Universität Leipzig, wie die Hochschule seit dem Jahre 1953 hieß, wurden zu Zeiten der DDR die Zivilisten und namentlich die Wirtschaftsjuristen ausgebildet. An der Sektion Rechtswissenschaft bildeten einen wissenschaftlichen Schwerpunkt der rechtstheoretischen Forschung, die in die marxistisch-leninistische Rechtstheorie eingebunden war, die Grundkategorien des Bürgerlichen Rechts wie namentlich der Begriff des subjektiven Rechts. Während der Oktobertage der Wende im Herbst 1989 nahm ich als einziger Rechtswissenschaftler aus der Bundesrepublik Deutschland an einer Internationalen Arbeitstagung teil, die von der Sektion Rechtswissenschaft an der Universität Leipzig zu dem Thema Menschenrechte (Grundrechte) und subjektives Recht in unserer Zeit in Leipzig veranstaltet wurde. Der Blick aus dem Konferenzsaal im sechzehnten Stockwerk des Universitätshochhauses fiel auf die um Freiheit ringende Menschenmenge auf dem Karl-Marx-Platz zwischen Oper und Gewandhaus, heute wieder Augustusplatz genannt, holte deren politische Postulate in den Tagungsraum und machte sie zu Themen einer heftigen Diskussion. Aus meinem Gästezimmer blickte ich auf die Nicolaikirche, Ort und Hort stillen, doch gehörten Widerstandes, wo noch ein Jahr später im Oktober 1990 letzte Kerzen bei einer kleinen, fast verlorenen Montagsdemonstration angezündet wurden. Spontan kündigte ich zum Sommersemester 1990 erste Vorlesungen zum Recht in westlichen Demokratien an, erlebte den Alltag der Menschen, redete und hörte zu, erlebte Bürger, die sich versammelten und erstmals frei zur Wahl gingen, Menschen, die erschrocken und befreiend lachten und weinten, endlich offen lebten, auch starben von eigener Hand. Dann schließlich folgte der Kampf um den Erhalt
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der Leipziger Juristenfakultät, deren Schließung zunächst politische Absicht war und ernstlich drohte, ahistorisch, unmenschlich und vermessen, schlussendlich mit Wundmalen verhindert wurde. Nach der Abwicklung der Sektion Rechtswissenschaft im Dezember 1990 konnte die Gründungskommission, die interimistisch an die Stelle einer rechtswissenschaftlichen Fakultät eingesetzt wurde, am 26. April 1993 die Juristenfakultät wiedererrichten. Nimmt man aus der politiktheoretischen Sicht des Totalitarismus sowie aus der realpolitischen Sicht einer Diktatur die Juristenfakultät seit dem Jahre 1933 in den Blick, dann wird die Wiedererrichtung der Juristenfakultät im Jahre 1993 als ein Akt lebendiger Demokratie erfahrbar.1 II. Die sozialistische Theorie des subjektiven Pflichtrechts als Aufgabennorm nach dem Maß-Theorem 1. Das subjektive Recht im Wandel der marxistisch-leninistischen Rechtstheorie Im Recht der sozialistischen Staaten Osteuropas war zu Beginn des letzten Drittels des vergangenen Jahrhunderts eine bemerkenswerte Neubelebung der Diskussion um die Aufgaben des subjektiven Privatrechts im Sozialismus zu beobachten.2 Der Vorgang war aus der Sicht der Privatrechtstheorie einer demokratisch verfassten Gesellschaft des Westens zwar dem ersten Anschein nach verwunderlich, bedenkt man den naturrechtlichen Ursprung und die personale Funktionsweise des subjektiven Rechts, das der marxistisch-leninistischen Rechtstheorie geradezu als Inkarnation des Privatrechts einer bürgerlichen Gesellschaft gelten musste, verständlich aber schon, lenkte man den Blick auf die immens wachsende Bedeutung des Rechts als eines Instruments zur Steuerung des Sozialverhaltens der Bürger auch und gerade in den Staaten mit einer sozialistischen Planwirtschaft, sowie auf die systemstabilisierende Rolle, die der weltweit verlaufenden Auseinandersetzung um den Grund und Inhalt der Menschenrechte in der Welt des real existierenden Sozialismus zukam. Die Abgrenzung zur bürgerlichen Rechtstheorie wurde im Bereich der Politik wie der Wissenschaft auf den beiden berührten Ebenen aufgenommen: der Privatheit, den horizontalen Beziehungen der Bürger untereinander, und der Staatlichkeit, dem vertikalen Verhältnis des Bürgers zum organisierten Gemeinwesen. Wenn man sich die Liquidierung des allgemeinen Zivilrechtsdenkens in der radikal-utopischen Phase der marxistisch-leninistischen Rechtstheorie, die nach dem 1 S. zur Geschichte der Juristenfakultät der Universität Leipzig Fezer (1994), S. 28 ff.; Kern (1995), S. 53 ff.; Eibisch / Gaede (1999, 2000), S. 12 ff.; allgemein zur Geschichte der Universität Leipzig Krause (2003). 2 S. zur politischen Instrumentalisierung des subjektiven Rechts zu einer Kollektivkompetenz in der marxistisch-leninistischen Rechtstheorie Fezer (1986), S. 281 ff.
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Zwischenspiel einer instrumentalen Umdeutung des subjektiven Privatrechts anhand der Lehre von den sozialen Funktionen des subjektiven Rechts dessen Eliminierung propagierte, vor Augen führt, dann wird die der subjektiven Rechtsform zugeschriebene Funktionsweise im realen Sozialismus der 70er und 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts verständlich. Der Grundsatz von der Einheit der persönlichen und gesellschaftlichen Interessen, der innerhalb der marxistisch-leninistischen Rechtstheorie allgemein vertreten wurde, brachte zum Ausdruck, wie die Zielgerichtetheit der gesellschaftlichen Entwicklung im Sozialismus die inhaltliche Festlegung der subjektiven Rechte bedingte. Der Inhalt des subjektiven Rechts verkörperte nicht mehr die facultas agendi: das Freiheitsvermögen einer autonomen Person, sondern die realitas agendi: den Beitrag des einzelnen Bürgers zur Verwirklichung einer sozialistischen Gesellschaft. Das subjektive Recht im Sozialismus verbürgte dem Individuum keinen Rechtsbereich einer personalen Teilhabe. Das sozialistische subjektive Recht auferlegte vielmehr dem Bürger eine Art von Kollektivkompetenz im Interesse der gesellschaftlichen Entwicklung. 2. Das subjektive Recht in der Entwicklung des Zivilrechts der DDR und der rechtstheoretische Diskurs an der Sektion Rechtswissenschaft in Leipzig Äußeres Zeichen eines wachsenden Interesses an der Funktionsweise des subjektiven Rechts und einer Neubelebung der Diskussion innerhalb der Zivilrechtswissenschaft in der DDR war eine im November 1977 in Leipzig abgehaltene wissenschaftliche Arbeitsberatung zu Problemen der Methodologie der marxistisch-leninistischen Rechtswissenschaft, die vom Bereich Theorie des Staates und des Rechts der Sektion Rechtswissenschaft der Karl-Marx-Universität Leipzig veranstaltet wurde.3 Die Suche nach Form und Inhalt eines sozialistischen subjektiven Privatrechts war unverkennbar auch ein Teil einer rechtstheoretischen Fundierung des am 1. Januar 1976 in Kraft getretenen Zivilgesetzbuches (ZGB) vom 19. Juni 1975, das in seinem Geltungsbereich das BGB ablöste und damit die deutsche Rechtseinheit auch auf dem Gebiet des Privatrechts beendete. Die Vorgeschichte des ZGB war auch der Weg eines Wandels von einem bürgerlichen zu einem sozialistischen Zivilrechtsdenken, dessen Etappen von der jeweiligen rechtstheoretischen Haltung, die von der Zivilrechtswissenschaft zum subjektiven Recht eingenommen wurde, abgesteckt wurden. Der radikale Neubeginn eines Zivilrechtssystems von Mitwirkungsrechten der Bürger am gesellschaftlichen Leben in der sozialistischen Demokratie, das die 3 S. zur Leipziger Diskussion zum subjektiven Recht innerhalb der Zivilrechtswissenschaft Wagner (1978); Wagner (1979), S. 674 ff.; Wagner (1981), S. 214 ff.; Wagner (1982); Wagner / Traute (1981), S. 271 ff.; Geisler (1978); Geisler / Wagner (1980), S. 64 ff.
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Babelsberger Konferenz im April 1958 propagiert hatte, wurde zwar unter dem Druck der Zivilrechtsentwicklung in der Sowjetunion, die 1960 einen Entwurf über die Grundlagen für die Zivilgesetzgebung in der UdSSR und den Unionsrepubliken vorgelegt hatte, gestoppt. Die Babelsberger Konferenz hatte eine neue Periode in der Entwicklung des Zivilrechts im anderen Teil Deutschlands eingeleitet. Die Theorie vom sozialistischen Inhalt der überlieferten Kategorien des Privatrechts erfuhr eine nachhaltige Kritik, die in den Forderungen nach einer Abkehr vom bürgerlichen Recht und einer Konzeption eines sozialistischen Zivilrechts einmündete. Als Inbegriff des bürgerlichen Rechtsdenkens rückte das subjektive Recht in das Zentrum der Kritik. Es blieb der Zivilrechtswissenschaft in der DDR nicht länger verborgen, dass in der Rechtseinrichtung des subjektiven Rechts der kulturelle Vorgang einer Individuation der Person seinen Ausdruck findet, und dass der notwendige Spannungszustand zwischen Person und Gruppe einen Konsens der Rechtsgemeinschaft über die Anerkennung komplementärer Strukturen im Recht bedingt. Die Demontage des subjektiven Rechts in der Zivilrechtslehre wurde radikal vollzogen. Nicht die personale Freiheit sollte das Urrecht des Menschen sein, sondern die Mitwirkung an der bewussten Gestaltung des gesamten wirtschaftlichen, kulturellen und vor allem politisch-staatlichen Lebens sollte das entscheidende grundlegende Recht der Bürger sein. Eine solche Vergesellschaftung der subjektiven Rechte meinte ihren Ersatz durch neue sozialistische Rechtsformen, deren Ausbildung der Zivilrechtswissenschaft oblag. Solchen Mitgestaltungsrechten, deren Inhalt die objektiven Rechtsnormen bestimmen, sollte die Funktion zukommen, den Bürgern gesellschaftliche Aufgaben im Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft zu übertragen. Der alternativ zur Lehre vom objektiven Recht entwickelten Theorie von der Aufgabennorm, die konkrete Ziele und Vorhaben normierte und die Mittel zu deren Verwirklichung benannte, war kein Durchbruch beschieden. Es rechtfertigt aber die in Leipzig erneut ansetzende Diskussion über die Kategorie des subjektiven Rechts, die als ein notwendiger Baustein im System eines sozialistischen Zivilrechts Verwendung finden sollte, nicht, von einer Rehabilitierung des subjektiven Rechts zu sprechen. Das liegt auf der Hand, bedenkt man, dass die Zuerkennung von individuellen Rechtspositionen an den einzelnen Bürger zur selbständigen Wahrnehmung gesellschaftlicher Aufgaben die Leitungsfunktion des objektiven Rechts gefährden konnte. Die alternativ zur Lehre vom subjektiven Recht entwickelte Lehre von den Mitwirkungsrechten, die die einzelnen Bürger an Entscheidungen der Verwaltung über bestimmte Bereiche des gesellschaftlichen Lebens beteiligen sollten, diente nicht primär dem Schutz von individuellen Interessen, und blieb so, wenn innerhalb des Zivilrechtssystems Mitwirkungsrechte vorgesehen wurden, unter dem Niveau der subjektiven Rechte. Das sozialistische subjektive Recht blieb ein gleichnamiges Aliud zum bürgerlichen subjektiven Recht. In der Zivilrechtslehre wurde namentlich von Ingo Wagner an der Sektion Rechtswissenschaft der Universität Leipzig eine Theorie zum sozialistischen sub-
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jektiven Recht vorgetragen, die zum einen den Stand und die Fortschritte in der Entwicklung der sozialistischen Rechtstheorie belegte, zum anderen aber auch die tiefgreifenden Unterschiede und unüberbrückbaren Gegensätze in der Privatrechtsentwicklung in den beiden Teilen Deutschlands veranschaulichte. Es wurde zwischen drei Aufgaben des sozialistischen subjektiven Rechts unterschieden. In der Rechtsverwirklichung – das meint: die praktische Realisierung der objektiven Rechtsnormen – übe das subjektive Recht eine staatliche Führungsfunktion, eine Sozialisierungsfunktion und eine konstituierende Handlungsfunktion aus. Die Funktionsweise des subjektiven Rechts im Sozialismus wurde auf drei Ebenen dargestellt: einer generell-abstrakten, einer abstrakt-individuellen und einer konkretindividualisierten Ebene, denen die drei benannten Funktionen zugeschrieben wurden. Gemeinsamer Kern aller sozialistischen Theorien zur Kategorie des subjektiven Rechts ist das Maß-Theorem. Das sozialistische Recht wird als ein objektiv bestimmtes Maß sozialistischer Politik verstanden. Die marxistische Maßkonzeption des Rechts galt auch für den Inhalt des subjektiven Rechts. Die subjektiven Rechte normierten das Maß des möglichen Verhaltens der Rechtssubjekte. Allgemein kann man sagen: Die Funktionsweise des subjektiven Rechts wurde eingebunden in die allgemeine gesellschaftsorganisierende Funktion des Rechts im Sozialismus. Wagner schlug folgende Begriffsbestimmung des subjektiven Rechts vor:4 „Das sozialistische subjektive Recht als Recht der Persönlichkeit ist das spezifisch juristisch-gesellschaftliche Maß der Individualisierung und Vergesellschaftung des Menschen beim Aufbau der kommunistischen Gesellschaftsformation. Als vom sozialistischen Staat fixierte und garantierte, im objektiven Recht enthaltene Verhaltensmöglichkeit ist es generell-abstrakt. In seiner Subjektzugehörigkeit ist es als abstrakt-individuelles Befugnis zur Individualisierung (Individualisierungsbefugnis). Als Verhaltenswirklichkeit in und außerhalb von Rechtsverhältnissen ist es konkret und individualisiert.“
Den gleichen Grundzug wie die neuere Theorie vom sozialistischen subjektiven Recht beherrschte auch das neue Zivilrecht der DDR. Wenn in § 1 Abs. 1 S. 1 ZGB die weitere Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes und die Entwicklung der Bürger zu allseitig gebildeten sozialistischen Persönlichkeiten zu den wesentlichen Aufgaben der sozialistischen Gesellschaft erklärt wurden und das Zivilrecht ausdrücklich in den Dienst dieser Aufgaben gestellt wurde, dann war ein solches Postulat nicht nur ein unverbindlicher Programmsatz, sondern als ein Rechtsprinzip Ausdruck der Funktion des Zivilrechts, ein Instrument der staatlichen Leitung und Planung zu sein, um die Versorgung der Bevölkerung in einem planwirtschaftlichen System zu gewährleisten. In der Präambel des ZGB wird das Prinzip der Einheit von Rechten und Pflichten und der Übereinstimmung der persönlichen Interessen mit den gesellschaftlichen Erfordernissen zur Grundlage aller Bestimmungen des ZGB erklärt. Die Rechte und Pflichten der Bürger werden inhaltlich an den jeweiligen Stand der Entwicklung der sozialisti4
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schen Gesellschaft und an die notwendigen Direktiven von Staat und Partei gebunden. Das subjektive Recht vollzog seiner Rechtsnatur nach einen Wandel zum Pflichtrecht. Es bleibt das Resümee: In der marxistisch-leninistischen Rechtstheorie diente das subjektivrechtliche Rechtsdenken der Aktivierung der Subjekte des Rechts nach den Direktiven einer staatlichen Leitung: Determination des Sozialverhaltens, nicht aber der Sicherung der Autonomie der Person zur selbstbestimmten Gestaltung seiner Lebensverhältnisse: Alternativität des Sozialverhaltens. III. Die rezeptive, ordnungskonstitutive und freiheitsoptimierende Funktion des subjektiven Rechts innerhalb einer pluralistischen Rechtstheorie 1. Die Gesellschaftlichkeit des subjektiven Rechts In der zweiten Hälfte der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts habe ich meine Theorie zur Funktionsweise des subjektiven Privatrechts monographisch und diskutierend vor Ort mit der sozialistischen Rechtstheorie der Sektion Rechtswissenschaft in Leipzig konfrontiert. Innerhalb der von mir vorgetragenen pluralistischen Privatrechtstheorie kommt der personalen Funktionsweise des subjektiven Rechts im Privatrecht eine dreifache Aufgabe zu: die Kultur aufzunehmen (Rezeptionsfunktion), die Ordnung zu begründen (ordnungskonstitutive Funktion) und die Freiheit zu verbürgen (freiheitsoptimierende Funktion). Die rezeptive und die ordnungskonstitutive Funktion des subjektiven Rechts stehen im Dienst der Interdependenz von Recht und Sozialleben, die freiheitsoptimierende Funktion im Dienst der personalen Freiheit.5 Das subjektive Recht ist zugleich Medium einer Vermittlung von Rechtsbereich und Sozialbereich wie Instrument zur Gestaltung einer bestimmten Sozialverfassung. Die Strukturen der Lebenswirklichkeit determinieren die Normativität des subjektiven Rechts einerseits, das subjektive Recht konstituiert den Sozialverband zur Privatrechtsgesellschaft andererseits. Das subjektive Recht ist ein Einfallstor der sozioökonomischen Strukturen einer Gesellschaft in das Recht und die Subjektivierung des ius zugleich ein Akt der Wirklichkeitsgestaltung. Als ein bedeutsamer Träger des Vermittlungsprozesses von Recht und Sozialbereich trägt das subjektive Recht der wechselseitigen Bedingtheit und Abhängigkeit von Norm und Empirie Rechnung. Das subjektive Privatrecht bildet das Sozialmodell einer Gesellschaft ohne normtextliche Bindung ab – Ausdruck der Gesellschaftlichkeit des subjektiven Privatrechts.
5 S. zur Pluralität der rechtlichen Strukturen des subjektiven Privatrechts Fezer (1986), S. 333 ff. und zu den rechtlichen Funktionen S. 363 ff.
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2. Die Freiheitlichkeit des subjektiven Rechts Die freiheitsoptimierende Funktion des subjektiven Rechts legt die Rechtsfindung innerhalb der subjektivrechtlich koordinierten Lebensbereiche auf die Leitidee der personalen Freiheit fest. Das subjektive Recht ist der Garant eines individuellen Freiheitsoptimums. Bei der subjektivrechtlichen Rechtserkenntnis handelt es sich nicht allein um den minimalen Rechtsschutz des Wesensgehalts oder des Kernbereichs eines subjektiven Freiheitsrechts. Vielmehr ist die Rechtsfindung festgelegt auf die bestmögliche Verbürgung der personalen Freiheit des einzelnen Rechtssubjekts. Gegenstand einer Subjektivierung des ius ist die Verrechtlichung des Freiheitsvermögens der Person. Subjektivrechtliches Rechtsdenken zentriert um den einzelnen Menschen. Die Person ist das Programm des Rechts. Das Personsein wird um seiner selbst Willen anerkannt. Der einzelne Mensch wird nicht als ein Teil der Gesellschaft konstituiert; er ist an sich existent. Nicht aber wird die Sozialität des Menschen aus der Rechtsfindung ausgeblendet. Die Subjektivierung eines Lebensbereichs begründet komplementäre Rechtsstrukturen. Der Lebensbereich wird zu einem Rechtsbereich einer personalen Teilhabe. Das subjektive Recht im Sinne komplementärer Teilhabebereiche stellt eine freiheitsverbürgende und freiheitsoptimierende Auslegungsdirektive im Privatrecht dar. Prämisse subjektivrechtlichen Rechtsdenkens ist die Annahme, der einzelne Mensch sei fähig zur Selbstbestimmung und Selbstverantwortung. Selbstverwirklichung des Menschen ist die Zielbestimmung, Autonomie der Person das Modell einer solchen Rechtsbegründung. Das subjektive Privatrecht ist ein Instrument der Verteilung von Macht und ihrer Auflösung in Recht. Subjektivrechtliche Rechtsmacht verbürgt Handlungsalternativen der Interaktion. Es steht dem Einzelnen frei, so zu handeln, anders zu handeln oder nicht zu handeln. Rechtsbereiche einer personalen Teilhabe organisieren und neutralisieren soziale Macht im Interesse der Freiheit des einzelnen Menschen – Ausdruck der Freiheitlichkeit des subjektiven Privatrechts.
3. Die Geschichtlichkeit des subjektiven Rechts Die Subjektivierung von Lebensbereichen gründet auf der generalisierbaren Erwartung, die Anerkennung konkreter Rechtsbereiche einer personalen Teilhabe komme der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung zugute. Die Legitimität des subjektiven Privatrechts ruht in der Ordnungsleistung komplementärer Rechtsstrukturen. Sie wird vom Konsens der Rechtsfindungsgemeinschaft getragen. Im Vorgang der Subjektivierung des ius sind zwei Schritte zu unterscheiden: Rechtsgründung und Rechtskonkretisierung. Rechtsgründung meint die Herstellung des Konsenses über die komplementäre Strukturierung eines bestimmten Lebensbereichs, Rechtskonkretisierung die inhaltliche Bestimmung des Rechtsbereichs
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einer personalen Teilhabe. Im ersten Schritt wird dem Grunde nach über die Anerkennung subjektiver Privatrechte entschieden, im zweiten Schritt über deren inhaltliche Reichweite. Beide Prozesse sind nicht beliebig, sondern in die geschichtliche Entwicklung des Rechts als eines Phänomens der Kultur einer Zeit eingebunden. Eine Gesellschaft ist nicht in der Lage, den Gesamtbestand ihrer vorgegebenen Handlungsorientierung unter Legitimationszwang zu stellen, wenn sie nicht errungene und institutionalisierte Freiheiten gefährden will. Deshalb können wir, wie Friedrich August von Hayek es richtig beschreibt, die Wertgrundlagen unserer Zivilisation nie von Grund auf neu bauen, sondern immer nur von innen heraus entwickeln.6 Auf dem Gebiet des subjektiven Privatrechts kommt die Konsistenz einer teils jahrhundertealten Tradition und die Bewährung in einer an der Lebenswirklichkeit geübten Rechtspraxis rechtssichernd hinzu. Das schließt subjektivrechtlichen Rechtswandel weder im Bereich der Rechtskonkretisierung noch im Bereich der Rechtsgründung aus, wenngleich im Ersteren mehr, im Letzteren weniger und langsamer. Der Bestand an Rechtsbereichen einer personalen Teilhabe ist variabel, die Schranken der privaten Rechtsmacht sind veränderbar. Rechtsgewissheit über die Existenz und den Inhalt der subjektiven Rechte: der Konsens der Rechtsfindungsgemeinschaft ist allein das Ergebnis einer geschichtlichen und gesellschaftlichen Entwicklung. Das subjektive Privatrecht ist entwicklungsoffen. Es ist kein statisches, sondern ein dynamisches Recht. Subjektivrechtliche Rechtsarbeit: Rechtsgründung und Rechtskonkretisierung ist die notwendige Aufgabe einer jeden historischen Rechtsgemeinschaft – Ausdruck der Geschichtlichkeit des subjektiven Privatrechts. IV. Rechtstheoretischer Diskurs und erlebte Demokratisierung In den persönlichen Aktivitäten des Entwicklungsprozesses innerhalb des Jahrzehntes von 1985 bis 1995 erlebte ich die gesellschaftliche Funktionsweise von Destruktivität und Konstruktivität rechtstheoretischer Modelle. Das subjektive Recht ist erneut Ort freiheitlichen Rechtsdenkens an der Juristenfakultät der 600jährigen Universität Leipzig. Das Sozialmodell einer Gesellschaft liegt nicht auf der Hand. Es ist gleichsam ständig in Arbeit. Seine Formulierung ist ein interdisziplinäres Unternehmen der Wissenschaft. Das subjektive Privatrecht ist ein Baustein einer Rechtstheorie des Pluralismus und einer Konzeption eines pluralistischen Privatrechts.7
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v. Hayek (1975), S. 23. Fezer (1985), S. 762 ff.; Fezer (1986), S. 366 ff.
Pluralistische und sozialistische Rechtstheorie des subjektiven Rechts
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Wagner, Ingo: Das sozialistische subjektive Recht als rechtstheoretische Kategorie – theoretisch-methodologische Probleme –, Wiss. Z. Karl-Marx-Univ. Leipzig, Ges.- u. Sprachwiss. R. 30 (1981), S. 214 ff. Wagner, Ingo: Zu einigen Meinungsverschiedenheiten in der rechtswissenschaftlichen Betrachtung des sozialistischen subjektiven Rechts. Zu den Arten (Typen) der Rechte – Studie –, in: Probleme des objektiven und subjektiven Rechts, herausgegeben von Ingo Wagner, Schriftenreihe Methodologie der marxistisch-leninistischen Rechtswissenschaft, Heft 10, Leipzig, 1982, S. 1 ff. Wagner, Ingo / Traute, Karl-Heinz: Philosophisch-soziologisches und Juristisches zum subjektiven Recht als Vereinigung von juristischer Verhaltensmöglichkeit, individuellem Rechtsbewußtsein und Verhaltenswirklichkeit – Theoretisch-methodologische Skizze –, Wiss. Z. Karl-Marx-Univ. Leipzig, Ges.- u. Sprachwiss. R. 30 (1981), S. 271 ff.
Akademische Abschlüsse zwischen Zusammenführung und Anpassung: verleiht Art. 37 Abs. 1 Satz 2 Einigungsvertrag einen Anspruch auf Umdiplomierung? Von Christoph Degenhart
I. Die Zielsetzung des Einigungsvertrags: Rechtseinheit und Chancengleichheit im Bildungswesen Leipzig, die Stadt, von der die Wende des Jahres 1989, die zur deutschen Einigung führte, den Ausgang nahm, und in der die deutsche Einheit seither wie in kaum einer anderen Stadt Gestalt angenommen hat, wurde im Zuge des Einigungsprozesses Sitz des Bundesverwaltungsgerichts. Es wurde damit Sitz eines jener obersten Bundesgerichte, denen die letztverbindliche Klärung einigungsbedingter Rechtsfragen aufgetragen ist. Im Rechtsstaat des Grundgesetzes musste staatliche Einheit notwendig auch Rechtseinheit bedeuten, die Zusammenführung der beiden Teile Deutschlands auch im Recht erfolgen. Dies vor allem war Funktion des Einigungsvertrags, in dem nicht zuletzt ein Ausgleich herbeizuführen war zwischen der Notwendigkeit der Herbeiführung der Rechtseinheit im Rahmen des Grundgesetzes und Erfordernissen eines schonenden Übergangs unter Wahrung legitimer Rechtspositionen, die im Beitrittsgebiet zur Entstehung gelangt waren. Zu den vom Bundesverwaltungsgericht in diesem Zusammenhang zu entscheidenden einigungsbedingten Rechtsfragen zählte u. a. im Bildungsbereich die Auslegung des Art. 37 Abs. 1 Satz 2 EV. In dieser Vorschrift geht es schwerpunktmäßig um die Gleichstellung von Abschlüssen und Befähigungsnachweisen insbesondere im akademischen Bereich.1 Im Bildungsbereich galt es, den Unterschieden in den Bildungssystemen und der Vielgestaltigkeit der Abschlüsse und Befähigungsnachweise Rechnung zu tragen. Wenn diese in dem in Art. 3 EV genannten Gebiet, also dem Beitrittsgebiet, ohne weiteres weitergelten sollten, so wurde damit im Interesse der Inhaber solcher Abschlüsse und Befähigungsnachweise, im Interesse insbesondere ihrer Chancen in der Ausbildung und auf dem Arbeitsmarkt, der Zwang zur Eingliederung in das „gestufte System der bundesdeutschen Bildungs- und Ausbildungslandschaft“ ver1 BVerwG, U. v. 23. 11. 2005 – 6 C 19 / 04 –; der Verfasser war als Bevollmächtigter des Freistaats Sachsen vor dem Bundesverwaltungsgericht am Verfahren beteiligt.
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mieden.2 Doch konnten die Vertragsparteien des Einigungsvertrags sich nicht mit der bloßen Fortgeltung der im Beitrittsgebiet erworbenen Grade in eben diesem Gebiet begnügen. Es musste darum gehen, ihnen im gesamten Bundesgebiet Geltung zu verschaffen. Dies ist Funktion des Art. 37 Abs. 1 Satz 2 EV. Nach dieser Vorschrift stehen die im Beitrittsgebiet und in den anderen Bundesländern abgelegten Prüfungen und erworbenen Befähigungsnachweise einander gleich und verleihen die gleichen Berechtigungen, wenn sie einander gleichwertig sind. Nach Satz 3 wird die Gleichwertigkeit auf Antrag von der jeweils zuständigen Stelle festgestellt. In Art. 37 Abs. 1 Satz 5 EV schließlich ist vorgesehen, dass das Recht auf Führung erworbener, staatlich anerkannter oder verliehener akademischer Berufsbezeichnungen, Grade und Titel in jedem Fall unberührt bleibt. II. Der Rechtsstreit um die „Umdiplomierung“ 1. Problemstellung und Interessenkonstellation Das Bundesverwaltungsgericht hatte sich nun mit der Frage zu befassen, ob Art. 37 Abs. 1 Satz 2 EV dem Inhaber eines an einer Hochschule der seinerzeitigen DDR erworbenen Diploms einen Anspruch auf Umdiplomierung3 verleiht, wenn er der Auffassung ist, einer der in der Bundesrepublik üblichen Diplomgrade entspreche der im Diplom nachgewiesenen Befähigung in höherem Maße, als die aus der DDR stammende Bezeichnung. Im konkreten, in seiner Bedeutung weit über den Einzelfall hinausreichenden Verfahren hatte die Klägerin an einer Hochschule der DDR – es handelte sich um die Handelshochschule in Leipzig – den Grad einer Diplom-Ökonomin erworben und begehrte die Berechtigung, im Wege der Umdiplomierung den Grad einer Diplom-Kauffrau zu führen. Beispielhaft wird hier der Konflikt deutlich, dem sich Gesetzgebung und Rechtsanwendung im Fall des Art. 37 EV – und nicht nur dort – ausgesetzt sehen mussten. Einerseits konnte, durchaus im Sinn des Einigungsprozesses, die verstärkte Anpassung an das System der bundesdeutschen Abschlüsse im Einzelfall die Chancengleichheit der Inhaber von DDR-Graden im beruflichen Wettbewerb verbessern. Andererseits aber würde dies letztlich dazu führen, die in dem in Art. 3 EV genannten Gebiet verliehenen akademischen Grade zu entwerten. Dies war auch die maßgebliche Interessenkonstellation in der Frage des Anspruchs auf Umdiplomierung, der Frage insbesondere, ob ein an einer Hochschule der DDR erworbener Grad einer Diplom-Ökonomin seiner Trägerin das Recht auf Umdiplomierung in den Grad einer Diplom-Kauffrau verlieh; mit diesem letzteren Grad verband sich die Erwartung gesteigerter beruflicher Chancen auf dem Arbeitsmarkt der Bundesrepublik. Das Sächsische Oberverwaltungsgericht4 hatte wie Vgl. BVerwGE 106, 24 (31). Zum Begriff der „Umdiplomierung“ s. Berufungsurteil S. 12; ferner etwa Kuhr, LKV 2000, 179 (181 mit Fn. 24). 2 3
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schon in der Vorinstanz des VG Dresden5 die Frage bejaht, nachdem der Freistaat Sachsen zwar ohne Einschränkungen festgestellt hatte, dass der von der Klägerin erreichte Abschluss einem Abschluss gleichwertig ist, der an einer Universität oder gleichgestellten Hochschule in dem Teil Deutschlands erworben wurde, in dem das Grundgesetz bereits vor dem 3. Oktober 1990 galt, einen Anspruch der Klägerin darauf, den ihrer Ansicht nach äquivalenten Titel einer Diplom-Kauffrau zu führen, jedoch verneint hatte. 2. Vorinstanzen Nach Auffassung der Vorinstanzen sollten nach dem Einigungsvertrag die in den neuen Ländern und die in den alten Ländern abgelegten Prüfungen bei Gleichwertigkeit gleiche Berechtigungen verleihen. Zu diesen Berechtigungen zähle auch das Recht zur Führung des akademischen Grades als Beleg dafür, dass sein Träger einen berufsqualifizierenden Studiengang mit einer Abschlussprüfung erfolgreich durchlaufen habe. Dem Zweck des Einigungsvertrages, durch die gegenseitige Anerkennung und Gleichstellung von Abschlüssen und Befähigungsnachweisen eine Zusammenführung der Menschen in der gemeinsamen Bundesrepublik Deutschland zu erreichen, entspreche es, einen inhaltlich gleichwertigen Abschluss durch den im wiedervereinigten Deutschland gebräuchlichen akademischen Grad zu dokumentieren. Erst dadurch sah das Oberverwaltungsgericht Chancengleichheit auf einem durch westdeutsche Standards geprägten Arbeitsmarkt gewährleistet, ähnlich wie in den Fällen einer Nachdiplomierung.6 Hieraus wurde das Recht abgeleitet, den akademischen Grad zu führen, zu dem ein gleichwertiger Abschluss an einer Hochschule im alten Bundesgebiet geführt hätte. Es wurde also, unter weitestgehender Zurückdrängung anderweitiger Auslegungsmethoden, auf die Interessenlage der Parteien des Einigungsvertrags abgestellt. Gerade dieses Vorgehen jedoch hätte zu Ergebnissen geführt, die nicht nur von Wortlaut und Systematik der Norm nicht mehr getragen sind, die vielmehr auch der vorausgesetzten Interessenlage der Beteiligten letztendlich im Ergebnis zuwiderlaufen.
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U. vom 5. Oktober 2004 – 4 B 148 / 04 –. U. vom 16. Januar 2002 – 5 K 2749 / 99 –. BVerwGE 106, 24.
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III. Gesetzesauslegung: Art. 37 Abs. 1 Satz 2 EV 1. Zur Wortlautinterpretation des Art. 37 Abs. 1 Satz 2 EV – „Gleichwertigkeit“ und „gleiche Berechtigungen“ a) Feststellung und Bedeutung der „Gleichwertigkeit“ Wenn von Gleichwertigkeit eines Abschlusses im Sinn des Art. 37 Abs. 1 Satz 2 EV auszugehen ist,7 so kommt es auf der Rechtsfolgenseite der Norm entscheidend darauf an, was unter „gleichen Berechtigungen“ zu verstehen ist. Der Normtext unterscheidet also zwischen gleichwertigen Prüfungen und Berechtigungen, die diese verleihen. Mit der Prüfung wird das erfolgreiche Absolvieren einer Ausbildung und wird ein bestimmter erreichter Ausbildungsstand in formalisierter Weise festgestellt. Die Gleichwertigkeit – als Voraussetzung gleicher Berechtigungen – bedeutet nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. 12. 1997 „Niveaugleichheit“, für die jedoch in erster Linie nicht auf inhaltliche, sondern auf formelle und funktionale Gleichheit abzustellen ist.8 Dies wird vor allem aus der spezifischen Interessenlage der Beteiligten bei Abschluss des Einigungsvertrags begründet. Da der Begriff der „Gleichwertigkeit“ als tatbestandliche Voraussetzung für gleiche Berechtigungen einer wertenden Ausfüllung zugänglich ist, erscheint es in der Tat im Ansatz gerechtfertigt, die Auslegung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs vorrangig aus der maßgeblichen Interessenlage heraus vorzunehmen. Wenn es demgegenüber in Art. 37 Abs. 1 Satz 2 EV auf der Rechtsfolgenseite darum geht, dass bestimmte Berechtigungen verliehen werden, so wird hier eine normative Begrifflichkeit zugrundegelegt, werden also Rechtsbegriffe verwendet, die einen gewissen in der Rechtsordnung umrissenen Bedeutungsgehalt aufweisen, der der Norminterpretation zugrundezulegen ist. Dass das Ziel einer Zusammenführung der unterschiedlichen Bildungs- und Ausbildungssysteme der beiden deutschen Staaten der Interessenlage der Vertragsparteien entsprach,9 macht eine Bestimmung der vom Gesetz erfaßten Berechtigungen nicht entbehrlich – die für die vertragsschließenden Parteien des Einigungsvertrags maßgebliche Interessenlage ist bei der Bestimmung des Normgehalts durchweg zu berücksichtigen, ersetzt diese nicht. b) „Berechtigungen“ Welche „Berechtigungen“ durch Prüfungen – hier also durch Hochschulabschlussprüfungen – „verliehen“ werden, wird in Art. 37 Abs. 1 Satz 2 EV nicht Zum Begriff der Gleichwertigkeit s. eingehend Conrad, WissR 1991, 108 (116 ff.). BVerwGE 106, 24 (33 ff., 37 f.) = DVBl. 1998, 961 (964), dort auch unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung zum Gleichwertigkeitsbegriff nach § 92 BVFG. 9 Zu deren Relevanz für die Auslegung der staatsvertraglichen Regelungen s. BVerwGE 106, 24 (29 f.) 7 8
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ausdrücklich geregelt, konnte angesichts der Komplexität der betroffenen Fallgestaltungen auch nicht abschließend vorweg geregelt werden, dies umso mehr, als ja Hochschulprüfungen keineswegs die einzigen Prüfungen, Abschlüsse oder Befähigungsnachweise sind, die nach Art. 37 Abs. 1 Satz 1 EV in dem in Art. 3 EV genannten Gebiet, also im Beitrittsgebiet weitergelten und die nach Art. 37 Abs. 1 Satz 2 EV im gesamten Bundesgebiet bei Gleichwertigkeit gleiche Berechtigungen verleihen. Art. 37 Abs. 1 Satz 1 EV nennt ohne weitere Einschränkung schulische, berufliche und akademische Abschlüsse, die erworben oder staatlich anerkannt sein können. Entsprechend weitgefaßt wie der Begriff der Abschlüsse und Befähigungsnachweise erscheint dann der der Berechtigungen. Von „Berechtigungen“ kann jedenfalls dann gesprochen werden, wenn in der Rechtsordnung die Ausübung einer bestimmten Tätigkeit, der Zugang zu einem bestimmten Beruf oder – im Recht des öffentlichen Dienstes – zu einer bestimmten Laufbahn vom formalisierten Nachweis einer Befähigung, dem Bestehen der Hochschulprüfung, abhängig gemacht wird. Eine Berechtigung in diesem Sinn ist u. a. die zur Einstellung in bestimmte Laufbahnen des öffentlichen Dienstes besonderer Fachrichtung.10 Das Recht zur Führung akademischer Grade, insbesondere eines Diplomgrades, wie es hier in Frage steht, setzt zunächst eine Hochschulprüfung voraus. Auf Grund der Prüfung verleiht gemäß § 18 Abs. 1 Satz 1 HRG und den die Rahmenvorschrift ausfüllenden landesrechtlichen Bestimmungen die Hochschule den Diplomgrad mit Angabe der Fachrichtung – der Diplomgrad wird stets mit Angabe der Fachrichtung verliehen.11 Insoweit kann davon gesprochen werden, dass nach § 18 Abs. 1 Satz 1 HRG und den einschlägigen Bestimmungen des Hochschulrechts der Länder die Prüfung das Recht auf Verleihung des akademischen Grades verleiht; dieser wiederum wird von der Hochschule verliehen. Der akademische Grad, also der Diplomgrad, bildet den Nachweis, dass sein Träger einen berufsqualifizierenden Studiengang mit einer Abschlussprüfung erfolgreich durchlaufen hat. Mit Verleihung des akademischen Grades, also mit erfolgter Graduierung, ist diesem Rechtsanspruch genügt. Aus dieser Verleihung eines akademischen Grades folgt dann auch das Recht auf dessen Führung. Dieses Recht folgt ohne weiteres aus dem verliehenen Grad. Ist also auf Grund einer erfolgreich abgelegten Hochschulprüfung die Graduierung erfolgt und wurde der akademische Grad eines Diploms von der Hochschule verliehen, so bleibt insoweit kein Anwendungsbereich für die Verleihung weiterer wie immer gearteter Berechtigungen, sei es zusätzlich zum bereits verliehenen Grad, sei es an dessen Stelle. Denn auch hier gilt, dass der Diplomgrad stets für eine bestimmte Fachrichtung verliehen wird. Dies gilt auch dann, wenn die akademische Prüfung in dem in Art. 3 EV genannten Gebiet abgelegt wurde. Ist auf Grund dieser Prüfung eine Graduierung erfolgt und Dazu s. Kuhr, DÖD 2000, 11; BVerwG, U. v. 19. 03. 1998. Buchholz Art. 37 EV 1.2. Vgl. Karpen, Akademische Grade, Titel, Würden, in: Handbuch des Wissenschaftsrechts, § 28 S. 801. 10 11
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wurde die Berechtigung zur Führung des Diplomgrades verliehen, so bleibt insoweit kein Anwendungsbereich mehr für die Bestimmung des Art. 37 Abs. 1 Satz 2 EV, denn auch insoweit bedarf es nicht mehr der Verleihung einer weiteren Berechtigung. Damit stellt sich auch nicht die Frage nach „gleichen“ Berechtigungen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn es sich um einen Diplomgrad handelt, als einem der tradierten, national und international anerkannten akademischen Grade, die deutsche Hochschulen seit jeher verleihen.12 Sowohl die in den alten Bundesländern, als auch die in dem in Art. 3 EV genannten Gebiet abgelegten Diplomprüfungen verleihen das Recht, diesen Grad zu führen – hierin also bestehen von vornherein gleiche Berechtigungen. c) Unterschiede zur Nachdiplomierung Hierin unterscheidet sich der Anspruch auf Umdipomierung grundlegend von dem auf Nachdiplomierung, wenn noch kein akademischer Grad verliehen worden ist. Denn dann geht es darum, einen derartigen Grad auf Grund einer ablegten Prüfung bzw. eines erworbenen Befähigungsnachweises erstmals zu verleihen, notwendig unter Angabe einer bestimmten Fachrichtung.13 Ist aber auf Grund eines nach Art. 37 Abs. 1 Satz 1 EV weitergeltenden Abschlusses eine Graduierung bereits erfolgt, so bedarf es insoweit nicht mehr der Verleihung einer besonderen Berechtigung. 2. Systematische Interpretation Dies folgt auch aus dem systematischen Zusammenhang der in Art. 37 Abs. 1 EV getroffenen Regelungen. a) Systematik des Art. 37 EV Art. 37 EV befasst sich mit dem Bildungswesen und hierbei in Absatz 1 mit schulischen, beruflichen und akademischen Abschlüssen und Befähigungsnachweisen; die Bestimmung ist in ihrem Anwendungsbereich hinreichend weit gefasst, um in der spezifischen Situation des Einigungsvertrags14 den Unterschieden in den Bildungssystemen und die Vielgestaltigkeit der Abschlüsse und Befähigungsnachweise Rechnung zu tragen. Wenn diese in dem in Art. 3 EV genannten Gebiet, also dem Beitrittsgebiet, ohne weiteres weitergelten sollten, so wird damit, wie darlegt, im Interesse der Inhaber solcher Abschlüsse und Befähigungsnachweise, im Inte12 Vgl. Conrad, WissR 1991, 108 (109); Karpen, Akademische Grade, Titel, Würden, in: Handbuch des Wissenschaftsrechts, § 28 S. 801. 13 Zur unterschiedlichen Ausgangslage etwa Kuhr, LKV 2000, 179 ff. 14 BVerwGE 106, 24 (29).
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resse insbesondere ihrer Chancen in der Ausbildung und auf dem Arbeitsmarkt, der Zwang zur Anpassung vermieden,15 indem auf eine „Niveaugleichheit“ im Sinne einer im Wesentlichen formellen und funktionalen Gleichheit abgestellt wird, die inhaltlich nur eine fachliche Annäherung der jeweiligen Ausbildungen voraussetzt.16 Während die schlichte, unmittelbar kraft Gesetzes eintretende Fortgeltung der in der DDR erworbenen oder staatlich anerkannten Abschlüsse und Befähigungsnachweise auf das in Art. 3 EV genannte Gebiet (also das Gebiet, in dem sie erworben wurden), beschränkt ist, erweitert die Gleichstellungsvorschrift des Art. 37 Abs. 1 Satz 2 EV ihre Geltung auf das gesamte Bundesgebiet. Gleichwertigkeit vorausgesetzt, gelten sie im gesamten Bundesgebiet in gleicher Weise und verleihen die gleiche Berechtigung. Dass auch das Kriterium der Gleichwertigkeit nicht im Sinn eines Zwangs zur Einpassung in die bundesdeutsche Bildungs- und Ausbildungslandschaft zu verstehen, sondern entsprechend der Zielsetzung der Vertragsparteien auf eine gleichberechtigte Zusammenführung hin auszurichten ist, dies hat das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 10. Dezember 1997 klargestellt. b) Zu Art. 37 Abs. 1 Satz 5 EV Wenn nun nach der Verfahrensvorschrift des Art. 37 Abs. 1 Satz 3 EV die Gleichwertigkeit auf Antrag festzustellen ist und im Anschluss an diese Vorschrift Satz 4 den Vorrang von rechtlichen Regelungen des Bundes und der Europäischen Gemeinschaften über die Gleichstellung von Prüfungen und Befähigungsnachweisen sowie den Vorrang speziellerer Regelungen im Vertrag selbst anordnet, so wird bereits hieraus die Bedeutung der Vorschrift des Art. 37 Abs. 1 Satz 5 EV als einer Bestandsschutzgewährleistung deutlich. Sie dient der Klarstellung, dass das Recht zur Führung akademischer Berufsbezeichnungen, Grade und Titel in jedem Fall unberührt bleibt. Dies bezieht sich auf erworbene, staatlich anerkannte oder verliehene Berufsbezeichnungen, Grade und Titel, ist also wiederum offen und umfassend formuliert. Gerade für den Hochschulbereich sind im Einigungsvertrag, was die Bedeutung von Abschlüssen und Befähigungsnachweisen im weitesten Sinn betrifft, Sonderregelungen vorgesehen. Deshalb bedurfte es hierfür in besonderer Weise der Klarstellung, dass akademische Grade in jedem Fall fortgeführt werden können. Die Bestimmung regelt nunmehr umfassend die Führung der in der DDR erworbenen, staatlich anerkannten oder verliehenen akademischen Grade. Sie werden weiter geführt, unabhängig von der Frage der Gleichstellung, unabhängig davon, ob ihr Träger einen Antrag auf Feststellung der Gleichwertigkeit gestellt hat, und unabhängig davon, wie es sich mit seiner gruppenmäßigen Zuordnung innerhalb der Hochschule verhält. Eben dies bedeutet die Aussage im Vertragstext, dass das Recht, sie zu führen, auf jeden Fall erhalten bleibt. Dieses Recht wird 15 16
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damit deutlich abgeschichtet von den Berechtigungen, die sich aus der Feststellung der Gleichwertigkeit ergeben. Es bleibt „auf jeden Fall“ erhalten und braucht deshalb nicht eigens verliehen werden. Insoweit also trifft Art. 37 Abs. 1 Satz 5 EV eine abschließende Aussage zu den in der DDR erworbenen oder verliehenen bzw. anerkannten akademischen Graden. Wenn im übrigen Art. 37 Abs. 1 Satz 5 EV vom Recht auf Fortführung eines erworbenen, staatlich anerkannten oder verliehenen akademischen Grades spricht, so bedeutet dies die Fortführung eines Grades, den der Betreffende bereits innehat. Vom Erwerb anderer, insbesondere neuer akademischer Grade oder Berufsbezeichnungen ist dort nicht die Rede. Auch dies macht deutlich: mit der generellen und grundsätzlichen Aussage, dass akademische Grade, die in der DDR rechtmäßig geführt wurden, weiter geführt werden, ist diese Frage der Zusammenführung der Bildungssysteme als maßgeblichem Normzweck im Einigungsvertrag entschieden. Dies bedeutet aber auch: die Grade sind grundsätzlich in der Form weiterzuführen, in der sie erworben wurden, jedenfalls dann, wenn sie, wie beim Diplomgrad, der Tradition der deutschen Universität entsprechen. Art. 37 Abs. 1 Satz 5 EV stellt hinsichtlich der Führung der akademischen Grade auf die „seit langem übereinstimmende Auffassung von Bund und Ländern ab, wonach auch die in der ehemaligen DDR erworbenen akademischen Grade nach dem Gesetz über die Führung akademischen Grade . . . deutsche akademische Grade sind, deren Führung in der Bundesrepublik schon bisher keiner Genehmigung bedurfte“.17 Eine weitere Überlegung bestätigt dieses Ergebnis. Das Recht, diese Bezeichnungen weiterzuführen, bleibt in jedem Fall unberührt – es würde also auch dann unberührt bleiben, wenn man mit dem Berufungsgericht seinem Träger einen Anspruch auf Zuerkennung eines mit einer anderen Fachbezeichnung verbundenen Diploms zuerkennen wollte. Die Vertragsschließenden konnten jedoch mit „gleichen Berechtigungen“ schwerlich die Berechtigung zur gleichzeitigen Führung mehrerer unterschiedlicher akademischer Grade auf Grund der gleichen Diplomierung gemeint haben. c) Eigenständiger Regelungsgehalt Art. 37 Abs. 1 Satz 2 EV wäre im übrigen auch nicht „überflüssig“, wollte man die Bestimmung nicht in ihrem Sinn eines Anspruchs auf Umdiplomierung verstehen, unter gleicher Berechtigung also das Recht auf Führung des gleichen akademischen Grades „wie die Hochschulabsolventen in dem jeweils anderen Gebiet“. Dies ist schon deshalb nicht richtig, weil sich die Bedeutung des Art. 37 Abs. 1 Satz 2 EV nicht in einer etwaigen Regelung der Führung akademischer Grade erschöpft. „Berechtigungen“ aus Prüfungen und Befähigungsnachweisen sind ebenso vielfältiger Natur, etwa in laufbahnrechtlichen Zusammenhängen, wie die 17 Vgl. Conrad, WissR 1991, 108 (109); das Gesetz über die Führung akademischer Grade vom 7. Juni 1939 (RGBl. I S. 985) gilt als Landesrecht fort.
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in Art. 37 Abs. 1 Satz 2 EV genannten Prüfungen und Befähigungsnachweise selbst. Das Recht zur Führung des mit einer Hochschulprüfung verbundenen akademischen Grades wird auf Grundlage der erfolgreich abgelegten Hochschulprüfung durch die Hochschule selbst verliehen – dies war an den Hochschulen der DDR nicht anders als an denen der Bundesrepublik. Ein auf diesem Weg erworbener Diplomgrad ist ein akademischer Grad der Hochschule, nicht der eines nicht mehr existenten Staates. Das Recht, diesen Grad zu führen, brauchte nicht mehr durch Art. 37 Abs. 1 Satz 2 EV eigens verliehen zu werden. 3. Art. 37 Abs. 1 Satz 2 EV im Vergleich mit § 92 BVFG Auch der Vergleich mit der Regelung des § 92 BVFG18 im Hinblick darauf, dass bei Abschluss des Einigungsvertrags den Vertragsschließenden die Umdiplomierung nicht unbekannt war, führt zu keiner abweichenden Beurteilung. Gleichwertigkeit von Bildungsabschlüssen ist im Fall des Art. 37 Abs. 1 Satz 2 EV nicht nach engeren Kriterien zu beurteilen, als in den Fällen des § 92 Abs. 2, 3 BVFG. Hiernach konnten akademische Grade, die die Berechtigten vor der Vertreibung, Aussiedlung oder Zuwanderung erworben hatten, in der Form eines gleichwertigen akademischen Grades im Geltungsbereich des Grundgesetzes weitergeführt werden. Doch bezog sich dies in aller Regel auf fremdsprachlich erteilte Diplome, für die mit der Anerkennung auch eine Umschreibung erforderlich werden konnte. Wenn für diesen Bereich Art. 133 Abs. 1 Satz 1 BayHSG einen Anspruch auf Umdiplomierung vorsah, so kann hieraus schon deshalb nichts für die Auslegung des Art. 37 Abs. 1 Satz 2 EV abgeleitet werden, weil hier der Anspruch auf Führung eines außerhalb des Geltungsbereiches des Grundgesetzes erworbenen akademischen Grades in Form eines gleichwertigen akademischen Grades im Geltungsbereich des Grundgesetzes ausdrücklich gesetzlich geregelt ist. Zwar dürfte die gleichermaßen auf Integration gerichtete Bestimmung des § 92 BVFG19 als Vorbild für die textliche Fassung des Art. 37 Abs. 1 EV gedient haben. Nach § 92 Abs. 1 BVFG waren Prüfungen und Befähigungsnachweise, die Flüchtlinge und Vertriebene auf dem Gebiet des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 abgelegt hatten, „anzuerkennen“; diese Regelung wurde nicht im Sinn eines Anspruchs auf Führung eines akademischen Grades gedeutet.20 Wenn demgegenüber Art. 37 Abs. 1 Satz 2 EV insofern weiter gefasst ist, als hiernach Prüfungen und Befähigungsnachweise die gleichen Berechtigungen verleihen, so liegt dieser überschießende Regelungsgehalt doch keinesfalls notwendig in einem Anspruch auf Umdiplomierung. Zwar dachten die Vertragsschließenden bei Art. 37 EV auch an akademische Grade, die ja auch in Abs. 1 Satz 5 ausdrücklich Erwähnung finden, und formulierten die Bestimmung insgesamt weiter als die des 18 19 20
I.d.F. d. Bek. Vom 3. 9. 1971, BGBl. I S. 1565; s. dazu BVerwGE 104, 24 (36 f.). Jetzt: § 10 Abs. 1 BVFG i.d.F. d. Bek. Vom 22. 6. 1993, BGBl. I S. 829. BVerwG NJW 1991, 3107.
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§ 92 BVFG. Soweit es um die Führung akademischer Grade ging, brauchte dies, wie dargelegt, nicht gesondert geregelt zu werden, folgt die Berechtigung hierzu ohne weiteres aus der fortgeltenden Graduierung, dies jedenfalls dann, wenn es sich um einen Diplomgrad handelt, als einem der tradierten, national und international anerkannten akademischen Grade, die deutsche Hochschulen seit jeher verleihen. Art. 37 Abs. 1 Satz 5 EV stellt dies auch klar. Dass also Art. 37 EV weiter gefaßt ist, als § 92 BVFG, bedeutet wohl unter anderem, dass in dem in Art. 3 EV genannten Gebiet erworbene oder verliehene akademische Titel ohne weiteres auch außerhalb dieses Gebiets weitergeführt werden können, dass erworbene Diplomierungen gültig bleiben, bedeutet aber nicht notwendig, dass die Führung anderer als der erworbenen Diplomgrade bzw. Fachbezeichnungen beansprucht werden kann. Dass die Vertragsschließenden gerade diesen überschießenden Bedeutungsgehalt des Art. 37 Abs. 1 Satz 2 EV gewollt hätten, diesen Nachweis bleibt das Berufungsgericht schuldig. 4. Art. 37 Abs. 1 Satz 2 EV als Anspruchsgrundlage? a) Anspruchsinhalt Zusammenfassend kann also aus dem Wortlaut des Art. 37 EV, insbesondere dessen Abs. 1 Satz 2 und aus der systematischen Stellung der Gleichwertigkeitsklausel des Art. 37 Abs. 1 Satz 2 EV wie auch aus dem Vergleich zu § 92 BVFG keine Rechtsgrundlage für eine Umdiplomierung hergeleitet werden. Da es für die Verleihung von Hochschulgraden grundsätzlich keine Rechtsgrundlagen außerhalb des Hochschulrechts gibt, müßte ein dahingehender Rechtsanspruch zumindest ansatzweise im Wortlaut der Norm seinen Niederschlag finden, wie dies für den Fall der Nachdiplomierung gilt, wo noch bestimmte Berechtigungen zu verleihen sind. Für den Fall der Umdiplomierung, wie sie im hier zugrundeliegenden Sachverhalt beansprucht wurde, fehlt es an einem dahingehenden Anhaltspunkt im Tatbestand der Norm. Es fehlt aber auch an einer hinreichend bestimmten Rechtsfolge, wollte man mit den Vorinstanzen die Bestimmung des Art. 37 Abs. 1 Satz 2 EV als unmittelbare Anspruchsgrundlage für die Verleihung oder Zuerkennung eines Diplomgrades im Wege der Umwandlung eines bereits erworbenen Diplomgrades heranziehen. Da ja in diesen Fällen bereits die Berechtigung zur Führung eines Diplomgrades – des in der DDR erworbenen Grades – besteht, würde auch offen bleiben, wie die Grade sich zueinander verhalten. b) Tatbestandliche Voraussetzungen Nicht nur in den Rechtsfolgen bliebe ein Anspruch auf Umdiplomierung unbestimmt – auch in den tatbestandlichen Voraussetzungen selbst ist dies der Fall. Angesichts der Vielzahl von Diplomstudiengängen in dem in Art. 3 EV genannten Gebiet einerseits, den alten Bundesländern andererseits und der Vielzahl möglicher
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akademischer Grade bleibt unklar und wird von den Vorinstanzen auch im Unklaren gelassen, wann ein Diplomgrad nun gleichwertig ist und gleiche Berechtigungen verleiht, so dass es seinem Träger angesonnen werden kann, ihn unverändert weiterzuführen, und wann dies unzumutbar sein soll. Auch hierin unterscheidet sich ein Anspruch auf „Umdiplomierung“ maßgeblich von dem auf Nachdiplomierung: dass kein Diplomgrad verliehen wurde, lässt sich unschwer feststellen. Die Entscheidung des Berufungsgerichts, sollte sie Rechtspraxis werden, würde es künftig weitgehend in das Belieben der Träger eines Diplomgrades stellen, ob sie diesen unverändert weiterführen oder an seiner Stelle oder zusätzlich einen anderen, „gleichwertigen“ Diplomgrad führen wollen – welcher dies ist, müßte im Einzelfall festgestellt werden. Wenn ein aus Art. 37 Abs. 1 Satz 2 EV abzuleitender Anspruch auf „Umdiplomierung“, also auf Zuerkennung einer anderen als der ursprünglich verliehenen fachlichen Bezeichnung, weder in seinen tatbestandlichen Voraussetzungen noch in den Rechtsfolgen hinreichend klar bestimmbar ist, so spricht dies zwingend gegen die Eignung der Norm als Anspruchsgrundlage. Diese Beliebigkeit in der Rechtsfolge würde nochmals gesteigert, wollte man aus Art. 37 Abs. 1 Satz 2 EV einen Rechtsanspruch darauf herleiten, den gleichen akademischen Grad zu führen wie die Hochschulabsolventen in dem jeweils anderen Gebiet mit gleichwertigem Abschluss – was nichts anderes bedeuten würde, als dass Hochschulabsolventen aus alten wie neuen Bundesländern weitgehend nach Belieben zwischen den jeweils passenden Diplomgraden würden wechseln können. Der hierin angelegten Rechtsunsicherheit ist das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zutreffend entgegengetreten. 5. Normzweck und Interessenlage der Vertragsschließenden Angesichts der Unterschiedlichkeit von Studiengängen und Ausbildungsinhalten, mit der die Vertragsparteien des Einigungsvertrags konfrontiert waren,21 mußte es bei der in dessen Rahmen vorzunehmenden Angleichung und Gleichstellung vor allem darum gehen, in der Bewertung der jeweiligen Ausbildungsgänge Niveaugleichheit zu gewährleisten und so zu einer formalisierten Gleichstellung zu gelangen.22 Gleichwertigkeit setzt formelle und funktionale Gleichheit voraus, inhaltlich eine fachliche Annäherung. Auf Grund dieses formalisierten Gleichwertigkeitsbegriffs erfolgt kein konkreter inhaltlicher Vergleich von Abschlüssen in der DDR und Abschlüssen in der Bundesrepublik Deutschland, wenn es um die Feststellung der Gleichwertigkeit und der sich hieraus ergebenden Berechtigungen geht.23 Ein solcher Vergleich müsste jedoch im Rahmen einer „Umdiplomierung“ BVerwGE 106, 24 (32). BVerwGE 106, 24 (32, 37 f.) 23 Vgl. bes. BVerwGE 106, 24 (37) zur aufwendigen Ermittlung und Bewertung einzelner Ausbildungsinhalte. 21 22
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vorgenommen werden. Die Zielsetzung des Art. 37 EV, über eine dergestalt formalisiert verstandene Gleichwertigkeit zu einer Zusammenführung auf der Grundlage des Gegenseitigkeitsgedankens zu gelangen, würde konterkariert, wollte man aus Art. 37 Abs. 1 Satz 2 EV die Notwendigkeit ableiten, nunmehr materielle Gleichwertigkeit im Einzelfall festzustellen, um so den „passenden“ Diplomgrad zu ermitteln. Denn es müsste jeder einzelne Studiengang vergleichend bewertet werden – eine Vorgehensweise, die im Hinblick auf die Zielvorgabe einer Zusammenführung der Bildungssysteme und Ausbildungsgänge anstelle einer bloßen „Eingliederung“ gerade vermieden werden sollte. Dass damit Diplomgrade aus dem in Art. 3 EV genannten Gebiet weitgehend zur Disposition ihrer Träger gestellt und faktisch entwertet würden, wäre eine unvermeidliche Folge aus dem Urteil des Sächsischen Oberverwaltungsgericht gewesen, würde es die künftige Rechtspraxis bestimmen. Inhaber von Diplomen und ggf. auch anderen akademischen Graden aus dem in Art. 3 EV genannten Gebiet sähen sich vor die faktische Notwendigkeit gestellt, ihre Diplome umschreiben zu lassen. Dass dies nicht in der Intention der Vertragsschließenden liegen konnte, dass es dem von ihnen verfolgten Ziel der Zusammenführung zuwiderläuft, dies hat das Bundesverwaltungsgericht zu Recht klargestellt.
IV. Bewertung – Interessenlage und Leistungsfähigkeit tradierter Methodik Das Bundesverwaltungsgericht hält insbesondere fest, dass dann, wenn bereits in der DDR aufgrund eines dort erfolgreich abgeschlossenen Hochschulstudiums ein Diplomgrad verliehen wurde, auch für die Anerkennung der Gleichwertigkeit des so erworbenen Abschlusses nach Art. 37 Abs, 1 Satz 2 EV eine Niveaugleichheit erforderlich, aber auch ausreichend ist. Es bewertet die Interessenlage der vertragsschließenden Parteien in der gebotenen Differenzierung, wenn es Umdiplomierungen als nicht nur wenig hilfreich zur Förderung gleicher Entfaltungsmöglichkeiten auf dem gesamtdeutschen Arbeitsmarkt, sondern auch im Widerspruch zu den Zielen sieht, die die Vertragschließenden mit Art. 37 Abs. 1 EV verfolgt haben. Es sieht, dass der „Umtausch“ von DDR-Diplomen in anderslautende Hochschulgrade, die in den alten Bundesländern gebräuchlich waren und sind, zu einer Abwertung jener Diplome führen würde, dass sich nämlich Akademiker aus den neuen Bundesländern in immer größerer Zahl faktisch gezwungen sehen könnten, ihrerseits eine Umschreibung vornehmen zu lassen. Nicht nur die Diplome, auch die sie verleihenden Hochschulen würden faktisch in einer Weise herabgestuft, die jedenfalls den Intentionen der Parteien des Einigungsvertrags zuwiderlaufen würde. Wenn hierzu vom Oberverwaltungsgericht ausgeführt worden war, die Absolventen der Bildungseinrichtungen der DDR dürften nicht auf den akademischen Grad „eines nicht mehr existenten Staates“ verwiesen werden, so liegt hierin ein prinzipielles Missverständnis, was akademi-
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sche Grade betrifft: Diplome sind Hochschulgrade, nicht akademische Grade eines Staates, ob existent oder nicht mehr existent. Und sie verleihen das Recht den entsprechenden Grad zu führen. Sie werden von der Hochschule verliehen – dies war in der DDR nicht anders. Wenn die Graduierung nach bundesdeutschem Recht eine öffentliche Würde eigener Art“ vermittelt,24 so sollte auch der Diplomierung durch die DDR-Hochschule diese „Würde eigener Art“ nicht von vornherein abgesprochen werden. Eben dies vermeidet das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, und vermeidet damit auch einen Zwang zur Anpassung, den die Parteien des Einigungsvertrags nicht wollten. Es belegt aber auch, wie eine allein an der Interessenlage ausgerichtete Rechtsanwendung ohne dogmatische Absicherung in der Sache interessengerechte Lösungen vereiteln kann. Es belegt nicht zuletzt überzeugend die Leistungsfähigkeit tradierter Methodik.
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So das Berufungsurteil des SächsOVG vom 5. Oktober 204 – 4 B 148 / 04 – , S. 15.
III. Leipzig als Stadt des Rechts: Hommage an das Bundesverwaltungsgericht
Reichsverwaltungsgericht und Reichsgericht Schlaglichter auf die Bestrebungen zur Errichtung eines Reichsverwaltungsgerichts Von Uwe Berlit I. Einleitung Leipzig ist seit dem 26. August 2002 der Sitz des obersten Verwaltungsgerichts der Bundesrepublik Deutschland.1 Das Bundesverwaltungsgericht spricht Recht in dem Gebäude,2 das für das Reichsgericht errichtet worden ist und in dem es bis 1945 seinen Sitz hatte. Nach der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands hatten viele erwartet, dass nunmehr auch der Bundesgerichtshof an seine stets hochgehaltene Tradition anknüpfen und seinen Sitz wieder in Leipzig erhalten werde.3 Zur Enttäuschung mancher Leipziger ist aus Gründen, über die hier nicht spekuliert oder gerichtet werden soll,4 das Bundesverwaltungsgericht nach Leipzig gekommen – für das Gericht selbst ein Glücksfall. Ohne historische Anknüpfung ist diese Sitzverlagerung indes nicht. Als Ort der obersten Verwaltungsrechtspflege des Reichs stand Leipzig bereits in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zur Debatte – wenn auch im ambivalenten Kontext der Verhinderung eines eigenständigen Reichsverwaltungsgerichts durch Angliederung von Verwaltungssenaten an das Reichsgericht.5 Leipzig war auch ein Ort der wissenschaftlichen Erörterung dieser Frage: Die Öffentlichrechtler der Juristenfakultät der Universität Leipzig richteten im März 1925 die zweite Tagung 1 § 1 der Verordnung über die Sitzverlegung des Bundesverwaltungsgerichts v. 24. 6. 2002, BGBl. I, 2371. 2 Zum Gebäude s. S.-P. Müller, Das Reichsgerichtsgebäude in Leipzig, Leipzig 1998; Stadtgeschichtl. Museum Leipzig (Hrsg.), Das Reichsgericht, Leipzig 1995; T. Dorsch, Der Reichsgerichtsbau in Leipzig, Frankfurt / M. u. a. 1999. 3 S. H. Lehmann-Grube, Von Berlin nach Leipzig. Eine Vereinigungsgeschichte, in: FS 50 Jahre BVerwG, Köln u. a. 2003, 1105 (1110 ff.). 4 S. Pagenkopf, NJW 2002, 2442. Das vom BGH-Präsidenten unter Hinweis auf die NSZeit geführte „Tatortargument“ (ebd., Fn. 9) entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie: Das nunmehr vom 5. Strafsenat genutzte Gebäude, die Villa Sack, gehörte bis 1933 einem Jüdischen Fabrikanten und wurde ab 1939 / 40 von zwei Abteilungen der Leipziger Gestapo genutzt (http: //www.medienwerkstatt-online.de/lws_wissen/vorlagen/showcard.php?id=3230). 5 Pagenkopf, NJW 2002, 2447.
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der noch jungen Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer aus, deren erster Beratungsgegenstand der „Schutz des öffentlichen Rechts durch ordentliche und durch Verwaltungsgerichte – Fortschritte, Rückschritte und Entwicklungstendenzen seit der Revolution“ war.6 Ein Reichsverwaltungsgericht ist während der Weimarer Demokratie nicht errichtet worden – weder in Leipzig noch anderswo. Die Gründe hierfür sind vielfältig: die vorrangige Bewältigung existentieller innen- und außenpolitischer Probleme beim Aufbau einer rechtsstaatlichen Demokratie, Macht- und Interessenkonflikte im gegliederten Bundesstaat, Ressortegoismen der beteiligten Reichs- und Landesministerien und Widerstände der Verwaltung gegen eine (zu) wirksame Kontrolle; hinzu kommen die dogmatischen Konstruktionsprobleme in Bezug auf Struktur, Besetzung, Zugang und Zuständigkeiten.7 Der Beitrag kann diese Gründe nur streifen; er will Stellung und Beiträge des Reichsgerichts zur Gestaltung des Verwaltungsrechtsschutzes auf Reichsebene hervorheben. II. Die Auseinandersetzung um Errichtung und Struktur des Reichsverwaltungsgerichts 1. Von der Reichsgründung bis zur Weimarer Reichsverfassung Die Geschichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland ist eng mit der Entwicklung des modernen Rechtsstaats verbunden. Die uns heute selbstverständliche und durch Art. 19 Abs. 4 GG verfassungsrechtlich abgesicherte Vorstellung, dass Akte der staatlichen Gewalt einer externen Kontrolle am Maßstab des Rechts durch institutionell gesonderte, unabhängige Gerichte unterworfen sein müssen, ist letzte Konsequenz der Bindung der Staatsgewalt im Allgemeinen und insbesondere der Verwaltung an das Gesetz.8 Die aus heutiger Sicht irritierende, weil auf den 6 S. VVDStRL 2 (1925), 8 (Bericht W. Jellinek), 81 (Mitbericht G. Lassar) und 105 (Aussprache); s. a. Stier-Somlo AöR 48 (1925), 98. 7 Eingehend W. Kohl, Das Reichsverwaltungsgericht. Ein Beitrag zur Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland, Tübingen 1991. 8 Allgemein zur Geschichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit H. Bögershaus, Die Entwicklung der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit unter besonderer Berücksichtigung ihres Verhältnisses zur Verwaltung und Justiz, Köln 1951; J. Gliss, Die Entwicklung der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit bis zur Verwaltungsgerichtsordnung, Gelnhausen (Diss. jur. Frankfurt 1962) 1962; für die Zeit bis 1848 s. M. Sellmann, Der Weg zur neuzeitlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit – ihre Vorstufen und dogmatischen Grundlagen, in: H. Külz / R. Naumann (Hrsg.), Staatsbürger und Staatsgewalt. Jubiläumsschrift zum hundertjährigen Bestehen der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit und zum zehnjährigen Bestehen des Bundesverwaltungsgerichts, Band 1, Karlsruhe 1963, 25; mangels Vereinheitlichung auf Länderebene und ausgeformter allgemeiner Reichsverwaltungsgerichtsbarkeit kein Zufall sind die zahlreichen „Regionalstudien“ zur Geschichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit in den Ländern, denen „Jubiläumsfestschriften“ zu den entsprechenden Gerichtshöfen korrespondieren.
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ersten Blick rechtsschutzbeschränkende Festlegung in Art. 182 Paulskirchenverfassung „Die Verwaltungsrechtspflege hört auf; über alle Rechtsverletzungen entscheiden die Gerichte“ zielte tatsächlich auf eine weitere Verbesserung des Rechtsschutzes durch Stärkung der Unabhängigkeit der Kontrollinstanz. Real nur begrenzt wirkmächtig, optierte die Norm gegen die Vertreter einer in die Verwaltung integrierten Verwaltungsrechtspflege für eine justizstaatliche Lösung, welche zumindest in den oberen Instanzen die Verwaltung der Kontrolle durch das ordentliche Gericht unterstellt wissen wollte.9 Diese Auseinandersetzung zwischen Justizstaat oder Administrativjustiz10 bildete bis weit in die Weimarer Zeit den Hintergrund für die Gestaltung rechtsförmiger Verwaltungskontrolle. Der große Verwaltungsrechtler der Leipziger Juristenfakultät, Otto Mayer, definierte noch 1924 „Verwaltungsgericht“ als „eine der Ordnung der Verwaltung zugehörige Behörde, welche berufen ist, Verwaltungsakte im Parteiverfahren zu erlassen“,11 und Verwaltungsrechtspflege als „die behördliche Tätigkeit zur Erlassung eines Verwaltungsaktes im Parteiverfahren“. In der Rechtswirklichkeit entwickelten sich in den deutschen Ländern für die Verwaltungsgerichtsbarkeit im Anschluss an v. Gneist12 unterschiedliche Modelle. Bei allen Unterschieden in der Umschreibung des Zugangs (Generalklausel vs. Enumerativprinzip), der Kontrollintensität (Rechts- oder auch Ermessenskontrolle) und der Organisation folgten sie mit der Maßgabe dem Modell einer gegenüber der ordentlichen Gerichtsbarkeit eigenständigen Verwaltungsrechtspflege, dass sich jedenfalls auf der obersten Ebene die juristisch qualifizierten Kontrollinstanzen als besondere Verwaltungsgerichte mit weisungsunabhängiger Richterschaft durchsetzten.13 Im Deutschen Reich von 1871 war die Schaffung einer Reichsverwaltungsgerichtsbarkeit kein drängendes Problem. Das Reich hatte nur begrenzte Verwaltungskompetenzen, seitens der Länder bestand ungeachtet gewisser Klagen über uneinheitlichen Vollzug des Reichsverwaltungsrechts14 kein zwingendes Bedürfnis nach einer Vereinheitlichung des Verwaltungsrechtsschutzes. Die Reichseinheit als Rechtseinheit hatte im Verwaltungsrecht einen gewissen Symbolwert, war aber kein bereichsübergreifendes Thema der Verwaltungsrechtsentwicklung. Die Als Klassiker hierzu Otto Bähr, Der Rechtsstaat, 1864. Zum ideengeschichtlichen Hintergrund s. Kohl (Fn. 7), 9 ff. 11 Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Erster Band, 3. Aufl., München / Leipzig 1924, 138. 12 R. von Gneist, Justiz und Rechtsweg, 1869; ders., Der Rechtsstaat, 1872. 13 Prototypisch der 1863 errichtete Badische Verwaltungsgerichtshof (dazu M. Rapp, 100 Jahre Badischer Verwaltungsgerichtshof, in: Külz / Naumann [Fn. 8], 3) und das 1875 errichtete Preußische Oberverwaltungsgericht (dazu Jesse, 50 Jahre Oberverwaltungsgericht, in: Festgabe 50 Jahre Pr.OVG, Berlin 1925, 1; Pauly, Organisation, Geschichte und Praxis der Gesetzesauslegung des (Königlich) Preußischen Oberverwaltungsgerichts 1875 – 1933, Frankfurt / M. 1987). 14 S. etwa Fleischmann, DJZ 1908, Sp. 957 f. 9
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Reichsverfassung enthielt auch keine Reichszuständigkeit zur umfassenden Regelung der Verwaltungsrechtspflege. Auf Reichsebene wurde bereichsspezifischen Kontroll- und Schlichtungsbedürfnissen durch Einrichtung von Reichssonderbehörden mit teils verwaltungsgerichtlichen Funktionen Rechnung getragen;15 wegen ihrer Bedeutung für eine eigenständige Sozialgerichtsbarkeit hervorzuheben sind das Reichsversicherungsamt16 und das Bundesamt für das Heimatwesen.17 Ob ein Bedürfnis nach einem Reichsverwaltungsgericht bestehe, war Thema auf dem 30. Deutschen Juristentag (1910).18 Die Beratungen zeigten die Breite der zu bewältigenden Probleme. Strittig waren u. a. föderale Fragen des Verhältnisses zu der äußerst heterogenen Verwaltungsrechtspflege in den Ländern und der Vereinheitlichung des „Unterbaus“, konstruktive Elemente des Zugangs zur Verwaltungsrechtspflege und der Kontrolldichte sowie institutionelle Ausgestaltung und Besetzung. Nicht gefunden wurde ein konsensfähiger Weg zur Befriedigung des abstrakt festgestellten Bedürfnisses „nach Schaffung einer reichsrechtlich geordneten höchstrichterlichen Instanz für Verwaltungssachen, um die Einheitlichkeit in der Anwendung des Reichsverwaltungsrechts zu sichern“.19 Eine 1912 vorgelegte Denkschrift des Reichsamts des Innern,20 die unter Bündelung der sonderverwaltungsrechtlichen Funktionen (ohne das RVA) ein institutionell gesondertes Reichsverwaltungsgericht, teils auch mit Revisionsfunktion, vorsah, stieß – auf der Grundlage der preußischen Tradition – auf vernichtende Kritik in einer „Gegendenkschrift“ des Präsidenten des Preußischen Oberverwaltungsgerichts,21 in der mit dem Hinweis auf die Gefahr einer „Entwertung“ der bewährten Landesverwaltungsgerichtsbarkeit institutionelle Eigeninteressen mitklingen. Sie prägten auch die Stellungnahme des Reichsgerichts, das Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit einer Übertragung u. a. von Patent- und Reichssteuersachen verneinte.
15 Aufzählung bei E. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd. 1, Berlin 1950, 397; Kohl (Fn. 7), 45 ff.; Genzmer, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: G. Anschütz / R. Thoma (Hrsg.), Handbuch des deutschen Staatsrechts Bd. 2, 1932, 506 (521 f.); s. a. Reichsrat Drucks. Nr. 187 v. 15. 7. 1922, 14 ff.; Drucks. Nr. 34 v. 9. 3. 1926 (Anlage „Bisherige Verwaltungsrechtspflege im Reich und Bestrebungen zur Schaffung eines Reichsverwaltungsgerichts“, 1 ff.). 16 A. Christmann / S. Schönholz, in: Deutscher Sozialgerichtsverband (Hrsg.), Entwicklung des Sozialrechts. Aufgabe der Rechtsprechung, 1984, 3; Bogs, in: FS 25 Jahre BSG, 1979, 3; Schieckel, SGb 1954, 37; Knoll, in: Külz / Naumann (Fn. 8), 87. 17 S. dazu C. J. Schulte, ZSR 1998, 45; zur Rechtsprechungsqualität der Tätigkeit des RVA s. Bürck, in: Deutscher Sozialgerichtsverband (Fn. 16), 139. 18 Gutachter waren G. Anschütz (Liegt ein Bedürfnis eines deutschen Verwaltungsgerichts vor?, in: Verhandlungen des 30. DJT, 1. Bd. [Gutachten], Berlin 1910, 489) und R. Thoma (Liegt ein Bedürfnis eines deutschen Reichs-Verwaltungsgerichts vor?, in: ebd., 51), Berichterstatter waren F. Vierhaus (OLG-Präsident in Breslau) und J. Lukas (Professor in Königsberg); s. a. Schultzenstein, PrVBl. 31 (1910), 711; Laband, DJZ 1910, Sp. 909. 19 S. 30. DJT, 2. Bd. (Berichte), Berlin 1911, 352. 20 Zum Inhalt s. Kohl (Fn. 7), 143 ff. 21 Zum Inhalt s. Kohl (Fn. 7), 147 ff.
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2. Der verfassungsrechtliche Rahmen: Gesetzgebungsauftrag des Art. 107 WRV Über den bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges erreichten Diskussionsstand weit hinaus reicht der Gesetzgebungsauftrag, den Art. 107 WRV erteilt: „Im Reiche und in den Ländern müssen nach Maßgabe der Gesetze Verwaltungsgerichte zum Schutze der einzelnen gegen Anordnungen und Verfügungen der Verwaltungsbehörden bestehen“. Anders als das Reichsgericht (Art. 103 WRV) und der Staatsgerichtshof (Art. 108 WRV) wird im Abschnitt „Die Rechtspflege“ ein Reichsverwaltungsgericht als Institution nicht erwähnt. Die Existenz eines Reichverwaltungsgerichts wird aber in den Bestimmungen zur Zusammensetzung des Wahlprüfungsgerichts (Art. 31 Abs. 2, Art. 166 WRV) vorausgesetzt.22 Objektiv war Art. 107 WRV eine sachlich angezeigte Reaktion auf die qualitativ geänderten Notwendigkeiten eines wirksamen Verwaltungsrechtsschutzes durch die kriegsbedingte Staatswirtschaft und damit Wirtschafts-, Vorsorge- und Versorgungsverwaltung.23 Er gründete indes nicht in einem auch inhaltlich konkretisierten, breiten und ebenenübergreifenden Reformkonsens mit klarer Zielvorstellung.24 Für das Steuerwesen war dies mit der Gründung des Reichsfinanzhofs25 noch im Kaiserreich anders. Aus heutiger Sicht erscheinen Inhalt und Konsequenzen des Art. 107 WRV klar. Der Reichsgesetzgeber hat innerhalb angemessener Zeit ein institutionell gesondertes, mit dem Reichsgericht nicht identisches Reichsverwaltungsgericht einzurichten und ihm substantielle Kompetenzen auch bei der Überprüfung des Verwaltungshandelns von Reichsbehörden einzuräumen. Dem zeitgenössischen Schrifttum fehlt diese Eindeutigkeit26 – gerade auch in der Organisationsfrage. Allerdings werten beachtliche Stimmen27 die Norm als Entscheidung gegen eine (rein) justizstaatliche Lösung und – auf Reichsebene – für eine institutionell gesonderte Reichsverwaltungsgerichtsbarkeit, bei der z. B. bei den Besetzungsregelungen an die Tradition der Verwaltungsrechtspflege angeknüpft werden darf. So sehen es auch die ersten Vorentwürfe eines Gesetzes über das Reichsverwaltungsgericht bis hin zu einem ersten Gesetzentwurf im Juli 1922, die ein eigenständiges Reichsverwaltungsgericht mit sachlich und persönlich unabhängiger Richterschaft 22 Nach Art. 166 WRV sollte bis zur „Errichtung des Reichsverwaltungsgerichts“ an seine Stelle für die Bildung des Wahlprüfungsgerichts das Reichsgericht treten. 23 S. Grawert, in: H.-U. Erichsen / W. Hoppe / A. v. Mutius (Hrsg.), System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes. Festschrift für C.-F. Menger zum 70. Geburtstag, Köln u. a. 1985, 35 (38 ff.). 24 Kohl (Fn. 7), 161 ff. 25 Reichsgesetz v. 26. 7. 1918, RGBl. 959 (§§ 32 f. RAO). 26 S.a. Grawert (Fn. 23), 48. 27 S. etwa G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. 8. 1919, 14. Aufl. 1933 (1960), Art. 107 Anm. 4; ders., Art. 107, in: Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. I, 1929, 129 (144); Genzmer (Fn. 15), 512 ff.; Mahron, VerwArch 32 (1927), 382 (388).
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vorsehen. Einer auch entstehungsgeschichtlich gestützten Gegenansicht28 zufolge soll Art. 107 WRV aber offen sein auch für eine justizstaatliche Lösung und zulassen, dass durch Reichs- oder Landesgesetz die Verwaltungsstreitigkeiten einem ordentlichen Gericht zugewiesen werden.29 Ambivalent sind auch die Haltungen zur institutionellen Bündelung in einem einheitlichen Reichsverwaltungsgericht, das teils als von Art. 107 WRV mitgedacht, aber eben nicht vorgegeben erachtet wurde. Keine durchgreifenden Bedenken wurden gegen die Fortsetzung des Weges erhoben, reichsrechtlichen Verwaltungsrechtsschutz durch gesonderte Reichsämter mit speziellen, bereichsbezogenen Rechtsprechungsfunktionen zu gewähren und so in der Sache das Enumerativprinzip beim Zugang in die Institution zu verlängern. Diese Option einer Verwaltungsrechtspflege war Grund für die Art. 97 GG fremde Differenzierung zwischen der sachlichen Unabhängigkeit der Richter (Art. 102 WRV) und der auf die Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit beschränkten Garantie der persönlichen Unabhängigkeit durch Lebenszeitstellung und Unversetzbarkeit (Art. 104 WRV). Dass der Zugang zum Verwaltungsrechtsschutz über eine Generalklausel zu eröffnen sei, wurde ebenfalls nicht als verfassungsgeboten gesehen, sondern war Gegenstand kontroverser Zweckmäßigkeitsdiskussionen. Einer Konzentration aller auf die Verwaltung bezogenen Rechtsschutzkompetenzen in einer einheitlichen Institution hatte die Verfassung selbst eine Absage erteilt, indem sie im Anschluss an die Fiskuslehre die Amtshaftungsangelegenheiten (Art. 131 Abs. 1 Satz 3 WRV) und die vermögensrechtlichen Beamtenstreitigkeiten (Art. 129 Abs. 1 Satz 3 WRV) dem (ordentlichen) Rechtsweg zugewiesen hatte. Auch einer verfassungsorientierten Politik war der überwiegend anerkannte30 Verfassungsauftrag des Art. 107 WRV lediglich eine Handlungsdirektive ohne inhaltliche Struktur und klares Ziel, wenn auch die Grundrichtung der Weiterentwicklung hin zur umfassenderen Kompetenz in unabhängiger, justizförmiger Gestalt erkennbar war. Die Umsetzung des Art. 107 WRV belastete, dass kein rechtspolitischer Konsens über die Funktionen von Verwaltungsrechtsschutz in der rechtsstaatlichen Demokratie und – föderalismuspolitisch gravierender – ihrer sachgerechten Verortung in einer bundesstaatlichen Ordnung bestand, in der das Reich in Gesetzgebung und Verwaltung erheblich an Bedeutung gewonnen hatte. Der verfassungsrechtliche Rahmen war breit genug, um die schon aus der Kaiserzeit bekannten Grundsatzstreitigkeiten fortzuführen und dabei auch disziplin- und professionspolitische Vorurteile31 zu pflegen. Aus Sicht der Rechtsunterworfenen 28 S. etwa A. Arndt, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. 8. 1919, Berlin / Leipzig 1927, Art. 107 Anm. 3. 29 S. etwa W. Jellinek, VVDStRL 2 (1925), 8 (12 f.); s.a H. Gulden, Das künftige Reichsverwaltungsgericht, Mannheim / Berlin / Leipzig 1928, 18 ff. 30 Diese Direktionswirkung wurde im Zuge der Beratung von Preußen und – vor allem – Bayern zugunsten einer Deutung als bloßer Regelungsoption bestritten (s. Kohl [Fn. 7], 213, 215 f.).
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hatte sich indes durch den Übergang zum Interventionsstaat der Problemdruck verschärft, weil die Rechtsschutzgestaltung – auch in den Ländern – hinter dem Unitarisierungsschub hinterherhinkte32 und die Notwendigkeit stieg, auch auf Reichsebene koordinierten Verwaltungsrechtsschutz zu gewährleisten. 3. Vorstöße zur Errichtung einer allgemeinen Reichsverwaltungsgerichtsbarkeit in der Weimarer Republik33 Die Bemühungen um die Erfüllung des Verfassungsauftrages des Art. 107 WRV begleiteten in wechselnder Intensität die Weimarer Republik.34 Ministerial waren Hauptakteure – nicht nur – auf Reichsebene wegen der vorherrschenden begrifflichen Zuordnung der Verwaltungsgerichtsbarkeit zur Ordnung der Verwaltungsbehörden35 die Innenministerien.36 Auf der Länderseite nahm, seinem Gewicht im Reich entsprechend, Preußen eine hervorgehobene Rolle ein. In drei teils durch Vorentwürfe vorbereiteten Gesetzentwürfen vom Juli 1922, März 1926 und August 1930 mit Modellansätzen, wie sie unterschiedlicher kaum sein können, spiegeln sich die jeweiligen Zeitströmungen und mögliche Widerstände gegen ein Vorhaben, bei dem der politische Leidens- und damit Einigungsdruck bei den Akteuren begrenzt war. Gerungen wurde primär um die gerichtsförmige Verwaltungsrechtspflege im Reich, nicht um ein Reichsverwaltungsgericht als Institution. a) Prolog: Reichsgericht und Reichsverwaltungsgericht im Gesetz über den Staatsgerichtshof Noch vor seiner Errichtung war das Reichsverwaltungsgericht als Institution Gegenstand der Reichsgesetzgebung. Reichsgericht und Reichsverwaltungsgericht standen hier nebeneinander. Exemplarisch zu nennen ist das Gesetz über den Staatsgerichtshof.37 Es bildete den Staatsgerichtshof bei den Anklagen nach Art. 59 WRV beim Reichsgericht; für die breit gefassten verfassungsrechtlichen Streitigkeiten wurde der Staatsgerichtshof indes bei dem Reichsverwaltungsgericht errich31 Anschaulich Jellinek ([Fn. 6], 9) mit seinen Zweifeln an dem gegen den Justizstaat gerichteten Hauptargument, „dass der Justizjurist zu wenig vom öffentlichen Recht verstehe, um über Fragen des öffentlichen Rechts urteilen zu können“. 32 Grawert (Fn. 23), 45. 33 Ausgeblendet bleibt die Entwicklung des besonderen Rechtsschutzes durch die verschiedenen Reichsämter und -anstalten sowie der Finanzgerichtsbarkeit. 34 Eingehend Kohl (Fn. 7), 161 – 395. 35 Jellinek ([Fn. 6], 14) im Anschluss an Mayer (Fn. 11). 36 Zu den handelnden Personen s. Kohl (Fn. 7), 169 ff. 37 Gesetz vom 9. 7. 1921, RGBl. I, 905; dazu H.-H. Lammers, Das Gesetz über den Staatsgerichtshof vom 9. 7. 1921, Berlin 1921. Zu weiteren Zuweisungen s. Genzmer (Fn. 15), 521.
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tet.38 Nur bis zu dessen Errichtung trat an seine Stelle das Reichsgericht (§ 31 Abs. 1 StGHG), das mit drei Richtern bereits in dem vorläufigen Staatsgerichtshof (Art. 172 WRV) vertreten war.39 Dieses gleichrangige Nebeneinander von Reichsgericht und (vorgesehenem) Reichsverwaltungsgericht unterstrich in dieser Phase ein Verständnis des Art. 107 WRV, das ein selbständiges Reichsverwaltungsgericht voraussetzte. Widerstände des Reichsgerichts hiergegen sind in dieser Phase nicht ersichtlich. Eine politisch kontraproduktive Nebenwirkung entfaltete das Staatsgerichtshofgesetz später allerdings dadurch, dass die Errichtung eines Reichsverwaltungsgerichts zugleich die übergangsweise „Vertretung“ durch das Reichsgericht im Staatsgerichtshof beendete – und damit einen „Machtverlust“ des Reichsgerichts bewirkte, der in der Endphase der Debatte massiven Widerstand hervorrief und für das Scheitern auch des dritten Anlaufs mit verantwortlich war.40 b) Das Reichsverwaltungsgericht in den Entwürfen bis zum Gesetzentwurf vom Juli 1922 Die ersten (Vor)Entwürfe für ein Gesetz zum Reichsverwaltungsgericht41 bis hin zum Gesetzentwurf vom Juli 192242 kennzeichnete bei allen Detailunterschieden die Option für eine eigenständige Verwaltungsgerichtsbarkeit auf Reichsebene durch ein institutionell gesondertes, mit verwaltungserfahrenen Richtern besetztes Reichsverwaltungsgericht als Rechtsmittelgericht 43 mit enumerativ bezeichneten 38 Im Regierungsentwurf war auch für dieses Verfahren noch eine Anbindung an das Reichsgericht vorgesehen, die erst im Zuge der Ausschussberatungen gelöst worden ist (s. W. Wehler, Der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich, Bonn (Diss. Jur.) 1979, 148) und der die in § 22 des Vorläufigen Entwurfs eines Gesetzes über das Reichsverwaltungsgericht vom Juni 1921 vorgesehene Angliederung des StGH an das RVG in Stuttgart entsprach. Das Reichsgericht war aber auch hier durch Richter vertreten. 39 Ein ähnliches Verfahren war hinsichtlich der dem Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik (dazu I. Hueck, Der Staatsgerichtshof zum Schutz der Republik, Tübingen 1996; W. Kiesow / E. Zweigert, Gesetz zum Schutz der Republik nebst Ausführungsverordnungen des Reichs. Erläuterungen, Mannheim 1923; s. a. C. Gusy, Weimar – die wehrlose Republik?, Tübingen 1991, 345 ff.) übertragenen verwaltungsgerichtlichen Funktionen nach § 9 des Gesetzes zum Schutze der Republik (Gesetz v. 25. 3. 1930, RGBl. I, 91) (u. a. Beschwerden gegen Versammlungs- und Vereinigungsverbote) gewählt worden; der Staatsgerichtshof nach dem Gesetz v. 21. 7. 1922 (RGBl. I, 585) hatte nach § 12 eine andere Zusammensetzung mit berufsrichterlicher Beteiligung allein des Reichsgerichts. 40 S.u. 3. e); s. a. Kohl (Fn. 7); s. a. Wehler (Fn. 38), 236 ff. 41 S. etwa Braunwart, Blätter für administrative Praxis Bd. 70 [1920], 65; Bredt, PrVerwBl. 41 (1920), 201; Damme, DJZ 1920, Sp. 182; Scholz, PrVerwBl. 41 (1920), 285; Friedrichs, VerwArch 28 (1921), 202; Schoen, DJZ 1921, Sp. 789. 42 Reichsrat Drucks. 1922 Nr. 187. 43 Die überwiegende Einordnung als Revisionsinstanz birgt das Folgeproblem, dass dann die sachgerechte Ermittlung des Sachverhalts in der Vorinstanz sicherzustellen ist (s. a. Mahron, VerwArch 32 [1927], 382 [394]).
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Zuständigkeiten44 sowie das Bestreben nach einer gewissen Vereinheitlichung von Organisation, Zuständigkeit und Verfahren auch der Landesverwaltungsgerichte. Pate stand weniger das preußische denn das süddeutsche Modell.45 Dies bestimmte auch die in der Folgezeit – teils öffentliche – Kritik aus Kreisen des preußischen OVG,46 das sich u. a. gegen den vorgesehenen Standort47 Stuttgart für Berlin48 und dort für eine organische Verbindung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts mit dem Reichsverwaltungsgericht einsetzte.49 Neben Bayern, das eine Reichsverwaltungsgerichtsbarkeit aus grundsätzlichen, föderalismuspolitischen Erwägungen – auch in der Folgezeit – ablehnte, war es in dieser Phase Preußen, das neben konzeptioneller Kritik angesichts der prekären innen-, außen- und finanzpolitischen Lage die Errichtung eines Reichsverwaltungsgerichts als für das Reich nicht lebensnotwendig erachtete und unter diesem Vorwand das Scheitern des Gesetzentwurfes durch einen Mehrheitsbeschluss im Reichsrats erwirkte, der eine Stellungnahme des Präsidenten des Rechnungshofes (in seiner Eigenschaft als Reichssparkommissar) anforderte. c) Vom Reichsverwaltungsgericht zu Verwaltungssenaten beim Reichsgericht: die modifizierte justizstaatliche Lösung und die Würde des Reichsgerichts50 Neben den föderalismuspolitisch motivierten Widerständen führte die auch von der Finanznot des Reiches diktierte Suche nach einer kostengünstigeren Variante 44 Dagegen (und grundsätzlich für eine Generalklausel) Drews, DJZ 1921, Sp. 86 ff.; auf Drängen des Reichsgerichts waren die Patentstreitigkeiten aus dem abschließenden Gesetzentwurf herausgenommen worden (Kohl [Fn. 7], 223). 45 Ein Beispiel ist die Kontroverse um die Ausgestaltung als Parteiverfahren. Die preußische Konzeption wurde auch sonst mehrfach explizit verworfen. 46 Die Kritik am ersten Vorentwurf des Reichsinnenministeriums (Blätter für administrative Praxis Bd. 70 [1920], 72 [mit Einleitung F. Braunwart ebd., 65]) ist zusammengefasst in einem Gegenentwurf des seinerzeitigen preußischen Staatskommissars für Verwaltungsreform B. Drews (abgedruckt in PrVerwBl. 41 [1921], 253) und nur punktuell in den „Vorläufigen Entwurf eines Gesetzes über das Reichsverwaltungsgericht von 1921“ übernommen. 47 Als Standort hatte sich offenbar auch Leipzig beworben, das gemeinsam mit Berlin, Dresden und Stuttgart wegen des angekündigten „Entgegenkommens“ vom Reichsinnenministerium in die engere Wahl gezogen worden war (s. Kohl [Fn. 7], 209). Erfreulich offen erwähnt die Begründung im abschließenden Gesetzentwurf als einen der Gründe für die Standortentscheidung, dass Stuttgart vom Standpunkt der wirtschaftlichen Interessen des Reichs das günstigste Angebot unterbreitet habe. 48 Kühn, PrVerwBl. 43 (1922), 396; Baath, PrVerwBl. 44 (1922), 69; aus „neutraler Sicht“ wegen der aus Akzeptanzgründen gebotenen Nähe zu den politischen Akteuren auf Reichsebene Bühler, AöR 43 (1922), 103 (108 ff.). 49 Begleitschreiben von B. Drews zu seinem Gutachten an das Preußische Staatsministerium v. 2. 9. 1921, zit. nach Kohl (Fn. 7), 197. 50 Dazu Kohl (Fn. 7), 226 ff.
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zu einem bislang zurückgestellten Ansatz: der Verbindung von Reichsgericht und Reichsverwaltungsgericht durch Verwaltungssenate beim Reichsverwaltungsgericht. Bis zu dem Gesetzentwurf vom März 192651 gegen Kritik auch im Vorfeld52 durchgehaltener Grundgedanke war, bei dem Reichsgericht Verwaltungssenate einzurichten, die im Sinne von Verfassung und Gesetzen das Reichsverwaltungsgericht bilden, auf Reichsebene für das Verwaltungsrecht und den Verwaltungsrechtsschutz zuständig sein und auf die auch einige der Zuständigkeiten bestehender Verwaltungssondergerichte übergehen sollten. Flankiert werden sollte dies durch Vorkehrungen zur Vermeidung abweichender Entscheidungen innerhalb der Verwaltungssenate sowie zwischen diesen und den Zivil- und Strafsenaten. Dieser Ansatz kam der justizstaatlichen Lösung und dem im Grußwort zur Staatsrechtslehrertagung vorgetragenen Anliegen des Reichsgerichts53 zumindest sehr nahe, die „Autorität des Reichsgerichts“ nicht durch ein gesondertes Reichsverwaltungsgericht zu beschädigen und dessen Suprematie zu wahren. Der vom Reichsinnenministerium in die Ressortabstimmung gegebene Entwurf vom Februar 1924 ging dem Reichsgericht indes noch nicht weit genug. Kritisiert wurden u. a. die gezielte Ernennung von Richtern zu den beim Reichsgericht gebildeten Verwaltungssenaten, was die Zuordnungsmacht des Präsidiums einschränkte, das Vorschlagsrecht des Reichsinnenministers (statt des Bundesrates), die fehlende Personalidentität von Präsidentschaft beim Reichsgericht und beim Reichsverwaltungsgericht und die Regelungen zur Entscheidung bei abweichenden Rechtsauffassungen, die nur bei „reinen“ Fragen des Verwaltungsrechts bei den Verwaltungssenaten liegen soll, während ansonsten und zumindest im Verfassungsrecht die maßgebende Entscheidung den Zivil- oder Strafsenaten zugewiesen oder eine gemeinschaftliche Entscheidung vorgesehen werden sollte.54 Mit dieser vom RMJ übernommenen Kritik setzte sich das Reichsgericht bei der Überarbeitung des Entwurfs durch, der dann auch die Übertragung der Zuständigkeiten des Reichswirtschaftsgerichts55 an die Verwaltungssenate im Gesetz selbst vorsah. Vom Abbau der Sonderverwaltungsgerichte ausgespart blieben jene im Bereich des Sozial51 Entwurf eines Gesetzes über das Reichsverwaltungsgericht (Verwaltungssenate beim Reichsgericht) v. 9. 3. 1926, Reichsrat Drucks. 1926 Nr. 34; s. a. Entwurf eines Gesetzes zur Wahrung der Rechtseinheit v. 15. 3. 1926, Reichsrat Drucks. 1926 Nr. 39. 52 Nicht zufällig aus dem preußischen Bereich; vgl. etwa B. Drews, in: Reden bei der Gedenkfeier anlässlich des 50jährigen Bestehens des PrOVG am 20. 11. 1925, 1 [16]: „Würde man das Reichsverwaltungsgericht zu einem bloßen Annex des Reichsgerichts machen, so würde die Entwicklung des Verwaltungsrechts schweren Schaden leiden.“; Jesse, DJZ 1931, Sp. 1; a.A. etwa – „aus praktischen Gründen“ – Thoma, ZÖR Bd. VI (1926), 27 (31); s. a. Luca, DJZ 1925, Sp. 406 f. 53 Simons, VVDStRL 2 (1925), 6; s. a. ders., DJZ 1924, Sp. 329; Baumbach, DJZ 1924, Sp. 272 f. 54 S. Kohl (Fn. 7), 228 ff. 55 Für das Baumbach (DJZ 1924, 272) die Einrichtung eines auswärtigen Senats in Berlin vorgeschlagen hat; zu Aufgaben und Tätigkeit Klinger, Reichswirtschaftsgericht und Kartellgericht, in: Külz / Naumann (Fn. 8), Bd. I, 103; Waldecker, Zehn Jahre Reichswirtschaftsgericht. Hoffentlich kein Epilog, in: Festgabe 50 Jahre Pr.OVG, Berlin 1925, 224.
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rechts.56 Vermutlich aus Durchsetzungsgründen nicht thematisiert wurde die Eingliederung des Reichsfinanzgerichts.57 Die politische Durchschlagskraft dieses Ansatzes erhöhte, dass sich hierfür auch der Reichssparkommissar aus Sparsamkeitsgründen ausgesprochen hatte. Ob dies wirklich die kostengünstigere Lösung gewesen wäre, soll dahinstehen.58 Bemerkenswert ist die neuerliche Überlagerung der rechts- und föderalismuspolitischen Debatte durch eine vordergründige Ökonomisierung, welche angesichts der in Rede stehenden Beträge die allgemeine „Wertschätzung“ effektiver, justizförmiger Verwaltungskontrolle zum Ausdruck brachte. Den Ländern und voran Preußen war es vorbehalten, dieser „Justizlastigkeit“ und eines befürchteten Übergewichts des zivilistischen Moments schon in der Phase vor der Einbringung eines Gesetzentwurfes in den Reichsrat entgegenzutreten. Der preußische Gegenvorschlag indes, die Rechtseinheit in der Verwaltungsrechtspflege durch ein Vorlageverfahren zum Staatsgerichtshof zu organisieren und ansonsten nur die Zuständigkeiten des Bundesamtes für das Heimatwesen auf das Reichswirtschaftsgericht zu übertragen, bedeutete der Sache nach den Verzicht auf die Erfüllung des Verfassungsauftrages aus Art. 107 WRV. Auf Seiten des Reichs stieß er auf die Kritik, dass er keine Entlastung jenes Reichsgerichts bewirke, dem kurz zuvor noch die Verwaltungssenate angegliedert werden sollten. Die Vorkehrungen zur Sicherung der Rechtsprechungseinheit sollten nunmehr aber ausgeweitet und in ein gesondertes Gesetz zur Wahrung der Rechtseinheit verlagert werden. Bei institutionenübergreifenden Auslegungsstreitigkeiten sollte über die Rechtsfrage ein Reichsspruchgericht entscheiden. Die Bedeutung von Macht- und Statusfragen sowie Ressortegoismen bei der Institutionengestaltung unterstreicht der „Stellvertreterkonflikt“, der über die Besetzung des Reichsspruchgerichts zwischen Reichsinnen- und Reichsfinanzministerium über die gleichrangige Beteiligung von Reichsgericht und Reichsfinanzhof entbrannte.59 Die deutsche Staatsrechtslehre hielt sich in dieser Konfliktfront eher zurück. Zwar sprachen sich auf der Staatsrechtslehrertagung der Berichterstatter Jellinek und die Mehrheit der Diskutanten60 aus pragmatischen Gründen für die Justizlö56 Weitergehend der realpolitisch irreale, nicht wirkmächtige Vorschlag eines Ministerialdirektors im Reichsarbeitsministerium, die öffentlich-rechtliche Gerichtsbarkeit des Reichs (einschließlich der Finanzsachen) in einem RVG in München zu konzentrieren (E. Ritter, Vorschläge zum Behördenabbau, Berlin 1924, 28); zu ähnlichen Ansätzen bei von Welser und Arendts s. Kohl (Fn. 7), 258 f. 57 S.a. Jellinek ([Fn. 6], 32 ff.), der den Reichsfinanzhof als vollwertiges Verwaltungsgericht anerkannte und lediglich die „Möglichkeit der Ernennung Subalterner zu Reichsfinanzräten“ monierte; auch Simons (DJZ 1924, Sp. 329) ging davon aus, dass man die Schaffung des Reichsfinanzhofs wohl nicht rückgängig machen könne. 58 Hieran zweifelt Mahron, VerwArch 32 (1927), 382 (406). 59 Kohl (Fn. 7), 247. 60 S. etwa Laun, VVDStRL 2 (1925), 106 („politisch-praktische Gründe“), Bühler (102) und Anschütz (118), der als dritte Option neben dem selbständigen Gericht und der Anglie-
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sung aus,61 während der Mitberichterstatter Lassar die materiellrechtliche Selbständigkeit des öffentlichen Rechts mit der Forderung nach einer auch institutionell gesonderten Gerichtsbarkeit verband; selbst er sah dies indes nicht als durch Art. 107 WRV geboten und bei sachgerechter Ausgestaltung Verwaltungssenate als Notlösung annehmbar.62 Hier wie auch in der Folgedebatte standen die konzeptionell-gestalterischen Sachfragen im Vordergrund, allen voran die des Zuständigkeitsumfangs (Generalklausel vs. Enumerativprinzip), des Prüfungsumfangs bei Ermessensentscheidungen, der Rekrutierung und Besetzung (Befähigung zum Richteramt und / oder zum höheren Verwaltungsdienst) und nicht zuletzt den Rückwir- kungen eines Reichsverwaltungsgerichts auf Aufbau, Kompetenzen und Verfahren der Landesverwaltungsgerichtsbarkeit.63 Die Ende 1925 vom Rechtsausschuss des Reichstags zur Vorlage eines Gesetzes zu Art. 107 WRV aufgeforderte Reichsregierung hielt mit den im Oktober 1926 eingebrachten Gesetzentwürfen an der politisch wenig aussichtsreichen Grundkonzeption der Verwaltungssenate fest.64 Ein Strang der vielstimmigen Kritik65 – nicht zufällig auch aus dessen Kreisen – rückte mit dem Votum für eine eigenständige Verwaltungsgerichtsbarkeit die Idee des Ausbaus des preußischen OVG zum Reichsverwaltungsgericht in den Vordergrund.66 d) Ausbau des Preußischen Oberverwaltungsgerichts zum Reichsverwaltungsgericht – Ausweg oder Irrweg? Dieses dritte Grundmodell eines Reichsverwaltungsgerichts verbindet institutionelle Eigeninteressen des Preußischen Oberverwaltungsgerichts mit seiner revisionsgerichtlichen Erfahrung67 und das Bestreben nach einer fachlich eigenständigen Verwaltungsgerichtsbarkeit mit dem politischen Grundthema einer Reichsreform zur Bewältigung des Dualismus von Preußen und Reich.68 Politisch fand derung an das Reichsgericht bereits die „Umgestaltung des durch die Neuschaffung gefährdeten preußischen OVG in ein RVG“ anspricht. 61 Jellinek (Fn. 6), 8 (30 f.). 62 Lassar (Fn. 6), 81 (102). 63 S. Plessing, ZÖR Bd. VI (1927), 1; Thoma, ZÖR Bd. V (1926), 27. 64 Zur Darstellung s. Löwenthal, DJZ 1926, Sp. 475. 65 S. Kohl (Fn. 7), 266 ff., der u. a. die Kritik aus Kreisen der Wirtschaft am weiterhin unzureichenden Rechtsschutz gegenüber dem Handeln von Reichsbehörden im Bereich des Wirtschaftsverwaltungsrechts darstellt. Ein Nebenstrang in der Debatte um den Sitz ist die Frage, inwieweit eine effektive Reichsverwaltungsgerichtsbarkeit die räumliche Nähe der in Berlin ansässigen Reichsexekutive brauche (so etwa Mirow, DRiZ 1927, 106) oder sich die sachliche Unabhängigkeit auch in der örtlichen Gerichtsunabhängigkeit zu spiegeln habe (so etwa Bewer, DRiZ 1927, 106). 66 B. Drews (zit. n. Kohl [Fn. 7], 259); Mirow, DJZ 1927, 198; ders., DRiZ 1927, 206; Plessing, ZÖR Bd. VI (1927), 1. 67 S. Reuss, in: FS 25 Jahre BVerwG, München 1978, 527.
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dieser Ansatz als konstruktive Alternative zunächst in Preußen und dann auch im Reich ab Anfang 1927 zunehmend Gefallen. Er mündete Ende 1927 in einer grundsätzlichen Einigung zwischen Preußen und dem Reich69 und zur Jahreswende 1927 / 28 in einen ersten Referentenentwurf.70 Neben einer Zusammenfassung der Sonderverwaltungsgerichte des Reichs basierte dieser Ansatz auf der Möglichkeit, durch Staatsvertrag dem Reichsverwaltungsgericht die Entscheidung auch in „landesrechtlichen Angelegenheiten“ zu übertragen. Die Richter des Reichsverwaltungsgerichts sollten sachlich und i. S. d. Art. 104 WRV persönlich unabhängig sein, die innere Organisation war der von Reichsgericht und Reichsfinanzhof nachgebildet. Der vom Willen zum Erfolg getragenen grundsätzlichen politischen Einigung folgte bis zur Vorlage des Gesetzentwurfes im August 1930 eine längere Phase zäher Verhandlungen und des Abgleichs kontroverser Positionen im Grundsatz und Detail sowohl innerhalb der Ebenen als auch zwischen Preußen und Reich.71 Gerungen wurde u. a. neben der Verfahrensgestaltung um den Zuständigkeitsumfang, bei dem die teils geforderte Generalklausel durch einen stetig wachsenden Ausnahmekatalog für weite Teile des Reichsrechts ausgehöhlt wurde (negative Enumeration)72 und auf der Länderebene umstritten blieb, aber auch um so symbolträchtige Fragen wie die besoldungsmäßige Gleichstellung der Mitglieder des Reichsverwaltungsgerichts mit den Richtern des Reichsgerichts, die sich dann auch auf die Mitglieder des Reichsfinanzhofes73 und des Reichsversicherungsamtes74 erstrecken sollte. Einen weiteren Streitpunkt mit erheblicher Sprengkraft bildeten die einem Einführungsgesetz vorbehaltenen Regelungen zu Zeitpunkt und Gestaltung des durch das Staatsgerichtshofsgesetz (1921) vorgezeichneten Übergangs des Staatsgerichtshofs auf das Reichsverwaltungsgericht, dessen künftige Zusammensetzung sowie die Verteilung der Zuständigkeiten nach Art. 13 Abs. 2 WRV;75 er wurde in der Folgezeit vor dem Hintergrund des Konflikts zwischen Reichsregierung und 68 Allg. dazu K. Rosenau, Hegemonie und Dualismus. Preußens staatsrechtliche Stellung im Deutschen Reich, Regensburg 1986; G. Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur. Verfassungspolitik und Reichsreform in der Weimarer Republik. Bd 1, Berlin / New York, 2. Aufl. 1987; W. Frotscher, Organisation der Reichsverwaltung, in: K. Jeserich / H. Pohl / G.-C. von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte. Das Reich als Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus, Bd. IV, Stuttgart 1985, Teil I IV. Kap. § 4 (112 ff.). 69 Krit. Reichsgerichtsrat Mende, DRiZ 1927, 468. 70 Zum Inhalt s. Kohl (Fn. 7), 296 ff. 71 Parallel dazu wurde über die Modalitäten des staatsvertraglichen Übergangs von Personal und Ausstattung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts verhandelt. 72 Kohl (Fn. 7), 318 ff.; zur Kritik s. a. G. Lassar, Das Reichsverwaltungsgericht. Eine Kritik des Regierungsentwurfs, Berlin 1930, 17 ff. 73 Jahn, DJZ 1930, Sp. 187 f. 74 Gravenhorst, JW 1930, 1157 (dagegen Görres, JW 1930, 1160). 75 Wehler (Fn. 38), 238 ff.; Kohl (Fn. 7), 300 f., 315 f.
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Staatsgerichtshof um die Besetzung von Verwaltungsratsstellen der Deutschen Reichsbahngesellschaft 76 durch den auch innerhalb der Reichsregierung nicht unumstrittenen Vorstoß verschärft, in dem Einführungsgesetz dem Staatsgerichtshof die bislang wahrgenommene Befugnis77 zum Erlass einstweiliger Anordnungen ausdrücklich abzusprechen. Innerhalb der Reichsregierung trat das Reichsjustizministerium im Einklang mit dezidierten Berichten des Präsidenten des Reichsgerichts Bumke78 für einen Verbleib des Staatsgerichtshofs beim Reichsgericht unter Beibehaltung dessen prägenden Einflusses ein, während andere Ressorts für eine Zurückdrängung des zivilrechtlichen Denkens durch Beteiligung auch des Reichsfinanzhofs und des Reichsversicherungsamtes eintraten. Der Gesetzentwurf wurde schließlich im August 193079 und damit in einer politisch und wirtschaftlich bewegten Zeit eingebracht. Die Reaktionen waren unterschiedlich. Neben Kritik an Einzelpunkten80 stießen die Zuständigkeitsregelungen des Entwurfes81 und die als zu zaghaft erachtete Gesamtkonzeption auf Kritik. Aus der Leipziger Juristenfakultät vermisste W. Apelt den entschlossenen Mut und die gestalterische Kraft zu einem grundlegenden Neuaufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit „mit einheitlich organisierten Landesverwaltungsgerichten und einem Reichsverwaltungsgericht als höchster Instanz zur Wahrung der Rechtseinheit, mit reichsrechtlich geordnetem Verwaltungsprozeß und gleichmäßig abgegrenzten Zuständigkeiten“,82 bescheinigte dem Entwurf indes „in den Kreisen der Juristen eine im großen und ganzen freundliche Aufnahme“ und stimmte ihm als Kompromiss und Anfang auf dem Weg zu einer Vereinheitlichung des deutschen Verwaltungsrechts letztlich zu.83
76 Eingehend Wehler (Fn. 38), 197 ff.; E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. VII: Ausbau, Schutz und Untergang der Weimarer Republik, Stuttgart u. a. 1984, 649 ff.; Kohl (Fn. 7), 341 ff. 77 Zur beschränkten Zulässigkeit s. etwa F. W. Jerusalem, Die Staatsgerichtsbarkeit, 183 ff.; Jahn, JW 1930 Sp. 1160; retrospektiv s. a. G. Helfferich, Die einstweilige Anordnung in der Verfassungsgerichtsbarkeit der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1962, 2 f. 78 S. Kohl (Fn. 7), 352 ff., 362 ff. 79 Gesetzentwurf vom 26. 8. 1930 (Reichsrat Drucks. 1930 Nr. 155); zur Darstellung s. Löwenthal, RuPrVerwBl. 51 (1930), 557 f.; ders., JR 1930, 241; v. Welser, Fischers Zeitschrift für Verwaltungsrecht Bd. 56 (1930), 289 (mit Kritik an Sitz, Konstruktion, Ernennungsverfahren und Zuständigkeitsbereich): Lassar (Fn. 72); H. Rottmann, Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, München / Berlin / Leipzig 1931, 53 ff. 80 S. Kohl (Fn. 7), 375 f. 81 S. insb. Lassar (Fn. 72), 17 ff.; ders., RuPrVerwBl. 51 (1930), 731 ff.; Apelt, VerwArch 36 (1931), 133 (140 ff.). 82 Apelt, VerwArch 36 (1931), 133 (134.). 83 Ebd., 159, 161.
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e) Reichsverwaltungsgericht und Würde des Reichsgerichts: die Denkschrift des Richtervereins beim Reichsgericht (März 1931) Die von Apelt konstatierte „freundliche Aufnahme“ in Juristenkreisen galt nicht für die Richterschaft des Reichsgerichts. Der Vorstand des Richtervereins beim Reichsgericht übersandte Ende März eine „Denkschrift . . . zu der geplanten Umgestaltung des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich“, die gleichzeitig der Öffentlichkeit übergeben wurde.84 Sie fasst die in den internen Stellungnahmen des Reichsgerichtspräsidenten vorgetragenen Argumente pointiert zusammen – und wird als einer der politischen Gründe gesehen, die das weitere Schicksal des Gesetzentwurfes besiegelten85 und die Errichtung eines Reichsverwaltungsgerichts verhinderten. Die Denkschrift greift im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtspflege auf den Ansatz des Gesetzentwurfs vom März 1926 zurück, dem Reichsgericht Verwaltungssenate anzugliedern. Mit dem Hinweis auf die sachlichen und finanziellen Vorteile einer Angliederung auch des Reichsfinanzhofs geht sie auch in die Offensive – der Gedanke „Ein Reich, Ein Recht“ erfordere zu seiner Verwirklichung „ein Reichsgericht“. Roter Faden der Denkschrift86 ist aber ein anderer: die Sorge um Ansehen und Stellung „als erstes höchstes deutsches Gericht“, die ihm „als ältestes höchstes Gericht des Reichs“ „zukommende Würde“.87 Sie wird durch Schaffung eines dritten höchsten Gerichts und die Angliederung des Staatsgerichtshofs an das Reichsverwaltungsgericht als bedroht, gar verletzt gesehen. Eher noch skurril wirkt, dass die Nennung der Mitglieder des Reichsgerichts nach jenen des Reichsverwaltungsgerichts im Entwurf des Einführungsgesetzes moniert wird. Auf ein angesichts der verfassungsrechtlichen (Art. 107 WRV) und einfachgesetzlichen (§ 1 StGH) Vorgaben rechtsstaatlich bedenkliches Missverständnis der Bedeutung und Eigenständigkeit des öffentlichen Rechts weisen der Vorrang, der auch für die Anwendung und Auslegung des öffentlichen Rechts in Anspruch genommen wird. Aus der alle Rechtsgebiete umfassenden Zuständigkeit des Reichsgerichts, dem mit den Zuständigkeiten nach Art. 129 WRV (Beamtenrecht), Staatshaftung (Art. 131 WRV) und Enteignung (Art. 153 WRV) auch als öffentlich-rechtlich zu qualifizierende Materien zugewiesen seien, der Befassung mit verfassungs- und verwaltungsrechtlichen Vorfragen und der „erfolgreichen“ Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs wird gleichrangige Eignung auch für die Entscheidung öffentlich-rechtlicher AöR NF Bd. 20 (1931), 283 = DRiZ 1931, 131. Wehler (Fn. 38), 252; Kohl (Fn. 7), 392 396. 86 S. a. Richterverein beim Reichsfinanzhof, Zur Denkschrift des Richtervereins beim Reichsgericht über die geplante Umgestaltung des Staatsgerichtshofes für das Deutsche Reich, Typoskript München August 1931, 24 f. 87 S. etwa AöR NF Bd. 20 (1931), 284 und 295. 84 85
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Streitigkeiten hergeleitet – und ein Vorrang vor Gerichtshöfen mit nur „beschränkter Zuständigkeit“ (Reichsfinanzhof; geplantes Reichsverwaltungsgericht) und erst recht dem Reichsversicherungsamt und dem Reichsversorgungsgericht, die keine eigentlichen (gar höchsten) Reichsgerichte, sondern (zu) eng mit der Verwaltung verbundene Spruchbehörden seien, hergeleitet, deren Mitglieder nicht einmal den verfassungsmäßigen Schutz ihrer Unabhängigkeit genössen (Art. 104 WRV).88 Die auch machtpolitische Frage wird am Beispiel des geplanten Verbots, einstweilige Verfügungen zu erlassen, aufgeworfen: Der Reichsregierung wird indirekt vorgehalten, sie wolle Hemmungen ihrer politischen Bewegungsfreiheit durch ein Vorgehen abstreifen, die Staatsgerichtsbarkeit nacheinander verschiedenartigen Gerichtshöfen anzuvertrauen, „um zu versuchen, ob ein anders zusammengesetzter Staatsgerichtshof politisch erwünschtere Entscheidungen fällt“. In politisch ruhigeren Zeiten hätte eine solche Denkschrift gerade deswegen, weil sie in der Argumentation sachlich Bedenkenswertes89 so offenkundig mit pathetisch verbrämten institutionellen Eigeninteressen verbindet, den Fortgang der Gesetzgebung nicht nennenswert beeinflusst oder verzögert. In der Endphase der Weimarer Republik trat sie zu den ohnehin bestehenden Hinderungsgründen hinzu. Eine Reichsregierung ohne stabile parlamentarische Mehrheit, die zunehmend auf eine Politik der Notverordnungen verwiesen war, konnte sich den offenen Konflikt mit dem Reichsgericht um so weniger leisten, als das Reichsjustizministerium auf dessen Seite stand. 4. Rechtsstaatliche Fassade: Das Reichsverwaltungsgericht (1941) Den erklärten Feinden des Rechtsstaats und einer wirksamen Verwaltungsgerichtsbarkeit blieb es vorbehalten, den Schlussstrich unter die Bemühungen zur Errichtung eines Reichsverwaltungsgerichts zu setzen.90 Nachdem von den Zuständigkeiten der Verwaltungsgerichte sukzessive zunächst91 vor allem Handlungen des Maßnahmestaates92 herausgenommen worden waren und ihre Anrufung zu Ebd., 291 ff. Die Kritik an der Zusammensetzung des StGH, insb. der Beteiligung von Mitgliedern des RVA und des RVersG, wurde nicht nur vom Reichsjustizministerium, sondern auch von Preußen geteilt (s. Kohl [Fn. 7], 381). 90 S. Kohl (Fn. 7), 397 ff. 91 S. durch Herausnahme von Verfügungen (Pr. Gesetz über die Geheime Staatspolizei v. 30. 11. 1933 [GS 1930, 413]) bzw. Angelegenheit (§ 7 Pr. Gesetzes über die Geheime Staatspolizei v. 10. 2. 1936 [GS 1936, 21]); dazu auch v. Feldmann, KJ 1983, 57; Stolleis, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit im Nationalsozialismus, in: Erichsen / Hoppe / v. Mutius (Fn. 23), 57 (66 ff.); ein zunächst positiveres Bild zeichnet Frege, Der Status des Preussischen Oberverwaltungsgerichts und die Standhaftigkeit seiner Rechtsprechung auf politischem Gebiet, in: Külz / Naumann (Fn. 8), 131 (145 ff.). 92 S. dazu E. Fraenkel, Der Doppelstaat (1940), Frankfurt / M. 1974. Für einen normenstaatlichen Ansatz innerhalb des Koordinatensystems des Nationalsozialismus s. F. Scholz, 88 89
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Kriegsbeginn93 so erschwert wurde, dass ihre Tätigkeit fast zum Erliegen kam,94 wurde durch „Führererlass“ vom 3. 4. 194195 das Reichsverwaltungsgericht mit Sitz in Berlin errichtet – zur Vereinfachung der Verwaltung und um Kosten einzusparen, wurden verschiedene Sonderverwaltungsgerichte zusammengefasst. Das Kontrollratsgesetz Nr. 3696 verband die Wiedererrichtung der Verwaltungsgerichte in den einzelnen Zonen (Art. I) mit der Aufhebung dieses Erlasses (Art. V Nr. 3)97 und setzt so dem kurzen Dasein des Reichsverwaltungsgerichts ein Ende. III. Schlussbemerkung Die Auseinandersetzung um die Errichtung eines Reichsverwaltungsgerichts ist im Ergebnis die Geschichte ihres Scheiterns. Vergeblich waren diese Mühen nicht. Für den Wiederaufbau einer demokratischen Verwaltungsgerichtsbarkeit im Nachkriegsdeutschland konnte auf der Bundesebene zwar nicht an geformte Institutionen angeknüpft werden. Gestaltung und Systematisierung des Verwaltungsrechtsschutzes98 konnten auf den in der Weimarer Zeit geführten Diskussionen und den dort gefundenen Klärungen aufbauen. Art. 96 Abs. 1 GG (F. 1949) entschied sich letztlich für die obligatorische Errichtung oberer Bundesgerichte für alle Rechtszweige und damit auch für das Gebiet der Verwaltungsgerichtsbarkeit für von der Verwaltung gesonderte, justizförmige Rechtsprechung durch sachlich und persönlich unabhängige Richter;99 das Problem der Wahrung der Rechtseinheit wurde dem neben dem Bundesverfassungsgericht neu zu schaffenden Obersten Bundesgericht zugewiesen (Art. 95 Abs. 1 GG [F. 1949]). Dass bis zum Untergang der Weimarer Republik der Verfassungsauftrag des Art. 107 WRV unerfüllt geblieben ist, ist angesichts der schwierigen politischen Umstände und der konzeptionellen Heterogenität von Verwaltungsrechtspflege nicht Ausdruck von Politikversagen. Auch in der jungen Bundesrepublik brauchte Die Verwaltungsgerichtsbarkeit im Dritten Reich (nebst Entwurf einer Reichsverwaltungsgerichtsordnung), Köln 1936. 93 Z. B. Erlasse über die Vereinfachung der Verwaltung v. 28. 8. 1939 (RGBl. I, 1535) und v. 6. 11. 1939 (RGBl. I, 2168). 94 Rüfner, Die Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: Jeserich / Pohl / von Unruh (Fn. 68), X. Kap. (1100 ff.); s. a. Stolleis (Fn. 91). 95 RGBl. 1941, 201. 96 Gesetz des Kontrollrats Nr. 36 über Verwaltungsgerichte v. 10. 10. 1946 (ABl. Kontrollrat S. 183). 97 Erneut aufgehoben durch § 85 des Gesetzes über das Bundesverwaltungsgericht v. 23. 9. 1952, BGBl. I, 625. 98 Grundlegend C.-F. Menger, System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes, Tübingen 1954; Ule, Die geschichtliche Entwicklung des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes in der Nachkriegszeit, in: Erichsen / Hoppe / v.Mutius (Fn. 23), 81. 99 Bis zuletzt gab es Anträge, die Errichtung eines Bundesverwaltungsgerichts nicht zwingend vorzuschreiben (s. JöR N.F. Bd. 1 (1951), 714).
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es seine Zeit, bis nach dem Bundesgerichtshof,100 dem Bundesfinanzhof101 und dem Bundesverwaltungsgericht102 zum 1. 1. 1954 das Bundessozialgericht103 und das Bundesarbeitsgericht104 errichtet wurden. Und der klare Verfassungsauftrag des Art. 95 Abs. 1 GG (F. 1949) zur Errichtung eines obersten Bundesgerichts blieb unerfüllt, bis er nach fast 20 Jahren105 aufgehoben und durch das Gebot ersetzt wurde, einen Gemeinsamen Senat der Obersten Bundesgerichte zu bilden.106 Spuren der erfolgreichen Verteidigung ihrer öffentlich-rechtlichen Zuständigkeiten107 durch die ordentliche Gerichtsbarkeit finden sich indes auch in den verfassungsunmittelbaren Rechtswegzuweisungen der Art. 14 Abs. 3 Satz 4 und Art. 34 Satz 3 GG, die an entsprechende Regelungen der WRV anknüpfen,108 und in Art. 19 Abs. 4 Satz 2 GG. Nach dem Auf- und Ausbau einer funktionierenden Verwaltungsgerichtsbarkeit sind diese historisch begründeten Sonderzuständigkeiten zumindest diskussionswürdig,109 wegen ihrer gravierenden Steuerungswirkung für das Verwaltungshandeln gilt dies auch für Rechtswegzuweisungen im Vergaberecht,110 Kartellrecht, Regulierungsverwaltungsrecht und – mit Abstrichen – im Patentrecht. Die verfassungsgesetzliche Absicherung erschwert eine Rechtswegvereinfachung durch Rechtswegebereinigung. Sie erhöht die politische „Beweis100 Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafrechts und des Kostenrechts v. 12. 9. 1950, BGBl. I, 455. 101 Gesetz über den Bundesfinanzhof v. 29. 6. 1950, BGBl. I, 257. 102 Gesetz über das Bundesverwaltungsgericht v. 23. 9. 1952, BGBl. I, 625. 103 §§ 38 ff. SGG v. 3. 9. 1953, BGBl. I, 1239. 104 §§ 40 ff. ArbGG v. 3. 9. 1953, BGBl. I, 1267. 105 16. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 18. 6. 1968, BGBl. I, 657. 106 Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes v. 19. 6. 1968, BGBl. I, 661; krit. zu den Entwürfen Baur, JZ 1967, 84. 107 S. dazu den Überblick durch Stich, Die öffentlich-rechtlichen Zuständigkeiten der Zivilgerichte, in: Külz / Naumann (Fn. 8), Bd. II, 387. 108 Die Zuständigkeit für Amtshaftungsprozesse war bereits Randthema bei den Auseinandersetzungen um das Reichsverwaltungsgericht; s. Kohl (Fn. 7), 256. 109 S. Beschlüsse der 76. Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister v. 29. / 30. 6. 2005 (TOP I.1.1) und der 79. Konferenz v. 11. / 12. 6. 2008 (TPO I.2) (dazu krit. Reichling, DRiZ 2008, 303); Bericht einer Arbeitsgruppe der Justizministerien der Länder Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg „Bereinigung des Systems der Rechtswegzuweisungen“ zur Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister der B-Länder am 7. / 8. 11. 2007 in Wolfsburg; BDVR-Papier, Die Bereinigung der Rechtswegzuständigkeiten im Verwaltungsrecht, April 2008, Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen, Kommissionsdrucksache Nr. 137 (September 2008); dagegen Beschluss der Konferenz der Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte und des Kammergerichts, Kommissionsdrucksache Nr. 146 (Oktober 2008); Schreiben des Vorsitzenden des Deutschen Richterbundes v. 18. 9. 2008, Kommissionsdrucksache Nr. 136. 110 Mit Recht kritisch zur Rechtsprechung des BVerwG bei unterschwelligen Vergaben Rennert, DVBl. 2006, 1252.
Reichsverwaltungsgericht und Reichsgericht
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last“ für Notwendigkeit und Nutzen einer Veränderung und bewirkt schon deswegen eine „Prämie“ auf das Bestehende, weil angesichts der in allen Gerichtszweigen gewährleisteten Qualität von Rechtsprechung gravierende Rechtsprechungsmängel nicht zu Veränderungen zwingen, man sich an die verbleibenden Friktionen gewöhnt hat und das politische Kosten-Nutzen-Kalkül den Aufwand einer Verfassungsänderung nicht rechtfertigt. Auch für die Justiz gilt: Das Bestehende hat den Schein der Vernünftigkeit für sich. 90 Jahre nach Zuweisung durch die Weimarer Reichsverfassung, 60 Jahre nach ihrer Bestätigung durch das Grundgesetz besteht eine Tradition, die hinter jener der 600jährigen der Universität Leipzig verblasst, ihrer Beharrungskraft aber gewiss sein kann.
Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig – Bilanz der ersten fünf Jahre Von Eckart Hien
I. Die juristische Verlagerung des Gerichtssitzes (Ausgangslage) Das Bundesverwaltungsgericht als oberste Instanz der Rechtsprechung für den Bereich des Verwaltungsrechts ist eine Nachkriegsschöpfung. Es wurde durch das Gesetz vom 25. September 1952 (BGBl. I S. 625) mit Sitz in Berlin (West) errichtet. Die feierliche Eröffnung und die Arbeitsaufnahme fanden dort am 8. Juni 1953 statt. Durch das „Gesetz zur Verlagerung des Sitzes des Bundesverwaltungsgerichts von Berlin nach Leipzig“ vom 21. November 1997 (BGBl. I S. 2742) wurde der neue Standort Leipzig festgelegt. Der Neubeginn in Leipzig wurde am 12. September 2002 durch einen Festakt im Gebäude des ehemaligen Reichsgerichts gefeiert, das nach über vierjähriger Renovierungsarbeit fortan dem Bundesverwaltungsgericht als Residenz – im wahrsten Sinne des Wortes – dient. Den Entscheidungen des Gesetzgebers gingen in beiden Fällen heftige Diskussionen voraus, die veranschaulichen, dass die Bestimmung des Sitzes eines obersten Gerichts keineswegs eine bloß justizpolitische oder gar verwaltungstechnische Maßnahme darstellt. Es handelt sich vielmehr um ein „Politikum“, das durch ein Interessengeflecht aus regionalen, historischen, gesamtstaatlichen, echten und vorgeschobenen Gesichtspunkten bestimmt wird. Auf die politischen Auseinandersetzungen um den Sitz Berlin bzw. Leipzig ist jedoch hier nicht näher einzugehen. Diese Schlachten sind geschlagen und wurden andernorts eingehend beschrieben (vgl. insbesondere Lehmann-Grube, Von Berlin nach Leipzig – Eine Vereinigungsgeschichte, Festgabe 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, 2003, S. 1105; Hien, Das Bundesverwaltungsgericht: Von Berlin nach Leipzig – Oder: Der Sitz oberster Gerichte in der politischen Diskussion, Festschrift für Peter Raue, 2006, S. 99). Hier soll vielmehr darüber berichtet werden, welche Probleme das Bundesverwaltungsgericht in den ersten fünf Jahren seiner Leipziger Tätigkeit hauptsächlich zu bewältigen hatte. Ein Erfahrungsbericht also, der naturgemäß von subjektiven Einschätzungen und dementsprechend möglicherweise selektiven Wahrnehmungen des Berichterstatters geprägt ist.
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II. Umzugsphase Am 26. August 2002, einem Montag, nahm das Bundesverwaltungsgericht offiziell seine Arbeit in Leipzig auf. Dieser normativ festgelegte Termin (vgl. Verordnung vom 24. Juni 2002, BGBl. I S. 2371) wäre allerdings fast durch höhere Gewalt – zwar nicht rechtlich, aber faktisch – verzögert worden. Schon während der Umbauphase gab es einige unvorhergesehene Hindernisse, die sich aber rechtzeitig beseitigen ließen: Ein 75-Kilo-Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg, der bei den Bauarbeiten in der Decke zwischen dem ersten und zweiten Obergeschoß des Bibliothekstrakts entdeckt wurde, konnte zur Erleichterung aller fachmännisch entschärft werden. Auch der Bau der Tiefgarage war zeitlich gefährdet, allerdings nicht durch richtige Bomben, sondern durch juristische Querschläger in Form einer Konkurrentenklage im Verfahren der Ausschreibung der Bauarbeiten. Dank der zügigen Verfahrensweise des zuständigen Gerichts konnte auch dieser Stolperstein rechtzeitig ausgeräumt werden. Somit war der Weg frei für die Vorbereitung des Umzugs zu einem konkreten Termin. Das war eine besondere logistische Herausforderung, zumal die Beteiligten ein Problem dieses Ausmaßes zum ersten – und wahrscheinlich auch letzten – Mal zu bewältigen hatten. Es musste vor allem sichergestellt werden, dass die Arbeit des Gerichts nur so kurz wie möglich beeinträchtigt wird. Das bedeutete, dass die Phasen des Einpackens, des Transportes und des Auspackens jeweils hoch konzentriert und genau aufeinander abgestimmt werden mussten. Erschwerend kam hinzu, dass nicht nur von Berlin, sondern gleichzeitig – wegen der dort ansässig gewesenen zwei Wehrdienstsenate – auch von München nach Leipzig umgezogen werden musste. Damit nicht genug, war schließlich von Karlsruhe der Teil der Reichsgerichtsbibliothek nach Leipzig zu transportieren, der in einem Kompromiss dem Bundesverwaltungsgericht zugesprochen worden war, also alle vor dem Jahr 1800 erschienenen Bände sowie die gesamte kirchenrechtliche Literatur. Wegen dieses teilweise sehr empfindlichen Bücherbestands war selbstverständlich ein Spezialtransport notwendig. Alle Schritte waren von einer Arbeitsgruppe mit Unterstützung des – natürlich europaweit ausgeschriebenen – Logistikunternehmens minutiös geplant und vorbereitet. Als in Berlin alles gepackt war, setzte sich der Lastwagenkonvoi in Richtung Leipzig in Bewegung. Die bis dorthin zu bewältigenden ca. 170 km sollten an sich kein Problem sein. Aber: Genau zu diesem Zeitpunkt schwoll die Elbe zu dem inzwischen berühmten Jahrhundert-Hochwasser an, das so manchem Politiker medienwirksame Einsätze in Gummistiefeln bei Sandsäcke schleppenden Helfern bescherte. Nun ist freilich die Brücke der Autobahn A 9 über die Elbe so hoch, dass selbst ein Jahrtausend-Hochwasser in aller Ruhe von oben besichtigt werden könnte. Kurz nach der Elbe – in Richtung Leipzig – schlängelt sich aber auch die Mulde unter der A 9 hindurch. Und dieses sonst so harmlose Flüsschen sah in dem
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Hochwasser seine Chance, es an Wassermassen einmal mit der Elbe aufzunehmen. Die Muldebrücke war zwar auch hier nicht das Problem, aber das südlich anschließende Überschwemmungsgebiet. Dort stand der Autobahn das Muldewasser sozusagen „Oberkante-Unterlippe“ und konnte nur durch wiederum Sandsäcke schleppende Helfer der Autobahn knapp ferngehalten werden, jedenfalls kurzfristig. Und genau diesen Zeitraum nutze unser Umzugskonvoi, um gerade noch das dann sichere Gebiet vor Dessau zu erreichen und tatsächlich planmäßig in Leipzig anzukommen. Die Pleiße hatte ja nie den Ehrgeiz, es mit der Elbe aufzunehmen; Leipzig setzte immer auf andere Trümpfe. Die Mulde konnte zwar dem Bundesverwaltungsgericht nichts anhaben, hat sich aber gleichsam an den „Kleinen“ gerächt: Mit ihrem Hochwasser zerstörte sie z. B. die erst vor kurzem angeschaffte Ausstattung des Amtsgerichts Eilenburg vollkommen. Das gab dem Bundesverwaltungsgericht die Gelegenheit, gleich bei seiner Ankunft in Sachsen wohltätig zu wirken: Ein Teil der Ausstattungsgegenstände, die bei dem Umzug des Gerichts von Berlin nach Leipzig wegen der dortigen Neumöblierung nicht mitgenommen wurden, konnte als Soforthilfe dem Amtsgericht Eilenburg sowie anderen hochwassergeschädigten Einrichtungen der sächsischen Justiz zur Verfügung gestellt werden.
III. Umzug und Personalkonzept Nach Überwindung aller vorhergesehenen und überraschenden Hindernisse hat also am 26. August 2002 die reguläre Arbeit des Gerichts in Leipzig begonnen. Aber auch das klingt leichter als es war. Um eine Institution, wie ein Gericht oder eine Behörde, zu verlagern, bedarf es zunächst nur eines Gesetzesbefehls. Der reale Umzug ist dann ein organisatorisches und logistisches Problem, das mehr oder weniger auf dem „Reißbrett“ gelöst werden kann. Ein wichtiger Faktor entzieht sich freilich einer eher abstrakten oder mechanischen Lösung: Der Faktor Mensch. Es ist verständlich, dass der Umzugsbeschluss bei den Beschäftigten des Gerichts eine gewisse Unruhe auslöste. Für die meisten Menschen ist ein – noch dazu „unfreiwilliger“ – Ortswechsel mit Unsicherheit und dementsprechenden Ängsten verbunden. Die gewohnte Umgebung, die Freunde und Bekannten, die Schule, das Reihenhaus und vieles mehr möchte man nicht ohne Not aufgeben. Je näher der Umzugstermin rückte, desto mehr Bewegung kam auch in das Personal. Dabei sind grundsätzlich zwei Gruppen zu unterscheiden: Zum einen die Richterschaft. Da sich die Richterschaft eines Bundesgerichts aus Richterinnen und Richtern des ganzen Bundesgebiets in etwa proportional zur Größe der Bundesländer rekrutiert, hatten – bis auf die Berliner Richter – alle bereits einen Ortswechsel nach Berlin hinter sich oder nur einen Zweitwohnsitz in Berlin und den Hauptwohnsitz am bisherigen Wohnort. Es handelt sich also von
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vornherein nicht um einen in Berlin „alteingesessenen“ Personenkreis. Entscheidend war weiter, dass der Wechsel eines Bundesrichters zu einem anderen Gericht oder einer anderen Behörde in Berlin regelmäßig mangels entsprechender Stellen ausschied. Das bedeutete, dass die bisher in Berlin tätigen Richterinnen und Richter ausnahmslos dem Gericht nach Leipzig folgten. Dem Arbeitsplatzwechsel entsprach nicht im gleichen Umfang auch der Wechsel des Hauptwohnsitzes, der für viele Kolleginnen und Kollegen zunächst Berlin blieb – vor allem für solche mit einer nicht mehr allzu langen „Restlaufzeit“ bis zur Pensionierung. Auch diese „Wochenendpendler“ belebten freilich den Leipziger Wohnungsmarkt, da sie alle eine Zweitwohnung am Sitz des Gerichts bezogen. Inzwischen hat sich der Anteil der Richterschaft mit Hauptwohnung in Leipzig deutlich erhöht. Vor allem die neu hinzukommenden Richterinnen und Richter ziehen überwiegend auch mit Hauptwohnsitz nach Leipzig. Für den so genannten nichtrichterlichen Dienst war die Ausgangslage von vornherein eine andere: Dieser Personenkreis war zum einen ganz überwiegend in Berlin beheimatet und verwurzelt. Zum anderen war durch die „Hauptstadtentscheidung Berlin“ und den nachfolgenden Umzug eines Großteils der Ministerien von Bonn nach Berlin eine insoweit günstige Arbeitsmarktsituation entstanden. Für den einfachen und mittleren Dienst, dem ein Ortswechsel oder ein dauerhaftes Pendeln am wenigsten zumutbar erschien, hat sich das Bundesverwaltungsgericht auch aktiv um geeignete Arbeitsplätze in Berlin bemüht. Die Angehörigen des gehobenen Dienstes waren meist auf Grund Eigeninitiative in der Lage, einen geeigneten Arbeitsplatz in Berlin zu finden. Das entscheidende personalpolitische Problem bestand darin, den umzugsbedingten Personalabfluss so zu steuern, dass ein abrupter und umfangreicher Verlust an know how möglichst vermieden wird. Das konnte dadurch erreicht werden, dass zum einen der Weggang – in Absprache mit den aufnehmenden Behörden in Berlin – zeitlich gestreckt wurde und dass zum anderen bereits etwa drei Jahre vor dem Umzug für jede in Berlin frei werdende Stelle gezielt Bedienstete aus dem Leipziger Raum angeworben wurden. Diese Bemühungen waren – nicht zuletzt wohl auch wegen der oberstgerichtlichen Gehaltszulage – sehr erfolgreich, so dass es bereits in den ein zwei Jahren vor dem Umzug in den Fluren des Bundesverwaltungsgerichts in der Berliner Hardenbergstraße immer mehr „gesächselt“ hat. Diese Mitarbeiter waren durchweg besonders motiviert und haben ein längeres Pendlerdasein in Kauf genommen, um dann mit dem Gericht in ihre Heimat Leipzig zu ziehen. Auf diese Weise entstand eine Mannschaft mit guter west-östlicher Mischung. Im letzten Jahrespressegespräch vor dem Umzug konnte der damalige Präsident des Bundesverwaltungsgerichts Franßen deshalb feststellen: „Wenn ich die Stimmung im Hause kennzeichnen soll, so reicht sie von erwartungsvoller Neugier auf der westlichen bis zu verhaltener Freude auf der östlichen Seite. Wir haben uns – mit anderen Worten – auf dem west-östlichen Diwan schon ganz passabel eingerichtet.“
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IV. Integration in Leipzig Nun also war das Bundesverwaltungsgericht am 26. August 2002 nicht nur rechtlich, sondern auch faktisch in Leipzig angekommen. Die umzugsbedingte Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit war so gering gehalten worden, dass sie sich auf die Jahresstatistik hinsichtlich Erledigungszahlen und Verfahrensdauer nicht – jedenfalls nicht messbar – ausgewirkt hat. Die Arbeit konnte nahtlos weiter gehen – business as usual. Und doch hat sich die neue Situation nicht unerheblich auf die Arbeit des Gerichts ausgewirkt. Damit ist nicht die Rechtsprechung als solche gemeint, sondern die Institution Bundesverwaltungsgericht als Behörde. Auch Institutionen sind „Lebewesen“ in dem Sinn, dass sie z. B. ähnlichen psychologischen Phänomenen ausgesetzt sind wie natürliche Personen. Das gilt jedenfalls für die typischen Reaktionen, mit denen es Neuankömmlinge zu tun haben, etwa der neue Schüler in einer Klasse, der neue Mitarbeiter, oder eben der neue Bewohner im alteingesessenen Umfeld. Der „Neue“ wird zunächst in den meisten Fällen als Fremdkörper empfunden, ein Gefühl, das sich im Falle des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig noch dadurch hätte verstärken können, dass das Gericht als Bundeseinrichtung keine formellen Verknüpfungen oder Beziehungen zu den Behörden des Landes oder der Stadt hatte und zusätzlich als „Westimport“ wahrgenommen würde. Ein bewährtes Mittel zur Verhinderung einer Isolation des „Neuen“ ist die Bereitschaft beider Seiten, offen aufeinander zuzugehen und durch Dialog und gegenseitige Teilnahme die Fremdheit zu überwinden, ja sie nach Möglichkeit in Vertrautheit zu verwandeln. Nach diesem Motto wurde auch nach der Ankunft des Gerichts in Leipzig verfahren: Den Anfang machte der Oberbürgermeister der Stadt Leipzig, Wolfgang Tiefensee, der das Gericht bereits am 11. September 2002 zu einem Empfang in den ehrwürdigen Festsaal des Alten Rathauses eingeladen und herzlich willkommen geheißen hat. Bei dieser Gelegenheit erhielt jedes Mitglied des Gerichts ein Exemplar des Romans „Reichsgericht“ von Erich Loest, dem literarischen Urgestein und Ehrenbürger der Stadt Leipzig, der selbst anwesend war und jedes Buch mit einer persönlichen Widmung versah. Das war nicht nur eine noble, sondern auch eine symbolträchtige Geste, die ihre Wirkung nicht verfehlte: Das Gefühl, in Leipzig freundlich aufgenommen zu werden, hätte kaum besser vermittelt werden können. Auch das Gericht war von Anfang an bemüht, sich nicht in einen Elfenbeinturm oder gar in eine Festung zurückzuziehen. Das war schon deshalb nicht selbstverständlich, weil das Sicherheitskonzept von Polizei und Staatsschutz ursprünglich in der Tat eine fast vollständige Abriegelung des Gebäudes dergestalt vorsah, dass ein
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Betreten nur zu einem berechtigten Zweck (etwa Teilnahme an mündlicher Verhandlung) und nach akribischer individueller Sicherheitskontrolle möglich sein sollte. Dieses Konzept widersprach unserem erklärten Bemühen, das mit hohem Aufwand restaurierte Gebäude des ehemaligen Reichsgerichts, das sich sehr rasch zur touristischen Attraktion entwickelte, einer möglichst breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das Sicherheitskonzept erschien uns in dieser Ausprägung auch nicht erforderlich, da im Gericht schließlich nicht das „Gold von Fort Knox“ aufbewahrt wird.. Das Gericht hat deshalb eine Lösung gefunden, die sowohl dem Sicherheits- als auch dem Öffentlichkeitsinteresse gerecht werden dürft: Zu den allgemeinen Bürostunden kann jedermann das Gebäude betreten und die eindrucksvolle Kuppelhalle sowie, dem Haupttreppenaufgang folgend, auch den Großen Sitzungssaal – das ehemalige Dimitroff-Museum – besichtigen. In diesem „öffentlichen Bereich“ gibt es elektronisches Informationsmaterial über das Gericht; es sind auch Vitrinen aufgestellt, in denen in wechselnden Ausstellungen einige Schätze der alten Reichsgerichtsbibliothek gezeigt werden. Die an diesen Bereich anschließenden Flure mit den Zimmern der Richter und Geschäftsstellen sind dagegen nicht öffentlich zugänglich. Nach Anmeldung können auch Führungen im gesamten Gebäude durchgeführt werden, so dass auf diese Weise z. B. auch der attraktive Festssaal der ehemaligen Wohnung des Präsidenten des Reichsgerichts zugänglich ist. Sehr bald stellte sich heraus, dass das Gebäude nicht nur als touristische Attraktion, sondern auch als begehrter Veranstaltungsort angesehen wurde. Die „EventManager“ waren völlig zu Recht der Meinung, dass das monumentale Gebäude, der ehrwürdige Große Sitzungssaal und der prächtige ehemalige Festsaal einen eindrucksvollen Rahmen für Empfänge, Gala-Dinner, Tagungen und sonstige festliche Veranstaltungen abgeben würden. Hier galt es, ein Konzept zu entwickeln, das zum einen den dienstlichen Belangen und der Würde des Gerichts Rechnung trug, zum anderen aber auch eine angemessene Nutzung der repräsentativen Räumlichkeiten zuließ. Dabei war auch zu bedenken, dass das Gericht bei der Veranstaltungszulassung dem Gleichheitssatz verpflichtet ist, so dass stets auch die möglichen „Bezugsfälle“ in Rechnung zu stellen sind. Vor diesem Hintergrund ergab sich fast zwangsläufig, nur solche Veranstaltungen zuzulassen, die einen rechtlichen oder doch zumindest einen sonstigen Gemeinwohlbezug haben. Insbesondere bei öffentlichen Körperschaften kann ein solcher Bezug in der Regel angenommen werden, so dass z. B. Veranstaltungswünschen der Stadt Leipzig, des Freistaats Sachsen oder auch des Bundes grundsätzlich Rechnung getragen wird. Auch der Universität Leipzig, die seit der Zerstörung der Paulinenkirche über keinen ausreichend großen eigenen Versammlungsraum verfügte, konnte für he-
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rausragende Ereignisse der Große Sitzungssaal zur Verfügung gestellt werden, z. B. für die feierlich Verleihung der Ehrendoktorwürde an den Chilenischen Präsidenten Lagos. Im Fall der Universität Leipzig wäre diese Art der „Amtshilfe“ allerdings auch aus einem anderen Grund ein nobile officium gewesen: Fand doch der feierliche Eröffnungsakt des Reichsgerichts im Jahr 1879 in der Aula im Augusteum der Leipziger Universität statt, da das Gericht damals noch nicht über ein eigenes Gebäude verfügte (vgl. Topfstedt, Das Reichsgericht in Leipzig – vom Entwurf zum ausgeführten Bau, in: Sachsen im Spiegel des Rechts, Hrsg. von Adrian SchmidtRecla, Eva Schumann, Frank Theisen, 2001). Das Gebäude des Bundesverwaltungsgerichts ist jedenfalls – sicher mehr als jedes andere Gerichtsgebäude in Deutschland – ein beliebter Veranstaltungsort geworden, z. B. für – neben den oben genannten Institutionen – auch die Sächsische Akademie der Wissenschaft, die Juristische Gesellschaft von Leipzig, die Deutsche Gesellschaft für Umweltrecht, das Deutsche Anwaltsinstitut und viele ähnlichen Einrichtungen. Diese von außen an das Gericht herangetragenen Veranstaltungen juristischer oder jedenfalls fachlicher Art werden ergänzt durch eine Veranstaltungsreihe, die aus der Mitte des Gerichts initiiert wurde: Ebenso rührige wie kunstbeflissene Kolleginnen und Kollegen haben den Verein „Kunst und Justiz im Bundesverwaltungsgericht e.V.“ gegründet, der dafür Sorge trägt, dass in dem eindrucksvollen Justizgebäude nicht nur trockene Paragraphenluft weht, sondern auch der Geist der Musen. Die von diesem Verein organisierten Konzerte gehören inzwischen zum festen Bestandteil des kulturellen Lebens in Leipzig und stehen zugleich für die behutsame Öffnung des Gerichts für die Bevölkerung. Es besteht also Anlass zu der Feststellung, dass das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig nicht isoliert, sondern mehr und mehr integriert ist. Für die Verwaltung des Gerichts brachte die Notwendigkeit des Veranstaltungsmanagements allerdings eine nicht unerhebliche Mehrbelastung, zumal im Stellenplan eines Gerichts hierfür keine zusätzlichen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. V. Internationale Kontakte Auch in den Berliner Zeiten hatte das Bundesverwaltungsgericht internationale Kontakte in Form von Informationsbesuchen ausländischer Delegationen oder durch die Teilnahme von Mitgliedern des Gerichts an internationalen Tagungen. Diese Kontakte haben sich in Leipzig rein zahlenmäßig in etwa verdreifacht und sind auch inhaltlich erheblich intensiviert worden. Die Gründe hierfür sind sicher vielfältig. Eine bedeutende Rolle in dieser Entwicklung spielte die Gründung der Vereinigung der Obersten Verwaltungsgerichte
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und Staatsräte der Europäischen Union im Jahre 2000, deren Vorstand der Präsident des Bundesverwaltungsgerichts ab dem Jahr 2002 in der wechselnden Funktion als Vizepräsident und Präsident der Vereinigung angehörte. Ausgehend von der Erkenntnis, dass es in erster Linie ein kohärentes Rechtssystem ist, das Europa – neben der politischen Idee – zusammenhält, wurde die Notwendigkeit einer verstärkten Kommunikation der nationalen Gerichte mit dem Europäischen Gerichtshof, aber auch zwischen den Mitgliedstaaten deutlich. Die Vereinigung hat deshalb ein elektronisches Datennetzwerk aufgebaut, in dem z. B. alle nationalen Gerichtsentscheidungen mit europarechtlichem Bezug allgemein zugänglich sind (zur näheren Information vgl. http: //www.juradmin.de). Ein nur den Gerichten zugängliches „Forum“ ermöglicht einen raschen und gezielten Gedankenaustausch zwischen allen Obersten Verwaltungsgerichten der Europäischen Union, z. B. über die Frage, wie eine bestimmte Richtlinie bisher ausgelegt wurde oder ob in diesem Zusammenhang eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof erfolgte oder erwogen werde. Die Vereinigung veranstaltet zudem alle zwei Jahre ein Kolloquium über ein alle Mitgliedsgerichte berührendes Thema, meist mit europarechtlichem Zuschnitt. Dieses Kolloquium fand im Juni 2006 in Leipzig statt mit ca. 80 Teilnehmern aus allen Mitgliedsländern der EU. Die protokollarisch herausgehobene Bedeutung der Konferenz wurde dadurch unterstrichen, dass der Bundespräsident die Konferenzteilnehmer in Leipzig persönlich empfangen hat. Die Konferenz behandelte eine Fallstudie aus dem Verkehrswegeplanungsrecht mit europarechtlichem Bezug. Auf der Grundlage der Nationalberichte wurde ein Generalbericht erstellt und die unterschiedlichen Lösungsansätze untersucht (das Ergebnis der Konferenz ist veröffentlicht unter: Rubel / Silbermann, Road Planning in Europe – A Case Study, Leipzig 2006, und zwar in englischer, französischer und deutscher Sprache; vgl. auch Hien, Rechtsschutz gegen Planungsentscheidungen im Fernstraßenrecht – auch im europäischen Vergleich, DVBl. 2007, 393). Das Bundesverwaltungsgericht hat es auch als wichtige Aufgabe angesehen, die Gerichte der Länder, die im Jahr 2004 der Europäischen Union beigetreten sind, bereits vorher als „Beitrittskandidaten“ in den Kommunikationsprozess rechtzeitig einzubeziehen. Auf diese Weise entstanden vielfältige Kontakte insbesondere zu den baltischen Staaten, zu Polen, Tschechien und der Slowakei, und zu dem – immer noch – Beitrittskandidaten Kroatien. Aber auch außerhalb Europas wird die Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit mit Interesse beobachtet. Die „kontinentaleuropäische“ Tradition einer von der ordentlichen Gerichtsbarkeit getrennten Verwaltungsgerichtsbarkeit gewinnt weltweit zunehmend an Anhängerschaft. In Koordination mit den Parteistiftungen (insbesondere der Konrad Adenauer Stiftung und der Friedrich Ebert Stiftung), der Deutschen Stiftung für Internationale Rechtliche Zusammenarbeit und der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit haben Vertreter des Bundesverwaltungsgerichts z. B. in Brasilien, Chile, China, Russland, Thailand und der Ukraine als Berater in Sachen Verwaltungsgerichtsbarkeit mitgewirkt.
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Delegationen aus zahlreichen Ländern der ganzen Welt haben sich auch im Bundesverwaltungsgericht in Leipzig über unser Gerichtssystem informiert. Dabei konnte immer wieder festgestellt werden, dass ein Besuch in Leipzig für unsere Gäste nicht zuletzt deshalb attraktiv war, weil sich dabei auch die Kontaktaufnahme mit der Universität verbinden ließ. Dass zudem das Flair der immer schon „offenen“ Stadt Leipzig sowie das geschichtsträchtige und eindrucksvolle Gerichtsgebäude dieser Entwicklung förderlich waren, muss nicht extra betont werden.
VI. Die Rechtsprechung Es könnte verwundern, dass von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erst zum Schluss dieses Berichts und auch hier nur sehr kursorisch die Rede ist. Das hat zum einen damit zu tun, dass der Bericht in erster Linie aus der Perspektive des „Behördenleiters“, nicht des Richters verfasst ist. Zum andern erscheint es fraglich, ob sich überhaupt eine Fünfjahresbilanz der Rechtsprechung in dem Sinne ziehen ließe, dass der Standortwechsel von Berlin nach Leipzig dabei inhaltlich eine Rolle spielen könnte. Der „genius loci“ einer Stadt oder einer Region mag auf manchen Tätigkeitsfeldern so auf die Akteure wirken, dass das nicht ohne Einfluss auf die Aktionen – etwa wirtschaftlicher oder künstlerischer Art – bleibt. Eine solche Einflussnahme scheidet bei einem Bundesgericht schon deshalb aus, weil die Richter ohnehin aus dem gesamten Bundesgebiet stammen und deshalb, wenn überhaupt, jedenfalls unterschiedlichen regionalen Einflüssen ausgesetzt sind, die sich bei nur fünfjährigem – und zeitlich beschränktem – Aufenthalt in Leipzig sicher nicht nivellieren ließen. Und natürlich: An der strikten Rechtsbindung der Richterschaft kann sich durch einen bloßen Ortswechsel des Gerichts nichts ändern. Kurzum: Schon aus dem Grundsatz „Was nicht sein darf, das nicht sein kann“ folgt messerscharf, dass der bloße Ortswechsel des Gerichts keinen inhaltlichen Einfluss auf die Rechtsprechung haben konnte. Im Übrigen sind bei den Themen, die einen spezifischen Bezug zu den „neuen“ Ländern haben, die juristischen Weichen bereits in Berlin gestellt worden, also etwa im Bereich des Rechts der offenen Vermögensfragen oder der „Verkehrsprojekte Deutsche Einheit“. Die Rechtsprechung in Leipzig kann daher nur in der Kontinuität der bisherigen Rechtsprechung gesehen werden. Ein spezifischer Leipziger „Trend“ kann jedenfalls nach einem so kurzen Zeitraum von fünf Jahren nicht festgestellt werden. Die Auswahl von inhaltlich berichtenswerten Gerichtsentscheidungen wäre unter diesem Gesichtspunkt eher willkürlich. Die Berichterstattung beschränkt sich deshalb auf ein Verfahren, das vor allem auch aus der Sicht des „Behördenleiters“ von herausragender Bedeutung war: Die
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Klagen gegen den Planfeststellungsbeschluss für den Flughafen Berlin-Schönefeld. Das Verfahren bot zwar auch inhaltlich eine Fülle von Problemen, blieb aber insoweit doch im Rahmen auch anderer größerer Planungsverfahren. Was den bisherigen Rahmen dagegen völlig sprengte, war der schiere Umfang. Etwa 4000 Kläger galt es zu registrieren, was auch dann noch einen erheblichen Aufwand darstellt, wenn sie zu mehreren Sammelklagen zusammengefasst sind. Der Planfeststellungsbeschluss umfasste bereits 1171 Seiten mit 27 Leitzordnern als Anlagen. Die zum Verfahren beigezogenen Behördenakten summierten sich auf 2000 Ordner. Die Begründung einer der Sammelklagen betrug 1700 Seiten mit 34 Ordnern als Anlage, der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz immerhin noch 570 Seiten. Ein solches „Mammutverfahren“ hätte mit der normalen personellen Besetzung rein verwaltungstechnisch nicht annähernd zeitgerecht bearbeitet werden können. Es war daher notwendig, eine zusätzliche Sondergeschäftsstelle „Schönefeld“ einzurichten und über Zeitarbeitsverträge mit ausreichendem Personal auszustatten – das natürlich vorher eingearbeitet werden musste. Allein zur Aufbewahrung der Akten – die mit gesonderten Lastwagen nach Leipzig transportiert wurden – mussten einige Räume im Tiefparterre des Gerichts zur Verfügung gestellt werden. Obwohl von der prozessualen Möglichkeit der Musterverfahren nach § 93 a VwGO Gebrauch gemacht wurde, stellte auch die Durchführung der mündlichen Verhandlung die Verwaltung – vom Vorsitzenden Richter hier einmal ganz abgesehen – vor erhebliche Probleme. Die Verhandlung ist öffentlich und auch die nicht an den Musterverfahren beteiligten Kläger hatten selbstverständlich großes Interesse an einer Teilnahme. Da der Große Sitzungssaal des Gerichts „nur“ ca. 200 Zuhörer aufnehmen konnte, wurde mit einem System unterschiedlich farbiger und rechtzeitig vorher ausgegebener und entsprechend kontingentierter Eintrittskarten gearbeitet: Die direkt beteiligten Kläger also etwa „rot“, die anderen Kläger „grün“ und das „normale“ Publikum „gelb“. Auf diese Weise konnte die Zugangskontrolle relativ übersichtlich gestaltet werden. Die Presse bekam die hintere Empore für sich und konnte dort ungestört und unstörend kommen und gehen und auch mit den unvermeidlichen Laptops arbeiten. Auch jetzt noch erinnert sich der Berichterstatter mit einem Gefühl der Erleichterung daran, dass dieses Verfahren trotz seines Umfangs und auch seiner emotionalen Brisanz ohne nennenswerte Zwischenfälle ordnungsgemäß und zeitgerecht durchgeführt werden konnte. VII. Fazit Als Bilanz der ersten fünf Jahre kann man sicher feststellen: Das Bundesverwaltungsgericht ist nicht nur physisch, sondern auch mental gut angekommen in Leipzig. Sowohl die Institution als auch die sie tragenden Menschen sind aus Leipzig kaum noch wegzudenken. „Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig“ – so begann ganz bewusst ab dem 26. August 2002 jede Presseerklärung des Gerichts. Diese
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Begriffsverbindung hatte damals noch den pädagogischen Zweck des Lernens durch Wiederholung; heute drückt sie eine schlichte Normalität aus. Daran mitarbeiten gedurft zu haben (so schwierig kann deutsch sein) – ist eine prägende Erfahrung.
Wie arbeitet das Bundesverwaltungsgericht? Ein Überblick zu der Struktur und der Arbeitsweise des höchsten deutschen Verwaltungsgerichts Von Ralf Brinktrine*
I. Einführung Das Vertrauen der Bürger in die Justiz ist groß. Insbesondere die Verwaltungsgerichtsbarkeit genießt in der deutschen Bevölkerung hohes Ansehen. Dies gilt in besonderer Weise für das höchste deutsche Verwaltungsgericht, das 1952 gegründete Bundesverwaltungsgericht. Zunächst in Berlin beheimatet, hat das Bundesverwaltungsgericht seit 2002 seinen Sitz in Leipzig1 im Gebäude des ehemaligen Reichsgerichts. Derzeit nehmen mehr als 60 Richter die gesetzlich übertragenen Rechtsprechungsaufgaben des Gerichts wahr. Unterstützt werden sie dabei von ca. 200 sonstigen Bediensteten. Das Bundesverwaltungsgericht hat – anders als die anderen Gerichtshöfe des Bundes – zwei Aufgabenbereiche, die sich zudem in ihrem Wesen deutlich voneinander unterscheiden. Die erste wesentliche Aufgabe des Bundesverwaltungsgerichts ist die eines Revisionsgerichts2. Daneben sind ihm vom Gesetzgeber auf verschiedenen Feldern des Verwaltungsrechts – systemwidrig – auch Aufgaben eines Verwaltungsgerichts erster und letzter Instanz3 übertragen worden4. * Der Verfasser war vom 15. 08. 2007 bis 30. 09. 2008 von der Juristenfakultät der Universität Leipzig an das Bundesverwaltungsgericht abgeordnet. Für wertvolle Hinweise dankt er den Mitgliedern des 2. Revisionssenats, namentlich Herrn VRiBVerwG a.D. Albers, Herrn VRiBVerwG Herbert und Herrn RiBVerwG Prof. Dr. Kugele, sowie Herrn RiBVerwG Prof. Dr. Rojahn und Herrn RiBVerwG Prof. Dr. Berlit. 1 Dieser Sitz ist gesetzlich angeordnet; vgl. § 2 VwGO: „ . . . im Bund das Bundesverwaltungsgericht mit Sitz in Leipzig“. 2 Dazu näher Schwarz, Das Bundesverwaltungsgericht, 2. Aufl. Köln u. a. 2002, S. 10 f. 3 Vgl. dazu beispielsweise die Erläuterungen von Kopp / Schenke, VwGO, 15. Aufl. München 2007, § 50 Rn. 1 ff. 4 Vgl. § 50 VwGO. Die frühere dritte Zuständigkeit als Berufungsgericht in Disziplinarsachen gegen Bundesbeamte ist durch die Änderung des Disziplinarrechts entfallen. Es werden lediglich noch einige Restfälle nach altem Recht bearbeitet. Zu dieser früheren Zuständigkeit siehe Schwarz, Das Bundesverwaltungsgericht, 2. Aufl. Köln u. a. 2002, S. 12.
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Die Kompetenzen und Aufgaben des Bundesverwaltungsgerichts sowie das erstinstanzliche als auch das Revisionsverfahren werden in der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) näher geregelt. Diese normativen Bestimmungen der §§ 49, 50 VwGO sowie der §§ 132 ff. VwGO sind Gegenstand ausführlicher Anmerkungen in den einschlägigen Kommentaren und didaktischer Erläuterungen in den Lehrbüchern zum Verwaltungsprozessrecht5. Dagegen finden sich in der Fachliteratur nur wenige Angaben zu der inneren Struktur des Gerichts und der Arbeitsweise seiner Senate. Die nachfolgenden Ausführungen haben daher auch zum Ziel, den Schleier ein wenig zu lüften und aus der Sicht eines Rechtswissenschaftlers, der nicht im Justizbetrieb verhaftet ist, einige Beobachtungen zu der derzeitigen6 Organisation und der Arbeitsweise des Gerichts einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen. II. Die innere Struktur des Bundesverwaltungsgerichts 1. Die Organisation des Gerichts a) Präsidium Nicht nur die Kompetenzen, auch die Grobstrukturen des Gerichts sind – wenigstens zum Teil – gesetzlich vorgegeben7. Entsprechend den Vorgaben des § 4 Satz 1 VwGO i. V. m. §§ 21a – 21j GVG hat auch das Bundesverwaltungsgericht ein Präsidium, das gegenwärtig aus 9 Mitgliedern besteht. Ihm gehören der jeweilige Präsident des Gerichts, der Vizepräsident, sowie 7 Vertreter der verschiedenen Senate an. Bei seinen Leitungsaufgaben unterstützt wird das Präsidium von der Präsidialabteilung, dem ein Präsidialrichter vorsteht8. b) Senate Auf der Grundlage des § 10 Abs. 2 VwGO werden beim Bundesverwaltungsgericht Senate gebildet. Das Bundesverwaltungsgericht verfügt derzeit über 10 Revisionssenate (Kurzform: R-Senate)9. Die den R-Senaten zugewiesenen Sachmaterien werden durch den jährlich erlassenen Geschäftsverteilungsplan (§ 4 Satz 1 Siehe etwa Hufen, Verwaltungsprozeßrecht, 7. Aufl. 2008, § 11 Rn. 80. Alle Angaben beziehen sich auf den Stand vom 30. 09. 2008. 7 Einen Überblick über die Organisation des Bundesverwaltungsgerichts findet sich auch auf der Internetseite des Gerichts unter www.bverwg.de, dort mit zahlreichen Menüpunkten. 8 Weitere, von anderen gesetzlichen Bestimmungen vorgesehene Gremien beim BVerwG sind der Präsidialrat und der Richterrat. Beide Organe sind aber nicht mit der Leitung des Gerichts betraut, sondern haben ihre Kompetenzen auf den Feldern der Richterwahl bzw. der Personalvertretung. 9 Die Gesamtzahl der Senate schwankt. Es gab in der Vergangenheit sowohl mehr Senate (nämlich 11) als auch weniger als 10 Senate. 5 6
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VwGO i. V. m. § 21 g GVG) bestimmt. Grundsätzlich bleiben die jeweiligen Zuständigkeiten der Senate über längere Zeiträume bestehen, um die Kontinuität der Rechtsprechung auf den verschiedenen Rechtsgebieten zu sichern. Kleinere Änderungen oder Umstrukturierungen der Zuständigkeiten kommen gelegentlich vor, sie sind vor allem der unterschiedlichen Auslastung der Senate geschuldet. Außerdem wurden ein Disziplinarsenat (so genannter D-Senat) für Beamtendisziplinarsachen nach der Bundesdisziplinarordnung (nach altem Recht), zwei Wehrdienstsenate (abgekürzt 1. WD- und 2. WD-Senat) auf der Basis der Wehrbeschwerde- bzw. Wehrdisziplinarordnung sowie ein Fachsenat nach § 189 VwGO i. V. m. § 99 Abs. 2 VwGO eingerichtet. Daneben existiert gemäß § 11 Abs. 1 VwGO ein Großer Senat, der nach § 11 Abs. 2 entscheidet, wenn ein Senat von der Rechtsprechung eines anderen Senats oder des Großen Senats abweichen will. Die Revisionssenate entscheiden gemäß § 10 Abs. 3 VwGO in der Besetzung von fünf Richtern, bei Beschlüssen außerhalb der mündlichen Verhandlung in der Besetzung von drei Richtern. Die Revisionssenate kennen keine Laienbeteiligung. Dagegen wirken an den Entscheidungen des D-Senats und der WD-Senate nach näherer gesetzlicher Bestimmung auch ehrenamtliche Richter mit. An der späteren Abfassung des Urteils sind sie indes nicht mehr beteiligt. c) Geschäftsstellen und Arbeitsgruppen Den Senaten sind Geschäftsstellen zugeordnet, die in Arbeitsgruppen zusammengefasst werden. Derzeit sind am Bundesverwaltungsgericht fünf Arbeitsgruppen eingerichtet, die jeweils für mehrere Senate zuständig sind. So ist beispielsweise die Arbeitsgruppe 2 dem 2. Revisionssenat, dem Fachsenat nach § 189 VwGO i. V. m. § 99 Abs. 2 VwGO, dem Disziplinarsenat und den Wehrdienstsenaten zugeordnet. d) Wissenschaftlicher Dienst Die richterliche Tätigkeit an einem Revisionsgericht setzt den jederzeitigen Zugriff auf den aktuellen Stand von Gesetzgebung, Rechtsprechung und Literatur voraus. Für diese Verfügbarkeit sorgt der wissenschaftliche Dienst. Das Bundesverwaltungsgericht unterhält nicht nur eine sehr leistungsfähige Bibliothek nebst Dokumentationsstelle, sondern ermöglicht jedem Richter und wissenschaftlichen Mitarbeiter den direkten Zugang zu verschiedenen juristischen Datenbanken (juris, beck-online, BVerwGE, Buchholz etc). Besonders die Recherchemöglichkeit via PC bietet den Komfort großer Zeitersparnis, da der Arbeitsplatz nur selten verlassen werden muss, um in der Bibliothek Materialsuche zu betreiben.
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e) Verwaltung Unterstützt wird der richterliche Dienst überdies von zahlreichen Verwaltungsbediensteten. Neben den üblichen Abteilungen für Personal, Haushalt, Bezüge oder allgemeine Organisation verfügt das Gericht nicht nur über eine Druckerei und einen eigenen Fahrdienst, sondern auch über eine große Abteilung für Informationstechnik und eine Pressestelle. Diese beiden Einrichtungen pflegen, zum Teil gemeinsam, die Außendarstellung des Gerichts, nicht zuletzt durch einen modernen Internetauftritt mit Angaben zu Verhandlungsterminen der Senate und der Möglichkeit, aktuelle Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts aufzurufen. 2. Die Zuständigkeiten und innere Organisation der einzelnen Senate Neben gesetzlichen Zuständigkeitsregelungen, die vor allem die Wehrdienstsenate und den Disziplinarsenat sowie den Fachsenat nach § 189 VwGO i. V. m. § 99 Abs. 2 VwGO betreffen, ergeben sich die Aufgaben der Senate – wie erwähnt – aus der Zuständigkeitsverteilung nach dem Geschäftsverteilungsplan. Die derzeitige Geschäftsverteilung nach dem Geschäftsverteilungsplan von 2008 sieht in der (vereinfachten) Übersicht so aus: 1. Revisionssenat: Ausländerrecht, 2. Revisionssenat: Recht des öffentlichen Dienstes einschließlich des Beamtendisziplinarrechts und des Dienstrechts der Soldaten sowie des Wehrpflichtigenund Zivildienstpflichtigenrechts und das Wiedergutmachungsrecht, 3. Revisionssenat: Lastenausgleichsrecht, Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsrecht, Besatzungsschadenrecht, Währungsausgleichs- und Altsparerrecht, Flüchtlingshilferecht, Reparationsschädenrecht, Allgemeines Kriegsfolgenrecht, Sachleistungsrecht, Gesundheitsverwaltungsrecht, Land- und Forstwirtschaftsrecht, Lebensmittel- und Ernährungswirtschaftsrecht, Jagd- und Fischereirecht, Außenhandelsrecht, Förderungsmaßnahmenrecht, Recht zur Bereinigung von SED-Unrecht, Treuhand-, Kommunalvermögens- und Vermögenszuordnungsrecht, Recht der Verkehrswirtschaft und des Verkehrsrechts, Verwaltungshaftungsrecht zwischen Bund und Ländern, 4. Revisionssenat: Bau- und Bodenrecht, Raumordungsrecht, Landbeschaffungsrecht, Kleingartenrecht, sonstiges Recht der Fachplanung, Ordnungsrecht, Recht der Anlegung und des Betriebes von Flugplätzen, 5. Revisionssenat: Fürsorgerecht, Kriegsopferfürsorgerecht, Schwerbehindertenrecht, Mutterschutzrecht, Jugendhilfe- und Jugendschutzrecht, Ausbildungs-, Graduierten- und Berufsausbildungsförderungsrecht, Wohnungsbauförderungsrecht, Heimkehrer- und Kriegsgefangenenentschädigungsrecht, Vertriebenenrecht, Alters- und Erwerbsminderungsgrundsicherungsrecht, Staatsangehörigkeitsrecht, Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsrecht,
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6. Revisionssenat: Wehrpflicht- und Zivildienstrecht, Kriegsdienstverweigerungsrecht, Personalvertretungsrecht, Schul- und Hochschulrecht, Prüfungsrecht, Namensrecht, Jugendmedienschutzrecht, Rundfunkrecht, Post- und Telekommunikationsrecht, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Vergaberecht, Recht der freien Berufe, Kammerrecht, Vereins- und Versammlungsrecht, Polizei- und Ordnungsrecht, Recht der Verfassungsschutzbehörden und Nachrichtendienste, Waffenrecht, Heimrecht, Währungs- und Umstellungsrecht, betriebliche Altersversorgungsrecht, Wahlrecht, Bundesgleichstellungsrecht, Parlamentsrecht, 7. Revisionssenat: Umweltschutzrecht (insb. Immissionsschutz- und Chemikalienrecht), Gentechnikrecht, Abfall- und Bodenschutzrecht, Atomrecht, Wasserund Deichrecht, Bergrecht, Staatskirchenrecht, Abwasserabgabenrecht, Tierschutzund Pflanzenschutzrecht, Naturschutz- und Landschaftsschutzrecht, Denkmalschutzrecht, Wasser- und Bodenverbänderecht, Wasserstraßenbaurecht, Magnetschwebebahnenrecht, Informationsfreiheitsrecht sowie alle sonstigen Materien, die keinem anderen Senat zugewiesen sind, 8. Revisionssenat: Kommunalrecht, Recht zur Regelung von Vermögensfragen 9. Revisionssenat: Straßen- und Wegerecht (ohne Sondernutzungsrecht), Recht der Anlegung von Schienenwegen und Eisenbahnkreuzungsrecht, Erschließungs-, Erschließungsbeitrags- und Straßenbaubeitragsrecht, sonstiges Abgabenrecht, Flurbereinigungsrecht und Grundstücksverkehrsrecht, 10. Revisionssenat: Asylrecht.
3. Das Verhältnis der verschiedenen Senate zueinander Während in der öffentlichen Wahrnehmung das Gericht von außen betrachtet als Einheit erscheint, so führt die Innensicht zu der überraschenden Beobachtung, dass das Bundesverwaltungsgericht gerade keinen fugenlosen Block bildet. Vielmehr führt jeder Senat – vergleichbar den verschiedenen Lehrstühlen an einer juristischen Fakultät – innerhalb des gemeinsamen Hauses ein gewisses Eigenleben. Bildhaft gesprochen, ist jeder Senat eine eigene Familie, für die (selbst)bestimmte Regeln („Senatsgepflogenheiten“) gelten, die sie von den anderen „Bewohnern“ und „Familien“ des Hauses nicht unerheblich unterscheiden. Auch das jeweilige Selbstverständnis der Senate ist hiervon geprägt. Andererseits herrscht keine völlige Trennung zwischen den Senaten. Zum einen ist auf die Fälle gesetzlich verlangter Kommunikation zwischen den Senaten zu verweisen, so etwa auf § 11 VwGO. Überdies sieht der Geschäftsverteilungsplan den Fall der wechselseitigen Vertretung der Beisitzer vor. So werden beispielsweise die Beisitzer des 2. R-Senats von den Beisitzern des 3. Senats vertreten. Auch eine gleichzeitige Mitgliedschaft von Beisitzern in zwei Senaten kommt – allerdings nur gelegentlich – vor. Eine seltene Ausnahme ist auch der Wechsel eines Richters zu einem anderen Senat. Dies gilt indes nicht für die Vorsitzenden, die in der Regel
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nicht dem Senat entstammen, in dem sie bisher als Beisitzer tätig waren. Auf die sonstigen informellen Kontakte zwischen den Senaten anlässlich von Betriebsfesten und -ausflügen braucht hier nicht weiter eingegangen zu werden. III. Die Arbeitsweise des Bundesverwaltungsgerichts 1. Allgemeines Die Arbeitsweise des Gerichts und seiner Senate wird neben der Verteilung der Sachmaterien durch den Geschäftsverteilungsplan von einigen allgemeinen Leitgedanken geprägt. Die wichtigste Zielvorstellung ist, dass ein wirksamer Rechtsschutz auch ein zügiger Rechtsschutz sein muss. Deshalb sollen alle eingegangen Sachen grundsätzlich binnen einen Jahres erledigt sein. Trotz weiterhin hoher Eingangszahlen (2007 waren es 2.102 Eingänge) wird dieses Ziel erreicht. Derzeit dauert ein Revisionsverfahren vom Eingang bis zur Erledigung der Revision durchschnittlich ca. 11 Monate. Nichtzulassungsbeschwerden werden im Durchschnitt sogar binnen 4 Monaten abgeschlossen10. Eine weitere interne Vorgabe ist, dass jeder Berichterstatter mindestens eine Revisionssache pro Verhandlungstermin einbringen soll. Sieht man einmal von der Besonderheit von Parallelsachen ab, ergibt sich daraus – bei vier Berichterstattern pro Senat – eine durchschnittliche Erledigung von 50 – 70 Revisionen pro Jahr und pro Senat, die durch Urteil abschlossen werden. 2. Berichterstatter, Mitberichterstatter und Plenum Für jedes Verfahren werden ein Berichterstatter und ein Mitberichterstatter bestimmt. Die Bestimmung erfolgt nach den abstrakten Festlegungen des senatsinternen Geschäftsverteilungsplans. Diese abstrakte Festlegung ist wegen des Grundsatzes des gesetzlichen Richters verfassungsrechtlich geboten. Der Berichterstatter ist für alle verfahrensleitenden Entscheidungen in seinen ihm zugewiesenen Verfahren zuständig; bei Beschlüssen bedarf er der Mitwirkung des Vorsitzenden und des Mitberichterstatters. Dies ist insbesondere für die Entscheidung über eine eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde von Bedeutung. Der Mitberichterstatter vertritt den Berichterstatter im Verhinderungsfall. Das Plenum des Senats tritt hauptsächlich bei der Vorberatung und der mündlichen Verhandlung sowie bei Geschäftsordnungsangelegenheiten zusammen. Daraus ergeben sich für den Senat als Gesamtheit ca. 30 Pflichttermine im Jahr. Neben diesen formalisierten und zum Teil gesetzlich geforderten Zusammenkünf10 Zu den Zahlen vgl. Pressemitteilung des Bundesverwaltungsgerichts 8 / 2008 vom 20. Februar 2008.
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ten darf indes die Bedeutung der informellen Kommunikation zwischen den Senatsmitgliedern nicht unterschätzt werden. 3. Die Rolle der wissenschaftlichen Mitarbeiter des Senats Jedem Senat ist – in der Regel – mindestens ein wissenschaftlicher Mitarbeiter dauerhaft zugeordnet11. Sie sind zumeist Verwaltungsrichter der ersten Instanz, sie können aber auch der Verwaltung entstammen. Da Universitätsjuristen am Bundesverwaltungsgericht bislang nicht als wissenschaftliche Mitarbeiter tätig waren, wurde mit dem Einsatz des Verfassers im 2. Revisionssenat in dieser Hinsicht Neuland betreten. Aus Sicht eines Wissenschaftlers bot diese Verwendung die einmalige Chance, vertiefte Einblicke in die Entscheidungsstrukturen des Gerichts zu gewinnen und ein besseres Verständnis für die Entscheidungspraxis zu entwickeln. Die wissenschaftlichen Mitarbeiter werden in der Regel für die Dauer von zwei Jahren an das Bundesverwaltungsgericht abgeordnet. Sie haben in erster Linie die Aufgabe, die Mitglieder des Senats bei ihrer richterlichen Tätigkeit zu unterstützen. Gelegentlich werden Ihnen aber auch Arbeiten für die Hausspitze übertragen, zumeist in Gestalt von Kurzgutachten in Rechtsfragen, die mit dem Aufgabengebiet des Senats in Verbindung stehen. Aufgrund der großen Nachfrage an Besichtigungen des ehemaligen Reichsgerichts übernehmen die wissenschaftlichen Mitarbeiter überdies auch zahlreiche Führungen durch das Gebäude. Die zentrale Aufgabe der Mitarbeiter bei der Unterstützung des Senats liegt vor allem in der Erstellung von Vorgutachten in rechtlich besonders schwierig gelagerten Revisionen. Die Auswahl der zur Vorbegutachtung übertragenen Fälle obliegt dabei dem Vorsitzenden. Bei der Bearbeitung ist der Mitarbeiter hinsichtlich Begründung und Ergebnis an keine Weisung gebunden. In der Regel trägt er aber Wünschen des Senats, einem bestimmten rechtlichen Aspekt innerhalb des Gesamtkontextes besonders intensiv nachzugehen, Rechnung. Ausgangspunkt der rechtlichen Würdigung der zur Vorbegutachtung übertragenen Revision ist die bisherige Rechtsprechung des Senats. Hier liegt die Aufgabe des Mitarbeiters vor allem darin, diese erschöpfend zu ermitteln und die Aussagekraft der ergangenen Judikatur für die in der Revision aufgeworfene Rechtsfrage einzuschätzen. Da die Anwendung der bisherigen Senatsrechtssprechung – aus unterschiedlichen Gründen – in vielen Fällen nicht zwingend zu einem eindeutigen Ergebnis führt (anderenfalls bestünde ja auch kein Grund, eine Revision we11 Manche Senate, namentlich der 4. Senat („der Baurechtssenat“) und der 9. Senat verfügen – zumindest zeitweilig – über zwei Mitarbeiter. Dies liegt in dem Umstand begründet, dass diese beiden Senate mit aufwendigen erstinstanzlichen Verfahren auf den Gebieten des Luftverkehrsrechts (Flughafenplanung) bzw. des Fernstraßenrechts („Bundesautobahnen“) belastet sind. Die dafür notwendigen tatsächlichen Ermittlungen und Feststellungen binden die Arbeitskraft des Mitarbeiters in so erheblichem Maße, dass kaum Zeit für die Vorbegutachtung von Revisionen bliebe, schaffte man nicht Ausgleich durch einen weiteren Kollegen.
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gen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen), sind überdies die Entscheidungen der übrigen obergerichtlichen Spruchkörper (EuGH, BVerfG, übrige Senate des BVerwG sowie BGH, BAG, BSG und BFH) auszuwerten. Erst danach finden die Stellungnahmen der Literatur Berücksichtigung. Bieten sie über die Aussagen der Rechtsprechung keine neuen oder weiterführenden Gesichtspunkte, fließen sie allenfalls zur Abrundung in die Ausarbeitung des Gutachtens ein. Größerer Raum wird Stimmen des Schrifttums dagegen zugebilligt, wenn sie sich näher zu einer völlig neuen Problematik, die von der Rechtsprechung noch nicht behandelt wurde, äußern. Inhaltlich geht es bei der Erstellung der Vorgutachten um die Präsentation und Bewertung von Lösungsvorschlägen. Entwickelt wird dabei grundsätzlich ein Hauptlösungsweg, der jedoch von Alternativüberlegungen begleitet wird. Am besten lässt sich die Methodik eines Vorgutachtens mit einer Lösungsskizze im Staatsexamen vergleichen: Hier wie dort werden die verschiedenen rechtlichen Entscheidungsmöglichkeiten bei einzelnen Streitfragen und ihre Konsequenzen für den weiteren Lösungsweg thematisiert. Besonders wichtig ist dabei, die zentralen rechtlichen Wegmarken zu benennen und auch die praktischen Folgen des eingeschlagenen Lösungsweges aufzuzeigen. Dem Vorgutachten wird eine umfangreiche Materialsammlung beigefügt, die das Ergebnis der Recherche widerspiegelt und eine Zusammenstellung des für die Entscheidung maßgeblichen Materials (Gesetze mit Materialien, Rechtsprechung, Kommentare, Aufsätze etc.) enthält. Vorgutachten können auf diese Weise einen großen Umfang erreichen; Gutachten mit 60 und mehr Seiten sowie Materialsammlungen in DIN A 4 Ordner-Stärke sind keine Seltenheit. Das Ergebnis ihrer Überlegungen können die Mitarbeiter dem Senat im Rahmen der Vorberatung auch mündlich erläutern. Die meisten Senate ermöglichen den Mitarbeitern darüber hinaus die Möglichkeit zur Teilnahme an der eigentlichen Beratung. Dort haben sie ein Äußerungsrecht, wenn der Vorsitzende dies gestattet (vgl. § 193 Abs. 1 GVG), aber kein Stimmrecht. Zur Vorbereitung der Vorberatung und der Beratung erhalten sie deshalb auch sämtliche von den Richtern verfassten Gutachten und Vermerke zu den terminierten Sachen. Nicht üblich ist es allerdings, dass die Mitarbeiter in Verfahren, an denen sie nicht selbst beteiligt sind, eigene Vermerke verfassen. Mitunter werden die Mitarbeiter auch abseits des aktuell von Ihnen zu bearbeitenden Falles von den Richtern als Diskussionspartner geschätzt, um die Tragfähigkeit der in einem Gutachten entwickelten Gedanken zu testen. Weitere, die Tätigkeit des Senats unterstützende Tätigkeiten eines Mitarbeiters sind die Vorbereitung von Presseerklärungen und das Korrekturlesen von Leseabschriften von Urteilen, bevor diese veröffentlicht werden.
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4. Das Gutachtensystem Die Entscheidungen der Senate mit Blick auf die zugelassenen Revisionen werden – neben der Vorarbeit durch den wissenschaftlichen Mitarbeiter – ausnahmslos durch schriftliche Gutachten der Richter vorbereitet. In der Regel liegt ein längeres Gutachten des Berichterstatters vor, das durch ein kürzeres Gutachten des Mitberichterstatters ergänzt wird, das mögliche Gegenpositionen betont oder Einwände hervorhebt. Die Gutachten bestehen – wie die Vorgutachten – aus einer Sachverhaltswiedergabe, einer kurzen Zusammenfassung der rechtlichen Erwägungen des Oberverwaltungsgerichts, an die sich die umfassende rechtliche Würdigung der rechtlichen Problematik durch den Berichterstatter anschließt. Das Gutachten endet mit einem Entscheidungsvorschlag in Form eines verkündungsreifen Tenors. Abgerundet wird das Gutachten durch eine Materialsammlung, die neben den behördlichen Ausgangsbescheiden, den in der Streitsache ergangenen Urteilen der Vorinstanzen auch die fallrelevanten Gesetzesmaterialien sowie frühere Urteile des Senats oder anderer Spruchkörper enthält und auch den Streitstand in der Literatur belegt. Die Gutachten werden mit einigem zeitlichem Vorlauf vor der Vorberatung in den Senatsumlauf gegeben. Sehen die übrigen Senatsmitglieder die Rechtslage anders als der Berichterstatter, verfassen sie ihrerseits schriftliche Vermerke. Nicht selten antwortet der Berichterstatter seinerseits auf die Einwände oder Gegenvorschläge, so dass bereits aufgrund dieser schriftlichen Stellungnahmen der Fall in rechtlicher Hinsicht gut ausgeleuchtet ist. Sämtliche Gutachten und Vermerke werden zu den Akten genommen. 5. Terminierung, Vorberatung und mündliche Verhandlung Hält der Berichterstatter den Fall für entscheidungsreif, meldet er ihn beim Vorsitzenden zur Terminierung an. Bei der Terminierung sind die gesetzlichen vorgeschriebenen Ladungsfristen zu beachten. In der Regel wird pro Berichterstatter immer eine Sache pro mündliche Verhandlung terminiert. Bei Parallelsachen oder bei anderen günstigen Konstellationen können es auch zwei Sachen sein. Mehr als 7 Sachen in einem Termin verhandelt ein Senat indes im Allgemeinen nicht. In der Regel zwei Tage vor der mündlichen Verhandlung findet eine Vorberatung statt, bei der die terminierten Sachen auf der Grundlage der vorhandenen schriftlichen Gutachten und Vermerke nochmals eingehend mündlich diskutiert werden. Diese Vorberatung führt zu einem vorläufigen Meinungsbild mit einer gewissen Entscheidungstendenz innerhalb des Senats, ohne dass damit das Ergebnis der mündlichen Verhandlung bereits vorweg genommen wird. Durch die Vorberatung wird aber deutlich, in welchen Punkten der Senat im Rechtsgespräch mit den Beteiligten noch Klärungsbedarf sieht. In der mündlichen Verhandlung wird die streitige Rechtsfrage der Revision mit den Parteien erörtert. Je nach Senat und Vorsitzendem ergeben sich unterschiedli-
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che Verhandlungsstile. Aus der Praxis des 2. Senats kann berichtet werden, dass der frühere Vorsitzende zunächst mit der Klärung der einschlägigen Rechtsvorschriften begann, um dann in eine thematische Abschichtung der Sachfragen einzutreten. Erst am Ende der mündlichen Verhandlung bat er dann um die Stellung der Anträge. Der jetzige Vorsitzende beginnt dagegen mit der Aufnahme der Anträge der Beteiligten und führt anschließend in die inhaltliche Diskussion der Streitpunkte ein. Im Rahmen der Erörterung wird nicht selten auf subtile Weise der zwischenzeitliche Standpunkt der Senatsmehrheit angedeutet. Die mündliche Verhandlung beginnt in der Regel gegen 10.00 Uhr und zieht sich zumeist bis in den frühen Nachmittag. Pro Sache ist in der Regel eine Stunde Verhandlungszeit angesetzt. Nach dem Ende der mündlichen Verhandlung, bei Gelegenheit aber bereits auch schon zwischendurch, berät der Senat nochmals ausführlich die Fälle in der Reihenfolge ihrer Erörterung. Je nach Schwierigkeit des Rechtsproblems und der kontroversen Standpunkte kann sich die Beratung bis in die Abendstunden hinziehen. Schließlich erfolgt eine endgültige Abstimmung, die für den zu verkündenden Tenor maßgeblich ist. In der Beratung wird allerdings nicht nur das Ergebnis (Revision begründet / unbegründet, Zurückverweisung), sondern auch der wesentliche Inhalt der späteren Urteilsbegründung festgelegt. Die Bestimmung der Leitlinien der Urteilsgründe ist sogar ein ganz entscheidender Aspekt der Beratung: Nicht selten besteht nämlich über das Ergebnis Einigkeit, nicht aber über den zu beschreitenden Weg der Begründung, so dass sich gerade in dieser Frage kontroverse und langwierige Diskussionen zwischen den Senatsmitgliedern ergeben können. Am Ende muss auch in dieser Hinsicht eine Mehrheit gefunden werden. Dass es hier auch zu Kompromissformeln kommen kann, liegt auf der Hand; von daher erklären sich auch manch „weiche“ Formulierungen in den veröffentlichten Entscheidungen. 6. Entscheidungsabfassung Mit der Verkündung des Urteils tritt die Entscheidungsfindung in ihr nächstes Stadium: das der Abfassung der Entscheidung. Das Urteil bzw. der Beschluss wird vom Berichterstatter abgefasst. Dieser Entscheidungsentwurf geht anschließend im Senat reihum. Die übrigen an der Entscheidung beteiligten Richter können Änderungsvorschläge, insbesondere Umformulierungen vorschlagen. Für jede (Um)Formulierung sind insgesamt drei (bei Beschlüssen zwei) zustimmende Stimmen erforderlich. Insbesondere bei kontroversen Entscheidungen kann der Text leicht unleserlich werden, wenn zu viele Änderungswünsche einfließen. Deshalb wird bei zu vielen Änderungen ein Urteil auch nochmals ganz neu geschrieben. Ist dieser Prozess des „Eintintens“ zum Ende gekommen, erstellt die Geschäftstelle eine so genannte Lesefassung12. Das Urteil wird dann den Beteiligten zugestellt.
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Der ursprüngliche Entwurf mit den Änderungen wird aufbewahrt.
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7. Veröffentlichung der Entscheidungen Am Ende werden die Entscheidungen, namentlich die nach mündlicher Verhandlung ergangenen Urteile, veröffentlicht. Die besonders wichtigen Entscheidungen werden in der so genannten „amtlichen Sammlung“ Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts – BVerwGE – veröffentlicht. Indes: die Sammlung BVerwGE ist keine „amtliche“ Sammlung, denn herausgegeben wird sie von „Mitgliedern des Gerichts“ (i. e. der Verein der Bundesrichter), nicht vom Bundesverwaltungsgericht selbst. Die Auswahl der Entscheidungen obliegt einem von den Herausgebern bestimmten Gremium, das eigenen Kriterien folgt. Überdies sind die Entscheidungen redaktionell bearbeitet, insbesondere sind die Gründe in tatsächlicher Hinsicht stark gekürzt. Neben der Sammlung in „BVerwGE“ werden die meisten Entscheidungen des Gerichts in den einschlägigen juristischen Fachzeitschriften veröffentlicht. Dabei sind in jedem Senat die verschiedenen Mitglieder des Senats jeweils für mehrere Zeitschriften (in der Regel 3 – 7) zuständig, da die Zahl möglicher am Abdruck interessierter Publikationen die Arbeitskraft eines einzigen Richters übersteigt. Auf diese Weise kann ein Senat – theoretisch – die Veröffentlichungswünsche von über 20 bis 30 Fachzeitschriften befriedigen. Zusätzlich zu diesen Veröffentlichungen in chronologischer Reihenfolge werden die Entscheidungen auch nach thematisch-normativen Sachgesichtspunkten erfasst und geordnet und im „Buchholz“, dem Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, publiziert. Der „Buchholz“ wird ebenfalls vom Verein der Bundesrichter herausgegeben. Abschließend ist darauf zu verweisen, dass mittlerweile nahezu alle Entscheidungen des Gerichts bei verschiedenen Anbietern auch in elektronischer Form greifbar sind. Daraus ergeben sich sowohl für die Richter als auch die wissenschaftlichen Mitarbeiter der Senate völlig neue Recherchemöglichkeiten, die zu einer immer perfektionierteren Aufbereitung und Analyse der eigenen Rechtsprechung führen. IV. Bundesverwaltungsgericht und Jurisprudenz: Einige Beobachtungen aus der Sicht eines Rechtswissenschaftlers Welche Schlussfolgerungen ergeben sich nun aus dieser Innensicht eines „Externen“ in die betrieblichen Abläufe des höchsten deutschen Verwaltungsgerichts? Für den Rechtswissenschaftler und Universitätsjuristen lässt sich als eine erste wesentliche Beobachtung festhalten, dass zum Teil eine deutliche quantitative Divergenz besteht zwischen dem, was an den Universitäten im Bereich des besonderen Verwaltungsrechts gelehrt wird und was in der Praxis des Bundesverwaltungsgerichts tatsächlich von Bedeutung ist. Die in der Arbeit des Gerichts so bedeut-
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samen Materien des Ausländer- und Asylrechts, des Beamtenrechts sowie des Wehrrechts finden in der akademischen Ausbildung kaum (mehr) Berücksichtigung. Umgekehrt spiegeln sich die im universitären Unterricht ausführlich thematisierten Gebiete des Kommunalrechts sowie des allgemeinen Polizeirechts- und Ordnungsrechts in ihrem Gewicht für das rechtswissenschaftliche Studium nicht in den Falleingangszahlen und der Entscheidungspraxis des 8., 6. oder 7. Senats wider. Dies liegt sicherlich an der Eigenart dieser Gebiete als typisches Landesrecht, dessen Überprüfung dem Bundesverwaltungsgericht gemäß § 137 Abs. 1 VwGO versperrt ist. Etwas günstiger sieht es aus Sicht der rechtswissenschaftlichen Fakultäten auf den Feldern des Bau- und Fachplanungsrechts sowie des Umweltrechts aus. Bei diesen Gebieten, die zumindest in den Schwerpunktbereichen der juristischen Ausbildung intensiver behandelt werden, zeigen sich am deutlichsten Korrespondenzen zwischen akademischer Behandlung und gerichtspraktischer Bedeutung. Eine weitere Erkenntnis für den Rechtswissenschaftler folgt aus dem oben beschriebenen Entstehungsprozess des Urteils und seiner Begründung. Der – nicht zuletzt in der Verwaltung und der Literatur – verbreiteten Neigung, jedes Wort der schriftlichen Urteilsbegründung auf die Goldwaage zu legen, sollte nur mit großer Zurückhaltung nachgegeben werden. Vermeintliche Ungenauigkeiten und Widersprüche in den Entscheidungsgründen lösen sich auf, bedenkt man das mögliche Ringen im Senat um eine zustimmungsfähige Formulierung. Viel ertragreicher erscheint es mir dagegen, den Blick auf den Gesamtzusammenhang der Entscheidung zu richten, insbesondere die Reichweite ihrer Aussagen durch einen Vergleich mit der bisherigen Rechtsprechungslinie zu bestimmen und einzuordnen. Durch diese Zuordnung lassen sich Stellung und Bedeutung eines Judikats viel besser einschätzen als durch ein Insistieren auf den Wortlaut. Aus Sicht eines Rechtswissenschaftlers fällt darüber hinaus auf, welch untergeordnete Rolle wissenschaftliche Stellungnahmen in den Begründungen der Urteile und Beschlüsse des Bundesverwaltungsgerichts spielen. Zwar schwankt die Zitierpraxis in den einzelnen Senaten, doch lässt sich als genereller Trend festhalten, dass an erster Stelle die bisherige eigene Rechtsprechung rezipiert und zur Begründung herangezogen wird. Zumeist ergänzend kommen die Entscheidungen anderer Senate des Gerichts zum Tragen. Von großer Bedeutung sind überdies aufgrund des hierarchischen Aufbaus der Justiz die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs13. Gelegentlich fließen auch Judikate der anderen obersten Gerichtshöfe des Bundes in die Begründung mit ein. Wissenschaftliches Schrifttum in Gestalt von Aufsätzen, Kommentierungen, Habilitationsschriften und Dissertationen kommt in der Regel erst nach diesen judikativen Äußerungen als Begründungsstütze in die engere Wahl. Dies ist zum Teil 13 Der hierarchische Ansatz erklärt auch, weshalb Entscheidungen der Oberverwaltungsgerichte und der Verwaltungsgerichte als Begründungshilfen nur ganz selten Erwähnung finden.
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durchaus erklärlich: Wenn der jeweilige Senat des Bundesverwaltungsgerichts eine Rechtsfrage bereits entschieden hat, bedarf es eines Rekurses auf eine die bisherigen Ergebnisse bloß kompilierend-zusammenfassende oder in erster Linie die Judikatur kritisierende Literatur nicht mehr. Diese vergangenheitsorientierte Betrachtung des Schrifttums hilft den Senaten bei ihrer Aufgabe, die Rechtsprechung fortzuentwickeln, am Ende nicht sehr viel weiter. Denn was ein Senat bislang entschieden hat, dies weiß er am Ende am besten selbst. Daraus ergibt sich auch die geringe Repräsentanz von akademischen Lehrbüchern in den Urteilen des Gerichts. Dagegen kommt die Wissenschaft in aller Regel zum Zuge, wenn es um neue, bislang noch nicht entschiedene Fallkonstellationen geht und Autoren hierzu dogmatisch fundierte und zugleich praktisch brauchbare Lösungsvorschläge unterbreiten. Weiter gedacht ergeben sich hieraus auch Möglichkeiten größeren wissenschaftlichen Einflusses auf die Tätigkeit der Rechtsprechung: Im Vordergrund wissenschaftlicher Betätigung sollte das Aufzeigen problematischer Aspekte gesetzlicher Regelungen stehen, für die dann generelle Lösungskonzepte entwickelt werden. Besonders fruchtbar könnte dieser Ansatz vor allem bei gänzlich neuen Gesetzen sein, die mit einem Blick für rechtsstreitsrelevante Fragestellungen durchleuchtet werden sollten. V. Ausblick Die Arbeitsweise des Bundesverwaltungsgerichts wird durch seine gesetzlichen Aufträge bestimmt. Im Bereich des Revisionsrechts sind dies namentlich die Wahrung der Rechtseinheit und die Fortbildung des Rechts. Die Rechtswissenschaft darf die Rechtsprechung bei der Wahrnehmung dieser schwierigen Aufgabe nicht allein lassen. Dazu kann zwar auch die Urteilskritik beitragen, doch diese Form der Hilfestellung ist nach den Erfahrungen des Verfassers eher von geringem Nutzen. Statt dessen sollte die Rechtswissenschaft sich vor allem als Vordenkerin betätigen, die einen theoretisch fundierten Vorrat an praktischen Lösungen für das „Noch-Nicht-Entschiedene“ anbietet. Wenn die Wissenschaft vom öffentlichen Recht dies beherzigt, wird sich die Rechtsprechung – auch und gerade des Bundesverwaltungsgerichts – ihr in vielen Fällen dankbar anschließen, denn: nichts ist praktischer als eine gute Theorie.
IV. Rechtlich verfasste Universität
Die Aktiengesellschaft als Regelungsvorbild der Universitätsverfassung Von Tim Drygala
I. Einleitung Pünktlich zum 600-jährigen Jubiläum der Universität Leipzig ist ein neues Sächsisches Hochschulgesetz in Kraft getreten. Dieses Gesetz führt mit dem Hochschulrat ein neues Gremium ein, das ersichtlich Gremienstrukturen aufnimmt, die aus Wirtschaftsunternehmen bekannt sind. Zudem werden die Rechte der Hochschulleitung gestärkt. Damit schließt sich Sachsen den schon in mehreren Bundesländern zu beobachtenden Tendenzen an, bei der Regelung öffentlicher Institutionen auf Regelungsinstrumente des Privatrechts zurückzugreifen. Dieser unter dem Begriff des New Public Management bekannt gewordene Ansatz verbindet sich mit Überlegungen, Erkenntnisse, die in der Diskussion über die Corporate Governance der Aktiengesellschaft gefunden wurden, auf öffentliche Institutionen zu übertragen (sog. Public Governance). Da sich zudem die Universität Leipzig in ihrem Jubiläumsjahr vorgenommen hat, das Thema der Ökonomisierung der Wissensgesellschaft näher zu beleuchten, besteht Anlass, gerade an dieser Stelle der Frage nachzugehen, ob und inwieweit aktienrechtliche Regelungen und Institutionen sich in den neuen Hochschulgesetzen wiederfinden und ob aktienrechtliche Regelungen zur Konkretisierung von hochschulrechtlichen Fragen herangezogen werden können. II. Die Reform der Gruppenuniversität durch New Public Management 1. Von der Gruppenherrschaft zur Zielvereinbarung und Leitungsevaluation Nach der Abschaffung der Ordinarienuniversität und der Einführung der Gruppenuniversität in den 1970ern kamen einige Ansichten zu der Erkenntnis, dass auch dieser Organisationstypus gescheitert sei1. Geltend gemacht wurde, dass die 1 Müller-Böling, Die entfesselte Hochschule, 2000, S. 43, 61; Müller-Böling / Fedrowitz, Leitungsstrukturen für autonome Hochschulen, Verantwortung, Rechenschaft, Entschei-
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Gremienstruktur den neuen Aufgaben der Hochschule nicht mehr gerecht werde2. Hauptursache hierfür sei die Tendenz zu Konsens auf kleinstem gemeinsamem Nenner und zu einer verantwortungslosen, da rechenschaftslosen, Blockadehaltung der Gruppen untereinander3. Angeführt wird außerdem eine Heterogenität von Wert- und Zielvorstellungen, die letztlich zu akademischem Individualismus und Qualitätsverlust führe4. Die Gremien- und Gruppenstruktur, die bisweilen als organisierte Unverantwortlichkeit5 oder auch gelehrtenrepublikanisches Biotop6 bezeichnet wird, wurde von dieser Kritik als ineffizient und zeitraubend bewertet. Es wurde daher gefordert, die Gruppenstruktur zu reduzieren und Entscheidungsprozesse zu verkürzen7. Mit dieser Kritik einher geht die Forderung, die Hochschule als Dienstleistungsunternehmen zu betrachten8, das in Konkurrenz und Wettbewerb zu anderen Bildungseinrichtungen steht9. Diese Denkweise setzte Ende der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts in Deutschland ein. In England begann sie schon ein Jahrzehnt früher10. Gefordert wird aus diesem Ansatz heraus eine differenzierte Profilbildung der Hochschulen sowie eine effiziente Leistungserstellung. Insbesondere steigende Studierendenzahlen11 und knappe öffentliche Ressourcen12 (Überforderung dungsfähigkeit, 1998, S. 8; Klenk, Modernisierung der funktionalen Selbstverwaltung, 2008, S. 90. 2 Müller-Böling, Die entfesselte Hochschule, 2000, S. 42; vgl. auch Meier, Die Universität als Akteur, 2009, S. 120, 125. 3 Lange / Schimank, Zwischen Konvergenz und Pfadabhängigkeit: New Public Management in den Hochschulsystemen ausgewählter OECD-Länder in Holzinger / Joergens / Kull (Hrsg.), Transfer, Diffusion und Konverganz von Politiken, 2007, S. 535; vgl. auch Hartmer, FS Schiedermair, 2001, S. 481 f. Schimank, Neue Steuerungssysteme an den Hochschulen, 2002, S. 25; Schröder, SächsVBl. 2008, S. 133, 134. 4 Müller-Böling, Die entfesselte Hochschule, 2000, S. 43; Buckland, Universities and Industry, Higher Education Quarterly, vol. 58, n. 4, p. 252 f. mit Verweis auf den Lambert Report, der gar von Inzestuosität spricht. Schelsky, Abschied von der Hochschulpolitik oder die Universität im Fadenkreuz des Versagens, 1969, S. 39; Meier, Die Universität als Akteur, 2009, S. 112. 5 Wellbrock zitiert in Prußky, DUZ 5 / 2000, S. 12; vgl. Klenk, Modernisierung der funktionalen Selbstverwaltung, 2008, S. 53. 6 Müller-Böling, Der Tagesspiegel, 06. 03. 1999. 7 Müller-Böling, Die entfesselte Hochschule, S. 24, HRK, Professionalisierung als Leistungsaufgabe, Entschließung vom 08. 06. 2004, S. 7. 8 Müller-Böling, Die entfesselte Hochschule, S. 24 ff.; RegBegr. NiedersHG, LT-Drs. 14 / 2541, S. 63. 9 Bogumil / Heinze / Grohs / Gerber, Hochschulräte als neues Steuerungsinstrument? Eine empirische Analyse der Mitglieder und Aufgabenbereiche, 2007, S. 8; Lange / Schimank, Zwischen Konvergenz und Pfadabhängigkeit, S. 540; Xuân-Müller, DUZ 12 / 2008, S. 9 ff. 10 Buckland, Universities and Industry, Higher Education Quarterly, vol. 58, n. 4, p. 251; Lange / Schimank, Zwischen Konvergenz und Pfadabhängigkeit, 2007, S. 526. 11 Vgl. das Bonmot „Humboldt sei in der Masse erstickt“ von Erichsen, FAZ vom 12. 05. 1992; vgl. Pressemitteilung Nr. 104 vom 19. 03. 2009 des Statistischen Bundesamtes, wonach
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und Unterfinanzierung) sollen zu einer verantwortungsvolleren Ressourcenverwendung führen13. Oberstes Verwirklichungsprinzip ist hierbei der Rückzug des Staates aus der ex-ante-Detailsteuerung der Hochschule14, die sich bisher in überregulierten Hochschulgesetzen, zahlreichen Verordnungsermächtigungen und staatlichen Genehmigungsvorbehalten niederschlug15. Der Rückzug dabei muss im Zusammenhang mit einer effizienten Organisation des Hochschulbetriebes und einer flexiblen Entscheidungsstruktur stehen16. Autonomie der Hochschulen ist hierbei das geforderte Leitbild. Präferiert wird eine Mischung aus individueller Autonomie der Mitglieder sowie korporativer Autonomie der Korporation Hochschule selbst17. Mit dem Rückzug des Staates aus der prozessualen Detailsteuerung geht ein neues Verständnis über die staatliche Rahmensteuerung einher18. Diese erfolgt nun mittels Zielvereinbarungen zwischen Hochschulleitung und zuständigem Ministerium sowie Globalbudgets. Zielvereinbarungen sind dabei öffentlich-rechtliche Verträge im Gegenseitigkeitsverhältnis gem. §§ 54 ff. VwVfG, 311 BGB19. Diese können aber auch auf den weiteren Ebenen, also zwischen Hochschulleitung und Fachbereichen / Fakultäten sowie zwischen Fachbereichen / Fakultäten und Lehrstühlen / Instituten geschlossen werden. Dabei soll sich die staatliche Lenkung auf die Bildung von Entwicklungszielen und Koordinationsaufgaben beschränken. Überwacht wird die Umsetzung von Effizienz und Effektivität vor allem durch Leistungsevaluationen20. es im Jahr 2008 die bisher höchste Studienanfängerzahl gab; Kempen, BayVBl. 1999, 454, 459; Baumgarten, Zustand und Zukunft der deutschen Universität, 1963, S. 6. 12 Hartmer, FS Schiedermair, 2001, S. 480; Geis, WissR 2004, 2, 18; Schenke, NVwZ 2005, 1000, 1001. 13 Lange / Schimank, Zwischen Konvergenz und Pfadabhängigkeit, 2007, S. 523. 14 Müller-Böling, Die entfesselte Hochschule, 2002, S. 38 ff.; siehe auch Hartmer, FS Schiedermair, 2001, S. 482; Epping, VerwArch 2008, 423, 426; Schröder, SächsVBl. 2008, 133 f. 15 Beispielhaft RegBegr. NRWHG, LT-Drs. 14 / 2063, S. 2; RegBegr. SchleswHolstHG, LT-Drs. 16 / 1007, S. 5; Lange / Schimank, Zwischen Konvergenz und Pfadabhängigkeit, 2007, S. 525. 16 Vgl. RegBegr. SächsLHG, S. 1. 17 Müller-Böling, Die entfesselte Hochschule, 2000, S. 41; Sandberger, WissR 2002, 125; Meier, Die Universität als Akteur, 2009, S. 227 ff. 18 Vgl. Bogumil / Heinze / Grohs / Gerber, Hochschulräte als neues Steuerungsinstrument, 2007, S. 8. 19 Müller-Böling, Die entfesselte Hochschule, 2000, S. 58; Stoppel, Die Regierung der Hochschule: eine governmentalitätstheoretische Analyse der aktuellen Strukturreformen, 2008, S. 75 ff.; Kilian, LKV 2005, 195, 197. 20 Bogumil / Heinze / Grohs / Gerber, Hochschulräte als neues Steuerungsinstrument, 2007, S. 9; vgl. RegBegr. HessHG, LT-Drs. 15 / 1076, S. 30; NRWHG, LT-Drs. 14 / 2063, S. 134; Schmoch, DUZ 09 / 2008, S. 22 f.; Horstkotte, DUZ 22 / 2001, S. 14 f.; Stoppel, Die Regierung der Hochschule, 2008, S. 79 ff.; Gärditz, NVwZ 2005, 407 ff.; kritisch, Hartmer, FS Schiedermair, 2001, S. 485.
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Überschrieben werden kann diese Entwicklung letztlich mit den Begriffen der Ökonomisierung21 und Managerialisierung22 (New Public Management23) der Hochschulen. 2. Kritische Stimmen Unumstritten sind die vorstehend wiedergegebenen Forderungen freilich nicht. Gegen den New Public Management-Ansatz werden insbesondere Bedenken vorgebracht, er führe zu einer tunnelartigen wissenschaftsfeindlichen24 Verbetriebswirtschaftlichung, die das hochkomplexe Konstrukt Hochschule vereinfacht darstelle und letztlich monetären Erfolg über den Erkenntnisgewinn stelle25. Der staatliche Rückzug mit dem Ziel der Selbstorganisation der Hochschulen habe außerdem eine Zerfaserung von Staatlichkeit sowie eine Organisationsdiffusion zur Folge26. Kritisch wird demnach die „Privatisierung“ der Organisationsverantwortung betrachtet27. Insbesondere die Verringerung demokratischer Einflüsse der Gruppen, die mit dieser Entstaatlichung einhergeht, könne nicht akzeptiert werden. Auch sei das Ziel des NPM – Effizienz und Effektivität – nicht klar umrissen und aufgrund der Heterogenität der Universitäten auch nicht umreißbar28. III. Aktienrechtliche Analogie im Hochschulrecht? Die Sichtweise, die Hochschulen unter betriebswirtschaftlichen Aspekten als Unternehmen zu sehen, ist inzwischen weit verbreitet29. Angeführt werden hierfür 21 Vgl. Hogrebe, DUZ 4 / 2004, S. 19; Klatt / Koller, DUZ 03 / 2008, S. 22 f.; Simon / Knie, DUZ 07 / 2008, S. 21; Ahrndt-Herbst, DUZ 3 / 2003, S. 26; Knoke, DUZ 12 / 2008, S. 16; Stoppel, Die Regierung der Hochschule, 2008, S. 68 ff., 92; vgl. auch Nagel, DUZ 12 / 2008, S. 14 ff.; Hartmer, FS Schiedermair, 2001, S. 488. 22 Vgl. RegBegr. BayerHG, LT-Drs. 15 / 4396, S. 45; Knoke, DUZ 17 / 2002, S. 14; Kehm / Lanzendorf, DUZ 05 / 2008, S. 20. 23 Siehe dazu auch Hood, A Public Management For All Seasons? in: Public Administration 69, 1991, p. 3 ff.; OECD, Governance In Transition: Public Management Reforms in OECD Countries, 1995; plakativ: Forssell, Reform Theory Meets New Public Management in: Christensen (edt.), New Public Management, 2002, p. 261 ff.; Stoppel, Die Regierung der Hochschule, 2008, S. 61 ff. 24 Hartmer, FS Schiedermair, 2001, S. 478; Vgl. Epping, VerwArch 2008, 423, 427. 25 Nagel, DUZ 12 / 2008, S. 14 f.; Hartmer, FS Schiedermair, 2001, S. 480, 483, 490; Ipsen, NdsVBl. 2001, 10. 26 Bogumil / Heinze / Grohs / Gerber, Hochschulräte als neues Steuerungsinstrument, 2007, S. 4, 6. 27 Bogumil / Heinze / Grohs / Gerber, Hochschulräte als neues Steuerungsinstrument, 2007, S. 14 ff. m. w. N. 28 Hartmer, FS Schiedermair, 2001, S. 485; Meier, Die Universität als Akteur, 2009, S. 155; Epping, VerwArch 2008, 423, 444; Trute, WissR 2000, 134, 137, 144 f.
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die Buchwerte der Universitäten sowie jährliche Umsätze bzw. die verwendbaren Mittel30 als auch die zumeist hohen Beschäftigtenzahlen. Daneben sind die Rechtshandlungen der Universitäten zu beachten. Sie schließen in gleichem Maße langfristige Verträge mit externen Anbietern31 oder einmalige Kaufverträge zur Befriedigung des Sachbedarfs. Hingewiesen wird auch auf die verstärkte Wettbewerbssituation, in der sich Hochschulen befinden. Auch daraus wird die vergleichbare Interessenlage mit der unternehmerisch handelnden AG begründet32. Weniger sicher ist, inwieweit aus diesem Befund rechtliche Konsequenzen zu ziehen sind. Denn sofern man die Universität als Großunternehmen sieht, wäre es denkbar, sich auch hinsichtlich ihrer rechtlichen Verfassung an der Organisation zu orientieren, die im Unternehmensrecht für Großunternehmen gedacht und vorgesehen ist, nämlich an der Aktiengesellschaft. Das gilt sowohl für den Gesetzgeber, der sich bei der Normierung der Hochschulverfassung an aktienrechtlichen Vorbildern orientieren könnte und dies zumindest sprachlich inzwischen auch tut33. Für den Rechtsanwender stellt sich die Frage, ob bei der Anwendung des neuen Hochschulrechts – etwa was die Arbeit in den neu geschaffenen Hochschulräten angeht – in Zweifelsfragen eine Orientierung an aktienrechtlichen Vorbildern möglich ist. Dazu müssten freilich die Verhältnisse in der (reformierten) Hochschule und der Aktiengesellschaft vergleichbar sein. Dieser Frage soll hier nachgegangen werden. 1. Interessenträger und Zielkonflikte a) Auf der Suche nach dem universitären Principal Zweifel an der rechtlichen Vergleichbarkeit der beiden Organisationen ergeben sich aus der unterschiedlichen Interessenlage der beteiligten Akteure. Die aktienrechtliche Corporate Governance in ihrer heutigen Form wird überwiegend auf die Trennung zwischen Eigentum und Management zurückgeführt34. Aus dieser Trennung ergibt sich die Gefahr, dass sich das Management eigene, von der Zielsetzung der Eigentümer nicht gedeckte Handlungsspielräume eröffnet (hidden agenda) und 29 Buckland, Universities and Industry, Higher Education Quarterly, vol. 58, n. 4, p. 251; vgl. Stoppel, Die Regierung der Hochschule, 2008, S. 71 ff.; a. A. Lüthje zitiert in Dufner, DUZ 22 / 2002, S. 16; Schipanski, DUZ 22 / 2001, S. 12. 30 Warner in Shattock, Managing Good Governance in Higher Education, 2006, S. x; Klenk, Modernisierung der funktionalen Selbstverwaltung, 2008, S. 89; siehe auch schon Eulenburg, Die Entwicklung der Universität Leipzig in den letzten hundert Jahren, 1909, S. 187. 31 Etwa Reinigungs-, IT-, Wartungsunternehmen. 32 Vgl. Warner in Shattock, Managing Good Governance in Higher Education, 2006, S. ix. 33 So werden in Baden-Württemberg inzwischen das Leitungsorgan der Hochschule als Vorstand, das Überwachungsorgan als Aufsichtsrat bezeichnet. 34 Grundlegend Jensen / Meckling, Theory of the firm. Managerial behavior, agency costs, and ownership structure, Journal of Financial Economics. Band 3, 1976, Nr. 4, S. 305 ff.
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Überwachungsdefizite zum eigenen Vorteil ausnutzt (moral hazard)35. Es handelt sich um eine Problematik, die an die Interessenlage zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer erinnert und deshalb mit der sog. Prinzipal-Agent-Theorie 36 erklärbar ist. Problematisch ist insoweit, dass Universitäten, was die beteiligten Interessen angeht, auf weitaus mehr Ebenen zu regieren haben als es in Unternehmen der Fall ist37. Zunächst ist festzustellen, dass Hochschulen keine Eigentümer oder Anteilseigner haben38. Daher ist der allgemeine Prinzipal im Sinne der PrincipalAgent-Theorie, der ein legitimes Interesse am Erfolg der Organisation hat, nur schwierig zu identifizieren39. Deshalb ist es auch nicht einfach, die Kontrollrechte in der Universität bestimmten Interessenträgern zuzuweisen. b) Handlungsgrenzen der Agenten Zweifel bestehen auch daran, ob sich die Hochschulleitungen ohne weiteres mit dem Agenten im Sinne der Principal-Agent-Theorie gleichsetzen ließen. Eingewandt wird, dass Hochschulleitungspersonen in einem Bereich personeller Autonomie und pluraler Zielobjekte agierten40. In der englischen Literatur gesteht man zwar ein, dass einige HEIs (Higher Education Institutes) Unternehmensstatus und damit auch „Company-Boards“ aufweisen41. Jedoch stehen den Leitungsorganen Personen und Institutionen gegenüber, die stärker als die Mitarbeiter eines Unternehmens autonom und mit eigenen Rechten ausgestattet sind. Dies trifft zum einen auf das wissenschaftliche Personal als solches zu, das hinsichtlich der Inhalte von Forschung und Lehre unter dem Schutz von Art. 5 Abs. 3 GG steht. Auch die Fakultäten sind selbst teilrechtsfähig im Rahmen der Angelegenheiten, die von Art. 5 Abs. 3 GG umfasst sind42. Dies verschafft ihnen die Möglichkeit der Abwehr von Eingriffen gegenüber anderen Hochschulorganen sowie dem Staat in treuhänderischer Funktion für die einzelnen Wissenschaftler43 im Sinne von Art. 19 Abs. 4 GG. Von daher ergibt sich ein deutlicher Unterschied zum Vorstand einer Aktiengesellschaft44, dem das arbeitsrechtliche Direktionsrecht gegenüber 35 Engert, ZIP 2006, 2105, 2106; eingehend Martinek in Staudinger, BGB, Vorbem. zu §§ 662 ff. Rn. 73 f.; Langenbucker, Aktien- und Kapitalmarktrecht, 2008, Rn. 18. 36 Bearle / Means, The Modern Corporation and Private Property, 1932. 37 Shattock, Managing Good Governance in Higher Education, 2006, S. 1; vgl. auch Klenk, Modernisierung der fuktionalen Selbstverwaltung, 2008, S. 28. 38 Shattock, Managing Good Governance in Higher Education, 2006, S. 2. 39 Buckland, Universities and Industry, Higher Education Quarterly, vol. 58, n. 4, p. 245, 253. 40 Shattock, Managing Good Governance in Higher Education, 2006, S. 3; ähnlich Knauff, WissR 2007, 380, 392. 41 Shattock, Managing Good Governance in Higher Education, 2006, S. 2, 46. 42 Näher zur Rechtsnatur Knemeyer, FS Schiedermair, 2001, 539, 546 f.; Lindner, WissR 2007, 254, 359 ff.; Löwer / Sturm, WissR 2003, 308; Maurer, WissR 1977, 193 ff. 43 Lindner, WissR 2007, 254, 277; Knemeyer, FS Schiedermair, 2001, 539, 552.
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seinen Mitarbeitern unbegrenzt zusteht45 und der diesen Anweisungen hinsichtlich des wo, wann und wie der Leistungserbringung erteilen kann, wenn er möchte, bis ins Tagesgeschäft hinein. Von daher ergibt sich eine deutliche grundrechtliche Überformung der Hochschulverfassung, die auch durch eine Analogie zu aktienrechtlichen Vorbildern nicht in Frage gestellt werden darf und einer Gesetzgebung Schranken setzt, die sich einseitig an wirtschaftrechtlichen Vorbildern orientiert. c) Bestehende Gemeinsamkeiten Der vorstehend geschilderte Befund sollte aber nicht dazu verleiten, das unternehmensrechtliche Vorbild vorschnell für irrelevant zu erklären. Denn zum einen ist das Principal-Agent-Modell als Grundlage der Corporate Governance nicht unumstritten. Es gibt alternative Erklärungsansätze wie die stewardship-Theorie46 oder den Ansatz, das Unternehmen als ein Netzwerk von Verträgen zu begreifen (Nexus of Contracts – Ansatz)47. Es ist nicht ausgeschlossen, dass diese Ansätze bessere Erklärungen für das Zusammenwirken der Interessenträger in einer Hochschule liefern, als es der recht monokausale Erklärungsversuch der PrincipalAgent-Theorie vermag; freilich kann das im Rahmen dieses Beitrags nicht vertieft werden. Zum anderen ist es auch in einem Unternehmen keine Seltenheit, dass die Leitung mit mehreren eigenständigen Interessenträgern konfrontiert wird. Das begegnet im deutschen Unternehmensrecht vor allem in Gestalt der Arbeitnehmerinteressen, die durch eine starke Mitbestimmung auf betrieblicher Ebene gewährleistet werden, und die bei Aktiengesellschaften mit mehr als 500 Arbeitnehmern zudem auf der Unternehmensebene durch die Beteiligung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat direkt auf die unternehmerischen Entscheidungen einwirken. Weiterhin ist nach nicht unbestrittener, aber überwiegender Meinung der Vorstand gehalten, sein Leitungsverhalten nicht allein an den Interessen der Anteilseigner, sondern auch an den Interessen sonstiger Beteiligter auszurichten48. Und drittens sind Unternehmen in Deutschland typischerweise nicht als Einzelunternehmen, sondern als UnternehBuckland, Universities and Industry, Higher Education Quarterly, vol. 58, n. 4, p. 246. Buckland, Universities and Industry, Higher Education Quarterly, vol. 58, n. 4, p. 246; Spindler, in MünchKomm AktG, 3. A., § 76 Rn. 16 f.; Raiser / Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 4. A., § 14 Rn. 1; vgl. auch Wiesner in MünchHdb. GesR, Band IV, 3. A., § 20 Rn. 14, 39 f. 46 Muth / Donaldson, „Stewardship theory and board structure: a contingency approach“, Corporate Governance 1998, Vol. 6, No. 1. 47 Vor allem Teubner, Hybrid Laws: Constitutionalizing Private Governance Networks, in: Robert Kagan and Kenneth Winston (eds.) Legality and Community. Berkeley Public Policy Press, Berkeley 2002, 311 ff. 48 Sog. Unternehmensinteresse, vgl. Spindler in MünchKomm. AktG, 3. A., § 76 Rn. 63 ff., 69 ff. m. w. N.; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. A., § 28 II 1a, S. 805 f.; Blair, Ownership and Control, 1995, S. 102 ff.; rechtsvergleichend Fleischer in Hdb. Corporate Governance, 2003, S. 129 ff. 44 45
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mensgruppe (Konzern) verfasst. Im Konzern bestehen aber in Gestalt der Tochtergesellschaften eigenständige juristische Personen, über deren Interessen sich der Vorstand der Muttergesellschaft nicht schrankenlos hinwegsetzen darf. Das gilt vor allem, wenn es sich bei der Tochter ihrerseits um eine Aktiengesellschaft handelt, die (auch bei Bestehen eines Konzerns) von ihrem eigenen Vorstand nach dessen Ermessen geleitet wird (vgl. §§ 76, 311 AktG)49. Daher ist gerade im deutschen Unternehmensrecht die Interessenpluralität keine wirkliche Besonderheit. Dann aber ist die Kritik, die in der englischsprachigen Literatur an dem unternehmensrechtlichen Modell geübt wird50, möglicherweise nur deshalb nicht treffend, weil sie von einem unbeschränkt herrschenden Chief Executive Officer und einer alleinigen Ausrichtung der Leitung an den Aktionärsinteressen (Shareholder Value51) ausgeht und dabei die Möglichkeit einer stärker plural verfassten Unternehmung außer Betracht lässt. Zum anderen ist es weder erforderlich noch wünschenswert, die Hochschule insgesamt allein aus einem unternehmensrechtlichen Blickwinkel heraus zu betrachten52. Es genügt, dass sich Teilähnlichkeiten ergeben, die in Gestalt eines Organisationsrechts mit administrativen, ökonomischen sowie juristischen Aspekten53 zweifellos vorhanden sind. Ebenso wird zugestanden, dass Corporate-GovernanceReformen in England maßgeblichen Einfluss auf die Verfassungen der Universitäten hatten54. Von daher lohnt es sich, der Frage nachzugehen, inwieweit die Organe im Einzelnen Bezüge zu aktienrechtlichen Vorbildern aufweisen. 2. Die Organe im Einzelnen a) Vorstand und Hochschulleitung Der Vorstand einer AG leitet diese in eigener Verantwortung, § 76 Abs. 1 S. 1 AktG, Ziff. 4.1.1 S. 1 DCGK. Hierunter fallen originäre Führungsfunktionen, wie Unternehmenskoordinierung, -kontrolle und Besetzung von Führungspositionen55. 49 Spindler in MünchKomm. AktG, 3. A., § 76 Rn. 45 ff.; Fleischer in Spindler / Stilz, AktG, § 76 Rn. 89 f.; Hüffer, AktG, 8. A., § 76 Rn. 19. 50 Siehe oben bei Fn. 40. 51 Vgl. Rappaport, Creating Shareholder Value, 1988, passim; zur bisherigen Dominanz dieser Theorie im englischen und amerikanischen Unternehmensrecht vgl. Blair, Ownership and Control, 1995, S. 202 ff.; Groh, DB 2000, 2153 ff. 52 Vgl. Shattock, Managing Good Governance in Higher Education, 2006, S. 54 f.; Kehm / Lanzendorf, DUZ 05 / 2008, S. 21. 53 Kwickers, Governing Governance, International Journal for Education Law and Policy, 2005, Vol. 1, Issue 1 – 2, S. 73 ff. 54 Shattock, Managing Good Governance in Higher Education, 2006, S. 40, 44; insbesondere Lambert Code, vgl. Buckland, Universities and Industry, Higher Education Quarterly, vol. 58, n. 4, p. 243 f.
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Daneben gehört dazu das Treffen von Führungsentscheidungen, aber auch die Bearbeitung des Tagesgeschäfts56. Die Schaffung einer Compliance-Organisation wird nach neuerer Diskussion ebenso zu den Leitungspflichten gezählt57. Zu den weiteren Pflichten gehören die Vorbereitung und Ausführung von HVBeschlüssen nach § 83 AktG sowie die Berichterstattungspflicht aus § 90 AktG, außerdem die Aufgaben aus §§ 67, 91, 92, 110 Abs. 1, 118 Abs. 2, 119 Abs. 2 iRd ungeschriebenen HV-Kompetenzen, 121 Abs. 2, 124 Abs. 3, 161, 170, 245 Nr. 4 AktG. Die Übertragung dieser Leitungsaufgaben an andere, untergeordnete Ebenen sowie Dritte ist nach einhelliger Ansicht unzulässig58. Lediglich vorbereitende Hilfsfunktionen können ausgelagert werden59. Der Vorstand ist zugleich Vertretungsorgan der AG, § 78 Abs. 1 S. 1 AktG. Er vertritt die Gesellschaft als Gesamtvorstand gerichtlich und außergerichtlich. Der Vorstand entscheidet unter Beachtung der Zuständigkeitsordnung, der Satzung und der Gesetze innerhalb eines unternehmerischen Ermessensspielraums. Sein Handeln hat er dabei am Unternehmensinteresse auszurichten (vgl. Ziff. 4.1.1 S. 2 DCGK), dass nach überwiegender Auffassung sowohl shareholder- als auch stakeholder-Interessen umfasst60. Verstöße gegen diese Vorgaben an ein ordnungsgemäßes Leitungsverhalten können zur Schadensersatzhaftung des Vorstands nach § 93 AktG führen. Die neuen Hochschulgesetze haben zu einem Rückzug des Staates aus der Detailsteuerung geführt, der mit einer Stärkung der Leitung der Universitäten einhergeht61. Die Kompetenzen der Leitungsebene, d. h. Rektorat oder Präsidium, sind kontinuierlich erweitert und ihre Stellung gegenüber anderen Kollegialorganen erheblich gestärkt worden62. Ziel dessen ist eine Professionalisierung der zentralen 55 Spindler in MünchKomm. AktG, 3. A., § 76 Rn. 16.; Hüffer, AktG, 8. A., § 76 Rn. 8; Fleischer in Spindler / Stilz, AktG, § 76 Rn. 15 ff. 56 Spindler in MünchKomm. AktG, 3. A., Vor § 76 Rn. 40; Wiesner in MünchHdb. AG, 3. A., § 19 Rn. 14. 57 Spindler in MünchKomm. AktG, 3. A., § 76 Rn. 17; U. H. Schneider, ZIP 2003, 645 ff.; Hüffer, AktG, 8. A., § 76 Rn. 8. 58 Spindler in MünchKomm. AktG, 3. A., § 76 Rn. 19; Mertens in KölnKomm. AktG, 2. A., § 76 Rn. 43; Fleischer, ZIP 2003, 1, 2; Bürgers / Israel in HeidelbergerKomm. AktG, § 76 Rn. 8, 19 f.; Hüffer, AktG, 8. A., § 76 Rn. 7. 59 Fleischer, ZIP 2003, 1, 11; Bürgers / Israel in HeidelbergerKomm. AktG, § 76 Rn. 20. 60 Vgl. hierzu Spindler in MünchKomm. AktG, § 76 Rn. 64 ff., 76 ff.; Hüffer, AktG, 8. A., § 76 Rn. 12b; Hopt, ZGR 1993, 534, 536; Raiser / Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 4. A., § 14 Rn. 13. 61 BVerfG, NVwZ 2005, 315, 318; Müller-Böling, Die entfesselte Hochschule, 2000, S. 38 ff.; Hartmer, FS Schiedermair, 2001, S. 482; Epping, VerwArch 2008, 423, 436; Schröder, SächsVBl. 2008, 133 f.; Meier, Die Universität als Akteur, 2009, S. 134 ff.; a. A. für die Landesgesetzgebung Stand 2002, Sandberger, WissR 2002, 125, 136 ff.; ähnlich Kilian, LKV 2005, 195, 199 f. 62 Bogumil / Heinze / Grohs / Gerber, Hochschulräte als neues Steuerungsinstrument?, 2007, S. 5; RegBegr SächsHG, LT-Drs. 4 / 12712, S. 2, BadWürttLHG, LT-Drs. 13 / 3640,
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Führungsorgane63. Im Mittelpunkt steht die strategische Führung64 durch Präsidien und Rektorate, die mit durchsetzungsfähigen Führungspersönlichkeiten besetzt sind. Leitlinie der reformierten Aufgabenverteilung ist eine stärkere Trennung von operativen Aufgaben, d. h. solchen des Finanzwesens, der Wirtschafts- und Vermögensverwaltung sowie der Mittelverteilung, von Grundsatz- und Kontrollaufgaben65. Den Leitungsorganen wird im neuen Staats-Hochschul-Verständnis die Aufgabe des Abschlusses von Zielvereinbarungen zugewiesen66. Damit legen diese den Grundstein für die weitere Finanzierung und Entwicklung der Hochschule auf vertraglicher Ebene mit den Ländern. Außerdem erstellen diese die Struktur- und Entwicklungspläne, die vom Hochschulrat zu beschließen sind. Als Stärkung der Leitung wird zudem die Normierung des Beschlusses über die Berufungsvorschläge auf Seiten der Leitung verstanden67. Die Leitung vollzieht darüber hinaus die Beschlüsse der zentralen Organe68. Den Präsidenten bzw. Rektoren wird eine Richtlinienkompetenz zugestanden69. Überdies sind sie für die Genehmigung von Satzungen außer der Grundordnung zuständig. Zudem wurde in einigen Bundesländern die Universitätsleitung als Dienstvorgesetzter des gesamten wissenschaftlichen und künstlerischen Personals eingesetzt70. Gegenüber den Dekanen bestehen Aufsichts- und Weisungsrechte, um die angemessene Aufgabenerfüllung in Forschung und Lehre auf der Arbeitsebene zu kontrollieren. Deutliche Zeichen für eine mittelbare Stärkung in akademischen Fragen sind aber Entscheidungsbefugnisse über Strukturänderungen unterhalb der zentralen Ebene. Der Senat nimmt hier meist nur noch Stellung zu derartigen Fragen71. Weiterhin kommt der Hochschulleitung eine Aufsichtsfunktion gegenüber den Gremien und Hochschulräten bzgl. deren Beschlüssen zu. Sind diese rechtswidrig, muss die Leitung dies beanstanden und die Umsetzung verweigern oder aussetzen. Auch Auflösungsbeschlüsse für die betreffenden Gremien sind möglich72. S. 2, BayerHG, LT-Drs. 15 / 4396, S. 4; RegBegr. HamburgHG, Drs. 17 / 1661, S. 1, 20; RegBegr. HessHG, LT-Drs. 15 / 1076, S. 29; RegBegr. ThürHG, LT-Drs. 4 / 2296, S. 2. 63 Vgl. RegBegr. BrandenburgHG, LT-Drs. 4 / 6419. 64 Müller-Böling, Die entfesselte Hochschule, 2000, S. 48; Klenk, Modernisierung der funktionalen Selbstverwaltung, 2008, S. 93. 65 Vgl. RegBegr. HessHG, LT-Drs. 15 / 1076, S. 35; RegBegr. SächsHG, LT.-Drs. 4 / 12712, S. 2, 5. 66 Vgl. Baden-Württemberg, § 16 Abs. 3 Satz 2 Nr. 4 HG; Bayern, Art. 20 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 HG; Hamburg, § 79 Abs. 2 Satz 2 HG; Sachsen, § 83 Abs. 3 Nr. 3 HG. 67 So in Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg (nach Übertragung), Bremen, Hamburg, Hessen (in Einvernehmen mit Ministerium), Nordrhein-Westfalen, Saarland, Sachsen, Schleswig-Holstein, Thüringen. 68 Bspw. Baden-Württemberg, Saarland. 69 In Bayern, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, NordrheinWestfalen, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein, Thüringen. 70 Etwa Sachsen, § 78 Abs. 2 Satz 3 HG. 71 Hessen, § 42 V LHG. 72 Vgl. Bayern, Art. 20 III 3 LHG.
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Die vorstehende Kompetenzbeschreibung verdeutlicht, dass die Hochschulleitung nach dem New Public Management-Ansatz als unternehmerisch agierendes und mit Managementprinzipien vertrautes Organ verstanden wird. Dies wird auch gesetzgebungstechnisch umzusetzen versucht73. So wird vor allem der strukturelle Aufbau des Organs demjenigen eines Vorstands angeglichen. Es gibt einen Vorsitzenden – den Präsidenten oder Rektor –, der Vorstandsvorsitzaufgaben innehat. Zunächst ist dabei die Funktion des Vorsitzes an sich zu nennen, er vertritt die Hochschule nach Außen gerichtlich und außergerichtlich, hat außerdem eine Richtlinienkompetenz sowie die ausschlaggebende Stimme bei Stimmengleichheit. Er ist für die Geschäftsverteilung zuständig. Das Amt wird zumeist hauptberuflich ausgeübt. Eine weitere Angleichung besteht daneben in der öffentlichen Ausschreibung des Amtes, da dies auch die Bewerbung außeruniversitärer Interessenten zulässt. Es werden überdies Kollegialorgane teilweise unter Abschaffung des Kanzlers eingeführt. Dem Präsidenten steht hier häufig das Recht zu, einen starken Einfluss auf die weitere Besetzung des Leitungsorgans bis hin zum Kanzleramt zu nehmen. Dies soll Kooperationsfähigkeit und effizientes Arbeiten sichern. Grenzen ergeben sich jedoch hinsichtlich der Aufgaben des Gremiums. Trotz aller wirtschaftlicher Ausrichtung der Hochschulen ist es unumgänglich, dass die verfassungsrechtlichen Vorgaben an die Freiheit von Forschung und Lehre zu beachten sind. Das führt zu einer Trennung von finanziell-organisatorischen Aufgaben und solchen, die das BVerfG als wissenschaftsrelevante Aufgaben74 bezeichnet. Für den letzteren Bereich ist seit jeher der Senat der Hochschulen zuständig. Er ist traditionell das Organ, in welchem die Gruppenuniversität ihre stärkste Verankerung fand. Dies wurde auch trotz der NPM-Reformen beibehalten. Im Zuge der Forcierung auf eine einheitliche und starke Leitung wurden die Senate jedoch verkleinert75. Ihre Aufgaben wurden in stärkerem Maße auf ihre eigentlichen akademischen Angelegenheiten konzentriert76. Einzelne Aufgaben entfielen oder es wurden Zustimmungsvorbehalte in Stellungnahmen und Empfehlungen umgewandelt. Die bisher im Senat beratend tätigen Dekane wurden in einigen Bundesländern in die erweiterte Hochschulleitung umorganisiert77. Die Trennung zwischen einem finanziell-organisatorischen und einem akademischen Aufgabenbereich findet sich auch sonst in den Aufgaben der Hochschulleitung. In Unternehmen bzw. Aktiengesellschaften gibt es diese Trennung naturgemäß nicht. Vielmehr trägt der Vorstand die Verantwortung für beide Bereiche auf strategischer Ebene. In der Universität ist die Leitung im Kern auf den finanziellorganisatorischen Bereich sowohl operativ als auch strategisch begrenzt. Die aka73 Vgl. RegBegr. NiedersächsHG, LT-Drs. 14 / 2541, S. 63, 79 f.; RegBegr. SaarlHG, LT.Drs. 12 / 1087, S. 80. 74 BVerfGE 35, 79, 91. 75 In Bayern beträgt die Mitgliederzahl nur noch 9. 76 RegBegr. SächsLHG, LT-Drs. 4 / 12712, S. 2. 77 Bayern, Hessen, Saarland.
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demische Verantwortung verbleibt hauptsächlich bei den gruppengeleiteten Gremien. Im Koordinatensystem der Zuständigkeiten überschneiden sich demnach diejenigen von Vorstand und Hochschulleitung nur auf der strategischen finanziellorganisatorischen Ebene. Ferner ist die Hochschulleitung stärker als der Vorstand einer AG darauf angewiesen, mit Hochschulräten oder Senaten oder gar beiden gleichzeitig in Form von Zustimmungsvorbehalten, Stellungnahmerechten oder Empfehlungsbefugnissen zusammenzuarbeiten. Diese sind stärker ausgeprägt als im Aktienrecht, das überwiegend vom Alleinführungsrecht des Vorstands geprägt ist78. Im finanziell-organisatorischen Bereich ist die Hochschulleitung aber als Entscheidungsorgan mit dem Vorstand der AG vergleichbar, da auch dieser Zustimmungsvorbehalte des Aufsichtsrats (§ 111 IV AktG) und Stellungnahme- und Informationsrechte des Betriebsrats nach § 80 BetrVG beachten muss79. b) Aufsichtsrat und Hochschulrat aa) Aufgaben der Aufsichtsräte Der Aufsichtsrat der Aktiengesellschaft ist zur Erfüllung einer Vielzahl von Aufgaben verpflichtet80. Hervorzuheben sind jedoch die Personalkompetenz, § 84 AktG, die Vertretung der Gesellschaft gegenüber den Vorstandsmitgliedern, § 112 AktG, und die eigentliche Überwachungsaufgabe, § 111 Abs. 1 AktG. Die zuletzt genannte Aufgabe macht den Kern der Tätigkeit aus und unterscheidet den Aufsichtsrat von anderen Gremien, z. B. den im GmbH-Recht verbreitet anzutreffenden Beiräten81. Die Pflicht ist als Dauerobligation ausgestaltet, beinhaltet also die regelmäßige und dauerhafte Ausübung82. Erfasst sind alle Geschäftsführungsmaßnahmen, die für die weitere Entwicklung und Lage des Unternehmens eine maßgebliche Bedeutung haben83 sowie alle weiteren Funktionen eines VorstandsmitSpindler in MünchKomm. AktG, 3. A., § 76 Rn. 1; Hüffer, AktG, 8. A., § 76 Rn. 4. In der Bewertung wie hier Ipsen, NdsVBl. 2001, 10. 80 Dazu gehören neben den im Text genannten die Zustimmung zur Aufnahme von Wettbewerb und zum Abschluss bestimmter Verträge, §§ 88, 89, 114, 115 AktG, Aufgaben betreffend die Zusammensetzung und Delegation von Aufsichtsratsmitgliedern in den Vorstand, §§ 88, 89, 114, 115 AktG, Aufgabenzuweisung innerhalb des Aufsichtsrats, § 107 AktG, Entgegennahme des Jahresabschlusses und des Lageberichts, §§ 90, 170 AktG, Prüfung des Jahresabschlusses, Lageberichts, Konzernabschlusses, Konzernlageberichts und Gewinnverwendungsvorschlags, § 171 Abs. 1 AktG, Mitwirkung an der Feststellung des Jahresabschlusses, § 172 AktG, Billigung des Konzernabschlusses, § 171 Abs. 2, S. 5 AktG, Prüfung des Abhängigkeitsberichts, § 314 AktG und weitere in §§ 33 Abs. 1, 58 Abs. 2, 59 Abs. 3, 111 Abs. 2, S. 3, 124 Abs. 3, 161, 204 Abs. 1, S. 2 AktG geregelte Aufgaben. 81 Zu diesen Spindler / Kepper, DStR 2005, 1738 ff.; Bacher, GmbHR 2005, 465 ff.; Huber, GmbHR 2004, 772 ff. 82 Spindler in Spindler / Stilz, AktG, § 111 Rn. 16; Mertens in KölnKomm. AktG, 2. A., § 111 Rn. 12; Habersack in MünchKomm. AktG, 3. A., § 111 Rn. 18. 83 Hüffer, AktG, 8. A., § 111 Rn. 3; Habersack in MünchKomm. AktG, 3. A., § 111 Rn. 19. 78 79
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glieds84. Neben einer nachträglichen Kontrolle der Tätigkeit ist der Aufsichtsrat auch zu einer vorherigen, zukunftsgerichteten Beratung verpflichtet. Weisungsrechte gegenüber dem Vorstand kommen ihm hierbei jedoch nicht zu85. Verwirklicht wird die Erfüllung der Überwachungsaufgabe mittels eines umfassenden Berichtssystems, § 90 AktG. Der Vorstand unterliegt danach einer Bringschuld für überwachungs- und beratungsrelevante Informationen. Darüber hinaus stehen dem Aufsichtsrat ein Einsichts- und Prüfungsrecht gem. § 111 Abs. 2 S. 1, 2 AktG zu. Zur Durchsetzung der Überwachungsmaßnahmen stehen dem Aufsichtsrat sowohl repressive als auch präventive Instrumentarien zur Verfügung. Als repressiv sind beispielsweise die Inanspruchnahme aus § 93 Abs. 2 AktG86 aber auch Stellungnahmen und Beanstandungen87 zu werten. Ebenso sind die Möglichkeit der Abberufung aus § 84 Abs. 3, S. 1 AktG als auch die Einberufung einer HV nach § 111 Abs. 3 AktG zum Zwecke des Vertrauensentzuges hierzu zu zählen. Die Billigung des Jahres- und Konzernabschlusses kann verweigert werden. Eine Klage, die gegen rechtswidriges Vorstandshandeln gerichtet ist, soll hingegen ausscheiden88. Präventiv wirkt die Verankerung von Zustimmungsvorbehalten. Die Ausübung der Geschäftsordnungsbefugnis nach § 77 Abs. 2 S. 1 AktG kann ebenfalls lenkende Wirkung haben. Der Aufsichtsrat handelt mit dem Ziel den Vorstand zu einer sorgfältigen Leitung des Unternehmens mit dem Leitbild des Unternehmensinteresses zu führen. Den Maßstab bilden sowohl die Rechtmäßigkeit als auch die Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit des Vorstandshandelns89. Letzteres ist jedoch nur i.R.e. mittelund langfristigen Planung der Überprüfung unterworfen90. Im Unternehmensinteresse liegt auch eine effiziente Überwachung begründet. Sie verpflichtet den Aufsichtsrat Berichte und Informationen vom Vorstand einzuholen. Er unterliegt demnach einer Selbstverantwortung für die Wahrnehmung seiner Aufgaben91. Der DCGK empfiehlt in diesem Zusammenhang eine Selbstevaluation nach dem Muster einer Effizienzprüfung, Ziff. 5.6 DCGK sowie den Erlass einer Informationsordnung, Ziff. 3.4 III DCGK. 84 Habersack in MünchKomm. AktG, 3. A., § 111 Rn. 24; Semler, Leitung und Überwachung, 2. A., 1996, Rn. 122 ff. 85 Spindler in Spindler / Stilz, AktG, § 111 Rn. 16; Habersack in MünchKomm. AktG, 3. A., § 111 Rn. 12, 29, 43; Hoffmann-Becking, MünchHdb. AG, 3. A., § 29 Rn. 26. 86 Hüffer, AktG, 8. A., § 111 Rn. 4a; Habersack in MünchKomm. AktG, 3. A., § 111 Rn. 34. 87 Hüffer, AktG, 8. A., § 111 Rn. 4; Habersack in MünchKomm. AktG, 3. A., § 111 Rn. 32; Spindler in Spindler / Stilz, AktG, § 111 Rn. 30. 88 Habersack in MünchKomm. AktG, 3. A., § 111 Rn. 33. 89 BGHZ 114, 127, 129 f.; Spindler in Spindler / Stilz, § 111 Rn. 14 ff.; Habersack in MünchKomm. AktG, 3. A., § 111 Rn. 42. 90 vgl. Hüffer, AktG, 8. A., § 111 Rn. 6; Habersack in MünchKomm. AktG, 3. A., § 111 Rn. 43. 91 Habersack in MünchKomm. AktG, 3. A., § 111 Rn. 47; Spindler in Spindler / Stilz, AktG, § 111 Rn. 30.
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bb) Aufgaben der Hochschulräte Im Zuge der universitären Reformen wurden in nahezu jedem Bundesland92 universitäre Hochschulräte eingeführt, wobei deren Bezeichnungen differieren können93. Als Ziele der Einführung werden die Herstellung einer Verbindung der Hochschule zur Öffentlichkeit bzw. Wirtschaft, Profilbildung und Schwerpunktsetzung und Stärkung der Handlungsfähigkeit sowie strategischer Planungs- und Entscheidungskompetenz genannt. Vordergründig sollen die Hochschulleitungen in diesen Bereichen von der Managementkompetenz der externen Mitglieder profitieren94. Grundaufgaben dieser Hochschulräte sind Verhandlungen mit staatlichen Vertretern (buffer institutions), Mitwirkung an der strategischen Ausrichtung der Hochschule sowie die Aufsicht gegenüber der Hochschulleitung. Es ist festzustellen, dass die Kompetenzen je nach Bundesland erheblich divergieren95. So reichen die Befugnisse von einer bloßen Beratung96 bis hin zu weitreichenden Entscheidungsund Kontrollkompetenzen97. Daher ist festzustellen, dass sich Analogien zum Recht des Aufsichtsrats dort verbieten, wo der Hochschulrat keine Aufsichtsbefugnisse hat. Gerade diese kennzeichnen die Tätigkeit des Aufsichtsrats und bilden die Grundlage für seine weitergehenden Befugnisse, z. B. das Recht auf umfassende Information und Einsicht in die Geschäftsvorgänge. Organe, die eine Aufsichtskompetenz nicht haben, sind keine Aufsichtsräte, sondern Beiräte98, und sollten auch nicht als Aufsichtsräte bezeichnet werden, um Fehlvorstellungen in der Öffentlichkeit hinsichtlich ihrer Befugnisse vorzubeugen. Die Aufsichtsfunktion ist bei den vorhandenen Hochschulräten jedoch teilweise durchaus gegeben. Die Aufsicht umfasst hierbei sowohl Beratungs- und Mitwirkungs- als auch Kontrollrechte im Hinblick auf die Leitungsaktivitäten. Spezifische Aufgaben der Hochschulräte sind hierbei die Bestellung der Hochschulleitung99, die Mitwirkung an der Haushaltsführung sowie dem Erlass oder der Ände92 Ausnahmen: Brandenburg mit einem Landeshochschulrat; Bremen; Schleswig-Holstein mit zusätzlichem Universitätsrat. 93 Baden-Württemberg – Aufsichtsrat; Berlin – Kuratorium; Saarland – Universitätsrat; Sachsen-Anhalt – Kuratorium. 94 Vgl. RegBegr. MecklVorpHG, LT-Drs. 3 / 2311, S. 81. 95 Lange / Schimank, Zwischen Konvergenz und Pfadabhängigkeit, 2007, S. 539; Knauff, WissR 2007, 380, 386. 96 Hessen, § 48 LHG; Mecklenburg-Vorpommern, § 86 LHG; Sachsen-Anhalt, § 74 LHG; Schleswig-Holstein, § 19 LHG. 97 Baden-Württemberg, § 20 LHG; Niedersachsen, § 60 LHG (wobei hier in der Rechtsform der Stiftung). 98 Statt vieler Lutter / Hommelhoff, GmbHG, 16. Aufl., § 53 Rn. 61. 99 Baden-Württemberg, § 20 I 3 Nr. 1 LHG; Bayern, Art. 26 V 1 Nr. 2, 3, 4 LHG; Hamburg, § 84 I Nr. 1 LHG; Niedersachsen § 52 I 1 Nr. 2 lit. d, 3, § 60 II 2 Nr. 1 LHG; NordrheinWestfalen, § 21 I 2 Nr. 1 LHG; Sachsen, § 86 I 1 Nr. 1 LHG; Thüringen, § 32 I 2 Nr. 1 LHG.
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rung der Grundordnung100. Zudem werden Jahresabschlüsse und Jahresberichte entgegengenommen101 und beraten sowie die Hochschulleitung entlastet102. Das sind jedoch in der Aktiengesellschaft Aufgaben der Hauptversammlung (vgl. § 119 Abs. 1 AktG), und keine spezifischen Aufsichtsaufgaben. Ferner wird in einigen Bundesländern die Stellungnahme zu den Leistungsbezügen der Hochschulleitung nach § 33 BBesG ausdrücklich dem Hochschulrat zugewiesen103. Im Übrigen ist jedoch festzustellen, dass bei den Hochschulräten doch eher die Beratungsaufgabe im Vordergrund steht. So treffen die Hochschulräte Beschlüsse über Struktur- und Entwicklungspläne104, tragen zur Profilbildung105 bei und sollen bei der Hochschulorganisation (Fachbereiche, Einrichtungen)106 Einfluss nehmen. Sie sind bei der Gründung von oder Beteiligung an wirtschaftlichen Unternehmen zu beteiligen107. Darüber hinausgehend wird ihnen eine Schlüsselrolle im Rahmen des neuen Steuerungsinstruments der Zielvereinbarungen zugestanden. Hochschulräte fassen hier Beschlüsse oder nehmen zum Abschluss der Vereinbarung Stellung. Des Weiteren sind sie für die Aufsicht über deren Erfüllung und Durchführung verantwortlich108. Zu beachten ist ferner, dass ein Teil der originären Überwachungsaufgaben nach wie vor beim Senat angesiedelt ist. In einigen Bundesländern wird vorrangig dieser 100 Baden-Württemberg, § 20 I 2 Nr. 13 LHG; Bayern, Art. 26 V 1 Nr. 1 LHG; Hamburg, § 84 I Nr. 3 LHG; Niedersachsen, § 60 II 2 Nr. 8 LHG; Rheinland-Pfalz, § 74 II Nr. 1 LHG; Saarland, § 20 I 3 Nr. 8 LHG; Schleswig-Holstein, § 19 I 1 Nr. 2 LHG; Thüringen, § 32 I 2 Nr. 3 LHG. 101 Baden-Württemberg, § 20 I 3 Nr. 8, 14 LHG; Bayern, Art. 26 V 1 Nr. 10 LHG; Hessen, § 48 II 2 Nr. 1 LHG; Niedersachsen, § 60 II 1 Nr. 5 LHG; Nordrhein-Westfalen, § 21 I 2 Nr. 4 LHG; Sachsen, § 86 I 1 Nr. 8, 10 LHG; Sachsen-Anhalt, § 74 I 4 Nr. 3 LHG. 102 Baden-Württemberg, § 20 I 3 Nr. 14 LHG; Hessen, § 100 f. V Nr. 2 LHG; Niedersachsen, § 60 II 2 Nr. 5 LHG; Nordrhein-Westfalen, § 21 I 2 Nr. 6 LHG; Saarland, § 20 I 3 Nr. 9 LHG; Sachsen, § 86 I 1 Nr. 9 LHG. 103 Baden-Württemberg, § 20 VII LHG; Hamburg, § 84 I Nr. 9 LHG; Rheinland-Pfalz, § 74 III LHG. 104 Baden-Württemberg, § 20 I 3 Nr. 3 LHG; Bayern, Art. 26 V 1 Nr. 5 LHG; Berlin, § 65 I 1 Nr. 5 LHG; Hamburg, § 84 I Nr. 4 LHG; Hessen, § 48 II Nr. 1 LHG; Mecklenburg-Vorpommern, § 86 III LHG; Niedersachsen, § 52 I 1 Nr. 2 lit. a LHG; Nordrhein-Westfalen, § 21 I 2 Nr. 2 LHG; Rheinland-Pfalz, § 74 II 2 Nr. 4, 6 LHG; Saarland, § 20 I 3 Nr. 1 LHG; Sachsen, § 86 I 1 Nr. 5 LHG; Schleswig-Holstein, § 19 I Nr. 6 LHG; Thüringen, § 32 I 2 Nr. 4 LHG. 105 Baden-Württemberg, § 20 I 1 LHG; Hamburg, § 84 II 1 LHG; Mecklenburg-Vorpommern, § 86 III 1 LHG; Rheinland-Pfalz, § 74 II 1 LHG; Saarland, § 20 I 1 LHG; Sachsen, § 86 I 1 LHG; Sachsen-Anhalt, § 74 I 4 Nr. 2 LHG; Schleswig-Holstein, § 19 I Nr. 6 LHG; Thüringen, § 32 I 2 Nr. 4 LHG. 106 Baden-Württemberg, § 20 I 3 Nr. 9 LHG; Bayern, Art. 26 V 1 Nr. 6, 8 LHG; Berlin, § 65 I 1 Nr. 4 LHG; Hessen, § 48 II 2 Nr. 4 LHG. 107 Baden- Württemberg, § 20 I 3 Nr. 6 LHG; Niedersachsen, §§ 52 I 1 Nr. 2 lit. b, 60 II 2 Nr. 6 LHG; Rheinland-Pfalz, § 74 II Nr. 2 LHG; Saarland, § 20 I 3 Nr. 6 LHG. 108 Bayern, Art. 26 V 2 LHG; Hessen, § 48 II 1 Nr. 3 LHG; Niedersachsen, §§ 51 I 1 Nr. 2 lit. c, 60 II 3 LHG; Sachsen, § 86 I 2 Nr. 11 LHG; Schleswig-Holstein, § 19 I Nr. 10 LHG; Thüringen, § 32 I 2 Nr. 6 LHG.
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als Aufsichtsorgan ausgestaltet109. Hier wird den Hochschulräten zumeist nur eine beratende und mitwirkende Funktion bei der Hochschulentwicklung zugestanden110. Zudem übernimmt der Senat oder der erweiterte Senat in einigen Hochschulgesetzen an Stelle des Hochschulrates die Aufgabe der Wahl- bzw. Abwahl der Leitung111. Zumeist wirken Hochschulrat und Senat bei dieser jedoch zusammen (Prinzip der doppelten Legitimation). cc) Fazit Hochschulräte wurden demnach gebildet, um die reduzierte staatliche ex-anteLeitung auszugleichen und durch ein internes Kontrollsystem zu ersetzen. Sie sind Surrogat staatlicher Kontrolle112. Die strategische Führung wurde teilweise auf sie verlagert113. Hinsichtlich der Besetzung hat sich bisher das duale Modell etabliert, d. h. die Mitgliedschaft interner Hochschulangehöriger und externer (hochschulfremder) Mitglieder114. Die externen Mitglieder stammen dabei zumeist aus Wirtschaft und Wissenschaft; es soll sich bei ihnen vornehmlich um Personen mit Managementkompetenz handeln, die Erfahrung in der Verwendung sehr hoher Geldmittel haben115. Überdies müssen die Mitglieder mit dem Hochschulwesen und dem Wissenschaftsbetrieb vertraut sein. Ein Vergleich der Aufgaben zeigt, dass eine Übereinstimmung vor allem in Bezug auf die Personalkompetenz besteht; diese steht sowohl den Aufsichtsräten als auch den Hochschulräten im eigentlichen Sinne zu. Insofern haben sich die Ländergesetzgeber den aktienrechtlichen Aufsichtsrat an einigen Stellen ausdrücklich zum Vorbild genommen116. Diese Personalkompetenz hat auch der Hochschulrat 109 RegBegr. MecklVorpHG, LT-Drs. 3 / 2311, S. 82, 112; RegBegr. SchleswHolstHG, LT-Drs. 16 / 1007, S. 24. 110 So ausdrücklich RegBegr. MeckVorpHG, LT-Drs. 3 / 2311, S. 114. 111 Bspw. Mecklenburg-Vorpommern; Sachsen. 112 Bogumil / Heinze / Grohs / Gerber, Hochschulräte als neues Steuerungsinstrument, 2007, S. 14; Mayntz, European Journal of Education, S. 21 ff.; Hoffacker, Die Universität des 21. Jahrhunderts, S. 130; Laqua, Der Hochschulrat zwischen Selbstverwaltung und staatlicher Verwaltung, 2004, S. 32. 113 Müller-Böling, Die entfesselte Hochschule, S. 50. 114 Vgl. Bogumil / Heinze / Grohs / Gerber, Hochschulräte als neues Steuerungsinstrument, 2007, S. 12 f., 23 ff.; Van Bebber, DUZ 21 / 2001, S. 14. 115 Bogumil / Heinze / Grohs / Gerber, Hochschulräte als neues Steuerungsinstrument, 2007, S. 6. 116 Vgl. RegBegr. BadWürttHG, LT-Drs. 13 / 3640, S. 195; RegBegr.BayerHG, LT-Drs. 15 / 4396, S. 46, 56; RegBegr. HessHG, LT-Drs. 15 / 1076, S. 2, 30, bei welcher von der „Berufswelt“ gesprochen wird; RegBegr. NRWHG, LT-Drs. 14 / 2063, S. 148 mit dem ausdrücklichen Verweis auf § 84 Abs. 3 S. 2 AktG bzgl. der Abwahl der Leitung; RegBegr. SchleswHolstHG, LT-Drs. 16 / 1007, S. 19 f.; Ipsen, NdsVBl. 2001, S. 8 ff.; kritisch dazu Hartmer, FS Schiedermair, 2001, S. 484; für Österreich Lange / Schimank, Zwischen Konvergenz und Pfadabhängigkeit, 2007, S. 537.
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fast in jedem Bundesland, sei es aufgrund einer direkten Wahl / Abwahl-Kompetenz, sei es durch ein Vorschlagsrecht bzw. Zustimmungsrecht für die Wahl bzw. Abwahl. In einigen Bundesländern wird sogar ausdrücklich die Möglichkeit zur Festlegung der Bezüge iRd § 33 BBesG zugestanden. Deutliche Ähnlichkeiten ergeben sich hinsichtlich der Einsichts-, Prüfungs- und Informationsrechte. Hier ist vorstellbar, dass daraus ein Berichtssystem durch die Hochschulleitung entsteht, das an das in § 90 AktG vorgesehene angenähert ist117. Hinsichtlich der Aufsichtsfunktion ist festzustellen, dass dem Hochschulrat kaum Eingriffs- bzw. Durchsetzungskompetenzen zur Verfügung stehen. Zumeist soll dieser auf eine hochschulinterne Klärung hinwirken. Erst bei schwerwiegenden Beanstandungen ist das zuständige Ministerium zu benachrichtigen. Ferner fehlt den Hochschulräten die Kompetenz, bestimmte Maßnahmen des Vorstands durch Beschluss für zustimmungsbedürftig zu erklären, § 111 IV AktG. Die Zustimmungsvorbehalte sind vielmehr in den jeweiligen Hochschulgesetzen enumerativ aufgelistet118 und betreffen nur wenige Punkte, wie Unternehmensgründungen und Strukturänderungen. Auch im Bereich der präventiven Beratung ergeben sich Unterschiede. Hier wurden explizite Handlungsanweisungen in den Hochschulgesetzen der Länder aufgenommen. Häufig wird dies mit den Worten Profilbildung, Entwicklung der Hochschule sowie Erhöhung der Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit bezeichnet. Ferner kann sich durch eine Aufgabenzuweisung an den Senat eine Aufteilung der Beratungs- und Überwachungsfunktion in sachlicher Hinsicht ergeben119. Im Grundsatz ist in den meisten Hochschulgesetzen eine Trennung zwischen akademischen und finanziell-strukturellen Angelegenheiten gewollt. Es ist aber auch festzustellen, dass dem Hochschulrat zuweilen Kompetenzen zugestanden werden, die über jene des Aufsichtsrats hinausgehen. So gestehen einige Hochschulgesetze direkte Geschäftsführungskompetenzen zu120. Überdies wird ihm die Beschlussfassung oder Stellungnahme zu Änderungen der Grundordnung übertragen. Hierfür ist in der AG die Hauptversammlung zuständig, § 179 AktG. Insgesamt ergibt sich daher ein Bild, das den Hochschulrat allenfalls als ein aufsichtsratsähnliches Gremium qualifiziert, da durch die Mitwirkung des Senats, die Übertragung von Kompetenzen, die in der AG die Hauptversammlung hat, und durch die Hervorhebung der Beratungs- gegenüber der Kontrollaufgabe deutliche Bruchlinien gegenüber dem Aufsichtsrat bestehen. Wo sich freilich die Kompetenzen decken, wird es im Einzelfall gleichwohl möglich sein, Brücken zu schlagen. Das trifft insbesondere auf die Personalkompetenz und auf den Umfang der Auskunfts- und Einsichtsrechte zu. Im Übrigen überwiegen aber die Unter117 118 119 120
Vgl. Nordrhein-Westfalen, § 21 Abs. 2 S. 3 LHG. Bspw. Baden-Württemberg, §§ 14 Abs. 3, 20 Abs. 1 S. 3 LHG. Vgl. Schleswig-Holstein, § 21 Abs. 1 S. 2 LHG. Bspw. Hessen, Vermögensverwaltung, § 48 Abs. 2 S. 3 LHG.
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schiede, so dass sich die Bezeichnung des Gremiums als Aufsichtsrat, die in Baden-Württemberg gewählt wurde121, als folkloristisch und ohne rechtlichen Gehalt erweist. 3. Die Hauptversammlung – das abhanden gekommene Organ Eine Hauptversammlung existiert in der aktienrechtlichen Form in der Hochschule nicht. Hierin spiegelt sich der schon oben angesprochene Unterschied wieder, dass es einen Eigentümer im eigentlichen Sinne in der Hochschule nicht gibt, so dass auch das dafür vorgesehene Repräsentationsorgan entfällt. Die Funktionen der Hauptversammlung werden hauptsächlich von den Senaten übernommen. Sie wählen und bestellen die Hochschulräte zumeist in Zusammenarbeit mit dem Ministerium (vgl. § 119 I Nr. 1 AktG)122, beschließen die Grundordnung (vgl. § 179 I AktG)123 und entlasten in traditionelleren Hochschulgesetzen das Leitungsorgan124 (vgl. § 119 I Nr. 3 AktG). Die weiteren HV-Aufgaben verteilen sich verschiedentlich auf Leitung und Hochschulräte. IV. Gesamtbewertung 1. Import aktienrechtlicher Mängel ins Hochschulrecht Insgesamt ist festzuhalten, dass die Universitätsreform in Sachsen, aber auch in den anderen Bundesländern, eine Stärkung der Hochschulleitung mit sich gebracht hat, die als solche nicht unumstritten ist. Neben den Chancen, die in einer effektiveren Entscheidungsfindung durch kürzere Entscheidungswege sowie durch Professionalisierung gesehen werden125, werden auch die Risiken betont. Insofern wird vor allem bezweifelt, ob die richtige Balance zwischen starker Hochschulleitung und hinreichend effektiven Aufsichtsorganen gefunden wurde. Befürchtet wird sowohl, dass zu starke Führungspersönlichkeiten unkontrolliert Fehlentscheidungen treffen könnten126. Interessenkonflikte, Selbstbereicherung und Geltungsbedürfnis können vermehrt auftreten. Aber auch das Gegenteil könne eintreten. Die Gefahr der Beeinflussung durch lediglich einen Teil der Interessenvertreter der Aufsichtsorgane bestehe, wenn diese innerhalb eines zu starken Aufsichtsorgans RegBegr. BadWürttHG LT-Drs. 13 / 3640, S. 194. Bspw. Thüringen, § 33 Abs. 1 Nr. 2 LHG. 123 Bspw. Thüringen, § 33 Abs. 1 Nr. 1 LHG. 124 Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern; dies wird nunmehr hauptsächlich von den Hochschulräten übernommen. 125 Vgl. Clark, Creating Entrepreneurial Universities, 1998; Meier, Die Universität als Akteur, 2009, S. 153; Epping, VerwArch 2008, 423, 427; Schweiger, SGb 2005, 146, 147 Fn. 14. 126 Beispiele hierfür aus Großbritannien bespricht Shattock, Managing, S. 84 ff., bspw. die Gründung wissenschaftlich schlecht ausgestatteter Institute in verschiedenen Ländern weltweit u. a. in Griechenland in einem Rotlichtviertel Athens, S. 107. 121 122
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Superioritäten für sich in Anspruch nähmen127. Angemahnt wird außerdem, dass eine Kontrolle durch diejenigen stakeholder geschwächt wird, die in den Leitungsund Aufsichtsorganen nicht vertreten sind128. Diese Effekte sind aus dem Bereich des Aktienrechts durchaus bekannt. Sowohl der Vorstand, der nach Art eines Sonnenkönigs sein Unternehmen regiert, als auch der übermäßig starke Aufsichtsratsvorsitzende, der als graue Eminenz das Unternehmen aus dem Hintergrund bis in Fragen der Produktgestaltung im Detail beeinflusst, sind uns bekannte Figuren. Von daher ist der hier angestellte Blick auf das Aktienrecht auch als Mahnung zu verstehen, von einer Einführung unternehmerischer, insbesondere aufsichtsratsähnlicher, Gremien und Institutionen nicht zuviel zu erwarten. Gerade die jüngste Wirtschaftsentwicklung lässt erkennen, dass auch die aktienrechtliche Corporate Governance Fehlentwicklungen und Krisen nicht immer verhindern kann und sogar in Teilbereichen (etwa was die Vergütungstrukturen in Aktiengesellschaften angeht129) für deren Entstehen mitverantwortlich ist. Damit besteht die Gefahr, mit der Übernahme unternehmensrechtlicher Modelle auch deren Mängel und Defizite ins Hochschulrecht zu übernehmen. Insofern erweist sich aber gerade die Übertragung wesentlicher Kompetenzen auf die Hochschulräte unter gleichzeitiger Schwächung der Senate nicht als unproblematisch. Neben verfassungsrechtlichen Bedenken, zu denen hier nicht Stellung genommen werden soll130, bestehen durchaus auch Gefahren, die aus dem Unternehmensrecht heraus bereits bekannt sind, und von denen abzusehen ist, dass sie auch in der Hochschule virulent werden können. a) Selbstbild der Mitglieder und Intensität der Amtswahrnehmung Zu nennen ist einmal die Gefahr der nicht hinreichenden Mandatswahrnehmung. Aus der Corporate-Governance-Diskussion heraus ist bekannt, dass Aufsichtsratsmitglieder ihr Mandat zu lange als Ehrenamt verstanden, das sich sozusagen „nebenbei“ erledigen ließ131. Daraus resultierte eine zu wenig intensive Wahrnehmung des Amts, die sich in geringer Sitzungsfrequenz, schwacher Sitzungsvorbereitung und wenig kritischer Haltung gegenüber den Angaben des Vorstands niederschlug. Der Gesetzgeber des Aktienrechts ist seit 1994 mehr oder weniger permanent damit beschäftigt, diese Mängel abzustellen132. Einen wirklichen Umbruch im Buckland, Universities and Industry, Higher Education Quarterly, vol. 58, n. 4, p. 252. Buckland, Universities and Industry, Higher Education Quarterly, vol. 58, n. 4, p. 252. 129 Zu deren Einfluss auf das Entstehen der Bankenkrise Lutter, ZIP 2009, 179 ff. 130 Vgl. statt dessen Thieme, Hochschulrecht, 3. A., Rn. 1022 f. m. w. N. und Verweis auf BVerfGE 83, 60, 71; 93, 37, 66; Ladeur zitiert in Dufner, DUZ 22 / 2002, S. 16. 131 Lutter, ZGR 2001, 224, 230 f.; Lutter / Krieger, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 5. Aufl., 2008, Rn. 51 ff.; Drygala in K. Schmidt / Lutter, AktG, § 95 Rn. 2. 132 Näher zur Rechtsentwicklung Mertens in KölnKomm. AktG, 2. A., § 93, Rn. 7. 127 128
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Selbstverständnis der Aufsichtsräte haben aber weniger diese gesetzlichen Reformen mit sich gebracht als vielmehr die Gefahr, bei einer unsorgfältigen Amtswahrnehmung finanziell zur Verantwortung gezogen zu werden. Die ersten Urteile zu dieser Frage der Aufsichtsratshaftung133 haben ersichtlich als Weckruf auch bei den nicht persönlich betroffenen Aufsichtsräten gewirkt. Ein solcher präventiver Anreiz zur sorgfältigen und intensiven Mandatswahrnehmung fehlt aber im Hochschulrecht völlig; er ist bisher nicht einmal andiskutiert. Demgegenüber sind in der Literatur deutliche Tendenzen zu erkennen, die Mitgliedschaft im Hochschulrat als eine rein ehrenamtliche Tätigkeit zu begreifen134. Bei den externen Mitgliedern kommt die Gefahr hinzu, dass das Amt als ein Mittel zur Erlangung von Medienpräsenz missverstanden wird135. Von daher ist durchaus zu befürchten, dass sich ein aus dem Aktienrecht her bekannter Misstand, nämlich das Verständnis des Amtes als „schönster Nebensache der Welt“, in den Hochschulräten wiederholen wird. b) Orientierung am Gesamtinteresse Aus den Aufsichtsräten ist das Problem bekannt, dass sich nicht alle Mitglieder gleichmäßig am Interesse des Unternehmens orientieren, sondern dass manche von ihnen Partikularinteressen verfolgen. So ist bei den Arbeitnehmervertretern zu beobachten, dass sie zwischen „arbeitnehmerrelevanten“ und „neutralen“ Sachfragen unterscheiden und sich intensiv der Fragen annehmen, die ihre Klientel berühren. Im Übrigen wird sich vielfach der Stimme enthalten. Auch Vertreter der öffentlichen Hand in Unternehmen mit Staatsbeteiligung sind in dieser Hinsicht schon negativ aufgefallen, indem sie sich nämlich mehr als verlängerter Arm der entsendenden Körperschaft denn als unabhängiges Mitglied des Gremiums gerierten136. Gerade diese Gefahr ist in den Hochschulräten mit Händen zu greifen. Es steht zu erwarten, dass sich die vom Staat entsandten Mitglieder vornehmlich als Vertreter staatlicher, und das heißt in nicht wenigen Fällen fiskalischer, Interessen verstehen werden. Hinsichtlich der aus der Wirtschaft rekrutierten externen Mitglieder ist zu befürchten, dass insoweit vor allem Drittmittelgeber zum Zuge kommen, denen am Nutzen ihrer Investition mehr gelegen sein kann als am Erfolg der Hochschule insgesamt137.
BGHZ 135, 244 –ARAG-; BGH ZIP 2007, 224. Thieme, Hochschulrecht, 3. A., Rn. 1023. 135 Bogumil / Heinze / Grohs / Gerber, Hochschulräte als neues Steuerungsinstrument, 2007, S. 26. 136 Vgl. Zieglmeier, ZGR 2007, 144, 159 ff. 137 Eindringlich Hartmer, FS Schiedermair, 2001, S. 484, 489; Bogumil / Heinze / Grohs / Gerber, Hochschulräte als neues Steuerungsinstrument?, 2007, S. 26 m. w. N.; vgl. auch Buckland, Universities and Industry, Higher Education Quarterly, vol. 58, n. 4, p. 248, 252. 133 134
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c) Hinreichende Information Schließlich ist aus der aktienrechtlichen Erfahrung darauf hinzuweisen, dass die Qualität der Aufsichtsratsarbeit in besonderem Maße von der Güte der Informationen abhängt, die das Gremium erhält138. Gerade externe Mitglieder sind auf eine hinreichende Berichtsdichte dringend angewiesen. Eine Orientierung am Maßstab des § 90 AktG, der die Berichtsdichte des Vorstands gegenüber dem Aufsichtsrat regelt, kann hier hilfreich sein. In Bezug auf Aufsichtsräte wird gegenwärtig intensiv diskutiert, ob dies ausreicht. Viele fordern zusätzliche Informationsquellen für den Aufsichtsrat; genannt werden Direktkontakte zu Mitarbeitern des Unternehmens139 und die Einrichtung anonymer Beschwerdestellen (neudeutsch: Whistleblower Hotlines), mit denen sich Mitarbeiter des Unternehmens direkt an den Aufsichtsrat wenden können, wenn sie Missstände oder Rechtsverstöße im Unternehmen festgestellt haben140. Festzustellen ist ferner, dass die Bereitschaft von Vorständen, gegenüber dem Überwachungsgremium offen und zeitnah zu berichten, oft nur dann gegeben ist, wenn sie sich auf die Vertraulichkeit der Beratungen (vgl. § 116 Satz 2 AktG) auch tatsächlich verlassen können141. All diese Fragen werden auch im Hinblick auf Hochschulräte noch zu diskutieren sein. 2. Fazit Insgesamt haben die Gesetzgeber des Hochschulrechts sich einen erheblichen Schritt auf unternehmerische Organisationsstrukturen hinbewegt, dabei aber mit dem Hochschulrat ein aus mehreren Gründen anfälliges Organ geschaffen, dessen Funktionalität sich im Alltag noch erweisen muss142. Ob es dabei hilfreich sein kann, ähnlich wie im Aktienrecht die Funktionsweise der Gremien durch eine zusätzliche Selbstregulierung durch einen Code of Best Practice nach Vorbild des Deutschen Corporate Governance Kodex zu ergänzen, bleibt weiteren Untersuchungen vorbehalten.
138 Vgl. Hüffer, AktG, 8. A., § 90 Rn. 1; Spindler in MünchKomm. AktG, 3. A., § 90 Rn. 1; Fleischer in Spindler / Stilz, AktG, § 90 Rn. 1. 139 Vgl. Dreher, FS Ulmer, 2003, S. 87, 92 ff.; Semler, Leitung und Überwachung der Aktiengesellschaft, 2. A., 1996, Rn. 172 ff.; Hopt / Roth in Großkomm. AktG, § 107 Rn. 511 ff.; dagegen Scheffler, ZGR 2003, 236, 254 f.; Lutter, Information und Vertraulichkeit im Aufsichtsrat, 2. A., 2006, Rn. 316. 140 Umfassend dazu Korte, Die vorstandsunabhängige Information des Aufsichtsrats, 2009, im Erscheinen. 141 Näher Drygala in K.Schmidt / Lutter, AktG, § 116 Rn. 24. 142 In der Bewertung noch skeptischer Bogumil / Heinze / Grohs / Gerber, Hochschulräte als neues Steuerungsinstrument?, 2007, S. 1.
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V. Ergebnisse 1. Die Universitätsreformen der vergangenen Jahre, auch in Sachsen, haben zu einer Wegbewegung vom Gedanken der Gruppenuniversität und einer Hinwendung zu einer Struktur geführt, die sich an Vorbildern außerhalb des klassischen Verwaltungsrechts orientiert. Dabei ist im Bereich der Universitätsverfassung eine Hinwendung zu Strukturen zu beobachten, die ersichtlich an unternehmensrechtliche Vorbilder angelehnt sind. 2. Ob die Aktiengesellschaft insoweit ein taugliches Vorbild ist, muss bezweifelt werden, da die beteiligten Interessen in der Universität vielschichtiger sind als im Wirtschaftsleben und das Leitungsverhalten der Hochschulleitung im Bereich von Forschung und Lehre eine Begrenzung durch die Grundrechte des wissenschaftlichen Personals und der Fakultäten erfährt. 3. Bei einem Vergleich der Kompetenzen der jeweiligen Organe ist festzustellen, dass es gleichwohl relevante Ähnlichkeiten gibt, die eine vorsichtige Analogie zu aktienrechtlichen Fragestellungen in Einzelfragen erlauben. Dabei sind die neu installierten Hochschulräte aber nur dann als aufsichtsratsähnlich zu qualifizieren, wenn sie tatsächlich mit Überwachungsaufgaben ausgestattet sind. 4. Die Orientierung am Recht des Aufsichtsrats bringt die Gefahr mit sich, auch dessen unbestreitbare Mängel ins Hochschulrecht zu übernehmen. Insofern ist vor einem naivem Glauben daran, dass sich mit der Einführung unternehmensrechtlicher Strukturen alles zum Besseren wenden werde, nachdrücklich zu warnen. Vielmehr bedarf der Hochschulrat noch einer deutlichen Verstärkung im Bereich der sorgfältigen Mandatswahrnehmung, der Orientierung seiner Mitglieder am Interesse der Gesamtuniversität und der hinreichenden Informationsversorgung, wenn seine Arbeit effektiv und erfolgreich sein soll.
Die Novelle des Sächsischen Hochschulgesetzes – eine kritische Bestandsaufnahme Von Georg Sandberger*
I. Einleitung Die deutschen Hochschulen haben in den beiden letzten Jahrzehnten einen bemerkenswerten Strukturwandel erfahren. Für die 600 Jahre alte Universität Leipzig bedeutet dies eine nahezu permanente Reform ihres Organisationstatuts innerhalb der letzten knapp zwanzig Jahre seit der Wiedervereinigung. Mit dem Sächsischen Hochschulgesetz 2008, das eine ungewöhnlich lange Vorlaufzeit hinter sich hat, wurde eine weitere Hochschulrechtsnovelle abgeschlossen1. Nach der Wiedervereinigung wurde zunächst das mit dem Label der Gruppenuniversität versehene westdeutsche Hochschulsystem als Blaupause für die Organisationsreform auch den ostdeutschen Hochschulen auferlegt2, deren Leitungsstrukturen auf der zentralen und dezentralen Ebene bis zur Wende ein Spiegelbild der von der SED zentral gesteuerten Strukturen der Staatsverwaltung darstellten3. Im gleichen Zeitraum begannen in Westdeutschland bereits erste Überlegungen zu einer Neukonzeption der Leitungsstrukturen. * Kanzler der Universität Tübingen a.D., Dr. jur., Dr. jur. h.c der Juristenfakultät der Universität Leipzig, Honorarprofessor an der Juristischen Fakultät der Universität Tübingen. Der Verf. widmet diesen Beitrag in dankbarer Verbundenheit der Universität Leipzig zum 600-jährigen Jubiläum ihrer Gründung 2009. 1 Das Gesetz über die Hochschulen im Freistaat Sachsen (SächsHSG) wurde am 14. 11. 2008 im Landtag verabschiedet und ist am 24. 12. 2008 im GVBl. 19, 2008, S. 900 ff. verkündet worden; Gesetzesmaterialien LT-Drucksache 4 / 12712 v. 1. 7. 2008. 2 Zur Vorgeschichte vgl. insbesondere H. Schiedermair Deutsches Hochschulwesen der Gegenwart – Eine Bestandsaufnahme in: Flämig et al., Handbuch des Wissenschaftsrechts, 2. Aufl, 1996, S. 37 ff., 89 ff.: Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands – Einigungsvertrag- v. 31. 8. 1990, BGBl. II, 889, Kap. XVI, im Gefolge der Anpassungsvorgabe wurde das Sächsische Hochschulerneuerungsgesetz v. 25. Juli 1991, GVBl. 261 erlassen. Zur Geschichte auch H. J. Meyer, Die Hochschulen in den neuen Ländern, eine problemorientierte Bilanz, Freistaat Sachsen, Sächsisches Ministerium für Wissenschaft und Kunst, S. 9 ff. 3 Überblick bei Schiedermair ,Fn. 2, S. 89 ff.
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Anders als bei der Humboldtschen Reform standen dabei nicht grundlegende Zielbestimmungen der Aufgaben der Wissenschaft, die grundsätzliche Standortbestimmung des Verhältnisses von Staat und Hochschule und daraus abzuleitende Strukturen der inneren Organisation der Hochschule im Vordergrund4. Vielmehr ging es um die Frage, ob die bisherige Organisationsverfassung der Hochschulen, die zeitgleich in den Bundesländern als Reaktion auf die Studentenunruhen Ende der 60-er Jahre entstanden ist und die die bis dato von den Professoren dominierten Selbstverwaltungsorgane durch gruppenparitätische Repräsentativorgane abgelöst hat, noch zeitgemäß ist. Dabei war der Blick vor allem darauf gerichtet, ob die Hochschulen mit ihren als schwerfällig empfundenen Entscheidungsstrukturen für den internationalen und nationalen Wettbewerb ausreichend gerüstet sind5. Des Weiteren stehen die Reformbestrebungen im Kontext der unter dem Stichwort „New Public Management“ initiierten Reform der öffentlichen Verwaltung. Diese zielt auf dem Hintergrund der Budgetkrisen des Bundes und der Länder auf die Einführung dezentraler Globalbudgets und dezentraler Budgetverantwortung, damit auf effizientere Verwaltungsstrukturen, nicht zuletzt um die Verantwortung für die Aufgabenerfüllung bei eingefrorenen Budgets auf die nachgeordnete Ebene zu verschieben. Das nach der Föderalismusreform vor der Aufhebung stehende HRG hat mit der 4. HRG- Novelle den Ländern schon 1998 in organisationsrechtlicher Hinsicht weite Gestaltungsspielräume eröffnet, die Art. 125 a GG zur vollständigen Gestaltungsfreiheit der Landesgesetzgeber erweitert hat6. Das neue sächsische Hochschulgesetz steht am Ende der daraufhin einsetzenden Novellierungswelle in den Bundesländern. Es erschöpft sich nicht in der Neugestaltung der Leitungsorgane, sondern erfasst die Hochschulfinanzierung, insbesondere die Steuerung über Zielvereinbarungen, die Neugestaltung der Studiengänge, das Zu4 Vgl. Zusammenfassende Darstellung v. G. Roellecke, Geschichte des deutschen Hochschulwesens in: Flämig et al., Fn. 2, S. 3 ff., 23 ff. 5 Vgl. dazu u. a. D. Müller-Böhling, Die entfesselte Hochschule, 2000, S. 47 ff.; H. J. Bull / V. Mehde, Reform der Hochschulorganisation – die populären Modelle und ihre Probleme, JZ 2000, 650 ff.: C. D. Classen, Wissenschaftspolitik im Zeichen der Wirtschaft? Zu hochschulpolitischen Fragen an der Jahrtausendwende in: Liber Amicorum Thomas Oppermann, 2001, S. 857 ff.; M. Fehling, Neue Herausforderungen an die Selbstverwaltung der Hochschule und Wissenschaft, Die Verwaltung 35 (2002) 399 ff.; M.-E. Geis, Akademische Selbstverwaltung im Reformzeitalter, Die Verwaltung 32 (2000), 563 ff.; Bericht v. R. Hendler. U. Mager, ebda, S. 277 ff.; Monopolkommission, Wettbewerb als Leitbild für die Hochschulpolitik, Sondergutachten 30, 2000; Th. Oppermann, Ordinarienuniversität – Gruppenuniversität – Räteuniversität, Wissenschaftsrecht, Beiheft 15: Die janusköpfige Rechtsnatur der Universität – ein deutscher Irrweg, 2005, 1 ff.; G. Sandberger, Organisationsreform und -autonomie, Bewertung der Reformen in den Ländern, Wissenschaftsrecht 2002, 125 ff.; ders. Neure Entwicklungen des Hochschulverfassungs- und Hochschulrechts, erscheint demnächst in der Reihe Leipziger Juristische Vorträge. 6 Vgl. dazu G. Sandberger, Die Umsetzung der Föderalismusreform im Hochschulbereich in: Jahrbuch des Föderalismus 2008, S. 160 ff.
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lassungswesen und die Mitfinanzierung der Hochschulen durch Studienbeiträge der Studierenden. Im Folgenden sollen die wesentlichen Reformbausteine des neuen Gesetzes einer kritischen Würdigung unterzogen werden II. Die Ziele der Hochschulgesetznovelle 2008 Als Ziele der Novellierung nennt die amtliche Begründung7: Die Neuregelung des Verhältnisses von Staat und Hochschulen Die Verbesserung der Leistungs- und Handlungsfähigkeit der Hochschulen Die Ablösung staatlicher Detailsteuerung durch die Anwendung neuer und besser geeigneter Steuerungsinstrumente.
Angesprochen ist zum einen der Rechtsstatus der Hochschule, zum anderen das Verhältnis der bisherigen Aufsicht zum Instrument der Zielvereinbarungen. 1. Zum Rechtsstatus der Hochschule Beim Rechtsstatus der Hochschule wird in § 2 SächsHSG auf den Status der „staatlichen Einrichtung“ verzichtet. Der Status der rechtsfähigen Körperschaft des öffentlichen Rechts“ verschafft aber als solcher keine weitere Autonomie, solange die Hochschulen nur Teilrechtsfähigkeit haben. Das Gesetz beschränkt sich hier auf weitere Delegation, z. B. der Dienstvorgesetzteneigenschaft, damit verbundener Personalentscheidungen, auf die Neugestaltung des Berufungswesens, die Reduzierung der Genehmigungserfordernisse bei Satzungen, Flexibilisierung des Haushalts. Eine volle Rechtsfähigkeit und Dienstherreneigenschaft wird den Hochschulen mit Ausnahme der Technischen Universität Dresden (§ 104 SächsHSG) aber nicht eingeräumt. § 2 Abs. 2 SächsHSG erweitert de nomine die Organisationsautonomie, realiter besteht aber der Gestaltungsspielraum für die Grundordnung nur auf der Ebene der Fakultäten, Institute oder alternativer Organisationsstrukturen wie Zentren (vgl. dazu auch § 13 Abs. 1 SächsHSG). Die Organisation auf der Zentralebene ist dagegen gesetzlich vorgegeben. Für die Erprobung neuer Strukturen auf Antrag einer Hochschule war im RegE noch eine Verordnungs-Kompetenz des Wissenschaftsministeriums vorgesehen (§ 13 Abs. 7 SächsHSG). In der endgültigen Fassung ist die Experimentierklausel inhaltlich auf neue Lehr- und Studienformen sowie das Berufungsverfahren, organisationsrechtlich auf die Gestaltung unterhalb der zentralen Ebene beschränkt. 7
Vgl. Fn. 1, Begründung unter A I.
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Dafür werden die Genehmigungskriterien auf fachaufsichtsrechtliche Aspekte erweitert. Damit wird die Entscheidung über eine Erweiterung der Organisationsautonomie in das Ermessen des Ministeriums gestellt. Dies ist kein Autonomiegewinn. 2. Zum Verhältnis der klassischen staatlichen Aufsichtsrechte und dem Instrument der Zielvereinbarungen § 6 Abs. 2 SächsHSG reduziert den Katalog staatlicher Aufgaben (sog. Weisungsaufgaben). Dies hat Auswirkungen auf das Verhältnis von Fach- und Rechtsaufsicht. § 7 Abs. 4 i.V. mit Abs. 3 SächsHSG nimmt jedoch keine klare Scheidung von Rechts- und Fachaufsicht bei den Aufsichtsinstrumenten vor. Sehr weitgehend sind die Voraussetzungen der Eingriffsmöglichkeiten des Ministeriums bei Funktionsunfähigkeit der Hochschule (§ 7 Abs. 3 SächsHSG). Diese beschränken sich keineswegs auf eine „Ultima Ratio Situation“. Der Reduzierung staatlicher Aufgaben und der mit ihnen verbundenen Fachaufsicht müssen die Eingriffsmöglichkeiten des Ministeriums bei der Hochschulplanung, insbesondere mit dem Instrument der Zielvereinbarungen nach § 10 Abs. 2 SächsHSG gegenübergestellt werden. Hier räumt das Gesetz in § 10 Abs. 2 SächsHSG der Landesplanung klare Priorität ein. Die strategische Gestaltung der Hochschulen bei ihrer Entwicklungsplanung ist dadurch auf den Vollzug der Landesplanung beschränkt. Abweichungen können mit dem Entzug der Finanzierung sanktioniert werden. Das Instrument der Zielvereinbarung in § 10 Abs. 2 SächsHSG ist zudem hinsichtlich des Regelungsgegenstandes nur rudimentär beschrieben. Die Regelung bleibt hinsichtlich des Verfahrens des Zustandekommens von Zielvereinbarungen völlig offen und lässt sich damit als umfassendes Steuerungsinstrument sowohl im Bereich von Forschung und Lehre als auch des Finanzwesens (vgl. auch § 11 Abs. 6 und 7 SächsHSG) einsetzen. Dies ist gegenüber dem derzeitigen Status kein Autonomiegewinn. Ohne eine Klarstellung des Zustandekommens von Zielvereinbarungen („Gegenstromprinzip“) droht sogar ein Autonomieverlust8. 3. Stärkung der Finanzautonomie Angesprochen ist schließlich die Stärkung der Finanzautonomie in § 11 SächsHSG. 8 Vgl. dazu G. Sandberger, Finanzierung staatlicher Hochschulen über Ziel- und Leistungsvereinbarungen in: Fehling / Kämmerer / Schmidt (Hrsg.), Hochschulen zwischen Gleichheitsidee und Elitestreben, Schriften der Buccerius Law School Bd.I / 5 , 2005, S. 21 ff. m. w. N.
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Dies trifft nur mit Einschränkungen zu. Zwar ist eine staatliche Detailsteuerung der Finanzwirtschaft über die Fachaufsicht nicht mehr möglich. Künftig beschränkt sich die Fachaufsicht auf eine einheitliche Wirtschaftsführung und Rechnungslegung (§ 6 Abs. 2 BNr. 6 SächsHSG). Andererseits ist die Hochschule finanziell weitgehend vom Land als Träger abhängig, zumal § 12 SächsHSG die Gebührenhoheit auf graduale Studiengänge beschränkt und das Erststudium gebührenfrei stellt. Der Modus der Finanzierung und die Verwendung der zugewiesenen Mittel werden in § 11 Abs. 7 SächsHSG mit dem sog. „Dreisäulenmodell“ (Grundfinanzierung, belastungsbezogener Anteil, zusätzliche Finanzierung für neue Entwicklungen) festgeschrieben. Von einer echten Finanzautonomie kann aber keine Rede sein. In der Verbindung der Leistungen für einen wesentlichen Finanzierungsanteil mit erwarteten Ergebnissen und ihrer Kontrolle wird die Finanzwirtschaft zwar flexibilisiert, die Finanzautonomie der Hochschulen aber nur unwesentlich gestärkt. Der Preis der Flexibilisierung des Haushalts ist die Einführung der Instrumente der doppelten Buchführung, der Kosten- und Leistungsrechnung und eines Berichtssystems (§§ 10 Abs. 4 und 11 SächsHSG), die die Steuerungsmöglichkeiten des Staates im Sinne eines Produkthaushalts verfeinern sollen. Würde die in Aussicht gestellte Stärkung der Finanzautonomie ernst genommen, müssten der Hochschule die Instrumente der innerbetrieblichen Steuerung in eigener Verantwortung und Gestaltung überlassen werden, dürfte das Instrument der Zielvereinbarung nur für die Festlegung strategischer Ziele eingesetzt und müsste deren operative Ausführung der Hochschule überlassen werden. 4. Satzungsautonomie Ein Autonomiegewinn ist dagegen in der Fortschreibung der bereits realisierten Satzungsautonomie, insbesondere bei Prüfungsordnungen zu erkennen (§ 13 SächsHSG). Für diese bestehen aber höchst detaillierte Regelungsvorgaben in §§ 32 ff. SächsHSG, deren Einhaltung der Rechtsaufsicht des Ministeriums unterliegt. 5. Neuordnung des Berufungsverfahrens und Zuständigkeit für die Professorenbesoldung Einen Autonomiegewinn stellt schließlich auch die Neugestaltung des Berufungswesens dar. Nach § 60 SächsHSG obliegen Berufungsentscheidungen künftig der Hochschule. Unberührt bleiben aber die Ernennungszuständigkeiten des Ministeriums.
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Dies darf aber nicht zum Anlass umfassender Recherchen und Rückfragen hinsichtlich des Berufungsverfahrens durch das Ministerium genommen werden, da sonst die Deregulierung des Berufungswesens konterkariert würde. Einen Autonomiegewinn bedeutet schließlich die Entscheidungsbefugnis des Rektorats über die Professorenbesoldung (§ 83 Abs. 3 Nr. 9 SächsHSG). Damit wird die bisher in der Hochschulleistungsbezüge – VO v. 10. 1. 20069 geregelte Zuständigkeit hochschulrechtlich verankert. 6. Zwischenergebnis Die Neuregelung des Rechtsstatus der Hochschulen und ihres Verhältnisses zum Staat weist somit widersprüchliche Tendenzen auf: Die volle Rechtsfähigkeit wird den Hochschulen vorenthalten. Durch Delegation von Entscheidungskompetenzen des Landes erweitern sich Entscheidungsspielräume. Die klassischen Aufsichtsinstrumente werden gegenständlich reduziert. Die neuen Steuerungsinstrumente lassen aber eine umfassende Steuerung zu und bedürfen daher gegenständlicher Beschränkung und Autonomiefördernder Verfahrensregelungen. Die Flexibilität der Finanzwirtschaft wird erhöht, gleichzeitig werden neue Steuerungsinstrumente der Finanzsteuerung durch das Land geschaffen.
III. Verbesserung der internen Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit der Hochschulen Schon das SHG bisheriger Fassung sah für das Rektorat weit reichende Entscheidungsspielräume vor. 1. Das SächsHSG 2008 stärkt die Leitungsorgane auf zentraler und dezentraler Ebene, bindet auf zentraler Ebene aber wesentliche strategische Leitungsentscheidungen an die Zustimmung eines mehrheitlich extern besetzten Hochschulrats. Die Stellung der zentralen wie dezentralen Kollegialorgane (Senat, Fakultätsrat) wird dagegen nachhaltig geschwächt: Die des Senats zugunsten des Rektorats und vor allem des Hochschulrats. Die des Fakultätsrats zugunsten des Dekans.
Deshalb ist die Aussage, am bewährten Organisationsprinzip der Gruppenuniversität werde festgehalten10, zu relativieren, da sich Gruppeninteressen nur in Kollegialorganen artikulieren können. 9
Sächsisches GVBl. 1 / 2006, 21.
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Der Akzent des Gesetzes liegt vielmehr erklärtermaßen darin, Entscheidungsvorgänge durch Verschiebung auf Leitungsorgane zu straffen und von Partikularinteressen zu entlasten. Das Bundesverfassungsgericht sieht in dieser Stärkung der Kompetenzen der Leitungsorgane, keine strukturelle Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit. Aus Art. 5 Abs. 3 GG folge für die Verfassung der Selbstverwaltung kein Vorrang von Kollegialorganen gegenüber monokratischen Leitungsorganen11. Dieser viel kritisierte Satz steht aber im Kontext des Hinweises der durch die individuelle Wissenschaftsfreiheit gezogenen Grenzen der Entscheidungsbefugnis der Organe der Hochschule und der Notwendigkeit der Rückkopplung wissenschaftsrelevanter Entscheidungen mit den zentralen und dezentralen Kollegialorganen12. Die entsprechenden Ablaufprozesse werden durch Informationspflichten der Leitungsorgane, Aufsichts- und Partizipationsrechte der Kollegialorgane bei wesentlichen Forschung und Lehre berührenden Fragen gewährleistet. Dem trägt das SächsHSG durch zahlreiche Abstimmungspflichten der Leitungsorgane und Kollegialorgane auf zentraler und dezentraler Ebene Rechnung13. 2. Die Stellung des Rektorats, vor allem die des Rektors wird nachhaltig gestärkt (§§ 82, 83 SächsHSG). Dies äußert sich zum einen in der in § 82 SächsHSG neben den traditionellen Leitungsaufgaben des Rektors vorgesehenen Richtlinienkompetenz (§ 82 Abs. 1 SächsHSG), in den Zuständigkeiten des Rektors im Berufungsverfahren(§§ 60, 61 SächsHSG) , in der Übertragung der Dienstvorgesetzenteigenschaft für das wissenschaftliche Personal auf den Rektor , für das nichtwissenschaftliche Personal auf den Kanzler (§ 78 Abs. 2 SächsHSG), in der Zuständigkeit des Rektorats für die Festsetzung der Leistungsbezügen (§ 83 Abs. 3 Nr. 9 SächsHSG), schließlich in der Zuständigkeit des Rektors für die Freistellung von Dienstaufgaben von Professoren (§ 68 SächsHSG). Zum anderen und vor allem erweitert ein umfassender Zuständigkeitskatalog die Kompetenz des Rektorats für alle wesentlichen strategischen Entscheidungen der Hochschule (§ 83 Abs. 2 und 3 SächsHSG). 3. Das Rektorat ist aber bei diesen Entscheidungen, insbesondere bei der Struktur-, Entwicklungs-, Finanz- und Bauplanung an die Zuständigkeit des Hochschulrats (§ 86 SächsHSG) gebunden, der darüber hinaus neben der Mitwirkung an der Wahl und gegebenenfalls Abberufung des Rektors und des Kanzlers auch die Aufsicht über das Rektorat führt. Verglichen mit den Zuständigkeiten des bisherigen Kuratoriums (§ 97 SHG 1999), dessen Funktion bis auf wenige organisatorische Entscheidungen beratender Natur war, ist dies eine massive Ausweitung von Entscheidungskompetenzen. Vorblatt der Amtlichen Begründung, Fn. 1, unter A I 2, S. 4. BVerfG, Beschluss v. 26. Oktober 2004 – 1 BvR 911, 927, 928 / 00 – Brandenburgisches Hochschulgesetz, BVerfGE 111, 333, 356. 12 BVerfG, vorige Fn., 357 ff. 13 Z. B. § 81 Abs. 1 und 5, 83 Abs. 5, 86 Abs. 1 Nr. 9 u. 10, 88 Abs. 1 Nr. 5, 6, 10, 11, 89 Abs. 1 SHG. 10 11
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Damit tritt keine Reduzierung, sondern eine Vermehrung der Entscheidungsebenen ein, zumal der Senat zwar an Beschlusskompetenzen verliert, aber zu strategischen Entscheidungen Stellung nimmt. Hinzukommen Legitimationsprobleme des Hochschulrats. Als Organ der Körperschaft muss der Hochschulrat durch die Selbstverwaltung legitimiert sein, soweit er staatliche Aufgaben wahrnimmt, auch durch eine auf das Volk zurückgehende Legitimationskette staatlicher Organe (Art. 20 Abs. 2 GG)14. Der Hochschulrat soll nach § 86 SächsHSG zu drei Vierteln aus Externen bestellen. Die Staatsregierung benennt die Hälfte und ein weiteres Mitglied (§ 86 Abs. 2 und 3 SächsHSG), der Senat die restlichen Mitglieder. Die Abberufung einzelner Mitglieder erfolgt durch das Staatsministerium (§ 86 Abs. 3 SächsHSG). Der Hochschulrat ist, da er nicht nur staatliche Aufsichtsaufgaben, sondern auch körperschaftsinterne Aufgaben wahrnimmt, nicht hinreichend aus der Selbstverwaltung der Hochschule legitimiert. Um dieses unter dem Gesichtspunkt des Art. 107 SächsV problematische Legitimationsdefizit zu vermeiden, sollten sämtliche Mitglieder unabhängig vom jeweiligen Vorschlagsrecht vom Senat bestätigt werden. Im Senat soll dem Rektorat und den Dekanen kein Stimmrecht zustehen (§ 81 Abs. 2 SächsHSG). Das BVerfG hat zwar im Beschluss zum brandenburgischen HG sogar die Nichtrepräsentation von Fachbereichen für verfassungskonform erklärt.15 Dennoch erscheint eine solche Regelung bedenklich. Der Senat ist trotz der Beschneidung seiner Zuständigkeiten noch immer ein zentrales Beschlussorgan der Universität, in dem die unterschiedlichen Belange der Fakultäten zum Ausgleich gebracht werden müssen. Deshalb ist der Ausschluss des Stimmrechts der Dekane verfehlt, da erfahrungsgemäß bei Ausschluss des Stimmrechts eine regelmäßige Teilnahme nicht gewährleistet ist. Daher werden bei Beibehaltung der Regelung andere Strukturen institutionalisiert werden müssen, insbesondere die Dekanekonferenz. Der Ausschluss des Stimmrechts der Hochschulleitung im Senat, insbesondere des Rektors, wird der besonderen Verantwortung des Rektorats auch für das ordnungsmäßige Zustandekommen von Beschlüssen im Kernbereich von Forschung und Lehre nicht gerecht. Er wird, wenn der Senat gegen das Votum der Hochschulleitung Beschlüsse fasst, zu einem vermehrten Einsatz des Beanstandungsrechts zwingen.
14 Vgl. dazu zuletzt BVerfG, Beschluss v. 5. 12. 2002 – 2 BvL 5 u. 6 / 98, BVerfGE 107, 59 – Lippe- und Emscherverbandsgesetz. 15 v. 26. 10. 2004, 1 BvR 911 / 00, BVerfGE 111, 333 ff. unter B II, S. 351.
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4. Auf dezentraler Ebene verschiebt das Gesetz behutsam die Kompetenzverteilung zwischen dem Dekan als Leiter und dem Fakultätsrat (§§ 88 ff. SächsHSG), d. h. die Allzuständigkeit für Grundsatzfragen liegt weiter beim Fakultätsrat (§ 88 Abs. 2 SächsHSG); der Dekan hat neben der Aufgabe laufender Verwaltung, der Vorbereitung und des Vollzugs von Entscheidungen des Fakultätsrats eine Auffangzuständigkeit (§ 89 Abs. 1 SächsHSG). Über die Zuweisung von Mittel und Stellen entscheidet er im Benehmen mit dem Fakultätsrat (§ 89 Abs. 1 SächsHSG). Eine erhebliche Beschneidung der Fakultätskompetenzen stellt das außerordentliche Berufungsverfahren des Rektors nach § 61 SächsHSG dar, soweit es sich nicht auf Berufungen in Fakultäten im Aufbau bezieht. Seine Verfassungsrechtliche Vereinbarkeit ist im Hinblick auf Entscheidungen des BVerfG16 problematisch, die die Mitwirkung der Fakultät bei den Berufungen zum Kerngehalt des Art. 5 Abs. 3 GG zählen. Deshalb kommt der in § 61 Abs. 2 SächsHSG vorgeschriebenen vorherigen Abstimmung des Rektors mit dem Fakultätsrat entscheidende Bedeutung zu Auffällig ist auch die schwache Beteiligung der Fakultät bei sie betreffenden Organisationsrechtlichen Entscheidungen. Nach § 83 Abs. 3 Nr. 5 SächsHSG obliegt die Kompetenz dazu im Rahmen der Grundordnung (§ 2 Abs. 2 SächsHSG) dem Rektorat. Erforderlich wäre zumindest ein Anhörungsrecht der Fakultät. 5. Zwischenergebnis: Insgesamt ist das Gewicht der zentralen Ebene gegenüber der dezentralen Ebene im neuen Hochschulgesetz stark ausgeprägt. Der Machtzuwachs des Rektors bzw. Rektorats wird aber durch die Zuständigkeit des Hochschulrats teilweise neutralisiert. Wegen seiner mehrheitlich externen Mitglieder und der Ausgestaltung des Bestellungsverfahrens ergeben sich wegen des schwachen Einflusses der Selbstverwaltungsorgane Legitimations- und in ihrem Gefolge auch Akzeptanzprobleme. Das mehrfach abgestufte Abstimmungsverfahren zwischen Rektorat, Hochschulrat und Senat vermehrt die Entscheidungswege und verbessert nicht die Entscheidungseffizienz.
16 Vgl. insbesondere BVerfG Urteil v. 29. 5. 1973 – 1 BvR 424 / 71 u. 325 / 72, BVerfGE 35, 79, 133,145 – Niedersächsisches Vorschaltgesetz.
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IV. Weitere Problemfelder 1. Definition der Aufgaben der Hochschulen § 5 SächsHSG unternimmt nur in Abs. 1 S. 2 für die Fachhochschulen einen Differenzierungsversuch der Aufgaben einer Hochschule. Im Übrigen wird nur auf das jeweilige Profil der Hochschulart verwiesen, ohne dies zu definieren. In § 5 Abs. 2 SächsHSG ist keinerlei Differenzierung mehr erkennbar. Dies widerspricht dem Ziel einer für die Profilbildung der Hochschulen gebotenen Differenzierung der Hochschularten. Dieser Mangel setzt sich bei der Bestimmung der Aufgaben des Studienangebots (§§ 15 ff. SächsHSG) und der Forschung (§ 45 SächsHSG) fort. Hier sollte ebenfalls eine hochschulartenspezifische Zielsetzung aufgenommen werden. 2. Evaluation, Qualitätssicherung Die Regelung der Evaluation (§ 9 SächsHSG) ist einer der wesentlichen Reformbausteine. Der Inhalt der Evaluation von Forschung und Lehre bleibt dabei weitgehend unklar. § 9 Abs. 1 SächsHSG verpflichtet die Hochschule zur Einführung eines Evaluationssystems, das seinerseits einer Metaevaluation in regelmäßigen Abständen zu unterwerfen ist , ferner zur Veröffentlichung der Ergebnisse der Bewertung. Offen bleibt, ob dies in anonymisierter Form oder mit Namensnennung geschieht. Die Verantwortung für die Qualitätssicherung liegt nach § 83 Abs. 3 Nr. 11 SächsHSG beim Rektorat, auf der Fakultätsebene nach § 88 Abs. 1 Nr. 8 beim Fakultätsrat. Die Primärzuständigkeit steht dabei der Fakultät als der für Lehre und Forschung verantwortlichen Grundeinheit zu, während dem Rektorat Koordinations- und Aufsichtsfunktionen über den Evaluationsprozess obliegen. Die unter Beteiligung des Studentenrats durchzuführende Lehrevaluation soll nach § 9 Abs. 2 SächsHSG auch die Studiengänge umfassen. § 9 Abs. 3 S. 5 SächsHSG sieht als Kern der Lehrevaluation eine Studentenbefragung vor. § 9 Abs. 3 SächsHSG überträgt die Erstellung des Lehrberichts dem Dekan in der Zusammenarbeit mit dem Fakultätsrat und der Studentenvertretung. Bei dem Lehrbericht handelt es sich aber vorrangig um einen Bericht über die Erfüllung der Lehraufgaben, quantitative Erhebungen zur Lehrsituation und einen Bericht über Maßnahmen der Qualitätssicherung und Qualitätsverbesserung der Lehre, der die Durchführung und das das Ergebnis der Lehrevaluation umfasst. Abs. 4 postuliert schließlich eine interne und externe Bewertung der Forschungsleistungen. Diese auf hinreichend im Gesetz bestimmte Kriterien verzichtende Vorgehensweise hat das BVerfG zwar im Fall des brandenburgischen Hochschulgesetzes in der Experimentierphase für zulässig erklärt17. Dennoch wäre im Hinblick auf die 17
Vgl. BVerfG Beschluss v. 26. 10. 2004, 1 BvR 911 / 00, BVerfGE 111, 333, 358 ff.
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längerfristige Entwicklung die Aufnahme von Kriterien und Verfahren unter Berücksichtigung der Entscheidung des BVerfG als Vorgabe für die Ordnung nach § 9 Abs. 5 SächsHSG geboten. Das BVerfG hält zwar mit dem Hinweis auf die Üblichkeit der Bewertung von Forschungsleistungen im Wissenschaftsbetrieb die Bewertung wissenschaftlicher Qualität grundsätzlich mit Art. 5 Abs. 3 GG vereinbar, fordert aber, dass die für die Evaluation benutzten Bewertungskriterien hinreichenden Raum für wissenschaftseigene Orientierungen lassen, unter angemessener Beteiligung der Vertreter der Wissenschaft festgelegt werden und den disziplinenspezifischen Unterschieden der Forschung gerecht werden18. Die vom Senat zu erlassende Evaluationsordnung muss diese Lücke des Gesetzes unter Beachtung der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Grundsätze schließen. Eine zentrale Regelungsaufgabe ist dabei ein die Freiheit von Forschung und Lehre gewährleistendes Verfahren sowie die Sicherstellung des Datenschutzes. 3. Satzungswesen § 13 Abs. 4 SächsHSG enthält eine weitgehende Entmachtung des Senats als Satzungsorgan, insbesondere bei Promotionsordnungen und Habilitationsordnungen der Fakultäten, bei Prüfungsordnungen soll der Senat nur gehört werden („Benehmen“). Auch wenn die fachliche Verantwortung für Prüfungsordnungen bei der Fakultät liegt, erscheint die Beschränkung der Satzungskompetenz des Senats im Interesse der Gewährleistung von Qualitätsstandards, einheitlicher Verfahrensanforderungen und Transparenz nicht sinnvoll. Erfahrungsgemäß hat sich die mit der Beschlusskompetenz des Senats verbundene Überprüfung von Satzungsvorlagen als sinnvoll erwiesen. Entfällt diese, trägt künftig das Rektorat im Rahmen seiner Genehmigungszuständigkeit die gesamte Verantwortung für ordnungsmäßige Prüfungsordnungen. 4. Deregulierung Die Gesetzesbegründung verspricht Deregulierung19. Am Umfang des Gesetzes gemessen ist aber keine nachhaltige Deregulierung erkennbar. Vielmehr werden auf weite Strecken bestehende Regelungen fortgeschrieben. Deregulierung müsste sich vor allem in einer Erweiterung der Organisationsund Satzungsautonomie niederschlagen. Zwar sind, wie ausgeführt, Autonomiegewinne in Form der Delegation von Entscheidungen auf die Hochschule festzustellen. Jedoch wird der Körperschaft wei18 19
BVerfG, a. a. O. Vgl. Begründung, AI 4, S. 5.
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terhin die volle Rechtsfähigkeit in personalrechtlichen und finanzwirtschaftlichen Entscheidungen vorenthalten. Ebenso ist der Gewinn an Organisationsautonomie bescheiden. Diese beschränkt sich im Wesentlichen auf die Organisationsgestaltung unterhalb der zentralen Ebene der Hochschule.
V. Gesamtbewertung Das Gesetz wird bei einer Gesamtbetrachtung deshalb den in der allgemeinen Begründung angegebenen Zielen der Novellierung nur teilweise gerecht. Der Autonomiegewinn der Hochschulen ist insgesamt gesehen bescheiden. Der Abschaffung des doppelten Rechtsstatus der Hochschulen als Körperschaften des öffentlichen Rechts und staatliche Einrichtungen entspricht keine nachhaltige Reduktion staatlicher Ingerenzmöglichkeiten über die Instrumente der Fachaufsicht. Das Instrument der Zielvereinbarungen, das eine Detailsteuerung durch Globalsteuerung ersetzen soll, ist wenig hochschulfreundlich ausgestaltet. Es wird mit der Hochschulplanung verknüpft, die starke Elemente einer Steuerung durch das Ministerium aufweist. Die in Aussicht gestellte Stärkung der Organisationsautonomie wirkt sich nur auf der Ebene der Fakultät und der nachfolgenden Ebene (Institute, Zentren)aus. Die Experimentierklausel ist auf neue Formen der Lehrorganisation, neue Formen des Berufungswesens und Organisationsstrukturen unterhalb der zentralen Ebene beschränkt. Die Genehmigung einschlägiger Regelungen in der Grundordnung kann auch aus fachlichen Gründen versagt werden. Einen Autonomiegewinn stellt demgegenüber die Neuordnung des Berufungswesens dar. Bei der Gestaltung der Leitungsorganisation folgt das Gesetz dem Muster vorausgegangener Ländergesetze. Die schon bisher starke Stellung des Rektorats wird im Sinne einer Allzuständigkeit weiter gestärkt, der Rektor erhält neben den bisherigen Zuständigkeiten die Richtlinienkompetenz. Allerdings ist das Rektorat bei nahezu allen wichtigen strategischen Entscheidungen an die Zuständigkeit des Hochschulrats gebunden. Dieser hat neben der Beteiligung bei der Wahl des Rektorats und Aufsichtsfunktionen wesentliche Beschlusskompetenzen im Bereich der Organisation, des Finanzwesens und der strukturellen und baulichen Entwicklung der Hochschule. Dabei sind Entscheidungen berührt, die Forschung und Lehre unmittelbar betreffen. Unter diesem Aspekt weist der Hochschulrat Legitimationsdefizite auf, die die Frage der Verfassungskonformität (Art. 107 SächsV) stellen. Das Bestellungsverfahren räumt der Universität nur für einen Teil der Mitglieder umfassende Mitwirkungsrechte ein, nicht aber für die größere Zahl der überwiegend nicht der Hochschule angehörenden Mitglieder. Diese Legitimationsdefizite lassen sich nur bei einer Bestätigung aller Mitglieder durch den Senat beheben.
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Demgegenüber wurden die Zuständigkeiten des Senats erheblich reduziert. Für Entscheidungen im Kompetenzkatalog des Hochschulrats steht ihm nur ein Recht der Stellungnahme zu. Auch seine Satzungskompetenz wurde zugunsten der dezentralen Organe beschnitten. Im Übrigen ist der Senat auf klassische Kernaufgaben im akademischen Bereich beschränkt. Auf dezentraler Ebene verschiebt das Gesetz dagegen die Gewichte zwischen dem Fakultätsrat und dem Dekan behutsamer als andere Hochschulgesetze. Allerdings wird mit der Neugestaltung des Berufungswesens der Einfluss des Rektorats zu Lasten der Fakultät vor allem bei den außerordentlichen Berufungsverfahren empfindlich geschwächt. Dagegen erfährt die Fakultät im Bereich der Satzungen, insbesondere der Prüfungsordnungen eine Stärkung auf Kosten des Senats. In dem für die Freiheit von Forschung und Lehre sensitiven Bereich der Evaluation lässt das Gesetz klare Maßstäbe und Verfahrensgarantien zugunsten der betroffenen Mitglieder der Universität, aber auch der Fakultäten vermissen. Insgesamt liegt das neue Hochschulgesetz damit weitgehend auf der Hauptlinie der jüngsten Ländernovellen. Seine lange Inkubationszeit hat keine wirklichen Innovationen hervorgebracht, sondern nur Blaupausen des bereits in anderen Bundesländern Geregelten. Die mit der Föderalismusreform verbundene Freiheit des Landesgesetzgebers neue Wege zu gehen, wurde unter dem Druck des langen Vorlaufs und der zu Ende gehenden Legislaturperiode nicht genutzt. Es ist deshalb absehbar, dass die permanente Hochschulreform weitergehen wird. Für die 600-Jahre alte Universität Leipzig gilt aber in Abwandlung des berühmten Satzes von Otto Mayer20, der seit 1903 an der Juristenfakultät der Universität Leipzig gelehrt hat: Die Universität besteht, das Hochschulrecht vergeht.
20 „Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht“, Deutsches Verwaltungsrecht, 3. Aufl.1924, Vorwort; Nachdruck der 3. Aufl. Berlin 1969.
V. Entwicklungen im Recht – Beiträge aus den Fachbereichen
Das Schicksal des BGB im Prozess der Europäisierung des Zivilrechts Vom Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) zum Europäischen Zivilgesetzbuch (EU-ZGB)? Von Franz Häuser
Vorbemerkung Im Einklang mit einer langen akademischen Tradition in den Universitäten hält auch in der Universität Leipzig ein antretender Rektor nach seiner nicht selten feierlichen Einführung in das Amt eine Antrittsrede und wählt dafür häufig ein Thema aus, das seinem engeren wissenschaftlichen Fachgebiet entstammt.1 Früher hing diese fachbezogene Themenwahl sicherlich auch damit zusammen, dass der Vortragende nur für ein oder zwei Semester in das Rektoramt gewählt wurde, sich also nach wie vor seiner Wissenschaft eng verbunden wusste. Bei diesen Reden, die im Archiv unserer Universität zumindest für die letzten einhundert Jahre überliefert sind,2 handelt es sich auf der einen Seite oft um eindrucksvolle Zeugnisse des aktuellen Kenntnisstands der angesprochenen Wissenschaft, manchmal freilich aber auch um Dokumente einer nicht immer überzeugenden Auseinandersetzung mit dem jeweils vorherrschenden Zeitgeist. Mit Rücksicht auf zeitbedingte hochschulpolitische Umstände hatte ich in den Reden zu meinen beiden Amtsantritten als Rektor der Universität Leipzig, zunächst im Frühjahr und dann Winter des Jahres 2003, diese schöne akademische Übung eher unfreiwillig verlassen und vor allem in meiner Antrittsrede im Winter 2003 hochschulpolitische Fragen in den Vordergrund der Betrachtung gerückt, u. a. auch den Stellenwert der akademischen Selbstverwaltung vor sich wandelnden Herausforderungen.3 In meiner Rede zu Beginn der zweiten regulären Amtsperiode am 1. Dezember 2006, vorgetragen im Mendelssohn-Saal des Gewandhauses zu Leipzig, kehrte ich zu der erwähnten Tradition zurück. Der vorliegende Bei1 Vgl. Rusinek, Magnifizenz hatten Sorgen, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. 11. 2002 / Nr. 279, S. 39. 2 Vgl. dazu Häuser (Hrsg.), Die Leipziger Rektoratsreden 1871 bis 1933, 2009. 3 Leipziger Universitätsreden, Neue Folge Heft 94: Reden zum Rektoratswechsel 2003, S. 17 ff., 86 ff.
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trag, der sich mit dem Schicksal des BGB im Prozess der Europäisierung des Zivilrechts befasst und den ich zur Festschrift der Juristenfakultät zum 600jährigen Jubiläum der alma mater lipsiensis gerne beisteuere, beruht im Wesentlichen auf dieser Antrittsrede, und zwar in einer aktualisierten und um einige Nachweise ergänzten Fassung. Bei dieser Antrittsrede am 1. 12. 1006 war sowohl der enge zeitliche Rahmen, der zur Verfügung stand, zu berücksichtigen als auch dem Risiko vorzubeugen, mit der Wahl eines Themas aus meinem Fachgebiet der Rechtswissenschaft das Interesse und damit die Aufmerksamkeit der Zuhörer zu verfehlen. Um dieses Risiko zu mindern, ließ ich mich bei der Themenwahl von einem Leitartikel von Joachim Jahn in der Frankfurter Allgemeine Zeitung inspirieren, die am 18. 10. 2006 auf ihrer Titelseite mit einem Beitrag aus seiner Feder aufmachte, der als Überschrift die programmatische Aufforderung trug: „Rettet das BGB vor Brüssel“.4 Die Frankfurter Allgemeine Zeitung wendet sich bekanntlich an einen Leserkreis, der weitgehend vergleichbar zusammengesetzt sein dürfte wie der Zuhörerkreis bei der Amtseinführung im Mendelssohn-Saal des Gewandhauses zu Leipzig, eingedenk der bekannten werblichen Selbsteinschätzung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Dahinter steckt immer ein kluger Kopf.“ I. Gang der Darstellung Im Folgenden soll also die Aufmerksamkeit auf das „Schicksal des BGB im Prozess der Europäisierung des Zivilrechts“ gelenkt werden. Es handelt sich um eine ungemein aktuelle rechtspolitische Problemstellung, die man auch in die Frageform des Untertitels fassen kann: „Vom BGB zum EU-ZGB?“, also vom Bürgerlichen Gesetzbuch zum Europäischen Zivilgesetzbuch? Eine Antwort auf diese Frage zu geben, soll in drei Schritten versucht werden. Zunächst: Warum erscheint uns das BGB auch heute noch als ein bewahrens- und deshalb schützenswertes Werk der Gesetzgebung? (dazu II.). Immerhin ist es als Kodex vor neun Jahren 100 Jahre alt geworden.5 Beredter Ausdruck einer entsprechenden Grundeinstellung ist es doch offenbar, wenn beispielsweise, wie erwähnt, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach seiner „Rettung“ gerufen wird. Was macht eigentlich die Überlebenskraft des BGB aus? Anschließend ist auf die Frage einzugehen, welche Gefahren dem BGB von „Brüssel“, genauer von Seiten der Gesetzgebung der 4 Vgl. den allgemeinen Überblick zur Berichterstattung über das BGB in der Tagespresse bei H. Hattenhauer, Das BGB in der Zeitung, Festschrift für Hadding, 2004, S. 56 ff. Zur parallelen rechtpolitischen Fragestellung mit Blick auf das schwOR Huguenun, Ein neues Obligationenrecht für die Schweiz?, Neue Zürcher Zeitung vom 16. 2. 2007 / Nr. 39, S. 29. 5 Vgl. die Beiträge zum 100 Geburtstag: Schmoeckel, 100 Jahre BGB: Erbe und Aufgabe, NJW 1996, 1697; Stürner, Der hundertste Geburtstag des BGB – nationale Kodifikation im Greisenalter?, JZ 1996, 741; Horn, Ein Jahrhundert Bürgerliches Gesetzbuch, NJW 2000, 40; Eisenhardt, 100 Jahre BGB, 2001, S. 3.
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europäischen Union, eigentlich drohen? (dazu III.). Zu diesem Aspekt darf man eingangs nicht unberücksichtigt lassen, welche europäisch veranlassten Änderungen das BGB schon bisher und mit welchen Konsequenzen über sich hat ergehen lassen? Die gesetzgeberischen Aktivitäten der Europäischen Union, die sich unmittelbar auf das Privatrecht auswirken, sind nämlich nicht alle neueren Datums. Und schließlich richtet sich das Interesse auf die Frage: Wie sieht die Perspektive des BGB insgesamt in einem künftigen europäischen Zivilrechtskontext aus? (dazu IV.) Gerade die hier auch anzutreffende Vision eines Europäischen Zivilgesetzbuches ist es doch offenbar, die gegenwärtig erneut die Verteidiger des BGB auf den Plan ruft und, so wird im Schrifttum6 festgehalten, „auf manche Juristen auch außerhalb des Vereinigten Königreichs wie ein rotes Tuch zu wirken scheint“ (dazu V.). II. Warum ist das BGB bewahrens- und schützenwert? Das BGB steht als ein grundlegendes Gesetzbuch offenbar nach wie vor nicht nur bei Juristen in einem hohen Ansehen.7 Denn sobald Bestrebungen zu einer weitreichenden Reform, und zwar auch unabhängig von einem europäischen Kontext, öffentlich werden, folgt ihnen meistens unverzüglich der Ruf auf dem Fuße: „Kein Abschied vom BGB!“8 Diese nicht selten zu vernehmende Verteidigung legt es nahe, in knappen Strichen darauf einzugehen, welche Gesichtspunkte den besonderen Stellenwert dieses Werkes der Gesetzgebung ausmachen, von denen einige es nach wie vor so bewahrenswert erscheinen und die es mit den europäischen Entwicklungen im Kontrast stehen lassen. 1. Entstehungsgeschichte Der Blick in die Entstehungsgeschichte des BGB9 verweist uns darauf, dass nach der Gründung des deutschen Reiches im Jahre 1871 alsbald die Forderung 6 V. Bar, Der gemeinsame Referenzrahmen für das marktrelevante Privatrecht in der europäischen Union, Festschrift für Jayme, Bd. 2, 2004, S. 1217, 1219. 7 Vgl. zuletzt H. Honsell, Die Erosion des Privatrechts durch das Europarecht, ZIP 2008, 621: „Kodifikation von Weltrang“. Der Historiker Thomas Nipperdey kennzeichnete das BGB „als größte rechtspolitische Leistung der Zeit“, in: Deutsche Geschichte 1866 – 1918, Bd. 2, 1992, S. 193. 8 So Ernst Wolf, ZRP 1982, 1, mit dem Untertitel „Absage an die geplante Neuordnung des Schuldrechts“; vgl. auch ders., Das BGB, eine unverzichtbare Grundlage des Rechtsstaates, ZRP 1983, 241; ders., Der Kampf gegen das BGB, Festschrift für G. Müller, 1981, S. 863. 9 Vgl. aus neuerer Zeit Schulte-Nölke, Die schwere Geburt des Bürgerlichen Gesetzbuches, NJW 1996, 1705; ferner Coing / Honsell, in: Staudinger / Eckpfeiler 2005, Einl. zum BGB, S. 2 ff.; Brox / Walker, Allgemeiner Teil des BGB, 32. Aufl. 2008, RdNr. 21; Lüderitz, Kodifikation des bürgerlichen Recht in Deutschland 1873 bis 1977: Entstehung, Entwicklung
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nach einem reichseinheitlichen Gesetzbuch für den privaten Rechtsverkehr erhoben wurde. Die Gesetzeslage auf dem Territorium des geeinten deutschen Reiches war nämlich ungemein unübersichtlich. Es galten territorial und historisch bedingt ganz unterschiedliche Privatrechtsordnungen und -systeme, beispielsweise französisches Recht (code civil), das allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten (ALR), bayerisches, natürlich auch sächsisches (Sächsisches BGB)10 und stets nur subsidiär geltendes gemeines, also rezipiertes römisches Recht.11 Nach einer Änderung der Reichsverfassung im Jahr 1873, die dem Reich die Kompetenz zur entsprechenden Gesetzgebung brachte, begannen anschließend die Arbeiten in Kommissionen im Jahre 1874 und dauerten einschließlich der parlamentarischen Beratung bis zur Verabschiedung im Reichstag im Jahre 1896 sage und schreibe also 24 Jahre. Der namhafte Leipziger „Pandektist“ Bernhard Windscheid (1817 – 1892),12 dessen Portraitgemälde aus der Ordinariengallerie unserer Juristenfakultät das Dienstzimmer des Rektors ziert, war einer der führenden Köpfe in der ersten Kommission.13 Als das BGB dann am 1. 1. 1900 in Kraft trat, sah man darin einen Glanzpunkt der deutschen Privatrechtsgeschichte; es fand international Anerkennung und Nachahmung14 und galt in der Tat als „Denkmal der Rechtskultur“, hatte es doch den Deutschen nach Jahrhunderten der Rechtszersplitterung die „lang ersehnte Rechtseinheit gebracht“, so die gängige Formulierung aus jener Zeit, und zwar eine Rechtseinheit in den Kernbereichen der privatrechtlichen Verhältnisse, schwerpunktmäßig im Güter- und Dienstleistungsverkehr sowie der Zuordnung von Gütern und deren Schutz, aber auch mit Blick auf die familien- und erbrechtlichen Rechtsverhältnisse. und Aufgabe, in: BMJ (Hrsg.), Vom Reichsjustizamt zum Bundesministerium der Justiz, 1977, S. 213 ff.; grundlegend Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 468 ff. 10 Vgl. dazu Buschmann, Das Sächsische Bürgerliche Gesetzbuch von 1863 / 65 – Vorläufer und Muster des BGB, JuS 1980, 553. 11 Vgl. den Überblick über das in Deutschland vor 1900 geltende Zivilrecht bei Sturm, Der Kampf um die Rechtseinheit in Deutschland – die Entstehung des BGB und der erste Saudinger, in: STAUDINGER-Symposion, 1998, S. 13, 14 ff. und die Übersicht in der Anlage I der Denkschrift zum E-BGB, 4. Aufl. 1896, S. 450 = Mugdan Bd. I, 1899, S. 844. 12 Zu ihm Bekker, Vier Pandektisten, in: Festschrift der Universität Heidelberg, 1903, Bd. 1, S. 135, 187 ff.; Planck, Windscheid als Mitarbeiter am Bürgerlichen Gesetzbuch, Festgabe der DJZ zum 500jährigen Jubiläum der Universität Leipzig, 1909, Sp. 103 ff.; Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918, Bd. 2, S. 195; Horn NJW 2000, 40, 41; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 473. 13 Aus der Leipziger Juristenfakultät war an der Abfassung der BGB E I auch der Romanist Rudolf Sohm (1841 – 1917) beteiligt. Er war auch nicht ständiges Mitglied der 2. Kommission sowie Kommissar des Bundesrates und hielt eine der drei Einbringungsreden zum 2. Entwurf im Reichstag; dazu H. Hattenhauer, Festschrift für Hadding, 2004, S. 57, 59. 14 Der Einfluss des BGB auf mehrere ausländische Rechtsordnungen war Gegenstand zahlreicher Beiträge der Tagung der Zivilrechtslehrervereinigung am 27. 9. 1999 in Salzburg; vgl. dazu die in AcP 200 (2000), 365 ff. veröffentlichten Referate; ferner Leser, in: Eisenhardt (Hrsg.), 100 Jahre BGB, 2001, S. 39 ff.
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2. Charakteristika a) Kodifikationsgedanke Leitet man von dieser historischen auf die inhaltliche und strukturelle Perspektive über, so ist zunächst festzuhalten, dass der Kodifikationsgedanke im BGB in herausragender Weise zum Tragen kam, nämlich das Anliegen, eine Großmaterie, eben das bürgerliche Recht, in einem einzigen Gesetzbuch, eben in einem Kodex insgesamt zu erfassen, und zwar nach durchgängig einheitlichen Maßstäben zu ordnen und systematisch zu gliedern sowie – eher formal – mit durchlaufender Paragraphenzählung.15 Die Intension der Kodifikation war freilich nicht auf eine reformerische Neuschöpfung, sondern auf eine vereinheitlichende Zusammenfassung des Bestehenden und dessen Systematisierung gerichtet, „mehr Abschluss als Neubeginn“.16 b) Sozialmodell Man führte also römische und deutsche Rechtstraditionen zusammen und orientierte sich am Sozialmodell des freien, selbst verantwortlichen Wirtschaftsbürgers.17 Die tragenden rechtspolitische Säulen waren die formale Rechtsgleichheit aller Bürger, ihre Freiheit des Abschlusses und der inhaltlichen Gestaltung von Verträgen, ihre Verfügungsfreiheit über das Eigentum und dessen Schutz sowie ihre Testierfreiheit als Erblasser über den Nachlass. c) Sprache und Regelungstechnik Die im 19. Jahrhundert vorherrschenden rechtswissenschaftlichen Anschauungen prägten die Sprache und die Regelungstechnik.18 Man hatte insbesondere aus dem rezipierten römischen Recht, das seinerseits vornehmlich Fallrecht war, abstrakte Rechtssätze und Rechtsbegriffe heraus destilliert und in systematischer geordneter Form dargestellt. Gesetzgebungstechnisch verfolgte man im Einklang mit dem romanistischen Forschungsansatz eine „abstrahierend-generalisierende Methode“: an die Stelle eines konkreten anschaulichen Beispiels trat der abstrakt15 Vgl. dazu B. Mertens, Gesetzgebungskunst im Zeitalter der Kodifikationen, 2006; Coing / Honsell, in: Staudinger / Eckpfeiler, 2005, Einl. zum BGB, S. 5 f. Horn NJW 2000, 40, 41, spricht von einer „verspäteten Kodifikation“. 16 So Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918, Bd. 2, S. 194. 17 Vgl. dazu und zur Kritik Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatgesetzbücher und die Entwicklung der modernen Gesellschaft (1953), wieder abgedruckt in: Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, 1974, S. 9, 14 ff.; Brox / Walker, Allgemeiner Teil des BGB, 32. Aufl. 2008, RdNr. 25; Coing / Honsell, in: Staudinger / Eckpfeiler 2005, Einl. zum BGB S. 2 ff.; Schön, Festschrift für Canaris, Bd. 1, 2007, S. 1191 ff. Nach Horn NJW 2000, 40, ist dieses Sozialmodell noch immer insofern modern, als es die Existenzbedingungen einer jeden freien Wirtschaftsordnung gestaltete. 18 Horn NJW 2000, 40, 41.
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generelle Begriff, der es erlaubte, eine unbestimmte Vielzahl von Anwendungsfällen möglichst lückenlos zu erfassen. Um wiederholende Regelungen zu vermeiden und gleichzeitig die Systematik des Gesetzes zu fördern, zog man bestimmte, in unterschiedlichen rechtlichen Zusammenhängen, aber mit stets derselben Bedeutung vorkommende Rechtsfiguren „vor die Klammer“.19 Dieses logische Aufbauprinzip, nämlich das Allgemeine dem Besonderen voranzustellen, durchzieht das gesamte BGB und wird am deutlichsten sichtbar in der Voranstellung des „Allgemeinen Teil“ im ersten der insgesamt fünf Bücher (Teile) des BGB.20 Es handelt sich um eine nicht unumstrittene Methode der Gesetzgebung, die als ein spezifisch deutsches Produkt gilt.21 d) Gesetzbuch für Juristen Aus all’ dem folgt freilich als wichtiges und nicht zu übersehendes Kennzeichen, dass sich das Gesetzbuch als Adressaten an den gelehrten und ausgebildeten Juristen wendet und nicht an den rechtunkundigen Bürger, der aber gleichwohl rechtsunterworfen ist.22 Denn im einzelnen Fall ergibt sich die nach BGB maßgebliche Rechtslage meistens nicht aus einer einzelnen und problemlos zu findenden sowie verständlichen Vorschrift, sondern sie erschließt sich regelmäßig erst aus dem Zusammenspiel mehrerer, nicht selten verstreut im Gesetzbuch stehender Vorschriften, einem Zusammenspiel, das man in seinen systematischen Zusammenhängen kennen, also zuvor gelernt und verstanden haben muss. Außerdem hat der historische Gesetzgeber häufig Fragen ausdrücklich ausgeklammert und nicht eigens geregelt, sondern er vertraut in den Materialen darauf, dass die Antwort für den ausgebildeten Juristen selbstverständlich ist,23 was hoffentlich nach wie vor zutrifft. Dazu Brox / Walker, Allgemeiner Teil des BGB, 32. Aufl. 2008, RdNr. 37. Horn NJW 2000, 40, 41. „Zur Frage des Allgemeinen Teils“ den Exkurs bei Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 486. Zur Kritik Otto von Gierkes am Allgemeinen Teil H. Hattenhauer, Festschrift für Hadding, 2004, S. 63. 21 Sie geht zurück auf das Werk von Heise, Grundriß eines Systems des gemeinen Zivilrechts zum Behuf von Pandektenvorlesungen, 1807; dazu Bekker, Vier Pandektisten, in: Festschrift der Universität Heidelberg, 1903, Bd. 1, S. 135, 160 ff. Die Einteilung in fünf Bücher hat gesetzgeberisch zunächst das Sächsischen BGB aufgegriffen; dazu Buschmann, JuS 1980, 553. 22 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918, Bd. 2, S. 199; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 478: für den „wissenschaftlich ausgebildeten Richter“. 23 Horn NJW 2000, 40, 42. Dazu äußerten sich auch warnende Stimmen, so die von Lobe, Was verlangen wir von einem bürgerlichen Gesetzbuch. Ein Wort an den Reichtag, 1896, S. 42 ff., das Gesetzbuch dürfe sich nicht allein an Juristen wenden und das an Händen und Füßen gebundene Volk jenen ausliefern. Dazu auch H. Hattenhauer, Festschrift für Hadding, 2004, S. 57, 73, der von der „Quadratur des Kreises einer allgemein verständlichen und dennoch technisch befriedigenden Rechtssprache“ spricht. 19 20
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e) Abstraktionsgrad der Vorschriften als kritischer Punkt Die angestrebte systematische Geschlossenheit sowie eine oft als spröde empfundene Wortwahl haben dem BGB nicht nur Freunde gebracht. So beanstanden Kritiker seine Vorschriften wegen des hohen Abstraktionsgrads als unanschaulich. Befürworter halten dagegen, dass nur eine solche abstrahierende Art der Regelung überhaupt in der Lage ist, vielfältige und sich wandelnde Lebenssachverhalte einheitlich zu erfassen und eine Offenheit für künftige Entwicklungen zu gewährleisten. Geradezu handgreiflich wird dieses Potential für künftige Entwicklungen, wenn man sich die großen, mehrbändigen Kommentare zum BGB vor Augen hält, in denen sich der Interpretationsreichtum zu dem Gesetz entfaltet und die vor allem die jeweiligen Bewährungsproben in der Praxis, insbesondere der Judikatur dokumentieren und diskutieren. Einer dieser aktuellen Großkommentare, nämlich der „Staudinger“, soll es am Ende auf 60.000 Seiten bringen, und zwar aus der Feder von 132 Autoren aus Rechtswissenschaft und Praxis.24 f) Methodenlehre als Anpassungshilfe Zur Anpassungs- und Entwicklungsfähigkeit tragen die herrschenden Methoden der Gesetzesauslegung das Ihrige bei,25 so wenn die normative Festlegung des Gesetzgebers nicht als leblose Begrifflichkeit, sondern als eine Entscheidung über die Präferenz in einer bestimmten Interessenlage verstanden wird („Interessenjurisprudenz“)26 und wenn bei einem strittigen Verständnis einer Vorschrift deren Zweck (telos) als leitendes Kriterium für die Auslegung in den Vordergrund gerückt wird („Wertungsjurisprudenz“).27 g) Generalklauseln Die Flexibilität des BGB beruht auch auf als Generalklauseln formulierten Tatbestandmerkmalen einzelnen Vorschriften.28 Der Verweis auf die gute Sitten (§ 138 Abs. 1 BGB) oder Treu und Glauben (§ 242 BGB) sowie die MaßgeblichHorn NJW 2000, 40, 45. Horn NJW 2000, 40, 45. 26 Nur Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung, 1921; ausführlich Schoppmeyer, Juristische Methodenlehre als Lebensaufgabe, 2001; von Hippel, Die Tübinger Schule der Interessenjurisprudenz, Festschrift für Reinhardt, 1972. 27 Coing / Honsell, in: Staudinger / Eckpfeiler 2005, Einl. zum BGB S. 24 ff.; Horn NJW 2000, 40, 45. Zur Kritik Herzberg, NJW 1990, 2525 28 Dazu vor allem Hedemann, Die Flucht in die Generalklauseln, Eine Gefahr für Recht und Staat, 1933, S. 10 ff.; dazu Larenz, ZHR 100 (1934), 378; ferner Horn NJW 2000, 40, 44; Jan Schröder, Zivilrechtliche Generalklauseln in der Methodendiskussion des frühern 20. Jahrhunderts, in: Festschrift für Holzhauer, 2005, S. 265; Coing / Honsell, in: Staudinger / Eckpfeiler 2005, Einl. zum BGB S. 8. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 476. 24 25
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keit eines wichtigen Grundes (§ 626 BGB) u.ä. vermögen als Einfalltore im Wege der rechtsschöpferisch konkretisierenden Auslegung auch einen Wechsel von Wertvorstellungen ohne Änderung des Textes zu integrieren, und zwar sowohl im Guten: z. B. grundrechtliche Werteordnung des GG,29 als auch im Schlechten: z. B. nationalsozialistische Weltanschauung.30 3. Überlebenskraft Das BGB ist ein anschauliches Beispiel für die Spruchweisheit: Totgesagte leben länger. Denn seine liberale Grundhaltung stand vor allem im Widerspruch zu den freiheitsfeindlichen ideologischen Positionen der beiden Diktaturen auf deutschen Boden im letzten Jahrhundert. Die Nationalsozialisten planten ein sog. Volksgesetzbuch und betrauten mit der Ausarbeitung eine Akademie für Deutsches Recht. Im Ergebnis hatte das Kriegführen einen höheren Stellenwert als die Rechtspolitik, so dass die Arbeiten an dem Volksgesetzbuch ein Opfer des Zweiten Weltkrieges wurden. In der DDR löste das ZGB, also das Zivilgesetzbuch, das BGB im Jahre 1975 ab, um sowohl die Eigenstaatlichkeit der DDR zu betonen als auch die Vorzüge einer sozialistisch geprägten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung herauszustellen, allerdings nur mit einer „Verfallsdauer“ von 14 Jahren.31 Der Einigungsvertrag setzte das BGB in den neuen Bundesländern wieder in Kraft.32 Das BGB ist natürlich nicht stehen geblieben und auch nicht nur durch Rechtsprechung und Lehre, sondern auch durch den Gesetzgeber weiterentwickelt worden,33 davon legen die mehr als 150 Änderungsgesetze beredtes Zeugnis ab,34 die es gesetzgeberisch immer wieder den wirtschaftlichen und sozialen Wandlungen vor allem auch im Familienrecht 35 angepasst haben. Horn NJW 2000, 40, 44. Carl Schmitt, JW 1934, 717; dazu Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 5. Aufl., 1997, S. 175. Zur Abhängigkeit z. B. des Menschenbildes einer Rechtsordnung von der jeweils herrschenden Weltanschauung Häuser, Das Menschbild in der Rechtswissenschaft, in: Biskup / Hasse (Hrsg.), Das Menschbild in Wirtschaft und Gesellschaft, 2000, S. 161, 177 ff. 31 Dazu Horn NJW 2000, 40, 44; ferner Roggermann, Das Zivilgesetzbuch der DDR von 1975, NJW 1976, 393. 32 Nach Horn NJW 2000, 40, 44, ist die dadurch wiederhergestellte Rechtseinheit auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts ein bedeutender rechtspolitischer Erfolg dieses Vertragswerks. 33 Dazu Lüderitz, Kodifikation des bürgerlichen Rechts in Deutschland 1873 bis 1977: Entstehung, Entwicklung und Aufgabe, in: BMJ (Hrsg.), Vom Reichsjustizamt zum Bundesministerium der Justiz, 1977, S. 213 ff.; ferner H. Hübner, Die Entwicklung des bürgerlichen Rechts in Deutschland seit dem Inkrafttreten des BGB, in: Beiträge zum Deutschen und israelischen Privatrecht, 1977, S. 31 ff. 34 Horn NJW 2000, 40, 42. 35 Dazu ausführlich Frank, 100 Jahre BGB-Familienrecht zwischen Rechtspolitik, Verfassung und Dogmatik, AcP 200 (2000), 400 ff.; ferner Horn NJW 2000, 40, 42, 43. 29 30
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III. Europäisch veranlasste Änderungen Solche Novellierungen des BGB sind in den letzten drei Jahrzehnten zunehmend unter dem Einfluss der Europäisierung des Privatrechts zustande gekommen. Der gemeinsame Binnenmarkt und die Grundfreiheiten des EG-Vertrages verlangen offenbar auch nach einer Angleichung der mitgliedstaatlichen Privatrechte.36 Wettbewerbsverzerrungen durch unterschiedliche privatrechtliche Rahmenbedingungen sollen durch Harmonisierung abgebaut und vor allem der Verbraucherschutz befördert werden. 1. Kennzeichen der Richtliniengesetzgebung Um solche Ziele zu verwirklichen, hat der Gemeinschaftsgesetzgeber eine Fülle von Richtlinien insbesondere im Bereich des allgemeinen und besonderen Vertragsrechts erlassen, die das BGB mittlerweile erheblich „umgekrempelt“ haben.37 Eine Richtlinie als Form der Gesetzgebung der europäischen Gemeinschaft führt zu einem zweistufigen Verfahren der Rechtssetzung: denn Richtlinien selbst gelten grundsätzlich nicht unmittelbar gegenüber den Unionsbürgern, sondern bedürfen noch der Umsetzung durch die nationalen Gesetzgeber. Der europäische Gesetzgeber wendet sich also an die Mitgliedstaaten und legt das angestrebte Ziel verbindlich fest, Methode und nähere Ausgestaltung bleiben den nationalen Gesetzen zur Umsetzung überlassen (Art. 249 Abs. 3 = ex Art. 189 Abs. 3 EGV). Sie sollen die Vorgaben der Richtlinien in ihr Recht systemkonform und in Einklang mit ihrer Rechtskultur eingliedern. Gleichzeitig folgt daraus insbesondere nach Ansicht des EuGH38 die Pflicht der nationalen Gerichte zu einer richtlinienkonformen Anwendung des umgesetzten Rechts (Art. 10 EGV).39 2. Praxis des deutschen Gesetzgebers Schaut man auf 25 Jahre deutscher Gesetzgebungspraxis, so lässt sich keine einheitliche Methode bei der gesetzgeberischen Umsetzung von Richtlinien feststellen, und zwar vor allem in Auseinandersetzung mit dem das BGB prägenden Kodifikationsgedanken.
Dazu Coing / Honsell, in: Staudinger / Eckpfeiler 2005, Einl. zum BGB, S. 19. Vgl. zur Bedeutung der Richtlinien der Europäischen Union für die Schaffung einer einheitlichen Rechtordnung Eckert, Europäisierung des Privatrechts, Festschrift für Söllner, 2000, S. 239; ferner U. Hübner, Europäisierung des Privatrechts, Festschrift für Großfeld, 1999, S. 471, 476. 38 EuGH 13. 11. 1994 – Rs C-106 / 89 – Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325. 39 Vgl. Grundmann / Riesenhuber, Die Auslegung des Europäischen Privat- und Schuldvertragsrechts, JuS 2001, 529. 36 37
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a) Punktueller Einfluss Zunächst war der Einfluss von Richtlinien auf das BGB nur ein ganz punktueller: 1980 setzten beispielsweise zwei Vorschriften (§§ 611a und b BGB) die Anforderungen der Richtlinie über die Gleichbehandlung von Mann und Frau aus dem Jahre 197640 um. b) Sondergesetze Vor allem in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts zog es der deutsche Gesetzgeber vor, privatrechtsrelevante europäische Richtlinien durch Verabschiedung von Sondergesetzen umzusetzen, die außerhalb des BGB standen: z. B. im Gesetz über den Widerruf von Haustürgeschäften (vom 16. 1. 1986, BGBl. I S. 122)41, im Gesetz zur Regelung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (29. 6. 2000, BGBl. I S. 946)42, im Verbraucherkreditgesetz (vom 17. 12. 1990, BGBl. I S. 2840),43 im Teilzeit-Wohnrechtegesetz (vom 29. 6. 200 BGBl. I S. 957)44 und im Fernabsatzgesetz (vom 27. 6. 2000, BGBl. I S. 897)45 usw. Solche Sondergesetze zum Zwecke der Umsetzung von Richtlinien zu verabschieden, war vor allem deshalb angezeigt, weil der persönliche Anwendungsbereich der umzusetzenden Richtlinie in Ausrichtung auf den Verbraucherschutz oft enger gezogen war, als derjenige des BGB, das für jedermann galt. Erneut drohte also Rechtszersplitterung, und Wertungswidersprüche deuteten sich an: im BGB weitgehend noch liberales, der Vertragsfreiheit verpflichtetes Gedankengut, dort in den Sondergesetzen paternalistischer Verbraucherschutz in teilweise bevormundender Attitüde. c) Rückkehr zum Kodifikationsprinzip Erst in jüngerer Zeit ist der Gesetzgeber wieder zum Kodifikationsprinzip zurückgekehrt46 und hat eine Reihe von Vorschriften mit europarechtlichem HinRichtlinie 76 / 207 / EWG vom 9. 2. 1976, ABl. L 39 / 40. Zur Kritik am europäischen Gesetzgeber, der den Mitgliedsatten kaum noch einen Spielraum lasse, sondern in den Richtlinien minutiöse Detailvorschriften schaffe, und am Niveau sowie Umfang der EU-Normen H. Honsell, ZIP 2008, 621, 622 mit Fn. 10, 623. 42 Umsetzung der Richtlinie 93 / 13 / EG des Rates vom 5. 4. 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABL. EG Nr. L 95, S. 29). 43 Umsetzung der Richtlinie 87 / 102 / EWG des Rates vom 22. 12. 1986 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit (ABl. EG Nr. L 042, S. 48). 44 Umsetzung der Richtlinie 94 / 47 / EG vom 26. 10. 1994 zum Schutz der Erwerber im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Verträgen über den Erwerb von Teilzeitnutzungsrechten an Immobilien (ABl. EG Nr. L 280, S. 82). 45 Umsetzung der Richtlinie 97 / 7 / EG vom 20. 05. 1997 über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz (ABl. EG Nr. L 144, S. 19). 40 41
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tergrund in das BGB eingefügt oder dieses modifiziert. Die Umsetzung mehrerer massiv in das Schuldrecht eingreifender Richtlinien, wie die Richtlinie über den Verbrauchsgüterkauf von 1999,47 über den elektronischen Geschäftsverkehr48 sowie über den Zahlungsverzug aus dem Jahr 2000,49 nahm er zum Anlass, das Schuldrecht des BGB mit Wirkung vom 1. 1. 200250 tiefgreifend zu reformieren. Unter besonderer Betonung des Kodifikationsgedankens integrierte er bei dieser Gelegenheit auch einen Großteil der in soeben erwähnten in Sondergesetzen verstreuten Verbraucherschutzrechte, beschränkte sich aber – wie auch häufiger zuvor – nicht auf eine Umsetzung der Richtlinien 1 zu 1, sondern verallgemeinerte deren Regelungsmuster, Begriffe und Wertungen im BGB mit eben überschießender Tendenz. Das blieb nicht ohne Folgen für den Stil der Gesetzgebung,51 das System und auch die Grundsätze des BGB. Das dem BGB ursprünglich fremde Verbraucherschutzrecht ist seitdem Teil des allgemeinen Zivilrechts. So wird der tradierte Grundsatz pacta sunt servanda durch verbraucherschützende Widerrufsrechte in unterschiedlichen Situation eingeschränkt. Der redselige und detailverliebte Stil des Gemeinschaftsrechts kontrastiert mit der exakten Begrifflichkeit und dem hohen Abstraktionsniveau des BGB. Der Transformationsprozess trägt sowohl quantitativ als auch qualitativ erheblich zu Europäisierung des BGB bei. Und da auch in Zukunft mit weiteren Richtlinien zum allgemeinen und besonderen Vertragsrecht zu rechnen ist, kennzeichnet man inzwischen das BGB als „Dauerbaustelle“, 52 was aber, wie gezeigt, den Kodex als solchen unberührt lässt. IV. Gemeinsamer Referenzrahmen für ein europäisches Vertragsrecht (GRR) v. Europäisches Zivilgesetzbuch Der geschilderte Prozess selektiver Angleichung durch Richtlinien des Gemeinschaftsgesetzgebers, der nur bei jeweils dringendem Regelungsbedarf stattfindet, wird häufig kritisch betrachtet, und das Ergebnis vielfach auch als ein europäischer 46 Zur Kodifikation als Garant einer zeitgemäßen, systematisch aufgebauten Rechtsordnung K. Schmidt, Die Zukunft der Kodifikationsidee, 1985, S. 43. Seiler, Bewahrung von Kodifikationen in der Gegenwart am Beispiel des BGB, in: Behrends / Sellert (Hrsg.), Der Kodifikationsgedanke und das Modell des Bürgerlichen Gesetzbuchs, 2000, S. 105 ff. Zur künftigen Rolle der Privatrechtskodifikationen vgl. Basedow, Das BGB im künftigen europäischen Privatrecht: Der hybride Kodes, AcP 200 (2000), 445, 465. 47 Richtlinie 1999 / 44 / EG vom 19. 05. 1999, ABl. EG Nr. L 171, S. 12. 48 Richtlinie 2000 / 31 / EG vom 08. 06. 2000, ABl. EG Nr. L 178, S. 1. 49 Richtlinie 2000 / 35 / EG vom 29. 06. 2000, ABl. EB Nr. L 200, S. 35. 50 I.d.F. der Bekanntmachung vom 02. 01. 2002, BGBl. I, S. 42. 51 Roth, Die Europäisierung des Bürgerlichen Gesetzbuchs, in: Dauner-Lieb / Konzen / Schmidt (Hrsg.), Das neue Schuldrecht in der Praxis, 2003, S. 25, 27. 52 Roth, in: Dauner-Lieb / Konzen / Schmidt (Hrsg.), Das neue Schuldrecht in der Praxis, 2003, S. 25, 26.
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Flickenteppich oder Sammelsurium empfunden, weil für die verschiedenen Initiativen auf europäischer Ebene ein Gesamtkonzept fehle und deshalb auch kein System erkennbar sei. Beklagt wird allenthalben der „Pointillismus“ der gemeinschaftsrechtlichen Regelungen, der sich systemzerstörerisch auf die bislang kohärenten nationalen Rechtsordnungen auswirke.53 Deshalb propagierte schon 198954 und bekräftige 199455 noch einmal das Europäische Parlament, „dass mit den erforderlichen Vorbereitungsarbeiten zur Ausarbeitung eines einheitlichen Europäischen Gesetzbuches für das Privatrecht begonnen wird“. Zwar blieben diese Resolutionen des Parlaments zunächst ohne Gehör, standen aber unter dem Eindruck der von der EG geförderten „Commission on European Contract Law“ um den dänischen Rechtswissenschaftler Ole Lando, („Lando-Kommission“), die schon im Jahre 1982 damit begonnen hatten, in rechtsvergleichender Weise bestimmte allgemeine Prinzipien für ein europäisches Vertragsrecht auszuarbeiten, und im Jahr 1995 „The Principles of European Contract Law“ veröffentlicht hatte.56 Nach weiteren Anmahnungen des Parlaments, einer Entschließung des europäischen Rats im finnischen Tampere im Oktober 199957 und verschiedenen Zwischenschritten legte die Kommission am 12. Februar 2003 einen Aktionsplan mit der Überschrift „Ein kohärentes europäisches Vertragsrecht“ vor.58 Sie kommt darin zu dem Ergebnis, es sei für dieses Ziel nicht notwendig, den bisherigen sektorspezifischen Regelungsansatz zugunsten eines einheitlichen Europäischen Gesetzbuches zu verlassen. Vielmehr solle eine Mischung von nichtgesetzgeberischen und gesetzgebenden Maßnahmen die Kohärenz des Gemeinschaftsrechts auf dem Gebiete des Vertragsrechts erhöhen, und zwar vor allem durch die Schaffung eines Gemeinsamen Referenzrahmens (GRR; Common Frame of Reference – CFR).59 Und am 11. Oktober 2004 bestätigt die Kommission60 in 53 Leible, Europäisches Privatrecht am Scheideweg, NJW 2008, 2558; Basedow, Das BGB im künftigen europäischen Privatrecht, AcP 200 (2000), 445, 450 f.; Kötz, Rechtsvereinheitlichung – Nutzen, Kosten, Methoden, Ziele, RabelsZ 50 (1986), 1, 5. 54 ABl. C 158 / 400 vom 26. 5. 1989, abgedr. auch in ZEuP 1993, 613. 55 ABl. C 105 / 94 vom 25. 4. 1994. 56 Vgl. Lando / Beal (Hrsg.), The Principles of European Contract Law, 1995; dazu Busch / Hondius, Ein neues Vertragsrecht für Europa: die Principles of European Contract Law aus niederländischer Sicht, ZEuP 2001, 222 ff. 57 Bull. EU 10 – 1999, S. 7. 58 KOM (2003) 68 endg. = ABl. 2003, Nr. C 63, S. 1; dazu Meyer, BB-Europareport: Auf dem Weg zu einem Europäischen Zivilgesetzbuch, BB 2004, 1285, 1286; v. Bar, Der gemeinsame Referenzrahmen für das markrelevante Privatrecht in der europäischen Union, Festschrift für Jayme, Bd. 2, 2004, S. 1217, 1219; ferner Ludwigs, Harmonisierung des Schuldvertragsrecht in Europa, EuR 2006, 370, 372 ff. 59 Dazu Pfeiffer, Methodik der Privatrechtsangleichung in der EU, AcP 208 (2008), 227, 240 ff.; Jansen, Traditionsbegründung im europäischen Privatrecht, JZ 2006, 536, 539. 60 KOM (2004) 651 endg.; dazu Winter, Ist das Europäische Zivilgesetzbuch noch zu stoppen?, DB 2005, 871; Ludwigs, Harmonisierung des Schuldvertragsrecht in Europa, EuR 2006, 370, 374 ff.
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einer weiteren „Mitteilung zum europäischen Vertragsrecht“ ihre Haltung, man beabsichtige nicht, ein „Europäisches Zivilgesetzbuch“ vorzuschlagen, und rückte neben weiteren Maßnahmen erneut in den Mittelpunkt die Absicht, bis 2009 den angesprochenen Gemeinsamen Referenzrahmen (GRR, Common Frame of Reference – CFR) zu verabschieden. Im Mai 2005 bildete sich ein Forschungsnetzwerk „Joint Network on European Privat Law“, dem zahlreiche Universitäten, andere Institutionen und Organisationen sowie nahezu 200 Wissenschaftler aus den Mitgliedsstaaten der EU angehören, mit dem gemeinsamen Ziel, einen „akademischen Gemeinsamen Referenzrahmen“ zu erarbeiten, der aus Definitionen, allgemeinen Rechtsprinzipien und rechtlichen Vorschriften bestehen soll.61 Ein Entwurf der gemeinsamen Arbeitsergebnisse ist inzwischen veröffentlicht.62 Eingangs erwähnte ich die programmatische Aufforderung „Rettet das BGB vor Brüssel“.63 Wegen des von der europäischen Kommission beabsichtigten Gemeinsamen Referenzrahmen (GRR) wird als Argument die „Vereinheitlichung gewachsener Strukturen zugunsten einer zentralistischen Vorgabe“ befürchtet. Zwar werde der Referenzrahmen nur als Grundlage für die einheitliche Gesetzesauslegung und Anwendung des Vertragsrechts als bloß „optionelles Instrument“ befürwortet, in Wirklichkeit sei die Weiterentwicklung zu einem Europäischen Zivilgesetzbuch eine in den Brüsseler und Straßburger Instanzen gewollte.64 Die Forderung Jahns geht deshalb dahin, den Reißbrettplan eines europäischen Zivilrechts schleunigst zu beerdigen.65 Dieser Alarmruf ist nicht ohne Antwort geblieben.66 Es wird darauf hingewiesen, bei dem Brüsseler Vorhaben gehe es gar nicht um einen Abschied vom BGB oder um sein Überleben, sondern um eine Veränderung und Anpassung an die Anforderungen des europäischen Rechts.67 Ferner wird sogar entgegnet, „Brüssel rettet das BGB“.68 Nicht das BGB bedürfe der Rettung vor Brüssel, sondern es könne ausgerechnet Brüssel dazu beitragen, die erheblichen 61 Vgl. dazu nur Leible, Europäisches Privatrecht am Scheideweg, NJW 2008, 2558, 2560; Zimmermann ZEuP 2007, 109. 62 Vgl. v. Bar / Clive / Schulte-Nölke (Hrsg.) Principles, Definitions an Model Rules of European Private Law, Draft Common Frame of Reference (DCFR), 2008. 63 Jahn, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. 10. 2006 / Nr. 242; Zur parallelen Fragestellung mit Blick auf das schwOR Huguenun, Ein neues Obligationenrecht für die Schweiz?, Neue Zürcher Zeitung vom 16. 2. 2007 / Nr. 39, S. 29. 64 Zu dieser Sorge Pfeiffer, Methodik der Privatrechtsangleichung in der EU, AcP 208 (2008), 227, 239; auch Grundmann Europäisches Vertragsrecht – Quo vadis?, JZ 2005, 860, 867: ein Europäisches Vertragsgesetzbuch werde zunehmend wahrscheinlich, auch wenn die Kommission lieber noch vage von einem gemeinsamen Referenzrahmen spreche. 65 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. 10. 2006 / Nr. 242. 66 Hirsch, Erwartungen der gerichtlichen Praxis an einen Gemeinsamen Referenzrahmen für ein Europäisches Vertragsrecht, ZIP 2007, 937, 943, wirft Jahn vor, die Zeichen der Zeit nicht verstanden zu haben. 67 So Drobnig, Abschied vom BGB?, DRiZ 2007, 257. 68 So Schulte-Nölke, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. 11. 2007 / Nr. 259, S. 31.
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Defizite im Zusammenspiel der gegenläufigen Rechtsordnungen mit dem EURecht zu bereinigen. Nur wenn dies gelinge, habe das BGB überhaupt eine Zukunft. An Stelle des bisherigen „Weiterwurschtelns“ wird in dem erwähnten „akademischen GRR“ des Forschungsnetzwerkes ein Chance für einen neuen Weg gesehen, der als Grundlage für einen „politischen“ GRR der EU dienen und aus ihm ein optionales Instrument entwickelt werden könne.69 Gleichzeitig werde damit der Gedanke eines EU-ZGB verabschiedet und der erwähnten Intervention von Jahn entgegengehalten, es komme nicht zu mehr Bevormundung, sondern zu mehr Freiheit für Europa.70 Der gemeinsame Referenzrahmen (GRR) verfolgt zweifellos ein neuartiges Konzept,71 das unterschiedlich aufgenommen wird. Die eine Seite72 kritisiert die fehlenden Klarheit des Begriffs des gemeinsamen Referenzrahmens (GRR), von einer anderen Seite wird als „besonderer Charme dieses neuartigen Begriffs“ hervorgehoben, dass niemand genau weiß, was sich dahinter verbirgt.73 Es soll sich um ein rechtlich unverbindliches Instrument für künftige Rechtsgestaltung handeln, in dem gemeinsame Grundsätze und Rechtsbegriffe des europäischen Vertragsrechts definiert und Mustervorschriften formuliert werden, um Gemeinschaftsorgane bei der Aufgabe zu unterstützen, eine kohärente Ausgestaltung der geltenden und künftigen Vorschriften des Gemeinschaftsrechts im Bereich des europäischen Vertragsrechts zu gewährleisten. Der Stellenwert dieses politisch brisanten Referenzrahmens als „Rechtsquelle“ ist weitgehend unklar, unklar deshalb auch das Maß an rechtlicher Verbindlichkeit.74 Vor allem ist die Frage noch nicht beantwortet, wer ihm und mit wessen politischer Billigung den Stempel des Offiziellen verleihen soll.75 Welchen Stellenwert hat er vor allem, wenn es um die nationale Umsetzung von Richtlinien geht, und zwar vor solchen Richtlinien, die sich ihrerseits an dem Referenzrahmen orientiert haben.76 Handelt es sich gar um ein „Trojanisches Pferd“, mit dessen Hilfe doch ein Vertragsgesetzbuch in das europäische Recht hineingemogelt werden soll?77 Jedenfalls wird er als das derzeit wohl interessanteste und potentiell folgenreichste Projekt der Europäischen Union auf dem Gebiet des Privatrechts angesehen.78 Zunächst also, so scheint es nach den So Leible, NJW 2008, 2558, 2562. So Leible, NJW 2008, 2558, 2562. 71 Jansen, JZ 2006, 536, 540. 72 Wiesner, Ist das Europäische Zivilgesetzbuch noch zu stoppen?, DB 2005, 871,872. 73 So Zimmermann, Der Gemeinsame Referenzrahmen: ZEuP-Symposium in Graz, ZEuP 2007, 9. 74 Dazu Janssen, JZ 2006, 536, 542. 75 Pfeiffer, AcP 208 (2008), 227, 228; Ernst Der „Common Frame of Reverence“, AcP 208 (2008), 248. 76 Dazu Hirsch, Erwartungen der gerichtlichen Praxis an einen gemeinsamen Referenzrahmen für ein europäisches Vertragsrecht, ZIP 2007, 937. 77 Als Frage aufgeworfenen von Zimmermann, ZEuP 2007, 109. 78 Jansen, JZ 2006, 536; zustimmend Zimmermann, ZeuP 2007, 109, 111. 69 70
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Stellungnahmen der Kommission,79 ist ein im Verordnungswege zu erlassendes und damit die nationalen Kodifikationen verdrängendes Europäisches Zivilgesetzbuch nicht in Sicht.
V. Perspektiven: Richtliniengesetzgebung bei Wahrung der Subsidiarität Gleichwohl die abschließende Fragen: Wohin sollte die Reise gehen? Ich denke, der Gemeinschaftsgesetzgeber sollte seinen bisherigen Kurs beibehalten und versuchen, die nationalen Rechtsordnungen durch das Regelungsmittel der Richtlinie, die einen jeweils eher begrenzten Rechtsbereich erfasst, Schritt für Schritt, also allmählich einander anzunähern.80 Diese Vorgehensweise achtet weitgehend die gesetzgeberische Eigenständigkeit der Mitgliedstaaten vor allem auch im Sinne des Subsidiaritätsprinzips, weil ihnen so die Einzelheiten der Umsetzung selbst überlassen bleiben. Als Zugeständnis an das historisch gewachsene, in Inhalt und Struktur variierende Privatrecht der Mitgliedstaaten sind gewisse Ermessensspielräume eröffnet. Auch lässt sich die Eingriffstiefe in das nationale Recht wegen der begrenzten Regelungsweite der einzelnen Richtlinien vergleichsweise gering halten. Um die erwünschte systematische Ordnung der Richtlinien herzustellen, kann der europäische Gesetzgeber sie stärker, vielleicht auch mit Hilfe des erwähnten Referenzrahmen, aufeinander abstimmen und so ein übergeordnetes Gesamtkonzept entwickeln. Ich komme zum Schluss und zwar in dem Bewusstsein, keineswegs alle Facetten des spannenden Themas angesprochen zu haben, vor allem bin ich beim Blick auf die Europäisierung des Zivilrechts allein vom Standpunkt des BGB und seines besonderen Stellenwerts als Kodifikation ausgegangen und habe den aus europäischer Sicht naheliegenden Aspekt nicht berührt, wie das Projekt eines EU-ZGB sich aus dem Blickwinkel der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union darstellt. Einen Punkt möchte ich schließlich nicht unerwähnt lassen: Würde es eines fernen Tages zu einem EU-ZGB kommen, müsste seine einheitliche Anwendung durch die Rechtsprechung in besonderer Weise gewährleistet werden;81
79 Vgl. Staudenmayer, European Contract Law – What Does It Mean und What Does It Not Mean?, in: Vogenauer / Weatherill (Hrsg.), The Harmonisation of European Contract Law, 2006, S. 235 ff. Vgl. auch Budras / Jahn, Die Tage des deutschen Schuldrechts sind gezählt, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. 2. 2007 / Nr. 32, S. 23 und Frankfurter Allgemeine Zeitung 23. 5. 2007 / Nr. 118, S. 23: Berichte vom 58. Deutschen Anwaltstag: „EUVertragsgesetz könnte bald verbindlich werden“. 80 Auch Meyer, BB 2004, 1285, 1293, verneint einen „Eigenwert“ eines EU-ZGB. 81 So auch Taupitz, Die Entwicklung des BGB unter europäischem Einfluss, JA 2005, 385, 389.
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denn das beste Gesetz bewirkt nicht die erwünschte Harmonisierung, wenn es von den Gerichten in den verschiedenen Mitgliedsstaaten unterschiedlich ausgelegt wird.
Vom Wechsel auf Leipziger Messen zum Wechselverbot im Verbraucherkreditrecht Von Reinhard Welter
I. Einführung Mit der Stadt Leipzig, in der die Jubilarin seit 600 Jahren ihren Sitz hat, ist eine unüberschaubare Vielzahl rechtlicher Themen verbunden. Einen besonderen Rang nimmt jedoch zweifellos das Wechselrecht ein. In Leipzig hat im Jahre 1847 die Wechselrechtskonferenz stattgefunden, die die Allgemeine Deutsche Wechselordnung von 1848 geschaffen hat.1 Die bisher bestehenden 55 Wechselordnungen konnten damit zu einem einheitlichen deutschen Wechselrecht zusammengeführt werden.2 Lange vor dieser Konferenz hat die Leipziger Wechselordnung von 1682 maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung des Wechselrechts in zahlreichen Städten und Ländern Deutschlands genommen.3 Den Hintergrund bildete der Aufstieg der Stadt Leipzig zur Stadt des Handels, der lange vor Gründung der Universität begann und Leipzig den Ruf einer führenden Messestadt verschafft hat.4 In das Gründungsjahrhundert der Universität fällt die Verleihung des kaiserlichen Messeprivilegs durch Kaiser Maximilian I5, so dass – modern gesprochen – der „Standort 1 Ernst Jacobi, Wechsel- und Scheckrecht, 1956 (unveränderter Nachdruck), S. 10 f., dort auch zur weiteren Entwicklung bis zur Vereinheitlichung durch das Genfer Wechselrecht. 2 Baumbach / Hefermehl / Matthias Casper, Wechselgesetz / Scheckgesetz / Recht der kartengestützten Zahlungen, 23. Aufl. 2008, Einleitung WG, RdNr. 2, Gabriele Morawitz, Das internationale Wechselrecht, 1990, S. 5 ff. 3 Julius Levin Ulrich Dedekind, Vergangenheit und Gegenwart des deutschen Wechselrechts, 1843, S. 20, 167 ff.; Carl Christian Carus Gretschel, in: Fleischer (Hrsg.), Leipzig und seine Umgebungen, 1982 (Reprint der Originalausgabe 1836), S. 177. 4 Zur Bedeutung Leipzigs als Messestadt Markus Denzel, Währungen der Welt X: Geldund Wechselkurse der deutschen Messeplätze Leipzig und Braunschweig (18. Jahrhundert bis 1823), 1994, S. 4: Diese [Leipziger] Messen wurden in den Jahrzehnten nach dem Dreißigjährigen Krieg zu Zentren des Warenumschlags zwischen West und Ost über die ein bedeutender Teil des Austauschs mit Ostmittel-, Ost-, und Südosteuropa (Polen, Russland, Balkan) abgewickelt wurde; vgl. auch Ernst Kroker, Handelsgeschichte der Stadt Leipzig. Die Entwicklung des Leipziger Handels und der Leipziger Messen von der Gründung der Stadt bis auf die Gegenwart, Leipzig, 1925, S. 177. 5 Zu den Vorläufern s. Leipziger Messeamt (Hrsg.). Vom Jahrmarkt zur Weltmesse, 1958, S. 37 f.: Die Bedeutung dieser Maßnahme lag vor allem darin, dass sie eine regionale Alleinstellung begründete, indem die Errichtung neuer Jahrmärkte im Bereich der Bistümer Mag-
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Leipzig“ nicht nur mit einer bedeutsamen Universität, sondern auch als Sitz der „internationalen Reichsmesse“ seine Anziehungskraft entfalten konnte. Es wäre sicherlich reizvoll, dieser Wechselwirkung über die Jahrhunderte näher nachzugehen. Dies mag aber den Vertretern geschichtlicher Fachrichtungen vorbehalten bleiben.6 Für einen Inhaber des Lehrstuhls für Deutsches und Internationales Wirtschaftsrecht liegt es dagegen nahe, Rechtsfragen aufzugreifen, die sich in der Gegenwart innerhalb Deutschlands und außerhalb zum Wechselrecht ergeben. An die Stelle der Harmonisierung deutschen Rechts ist nun die europäische Harmonisierung des Zivilrechts getreten, die sich vor allem durch Richtlinien vollzieht. Ganz aktuell begegnet man hier dem Wechsel, allerdings in der eigenartigen Form eines „Wechselverbots“. Es hat sich gefügt, dass zu diesem Thema gegenwärtig ein Regierungsentwurf zur Reform des Verbraucherkreditrechts zur Debatte steht, der eine hierzu ergangene EU-Richtlinie umsetzen soll. Hierbei ergeben sich Fragen zum Verhältnis nationaler Gesetzgebung zu Richtlinien, die als Innovation vom Prinzip der Totalharmonisierung7 ausgehen. Die Begründung abstrakter Verbindlichkeiten als Eigenheit des Wechselrechts8 ist zudem in Deutschland in eine kontroverse Diskussion9 geraten, die den Gesetzgeber auf den Plan gerufen hat.10 Hier ergeben sich interessante Verbindungslinien und nicht zuletzt – wie beim Blick auf innovative Finanzierungstechniken im Augenblick kaum anders zu erwarten – Bezüge zur aktuellen Finanzkrise. II. Der Wechsel im Europäischen Gemeinsamen Markt und im Binnenmarkt Bei unbefangener Betrachtung liegt die Annahme nicht fern, der Wechsel könne gleichsam in historischer Kontinuität11 auch für den Europäischen Gemeinsamen deburg, Halberstadt, Meißen, Merseburg und Naumburg verboten wurde; Carl Christian Carus Gretschel, in: Fleischer (Hrsg.), Leipzig und seine Umgebungen, 1982 (Reprint der Originalausgabe 1836), S. 167 ff. 6 Vgl. insbesondere Markus A. Denzel, Zahlungsverkehr auf den Leipziger Messen vom 17. bis zum 19. Jahrhundert, in: Zwahr / Topfstedt / Bentele (Hrsg.), Leipzigs Messen 1497 – 1997. Gestaltwandel. Umbrüche. Neubeginn, Teilbd. 1: 1497 – 1914, 1999, S. 149 ff. m.w.Nachw. 7 Zurückgehend auf die Verbraucherpolitische Strategie 2002 – 2006 der Kommission, KOM (2002) endg. 8 Dazu schon grundlegend Ernst Jacobi, Wechsel- und Scheckrecht, 1956 (unveränderter Nachdruck), S. 275; zur Abstraktheit und zur Akzessorietät Walther Hadding / Franz Häuser / Reinhard Welter, Bürgschaft und Garantie, in: BMJ (Hrsg.) Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, Bd. III 1983, S. 571, 702 ff., 706 ff. 9 S. dazu unten unter III 4. 10 RisikobegrenzungsänderungsG 12. 8. 2008, BGBl I 1990, 2840, dazu später. 11 Zur Internationalität des Wechsels schon bei seiner Entstehung Reinhard Welter, in: Hadding / Schneider, Grenzüberschreitender Zahlungsverkehr im europäischen Binnenmarkt
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Markt und den Binnenmarkt den gemeinsamen Nenner für grenzüberschreitende Zahlungen und Kreditierungen darstellen. Das Genfer Wechselrecht bietet für einen großen Teil der Welt12 seit den dreißiger Jahren eine einheitliche rechtliche Grundlage, die geeignet erscheint, dazu in ganz vortrefflicher Weise nutzbar gemacht zu werden. Sicherlich traf und trifft es zu, dass Wechsel im grenzüberschreitenden kaufmännischen Binnenmarkt-Verkehr sinnvoll und nützlich eingesetzt werden13; von einem Siegeszug kann allerdings nicht die Rede sein. Insbesondere hat man bei den früh einsetzenden intensiven Bemühungen um grenzüberschreitende Forderungsdurchsetzung14 nicht darauf zurückgegriffen, dass mit dem Wechsel bereits ein hierfür entwickeltes Instrument zur Verfügung stand.15 In jüngerer Zeit bewegt man sich mit dem Europäischen Vollstreckungstitel für unbestrittene Forderungen16, dem europäischen Verfahren für geringfügige Forderungen17 sowie dem europäischen Mahnverfahren18 weiterhin in eine ganz andere (Schriftenreihe der Europäischen Akademie Trier, Bd. 18), S. 69; ders., in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 3. Aufl. 2007, § 66 RdNr. 1; sehr ausführlich Markus A. Denzel, in: Cashless payments and transactions from the antiquity to 1914, Chaudhuri / Denzel (ed.), The European Bill of Exchange. Its Development from the Middle Ages to 1914, S. 167 f. 12 Vgl. Baumbach / Hefermehl / Matthias Casper, Wechselgesetz / Scheckgesetz / Recht der kartengestützten Zahlungen, 23. Aufl. 2008, Einleitung WG, RdNr. 4; Reinhard Welter, in: Sarcevic / Volken, International Contracts and Payments, S. 87, 88. 13 Zu den insofern maßgeblichen Eigenschaften des Wechsels s. Reinhard Welter, in: Sarcevic / Volken, International Contracts and Payments, S. 87, 92. Markus A. Denzel, Zahlungsverkehr auf den Leipziger Messen vom 17. bis zum 19. Jahrhundert, in: Zwahr / Topfstedt / Bentele (Hrsg.), Leipzigs Messen 1497 – 1997. Gestaltwandel. Umbrüche. Neubeginn, Teilbd. 1: 1497 – 1914, 1999, S. 149 ff.; ders., in: Cashless payments and transactions from the antiquity to 1914 , Chaudhuri / Denzel (ed.), The European Bill of Exchange. Its Development from the Middle Ages to 1914, S. 167 f. 14 Beginnend mit dem Brüsseler Übereinkommen von 1968, das nunmehr zur Brüssel I-Verordnung (Nr. 44 / 2001) geworden ist; vgl. Reinhard Welter, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 3. Aufl. 2007, § 26 RdNr. 23. 15 Stattdessen ist die notarielle Urkunde als vollstreckbarer Titel favorisiert worden; vgl. Art. 50 des Brüsseler Übereinkommens und jetzt Art. 57 Brüssel I-Verordnung. 16 Vgl. Stefan Leible / Robert Freitag, Forderungsbeitreibung in der EU, 2008; Thomas Rauscher, Der Europäische Vollstreckungstitel für unbestrittene Forderungen, 2004; ders., Der Europäische Vollstreckungstitel für unbestrittene Forderungen, GPR 2004, 286; Anne Röthel / Ingo Sparmann, Der Europäische Vollstreckungstitel für unbestrittene Forderungen, WM 2006, 2285; Rolf Wagner, Der Europäische Vollstreckungstitel, WM 2005, 1157. 17 Vgl. Arno Brokamp, Das europäische Verfahren für geringfügige Forderungen, 2008; Burkhard Hess / David Bittmann, Die Verordnungen zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens und eines Europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen – ein substantieller Integrationsschritt im Europäischen Zivilprozessrecht, IPRax 2008, 305; Isabel Jahn, Das Europäische Verfahren für geringfügige Forderungen, NJW 2007, 2890. 18 Vgl. Stefan Leible / Robert Freitag, Erleichterung der grenzüberschreitenden Forderungsbeitreibung in Europa: Das Europäische Mahnverfahren, BB 2008, 2750; Anne Röthel / Ingo Sparmann, Das europäische Mahnverfahren, WM 2007, 1101; Bartosz Sujecki, Das Europäische Mahnverfahren, NJW 2007, 1622.
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Richtung. An dieser Stelle soll nur thesenartig festgehalten werden, warum dem Wechsel nicht die scheinbar nahe liegende Funktion eines einheitlichen Zahlungsund Kreditinstruments im Zuge der Europäischen Integration zugekommen ist. Die 6 Gründungsstaaten waren keineswegs sämtlich Vertragsstaaten des Genfer Übereinkommens. Bis Ende 1985 galt in Spanien ein überkommenes Wechselrecht, und auch ab 1986 hat man sich in Spanien nur an das Genfer Wechselrecht angelehnt.19 Mit den Beitritten des Vereinigten Königreichs und Irlands stießen Mitgliedstaaten dazu, die dem Anglo-amerikanischen Rechtskreis zuzuordnen waren. Ungeachtet aller historisch gewachsener Parallelen kamen damit doch erhebliche Unterschiede ins Spiel.20 Selbst innerhalb des Genfer Übereinkommens bestehen aufgrund von Vorbehalten nicht unerhebliche Unterschiede, die den Einsatz von Wechseln vor allem in komplexeren Zusammenhängen beeinträchtigen. Zum Beispiel beruht die in Frankreich entstandene Praxis der Verwendung von Wechseln zur Refinanzierung von Außenständen21 auf Besonderheiten, die auf einen Vorbehalt zur Frage des Übergangs der Deckung (Provision) zurückgehen.22 Ferner wird auch eine Rolle gespielt haben, dass der Wechsel mit dem über Jahrhunderte üblichen Markt im Sinne eines örtlich und zeitlich begrenzten Ereignisses verbunden ist23, während sich unter dem Vorzeichen des „Gemeinsamen Marktes“ oder „Binnenmarktes“ nun ein ganz anderes Verständnis entwickelte. Der Wechsel war darauf zugeschnitten, unter den historisch üblichen Verhältnissen eine zeitnahe Regelung vor Ort sicherzustellen – sei es auch nur vorläufig und unter Vorbehalt. Dieser Aspekt ist in dem auf Dauer und flächendeckend angelegten Gemeinsamen Markt oder Binnenmarkt zurückgetreten. Schließlich hat der Wechsel an Bedeutung verloren, weil die EZB das Diskontgeschäft nicht fortgesetzt hat.24
19 Reinhard Welter, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 3. Aufl. 2007, § 66 RdNr. 102; Armin Reichmann, Das spanische Wechselrecht (Recht der Kreditsicherheiten in europäischen Ländern, Teil VII / 2), 1987. 20 Reinhard Welter, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 3. Aufl. 2007, § 66 RdNr. 103 ff. 21 Gleichsam als Ersatz für die in Frankreich nicht zugelassene Sicherungsabtretung, insbesondere i. S. einer Globalzession zukünftiger Forderungen; vgl. Ripert / Roblot / Delebecque / Michel Germain, Traité de droit commercial, tome II, 17. Aufl. 2004, n° 1979. 22 Art. 16 der Anlage II zum Genfer Übereinkommen; Ernst Jacobi, Wechsel- und Scheckrecht, 1956 (unveränderter Nachdruck), S. 277; Reinhard Welter, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 3. Aufl. 2007, § 66 RdNr. 88. 23 Vgl. dazu Markus A. Denzel, in: Cashless payments and transactions from the antiquity to 1914, Chaudhuri / Denzel (ed.), The European Bill of Exchange. Its Development from the Middle Ages to 1914, S. 167 f. 24 Vgl. Bernd Peters, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 3. Aufl. 2007, § 65 RdNr. 15.
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III. Das „Wechselverbot“ in der Verbraucherkreditrichtlinie von 1986 1. Art. 10 der Richtlinie Eher überraschend begegnet man dem Wechsel dann doch im Zusammenhang europäischer Gesetzgebung, nämlich in Art. 10 der Verbraucherkreditrichtlinie von 1986.25 Nach Art. 10 tragen die Mitgliedstaaten, die im Zusammenhang mit Verbraucherkrediten nach ihrem Recht überhaupt die Zahlung in Form von Wechseln gestatten, dafür Sorge, dass der Verbraucher hierbei angemessenen Schutz genießt. Entsprechendes gilt für Sicherheitsleistung durch Wechsel, aber auch durch Schecks.26 In den Erwägungsgründen finden sich hierzu nur ganz knappe Ausführungen. Allerdings ergibt sich schon aus dem Wortlaut, dass die Richtlinie selbst nicht die Verwendung von Wechseln verbietet; sie will nur nachteilige Folgen für den Darlehensnehmer verhindern, wenn das nationale Recht sie überhaupt zulässt. Der Begriff „Wechselverbot“ ist in diesem Zusammenhang wohl erst durch den deutschen Gesetzgeber ins Spiel gekommen, hat sich aber auch auf EU-Ebene eingebürgert, insbesondere bei den Vorarbeiten zur neuen Verbraucherkreditrichtlinie von 2008.27 2. Umsetzung in Deutschland a) Art. 10 VerbrKrG bis § 496 Abs. 3 BGB idF des Risikobegrenzungsgesetzes vom 12. 8. 2008 In Deutschland wurde dieser Art. 10 umgesetzt durch das Verbraucherkreditgesetz vom 17. 12. 199028, das mit der Schuldrechtsreform von 2002 im Wesentlichen unverändert in das BGB übernommen wurde.29 Der einschlägige § 10 befasste sich in Abs. 1 mit dem Schutz von Verbrauchern bei der Abtretung von Darlehensforderungen. Nach dieser Vorschrift war eine Vereinbarung unwirksam, durch die ein Verbraucher als Darlehensnehmer auf das Recht verzichtet, Einwen25 Richtlinie 87 / 102 / EWG des Rates vom 22. Dezember 1986 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit, ABl EG L 42 vom 12. Februar 1987, S. 4; zur Umsetzung in Deutschland Reinhard Welter, in: Gebauer / Wiedmann (Hrsg.), Zivilrecht unter europäischem Einfluss, Verbraucherkredit (§§ 488 – 515 BGB), 2. Aufl. 2005. 26 Nachfolgend wird die Rechtslage zum Wechsel erörtert, während der Scheck grundsätzlich ausgeblendet ist; dazu ausführlich MünchKomm / Jan Schürnbrand, BGB, 5. Aufl. 2008, § 496 RdNr. 22 ff. 27 Dazu unten. 28 BGBl I 1990, 2840. 29 Gerhard Ring, Verbraucher-Kreditrecht nach der Schuldrechtsreform, BuW 2003, 375; Wolfgang Steppeler, Das neue Verbraucherkreditrecht, 3. Aufl. 2002; Walter Stillner, Verbraucherkreditgeschäft – Eine Einführung, VuR 2002, 79.
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dungen im Sinne von § 404 BGB gegenüber dem Zessionar geltend zu machen. Entsprechendes galt für den Verzicht auf die Befugnis, gemäß § 406 BGB mit Forderungen gegen den Zedenten auch gegenüber dem Zessionar aufzurechnen. Abs. 2 von § 10 hat vorgesehen, dass der Verbraucher nicht verpflichtet werden darf, für die Ansprüche des Kreditgebers aus dem Kreditvertrag eine Wechselverbindlichkeit einzugehen. Für den Fall eines Verstoßes war geregelt, dass der Verbraucher jederzeit die Herausgabe eines solchen Wechsels verlangen kann; zusätzlich haftete der Kreditgeber für jeden Schaden, der dem Verbraucher aus einer solchen Wechselbegebung entstehen konnte. Diese Regelungen sind gänzlich unverändert im Rahmen der Schuldrechtsreform 2002 in das BGB übernommen worden (§ 469 Abs. 1 und 2 BGB idF der Schuldrechtsreform 2002). Das Risikobegrenzungsgesetz vom 12. 8. 200830 hat einen neuen Abs. 2 eingefügt31, so dass die Regelung zum Wechsel wortgleich nun in Abs. 3 zu finden ist. b) Zurückhaltender Schutz von Darlehensnehmern bei Wechselbegebungen Es fällt auf, dass der Schutz von Darlehensnehmern bei Wechselbegebungen sehr zurückhaltend ausgestaltet ist. Die vorgesehenen Herausgabe- und Schadensersatzansprüche lassen die Wirksamkeit eingegangener Verpflichtungen unberührt. Welche Überlegungen hier zu Grunde liegen, ergibt sich aus der Begründung zum Regierungsentwurf.32 Art. 10 Abs. 2 wird als konsequente Weiterführung des Gedankens aus Abs. 1 verstanden (Erhaltung der Schuldnereinwendungen aus dem Kreditvertrag). Die Regelung sei notwendig, weil ein angemessener Schutz „wegen der fehlenden Akzessorietät zwischen dem Wechselbegebungsvertrag und dem Grundgeschäft sowie wegen der Verkehrsfähigkeit der Inhaberpapiere“ anders nicht zu verwirklichen sei. Hierbei ist sowohl darauf verwiesen, dass der Darlehensgeber den Wechsel an einen (gutgläubigen) Dritten weitergegeben hat als auch auf den Fall, dass er ihn als Wechselnehmer noch in Händen hält. Zur letzten Alternative ist angeführt, dass der Darlehensnehmer im Urkundsprozess in Anspruch genommen werden könne; in diesem Verfahren sei es nicht möglich, die Einwendungen aus dem Grundgeschäft zu erheben.33 Zumindest kehre sich die Beweislast um, mit der Folge, dass der Verbraucher beweisen müsse, dass ein Rechtsgrund für die geltend gemachte Wechselforderung nicht vorhanden sei. Es findet sich allerdings auch der Hinweis, dass das Wechselverbot im Urkundenprozess eine stattBGBl. I, S. 1666, 1669. Dieser neue Absatz sieht vor, dass der Darlehensnehmer umfassend zu unterrichten ist, wenn Darlehensforderungen abgetreten werden, bezieht sich also auf Abs. 1. 32 BT-Drucksache 11 / 5462, S. 24. 33 BT-Drucksache 11 / 5462, S. 25. 30 31
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hafte Einrede nur unter den Voraussetzungen des § 598 ZPO begründe, also durch Urkunde belegt sein müsse.34 Vorher ist festgehalten, dass es nicht in Betracht komme, die Wechselverbindlichkeit für unwirksam zu erklären. Eine solche Nichtigkeitsfolge widerspreche dem Genfer Abkommen vom 7. 6. 1930 über das Einheitliche Wechselgesetz. c) Genfer Wechselrecht als Hindernis für schärfere Sanktionen? Soweit ersichtlich wird dieser Standpunkt allgemein geteilt.35 Dies steht in einem eigenartigen Gegensatz zu dem Umstand, dass in anderem Zusammenhang ohne weiteres Wechselverbindlichkeiten für unwirksam erklärt werden, und zwar sogar ohne ausdrückliche gesetzliche Grundlage. Die Rechtsprechung nimmt es für sich in Anspruch, Wechselverpflichtungen als solche für nichtig zu erklären, wenn gerade mit der Begebung ein gesetzes- oder sittenwidriger Zweck verfolgt wird.36 Dies umfasst seit langem Fälle der „Wechselreiterei“ 37, aber auch der Begebung von Wechseln in Animierlokalen zur Begleichung angeblicher mehrstelliger Zechschulden.38 Die letzte Fallgestaltung hat als besonders anschauliches Beispiel sogar Eingang in die Ausbildungsliteratur gefunden.39 Hintergrund bildete die gerichtsbekannte Praxis, in Hamburger Lokalen Wechselformulare auszulegen, um die häufig mit starker Unterstützung von Animierdamen auflaufende Rechnung durch ein Wechselakzept des Kunden begleichen zu lassen. Bei einer Klage aus dem Wechsel im Wechselprozess war der Kunde regelmäßig in einer ungünstigen Situation, wenn er ggf. zu Recht geltend machen wollte, nicht entsprechend bestellt zu haben oder durch Täuschung und Drohungen zur Unterschrift genötigt worden zu sein. Insofern war der im Wechselprozess erforderliche Urkundenbeweis (§ 568 ZPO) nicht zu führen. Selbst im Nachverfahren, in dem alle Beweismittel zugelassen waren, hatte der Verpflichtete insbesondere als allein ausgehender Gast keine Chance gegen Animierdamen und Kellner, die als Zeugen bereit standen. Eine 34 BT-Drucksache 11 / 5462, S. 25; vgl. auch MünchKomm / Jan Schürnbrand, BGB, 5. Aufl. 2008, § 496 RdNr. 16. 35 Vgl. OLG München ZIP 2004, 991, 992; Baumbach / Hefermehl / Matthias Casper, Wechselgesetz / Scheckgesetz / Recht der kartengestützten Zahlungen, 23. Aufl. 2008, Einleitung WG, RdNr. 87; Staudinger / Sibylle Kessal-Wulf, BGB, Neubearb. 2004, § 496 RdNr. 15; MünchKomm / Jan Schürnbrand, BGB, 5. Aufl. 2008, § 496 RdNr. 14; vgl. auch Soergel / Franz Häuser, 12. Aufl., VerbrKrG § 10 RdNr. 8 „nach ganz überwiegender Ansicht“ ohne Benennung einer Gegenstimme; a.A., allerdings ohne nähere Begründung Kurt Reinking / Thomas Nießen, Das Verbraucherkreditgesetz, ZIP 1991, 79, 85. 36 BGH WM 1991, 1946. 37 Zu weiteren Beispielen MünchKomm / Jan Schürnbrand, BGB, 5. Aufl. 2008, § 496 RdNr. 17. 38 Vgl. LG Hamburg WM 1973, 1427, BGH WM 1980, 521; 1987, 692; Bernd Peters, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 3. Aufl. 2007, § 64 RdNr. 47. 39 Helmut Kollhosser, Der sittenwidrige Zechwechsel – LG Hamburg, WM 1973, 1427, JuS 1977, 513; Peter Bülow, WechselG / ScheckG / AGB, 4. Aufl. 2004, Art. 17 RdNr. 46.
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nicht unwesentliche Rolle spielte zudem die vielfach familiär verstärkte Peinlichkeit, eine gerichtliche Auseinandersetzung zu Erlebnissen auf der Dienstreise nach Hamburg zu führen.40 Um den sichtbar werdenden systematisch betriebenen Missbrauch des Wechselrechts zu unterbinden, hat die Rechtsprechung daher den einzig aussichtsreichen41 Weg beschritten, die ganze „Geschäftsart“ (Ausstellung mehrstelliger Wechsel in Animierlokalen für Zechschulden) wegen ihrer generellen Gefährlichkeit für sittenwidrig zu erachten, und zwar ohne Rücksicht auf die regelmäßig nicht aufklärbaren Besonderheiten des Einzelfalls. Damit kam es nur noch auf die unstreitige oder leicht zu beweisende Tatsache an, dass der Wechsel unter entsprechenden Umständen akzeptiert und begeben worden war. Diese Abwehr von Gefahren aus der „schneidigen“ Forderungsdurchsetzung mittels Wechseln hatte ihr Vorbild vor allem in der Beurteilung von „Reitwechseln“, also von Wechseln, die planmäßig zwischen Personen ausgetauscht werden, die keine Warenumsätze tätigten, sondern sich nur auf diese Weise einen Diskontkredit verschaffen wollten. Weil der Sittenverstoß in diesen Fällen gerade in der Begebung der Urkunde zu sehen war und nicht nur in den damit zusammenhängenden Vereinbarungen, wurde die Wechselverpflichtung als solche als nichtig angesehen.42 Soweit ersichtlich sind gegen diese Rechtsprechung, die auf einer denkbar allgemeinen gesetzlichen Grundlage (§ 138 BGB) zu unwirksamen Wechselverpflichtungen kommt, keine Bedenken aus dem Genfer Abkommen über das Einheitliche Wechselgesetz geltend gemacht worden. Insofern ist schwer zu verstehen, warum der Gesetzgeber daran gehindert sein sollte, für bestimmte Fallgruppen eingegangenen Wechselverpflichtungen die Wirksamkeit zu versagen. Vor allem lässt sich der Anwendungsbereich viel präziser bestimmen als im Falle sittenwidriger Wechsel in „Animierlokalen“. Auch die Verbraucherkreditrichtlinie setzt offenbar voraus, dass jedenfalls in einigen Mitgliedstaaten Wechsel im Zusammenhang mit Verbraucherkrediten gar nicht wirksam begeben werden können. Es liegt eher fern, dass dabei nur die Mitgliedstaaten gemeint sein sollten, die nicht dem Genfer Wechselrecht angehören. Sähe das Gesetz eine Unwirksamkeit vor, wäre der Schutz von Darlehensnehmern eher effizienter ausgestaltet, ohne Belange des Verkehrsschutzes zu beeinträchtigen. Es läge nämlich ein nichturkundlicher Gültigkeitseinwand vor, der nur zwischen den unmittelbar Beteiligten uneingeschränkt geltend gemacht werden 40 Zu einem Gegenbeispiel (Geistlicher bringt Animierdamen zur Polizeiwache und setzt Blutproben durch, um Anhaltspunkte für das Ausmaß des Konsums zu sichern) Helmut Kollhosser, JuS 1977, 513, 516 Fn. 31 (FAZ v. 5. 7. 1974). 41 Vgl. dazu im Einzelnen Helmut Kollhosser, JuS 1977, 513, 516 ff. 42 BGHZ 27, 172 = NJW 1958, 989 = WM 1958, 671; BGH WM 1969, 334 = BB 1969, 384; BGH WM 1973,66 = NJW 1973, 282; Baumbach / Hefermehl / Matthias Casper, Wechselgesetz / Scheckgesetz / Recht der kartengestützten Zahlungen, 23. Aufl. 2008, Einleitung WG, RdNr. 80; Wolfgang Burghardt, Bankrecht und Bankpraxis, Wechselverkehr, RdNr. 6 / 669.
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kann. Gutgläubige Erwerber werden nach der ganz herrschenden Rechtsscheinlehre aufgrund der Unterzeichnung des Wechsels (Skriptur) und der Zurechnung des Rechtsscheins geschützt.43 Wenn nach § 496 Abs. 3 BGB nur die Verpflichtung zur Wechselbegebung unwirksam ist und ein Herausgabeanspruch besteht, liegt – wie in sonstigen Störungsfällen44 – eine Einrede gegen die Wechselverbindlichkeit vor, für die im Falle der Weitergabe Art. 17 WG gilt.45 Dies führt allerdings nicht selten zur Assoziation, dass eine Verteidigung nur gegenüber dem unmittelbaren Wechselnehmer und bestenfalls im Nachverfahren möglich ist.46 Auch als Einrede kann dem unmittelbaren Wechselnehmer schon im Wechselprozess entgegengehalten werden, dass der Wechsel zur Begleichung einer Forderung aus einem Verbraucherdarlehen gewährt worden ist. Im Regelfall dürfte sich dies schon wegen § 462 Abs. 1 Nr. 7 BGB aus dem Darlehensvertrag ergeben, der dann als Urkunde gemäß § 568 ZPO vorgelegt werden kann.47 3. Die französische Regelung als Gegenbeispiel Die Verbraucherkreditrichtlinie von 1986 ist in Frankreich in einem größeren Zusammenhang umgesetzt worden, nämlich in einer umfassenden Kodifizierung des Verbraucherrechts (Code de la Consommation). Sie betrifft nicht nur Verbrauchergeschäfte, sondern regelt auch die Verbraucherverschuldung, das Recht der Verbraucherschutzverbände und einschlägiger staatlicher Institutionen. Mit der Begebung von Wechseln (Tratten und Eigenwechseln) befasst sich Artikel L 313 – 13. Hier werden die Vorschriften des Artikels 114 Code de commerce48 für anwendbar erklärt, wenn Darlehensnehmer im Zusammenhang mit Kreditgeschäften Wechsel ausstellen oder verbürgen.49 Diese Vorschrift betrifft Rechtsgeschäfte von Minderjährigen, die grundsätzlich als unwirksam anzusehen sind.50 Der Verbraucher wird also im Rahmen von Kre43 Baumbach / Hefermehl / Matthias Casper, Wechselgesetz / Scheckgesetz / Recht der kartengestützten Zahlungen, 23. Aufl. 2008, Art. 17, RdNr. 96 ff. 44 Insbesondere bei fehlender Forderung aus dem Grundgeschäft bereicherungsrechtliche Einrede aus §§ 812 Abs. 2, Abs. 1 S. 1 1. Alternative iVm § 821 BGB. 45 Zum Erfordernis des Verkehrsgeschäfts, an dem es im Zusammenhang mit der Abwicklung von Verbraucherdarlehen häufig fehlt vgl. MünchKomm / Jan Schürnbrand, BGB, 5. Aufl. 2008, § 496 RdNr. 20 ff., insbesondere zur Refinanzierung durch Wechsel. 46 Soergel / Franz Häuser, 12. Aufl., VerbrKrG § 10 RdNr. 9. 47 So zutreffend Baumbach / Hefermehl / Matthias Casper, Wechselgesetz / Scheckgesetz / Recht der kartengestützten Zahlungen, 23. Aufl. 2008, Einleitung WG, RdNr. 29 ff. 48 Seit 2006 Art. L511 – 5. 49 Les dispositions de l’article 114 du code de commerce sont applicables aux lettres de change et billets à ordre souscrits ou avalisés par les emprunteurs même majeurs à l’occasion des opérations de crédit régies par le présent titre à l’exception des sections 2, 4, 6 et 7 du chapitre II et des sections 1, 3 et 4 à 8 du présent chapitre.
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ditgeschäften und damit zusammenhängenden Wechselbegebungen als Minderjähriger behandelt51; dies wird noch einmal in Artikel L 313 – 13 hervorgehoben, in dem ausdrücklich festgehalten ist, dass die Regelung auch für volljährige Darlehensnehmer gilt (emprunteurs même majeurs). Verbindlichkeiten aus Wechseln entstehen also unter diesen Voraussetzungen nicht; den Darlehensnehmern kommt der volle Minderjährigenschutz zugute, ebenso wie im deutschen Recht ggf. auch zu Lasten gutgläubiger Wechselinhaber.52 Dass Frankreich Vertragsstaat des Genfer Übereinkommens ist, hat diese Regelung mit einem sehr weitgehenden Schutz von Verbrauchern / Darlehensnehmern offenbar nicht verhindert. Zugunsten der französischen Lösung lässt sich auch das Argument anführen, dass die Regelungen zur Wechselrechtsfähigkeit nicht harmonisiert sind, also Raum für den nationalen Gesetzgeber lassen.53 Mit Blick auf die Verbraucherkreditrichtlinie wird die weitgehende Regelung mit der dort festgelegten Mindestharmonisierung gerechtfertigt.54 Auch aus diesem Blickwinkel erscheint die in Deutschland geübte Zurückhaltung zweifelhaft. Außerdem offenbaren sich hier grundlegende Divergenzen zum Verständnis des Genfer Wechselübereinkommens, die angesichts des Alters dieser Harmonisierung erstaunen müssen. 4. Analoge Anwendung von § 496 Abs. 3 BGB Während das „Wechselverbot“ seit seinem Erlass keine große Rolle gespielt hat, ist § 496 Abs. 3 BGB55 in das Umfeld einer heftig geführten Kontroverse geraten, 50 Art. L511 – 5 Code de Commerce: Les lettres de change souscrites par des mineurs sont nulles à leur égard, sauf les droits respectifs des parties, conformément à l’article 1312 du code civil. 51 Eine interessante Parallele findet sich dazu in der historischen Darstellung von Carl Julius Lange, Die Wechselgeschäfte in allen ihren Rechten und Verbindlichkeiten, Hamburg [u. a.] 1810, S. 18: nach dem Leipziger Marktreskript von 1660 waren alle Personen (auch Nichtkaufleute) wechselfähig, allerdings mit der Ausnahme von „Frauenzimmern, Minderjährigen, Geistlichen, Studenten, Soldaten und Bauern“. Im Hinblick auf weibliche Personen wird insofern auf die zeitgenössische Regelung in Art. 113 code de commerce verwiesen, der Mädchen und Frauen, die nicht öffentlich Handelsgeschäfte betreiben, die Wechselfähigkeit abspricht (S. 16). 52 Ripert / Roblot / Delebecque / Michel Germain, Traité de droit commercial, tome II, 17. Aufl. 2004, n°1960. 53 Vgl. Baumbach / Hefermehl / Matthias Casper, Wechselgesetz / Scheckgesetz / Recht der kartengestützten Zahlungen, 23. Aufl. 2008, Einleitung WG, RdNr. 17: auch keine Regelung im deutschen WG (im Gegensatz zur WO); deshalb gelten die allgemeinen Grundsätze des bürgerlichen Rechts, vgl. auch Art. 2 des Abkommens über Bestimmungen auf dem Gebiete des internationalen Wechselprivatrechts, der dazu auf das jeweilige nationale Recht verweist. 54 Vgl. Ripert / Roblot / Delebecque / Michel Germain, Traité de droit commercial, tome II, 17. Aufl. 2004, n°1960. 55 Bis zum 13. 8. 2008 § 496 Abs. 2 BGB.
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an deren Anfang eine mögliche analoge Anwendung dieser Vorschrift steht. Den Hintergrund bilden aus den USA übernommene Refinanzierungstechniken, jüngere Reformen der Bankenaufsicht (Basel II)56, die zu Eigenkapitalknappheit geführt haben und die rechtspolitische Diskussion um Marktteilnehmer, die als „Heuschrecken“57 bezeichnet werden. Mittlerweile ist die globale Finanzkrise als wesentlicher Faktor dazu gekommen. Jedenfalls als eine ihrer Ursachen wird die Trennung zwischen Kreditvergabe und weiterer Abwicklung mit Übernahme des Ausfallrisikos gesehen.58 Ausgangspunkt bildet die bei Immobiliardarlehen seit langem geübte Praxis der Kreditinstitute, die grundpfandrechtliche Absicherung59 durch besondere Gestaltungen zu verstärken. Im Gesetz vorgezeichnet ist die für den jeweiligen Eigentümer geltende Unterwerfung unter die sofortige Zwangsvollstreckung hinsichtlich des Grundpfandrechts (§§ 795 Abs. 1 Nr. 5, 800 ZPO). Der Titel, der auf diese Weise begründet wird, erspart es dem Inhaber des Grundpfandrechts, seinen Anspruch aus § 1147 BGB auf Duldung der Zwangsvollstreckung erst erfolgreich einklagen zu müssen. Bei dieser Gelegenheit beurkundet der ohnehin eingeschaltete Notar eine weitere Vollstreckungsunterwerfung.60 Diese „persönliche Unterwerfung zur Vollstreckung in das gesamte Vermögen“ des Grundstückseigentümers61 bezieht sich nicht auf die Forderung auf Rückzahlung der Darlehenssumme62, sondern auf eine weitere Forderung, die mehr oder weniger deutlich63 gleichzeitig begründet wird. Es handelt sich um ein abstraktes Schuldversprechen / -anerkenntnis64 im Sinne von 56 Vgl. zum Baseler Regelungswerk Monatsbericht der Deutschen Bundesbank Januar 2009, S. 59 ff. 57 Wohl erstmals im Jahr 2004 verwendet vom damaligen SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering, vgl. SPD: Programmheft I. Tradition und Fortschritt. Januar 2005, S. 18 („Heuschreckenschwärme“). 58 „KVV-Modell“, bei dem Kredite kreiert, dann verbrieft und dann schließlich an Investoren verkauft werden; oder kurz und seit längerem viel gebräuchlicher: originate-to-distribute Geschäftsmodell im Gegensatz zur originate-to-hold Strategie; vgl. Monatsbericht der Deutschen Bundesbank Juli 2008, S. 23. 59 Praktisch nur noch durch Grundschulden. 60 Vgl. dazu nur die Entscheidung vom 16. 6. 2006 BGHZ 168, 1 = NJW 2006, 2099 = WM 2006, 1194 mit Anm. WuB I G 5 Immoblienanlagen 6.06 Peter Bülow. 61 Aus dem Tatbestand des Urteils vom 16. 6. 2006: Gemäß Ziffer V. der Urkunde übernahmen die Kläger die persönliche Haftung für die Zahlung des Grundschuldbetrages samt Zinsen und Nebenleistungen und unterwarfen sich „wegen dieser persönlichen Haftung der Gläubigerin gegenüber“ der sofortigen Zwangsvollstreckung in ihr gesamtes Vermögen. 62 So aber Hans-Michael Krepod / Alexandra Achors, Das zur Sicherung eines Darlehens im Rahmen einer Grundschuldbestellung abgegebene abstrakte, persönliche und vollstreckbare Schuldanerkenntnis im Lichte des neues Verjährungsrechts, BKR 2007, 185. 63 Im Regelfall ist von Haftungsübernahme in Höhe der Grundschuldsumme die Rede, ohne dass dies als „Anerkenntnis“ bezeichnet wird; vgl. zu verschiedenen Varianten Clemens Clemente, Neuerungen im Immobiliardarlehens- und Sicherungsrecht, ZfIR 2008, 589 f.
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§§ 780, 781 BGB, das über denselben Betrag lautet wie das bestellte Grundpfandrecht.65 Das Anerkenntnis wird zum Zweck der Sicherung des Gläubigers / Grundpfandgläubigers abgegeben. Aus dem Zusammenhang66 wird gefolgert, dass der maßgebliche Sicherungszweck sich aus der Sicherungsabrede ergibt, die nach ausdrücklicher Vereinbarung für das Grundpfandrecht gilt.67 Jedenfalls wenn der Sicherungsgeber auch Schuldner der Darlehensforderung ist68, besteht der Sicherungseffekt des Anerkenntnisses darin, dass eine neue abstrakte Forderung begründet wird, aus der der Gläubiger zunächst unabhängig vom Bestehen der Darlehensforderung vorgehen kann.69 Um sich zu wehren, kann der Schuldner geltend machen, der Gläubiger sei um das Anerkenntnis bereichert (§ 812 Abs. 2, Abs. 1 S. 1 1. Alternative BGB), woraus sich die Einrede der ungerechtfertigten Bereicherung ergibt (§ 821 BGB). Damit ist erreicht, dass den Schuldner anders als bei einer Inanspruchnahme aus dem Darlehensvertrag die volle Beweislast trifft. Die dazu erklärte Vollstreckungsunterwerfung erhöht den Wert noch einmal ganz erheblich; nun muss der Schuldner auch prozessual die Initiative ergreifen, indem er Vollstreckungsgegenklage gemäß § 767 ZPO erhebt. Diese Vertragspraxis ist insbesondere seit In-Kraft-Treten des AGB-Gesetzes angegriffen worden. Die entsprechenden Klauseln seien überraschend (jetzt § 305 c BGB) und verstießen gegen das Verbot der Beweislastumkehr (jetzt § 309 64 Schuldversprechen trifft eher zu, allerdings ist häufig auch von Anerkenntnis die Rede, möglicherweise weil damit der bereicherungsrechtliche Zusammenhang deutlicher wird, vgl. § 812 Abs. 2 BGB. 65 BGHZ 98, 256, 259 m.w.Nachw. = NJW 1987, 319 = WM 1986, 1467 = WuB I F 3 Grundpfandrechte 2.87 Bruno Rimmelspacher; BGH NJW 1991, 286 = WM 1990, 1927, 1928 = WuB I F 3 Grundpfandrechte 1.91 Ekkehard Hegmanns. 66 Z.B. stand in dem mit Urteil des BGH v. 22. 11. 2005 (WM 2006, 87 = ZIP 2006, 119 = BKR 2006, 13 = WuB IV C § 3 AGBG 1.06 Lutz Haertlein) entschiedenen Fall die maßgebliche Vertragsklausel in einem mit „Sicherung“ überschriebenen Abschnitt und lautete: „Der Darlehensnehmer hat sich der sofortigen Zwangsvollstreckung in sein gesamtes Vermögen zu unterwerfen. Die Bank kann die persönliche Haftung unabhängig von der Eintragung und dem Bestand der Grundschuld sowie ohne vorherige Zwangsvollstreckung in das Beleihungsobjekt geltend machen.“ Hieraus und aus der regelmäßig farblos formulierten persönlichen Vollstreckungsunterwerfung in Höhe des Grundschuldbetrages ergeben sich die nachfolgend angeführten Erklärungen des Sicherungsgebers. So auch schon BGH WM 2003, 2372, 2374, WM 2003, 2375, 2378; vgl. auch Senatsbeschluss vom 17. Juni 2003 – XI ZR 395 / 01, im Internet abrufbar unter http: //www.bundesgerichtshof.de/. 67 BGH WM 2005, 1076, 1078; BGHZ 168, 1 = WM 2006, 1194 = NJW 2006, 2099 = ZIP 2006, 1187 = BKR 2006, 337 = ZBB 2006, 365; mit Anm. WuB I G 5 Immoblienanlagen 6.06 Peter Bülow. 68 Falls dies nicht zutrifft, ergibt sich vor dem Hintergrund der AGB-Kontrolle sowieso eine andere Lage; vgl. BGHZ 114, 13 = NJW 1991, 1677 = WM 1991, 758 = WuB I F 3 Grundpfandrechte 8.91 Manfred Obermüller. 69 So schon BGHZ 98, 256, 259 m.w.Nachw; BGH WM 1990, 1927, 1928; BGH NJW 1991, 1677 = WM 1991, 758.
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Nr. 12 BGB).70 Der Bundesgerichtshof hat dies mit der Begründung zurückgewiesen, entsprechende Klauseln spiegelten die jahrzehntelange Vertragspraxis wieder und mit dem Anerkenntnis mache der Sicherungsnehmer von einer seit jeher im BGB vorgesehenen Gestaltungsmöglichkeit Gebrauch, die nicht mit einer Bestimmung zur Beweislastumkehr im Sinne von § 309 Nr. 12 BGB gleichzusetzen sei.71 Dies ist hier nicht weiter zu vertiefen. Von Bedeutung ist vielmehr im vorliegenden Zusammenhang, dass diese Vertragsgestaltung auch unter Berufung auf § 496 Abs. 3 BGB, also das Wechselverbot angegriffen wurde. Jedenfalls im unmittelbaren Verhältnis zwischen Sicherungsgeber und Sicherungsnehmer hat das Anerkenntnis einen ähnlichen Effekt wie die Begebung eines Wechsels: Der Sicherungsnehmer kann als Gläubiger im Urkundsprozess aus einer neuen abstrakten Forderung vorgehen und der Sicherungsgeber muss sich als Schuldner mit voller Beweislast durch die Bereicherungseinrede zur Wehr setzen; im Regelfall ist er dabei auf das Nachverfahren angewiesen. Anders als der Wechsel kann das Anerkenntnis zwar nicht mit der Wirkung eines Einwendungsausschlusses (Art. 17 WG) weitergegeben werden. Das Anerkenntnis wird aber noch durch die Vollstreckungsunterwerfung verstärkt, die sogar einen Urkundsprozess entbehrlich macht, und zwar auch für einen etwaigen Zessionar der Forderung aus dem Anerkenntnis. Wenn man die schon angeführte Gesetzesbegründung72 heranzieht, erscheint diese Parallele durchaus treffend. Für das Wechselverbot wird in erster Linie auf die Gefahr abgestellt, dass der Darlehensnehmer im Urkundenprozess die Einwendungen aus dem Grundgeschäft nicht erheben könne, sich zumindest die Beweislast umkehre, so dass der Darlehensnehmer beweisen müsse, dass ein Rechtsgrund für die geltend gemachte Wechselforderung nicht bestehe. Von daher liegt es durchaus nahe, eine planwidrige Lücke anzunehmen, die im Wege einer analogen Anwendung von § 496 Abs. 3 BGB zu schließen ist.73 Warum es zu dieser Lücke gekommen ist, lässt sich hier sogar noch besonders gut nachvollziehen. Aus der Sicht anderer Mitgliedstaaten standen als 70 Vgl. etwa Rolf Stürner, Kreditsicherung der Banken und das neue AGBG – Schlusswort, JZ 1977, 638, 639. 71 BGHZ 99, 274 = NJW 1987, 904 = WM 1987, 228 m.w.Nachw. zum seinerzeitigen Meinungsstand; dazu ablehnend Fritz Baur / Rolf Stürner / Alexander Bruns, Zwangsvollstreckungsrecht, 13. Aufl. 2006, RdNr. 16.19. 72 BT-Drucks. 11 / 5462, S. 25. 73 So die seinerzeit im Schrifttum überwiegende Ansicht; MünchKomm / Mathias Habersack, BGB 4. Aufl. § 496 RdNr. 8, Staudinger / Sibylle Kessal-Wulf, BGB Neubearb. 2004 § 496 RdNr. 28, Gregor Vollkommer, Zwangsvollstreckungsunterwerfung des Verbrauchers bei Immobiliardarlehensverträgen?, NJW 2004, 818 ff.; Palandt / Helmut Heinrichs, BGB, 64. Aufl. 2005, § 496 RdNr. 2; Cosima Möller / Christiane Wendehorst, in: Bamberger / Roth, BGB, 2003, § 496 RdNr. 3; Peter Reiff, in: AnwK, BGB, 2005, § 496 RdNr. 4. Weiterhin für analoge Anwendung Cosima Möller, in: Bamberger / Roth, 2. Aufl. BGB, 2007, § 496 RdNr. 3; aA MünchKomm / Jan Schürnbrand, BGB, 5. Aufl. 2008, § 496 RdNr. 8; Palandt / Walter Weidenkaff, BGB, 68. Aufl. 2009, § 496 RdNr. 2 mit Verweis auf BGH NJW 2005, 1576.
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gefährliche Verpflichtungen solche aus Wechseln und Sicherungsschecks zur Debatte und nicht das abstrakte Schuldanerkenntnis als Besonderheit des deutschen Rechts.74 Dementsprechend fehlt das Anerkenntnis in der Richtlinie; der deutsche Gesetzgeber hat zwar die maßgeblichen Gefahrenmomente vor Augen gehabt, ohne aber konsequenterweise das Schuldanerkenntnis des deutschen Rechts einzubeziehen. Gleichwohl ist es nicht gelungen, die Rechtsprechung von einer solchen Analogie zu überzeugen. Der zuständige XI. Senat verweist auf die spätere Entwicklung in der Gesetzgebung, in der die Erstreckung des Verbots auf vollstreckbare notarielle Schuldanerkenntnisse im Rechtsausschuss des Bundestages beraten worden sei. Die Mehrheit habe sie ausdrücklich abgelehnt.75 Da dem Gesetzgeber die jahrzehntelange Praxis persönlicher Vollstreckungsunterwerfung bekannt gewesen sei, spreche deshalb nichts dafür, dass er dies unterbinden wollte; vielmehr sei § 10 Abs. 2 VerbrKrG bewusst auf Wechsel und Schecks beschränkt worden.76 Hier mag der Gedanke nahe liegen, dass eine Vorlage an den EuGH (Art. 234 EG) erforderlich gewesen sei, um zu klären, ob in der Tat die Richtlinie das abstrakte Schuldversprechen nach deutschem Recht toleriere. Allerdings betrifft die Verbraucherkreditrichtlinie nicht Immobiliarkredite77, deren Sicherung in diesem Zusammenhang zur Debatte steht.78 Das Problem hat sich allerdings dadurch verschärft, dass die Sicherungsgeber schon mit der Unterschrift unter den Darlehensvertrag gebunden werden können. Enthält der Darlehensvertrag eine Verpflichtung zur Abgabe eines vollstreckbaren Schuldanerkenntnisses, so kann der Darlehensnehmer hierauf verklagt werden.79 Entgegen den ursprünglichen Erwägungen zur Zulässigkeit vollstreckbarer Anerkenntnisse80 ist er also keineswegs durch das Erfordernis notarieller Beurkundung und die damit verbundene Belehrung geschützt! 74 Zur Besonderheit der deutschen Rechtslage aus französischer Sicht Claude Witz, Droit privé allemand I, Acte Juridique Droit subjectif, Paris, 1992, S. 122, 124. 75 BT-Drucks. 11 / 8274 S. 22. 76 BGH MittBayNot 2005, 300; BGH NJW 2005, 1576 = WM 2005, 828 = WuB I G 5 Immobilienanlagen 9.05 Markus Roth; vorher schon Urteil des Kammergerichts WM 2005, 553 = WuB II J. § 714 BGB 1.05 Michael Volmer sowie des OLG Hamm WM 2005, 846 = WuB I E 2. § 496 BGB 1.05 Markus Artz; zur unveränderten neueren Rechtsprechung vgl. BGH, Urt. v. 22. 05. 2007 Az. XI ZR 337 / 05. 77 Zu dieser Unterart des Verbraucherkredits im Einzelnen Reinhard Welter, in: Berger u. a. (Hrsg), Festschrift für Norbert Horn, 2006, S. 873, 874. 78 BGH NJW-RR 2005, 985 = WM 2005, 1076 = WuB I F 3. Grundpfandrechte 2.05 Bruno Rimmelspacher. 79 BGH NJW-RR 2006, 490 = WM 2006, 87 = WuB IV C § 3 AGBG 1.06 Lutz Haertlein; dass damit die notarielle Beurkundung mit entsprechender Belehrung (§ 17 BeurkG) übergangen wird, ist dabei nicht angesprochen. Dies beruht wohl auf dem Standpunkt, dass für die Verpflichtung zur Abgabe einer Erklärung zur Vollstreckungsunterwerfung kein Formerfordernis vorgesehen sei. 80 Vgl. BGHZ 99, 274 = NJW 1987, 904 = WM 1987, 228: Den Schutz des Schuldners gewährleistet sie [die Zivilprozessordnung] bei den vollstreckbaren Urkunden durch das
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In jüngerer Zeit hat sich die Diskussion um die Zulässigkeit entsprechender Absicherungen auf andere Blickwinkel und Themen verlagert. Zunehmend ist die Praxis sog. Kreditverkäufe oder des Kredithandels81 in den Mittelpunkt gerückt, begleitet von mehr oder weniger seriöser Berichterstattung in den Medien.82 Ihnen ging es sehr häufig um den „Skandal“83, dass Kreditinstitute in Milliardenhöhe „Kredite aus Immobilienfinanzierungen verkaufen“, wodurch titulierte Forderungen in die Hand „skrupelloser Investoren“ gelangen könnten, die nur an einer möglichst raschen Verwertung der Sicherheit interessiert seien – selbst wenn das Darlehen ordnungsgemäß bedient werde. Auch seriösere Quellen84 haben darauf hingewiesen, dass in scheinbar heimischen Immobilienfinanzierungen zur verständlichen Beunruhigung der Darlehensnehmer auf einmal Gesellschaften erschienen sind, die nach den Gesetzen von Bermuda oder eines US-Bundesstaats gegründet waren. Der ehemalige Vorsitzende des XI. Zivilsenats hat sich vor diesem Hintergrund engagiert dafür ausgesprochen, Vollstreckungsunterwerfungen als unangemessene Benachteiligung an § 307 Abs. 1 S. 1 BGB scheitern zu lassen, mit der Folge, dass alle in der Vergangenheit vorgenommenen Vollstreckungsunterwerfungen unwirksam seien, falls nicht ausnahmsweise die Forderung einem vereinbarten Abtretungsverbot unterliege.85 Die Kreditwirtschaft könne sich auch nicht auf einen Schutz ihres Vertrauens in die bisherige Rechtsprechung berufen.
Erfordernis notarieller Beurkundung und die damit verbundenen notariellen Belehrungspflichten. 81 Vgl. dazu BT-Drucks. 16 / 9447, 1: Vor dem Hintergrund aufsichtsrechtlicher Veränderungen (Basel II) hätten Banken Kreditportfolien samt den dazugehörigen Sicherungsmitteln im Umfang von 35 bis 40 Milliarden ausgegliedert, um Eigenkapital für neue Kreditengagements freizusetzen. Die massive Zunahme der Abtretung von Kreditforderungen bzw. die Veräußerung der Kreditverhältnisse im Ganzen einschließlich der zur Sicherung bestellten Grundschulden habe eine nachhaltige Verunsicherung der Darlehensnehmer hervorgerufen. Diese Vorgänge waren allerdings nicht nur durch aufsichtsrechtliche Veränderungen verursacht, sondern sind im Interesse günstiger Refinanzierung durch gesetzgeberische Maßnahmen gefördert worden; vgl. dazu in Einzelnen Clemens Clemente, Verwertung der nicht akzessorischen Grundschuld im Rahmen eines Forderungsverkaufs, ZfIR 2007, 737, wo sogar von einem Gesamtvolumen in Höhe von 240 – 400 Mrd. die Rede ist. 82 Die Zeit v. 8. 7. 2004 Nr. 29; SZ v. 14. 9. 2007, S. 30 und vom 19. 6. 2008, S. 25; zu Unternehmenskrediten s. Börsen-Zeitung v. 26. 03. 2008, S. 11, 883; kritisch dazu insbesondere Marcel Köchling, Non-performing loans im Spiegel der aktuellen Medienberichterstattung Kreditwesen 2008, S. 106; Robert Freitag, Wirksamkeit vorformulierter Vollstreckungsunterwerfungen auch bei freier Abtretbarkeit der besicherten Kreditforderung, WM 2008, 1813. 83 Pointiert durch „Kaufen, tricksen, plattmachen“; SZ v. 19. 6. 2008 und http: //www. sueddeutsche.de/finanzen/147/445883/text/. 84 Clemens Clemente, Verwertung der nicht akzessorischen Grundschuld im Rahmen eines Forderungsverkaufs, ZfIR 2007, 737. 85 Herbert Schimansky, Verkauf von Kreditforderungen und Unterwerfung unter die sofortige Zwangsvollstreckung, WM 2008, 1049 ff.
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Im Anschluss an diesen Beitrag hat das Landgericht Hamburg mit entsprechender Begründung auf eine Erinnerung des betroffenen Schuldners die Erteilung der Vollstreckungsklausel versagt.86 Ein weiterer „Paukenschlag“ war aus München zu vernehmen.87 In einem Verfahren, in dem nach Übertragung von Forderung und Sicherheit zur Debatte stand, ob die „Zwangsvollstreckung aus den Grundschuldbestellungsurkunden für unzulässig zu erklären“ war, fand das entscheidende OLG starke Worte: Es dränge sich der Eindruck geradezu auf, dass der Beklagten ohne jede Rücksicht auf den aktuellen Forderungsstand, eine mögliche Darlehensablösung durch Dritte im Auftrag der Kläger und ungeachtet der mit der Vollstreckung einhergehenden wirtschaftlich nachteiligen Folgen für die Kläger allein daran gelegen sei, die Sicherheiten zu verwerten, um hohe und intransparente Erlöse zu erzielen. In der verweigerten Abrechnung sei eine schwere Verletzung der Pflicht zur Rechnungslegung zu sehen, die die betriebene Zwangsvollstreckung als unzulässige Rechtsausübung erscheinen lasse. Bei dieser recht allgemeinen Argumentation auf der Grundlage von § 242 BGB spielen Feinheiten wie abstrakte Schuldversprechen und ihre Auswirkungen keine Rolle. Auch sonst hat sich die Kontroverse von dem zu Grunde liegenden Anerkenntnis zu prozessrechtlichen Fragestellungen bewegt88, die hier nicht weiter verfolgt werden sollen.89 Der Gesetzgeber hat aus seiner Sicht mit dem Risikobegrenzungsgesetz den angemessenen Schutz der Darlehensnehmer angesichts der neuen Herausforderungen wiederhergestellt.90 Der öffentliche Glaube an das Grundbuch ist im Hinblick auf Einreden gegen (Sicherungs-)Grundschulden dabei geopfert worden.91 Das Thema 86 LG Hamburg NJW 2008, 2784 = WM 2008, 1450 = WuB IV C § 307 BGB 4.08 Hans Wolfsteiner. 87 OLG München WM 2008, 688. 88 Vgl. Jens-Hinrich Binder / Andreas Piekenbrock, AGB-rechtliche Unwirksamkeit einer formularmäßigen Unterwerfung unter die sofortige Zwangsvollstreckung ohne vertraglichen Abtretungsausschluss?, WM 2008, 1816, 1825 letzte Fußnote: Rechtslage bei Vorliegen eines abstrakten Schuldanerkenntnisses könne in diesem Zusammenhang nicht geklärt werden. Eine solche Lage war hier nach Darstellung der Autoren am Anfang ihres Beitrags durchaus gegeben, vgl. daselbst S. 1816. Im Beschluss des Landgerichts Hamburg ist dagegen davon die Rede, dass sich der Darlehensnehmer der sofortigen Zwangsvollstreckung der Darlehensforderung unterworfen habe; es liegt nahe, dass dies auf die häufig anzutreffende unklare Formulierung in der Bestellungsurkunde (s. o.) zurückzuführen ist. 89 Vgl. dazu noch Robert Freitag, Wirksamkeit vorformulierter Vollstreckungsunterwerfungen auch bei freier Abtretbarkeit der besicherten Kreditforderung, WM 2008, 1813 ff. und Reinhard Bork, Die Wirksamkeit von Unterwerfungsklauseln in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, ZIP 2009, 2049 ff. 90 Vgl. dazu Mathias Habersack, Die Vollstreckungsunterwerfung im Lichte des Risikobegrenzungsgesetzes, NJW 2008, 3173 ff. 91 § 1192 Abs. 1 a BGB; dazu im Einzelnen Clemens Clemente, Neuerungen im Immobiliardarlehens- und Sicherungsrecht, ZfIR 2008, 589, 594; dass aber nach wie vor bei der akzessorische Hypothek gem. §§ 1137, 1138 BGB die Verteidigung durch den öffentlichen Glauben des Grundbuchs abgeschnitten werden kann, wird zukünftig schwer zu vermitteln sein, insbesondere in der Lehre.
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zusätzlicher abstrakter Verpflichtung mit Vollstreckungsunterwerfung und ihre Übertragung ist dabei in keiner Weise angesprochen.92 Parallel zu der soeben geschilderten Entwicklung ist das Thema „Wechselverbot“ dagegen in anderem Zusammenhang wieder aktuell geworden. 5. Neue Verbraucherkreditrichtlinie und ihre Umsetzung in Deutschland Seit einigen Wochen findet die Umsetzung der „neuen Verbraucherkreditrichtlinie“93 statt.94 Sie muss bis spätestens zum 12. Mai 2010 abgeschlossen sein (Art. 27 der Richtlinie). a) Schwerpunkte der Neuregelung, insbesondere stärkere Förderung des Binnenmarkts Gegenüber der Richtlinie von 1986 sollen mit der Neuregelung Verbesserungen in einzelnen Punkten eingeführt werden. Zum Beispiel ist jetzt ein Widerrufsrecht vorgesehen, das bisher insbesondere in Deutschland unter Ausnutzung der Mindestharmonisierung durch europäische Vorgaben95 schon eingeführt war. Ein deutlicher Schwerpunkt der Neuregelung liegt darin, grenzüberschreitende Kreditvergaben im Binnenmarkt zu fördern. Transparenz hinsichtlich Preis und sonstiger Konditionen soll verbessert werden, insbesondere durch die Verwendung eines einheitlichen Formulars (Europäische Standardinformationen für Verbraucherkredite). Ebenfalls zur Förderung des Binnenmarkts findet ein wesentlicher Paradigmenwechsel statt: An die Stelle der Mindestharmonisierung, die den Mitgliedstaaten zuvor Raum für weitergehende Regelungen gelassen hat, tritt das Prinzip der Totalharmonisierung.96 Art. 22 Abs. 1 der Richtlinie sieht dazu vor, dass die Mitglied92 Dazu kritisch Clemens Clemente, Neuerungen im Immobiliardarlehens- und Sicherungsrecht, ZfIR 2008, 589, 596, 598; erst im Nachhinein kann die Neuregelung zum Schadenersatz bei unberechtigter Vollstreckung greifen, während sie in der nun beschworenen Bedrohungslage nicht sehr viel weiterhilft. 93 Richtlinie 2008 / 48 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87 / 102 / EWG des Rates, ABl. L 133 / 66 vom 22. 5. 2008. 94 S. dazu Patrick Rösler / Stefan Werner, Erhebliche Neuerungen im zivilen Bankrecht: Umsetzung von Verbraucherkredit- und Zahlungsdiensterichtlinie, BKR 2009, 1. 95 Reinhard Welter, in: Gebauer / Wiedmann (Hrsg.), Zivilrecht unter europäischem Einfluss, Verbraucherkredit (§§ 488 – 515 BGB), 2. Aufl. 2005, RdNr. 1. 96 Peter Rott, in: Dauses, Handbuch des EU Wirtschaftsrechts, Bd. 2, H V. RdNr. 395 f., Civic Consulting, Broad economic analysis of the impact of the proposed Directive on consumer credit, S. 13 ff., im Internet abrufbar unter http: //www.europarl.europa.eu/comparl/imco/ studies/0704_consumercredit_en.pdf.; Beate Gsell / Hans Martin Schellhase, Vollharmonisiertes Verbraucherkreditrecht – Ein Vorbild für die weitere europäische Angleichung des Verbrauchervertragsrechts?, JZ 2009, 20 ff. m.w.Nachw.
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staaten – soweit diese Richtlinie harmonisierte Vorschriften enthält – keine Bestimmungen in ihrem innerstaatlichen Recht aufrechterhalten oder einführen dürfen, die hiervon abweichen. Damit soll Anbietern entsprechender Leistungen im gesamten Binnenmarkt eine einheitliche rechtliche Grundlage gesichert werden.97 b) Regelungen zum Wechsel in der Richtlinie Während sich in der Richtlinie von 1986 Regelungen zum Wechsel im Zusammenhang mit der Abtretung von Darlehensforderungen fanden, stößt man hier zwar in Art. 17 auf die Forderungsabtretung. Über die bekannten Regelungen hinaus, die dem Darlehensnehmer alle Einreden erhalten, ist in Abs. 2 vorgesehen, dass der Verbraucher über die Abtretung zu informieren ist. Vergebens sucht man allerdings eine Regelung zum Wechsel, die sich daran nach dem bekannten Muster anschließt. Geht man der Entstehung der Richtlinie nach, so lässt sich leicht feststellen, dass der Vorschlag der Kommission vom 11. 9. 200298 noch einen Art. 18 enthalten hat, der Art. 10 der Richtlinie 87 / 102 / EWG ersetzen sollte. Unter der Überschrift „Verbot der Verwendung von Wechseln“ wurde dem Kreditgeber oder dem Gläubiger einer Forderung aus einem Kredit- oder Sicherungsvertrag sogar weitergehend untersagt, vom Verbraucher oder Garanten zu verlangen oder ihm vorzuschlagen, dass er für die Erfüllung seiner Verbindlichkeiten aus diesem Vertrag durch einen Wechsel oder Eigenwechsel garantieren soll. Der Wirtschafts- und Sozialausschuss hat im Juli 2003 festgehalten99, dass er die Entscheidung für „ein absolutes Verbot der Verwendung von Wechseln, Eigenwechseln oder vordatierter Schecks zur abstrakten Sicherung der Rückzahlung“ unterstütze. Die Regelung ist auch im Ausschuss für Recht und Binnenmarkt und in erster Lesung vom Europäischen Parlament (jeweils April 2004) gebilligt worden. Erst im neuen Vorschlag der Kommission100 vom 7. 10. 2005101 ist Art. 18 gestrichen.102
97 Hierfür hat sich der Begriff „level playing field“ eingebürgert; s. zum Ursprung http: //www.phrases.org.uk/meanings/228650.html http: //www.phrases.org.uk/bulletin_board/ 44/messages/824.html. 98 Vorschlag der Kommission vom 11. 9. 2002 KOM(2002) 443 endgültig 2002 / 0222 (COD). 99 ABl. EU C 234 vom 30. September 2003, S. 1 ff. 100 Zum Hintergrund dieses neuen Vorschlags vgl. Peter Rott, in: Dauses, Handbuch des EU Wirtschaftsrechts, Bd. 2, H V. RdNr. 359 ff. 101 KOM (2005) 483 endgültig 2002 / 0222(COD). 102 Grund für die Änderung war offenbar der Widerstand Großbritanniens: s. dazu insb. RdNr. 21, 55 sowie 112, 36th Report of Session 2005 – 06 of the House of Lords European Union Committee, http: //www.parliament.the-stationery-office.com/pa/ld200506/ldselect/ ldeucom/210/210i.pdf.
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c) Regelungen zum Wechsel im deutschen Regierungsentwurf Überraschend ist vor diesem Hintergrund der Blick in den Entwurf der Bundesregierung eines Gesetzes zur Umsetzung der Verbraucherkreditrichtlinie, Stand November 2008.103 Unter Art. 1 Ziffer 26 findet sich nur eine Änderung in § 496 Abs. 2 Satz 1.104 Abs. 3 mit der Regelung zum Wechsel bleibt also unberührt. Die Stellungnahme des Bundesrates vom 19. 12. 2008105 befasst sich damit schon gar nicht mehr. Dies bedeutet: § 496 Abs. 3 BGB soll unverändert bestehen bleiben. Es werden also keine Konsequenzen daraus gezogen, dass eine entsprechende Regelung in der endgültigen Richtlinie fehlt. Angesichts des angeführten Übergangs zur Totalharmonisierung erscheint dies jedenfalls nicht naheliegend. d) Totalharmonisierung nach den Erwägungsgründen der Richtlinie Eine gewisse Erklärung bieten aber schon die Erwägungsgründe der Richtlinie. Dort ist ausdrücklich festgehalten, dass sich aus der Totalharmonisierung Einschränkungen nur insofern ergeben sollen, als Vorschriften durch die Richtlinie harmonisiert werden. Soweit es keine solchen harmonisierten Vorschriften gebe, solle den Mitgliedstaaten freigestellt bleiben, innerstaatliche Rechtsvorschriften beizubehalten oder einzuführen. Dazu werden dann einige Beispiele genannt, etwa die gesamtschuldnerische Haftung von Verkäufer oder Dienstleistungserbringer und Kreditgeber. Hieraus kann man die Argumentation ableiten, der deutsche Gesetzgeber könne den Einsatz von Wechseln verbieten, gerade weil die Richtlinie hierzu überhaupt keine Regelung treffe. Freilich kann man insofern auch kritisch fragen, ob damit der Totalharmonisierung die beabsichtigte durchschlagende Wirkung genommen wird.106 Wie soll der Richtliniengesetzgeber zum Ausdruck bringen, dass er bestimmte Verbraucherrechte nicht vorsehen möchte?107 Z.B. hat man die Einfüh103 Im Internet abrufbar unter: http: //www.bmj.bund.de/files/-/3370/RegE_Verbraucherkreditrichtlinie.pdf http: //www.bmj.bund.de/enid/67b1aad058896e0a7c59e2299cea64c5,0/ Schuldrecht / Umsetzung_Verbraucherkredit-_und_Zahlungsdiensterichtlinie_1hc.html. 104 In § 496 Abs. 2 Satz 1 BGB werden die Wörter „gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 der BGBInformationspflichtenVerordnung“ durch die Wörter „nach Artikel 246 § 1 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche“ ersetzt. 105 BR Drucksache 848 / 08 vom 19. 12. 2008. 106 Dazu ausführlich Beate Gsell / Hans Martin Schellhase, Vollharmonisiertes Verbraucherkreditrecht – Ein Vorbild für die weitere europäische Angleichung des Verbrauchervertragsrechts?, JZ 2009, 20, 23, 26, die zutreffend auf die nun entscheidende Frage der Regelungsdichte hinweisen und den Gestaltungsspielraum, der sich aus „Löchern im Käse“ ergibt. 107 Ein vereinzeltes Beispiel gibt Art. 6 Abs. 8 der Richtlinie 2002 / 65 / EG vom 23. September 2002 über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher, Abl EG L 271 / 16 v. 9. 10. 2002, wonach Art. 6 nicht die Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Kündigung, die Auflösung oder die Unwirksamkeit eines Fern-
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rung eines Widerrufsrechts, das die Richtlinie von 1986 nicht kannte, damit rechtfertigen können108, dass dies dem deutschen Gesetzgeber aufgrund der Mindestharmonisierung freigestellt sei. Hierfür hat sich der anschauliche Begriff „Gold Plating“ eingebürgert.109 Nach dieser Logik würde sich vor dem Hintergrund einer Totalharmonisierung nichts ändern: Wenn der Richtliniengesetzgeber kein Widerrufsrecht vorsieht110, ist dieser Bereich nicht geregelt, also kann der nationale Gesetzgeber ein Widerrufsrecht einführen. Hier wird deutlich, dass der Übergang von Minimalharmonisierung zur Totalharmonisierung zwar den Eindruck eines grundlegenden Richtungswechsels zur Stärkung des Binnenmarktes erweckt, aber bei näherem Zusehen doch mit Fragezeichen zu versehen ist. Es könnte sich herausstellen, dass Mindestharmonisierung und Totalharmonisierung näher beieinander liegen, als dies nach rechtspolitischen Bekundungen111 schien. „Gold Plating“ ist nach wie vor eine Option, von der – wie man hier sieht – der nationale Gesetzgeber durchaus Gebrauch macht!112 e) Dienstleistungsfreiheit als Schranke Bedenken gegen die Regelung im Regierungsentwurf können aber auch von ganz anderer Seite geltend gemacht werden. Unabhängig von Mindestharmonisierung oder Totalharmonisierung ist noch die weitere Vorgabe zu beachten, dass verbraucherschützende Regelungen mit der zu gewährleistenden Dienstleistungsfreiheit vereinbar sein müssen. Hierzu kann man auf Beispiele aus der Rechtsprechung zurückgreifen113 sowie auf eine Stellungnahme der Kommission, die die maßgeblichen Grundsätze ausführlich zusammenfasst.114 Demnach müssen alle Regelunabsatzvertrags berührt; vgl. Peter Rott, in: Dauses, Handbuch des EU Wirtschaftsrechts, Bd. 2, H V. RdNr. 311, Stand Oktober 2008. 108 Reinhard Welter, in: Gebauer / Wiedmann (Hrsg.), Zivilrecht unter europäischem Einfluss, Verbraucherkredit (§§ 488 – 515 BGB), 2. Aufl. 2005. 109 Zu den Auswirkungen im Falle der Verbraucherkreditrichtlinie 1986 s. Uwe Blaurock, Verbraucherkredit und Verbraucherleitbild in der Europäischen Union, JZ 1999, 801 ff.; Corinna Ritz, Harmonisierungsprobleme bei der Umsetzung der EG-Richtlinie 87 / 102 über den Verbraucherkredit, 1996; ferner Peter Rott, in: Dauses, Handbuch des EU Wirtschaftsrechts, Bd. 2, H V. RdNr. 78 ff. 110 Wie bereits erwähnt, sieht allerdings die neue Verbraucherkreditrichtlinie dieses Widerrufsrecht jetzt nun vor. 111 Vgl. Pressemitteilung des BMJ vom 8. 4. 2008: Die neue Richtlinie enthält abschließende Vorgaben für die Gesetzgebung der Mitgliedstaaten (Grundsatz der Vollharmonisierung). 112 Entgegen rechtspolitischen Bekundungen, eine 1:1 Umsetzung anzustreben. 113 EuGH in Alpine Investments BV. / .Minister van Financiën NJW 1995, 2541=WM 1995, 1908 = WuB VII D. Art. 59 EWGV 1.96 Reinhold Thode; dazu Norbert Reich, Zur Frage der europarechtlichen Zulässigkeit eines nationalen Verbots von Telefonwerbung für Finanzdienstleistungen, EuZW 1995, 407. 114 Mitteilung der Kommission zu Auslegungsfragen über den freien Dienstleistungsverkehr und das Allgemeininteresse in der 2. Bankenrichtlinie vom 20. 6. 1997, SEK (97) 1193
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gen, die gegenüber ausländischen Anbietern als Hindernis erscheinen können, durch das „Allgemeininteresse“ gerechtfertigt sein.115 Auch verbraucherschützende Regelungen sind nach diesem Maßstab zu überprüfen. Wenn man sich vorstellt, dass das Wechselverbot einem ausländischen Anbieter nach dieser Maßgabe entgegengehalten werden soll, wird man in Begründungsnot kommen. Auf der einen Seite wird hierzulande insbesondere bei Immobilienfinanzierungen mit Grundschuldbestellungen die Gläubigersicherung durch Schuldanerkenntnis mit Vollstreckungsunterwerfung für unbedenklich gehalten, während beim Einsatz von Wechseln das Allgemeininteresse beeinträchtigt sein soll. Wie im Einzelnen dargelegt wurde, handelt es sich in beiden Fällen um die Begründung neuer abstrakter Verbindlichkeiten, die zu einer Beweislastumkehr führt, wobei die Vollstreckungsunterwerfung eine gerichtliche Geltendmachung durch den Gläubiger sogar gänzlich entbehrlich werden lässt. Mit einem Wechsel sind nur insofern weiterreichende Wirkungen verbunden, als im Falle der Weitergabe der Einwendungsausschluss nach Art. 17 WG greift. Soll der Wechsel gar nicht weitergegeben werden und setzt der ausländische Anbieter etwa Rektawechsel116 ein, fällt der Vergleich eindeutig aus: Das Anerkenntnis mit Vollstreckungsunterwerfung hat eine viel größere Tragweite als die Begründung von Wechselverbindlichkeiten. Es kommt hinzu, dass der Wechsel aufgrund seiner allseits bekannten „Gefährlichkeit“117 immerhin mit einer Warnfunktion verbunden ist, während im Falle des vollstreckbaren Anerkenntnisses schon die Unterschrift unter den Darlehensvertrag zur endgültigen Bindung führt.118 Wenn man sich also einen Fall vorstellt, dass ein ausländischer Anbieter von Immobilienfinanzierungen unter Berufung auf § 496 Abs. 3 BGB einen Rektawechsel herausgeben soll, dürfte ein Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit auf der Hand liegen. Die Erwägung, hierbei handele es sich um eine seit langem übliche Gestaltung bei der Absicherung von Immobiliardarlehen, kann in diesem Zusammenhang nicht verfangen. Es ginge auch nicht im Sinne der Rechtsprechung Keck und Mithouard119 um eine „Verkaufsmodalität“, sondern um die Ausgestaltung des „Produkts“ selbst.
endg.; vgl. auch Mitteilung der Kommission vom 14. 5. 2003 an den Rat, das Europäische Parlament und die Europäische Zentralbank – Anwendung von Art. 3 Abs. 4 bis 6 der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr auf Finanzdienstleistungen, KOM (2003) 259 endg. 115 Ausführlich Reinhard Welter, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 3. Aufl. 2007, § 28 RdNr. 23. 116 Art. 11 Abs. 2 WG. 117 Ein Satz wie „Schreibe hin, schreibe her, aber schreibe niemals quer“ ist für Darlehensverträge mit Verpflichtung zur Abgabe vollstreckbarer Anerkenntnisse nicht bekannt. 118 S. oben III. 4. 119 ABl EG 1994, Nr. C 1, 6 = EuGH NJW 1994, 121; vgl. Reinhard Welter, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 3. Aufl. 2007, § 28 RdNr. 13.
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IV. Schluss Am Anfang dieses Beitrages hat die Harmonisierung deutschen Wechselrechts im Rahmen einer Konferenz in Leipzig gestanden. Am Ende ist wieder der Blick auf eine Harmonisierung des Wechselrechts gerichtet, die allerdings unter ganz anderen Vorzeichen steht. Dass nun auf europäischer Ebene zu vereinheitlichen ist, liegt im Zuge der Zeit und versteht sich gleichsam von selbst. Anders als 1848 geht es aber nicht um den Wechsel als Instrument zur Zahlung und zur Kreditierung, das über verschiedene Rechtsordnungen hinweg auf sicherer rechtlicher Grundlage eingesetzt werden kann. Vielmehr ist der Blick auf einen engen Ausschnitt des Zivilrechts (Verbraucherdarlehen) gerichtet, und der Wechsel wird unter dem Vorzeichen des Verbraucherschutzes als (möglicherweise) zu bekämpfendes Übel betrachtet. Es fällt allerdings schwer, in einem musikalischen Sinne von Harmonisierung zu sprechen; nicht einmal die tempi passen zueinander: auf der einen Seite steht etwa das „fortissimo“ des französischen Rechts, das denkbar weitgehend Darlehensnehmer als Wechselschuldner Minderjährigen gleichstellt und auf der anderen Seite findet sich das „pianissimo“ des deutschen Gesetzgebers, der meint, die Wirksamkeit von Wechselverbindlichkeiten hinnehmen zu müssen. Wohltemperiert ist das nicht, ebenso wenig wie die Hinnahme vollstreckbarer Anerkenntnisse durch Rechtsprechung und Gesetzgebung und die pauschale Abwehr von Wechselverbindlichkeiten im deutschen Recht. Auch die denkbare Aussicht, dass das deutsche Recht bei dieser Linie bleibt, während im Anschluss an den Richtliniengesetzgeber der Rest von Europa den Kampf gegen den Wechsel beendet120, ist weit von irgendeiner Stimmigkeit entfernt. Vielleicht sollte man einmal über alles in Ruhe reden, an einem Ort, der sowohl wechselrechtlich Tradition mitbringt als auch lange Erfahrung in der kunstvollen Ordnung polyphoner Klänge.
120 Realistischerweise ist das allerdings vor allem mit Blick auf das französische Recht nicht zu erwarten, aber bei 27 Mitgliedstaaten wird sich zumindest ein buntes Bild ergeben.
Die Normierung des schuldnerischen „Vertretenmüssens“ im BGB einst und jetzt Von Walter Schönrath I. Einleitung 600 Jahre universitas litterarum lipsiensis und 600 Jahre Juristenfakultät Leipzig, Jubiläen solchen Ausmaßes mit einem Fachbeitrag würdigen zu wollen, lässt nach einer Thematik mit entsprechender zeitlicher Dimension Ausschau halten. Einem juristischen Zivilisten gerät da das Problem des schuldnerischen Vertretenmüssens im Zusammenhang mit der Befreiung von einer schuldrechtlichen Verpflichtung ins Blickfeld, das durch die ein Jahr nach Beginn dieses Jahrhunderts Gesetz gewordene Schuldrechtsmodernisierung wieder Aktualität erlangt hat. Die Schöpfer des BGB hatten es unternommen, insbesondere die im Corpus Juris Civilis enthaltene tausend Jahre römischer Zivilrechtsentwicklung umfassende Kasuistik auch zu dieser Frage in Normen umzusetzen, was in den §§ 275 bis 279 seinen Niederschlag fand. Wie aus den Gesetzgebungsmaterialien hervorgeht, war dies kein leichtes Unterfangen, so dass bis zuletzt um diese Regelung gerungen wurde. In der Praxis zeigte sich sehr bald, dass die Regelung nicht in allen Punkten gelungen war. Die Rechtsprechung, voran das in nachbarschaftlicher Nähe zu den Jubilarinnen wirkende Reichsgericht, und später auch die Lehre haben die Regelung in einer Weise präzisiert und ergänzt, dass sie vollauf den praktischen Anforderungen genügen konnte. So blieb den Schuldrechtsreformern nur die Aufgabe, die in Rechtsprechung und Schrifttum erzielten Ergebnisse adäquat in das BGB einzubringen. Es ging hierbei weniger um Denkmalspflege, als vielmehr darum, das BGB als ein lebendiges juristisches Regelwerk, dem über seine nationale Geltung hinaus auch internationale Bedeutung zukommt, mit neuem Leben zu erfüllen, es in seinem Wortlaut zu optimieren und so insgesamt wirksamer zu gestalten. Anliegen des Beitrages soll es folglich sein, ausgehend von einer kritischen Betrachtung der alten BGB-Regelung zu zeigen, wie die Schuldrechtsreform es vermocht hat, diese Aufgabe zu bewältigen.1 1 Schon aus Platzgründen soll sich die nachstehende Abhandlung auf die Befreiung von einer bestehenden Verbindlichkeit beschränken.
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II. Die Normierung des schuldnerischen „Vertretenmüssens“ in den §§ 276 – 279 BGB a. F. 1. Die Vorarbeiten von Friedrich Mommsen In seiner 1853 erschienenen Schrift „Die Unmöglichkeit der Leistung in ihrem Einfluss auf obligatorische Verhältnisse“ hat Friedrich Mommsen die im Corpus Juris Civilis enthaltene Systematik der Befreiung von einer schuldrechtlichen Verpflichtung umfassend herausgearbeitet. Ausgangs- und Angelpunkt war, wie der Titel schon sagt, die Unmöglichkeit. Sie allein führte jedoch nicht zur Befreiung des Schuldners von seiner Verpflichtung. Dazu war noch das Fehlen eines von ihm „zu vertretenden Verschuldens“2 erforderlich. Das Vertretenmüssen des Schuldners beschränkte sich also grundsätzlich auf Verschulden, abgesehen von solchen Ausnahmen wie das Einstehenmüssen z. B. der Schiffer, Gast- und Stallwirte für vis minor3. Sie mussten, um eine Befreiung von ihrer Verbindlichkeit zur Herausgabe der eingebrachten Sachen zu erreichen, nicht nur den Nachweis fehlenden Verschuldens, sondern des Beruhens ihrer Nichtleistung auf höherer Gewalt (vis major) führen. Aber das hatte besondere Gründe4. Mommsen ging davon aus, dass der Schuldner grundsätzlich Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten habe und dass sich Differenzierungen des Einstehenmüssens für Fahrlässigkeit aus dem unterschiedlichen Charakter der Schuldverhältnisse ergeben5. Das von ihm zu untersuchende Problem sah er in der Beantwortung der Frage, wann eine Unmöglichkeit vorliegt6. Soweit nicht nur der Schuldner, sondern niemand in der Lage war, die Leistung zu erbringen, sei es aus tatsächlichen Gründen (die zu leistende Sache war untergegangen) oder aus rechtlichen (die zu leistende Sache war eine res extra commercium7 geworden), also eine so genannte objektive Unmöglichkeit vorlag, war die Antwort noch unkompliziert. Schwieriger wurde es, wenn nur der Schuldner die Leistung nicht bewirken konnte, ein anderer schon, und es sich folglich um eine subjektive Unmöglichkeit handelte. Aus Platzgründen, aber auch weil ausreichend, soll der Untersuchung Mommsens, inwieweit eine nachträgliche subjektive Unmöglichkeit der objektiven gleichzustellen ist, lediglich im Hinblick auf die Sachleistung nachgegangen werden, die er nach deren Gegenstand differenzierte: Individuell bestimmte Sache, Alternativschuld, Gattungsschuld, Geldschuld. In dieser Reihenfolge führte er auch seine Untersuchung. Weil für das Anliegen des Mommsen, S. 1, insbes. S. 232. Mommsen, S. 253. 4 Siber, S. 248, der darauf verweist, dass diese Haftungssteigerung in den Hauptbeispielsfällen darauf beruhte, „dass Durchsteckereien mit Wissen des fullo, caupo etc. besonders nahe liegen“. 5 Mommsen, S. 228 ff. 6 Mommsen, S. 1, 233. 7 Eine dem Verkehr entzogene Sache. 2 3
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Beitrages zweckmäßiger, soll deren Betrachtung hier in umgekehrter Reihenfolge vorgenommen werden8. Für die Geldschuld schloss Mommsen eine Unmöglichkeit der Leistung überhaupt aus; denn Geld, das geleistet werden könne, sei immer vorhanden, auch wenn der Schuldner keines habe9. Deshalb stellte sich ihm auch nicht die Frage nach der Gleichstellung von subjektiver und objektiver Unmöglichkeit. Dahinter stand der Grundsatz: Geld muss der Schuldner haben10. Zur Gattungsschuld argumentierte Mommsen so: Auch wenn der Schuldner über keine Sache der geschuldeten Gattung verfüge und kein Eigentümer einer solchen Sache willens sei, sie ihm zu überlassen, werde er nicht von seiner Verpflichtung frei11. Eine subjektive Unmöglichkeit konnte danach erst dann als eine wahre, d. h. als eine objektive anerkannt werden, wenn niemand mehr über eine solche Sache verfügte, d. h. wenn die Gattung untergegangen war. Zu diesem Zeitpunkt trat aber eine objektive Unmöglichkeit ein, so dass auch hier die Frage nach der Gleichstellung von subjektiver und objektiver Unmöglichkeit keine Rolle spielte. Problematisch wurde diese Frage erst bei der auf Leistung einer individuell bestimmten Sache gerichteten Obligation. Hier gelangte er zu dem Ergebnis, dass die subjektive Unmöglichkeit nur dann nicht wie eine objektive zu behandeln sei, wenn dem Schuldner das zur Erbringung der Leistung erforderliche Recht zum Zeitpunkt des Entstehens der Obligation fehle12. Grund für diese Ausnahme war vor allem der allgemein anerkannte Grundsatz, dass man eine fremde Sache verkaufen oder auch testamentarisch vermachen konnte13. Sie betraf jedoch die anfängliche Unmöglichkeit, die hier nicht weiter behandelt werden soll. Für die nachfolgende Unmöglichkeit ist folgendes festzuhalten. Verlor der Schuldner nach Entstehen der Verbindlichkeit das zur Leistung erforderliche Recht, sollte die daraus resultierende subjektive Unmöglichkeit einer objektiven gleich stehen. Mommsen räumte ein, dass die Quellen dafür nur wenige Beweise liefern und das wohl deshalb, weil bei freiwilligem Verlust des Rechts fast immer ein Verschulden vorliege und deshalb die Frage nach der Gleichstellung von subjektiver und objektiver Unmöglichkeit keine Bedeutung habe, und so beträfen die wenigen Entscheidungen auch stets den unfreiwilligen Verlust des Rechts14. Er 8 Die Alternativschuld bleibt unberücksichtigt, da eine Unmöglichkeit erst relevant wird, wenn sie beide Schuldgegenstände betrifft; dann aber ist die Leistung individuell oder der Gattung nach bestimmt oder es handelt sich um eine Geldleistung. 9 Mommsen, S. 49. 10 Mommsen, S. 49, verweist auf C. 4. 2. 11: incendium aere alieno non exuit debitorem (Brand befreit den Schuldner nicht von seinen Schulden). 11 Mommsen, S. 47. 12 Mommsen, S. 44. 13 Mommsen, S. 13 ff. 14 Mommsen, S. 38.
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nannte die Enteignung (publicatio)15, die richterliche Zuweisung (adiudicatio) in Folge einer Teilungsklage bei Miteigentum16 und die Auslieferung eines Sklaven an den durch diesen Geschädigten (noxae deditio)17 und musste bei deren Prüfung Ausnahmen von seiner Regel eingestehen. In D. 19. 2. 33 wurde die Enteignung eines Landgutes zwar als Befreiungsgrund von der Pachtverpflichtung angesehen und damit seine Regel gestützt. Aber er verwies selbst darauf, dass die Enteignung gewöhnlich nicht dazu führte, dass die enteignete Sache dem Verkehr entzogen war. Daraus und verstärkt noch aus dem Umstand, dass bei Enteignung auch die Möglichkeit bestand, das Enteignete durch einen Beauftragten zurückzukaufen (D. 17. 1. 22. 5) schloss er, dass die Enteignung in der Regel nicht als wahre Unmöglichkeit anerkannt wurde. Die Möglichkeit des Rückkaufs bezeichnete er als den „entscheidendsten Beweis“ dafür18. Eine ähnliche Situation fand er in D. 30. 53. 4 vor. Der Erbe konnte den vermachten Sklaven nicht an den Vermächtnisnehmer herausgeben, weil er ihn an den von diesem durch Delikt Geschädigten ausgeliefert hatte. Hier wurde der Erbe von seiner Schuld ebenfalls nicht befreit. Als Begründung stand in der von Ulpian stammenden Digestenstelle die Frage „an teneatur, quia potest redimere?“ 19 und die Antwort lautete „et puto teneri“20. Mommsen meinte, wenn die in die Entscheidung eingebaute Frage sich auf den Fall selbst beziehe, dann stehe das der von ihm formulierten Regel entgegen. Aber man könnte sie auch so verstehen, dass sie allgemein die subjektive Unmöglichkeit habe bezeichnen sollen, während die Nichtbefreiung des Schuldners darauf beruhte, dass der Testator dem Vermächtnisnehmer den Sklaven habe unbelastet zukommen lassen wollen21. Dass er zu einer solch gewagten Interpretation Zuflucht nahm, deutet darauf hin, dass er die im Zusammenhang mit der publicatio aufgestellte Ausnahmeregel (keine wahre Unmöglichkeit, wenn es eine Rückkaufmöglichkeit gibt) nicht auch auf andere Fälle der subjektiven Unmöglichkeit ausdehnen wollte, die durch Geldeinsatz zu beheben waren. D. 30. 53. 4 stellte eine solche Erweiterung dar. Es ging dort nicht um Rückkauf im wörtlichen Sinne, sondern um die Zahlung der so genannten litis aestimatio22, die den Erben von der Pflicht, den Sklaven an den Geschädigten auszuliefern, befreite23. Mommsen, S. 38. Mommsen, S. 39. 17 Mommsen, S. 41 f. 18 Mommsen, S. 38 Fn. 2. 19 Die ganze Stelle lautet: Sed si noxae dedit, an teneatur, quia potest redimere?, et puto teneri; in Otto / Schilling / Sintenis, wird sie so übersetzt: Ist er aber verbindlich, wenn er ihn eines [von ihm gestifteten] Schadens wegen ausgeliefert hat, da er ihn auslösen konnte? Ich glaube ja. 20 s. Fn. 19. 21 s. Fn. 17. 22 Schätzwert der Streitsache. 23 Vgl. Siber, S. 229. 15 16
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Zur Speziesschuld kann man somit das Ergebnis der Mommsen’schen Untersuchung wie folgt zusammenfassen: Die subjektive Unmöglichkeit wurde dann nicht wie eine objektive behandelt, wenn das Leistungshindernis durch Geldeinsatz beseitigt werden konnte. Die so gewonnene Regel korrespondiert mit der für die Geldschuld; denn beim Rückkauf oder anderweitigen Geldeinsatz zur Beseitigung des Leistungshindernisses spielte es keine Rolle, ob der Schuldner über das erforderliche Geld verfügte24. Unterzieht man das Kriterium für das Ausscheiden der Fälle der nicht zu beachtenden subjektiven Unmöglichkeit aus der Mommsen’schen Regel einer näheren Prüfung, stellt man fest, dass es in einer Anforderung an den Schuldner besteht. Es wird von ihm erwartet, dass er das zur Erfüllung seiner Obligation erforderliche Geld aufwendet, ohne Rücksicht darauf, ob er es hat. Diese Anforderung liegt auf der gleichen Ebene wie die, die an sein Verhalten gestellt wird und sich im Verschuldensprinzip manifestiert. Denn auch hier wird erwartet, dass er zur Erfüllung seiner Obligation die im Verkehr erforderliche Sorgfalt oder Anstrengung aufbietet, ohne Rücksicht darauf, ob er dazu persönlich in der Lage ist25. Das genannte Kriterium lag also nicht im Begriffsfeld der Unmöglichkeit, sondern des Vertretenmüssens. Der Ansatz von Mommsen, dass Unmöglichkeit und fehlendes zu vertretendes Verschulden zur Befreiung des Schuldners von seiner Verbindlichkeit führen, erwies sich als zu eng. Dazu gehörte als weitere Voraussetzung, dass die Unmöglichkeit ihre Ursache nicht in der fehlenden finanziellen Leistungsfähigkeit des Schuldners hat. Es musste folglich heißen: Unmöglichkeit befreit, wenn der Schuldner sie nicht zu vertreten hat, und zu vertreten hatte er Verschulden und mangelnde finanzielle Leistungsfähigkeit. Mit dieser Erweiterung entfiel auch die Notwendigkeit, zwischen objektiver und subjektiver Unmöglichkeit zu unterscheiden; denn klammerte man die auf mangelnder finanziellen Leistungsfähigkeit des Schuldners beruhenden Fälle subjektiver Unmöglichkeit aus, dann blieben nur die übrig, die der objektiven gleich standen. Für Mommsen waren das die Fälle, in denen dem Schuldner die faktische Disposition über die zu leistende Sache entzogen worden war (Raub, Vertreibung aus einem Grundstück, Diebstahl, Wegnahme durch Feinde, Flucht des zu leistenden Sklaven)26 sowie die restlichen Fälle des Verlusts des zur Bewirkung der Leistung erforderlichen Rechts (publicatio, mit der die enteignete Sache dem Verkehr entzogen wurde27, und die adiudicatio28).
24 s. Fn. 18; Auch die weite Haftung für Gattungsschulden hatte im Grunde ihre Ursache darin, dass die geschuldeten Sachen gegen Geld erwerbbar waren; Mommsen weist selbst darauf hin, dass die Gattungsschuld dem Verkauf einer fremden Sache gleich komme; dazu II 2. 25 Vgl. Mommsen, S. 228 f. 26 Mommsen, S. 29. 27 s. Fn. 15. 28 s. Fn. 16.
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Ein derart bestimmter Umfang des Vertretenmüssens des Schuldners hätte die Anforderungen, die der Warenverkehr an seine Teilnehmer und auch an die rechtlichen Instrumente stellte, die ihnen zur Steuerung dieses Verkehrs an die Hand gegeben waren, also die Schuldverhältnisse, insbesondere die vertraglichen, zutreffend widergespiegelt. An den vertraglich sich bindenden Teilnehmer am Warenverkehr wurden zwei Anforderungen gestellt. Eine persönliche, verhaltensbezogene und eine sachliche, vermögensbezogene. Er musste zur Erfüllung der eingegangen Verpflichtung in seinem Verhalten ein bestimmtes Maß an Sorgfalt, man kann auch sagen persönlicher Bemühungen oder Anstrengungen an den Tag legen29. Zum anderen musste er über die erforderliche Wirtschaftskraft verfügen. Nur so konnte dem Gläubiger Gewissheit gegeben werden, dass er die versprochene Leistung auch tatsächlich erhielt, und bekam das Schuldverhältnis, der Vertrag, die erforderliche Stabilität. Andererseits musste aber auch der Schuldner damit rechnen können, dass dann, wenn er den an ihn gestellten Anforderungen genügte und ihm dennoch die Leistung unmöglich wurde, er von seiner Verpflichtung frei kam30. Darin zeigte sich die notwendige Flexibilität des Schuldverhältnisses. Erst diese Verbindung von Stabilität und Flexibilität machte den Vertrag zum geeigneten Steuerungsinstrument für den Warenverkehr. Da bei Nichterfüllung der Verpflichtung zuerst geprüft wurde, ob überhaupt ein Leistungshindernis vorlag und diese Prüfung einschloss, ob der Schuldner es durch Aufwand von Geld hätte beseitigen können, und erst dann das Verschulden geklärt wurde31, hing die Frage nach der Schuldbefreiung letztlich davon ab, ob ein Verschulden vorlag oder nicht. So entwickelte sich die gegebenenfalls eintretende Schuldbefreiung sichtbar vor allem über die verhaltensbezogene, persönliche Komponente und damit als Verschuldensprinzip. Vielleicht lag auch darin mit eine Ursache, dass Mommsen der sachlichen Komponente weniger Beachtung schenkte, und warum, wie noch zu zeigen sein wird, dies auch heute noch nachwirkt. 2. Die Arbeiten am BGB selbst Die Autoren des BGB waren sich der im gemeinen Recht enthaltenen Systematik der Schuldbefreiung durchaus bewusst, und sie gingen auch in der Verallgemeinerung einen Schritt über Mommsen hinaus. Am deutlichsten zeigte sich das in der schuldrechtlichen Redaktorenvorlage, die v. Kübel in die Erste Kommission einbrachte, insbesondere in den Erläuterungen zu seinen Regelungsvorschlägen32. Er Vgl. Mommsen, S. 229. Hieraus wird deutlich, dass weder Verschulden noch mangelnde finanzielle Leistungsfähigkeit die Verpflichtung zur Sekundärleistung begründen – das folgt allein aus der Verpflichtung zur Leistung –, sondern dass ihre Abwesenheit in der Regel die Befreiung des Schuldners von seiner Verpflichtung bewirkt; dazu Fn. 33. 31 Vgl. Mommsen, S. 232 f. 29 30
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erkannte unverschuldete Zahlungsunfähigkeit nicht als Schuldbefreiungsgrund an, und dies nicht nur in Bezug auf Geldschulden, sondern für alle Arten von Schulden, soweit Geldaufwand für die Bewirkung der Leistung erforderlich war33. Andererseits sollten auch bei Geldschulden Befreiungsgründe gelten, die außerhalb der Zahlungsunfähigkeit lagen34. Folgerichtig konnte er auf eine Differenzierung zwischen objektiver und subjektiver Unmöglichkeit35 und ebenso auf eine Sonderregelung für die Gattungsschuld verzichten36. Umfassender konnte man den Grundsatz, dass der Schuldner seine mangelnde finanzielle Leistungsfähigkeit zu vertreten hat, nicht zur Geltung bringen37. Gesetzgeberisch versuchte er ihn folgendermaßen umzusetzen: Nachdem er in § 10 seines Entwurfs konstatiert hatte: „Ist dem Schuldner die Leistung, abgesehen von einem Verschulden des Gläubigers (§ 9), infolge eines vom ihm nicht zu vertretenden Umstandes unmöglich geworden, so wird er, soweit dies zutrifft, von seiner Verbindlichkeit befreit“, hieß es in § 11 (1): „Unverschuldet eingetretene Zahlungsunfähigkeit gilt nicht als Unmöglichkeit im Sinne von § 10“. Entsprechend lautete § 17 (2): „Unverschuldet eingetretene Zahlungsunfähigkeit kann der Schuldner als Entschuldigungsgrund gegen den Verzug nicht geltend machen“. Kritisch ist lediglich anzumerken, dass er bei der Nichterfüllung die Zahlungsunfähigkeit noch als eine Beschränkung der Unmöglichkeit fasste und nicht ins Vertretenmüssen des Schuldners aufnahm, was in seiner Verzugsregelung zwar nicht ausdrücklich, aber de facto geschah38. Wäre er noch einen Schritt weiter gegangen und hätte er das Vertretenmüssen des Schuldners auf die mangelnde finanSchubert, S. 849 ff. Schubert, S. 860, 874 f., 884 ff.; auch er behandelte Verschulden und unverschuldete Zahlungsunfähigkeit ausschließlich unter dem Aspekt der Schuldbefreiung und nicht als Verpflichtungsgrund für Schadenersatz (so ausdrücklich S. 861). 34 Schubert, S. 886 f. 35 Schubert, S. 860, 874 f.; dazu II 1. 36 Schubert, S. 860 f. Er erkannte, dass die erweiterte Haftung für Gattungsschulden darauf basierte, dass der Schuldner für seine Zahlungsfähigkeit einzustehen hatte; andere Umstände sollten auch hier als Befreiungsgrund gelten können. So weit wollte die Kommission offenbar nicht mitgehen; aber auch sie hatte keinen Zweifel daran, dass Geld- und Gattungsschulden im Hinblick auf die Schuldbefreiung gleich behandelt werden müssen (Jakobs / Schubert, S. 213). 37 Er begründete seine Auffassung unter Hinweis auf KO und ZPO praktisch, wenn auch nicht wörtlich, mit dem Prinzip der unbeschränkten Vermögenshaftung; vgl. Schubert, S. 885 f. 38 Er sprach zwar davon, dass für Unmöglichkeit und Verzug der gleiche Haftungsmaßstab gelten müsse (Schubert, S. 884) und deshalb unverschuldete Zahlungsunfähigkeit nicht als Liberationsgrund angesehen werden dürfe (Schubert, S. 886), formulierte jedoch in § 11 Abs. 1 nur die Folge des Umstandes, dass der Schuldner seine Zahlungsunfähigkeit stets zu vertreten habe, und in § 17 Abs. 2 nannte er den eigentlich gemeinten Befreiungsgrund einen Entschuldigungsgrund. 32 33
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zielle Leistungsfähigkeit ausgedehnt, konnte er beim Verzug auf das Vertretenmüssen Bezug nehmen, die Doppelung in seiner Regelung vermeiden und sein Anliegen noch klarer zum Ausdruck bringen. Die hier zu Tage getretene Diskrepanz zwischen Erkenntnis des Regelungsgegenstandes und dessen normativer Gestaltung zeigte sich auch im weiteren Verlauf der Arbeiten am BGB und wurde nicht völlig überwunden. Der v. Kübel‘sche Regelungsvorschlag fand keine Aufnahme in den Ersten Entwurf (1887)39. Dieser verfolgte eine andere Konzeption40. Der objektiven Unmöglichkeit, die, wenn sie vom Schuldner nicht zu vertreten war, diesen von seiner Verbindlichkeit befreite (§ 237 Abs. 1), stellte man das subjektive Unvermögen gegenüber, das man als gegeben ansah, wenn „das Vermögen des Schuldners nicht hinreicht, die Erfüllung zu bewirken, mag diese in der Leistung von Geld oder anderen Sachen und Rechten oder in der Vornahme einer Handlung bestehen“. Ein solches Unvermögen sollte auf die Verbindlichkeit des Schuldners keinen Einfluss haben, weder als bei Entstehung des Schuldverhältnisses vorhandenes, noch nachträglich entstehendes. Das entspreche dem geltenden Recht; das entgegensetzte Prinzip würde zu unhaltbaren Konsequenzen führen41. So wurde das subjektive Unvermögen grundsätzlich der zu vertretenden nachträglichen Unmöglichkeit gleich gesetzt. Eine Ausnahme sollte nur dann gelten, „wenn der Schuldner, welcher einen in sich bestimmten Gegenstand zu leisten hat, diesen infolge eines von ihm nicht zu vertretenden Umstandes zu leisten außer Stande gesetzt worden ist“ (§ 237 Abs. 2). In diesem Fall sollte der Schuldner ebenfalls von seiner Verbindlichkeit frei werden42. Auch hier zeigte sich wieder eine gewisse Diskrepanz zwischen der Zielstellung für die Regelung und der Regelung selbst. Dass der Schuldner von seiner Verbindlichkeit nicht befreit werden sollte, wenn die Erfüllung an der mangelnden finanziellen Leistungsfähigkeit des Schuldners scheiterte, war nur durch Umkehrschluss aus der Regelung zu ermitteln, die festlegte, wann eine Befreiung eintreten sollte. Aber das war dem § 237, insbesondere seinem Absatz 2, auch nur dann wirklich zu entnehmen, wenn man die Zielstellung der Verfasser kannte43. Der Zweite Entwurf (1895)44 vollzog einen erneuten Konzeptionswechsel. Die Speziesschuld, die im E I mit einer Ausnahmeregelung bedacht worden war (§ 237 Abs. 2), avancierte zum Modellfall und die Ausnahmeregelung betraf jetzt die GatIm folgenden E I genannt. Motive, S. 44 ff. 41 Motive, S. 45; hier war eine generelle Gleichstellung von Unmöglichkeit und Unvermögen von vorn herein ausgeschlossen, und man war gezwungen, die Fälle des Unvermögens normativ zu erfassen, die wie eine Unmöglichkeit behandelt werden sollten; vgl. Fn. 35. 42 Motive, S. 46. 43 Vgl. Gierke, S. 30. 44 Im folgenden E II genannt. 39 40
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tungsschuld, die aber, wenn auch unvollkommen, das Einstehenmüssen des Schuldners für seine mangelnde finanzielle Leistungsfähigkeit wieder zur allgemeinen Regel erhob. Da sie die Hauptfälle des Unvermögens erfasste, konnte der verbleibende Rest (für den im E I § 237 Abs. 2 geschaffen worden war) folglich der Unmöglichkeit gleich gestellt werden. Das alles geschah durch § 232, der dem § 237 Abs. 1 E I entsprach und schließlich in § 275 Abs. 1 BGB einging; weiterhin durch § 235 S. 1, der das nachträgliche Unvermögen der Unmöglichkeit gleichstellte (später § 275 Abs. 2 BGB) und S. 2, aus dem § 279 BGB wurde. So kam es zu den Vorschriften der §§ 275 bis 279 BGB. In § 275 wurde die Schuldbefreiung für die nicht zu vertretende nachträgliche Unmöglichkeit (Abs. 1) und gleichermaßen für das Unvermögen (Abs. 2) ausgesprochen. Zu vertreten hatte der Schuldner gemäß § 276 nur Vorsatz und Fahrlässigkeit und nach § 279 auch sein unverschuldetes Unvermögen, so lange die Leistung aus der Gattung objektiv möglich war. Der Grundsatz und damit der Ausgangspunkt für die Regelung, dass es keine Schuldbefreiung geben sollte, wenn das Vermögen des Schuldners für die Leistungsbewirkung nicht hinreichte45, kam nur unvollkommen, nämlich beschränkt auf die Gattungsschuld zum Ausdruck. Weder gab es eine allgemeine direkte Regelung zur Geldschuld46, noch wurde die Speziesschuld erfasst, soweit deren Erfüllung an der mangelnden Wirtschaftskraft des Schuldners scheiterte. Bei der Gattungssache ging die Bestimmung des § 279 andererseits insoweit über den genannten Grundsatz hinaus, als sie nach ihrem Wortlaut keinen Raum für eine Befreiung des Schuldners ließ, wenn sein Unvermögen zur Leistung nicht auf Geldmangel beruhte. Letzteres war insbesondere auch für das In-Verzug-kommen des Schuldners von Bedeutung47. Positiv war an § 279 festzustellen, dass sich in ihm die Auffassung durchgesetzt hatte, das Einstehenmüssen für die mangelnde finanzielle Leistungsfähigkeit des Schuldners in die Kategorie des Vertretenmüssens direkt einzubeziehen48. Daraus entstand, wie schon in dem v. Kübel’schen Regelungsvorschlag und in § 235 E II, die Möglichkeit, die nachträgliche subjektive Unmöglichkeit uneingeschränkt der nachträglichen objektiven gleichzustellen 49. Dogmatisch war man damit einen Schritt über v. Kübel hinausgegangen, denn er hatte die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners noch als Einschränkung der Unmöglichkeit formuliert und war nur Motive, S. 45. Vgl. Fn. 36. 47 Brannte z. B. das Lager eines Großhändlers kurz vor Auslieferung einer nur der Gattung nach bestimmten, aber nicht auf den Vorrat beschränkten Ware ab, so musste ihm die angemessene Zeit eingeräumt werden, um sich neue Ware beschaffen zu können; vgl. Fn. 34. 48 So schon § 235 S. 2 E II. 49 § 275 Abs. 2 BGB war die notwendige Konsequenz aus der Regelung des § 279, wie schon zuvor § 235 S. 1 E II aus S. 2, und keine missglückte Formulierung der Redaktionskommission, wie Ehmann und andere (s. Ehmann, S. 170 und dort Fn. 26) annehmen. Zwar war § 237 E I mit geringen Abänderungen an die Redaktionskommission überwiesen worden, aber sie vollzog die Konzeptionsänderung, die sich in §§ 232, 235 E II niederschlug. 45 46
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beim Verzug bis ans Vertretenmüssen herangerückt50. Besser wäre es allerdings gewesen, man hätte § 276 derart erweitert, dass der Schuldner außer Vorsatz und Fahrlässigkeit auch seine mangelnde finanzielle Leistungsfähigkeit zu vertreten habe. Dann hätte das Vertretenmüssen als die zentrale Kategorie der Schuldbefreiung in seiner Normierung den Umfang erhalten, der ihm gebührt, und auf § 279 hätte man verzichten können. Die Frage, warum die Regelung des Vertretenmüssens im BGB gerade so und eben nicht anders erfolgt ist, kann hier nicht weiter verfolgt werden. Sicher waren dabei auch gewisse Nachwirkungen der zu starken Fokussierung auf das Verschuldensprinzip als den angeblich entscheidenden Faktor der Schuldbefreiung ursächlich. Wichtiger ist es, der Frage nachzugehen, wie mit dem im BGB erzielten Ergebnis in der Folgezeit umgegangen worden ist. III. Die Weiterentwicklung bis zur Schuldrechtsreform Das Ergebnis vorwegnehmend, ist festzustellen, dass der Grundsatz des Einstehenmüssens des Schuldners für seine mangelnde finanzielle Leistungsfähigkeit trotz seiner nur eingeschränkten Normierung im BGB sich in der Praxis der rund 100 Jahre vollständig durchgesetzt und sie beherrscht hat. Bereits sehr früh, schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts, sprach das Reichsgericht, gestützt auf § 279 und unter Berufung auf Aussagen der Schöpfer des BGB aus, dass es für Geldschulden keine Befreiungsmöglichkeit gibt. Zugleich erweiterte es diese Aussage in entsprechender Anwendung des hinter § 279 stehenden Grundgedankens auf solche Fälle, in denen der Schuldner zwar nicht Geld zu leisten hatte, ihm aber die zur Beschaffung der Leistung erforderlichen Geldmittel fehlten51. Davor hatte es bereits den § 279 selbst dahingehend einengend präzisiert, dass der Schuldner von seiner Verbindlichkeit frei werden müsse, wenn die geschuldete Ware durch zufällig eintretenden Umstand nicht mehr auf dem Markt gegen Geld erhältlich sei52. Während schon in dieser Entscheidung ausgeführt wurde, dass nicht etwa schon eintretende Schwierigkeiten (umfassendere Nachfrage oder erheblich höhere Anschaffungskosten) dafür ausreichend seien, sondern dass die Beschaffung der Ware mit außergewöhnlichen Schwierigkeiten verbunden sein müsse, stellte es in einer späteren Entscheidung klar, dass eine Schuldbefreiung nicht erfolgen könne, solange ein Marktpreis bestehe, und dies sei der Fall, solange eine Mehrheit von Kaufleuten zu diesem Preis kaufe53.
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Vgl. Fn. 38. RGZ 75, 335 (337) – Urteil vom 08. 02. 1911. RGZ 57, 116 (118 f.) – Urteil vom 23. 02. 1904. RGZ 88, 172 (177) – Urteil vom 21. 03. 1916.
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Damit waren die maßgeblichen Pflöcke zur Markierung des Anwendungsbereichs des § 279 eingeschlagen, der nunmehr den Grundsatz, dass der Schuldner für seine mangelnde finanzielle Leistungsfähigkeit einzustehen habe, voll zur Geltung brachte. Zugleich wurde auch das Wesen der Gattungsschuld exakter, weil ökonomisch, bestimmt. Maßgebend für deren Umfang war nicht mehr die natürliche Grenze der Gattung, ihr Untergang, sondern der ökonomische Umstand, dass sie auf dem Markt gegen Geld nicht mehr erworben werden konnte. Solange sie derart beschaffbar blieb, sollte der Schuldner nicht von seiner Leistungspflicht frei werden, jenseits dieser Grenze aber schon. So ordnete sie sich folgerichtig in den Grundsatz, dass der Schuldner für seine mangelnde finanzielle Leistungsfähigkeit einzustehen habe, ein und erhielt die ihr gemäße dispositive Regelung für die Schuldbefreiung, die auch für den Verzug galt. Beruhte die Leistungsverzögerung auf mangelndem Geldeinsatz, kam der Schuldner unweigerlich in Verzug, dagegen nicht, wenn er den Nachweis führen konnte, dass die Verzögerung andere von ihm nicht zu vertretende Ursachen hatte. In dieser von der Rechtsprechung des Reichsgerichts bewirkten Ausgestaltung brachte § 279 zusammen mit § 276 erstmalig den Gesamtumfang des schuldnerischen Vertretenmüssens zum Ausdruck. Während § 276 für die verhaltensbezogene Komponente zuständig war, enthielt § 279 die vermögensbezogene. Gemeinsam bestimmten sie, wann der Schuldner gemäß § 275 von seiner Leistungspflicht befreit wurde und wann er nach §§ 284 ff. in Verzug kam bzw. wann nicht. Damit war endlich erreicht worden, was die Autoren des BGB zwar beabsichtigt, nicht aber vollständig verwirklicht hatten. Dieses Ergebnis stand im Einklang mit einer verbreiteten Literaturmeinung54. Der BGH setzte die Rechtsprechung des Reichsgerichts fort55. In der Begründung schwenkte er Ende der 80er Jahre des vorherigen Jahrhunderts auf die in der Literatur entwickelte Auffassung ein, dass sich das Einstehenmüssen für die eigene finanzielle Leistungsfähigkeit aus dem allgemeinen Prinzip der unbeschränkten Vermögenshaftung ergebe, das er aus dem Grundgedanken des § 279 sowie dem geltenden Zwangsvollstreckungs- und Konkursrecht ableitete56. Im Schrifttum hat man die Basis dieses Grundsatzes zum Teil noch weiter verallgemeinert und ihn als der Rechts- und Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik immanent bezeichnet, der keiner Ableitung mehr aus § 279 BGB bedürfe57. 54 s. Kreß, S. 403 mit weiteren Nachweisen; obwohl er mit der § 279 vom RG gegebenen Auslegung im Wesentlichen übereinstimmte und dabei auch die „wirtschaftliche Schwäche“ des Schuldners im Ergebnis zutreffend einordnete, bezog er diese nicht ins Vertretenmüssen ein. 55 BGHZ 7, 354; 83, 300. 56 BGHZ 107, 92 (102). 57 So z. B. Staudinger / Löwisch, § 279 Rn. 1 mit weiteren Nachweisen; s. auch Medicus (1988), S. 489 ff., insbes. 509 f.
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IV. Die Bestimmung des Vertretenmüssens im modernisierten Schuldrecht Auch hier interessiert vor allem das Ergebnis der Bemühungen um die Schuldrechtsmodernisierung und weniger die Einzelheiten dieses Bestrebens selbst. Schon der erste Blick darauf, versetzt den unbefangenen Betrachter58 in Erstaunen. In § 276 steht nach wie vor „Der Schuldner hat Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten“, die Bestimmung des § 279 ist weggefallen und als Ersatz dafür wird auf eine Ergänzung in § 276 n. F. verwiesen, die lediglich den bisherigen Vorbehalt „sofern nicht ein anderes bestimmt ist“ etwas diversifiziert. Es wird nunmehr ausdrücklich klargestellt, dass aus dem sonstigen Inhalt des Schuldverhältnisses sowohl auf Haftungsverschärfung als auch auf Haftungsmilderung geschlossen werden kann. Dabei werden Übernahme einer Garantie oder eines Beschaffungsrisikos noch besonders hervorgehoben, aus denen ein Schluss jedoch nur in eine Richtung gehen kann, in die der Verschärfung des Vertretenmüssens. Um Unklarheiten zu vermeiden, darf angemerkt werden, dass die Übernahme eines Beschaffungsrisikos nichts anderes ist als eine Beschaffungsgarantie, da Risiko- und Garantieübernahme nur verschiedene Sichtweisen auf den selben Gegenstand sind. Abgesehen davon, dass Garantieübernahmen auch nach der alten Fassung des § 276 möglich waren, soll die Nützlichkeit derartiger Hinweise nicht bestritten werden. Aber sie erweitern weder die dispositive Regelung des Vertretenmüssens in § 276, noch stellen sie eine gesetzliche Auslegungsregel dar. Sie können nur durch §§ 133, 157 ausgefüllt werden. Offensichtlich ist eine solche, nur den Vorbehalt der dispositiven Regelung betreffende Ergänzung des § 276 nicht geeignet, den § 279 überflüssig zu machen. In ihm hatte die sach- (vermögens-)bezogene Komponente des Vertretenmüssens zum ersten Mal einen gesetzlichen Niederschlag gefunden, wenn auch einen unvollkommenen, so doch einen, der sich als geeignet erwies, durch die Spruchpraxis des Reichsgerichts sehr rasch komplettiert werden zu können, und damit der Praxis über ein Jahrhundert hinweg vollauf gerecht wurde. Anstatt den Fundus dieser Erfahrungen und deren Ergebnisse zu nutzen, um den Grundsatz, dass der Schuldner für seine mangelnde finanzielle Leistungsfähigkeit einzustehen habe, nun endlich in aller Klarheit im BGB zu verankern, sei es in § 279 oder besser noch in § 276, hat man § 279 ersatzlos gestrichen und so eine in ihrer Fassung unvollkommene Regelung durch keine ersetzt. Auf diese Weise ist die vermögensbezogene Komponente des Vertretenmüssens völlig aus dem BGB entfernt worden, jedenfalls was die dispositive Regelung angeht. Geblieben sind nur die kümmerlichen Reste ihrer Berücksichtigung durch vertragliche Regelung oder ihrer Ableitung aus dem Inhalt des Schuldverhältnisses. Dagegen beherrscht jetzt die Regelung der verhaltens58
Für den Verfasser wurde das BGB erst 1990 wieder geltendes Recht.
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bezogenen Komponente, das Verschulden als einzige das Feld, was nicht nur einen Schritt zurück hinter das alte, nicht modernisierte BGB, sondern auch hinter das gemeine Recht bedeutet. Als gesetzgeberischen Fortschritt wird man das sicher nicht bezeichnen können. Dennoch gibt es Auffassungen, die in der Regelung des § 276 n. F. eine Verbesserung gegenüber den alten §§ 276 bis 279 erkennen wollen. So meint z. B. Canaris, der selbst an den Reformarbeiten beteiligt war59, dass durch die Neufassung des § 276 die Risiko- oder Garantiehaftung als zweite Spur neben der Verschuldenshaftung erhalten bleibe und es nunmehr möglich sei, die Reichweite dieser Risikoübernahme flexibel zu bestimmen60. Er will dieser Bestimmung sogar eine gesetzliche Auslegungsregel des Inhalts entnehmen, dass der Schuldner, der einen Gegenstand zu beschaffen habe, im Zweifel auch die Eingehung eines damit verbundenen Risikos zu vertreten habe, vorausgesetzt, er sei sich der Notwendigkeit der Beschaffung bewusst gewesen61. Doch dieser Satz sagt nur aus, was man eigentlich dem Inhalt eines jeden Beschaffungsschuldverhältnisses entnehmen kann und auch früher schon konnte, wenn sonst nichts anderen bestimmt ist bzw. war. Der Schuldner übernimmt dann die bei Abgabe seines Versprechens absehbaren Beschaffungsrisiken. Deshalb muss man den Satz nicht in den Rang einer gesetzlichen Auslegungsregel erheben. Welchen Umfang das übernommene Risiko haben soll, kann ohnehin nur durch Würdigung der Umstände des Schuldverhältnisses ermittelt werden. Auch das ist nicht neu. Dagegen bot § 279 in der ihm bereits vom Reichsgericht gegebenen Gestalt, die, wie dargelegt, exakt dem Grundsatz, dass der Schuldner für seine mangelnde finanzielle Leistungsfähigkeit einzustehen habe, entsprach, eine dispositive Regelung nicht nur für Beschaffungsschuldverhältnisse, sondern auch für alle anderen, ohne Rücksicht darauf, ob sie durch Vertrag oder auf andere Weise zustande kamen. All das lässt die neue Regelung vermissen, zu der Canaris selbst sagt, man habe eine solche klare Regelung nicht schaffen wollen, „weil das zwangsläufig ziemlich hart klingt“62. Abgesehen davon, dass ein solches Argument kaum einem Prinzip demokratischer Gesetzgebung entlehnt werden kann, bewirkt ein davon geleitetes Handeln auch in der Sache nichts Positives. Der nicht ins Gesetz aufgenommene Grundsatz, dass der Schuldner seine mangelnde finanzielle Leistungsfähigkeit zu vertreten habe, muss bei der Anwendung des Gesetzes wieder von außen ins Spiel gebracht werden, und das wird auch überwiegend so gehandhabt63; denn aus § 276 n. F. die Canaris (2001 – II), S. 499 Fn. 1. Canaris (2001 – II), S. 518. 61 Canaris (2005), S. 216 ff. 62 Canaris (2001 – II), S. 519; er verweist dabei allerdings auf Bestrebungen seitens des BMJ; aber es gab wohl allgemein wenig Neigung, das Vertretenmüssen wirklich klar und umfassend zu regeln, vgl. Medicus (1992), S. 2385; dagegen Ehmann / Sutschet, S. 95 f.; Staudinger / Otto, § 280 Rn. D 28. 59 60
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Übernahme eines Beschaffungsrisikos dahingehend entnehmen zu wollen, dass der Schuldner die Beschaffung der zur Leistung erforderlichen Geldmittel in jedem Fall garantiert64, klingt wenig überzeugend. Dagegen meint Ehmann, aus dem Inhalt eines jeden Schuldverhältnisses ergebe sich gemäß § 276 n. F. „eine Garantie für das finanzielle und sonstige persönliche Leistungsvermögen“ zu dessen Erfüllung65. Nun ist aber das Einstehenmüssen für die mangelnde finanzielle Leistungsfähigkeit des Schuldners nur eine der beiden Komponenten des Vertretensmüssens im Programm der Schuldbefreiung, die andere ist das Verschulden. Warum, so muss man sich fragen, resultiert die eine aus dem Inhalt des Schuldverhältnisses, die andere aber nicht? Deshalb klingt die von ihm vorgeschlagene Ausfüllung der von der Schuldrechtsmodernisierung hinterlassenen Lücke im § 276 n. F. auch nicht recht plausibel. Hinzu kommt, dass Ehmann die jedem Schuldverhältnis innewohnende Garantie über die finanzielle Leistungsfähigkeit hinaus auch noch auf das sonstige persönliche Leistungsvermögen erstreckt, was er nur durch die „anerkennenswerten Fälle der missglückten Regelung des § 275 II“ (a. F.) eingeschränkt sehen will66. Aufgrund dieser Einschränkung bleibt aber nichts mehr übrig, das zu garantieren wäre67. Das Zurückgreifen auf den allgemeinen aus dem Prinzip der unbeschränkten Vermögenshaftung abgeleiteten Grundsatz, dass der Schuldner für seine mangelnde finanzielle Leistungsfähigkeit einzustehen habe, bleibt darum wohl vorerst die einzige Möglichkeit einer solchen Lückenfüllung. Diesen Grundsatz muss man sich eben dort, wo jetzt im BGB von Vertretenmüssen die Rede ist, zu Vorsatz und Fahrlässigkeit hinzudenken, um diese Bestimmungen sinnvoll anwenden zu können. Dann steht auch die dispositive Regelung wieder zur Verfügung, die vorher § 279 in der ihm bereits vom Reichsgericht gegebenen Auslegung bot und die sonst fehlen würde. Resümierend muss so leider konstatiert werden, dass die Schuldrechtsmodernisierung sich bei der Normierung des „Vertretenmüssens des Schuldners“, eines Gegenstandes von zentraler Bedeutung für das Schuldrecht, nicht auf der Höhe ihrer Aufgaben bewegt hat. Vielleicht werden Harmonisierungsbestrebungen in der EU dazu beitragen, dass der jetzige Zustand in absehbarer Zeit überwunden wird und nicht noch einmal 100 Jahre vergehen müssen, bis das BGB eine adäquate Regelung dieser Problematik erhält.
63 s. Staudinger / Otto, § 280 Rn. D 28.; MünchKomm / Grundmann, § 276 Rn. 179 f.; Medicus / Lorenz, S. 192. Auch Canaris greift letztlich auf diesen Grundsatz zurück, s. Canaris (2001 – I), S. 52; (2001 – II), S. 519. 64 so BGHZ 165, 302. 65 Ehmann, S. 182, 190. 66 Ehmann, S. 189. 67 s. II 1, 2.
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Literaturverzeichnis Canaris, Claus-Wilhelm: Zur Bedeutung der Kategorie der „Unmöglichkeit“ für das Recht der Leistungsstörungen, in: Schulze, Reiner / Schulte-Nölke, Hans (Hrsg.), Die Schuldrechtsreform vor dem Hintergrund des Gemeinschaftsrechts, 2001, S. 43 Canaris, Claus-Wilhelm: Die Reform des Rechts der Leistungsstörungen, in: Juristenzeitung, 2001, S. 499 Canaris, Claus-Wilhelm: Die Einstandspflicht des Gattungsschuldners und die Übernahme eines Beschaffungsrisikos nach § 276 BGB, in: Festschrift für Wolfgang Wiegand zum 65. Geburtstag, 2005, S. 179 Ehmann, Horst: Garantie- oder Verschuldenshaftung bei Nichterfüllung und Schlechtleistung?, in: Festschrift für Claus-Wilhelm Canaris zum 70. Geburtstag, 2007, S. 165 Ehmann, Horst / Sutschet, Holger: Modernisiertes Schuldrecht, 2002 Gierke, Otto: Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs und das deutsche Recht, 1889 Jakobs, Horst / Schubert, Werner (Hrsg): Die Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuchs, Recht der Schuldverhältnisse I, 1978 Kreß, Hugo: Lehrbuch des allgemeinen Schuldrechts, 1929 Medicus, Dieter: Geld muß man haben, in: Archiv für die civilistische Praxis, Bd. 188, 1988, S. 489 Medicus, Dieter: Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts: Das allgemeine Recht der Leistungsstörungen, in: NJW 1992, S. 2384 Medicus, Dieter / Lorenz, Stephan: Schuldrecht I Allgemeiner Teil, 18. Auflage, 2008 Mommsen, Friedrich: Die Unmöglichkeit der Leistung in ihrem Einfluß auf obligatorische Verhältnisse, 1853 Motive zu dem Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, 2. Auflage, Bd. II, Recht der Schuldverhältnisse, 1896 Münchner Kommentar zum BGB, 5. Auflage, Grundmann, Stefan: §§ 276 – 278, 2007 Otto, Karl Eduard / Schilling, Bruno / Sintenis, Carl Friedrich Ferdinand (Hrsg.): Das Corpus juris civilis in’s Deutsche übersetzt von einem Vereine Rechtsgelehrter, 1830 – 1833 Schubert, Werner: Die Vorlagen der Redaktoren für die erste Kommission zur Ausarbeitung eines Bürgerlichen Gesetzbuches, Recht der Schuldverhältnisse, Teil 1, Allgemeiner Teil, 1980 Siber, Heinrich: Römisches Recht in Grundzügen für die Vorlesung, II Römisches Privatrecht, 1928 Staudinger, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen, 12. Auflage, 1979, Löwisch, Manfred: §§ 275 – 309, Neubearbeitung 2004, Otto, Hansjörg: §§ 280 – 284
Das Trennungs- und Abstraktionsprinzip im Urheberrecht Von Horst-Peter Götting
I. Einleitung Das Trennungs- und Abstraktionsprinzip gehört zum Urgestein des deutschen Zivilrechts. Selbst wenn jemand sich auf das Öffentliche Recht oder Strafrecht spezialisiert hat und viele Jahre nach Beendigung des Studiums fast alles über das Zivilrecht vergessen hat, so erinnert er sich zumeist mit Schrecken an das Trennungs- und Abstraktionsprinzip, mit dem er zu Beginn seines Studiums malträtiert wurde. Der Bezug zur traditionsreichen Juristenfakultät der Universität Leipzig ergibt sich daraus, dass deren Mitglieder seinerzeit maßgeblichen Einfluss auf die Entstehung des BGB ausgeübt haben. Während das Trennungs- und Abstraktionsprinzip ein Charakteristikum des deutschen Zivilrechts darstellt, das sich ungeachtet grundsätzlicher Kritik1 als rocher de bronze erwiesen hat, ist die Frage seiner Geltung für das Immaterialgüterrecht bis heute nicht abschließend geklärt. Dies gilt ganz besonders für das Urheberrecht, das aufgrund seiner persönlichkeitsrechtlichen Prägung und des daraus abgeleiteten dogmatischen Verständnisses durch eine enge Bindung des Werkschöpfers an sein Werk und die daraus resultierenden Verwertungsmöglichkeiten gekennzeichnet ist. Auch insoweit besteht eine Verbindung zu Leipzig als Stadt des Buches, in der viele berühmte Verlage ihren Sitz hatten und in der jährlich eine Buchmesse stattfindet. Bevor speziell auf die urheberrechtliche Problematik eingegangen wird, ist es erforderlich, den Hintergrund auszuleuchten und in der gebotenen Kürze die wesentlichen Grundlagen des Trennungs- und Abstraktionsprinzips zu skizzieren. II. Historische Wurzeln und Kritik 1. Historische Wurzeln Das Trennungs- und Abstraktionsprinzip ist untrennbar mit dem Namen Friedrich Carl von Savigny verknüpft.2 Durch seine Studien römischer Quellen, aus 1
s. dazu sogleich unten II. 2.
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denen er den Grundsatz einer abstrakten dinglichen Einigung ableitete, fand es Eingang in das BGB. Von Savigny selbst beschränkte den Abstraktionsgedanken auf den Fall des error in causis; erst seine Zeitgenossen Bähr, Dernburg und Windscheid erweiterten dessen Anwendungsbereich schließlich auf alle Fälle der Ungültigkeit des Verpflichtungsvertrags.3 Das Abstraktionsprinzip fand sich bereits im Sächsischen Bürgerlichen Gesetzbuch von 1863.4 2. Kritik Im Rückblick wird kritisiert, dass v. Savigny die Stelle bei Ulpian, auf die er sich stützte, wenn nicht falsch, so jedenfalls doch sehr einseitig interpretierte.5 Mit diesen Zweifeln gegenüber der historischen Legitimation verbinden sich rechtspolitische Vorbehalte, die zum Teil im Schrifttum geäußert werden. Der zentrale Vorwurf, der gegen das Trennungs- und Abstraktionsprinzip erhoben wird, lautet, dass es mit der Lebenswirklichkeit nichts zu tun habe, sondern völlig lebensfremd sei.6 In der Tat leuchtet es zumindest einem juristischen Laien kaum ein, dass beim simplen Kauf drei verschiedene Verträge zu unterscheiden sind:7 – der schuldrechtliche Verpflichtungsvertrag, – der sachenrechtliche Verfügungsvertrag über den Kaufgegenstand und – der sachenrechtliche Verfügungsvertrag über das Geld.
Kritisiert wird darüber hinaus auch die angebliche Überbewertung des Verkehrsschutzes, der sich in vielen Fällen bereits durch die Vorschriften über den gutgläubigen Erwerb von Nichtberechtigten hinreichend gewährleisten lasse.8 Aus rechts2 v. Savigny, Obligationenrecht, Bd. 2, 1853, S. 254 ff.; s. dazu den Überblick bei Picot, Abstraktion und Kausalabhängigkeit im deutschen Immaterialgüterrecht, 2007, S. 24 ff. 3 s. dazu Stadler, Gestaltungsfreiheit und Verkehrsschutz durch Abstraktion, 1996, S. 50, m. Nw.; Picot (Fn. 2), S. 26. 4 s. Picot (Fn. 2), S. 27. 5 Peters, Jura 1986, 449, 458, unter Hinweis auf Ranieri, Die Lehre der abstrakten Übereignung in der deutschen Zivilrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert II, 1977, 90, 97 ff. 6 s. Picot (Fn. 2), S. 31. Im Sinne dieser Kritik wurde die Abschaffung des Abstraktionsprinzips in der DDR durch das am 1. Januar 1976 in Kraft getretene ZGB mit der Einfachheit des Kausalprinzips gerechtfertigt. S. Freudenberg, Die Entwicklung des rechtsgeschäftlichen Eigentumserwerbs in der DDR – Die Verabschiedung des Abstraktionsprinzips, 1997; Eisenhardt, FS für Karl Kroeschell, 1997, S. 215, 228 ff. 7 Nach der Vertragstheorie bedarf es zur Erfüllung (§ 362 BGB) neben der Herbeiführung des Leistungserfolgs außerdem eines auf die Aufhebung des Schuldverhältnisses gerichteten Vertrages. Die Zweckvereinbarungstheorie verlangt neben dem Bewirken der Leistung eine vertragliche Einigung über den Zweck der Leistung. Herrschend ist allerdings die Theorie der realen Leistungsbewirkung, wonach die Erfüllung allein durch die tatsächliche Herbeiführung des Leistungserfolges eintritt. S. zum Vorstehenden die Nachweise bei Palandt / Grüneberg, BGB, 68. Aufl. 2009, § 362 Rn. 1.
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vergleichender Sicht wird der Einwand der Lebensfremdheit durch den Hinweis untermauert, dass das Trennungs- und Abstraktionsprinzip in anderen Ländern unbekannt ist und das deutsche Recht damit allein auf weiter Flur steht. Ungeachtet dieser Kritik besteht aber andererseits weitgehend Einigkeit darüber, dass de lege lata am Trennungs- und Abstraktionsprinzip nicht zu rütteln ist, sondern dass es als tragendes Element im BGB verankert und deshalb zu beachten ist. Diskutiert wird lediglich über die Möglichkeiten und Grenzen, im Rahmen der Privatautonomie durch entsprechende Parteivereinbarungen eine Abmilderung zu erreichen. III. Inhalt und Bedeutung des Trennungs- und Abstraktionsprinzips 1. Die Unterscheidung zwischen Trennungs- und Abstraktionsprinzip a) Die Notwendigkeit der Unterscheidung Um Klarheit über Inhalt und Funktion zu gewinnen und Missverständnisse zu vermeiden, ist es erforderlich, das Trennungsprinzip gleichsam auf sich selbst anzuwenden. Demnach ist trotz des inneren Zusammenhangs zwischen den beiden Prinzipien der Trennung und der Abstraktion zu unterscheiden, was in der Literatur bisweilen nicht oder nicht mit hinreichender Deutlichkeit beachtet wird.9 b) Trennungsprinzip aa) Gesetzliche Grundlagen Die Geltung des Trennungsprinzips ist im BGB nirgendwo ausdrücklich niedergelegt, sondern folgt zwingend aus der Systematik des Gesetzes. Sie ergibt sich im Hinblick auf den Kauf daraus, dass nach § 433 Abs. 1 S. 1 BGB der Verkäufer einer Sache lediglich dazu verpflichtet wird, dem Käufer die Sache zu übergeben und das Eigentum an der Sache zu verschaffen. Das bedeutet, dass man durch den Kauf einer Sache noch nicht deren Eigentümer wird. Die Übertragung und der Erwerb des Eigentums an der Kaufsache richten sich vielmehr nach der für die Übereignung im Allgemeinen geltenden Grundregel des § 929 S. 1 BGB. Danach ist zur Übertragung des Eigentums an einer beweglichen Sache die Einigung zwischen dem Eigentümer und dem Erwerber über den Eigentumsübergang und die Übergabe der Sache erforderlich. Entsprechendes gilt gemäß § 453 Abs. 1 BGB für den Rechtskauf. Der Kauf einer Forderung verschafft dem Käufer noch nicht dieses Recht, dazu bedarf es vielmehr eines schuldrechtlichen Verfügungsge8 9
s. Schindler, FS für Karl Kroeschell, 1997, S. 1033, 1039 f.; Peters (Fn. 5), S. 456. s. die Nachweise bei Picot (Fn. 2), S. 29 Fn. 2.
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schäfts, nämlich der Abtretung (§ 398 BGB). Auch im Immobiliarsachenrecht gilt eine strikte Trennung zwischen der schuldrechtlichen Verpflichtung (siehe § 311 b Abs. 1 BGB) und der sachenrechtlichen Verfügung (§§ 873, 925 BGB). bb) Das Einheitsprinzip als Gegenprinzip Den Gegensatz zu dieser strikten Trennung zwischen Verpflichtungs- und Verfügungsgeschäft bildet das Einheitsprinzip. Bei ihm verschmelzen Verpflichtung und Verfügung zu einer Einheit und es ist nur eine einzige Einigung erforderlich, um den angestrebten Rechtsübergang herbeizuführen. Dem Einheitsprinzip folgten das Preußische Allgemeine Landrecht10 und auch das Zivilgesetzbuch der DDR.11 Es gilt auch nach dem französischen Code Civil, wo es an verschiedenen Stellen in unterschiedlichen Zusammenhängen zum Ausdruck kommt.12 Innerhalb des Einheitsprinzips ist danach zu differenzieren, ob nach dem so genannten Konsensprinzip allein die Einigung das Eigentum übergehen lässt oder ob nach dem so genannten Traditionsprinzip daneben ein Kundgabeakt wie eine Übergabe oder ein Übergabeersatz oder eine Registereintragung notwendig ist.13
10 Dort galt die Lehre von Titulus und Modus, wonach das obligatorische Geschäft eine Doppelfunktion erfüllte, indem es zum einen den Titulus der Übereignung darstellte und zum anderen die für den Eigentumsübergang erforderliche Willenseinigung enthielt, s. Picot (Fn. 2), S. 26. 11 s. § 25 ZGB DDR: „Das Eigentum an Sachen kann durch Kauf, Schenkung und anderen Vertrag . . . erworben werden“ und § 26 ZGB DDR: „Der Übergang des Eigentums an einer Sache aufgrund eines Vertrags erfolgt mit der Übergabe der Sache . . .“. S. hierzu auch den Kommentar zum Zivilgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 19. Juni 1975, herausgegeben vom Ministerium der Justiz, 1985, § 26 Anm. 1.1.: „Eine besondere, zusätzliche eigentumsrechtliche Einigung zwischen Veräußerer und Erwerber, dass das Eigentum übergehen soll, ist nicht erforderlich.“ S. auch Freudenberg (Fn. 6); Eisenhardt (Fn. 6) sowie Picot (Fn. 2), S. 50, m. w. N. 12 s. Art. 1583 CC: „Elle est parfaite entre les parties, et la propriété est acquise de droit á l’acheteur á l’égard du vendeur, dès qu’on est convenu de la chose et du prix, quoique la chose n’ait pas encore été livrée ne le prix payé.“ ; s. auch Art. 711 CC: „La propriété des biens s’acquiert et se transmet . . . par l’effet des obligations.“ Probleme der dogmatischen Konstruktion ergeben sich nach dem französischen System für den Gattungskauf, den Kauf künftiger Sachen oder Forderungen sowie den Eigentumsvorbehalt. S. Picot (Fn. 2), S. 47 f. Dem französischen Regelungsmodell folgt im Prinzip auch der italienische Codice Civile von 1942, der allerdings den Schwierigkeiten beim Gattungskauf durch Art. 1378 Codice Civile Rechnung trägt, wonach der Eigentumsübergang erst mit der Konkretisierung erfolgt. S. Picot (Fn. 2), S. 49. 13 In diesem Sinne der spanische Código Civil von 1889, wonach die Lehre von Titulus und Modus (título y modo) (Art. 609 Abs. 2, Art. 1059 S. 2 Código Civil) gilt. S. Picot (Fn. 2), S. 49 f.
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c) Abstraktionsprinzip aa) Inhaltliche und äußerliche Abstraktion Das Abstraktionsprinzip baut auf dem Trennungsprinzip auf. Es ist aber keine zwingende Konsequenz des Trennungsprinzips. Es gilt zwar der Satz: „Keine Abstraktion ohne Trennung.“14 Es ist aber durchaus denkbar, dass das Trennungsprinzip gilt, das Abstraktionsprinzip aber nicht. Das Abstraktionsprinzip betrifft zwei Aspekte der Abstraktion:15 Zum einen ist das Verfügungsgeschäft inhaltlich abstrakt, das heißt, es muss keine kausale Zweckbestimmung enthalten, also nicht angeben, warum es abgeschlossen wurde. Zum anderen ist das Verfügungsgeschäft äußerlich abstrakt, das heißt, seine Wirksamkeit hängt nicht vom Vorhandensein und der Wirksamkeit eines Verpflichtungsgeschäfts ab. bb) Das Kausalprinzip als Gegenprinzip Das spiegelbildliche Gegenteil zum Abstraktionsprinzip bildet das Kausalprinzip. Es besagt ebenfalls zweierlei:16 Die dingliche Einigung ist inhaltlich kausal, das heißt, nur das Verfügungsgeschäft ist wirksam, das auch den Grund (die „causa“) seiner Vornahme enthält. Das Verfügungsgeschäft ist außerdem äußerlich kausal, das heißt, die Unwirksamkeit des Verpflichtungsgeschäfts zieht ohne weiteres auch die Unwirksamkeit des Verfügungsgeschäfts nach sich. cc) Rechtspolitische Rechtfertigung des Abstraktionsprinzips Die Anerkennung des Abstraktionsprinzips durch das BGB wird in erster Linie mit dem Gedanken des Verkehrsschutzes gerechtfertigt: Wer als Käufer eine Sache wirksam erwerben will, braucht nicht die unter Umständen sehr lange Kette vorangehender Kaufverträge zurückzuverfolgen und zu überprüfen, ob die Sache jeweils aufgrund eines wirksamen Kaufvertrages weiterveräußert worden ist. Maßgeblich ist allein das Eigentum des aktuellen Verkäufers, das von der Unwirksamkeit der vorangegangenen Kaufverträge unberührt bleibt. Deshalb erwirbt der Käufer das Eigentum an der Kaufsache auch dann, wenn der in Frage stehende Kaufvertrag von Anfang an unwirksam ist oder später unwirksam wird. Auf die Frage der Gutgläubigkeit im Sinne der §§ 932 ff. BGB kommt es nicht an, weil der Käufer das Eigentum vom Verkäufer als berechtigten Eigentümer erlangt.17 Jauernig, JuS 1994, 721, 722. Jauernig (Fn. 14), S. 722. 16 Jauernig (Fn. 14), S. 722. 17 Bedeutung gewinnt dieser Aspekt insbesondere im Falle der Sicherungsübereignung eines rechtsgrundlos erworbenen Verfügungsgegenstandes, da der Sicherungsnehmer nach dem Abstraktionsprinzip Eigentum vom Berechtigten erlangt, während dieser bei Anwen14 15
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Die wichtigste Konsequenz des Abstraktionsprinzips besteht darin, dass das Eigentum einer Sache nicht automatisch an den Veräußerer zurückfällt, wenn das zugrunde liegende Verpflichtungsgeschäft unwirksam ist. Zur Korrektur der Divergenz zwischen dem unwirksamen Grundgeschäft und dem wirksamen Verfügungsgeschäft muss der Veräußerer einen Anspruch auf Rückübereignung geltend machen, der sich insbesondere aus einer Leistungskondiktion nach § 812 Abs. 1 S. 1 BGB ergibt. Entsprechendes gilt auch für eine Forderungsabtretung nach § 398 BGB, wenn das zugrunde liegende Verpflichtungsgeschäft, wie insbesondere ein Rechtskauf nach § 453 Abs. 1 BGB, von Anfang an unwirksam ist oder später unwirksam wird. 2. Durchbrechungen des Abstraktionsprinzips Die Unterscheidung zwischen dem Trennungs- und Abstraktionsprinzip ist auch deshalb geboten, weil es nicht an Versuchen gefehlt hat, das Abstraktionsprinzip mehr oder weniger weitgehend zu durchbrechen, ohne damit zugleich das Trennungsprinzip in Frage zu stellen. Vielmehr setzen die Durchbrechungsversuche gerade das Bestehen und Bestehenbleiben der Trennung von Verpflichtungs- und Verfügungsgeschäften voraus und bezwecken, das Abstraktionsprinzip durch das Kausalprinzip zu ersetzen.18 a) Bedingungszusammenhang Es ist allgemein anerkannt, dass das Abstraktionsprinzip durchbrochen werden kann, indem die Parteien die Wirksamkeit des Verpflichtungsgeschäfts zur Bedingung des darauf aufbauenden Verfügungsgeschäfts machen können. Ausgenommen sind bedingungsfeindliche Verfügungen, wie insbesondere die Auflassung gemäß § 925 Abs. 2 BGB. Für den eher seltenen Fall einer ausdrücklichen Vereinbarung ist dies unbestritten.19 Im BGB selbst ist ausdrücklich ein Bedingungszusammenhang von Verpflichtungs- und Verfügungsgeschäft in § 449 Abs. 1 BGB vorgesehen. Hat sich der Verkäufer einer beweglichen Sache das Eigentum bis zur Zahlung des Kaufpreises vorbehalten, so ist nach dieser Auslegungsregel „im Zweifel“ anzunehmen, dass die Kaufsache unter der aufschiebenden Bedingung der vollständigen Zahlung des Kaufpreises übereignet wird. Damit wird die Wirksamkeit der Verfügung vom zugrunde liegenden Verpflichtungsgeschäft abhängig gemacht. Bei Beurteilung der praktisch wesentlich wichtigeren Frage, unter weldung des Kausalprinzips auf einen Erwerb kraft guten Glaubens gemäß §§ 930, 933 BGB angewiesen wäre, der aber an der fehlenden Übergabe scheitern würde. S. Wieling, ZEuP 2001, 301, 304. 18 Jauernig (Fn. 14), S. 723; siehe zu den nachfolgend behandelten Durchbrechungen Palandt / Ellenberger (Fn. 7), Überbl. v. § 104 Rn. 23 ff. 19 s. BGB NJW 1967, 1128, 1130; s. Picot (Fn. 2), S. 38 ff.; Jauernig (Fn. 14), S. 723; jeweils m. w. N.
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chen Voraussetzungen eine stillschweigende Vereinbarung anzunehmen ist, wird ganz überwiegend eine äußerst restriktive Haltung eingenommen. Um eine Umgehung des Abstraktionsprinzips zu verhindern, werden klare und eindeutige Anhaltspunkte gefordert, deren Vorliegen in der Praxis selten bejaht wird.20 b) Geschäftseinheit Nach der Rechtsprechung und der überwiegenden Meinung in der Literatur können die Parteien das Verpflichtungs- und das Verfügungsgeschäft durch einen entsprechenden Willen zu einer Einheit im Sinne des § 139 BGB verbinden.21 Eine wichtige Ausnahme gilt auch hier bezüglich der Auflassung, deren im § 925 Abs. 2 BGB angeordnete Bedingungsfeindlichkeit jeder Form der Verknüpfung mit dem Verpflichtungsgeschäft entgegensteht. Praktisch kommt einer Durchbrechung des Abstraktionsprinzips durch die Annahme einer Geschäftseinheit nur geringe Bedeutung zu. Voraussetzung für die Anwendbarkeit des § 139 BGB ist ein Einheitlichkeitswille der Parteien. Wird dieser ausdrücklich geäußert, so dürfte es sich regelmäßig um die Vereinbarung einer Bedingung handeln. Für den Fall, dass sich der Einheitlichkeitswille allenfalls aus den Umständen ergeben soll, wird zur Wahrung des Abstraktionsprinzips die gleiche Zurückhaltung geübt wie bei der Annahme einer stillschweigenden Bedingung. Nach der Rechtsprechung des BGH wird deshalb eine Durchbrechung des Abstraktionsprinzips aufgrund einer Geschäftseinheit im Sinne des § 139 BGB nur in „ganz besonderen Ausnahmefällen“ oder „höchst selten“ anzuerkennen sein.22 c) Fehleridentität Als eine weitere Kategorie der Durchbrechung des Abstraktionsprinzips werden nach weit verbreiteter Auffassung die Fälle der Fehleridentität angesehen. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass der gleiche Anfechtungs- oder Nichtigkeitsgrund, der zur Anfechtbarkeit oder Unwirksamkeit des Verpflichtungsgeschäftes führt, auch dem Verfügungsgeschäft anhaftet. In Wahrheit handelt es sich dabei aber nicht um eine Durchbrechung des Abstraktionsprinzips, denn die Unwirksamkeit des Verpflichtungsgeschäfts schlägt nicht auf das Verfügungsgeschäft durch, son20 Jauernig (Fn. 14), S. 724 weist zu Recht darauf hin, dass die Abbedingung des Abstraktionsprinzips von geringer praktischer Relevanz sein dürfte, da die Vereinbarung einer Bedingung nur dann Sinn hat, wenn die Parteien über die Wirksamkeit des Verpflichtungsgeschäfts subjektiv im Ungewissen sind. Unter diesen Umständen werden sie aber bestrebt sein, die Ungewissheit durch Neuvornahme zu beseitigen, statt eine Unwirksamkeit der Verpflichtung auf die Verfügung durchschlagen zu lassen. 21 s. Picot (Fn. 2), S. 39; Jauernig (Fn. 14), S. 724. 22 s. BGH NJW 1988, 2364; BGH NJW-RR 1989, 509; BGH NJW-RR 1992, 593, 594; siehe auch Jauernig (Fn. 14), S. 724.
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dern beide Geschäfte leiden unter dem gleichen Mangel, der jeweils für jedes einzelne Geschäft gesondert die Anfechtbarkeit oder Nichtigkeit begründet.23 aa) Irrtumsfälle Dementsprechend ist in Irrtumsfällen für jedes Geschäft gesondert zu prüfen, ob ein Anfechtungsgrund eingreift. Hat der Verkäufer sich versprochen und deshalb einen zu niedrigen Kaufpreis genannt, so kann dieser Erklärungsirrtum nach § 119 Abs. 1 2. Fall BGB für den Abschluss des Kaufvertrags kausal sein, aber nicht für die Übereignung; denn die dingliche Einigung ist unabhängig vom Kaufpreis irrtumsfrei auf die Übertragung des Eigentums gerichtet. Daher ist lediglich der Kaufvertrag, nicht aber die dingliche Einigung anfechtbar und gemäß § 142 Abs. 1 BGB vernichtbar.24 Denkbar ist aber auch, dass nur die dingliche Einigung irrtumsbehaftet und daher anfechtbar ist. Es dürfte eher selten vorkommen, dass Verpflichtungs- und Verfügungsgeschäft von ein und demselben Irrtum beeinflusst werden. Ein typischer Fall, in dem dies ausnahmsweise anzunehmen ist, ist die arglistige Täuschung nach § 123 Abs. 1 BGB. Ist der Verkäufer durch arglistige Täuschung zum Verkauf bewogen worden, so wird in aller Regel auch die dingliche Einigung auf der Täuschung beruhen.25 bb) Fehlende Geschäftsfähigkeit Besonders deutlich wird das Erfordernis einer gesonderten Prüfung auch, wenn es um die Nichtigkeit wegen Geschäftsunfähigkeit nach §§ 104 Nr. 2, 105 Abs. 1 BGB geht. Ist der Käufer bei Abschluss des Kaufvertrages geschäftsunfähig, so folgt daraus keineswegs die Nichtigkeit der späteren Einigung gemäß § 929 S. 1 BGB. Es ist vielmehr zu prüfen, ob der Käufer auch zur Zeit der Einigung noch geschäftsunfähig war. cc) Nichtigkeit bei Sittenwidrigkeit oder bei Gesetzesverstoß Die genannten Grundsätze gelten auch für die Beurteilung der Nichtigkeit wegen Sittenwidrigkeit nach § 138 Abs. 1 BGB. Auch hier ergreift die Nichtigkeit des Verpflichtungsgeschäftes nicht automatisch das wertneutrale Verfügungsgeschäft.26 Die Wertneutralität und die damit verbundene Unabhängigkeit vom Verpflichtungsgeschäft entfallen nach der Rechtsprechung allerdings dann, wenn 23 24 25 26
Jauernig (Fn. 14), S. 724. s. Palandt / Ellenberger (Fn. 7), Rn. 23. s. BGHZ 58, 257, 258; Palandt / Ellenberger (Fn. 7), Rn. 23. Jauernig (Fn. 14), S. 725.
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gerade der dingliche Vollzug gegen das Billigkeits- und Anstandsgefühl verstößt.27 Ob ein Gesetzesverstoß sowohl zur Nichtigkeit der Verpflichtung und / oder der Verfügung führt, ist durch Auslegung des Gesetzes zu ermitteln. IV. Das Trennungs- und Abstraktionsprinzip bei urheberrechtlichen Verwertungsverträgen Angesichts der festen und unumstößlichen Verankerung des Trennungs- und Abstraktionsprinzips im BGB ist man geneigt anzunehmen, dass die Diskussion um dessen Für und Wider weitgehend theoretischer Natur ist und kaum praktische Relevanz besitzt. Umso erstaunlicher ist es, dass die Frage der Geltung des Trennungs- und Abstraktionsprinzips in dem wichtigen Bereich der Verträge über Immaterialgüterrechte in der Literatur äußerst umstritten und von der höchstrichterlichen Rechtsprechung bisher nicht geklärt ist. Eine besonders intensive Diskussion wird im Bereich der urheberrechtlichen Verwertungsverträge geführt. Praktisch geht es um die wirtschaftlich äußerst brisante Frage, ob vertraglich eingeräumte Nutzungsrechte im Falle der Beendigung des zugrunde liegenden Verpflichtungsgeschäfts aufgrund einer Kündigung oder aus anderen Gründen automatisch an den Rechtsinhaber zurückfallen, ohne dass sie zurückübertragen werden müssen. 1. Geltung des Trennungsprinzips Einigkeit besteht zunächst darüber, dass auch im Urhebervertragsrecht das Trennungsprinzip gilt, weil Verfügungen regelmäßig durch Verpflichtungsgeschäfte angebahnt und getragen werden. Auch wenn faktisch beide Geschäfte häufig zusammentreffen, das heißt zugleich abgeschlossen und nicht förmlich voneinander unterschieden werden, sind sie nach Voraussetzungen und Wirkungen getrennt zu prüfen. Dies zeigt sich besonders deutlich bei vertraglichen Vereinbarungen, die die Verpflichtung zur Einräumung von Nutzungsrechten an künftigen Werken beinhalten (§ 40 UrhG) und durch entsprechende Verfügungen oder auch Vorausverfügungen vollzogen werden müssen. Letztere werden nach allgemeinen Grundsätzen für zulässig gehalten, sofern die betreffenden Werke bestimmt oder bestimmbar sind.28
27
BGH NJW 1985, 3006, 3007; BGH NJW-RR 1989, 509; BGH NJW-RR 1992, 593,
549. 28
Schricker / Schricker, UrhG, 3. Aufl. 2006, Vor §§ 28 ff. Rn. 46.
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2. Geltung des Abstraktionsprinzips? Äußerst umstritten ist die Frage, ob zusätzlich zum Trennungsprinzip auch das Abstraktionsprinzip gilt. Nach einer Mindermeinung ist dies zu bejahen. Sie beruft sich insbesondere darauf, dass sich die Einräumung von Nutzungsrechten über § 413 BGB nach den Regeln der Forderungsabtretung gemäß §§ 398 ff. BGB richtet und deshalb das für das BGB allgemein verbindliche Abstraktionsprinzip Anwendung findet.29 a) Das Kausalprinzip im Verlagsrecht Allgemein anerkannt ist, dass für den klassischen Bereich des Urhebervertragsrechts, nämlich dem Verlagsrecht, das Kausalprinzip und nicht das Abstraktionsprinzip gilt. Nach § 9 Abs. 1 VerlG entsteht das Verlagsrecht mit der Ablieferung des Werkes an den Verleger und erlischt mit der Beendigung des Vertragsverhältnisses. Aus dieser Formulierung wird der Schluss gezogen, dass eine kausale Bindung des gegenständlichen Verlagsrechts an den Bestand und die Wirksamkeit des schuldrechtlichen Verlagsvertrags besteht.30 b) Die Rechtslage im übrigen Urhebervertragsrecht Eine Mindermeinung betrachtet das im Verlagsgesetz niedergelegte Kausalprinzip als eine Ausnahme, die durch die besondere Interessenlage des Urhebers und des Verlegers und das zwischen ihnen bestehende Vertrauensverhältnis bedingt ist, und plädiert deshalb dafür, dass im übrigen Urhebervertragsrecht das Abstraktionsprinzip gelten soll.31 Im Gegensatz hierzu versteht die herrschende Meinung das in § 9 Abs. 1 VerlG verankerte Kausalprinzip als Ausdruck eines für das Urhebervertragsrecht allgemein maßgebenden Rechtsgedankens, der grundsätzlich auf alle Arten von Urheberrechtsverträgen anzuwenden ist.32 In der Rechtsprechung zeichnet sich bisher keine klare Linie ab, sondern sie vermittelt ein uneinheitliches Bild.33 s. dazu sogleich unten b). s. BGHZ 27, 90, 94 f.; Schricker, VerlG, 3. Aufl. 2001, § 9 Rn. 3; Schricker / Schricker (Fn. 28), Vor §§ 28 ff. Rn. 60; jeweils m. w. N. 31 In diesem Sinne Schack, Urheber- und Urhebervertragsrecht, Rn. 525; Schwarz / Klingner, GRUR 1998, 103 ff.; Rehbinder, Urheberrecht, Rn. 602, der allerdings die regelmäßige Annahme einer stillschweigenden Bedingtheit befürwortet. 32 s. Ulmer, Urheber- und Verlagsrecht, 3. Aufl. 1980, § 92 I; Kraßer, GRUR Int. 1973, 230 ff.; Haberstumpf, FS für Hubmann, 1985, S. 127, 137 f.; Forkel, Gebundene Rechtsübertragungen, Bd. 1 Patent-, Musterrechte, Urheberrecht, 1977, S. 155 ff.; Götting, in: Beier / Götting / Lehmann / Moufang (Hrsg.), Urhebervertragsrecht, FS für Schricker, 1995, S. 53, 70 f.; Dreier / Schulze, UrhG, § 31 Rn. 18; Schricker / Schricker (Fn. 28), Vor §§ 28 ff. Rn. 61, m. w. N. 29 30
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Die überzeugenderen Argumente sprechen für die herrschende Meinung, wonach im Urhebervertragsrecht grundsätzlich das Kausalprinzip gilt. Dies schließt aber nicht aus, dass bei Verfügungen über abgeleitete Rechte, wie Lizenzen und Sublizenzen, das Abstraktionsprinzip zur Anwendung kommt. Es ist danach zu differenzieren, ob es sich um konstitutive oder translative Rechtsübertragungen handelt. aa) Konstitutive Rechtseinräumung Da das Urheberrecht grundsätzlich weder als Ganzes noch in Teilen übertragbar ist (§ 29 Abs. 1 1. HS UrhG), ist eine translative Einräumung von Nutzungsrechten (§ 31 UrhG) ausgeschlossen. Es bedarf vielmehr eines konstitutiven Einräumungsaktes, der in Anlehnung an sachenrechtliche Berechtigungsformen als eine Belastung des Stammrechts des Urhebers angesehen wird.34 Die in dem Prinzip der Unübertragbarkeit zum Ausdruck kommende unauflösliche Bindung des Urhebers an sein Werk und der Nutzungsrechte an das Urheberrecht ist ein beherrschendes Leitmotiv und fundamentales Strukturelement des deutschen Urheberrechts. Dies schlägt sich in einer Reihe von Regelungen nieder, wie insbesondere den §§ 34 und 35 UrhG, wonach die Übertragung von Nutzungsrechten und die Einräumung weiterer Nutzungsrechte von der Zustimmung des Urhebers abhängig sind. Ein weiterer Beleg für die fortbestehende Bindung des Urhebers an sein Werk sind die Rückrufsrechte nach §§ 41, 42 UrhG. Die einzelnen Regelungen, die den Rechtsverkehr im Interesse des Urhebers beschränken,35 verdichten sich zum Prinzip der Zweckbindung, das am allgemeinsten und klarsten in der Zweckübertragungsregel zum Ausdruck kommt, die in § 31 Abs. 5 UrhG verankert ist. Sie begründet eine „Spezifizierungslast“,36 indem sie anordnet, dass sich der Umfang des Nutzungsrechts nach dem mit seiner Einräumung verfolgten Zweck bestimmt, sofern bei der Einräumung des Nutzungsrechts die Nutzungsarten, auf die sich das Recht erstrecken soll, nicht einzeln bezeichnet werden. Das Prinzip der Zweckbindung erfüllt eine Schutzfunktion, es soll den Urheber einerseits vor einem Ausverkauf seiner Rechte bewahren und ihm andererseits gerade auch mit Rücksicht auf seine urheberpersönlichkeitsrechtlichen Interessen so weit wie möglich eine fortdau33 Für die Geltung des Abstraktionsprinzips BGHZ 27, 90, 95 f.; dagegen wohl GRUR 1982, 308, 309 – Kunsthändler; BGH GRUR 1966, 567, 569 – GELU; für das Kausalprinzip OLG Brandenburg NJW-RR 1999, 839, 840; OLG Hamburg ZUM 2000, 1005, 1007; LG Hamburg ZUM 1999, 858, 859 f.; mangels Entscheidungserheblichkeit letztlich offen gelassen von OLG Karlsruhe GRUR-RR 2007, 199 (LS.) – Popmusiker (das Gericht ging davon aus, dass jedenfalls die Nichtigkeit des Verpflichtungsvertrages nach § 138 Abs. 1 BGB auch die Nichtigkeit der zur Erfüllung des Vertrags vorgenommenen Verfügung zur Folge hat). 34 Schricker / Schricker (Fn. 28), Vor §§ 28 ff. Rn. 19 und 43. Abweichend hiervon hat Forkel (Fn. 32), S. 132 ff., 165 ff. den Begriff der „gebundenen Übertragung“ geprägt, da das dem Sachenrecht entstammende Bild der Belastung bei Immaterialgüterrechten nicht passe. 35 s. Picot (Fn. 2), S. 168. 36 Schricker / Schricker (Fn. 28), Vor § 31 Rn. 34.
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ernde Kontrolle über die wirtschaftliche Verwertung seines Werkes sichern. Allein dies spricht bereits für die Geltung des Kausalprinzips und gegen die Geltung des Abstraktionsprinzips. Gestützt wird die Annahme einer kausalen Abhängigkeit der in Erfüllung einer vertraglichen Verpflichtung vorgenommenen Verfügung auch durch § 40 Abs. 3 UrhG, der explizit anordnet, dass die Beendigung des Kausalverhältnisses auf die Verfügung durchschlägt. Hinzu tritt aber noch ein weiterer Aspekt, nämlich die Ausformungs- und Konkretisierungsfunktion durch die kausale Zweckbindung. Angesichts der breiten Palette von Verwertungsmöglichkeiten ist die Verfügung mit dem Verpflichtungsvertrag aufs Engste verknüpft, da es anders als im Sachenrecht an einem gesetzlichen Typenzwang fehlt, so dass die Parteien im Rahmen der für das Schuldrecht kennzeichnenden Typenfreiheit den Inhalt und die Reichweite der Verwertungsbefugnisse bestimmen können und dadurch erst den Verfügungsgegenstand definieren.37 Mit anderen Worten: Der urhebervertragsrechtlichen Verfügung fehlt die für die Anwendung des Abstraktionsprinzips erforderliche inhaltliche Abstraktion.38 bb) Translative Rechtsübertragung An einer kausalen Zweckbindung fehlt es bei translativen urheber- und vertragsrechtlichen Verfügungen. Da sie eine inhaltliche Abstraktion aufweisen, kommt bei ihnen das Abstraktionsprinzip zur Anwendung.39 Dies gilt zunächst für die Übertragung des Urheberrechts als solchem, sofern diese ausnahmsweise zulässig ist (§ 29 Abs. 1 UrhG), und für die Übertragung von Leistungsschutzrechten, die keine persönlichkeitsrechtlichen Komponenten enthalten und deshalb entgegen der grundsätzlich geltenden Unübertragbarkeitsregel übertragbar sind, wie das Recht an der Ausgabe nachgelassener Werke (§ 71 Abs. 2 UrhG), das Recht des Filmherstellers und des Herstellers von Laufbildern (§ 95 i. V. m. § 94 Abs. 2 S. 1 UrhG), die verwandten Schutzrechte des Tonträgerherstellers (§ 85 Abs. 2 S. 1 UrhG) und des Sendeunternehmens (§ 87 Abs. 2 S. 1 UrhG) 37 In diesem Sinne auch Schricker / Schricker (Fn. 28), Vor §§ 28 ff. Rn. 61; Picot (Fn. 2), S. 168. 38 Nach Schricker / Schricker (Fn. 28), Vor §§ 28 ff. Rn. 61 sind die zugunsten des Abstraktionsgrundsatzes angeführten Argumente der Rechts- und Verkehrssicherheit für das Urheberrecht nicht stichhaltig, „da dort ein Gutglaubensschutz fehlt“. Diese Argumentation erscheint nicht völlig überzeugend. Erstens gilt das Abstraktionsprinzip auch bei einer Zession (§ 398 BGB), obwohl auch hier ein gutgläubiger Erwerb ausgeschlossen ist, und zweitens stehen auch bei den sachenrechtlichen Verfügungen nach §§ 929 ff. BGB das Abstraktionsprinzip und der Gutglaubensschutz nicht notwendig in einem inneren Zusammenhang. Auch ohne das Abstraktionsprinzip könnten die Regelungen der §§ 932 ff. BGB, die den guten Glauben an das durch den Besitz belegte Eigentum des Verfügenden schützen, zu einem gutgläubigen Erwerb vom Nichtberechtigten führen. Da es hierzu des Abstraktionsprinzips nicht bedarf, ist die Prämisse fragwürdig, dass es deshalb nicht zur Anwendung kommen solle, weil ein Gutglaubensschutz fehlt. 39 s. dazu Picot (Fn. 2), S. 169.
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sowie das Datenbankrecht (§§ 87 a ff. UrhG). Unübertragbar ist hingegen insbesondere das Leistungsschutzrecht des ausübenden Künstlers (§§ 73 ff. UrhG). Keiner kausalen Zweckbindung unterliegen auch die translativen Übertragungen von abgespaltenen Nutzungsrechten, die an Urheberrechten oder an (übertragbaren oder unübertragbaren) Leistungsschutzrechten eingeräumt werden können.40 Die Argumente, die bei konstitutiven Rechtseinräumungen für die Geltung des Kausalprinzips streiten, sind bei translativen Rechtsübertragungen nicht einschlägig. Die übertragenen Rechte sind uneingeschränkt disponibel und es kommt zu einem vollständigen Rechtsübergang und Wechsel der Rechtsinhaberschaft, ohne dass eine Bindung an den Verfügenden fortbesteht. Auch die Ausformungs- und Konkretisierungsfunktion, die die kausale Zweckbindung erfüllt, kommt nicht zur Geltung, da der Verfügungsgegenstand fest umrissen und klar konturiert ist. Vor diesem Hintergrund besteht kein Grund von dem das Zivilrecht beherrschenden Abstraktionsprinzip abzuweichen, sondern der Gedanke des Verkehrsschutzes spricht vielmehr dafür, an ihm bei translativen Rechtsübertragungen festzuhalten. c) Konsequenzen und Kritik am Begriff der Dinglichkeit im Urhebervertragsrecht Die kausale Bindung der konstitutiven Nutzungsrechtseinräumung hat zur Folge, dass die Unwirksamkeit oder Beendigung des schuldrechtlichen Verpflichtungsgeschäfts auf das Verfügungsgeschäft durchschlägt und es kommt zum automatischen Rückfall auf den Inhaber des Stammrechts. Darüber hinaus erlöschen auch alle Lizenzen, die der Inhaber eines ausschließlichen Nutzungsrechts während der Dauer seiner Berechtigung gemäß § 35 UrhG wirksam eingeräumt hat.41 Der Grund für diese „Kettenreaktion“ oder den „Dominoeffekt“ liegt darin, dass es sich bei der konstitutiv begründeten Lizenz um eine abgeleitete Rechtsposition handelt, die von dem Bestand des Hauptnutzungsrechts abhängt und der die Basis entzogen wird, wenn dieses wegfällt. Dieses Ergebnis mag höchst unbefriedigend erscheinen, weil es für die betroffenen Lizenznehmer ein hohes wirtschaftliches Risiko in sich birgt. Es ist aber die unausweichliche Folge der aus der persönlichkeitsrechtlichen Prägung resultierenden Zweckbindung, die ein fundamentales Strukturelement des deutschen Urheberrechts darstellt. Es werden Konstruktionen vorgeschlagen, die darauf ausgerichtet sind, durch vertragliche Regelungen den Fortbestand der Lizenz bei Beendigung des Hauptnutzungsvertrags abzusichern.42 Auf sie kann in diesem Rahmen nicht eingegangen werden. Kritisch anzumerken ist aber, dass die Diskussion über die Frage, ob ausschließliche oder einfache Nutzungsrechte (bzw. ausschließliche oder einfache Lizenzen) „dinglich“ sind, die in engem Zusammenhang mit der dem Trennungs- und Abs40 41 42
s. zu Letzterem Schricker / Schricker (Fn. 28), Vor §§ 28 ff. Rn. 36. s. Picot (Fn. 2), S. 170. s. dazu Picot (Fn. 2), S. 170 ff.
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traktionsprinzip zugrunde liegenden Unterscheidung zwischen dem schuldrechtlichen Verpflichtungsvertrag und dem „dinglichen“ Verfügungsgeschäft steht, fruchtlos ist und zu Fehlschlüssen (ver)führt. Nach nahezu unbestrittener Auffassung wird das ausschließliche Nutzungsrecht als „dinglich“, „quasidinglich“ oder „gegenständlich“ qualifiziert.43 Dagegen ist die Rechtsnatur des einfachen Nutzungsrechts umstritten, wobei die wohl herrschende Meinung von einem rein schuldrechtlichen Charakter ausgeht.44 Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass es sich in Wahrheit um eine weitgehend substanzlose Scheindiskussion handelt, weil über den Begriff der „Dinglichkeit“ keine Klarheit besteht. Die Kriterien, die für die Qualifizierung als „dinglich maßgebend“ sein sollen, bleiben im Dunklen. Der Begriff der „Dinglichkeit“ ist im Bereich von Immaterialgüterrechten schon deshalb verfehlt, weil diese sich im Unterschied zum Sachenrecht nicht auf körperliche Gegenstände beziehen, sondern auf „geistige Güter“. Deren Besonderheiten lässt sich auch nicht dadurch Rechnung tragen, dass man auf terminologische Modifikationen wie „quasidinglich“ oder „gegenständlich“ ausweicht, da die Orientierung an einer Analogie zum Sachenrecht keinen geeigneten Maßstab liefert.45 Im Kern geht es bei der Diskussion über die „Dinglichkeit“ um die Frage, ob bzw. inwieweit Nutzungsrechte gegenüber jedermann wirkende Rechtspositionen begründen. Dies lässt sich nicht pauschal beantworten, sondern bedarf einer differenzierten Betrachtung. Bei einfachen Nutzungsrechten zeigen sich derartige „Drittwirkungen“ nur in begrenztem Umfang, nämlich insbesondere beim Sukzessionsschutz gemäß § 33 Satz 2 1. Alt UrhG.46 Dagegen werden dem Inhaber einer einfachen Lizenz keine Abwehrrechte gegenüber Dritten zuerkannt, sondern er kann allenfalls im Prozessstand die Ansprüche seines Lizenzgebers geltend machen.47 Da einfache Nutzungsrechte nur ganz partiell, insbesondere beim Sukzessionsschutz, absolute Wirkungen entfalten, erscheint es nicht gerechtfertigt, sie als „dinglich“, „quasidinglich“ oder „gegenständlich“ zu qualifizieren. 43 s. Schricker / Schricker (Fn. 28), Vor §§ 28 ff. Rn. 47 f., m. umf. Nachw.; a. A. Sosnitza, FS für Schricker, 2005, S. 183, 195 f., der für eine schuldrechtliche Deutung plädiert. 44 s. zum Streitstand die umfassenden Nachweise bei Schricker / Schricker (Fn. 28), Vor §§ 28 ff. Rn. 49. 45 Kritisch zum Begriff der Dinglichkeit im Ansatz auch Sosnitza (Fn. 43), S. 184, der allerdings annimmt, dass man ein „dingliches Recht“ auch in einem weiteren Sinne verstehen könne. 46 Es besteht insoweit eine Parallele zum Grundsatz „Kauf bricht nicht Miete“ nach § 566 Abs. 1 BGB, in dem man auch eine „partielle Verdinglichung“ des schuldrechtlichen Mietvertrags sehen kann. Der Sukzessionsschutz spricht gerade gegen die Annahme einer „Dinglichkeit“, da es einer solchen Regelung sonst nicht bedurft hätte. Dieser Einwand lässt sich auch für die ausschließliche Lizenz erheben, da der Sukzessionsschutz auch für diese gilt. In diesem Sinne auch Sosnitza (Fn. 43), S. 191. 47 s. Ulmer (Fn. 32), § 85 III; Forkel (Fn. 29), S. 220 ff.; Schricker / Schricker (Fn. 28), Vor §§ 28 ff. Rn. 49, der aber ungeachtet dessen auch einfache Nutzungsrechte als „gegenständlich“ ansieht.
Das Trennungs- und Abstraktionsprinzip im Urheberrecht
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Im Unterschied zum einfachen Nutzungsrecht verschafft das ausschließliche Nutzungsrecht seinem Inhaber ein positives Nutzungsrecht und negatives Verbotsrecht, das gegenüber jedermann, im Zweifel auch gegen den Urheberrechtsinhaber selbst,48 wirkt, und er ist berechtigt, anderen Nutzungsrechte einzuräumen. Hieraus wird nach fast einhelliger Meinung der Schluss gezogen, dass es sich um ein „gegenständliches“ Recht handelt.49 Auch diese Deutung ist aber nicht zwingend, denn es besteht die Möglichkeit, dass die Nutzung durch den Urheber vorbehalten bleibt (§ 31 Abs. 3 S. 2 UrhG). Abgesehen davon beruht die konstitutive Rechtseinräumung auf einer kausalen Bindung an den schuldrechtlichen Vertrag, weil das Abstraktionsprinzip keine Anwendung findet. Schließlich betrifft die aktuelle Diskussion50 über die Insolvenzfestigkeit von Lizenzen im Falle der Insolvenz des Lizenzgebers, die nach der gegenwärtigen Regelung des § 108 Abs. 1 InsO nicht gewährleistet erscheint und den Gesetzgeber dazu veranlasst hat, eine Gesetzesänderung vorzunehmen, nicht nur einfache Lizenzen, sondern auch ausschließliche Lizenzen. Wären jedenfalls ausschließliche Lizenzen „dinglich“, so dürften keine Zweifel an der Insolvenzfestigkeit bestehen. Konsequenz der „Dinglichkeit“ der Lizenz wäre, dass sie nicht massezugehörig ist bzw. dem Lizenznehmer zur Aussonderung nach § 47 InsO berechtigen würde.51 V. Fazit Als Fazit ist festzuhalten, dass auch im Urhebervertragsrecht das Trennungsprinzip zu beachten ist. Für konstitutive Nutzungsrechtseinräumungen gilt das Kausalprinzip und nicht das Abstraktionsprinzip. Dieses kommt aber bei translativen Rechtsübertragungen zur Anwendung. Der von einer Analogie zum Sachenrecht geprägte Begriff der „Dinglichkeit“ ist für die Charakterisierung ausschließlicher Dies folgt aus der Einschränkung nach § 31 Abs. 3 S. 2 UrhG. s. Schricker / Schricker (Fn. 28), Vor §§ 28 ff. Rn. 47 f., m. umf. Nachw. 50 Siehe dazu Heim, NZI 2008, 338 ff.; Ullmann, Mitt. 2008, 49 ff.; Berger, ZInsO 2007, 1142 ff.; de Vries, ZUM 2007, 898 ff.; McGuire, GRUR 2009, 13 ff., die sich zu Recht gegen die Ableitung der Insolvenzfestigkeit an der „dinglichen Rechtsnatur“ wendet (S. 15 ff.). 51 McGuire (Fn. 50), S. 16. Allerdings ließe sich damit die Schwierigkeit nicht beseitigen, dass es sich bei dem zugrunde liegenden Lizenzvertrag um ein Dauerschuldverhältnis handelt, aus dem sich Verpflichtungen ergeben, die zwar für die Vergangenheit, nicht aber für die Zukunft bereits vollständig erfüllt sind. Außerdem würde die Ableitung der insolvenzrechtlichen Behandlung aus der angeblichen „Dinglichkeit“ der Lizenz dazu führen, dass sie auch im umgekehrten Fall, nämlich der Insolvenz des Lizenznehmers, gelten würde, obwohl dies gegenwärtig weder angenommen noch gefordert wird. Eine solche einheitliche Behandlung ist aber wirtschaftlich nicht sinnvoll und es entspricht auch nicht den Interessen der Parteien, da sie die faktische Unfähigkeit des Lizenznehmers zur Vertragserfüllung nicht beheben kann (so zu Recht McGuire [Fn. 50], S. 18). 48 49
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oder einfacher Nutzungsrechte ungeeignet. Maßgeblich ist, ob bzw. inwieweit durch Nutzungsrechtseinräumungen Rechtspositionen mit absoluter Wirkung gegenüber jedermann oder bestimmten Dritten begründet werden.
AGB-Kontrolle im internationalen Kaufvertrag Von Bettina Heiderhoff
I. Begrenztheit des CISG Der international wohl bedeutendste deutsche Privatrechtler des 20. Jahrhunderts, Ernst Rabel, lehrte und forschte zu Beginn seiner Karriere (1904 – 1906) als Professor an der Juristenfakultät der Universität Leipzig. Er ist Vorvater und wichtigster Initiator des UN-Kaufrechts gewesen, dessen Bedeutung noch heute ständig steigt. Das gibt Anlass, darauf zu sehen, welche Rechtsfragen im Bereich des internationalen Warenkaufs gegenwärtig drängen. Viele davon ergeben sich daraus, dass das CISG bekanntlich kein vollständiges Kaufrecht ist. Schon sein Charakter als Konvention ließ es nicht zu, die wirklich schwierigen Rechtsfragen bis ins Detail zu regeln. Sein heutiger Erfolg beruht sicher gerade auch auf dieser Zurückhaltung. Es ist nur soviel enthalten, dass die meisten Staaten das Regelwerk akzeptieren können.1 Die Lückenhaftigkeit hat natürlich auch eine Kehrseite. In der Praxis bleibt der Grad der Vereinheitlichung ebenfalls auf die eher grundlegenden Fragen beschränkt. Durch eine möglichst einheitliche Auslegung könnten hier noch wesentliche Verbesserungen erzielt werden. Zuletzt wurden große Fortschritte gemacht. Mit dem Uncitral Digest2 wurde ein übersichtliches und frei zugängliches Kompendium über die Rechtsprechung aller Mitgliedstaaten geschaffen, das Rabels Herz hätte höher schlagen lassen. Auch die UNIDROIT, für die schon Rabel tätig war, hat intensiv weitergearbeitet. Ob die von ihr herausgegebenen Prinzipien, die das UN-Kaufrecht an Detailreiche und Vollständigkeit weit übertreffen, von der Praxis als Auslegungshilfe akzeptiert werden, und das CISG durch eine an dessen Prinzipien orientierter Auslegung an vereinheitlichender Kraft gewinnen kann,3 wird sich noch zeigen müssen. 1 Rabel, RablesZ 9 (1935), 1, 5 f.: Das CISG ist ein „Markstein in der Entwicklung des Privatrechts und des internationalen Rechts“, weil erstmalig eine „tiefgreifende rechtsvergleichende Auseinandersetzung“ stattgefunden hat, bei der jedes Rechtssystem zu dem Entwurf beigesteuert hat. Deshalb handelt es sich nicht lediglich um einen Kompromiss, sondern um eine „gemeinsame Überzeugung“. 2 http: //www.uncitral.org/uncitral/en/case_law/digests/cisg.html. 3 Präambel der UNIDROIT-Prinzipien; Art. 1:101 (4) der Lando-Prinzipien; befürwortend etwa Magnus, ZEuP 1999, 642, 648 f.
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Eine der Rechtsfragen, für dessen Anwendung das CISG allein nicht ausreicht und Bausteine des nationalen Rechts ergänzend herangezogen werden müssen, ist die AGB Kontrolle. Wo nationales Recht und CISG ineinander greifen, entstehen nur noch vermehrt Unsicherheiten und grob voneinander abweichende Entscheidungen.4 Dabei ist die Verwendung von AGB in internationalen Kaufverträgen zugleich der absolute Regelfall. Ein internationaler Handelskaufvertrag ohne Einbeziehung von AGB ist kaum vorstellbar. Im Gegenteil werden meist beide Parteien AGB verwenden. Dieser Beitrag will zeigen, dass es möglich ist, die gesamte AGB-Problematik deutlicher als bisher dem CISG zu unterstellen und damit mehr Rechtssicherheit in diesem Bereich zu schaffen, ohne damit nationale Befindlichkeiten zu verletzen. Das gilt nicht nur für die Einbeziehung und die Auslegung, sondern auch für die Wirksamkeit der AGB. Die Frage der Wirksamkeit von AGB sollte nicht mit der Frage der Wirksamkeit von Verträgen im Sinne des Art. 4 lit. a CISG gleichgesetzt werden. Die Überprüfung von AGB gehört – zumindest auch – in den Bereich von Treu und Glauben, den das CISG umfasst. Den Bereich der reinen Wirksamkeitsfragen – zu denen etwa die Sittenwidrigkeit oder die gesetzlichen Verbote gehören – berührt die AGB-Kontrolle dagegen auf einer eher formalen Ebene. II. Problemkomplexe bei der AGB-Kontrolle 1. Einbeziehung der AGB in den Vertrag a) Grundsatz Die wirksame Einbeziehung von AGB hat die Gerichte zuletzt vielfach beschäftigt. Im Grundsatz wird angenommen, dass die Einbeziehung von AGB in den Vertrag ein Teil des eigentlichen Vertragsschlusses ist und damit dem CISG unterfällt.5 Enthält das Angebot AGB, werden diese bei uneingeschränkter Annahme ohne weiteres Bestandteil des Vertrags. Sind dagegen der Annahme AGB beigefügt, so kommt es nach Art. 19 CISG darauf an, ob sie gegenüber dem Angebot nur so unbedeutende Änderungen darstellen, dass der Vertrag insgesamt gemäß Art. 19 II CISG unter den geänderten Bedingungen als abgeschlossen gelten kann.6 Hierbei 4 Vgl. nur die Entscheidung des Rechtbank Zwolle, welches kurzerhand die gesamte Frage der Einbeziehung von AGB dem niederländischen Recht unterstellte, IHR 2005, 34. 5 BGH NJW 2002, 370 ff.; jetzt wieder OLG Linz, IHR 2007, 123; Hoge Raad Den Haag, 28. 1. 2005 (http: //www.cisg.law.pace.edu/cisg/wais/db/cases2/050128n1.html); Piltz, IHR 2004; zustimmend Janssen, IHR 2005, 155; Magnus, in: Staudinger, CISG, Neub. 2005, Art. 14 Rn. 40; Mittmann, IHR 2006, 103; Gruber, in: MünchKommBGB, 5. Aufl., Art. 14 CISG Rn. 27; anders allerdings die vorstehend genannte Entscheidung Rechtbank Zwolle, IHR 2005, 34. 6 Lüderitz / Fenge, in: Soergel, 13. Aufl., Art. 19 Rn. 5; Magnus, in: Staudinger, CISG, Neub. 2005, Art. 19 Rn. 21.
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ist die Rechtsprechung teilweise ausgesprochen großzügig und lässt auch recht weitreichende Änderungen noch als nicht wesentlich iSd Art. 19 II CISG gelten.7 Die Anwendung des Art. 19 CISG auf die Einbeziehung von AGB ist jedoch von begrenztem Nutzen. Denn sie trägt nur in den ohnehin einfach gelagerten Fällen. b) Battle of Forms Die bekannteste und praktisch sicher wichtigste Problematik bei der Einbeziehung von AGB in den Vertrag betrifft den Fall, dass beide Parteien einander widersprechende AGB verwenden, darüber aber stillschweigend hinweggehen (battle of forms). Auch diese Problematik wird heute – vollkommen zu Recht – im Rahmen des CISG gelöst, obwohl dieses keine eigentliche Regelung dafür anbietet.8 Häufig wird angenommen, dass Art. 19 II und III CISG den nutzbaren Ansatz einer Regelung enthalten. Wenigstens zeige das Bestehen der dortigen Regelungen, dass das Problem nach dem CISG zu lösen sei.9 Das Meinungsbild ist alles andere als einheitlich. Für den Fall, dass der Vertrag von den Parteien vollzogen worden ist, ist die in Deutschland übliche Ansicht, dass die AGB (mit Ausnahme des konkreten Punktes, in dem sie sich widersprechen) wirksam bleiben, auch international weit verbreitet.10 Immer häufiger wird auf den Vollzug des Vertrags verzichtet, und andere Zeichen werden für ausreichend angesehen.11 Artikel 2.22 UNIDROIT folgt ebenfalls dieser Ansicht und verlangt nicht, dass der Vertrag vollzogen worden ist. Die vertragliche Einigung reicht aus. Eine solche Ansicht lässt sich allerdings kaum aus Art. 19 II und III CISG ableiten,12 sondern sie entspricht vielmehr einer auf dem Gedanken der Vernunft sowie 7 OLG Naumburg, IHR 2000, 22 = CLOUT Nr. 362 (deutliche Änderung des Liefertermins); Österreichischer OGH, ÖJZ 1997, 829 = CLOUT No. 189 (Änderung der Warenspezifikation, jedoch zugunsten des anderen Vertragspartners); Cour d’appel de Paris, 22. 4. 1992, CLOUT Nr. 158 und Cour de cassation, 4.1. 1995, CLOUT Nr. 155 (Preisanpassungsklausel). 8 Vgl. zur kurzen Diskussion im Rahmen der Entstehung etwa Schlechtriem, Uniform Sales Law – The UN-Convention on Contracts for the International Sale of Goods (1986), S. 57. 9 BGH NJW 2002, 1651; Piltz, IHR 2004, 133; Magnus, in: Staudinger, CISG, Neub. 2005, Art. 19 Rn. 20; Gruber, in: MünchKommBGB, 5. Aufl., Art. 19 CISG Rn. 18 ff. 10 Schlechtriem, in: Schlechtriem / Schwenzer, Commentary on the CISG, 2. (englische) Auflage, Art. 19 Rn. 20 mit Nachweisen in Fn. 65. 11 Huber / Mullis, The CISG, S. 94; ähnlich Schlechtriem, Internationales UN-Kaufrecht, 4. Aufl., Rn. 92; ders., in: Schlechtriem / Schwenzer, Commentary on the CISG, 2. (englische) Aufl., Art. 19 Rn. 20. 12 Vgl. so ganz klar auch die Erläuterungen zu Art. 2.22 UNIDROIT. Art. 19 ließe entweder die Annahme eines Vertragsschluss zu den letztübersandten Bedingungen zu (Art. 19 II) oder die Annahme müsste als Gegenangebot gedeutet werden (Art. 19 III) – dann aber würde
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auf Treu und Glauben basierenden Auslegung der Erklärungen bzw. des Verhaltens der Parteien.13 Auch die Gegenansicht, die auf das letzte Wort abstellt (last shot), wird daher weiterhin vertreten.14 c) Verweis auf AGB Schwierigkeiten bereitet auch die nach dem nationalen Recht oft übliche und von den Gerichten akzeptierte Gepflogenheit der Parteien, auf die Geltung ihrer AGB nur zu verweisen, ohne sie dem eigentlichen Angebot (bzw. der Annahme) hinzuzufügen.15 Hier wird häufig vertreten, dass eine solche Praxis im internationalen Rechtsverkehr im Regelfall nicht ausreicht.16 Denn es sei hier für den Vertragspartner zum einen weniger vorhersehbar, was die AGB enthalten werden, zum anderen sei es oftmals aufwändiger, die AGB selbst anzufordern. Dem muss widersprochen werden. Es ist mit den modernen Kommunikationsmitteln nicht schwierig, sich AGB nachträglich aus dem Ausland übersenden zu lassen. Email und Fax sind unabhängig von der zu überwindenden Entfernung. Dagegen verursacht es für den Verwender unter Umständen merkliche Transaktionskosten, die AGB stets unverlangt übersenden zu müssen. Unnötige Kosten können zum einen durch Faxgebühren und zum anderen, was wirklich ins Gewicht fallen kann, durch Übersetzungskosten entstehen.17 Auffällig ist, dass die hier vertretene Sichtweise zwar in den Lando-Prinzipien (Art. 2.104) ausdrücklich bestimmt ist, in den UNIDROIT-Prinzipien (Art. 2.19 iVm 2.3) – wenn auch nicht ausdrücklich – wohl gerade die gegenteilige Haltung eingenommen wird.18
die Vollziehung des Vertrags ebenfalls als Annahme dieses Gegenangebots gedeutet werden müssen. 13 BGH NJW 2002, 1651, 1653; del Pilar Perales Viscasillas, Pace International Law Review (1998) 97; Huber / Mullis, The CISG, S. 94; ähnlich Schlechtriem, in: Schlechtriem / Schwenzer, Kommentar zum CISG, 4. Aufl., Art. 19 Rn. 20; Gruber, in: MünchKommBGB, 5. Aufl., Art. 19 CISG Rn. 25, 26 (allerdings auf den Vollzug abstellend). 14 Piltz, IHR 2004, 133, 136. 15 Nur BGHZ 117, 190 = NJW 1992, 1232. 16 BGHZ 149,113 = NJW 2002, 370 = IHR 2002, 14; LG Trier, IHR 2004, 115; LG Neubrandenburg, IHR 2006, 26; zustimmend Mittmann, IHR 2006, 103; Gruber, in: MünchKommBGB, 5. Aufl., Art. 14 CISG Rn. 29 ff.: mit einer Aufstellung der denkbaren Sonderfälle (Internet, andauernde Geschäftsverbindung, Gepflogenheiten etc); dagegen aber Schmidt-Kessel, NJW 2002, 3444, 3445 mwN; zur Übersendung von AGB in einer fremden Sprache OGH IHR 2004, 148. 17 Denn das Übersenden der AGB reicht nur aus, wenn diese auch in einer dem Kunden verständlichen Sprache abgefasst sind, OLG Düsseldorf, IHR 2004, 112. 18 Vgl. zu diesem Unterschied der beiden Prinzipien auch Bonell, Uniform Law Review 1996, 229, 239.
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d) Überraschende Klauseln Fraglich ist schließlich auch, ob das CISG die Möglichkeit trägt, die Einbeziehung von überraschenden Klauseln abzulehnen. Diese Frage ist in einer grundlegenderen Weise umstritten, als die vorstehend erörterten Probleme. Es wird zum Teil vertreten, es handele sich um eine Frage der Gültigkeit des Vertrags (Inhaltskontrolle), so dass nationales Recht anwendbar sei.19 Zum anderen Teil wird dagegen von einer Frage der Einbeziehung ausgegangen, so dass das CISG angewendet wird.20 Es handelt sich um eine dogmatische Frage, die auch im deutschen Recht diskutiert wird. Die bloße Existenz dieses Streits macht etwas deutlich, das für die folgenden Überlegungen bedeutsam ist: Die Abgrenzung zwischen den Fragen, die noch dem CISG unterfallen, und solchen, die – angeblich – nach nationalem Recht zu lösen sind, ist unscharf und schwer zu treffen. Die Frage der inhaltlichen Wirksamkeit von Vertragsbedingungen ist mit der Frage ihrer Einbeziehung oftmals eng verbunden.21 Aufschlussreich ist insoweit das italienische Recht, welches die Fragen der Einbeziehung und der inhaltlichen Wirksamkeit gar nicht trennt (Art. 1341 Codice civile). Die UNIDROIT-Prinzipien nehmen eine klare Einordnung vor und gehen von einer Frage der Einbeziehung aus. Nach Artikel 2.20 ist die Nichteinbeziehung überraschender Klauseln vorgesehen. Die Lando-Prinzipien enthalten eine solche besondere Regelung nicht, so dass der überraschende Charakter einer Klausel nur im Rahmen der allgemeinen Inhaltskontrolle nach Art. 4.110 berücksichtigt werden kann. Welcher Ansicht letztlich zu folgen ist, soll hier als solches nicht entschieden werden. Zu bedenken ist aber Folgendes: Setzt man sich – zu Recht – zum Ziel, das CISG möglichst weit zu verstehen und versucht man somit, wie es aus deutscher Sicht auch dogmatisch völlig schlüssig erscheint, es auf die Frage der überraschenden Klauseln anzuwenden, so gerät man in eine merkwürdige Schleife: Man wird im Abschnitt über das Zustandekommen von Verträgen keinerlei Lösung für die Rechtsfrage der überraschenden Klauseln vorfinden. Solche Klauseln wären ohne weiteres in den Vertrag einbezogen. Dagegen passt Art. 8 II CISG für die Beantwortung der Frage, ob eine überraschende Klausel in den Vertrag einbezogen wird, recht gut: Ein vernünftiger Empfänger würde eine solche überraschende Klausel in einem Vertrag nicht erwarten – sie könnte damit für unwirksam angesehen werden. Nur betrifft Art. 8 II CISG, wenn man diese für die Auslegung gedachte Norm überhaupt so weit verstehen möchte, wieder den Inhalt der Erklärung OLG Düsseldorf, IHR 2005, 24, 28. Für ersteres Magnus, in: Staudinger, CISG, Neub. 2005, Art. 14 Rn. 42; Westermann, in: MünchKommBGB, 5. Aufl., Art. 4 CISG Rn. 5; Saenger, in: Bamberger / Roth, 9. Aufl., Art. 4 CISG Rn. 22; für letzteres Gruber, in: MünchKommBGB, 5. Aufl., Art. 14 CISG Rn. 35; Koller, FS Honsell, 2002, S. 223, 236. 21 Vgl. auch Basedow, in: MünchKommBGB, 5. Aufl., § 305 BGB Rn. 53, der darauf hinweist, dass die Fragen auch in Deutschland oft nicht sauber genug getrennt werden. 19 20
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und damit gelangt man, in einer Art Zirkelschluss, doch eigentlich wieder zur Anwendung des nationalen Rechts. Denn die Inhaltskontrolle betrifft die Gültigkeit des Vertrags und diese ist in Art. 4 lit. a CISG aus dem Regelungsbereich des CISG ausgenommen. Dem sei im Folgenden noch näher nachgegangen. 2. Inhaltskontrolle a) Grundsatz Sind AGB in den Vertrag einbezogen, so muss dies noch nicht notwendig heißen, dass auch die in den AGB vorgesehenen Wirkungen eintreten. Vielmehr ist, jedenfalls aus deutscher Sicht, noch eine zweite Hürde zu nehmen. Die AGB müssen auch inhaltlich Treu und Glauben entsprechen, um Wirksamkeit entfalten zu können. Wie soeben angesprochen, wird angenommen, dass die Inhaltskontrolle von AGB nationalem Recht unterliege.22 Ihre Wurzel findet diese Ansicht darin, dass Fragen der Wirksamkeit von Verträgen nach Art. 4 lit. a CISG ausdrücklich aus dem Anwendungsbereich des CISG ausgeschlossen und damit dem durch das Kollisionsrecht zu bestimmenden nationalen Recht übertragen sind. Offenbar wird die Unwirksamkeit von AGB in Verbindung mit Wirksamkeitsfragen gebracht,23 insbesondere der Sittenwidrigkeit und der Legalität von Verträgen.24 Damit übereinstimmend erfolgt die Einordnung in UNIDROIT-Prinzipien und Lando-Prinzipien. Die die Inhaltskontrolle betreffenden Normen (Art. 3.10 UNIDROIT, Art. 4.110 Lando) sind jeweils in dem Kapitel über die „Gültigkeit“ eingeordnet. Diese einhellige Einordnung hat ein starkes Argument für sich. Denn die Inhaltskontrolle bewirkt, dass bestimmte Klauseln unwirksam sind, sie betrifft somit also die Gültigkeit (von Teilen) des Vertrags. Allerdings betrifft die Inhaltskontrolle, wie ebenfalls zumeist deutlich erkannt wird, auch den Bereich von Treu und Glauben. Das wird nicht nur in § 307 BGB deutlich, sondern ist jetzt auch in Art. 9.405 DCFR25 ausdrücklich erkennbar. Bevor überlegt wird, wie sich dieses Zusammenspiel im Bereich des CISG auswirkt, seien einige Vorfragen aufgezeigt. b) Instrumentarium der Kontrolle Keinerlei Hilfe kann das CISG bieten, wenn es um das Instrumentarium der Inhaltskontrolle geht. Ob die Gerichte AGB von Amts wegen oder auf Antrag prüfen, Andeutend BGHZ 141, 129 = NJW 1999, 2440; OLGR München 1998, 298. Hellner in: Petar Sarcevic & Paul Volken eds, International Sale of Goods: Dubrovnik Lectures, Oceana (1986), Kapitel 10, S. 335 ff. (S. 355). 24 So OLGR München 1998, 298; Piltz, NJW 2003, 2056, 2060. 25 Study Group on a European Civil Code / Research Group on EC Private Law (Acquis Group) (Hrsg.), Principles, Definitions and Model Rules of European Private Law. Draft Common Frame of Reference (DFCR), Interim Outline Edition 2008. 22 23
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ob sie unfaire Klauseln für nichtig erklären oder anpassen, muss dem nationalen Recht entnommen werden. In Art. 3.10 UNIDROIT-Prinzipien und Art. 4.110 Lando-Prinzipien ist jeweils eine Anfechtungsmöglichkeit für die benachteiligte Partei vorgesehen. Mangels jeglichen international anerkannten Instrumentariums bleibt nur eine Lösung, nämlich die Anwendung des nach dem Kollisionsrecht für den Vertrag neben dem CISG geltenden nationalen Rechts. c) Auslegung als mit der Kontrolle korrespondierender Vorgang Wurde soeben festgestellt, dass das Instrumentarium der Inhaltskontrolle ganz dem nationalen Recht entnommen werden muss, so ist dies sogleich wieder einzuschränken. Mit der Inhaltskontrolle von AGB eng verbunden ist deren Auslegung. Die Auslegung der AGB kann aber nicht nach nationalem Recht erfolgen. Denn das CISG umfasst unstreitig die Frage der Auslegung von Willenserklärungen, also auch von Angebot und Annahme.26 In Art. 8 II CISG ist bestimmt, dass die Auslegung von Willenserklärungen aus der Perspektive einer vernünftigen Person vorzunehmen ist. Fraglich ist, wie sich dies auf die Auslegung von AGB auswirkt. Hier sehen nämlich viele Rechtsordnungen die so genannte „contra proferentem“ Regelung vor: Wie § 305 c II BGB ordnen auch Art. 4.6 UNIDROIT-Prinzipien sowie Art. 5.103 Lando-Prinzipien an, dass Unklarheiten zulasten des Verwenders gehen. Es ist zu überlegen, inwiefern sich mit Art. 8 II CISG entsprechende Ergebnisse erzielen lassen. Dabei muss man einräumen, dass sich die Perspektive der vernünftigen Person deutlich von der contra proferentem Regel unterscheidet.27 Insbesondere die in Deutschland gängige Methode, mehrdeutige AGB unter Umständen zunächst in einem für den Kunden besonders ungünstigen Sinn auszulegen, um sie dann nach § 307 BGB für unwirksam ansehen zu können,28 lässt sich mit Art. 8 II CISG kaum vereinbaren. Zu bedenken ist auch, dass das CISG in viel stärkerem Maße als das nationale Recht das Prinzip des „favor contractus“ enthält. Willenserklärungen sind daher möglichst so auszulegen, dass eine Gültigkeit des Vertrags angenommen werden kann. Auf der anderen Seite lässt das Kriterium der „vernünftigen Person“ immer auch Überlegungen zu, die dem Bereich von Treu und Glauben zuzuordnen sind. Insofern kann daher häufig eine Auslegung zulasten des Verwenders erfolgen – jedenfalls solange dadurch nicht die Wirksamkeit des Vertrags insgesamt beseitigt wird. Piltz, IHR 2004, 133. Verwandtschaft sieht allerdings Honnold, Uniform Law for International Sales under the 1980 United Nations Convention, 3. Aufl., S. 118 f.; allgemein zur Auslegung ausländischer Klauseln Schlosser, in: Staudinger, BGB, Neub. 2006, § 305 c Rn. 140. 28 Vgl. nur OLG Karlsruhe, NJW-RR 2000, 1538; Basedow, in: MünchKomBGB, 5. Aufl., § 305 c Rn. 35; Heinrichs, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 67. Aufl., § 305 c Rn. 20. 26 27
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Durch die wesentliche Frage der Auslegung wirkt das CISG ganz deutlich in die inhaltliche Behandlung von AGB durch die Gerichte hinein. d) Maßstab der Kontrolle Die eigentlich wesentliche Frage der AGB-Kontrolle betrifft aber den Kontrollmaßstab. Wo beginnt die zur Nichtigkeit (bzw. Anfechtbarkeit) führende Treuwidrigkeit einer Klausel? Das CISG enthält hierzu, wie aufgezeigt, bewusst keine Regeln, so dass im Ansatz nationales Recht herangezogen werden muss. Das ist enttäuschend, weil die unterschiedlichen Rechtsordnungen sehr unterschiedliche Haltungen einnehmen. In einigen Rechtsordnungen sind bestimmte, katalogisierte Klauseln schlechthin verboten. Andere Rechtsordnungen sehen für B2B-Verträge kaum eine Kontrolle vor. Und in wieder anderen Rechtsordnungen, insbesondere in Deutschland, werden alle Klauseln an einem abstrakten Treuemaßstab gemessen.29 Die Rechtsvereinheitlichung erhält einen wesentlichen Dämpfer. Inwieweit hier auf der Basis des geltenden Rechts eine weitere Vereinheitlichung erreicht werden kann, soll Gegenstand der nachfolgenden, abschließenden Überlegungen sein. e) Kontrollmaßstab als Vergleichsmaßstab Der Schlüssel zu einer systematischen Lösung liegt in der Erkenntnis, dass der Maßstab der Inhaltskontrolle immer ein Vergleichsmaßstab ist. Es wird geprüft, ob die Klausel in unbilliger Weise vom ansonsten geltenden Recht abweicht. Hieraus ergibt sich ohne weiteres, dass der Maßstab einer etwaigen Kontrolle für einen Vertrag, auf den das CISG anwendbar ist, nur das CISG sein kann.30 Das ist unwidersprochen. Dabei wird aber die Reichweite dieser Erkenntnis nicht immer abschließend gewürdigt: Wenn der Maßstab der Kontrolle das CISG ist, dann heißt dies nicht, dass ein bloßer Wortlautvergleich vorzunehmen ist. Vielmehr ist die jeweilige Norm des CISG in ihrem Gesamtcharakter und insbesondere in ihrer Disponibilität zu beachten. Dabei erscheint die Disponibilität der Regelungen im Ansatz größer, die Eigenverantwortung der Parteien also noch stärker als im nationalen Recht zu sein. Helfen mag auch der Hintergedanke, dass die Parteien anstelle des CISG ohne weiteres (und zwar in AGB) ein nationales Recht hätten wählen dürfen. Es fragt sich, ob AGB überhaupt treuwidrig sein können, soweit sie nur 29 Die UNIDROIT-Prinzipien sind bei der Kontrolle sehr zurückhaltend und sehen nur die Anfechtung wegen eines groben Missverhältnisses vor (Art. 3.10). 30 OGH, IHR 2001, 42 = CISG-online 642; Piltz, IHR 2004, 133; Magnus, in: Staudinger, Neub. 2005, Art. 4 CISG Rn. 26; Westermann, in: MünchKommBGB, 5. Aufl., Art. 4 CISG Rn. 6; Saenger, in: Beck‘scher Online-Kommentar, Bamberger / Roth (Hrsg.), 9. Edition, Art. 4 CISG Rn. 22.
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das wiedergeben, was ein von den Parteien in AGB wählbares nationales Recht ohnehin enthält. Ohne Berücksichtigung der Frage, ob das CISG einen eigenen, abstrakt ausgeprägten Maßstab von Treu und Glauben enthält,31 müssen jedenfalls bei der Inhaltskontrolle von AGB die Regelungen des CISG herangezogen werden und zwar unter vollständiger Ausklammerung des nationalen Rechts. Nationales Recht wird erst dort wieder relevant, wo die betroffene Klausel einen Gegenstand regelt, der im CISG nicht vorkommt – also z. B. den Umfang des Schadensersatzes bei Tötung einer Person. f) Bedürfnis für eine Inhaltskontrolle im internationalen Kaufvertrag Bei allem Vorstehenden bleibt allerdings doch das Innerste dem nationalen Recht überlassen. Ob und wann ein Bedürfnis für eine Inhaltskontrolle von AGB angenommen wird, ist eine gleichsam privatrechtskulturelle Frage, die tief im jeweiligen Rechtsdenken der Mitgliedstaaten verwurzelt ist. Damit handelt es sich genau um eine Art der Rechtsfrage, auf welche die Ausnahme in Art. 4 lit. a CISG gerichtet ist. Fragt man sich nun folgerichtig, ob es im internationalen Handelsverkehr unter Anwendung der deutschen Dogmatik einen Grund für die Kontrolle von AGB gibt, so stellt man fest, dass dieser wenigstens in gleichem Maße wie im nationalen Rechtsverkehr besteht. Argumentiert man klassisch, also über die einseitige übermäßige Ausnutzung der Vertragsfreiheit der (jedenfalls in Bezug auf die spezifischen AGB) überlegenen Vertragspartei, so ergeben sich zwischen nationalem und internationalem Rechtsverkehr keine Unterschiede. Auch wenn dies für die nationale Dogmatik gar nicht entscheidend ist, sei doch darauf hingewiesen, dass bei Verträgen zwischen zwei aus verschiedenen Staaten stammenden Unternehmern ein Machtgefälle besonders häufig denkbar ist. Die moderneren Ansätze einer AGB-Kontrolle argumentieren wirtschaftlich: Es wäre ineffizient, wenn die Parteien selbst bei jedem Vertrag die gesamten von der anderen Partei aufgestellten Vertragsbedingungen durcharbeiten und unerwünschte Inhalte streichen bzw. verhandeln müssten.32 Im internationalen Handelsverkehr gilt dies angesichts der noch komplizierteren Materie nur umso mehr. g) Spezielle AGB: Incoterms etc. Werden international anerkannte Standardklauseln verwendet, nimmt das Bedürfnis nach einer Inhaltskontrolle allerdings ab. Zudem drängt sich dann auch wieder der international geprägte Maßstab von Treu und Glauben in den Vordergrund: Wenn Incoterms oder andere Klauseln im internationalen Handel – oder in 31 32
Schlechtriem, Internationales UN-Kaufrecht, Rn. 44. Knapp Basedow, in: MünchKommBGB, 5. Aufl., Vorbemerkung § 305 Rn. 5 mwN.
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bestimmten Branchen – ganz allgemein verwendet werden, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass diese Treu und Glauben entsprechen. III. Zusammenfassung und Ergebnis Die Kontrolle von AGB in Verträgen, die dem CISG unterfallen, sollte bewusster am CISG orientiert werden. Zwar richten sich der Grund und das Instrumentarium der Kontrolle ausschließlich nach nationalem Recht. Bei der Inhaltskontrolle spielen aber das – als Ausgangspunkt dienende – nationale Recht und das CISG zusammen. Das bedeutet, dass auf einen Teil der Kontrolle verzichtet werden muss. Die Orientierung an den §§ 308 ff. BGB, die für Unternehmensgeschäfte bei Inlandsfällen anerkannt und sicherlich auch oft sinnvoll ist, muss ganz aufgegeben werden. Es bleibt allein bei dem Maßstab von Treu und Glauben nach § 307 BGB. Im Ergebnis macht es dabei einen großen Unterschied, dass als Maßstab für die unredliche Abweichung vom dispositiven Recht das CISG und nicht das BGB herangezogen werden muss. Diese reduzierte und verallgemeinerte Kontrolle reicht aus, um den Missbrauch von AGB zu verhindern. Jede darüber hinausgehende inhaltliche Überprüfung ist mit dem CISG nicht vereinbar.
Ausländische Parteien im Bankprozess Von Lutz Haertlein
I. Einleitung In der Bundesrepublik leben über sieben Millionen Ausländer, von denen eine Vielzahl eine Bankverbindung in Inland unterhält. Ferner werden kreditwirtschaftliche Leistungen in weitem Umfang grenzüberschreitend angeboten und erbracht. Bankrechtliche Zivilprozesse mit ausländischen Parteien sind daher häufig und bringen spezifische Rechtsfragen hervor. Beispiele aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung bilden etwa die Kreditrückzahlungsklage einer schweizerischen Bank gegen einen deutschen Kreditnehmer,1 die Klage einer auf der Karibikinsel Anguilla gegründete Gesellschaft mit Verwaltungssitz auf den Philippinen gegen eine deutsche Hypothekenbank aus einem Forderungskaufvertrag für ein hypothekengesichertes Darlehen,2 die Klage eines deutschen Anlegers gegen eine auf den British Virgin Islands registrierte Investmentgesellschaft,3 die Klage einer luxemburgischen Bank gegen einen inländischen Anleger4 sowie Bürgschaftsklagen deutscher Sparkassen gegen schweizerische5 und iranische6 Staatsbürger. Im deutschen Zivilprozessrecht herrscht der Grundsatz der Inländergleichbehandlung7 ausländischer Verfahrensbeteiligter, d. h. die Garantie freien und ungehinderten Zugangs zu den Gerichten8 und Gleichheit vor den Gerichten9 (Art. 3 I, 101 I 2, 103 I GG, vgl. ferner Art. 6 I EMRK, Art. 7 EuNiederlAbk, Art. 14 ICCPR). Prozessuale Inländergleichbehandlung hängt in Deutschland nicht von BGHZ 165, 248 = WM 2006, 373 = NJW 2006, 762 = ZIP 2006, 1016 = JZ 2006, 673. BGH ZIP 2004, 2007 = WM 2004, 2066 = NJW-RR 2005, 206. 3 BGH WM 2004, 2150 = ZIP 2004, 2095 = DB 2004, 2418 = BB 2004, 2432 = NJW 2004, 3706. 4 BGHZ 154, 276 = ZIP 2003, 838 = WM 2003, 973 = BB 2003, 1033 = DB 2003, 1271 = NJW-RR 2003, 921. 5 BGH WM 2001, 768 = NJW 2001, 1731 = BB 2001, 959. 6 BGH WM 1997, 1045 = ZIP 1997, 1058 = BB 1997, 1273 = NJW 1997, 3230. 7 Linke, Internationales Zivilprozessrecht, 4. Aufl. 2006, Rn. 244; Nagel / Gottwald, Internationales Zivilprozessrecht, 6. Aufl. 2007, § 4, Rn. 5. 8 Linke (Fn. 7), Rn. 244; Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, 4. Aufl. 2006, Rn. 527. 9 Linke (Fn. 7), Rn. 244. 1 2
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der Verbürgung der Gegenseitigkeit ab,10 anders als z. B. in Frankreich (Art. 1 CC). Trotz Inländergleichbehandlung bestehen rechtliche Unterscheidungen anhand der Ausländereigenschaft, die sich teils aus gesetzlichen Sonderregeln, dem prozessualen Fremdenrecht,11 teils aus faktischen Besonderheiten ergeben. Rechtliche Differenzierungen sind verfassungsrechtlich zulässig, wenn sie sachlich geboten sind.12 Auch die allgemeinen Regeln des Völkerrechts, die gem. Art. 25 GG Bestandteil des Bundesrechts sind, gebieten es nur, Fremden angemessenen, nicht aber schlechthin gleichen Rechtsschutz zu gewähren.13 Im Folgenden werden drei Aspekte der Verfahrensbeteiligung ausländischer Parteien und von Parteien aus dem Ausland behandelt, die bei bankrechtlichen Prozessen Bedeutung erlangen können: Die Kriterien, nach denen eine Person oder ein Personenverband als einheimisch oder ausländisch gilt (II.), faktische Hindernisse für den Zugang zu Gericht, die vor allem Ausländer betreffen (III.), sowie Besonderheiten bei Prozessvoraussetzungen und -hindernissen (IV.). II. Einheimische und ausländische Beteiligte Zur Bestimmung, wer einheimisch und wer ausländisch ist, muss differenziert werden zwischen natürlichen Personen (1.) und Personenverbänden (2.). 1. Natürliche Personen Bei natürlichen Personen gilt das Staatsangehörigkeitsprinzip. Ausländer ist danach, wer eine fremde und nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt.14 Doppel- und Mehrstaater mit deutscher Staatsangehörigkeit gelten als Deutsche (vgl. Art. 5 I 2 EGBGB). Staatenlose mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt in Deutschland stehen im Hinblick auf den Zugang zu den Gerichten Inländern gleich, ebenso Flüchtlinge und Asylberechtigte (Art. 12, 16 Staatenlosenübereinkommen, Art. 12, 16 Genfer Flüchtlingskonvention, § 2 AsylVerfG). 2. Personenverbände Bei Personenverbänden fehlt der Anknüpfungspunkt der Staatsangehörigkeit. Die Frage, welchem Staat und welcher Rechtsordnung ein Verband zuzuordnen ist, stellt sich im Prozessrecht vornehmlich für die Beurteilung der Parteifähigkeit. Da10 11 12 13 14
Nagel / Gottwald (Fn. 7), § 4, Rn. 9; Schack (Fn. 8), Rn. 527. Linke (Fn. 7), Rn. 244; Schack (Fn. 8), Rn. 528. Nagel / Gottwald (Fn. 7), § 4, Rn. 5 f. BVerfGE 60, 253, 303 f. = NJW 1982, 2425, 2430. Nagel / Gottwald (Fn. 7), § 4, Rn. 3.
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bei kann – in etwa parallel zu Staatsangehörigkeit und Aufenthalt einer natürlichen Person – entweder an das Recht des Staates angeknüpft werden, nach dem der Verband konstituiert wurde (Gründungstheorie), oder darauf abgestellt werden, wo sich der tatsächliche Verwaltungssitz befindet, an dem die grundlegenden Unternehmensentscheidungen effektiv in laufende Geschäftsführungsakte umgesetzt werden15 (Sitztheorie). Die deutsche Rechtsprechung16 wandte in der Vergangenheit umfassend die Sitztheorie an. Hingegen entwickelte der EuGH in den Urteilen Centros17, Überseering18 und Inspire Art19 eine europarechtliche Gründungstheorie, die er auf die Niederlassungs-, Dienstleistung-, Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit des Vertrags über die europäische Gemeinschaft (Art. 43, 48, 52, 58 EGV) stützt.20 Danach ist jede Gesellschaft, die in einem EU-Staat wirksam gegründet wurde, in anderen EU-Staaten hinsichtlich ihrer Rechts- und Parteifähigkeit nach dem Recht des Gründungsstaates zu beurteilen, unabhängig davon, ob sie im Gründungsstaat Geschäftstätigkeit entfaltet oder überhaupt je entfaltet hat.21 In diesem Rahmen wendet der BGH nunmehr ebenfalls die Gründungstheorie an.22 Da ferner im Vertrag über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) die Grundfreiheiten des EGV übernommen wurden, sind auch Verbände aus Vertragsstaaten des EWR-Abkommens nach der Gründungstheorie zu beurteilen, z. B. eine nach dem Recht des Fürstentums Liechtenstein gegründete Aktiengesellschaft in einem Urteil des BGH aus dem Jahr 2005.23 Die europarechtliche Gründungstheorie hat inzwischen auch Niederschlag gefunden in einem Referentenentwurf für ein „Gesetz zum internationalen Privatrecht der Gesellschaften, Vereine und juristischen Personen des Privatrechts“ vom 07. 01. 2008.24 Schließlich gilt – auf Basis des Deutsch-Amerikanischen Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrages – die Gründungstheorie für Gesellschaften USamerikanischen Rechts, wenn sie ein Mindestmaß an Geschäftstätigkeit in den Vereinigten Staaten entfalten, z. B. dort eine Bankverbindung unterhalten.25 Vgl. BGHZ 97, 269, 272; OLG Hamburg ZIP 2007, 1108, 1110. BGHZ 97, 269, 271; BGHZ 78, 318, 334; BGHZ 53, 181, 183; BGHZ 51, 27, 28. 17 EuGH NJW 1999, 2027 = ZIP 1999, 438 m. Anm. Neye, EWiR 1999, 259 (Art. 52 EGV 1 / 99). Dazu Kindler, NJW 1999, 1993; Roth, ZIP 1999, 861; Werlauff, ZIP 1999, 867. 18 EuGH NJW 2002, 3614 = ZIP 2000, 967 m. Anm. Neye, EWiR 2002, 1003 (Art. 43 EG 1 / 02). Dazu der Vorlagebeschluss BGH ZIP 2000, 967 m. Anm. Roth, EWiR 2000, 793 (§ 50 ZPO 1 / 00). 19 EuGH NJW 2003, 3331 = ZIP 2003, 1885 m. Anm. Drygala, EWiR 2003, 1029 (Art. 43 EG 4 / 03). Dazu Altmeppen, NJW 2004, 97. 20 Überblick und Zusammenfassung bei Nagel / Gottwald (Fn. 7), § 4, Rn. 19. 21 Ähnlich Nagel / Gottwald (Fn. 7), § 4, Rn. 19. 22 s. BGH ZIP 2005, 805 m. Anm. Bruns, EWiR 2005, 431 (§ 11 GmbHG 1 / 05); BGHZ 154, 185. 23 BGHZ 164, 148 = MDR 2006, 105 m. Anm. Haack, MDR 2006, 106. 24 s. dazu Kussmaul / Richter / Ruiner, DB 2008, 451; Schneider, BB 2008, 566. 15 16
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Für die Sitztheorie ist folglich nur noch Raum im Verhältnis zu anderen Drittstaaten.26 Eine nach dem Recht eines Drittstaates gegründete Gesellschaft gilt danach als Auslandsgesellschaft, wenn sich ihr Verwaltungssitz im Ausland befindet. Liegt die Hauptverwaltung in Deutschland, ist die Gesellschaft eine Scheinauslandsgesellschaft und als deutsche Gesellschaft zu behandeln, i.d.R. als OHG oder als Gesellschaft bürgerlichen Rechts.27 III. Freier und ungehinderter Zugang zu Gericht Das Recht Fremder auf freien und ungehinderten Zugang zu Gericht umfasst die Möglichkeiten, Klage zu erheben und sich als Beklagter wirkungsvoll zu verteidigen.28 1. Teilnahme am Termin Ferner ist im buchstäblichen Sinne vom Zugang zu Gericht die Rede, wenn es darum geht, ob einer ausländischen Partei die Einreise nach Deutschland gewährt werden muss, damit sie persönlich an der mündlichen Verhandlung teilnehmen kann. Von Völkerrechts wegen ist es hinreichend, wenn eine Partei sich im Termin von einem frei gewählten Prozessbevollmächtigten vertreten lassen kann.29 Dies ist im deutschen Prozessrecht sichergestellt, ebenso das Recht, sich umfassend schriftlich im Verfahren zu äußern. Indes wird im Schrifttum vertreten, es zähle zum Grundrecht auf rechtliches Gehör (Art. 103 I GG), dass eine Partei zum Termin nach Deutschland einreisen kann.30 – Die Sache scheint damit aber nicht zu Ende gedacht. Wenn das rechtliche Gehör es umfasst, persönlich am Termin teilzunehmen31 und dazu erforderlichenfalls einreisen zu können, dann stellt sich das Problem, wie die Ausreise sichergestellt werden soll. Es besteht Missbrauchsgefahr, wenn ein Prozesstermin einen Anspruch auf ein Einreisevisum gibt. Wer seinen Aufenthalt in Deutschland nehmen will, aber nach dem Ausländerrecht keinen Aufenthaltstitel zu erlangen vermag, kann sich durch Erhebung einer Zivilklage eine Ladung verschaffen und nach der Einreise abtauchen. Sofern aus dem rechtlichen Gehör ein Anspruch auf persönliche Terminsteilnahme abzuleiten ist, kollidiert also das Grundrecht mit ausländerrechtlichen Belangen. Das rechtliche 25 BGHZ 153, 353; BGH ZIP 2004, 2230. s. ferner OLG Hamburg ZIP 2007, 1108, 1109; OLG Düsseldorf NJW-RR 1995, 1124; Berndt, JZ 1996, 187. 26 Ebke, JZ 2003, 927; Horn, NJW 2004, 893; Nagel / Gottwald (Fn. 7), § 4, Rn. 20. 27 BGHZ 151, 204; OLG Hamburg ZIP 2007, 1108, 1113; Nagel / Gottwald (Fn. 7), § 4, Rn. 21. A.A. noch BGH ZIP 2000, 967 m. Anm. Roth, EWiR 2000, 793 (§ 50 ZPO 1 / 00). 28 Nagel / Gottwald (Fn. 7), § 4, Rn. 9. 29 Nagel / Gottwald (Fn. 7), § 4, Rn. 10. 30 Nagel, ZZP 75 (1962), 408, 426; Nagel / Gottwald (Fn. 7), § 4, Rn. 10. 31 Dagegen Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 103, Rn. 84 m. w. N.
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Gehör kann aus sachlichen Gründen mit Verfassungsrang eingeschränkt werden.32 Die Vermeidung von Einreisemissbrauch, die den Schutz der Grenzen betrifft, ist ein solcher Grund. Die Verfassung gewährt demnach auch dann kein Recht auf Einreise zum Termin, wenn diese begrifflich vom rechtlichen Gehör umfasst sein sollte. Ein anderes Zugangshemmnis ist drohende Strafverfolgung. Kann oder muss eine Zivilverfahrenspartei, die sich im sicheren Ausland aufhält, von Verfolgungsmaßnahmen verschont werden, damit sie am Termin teilnehmen kann? Der BGH33 hat dazu entschieden, dass der Partei eines Zivilprozesses analog § 295 StPO freies Geleit gewährt werden kann, und zwar nach Ermessen des mit dem Zivilprozess befassten Gerichts. – Die Analogie ist zweifelhaft. § 295 StPO dient vornehmlich dem öffentlichen Interesse an der Durchführung eines Strafverfahrens, in dem gegen einen abwesenden Angeklagten grundsätzlich nicht verhandelt werden kann (§§ 230 ff. StPO).34 Eine Regelung, mit der die Anwesenheit des Angeklagten sichergestellt wird, vermeidet den Prozessstillstand. Demgegenüber kann ein Zivilprozess auch dann fortgesetzt und durch eine Entscheidung in der Sache zu Ende gebracht werden, wenn eine Partei im Termin ausbleibt. Im Zivilprozess, in dem unter weitgehender Parteiherrschaft über verzichtbare private Rechte gestritten wird, können die Parteien zugestehen (§§ 288 ff. ZPO), verzichten (§ 306 ZPO) oder anerkennen (§ 307 ZPO), und es steht ihnen eben auch frei, säumig zu bleiben (§§ 330 ff. ZPO) oder sich im Termin vertreten zu lassen. Hingegen sollen im Strafverfahren materiellrechtliche Fehlurteile vermieden werden, und es soll nicht über den Kopf des Angeklagten hinweg verhandelt werden. Im Strafverfahrensrecht bestehen damit andere und stärkere Gründe für ein freies Geleit als im Zivilprozess. Eine Zivilverfahrenspartei, die sich ins Ausland in Sicherheit gebracht hat, muss selbst entscheiden, ob sie ihre Rechte durch persönliches Erscheinen im Termin wahrnimmt und dabei strafprozessuale Maßnahmen in Kauf nimmt, oder ob sie ausbleibt.35 Zumutbar ist diese Entscheidung zumal, weil die Partei sich schriftlich und im Termin durch Bevollmächtigte Gehör zu verschaffen vermag. Ferner kann der Partei ggf. ermöglicht werden, an der Verhandlung per VideoLive-Schaltung teilzunehmen 36 (§ 128a ZPO).
BVerfGE 101, 106, 129. BGH NJW 1991, 2500. Zustimmend Gollwitzer, in: Löwe / Rosenberg, StPO, 25. Aufl. 2001, § 295, Rn. 24; Nagel / Gottwald (Fn. 7), § 4, Rn. 11. A.A. Meyer-Goßner, StPO, 49. Aufl. 2006, § 295, Rn. 1. 34 Gollwitzer (Fn. 33), § 295, Rn. 1. 35 Eine Ausnahme ist zu machen, wenn, wie in den für Bankprozesse nicht einschlägigen Familienverfahren, die Parteiherrschaft im öffentlichen Interesse an der Richtigkeit der Entscheidung eingeschränkt (Becker-Eberhard, in: Wieczorek / Schütze, ZPO, 3. Aufl., 1998, § 616, Rn. 1) ist. 36 Vgl. Nagel / Gottwald (Fn. 7), § 4, Rn. 11 unter Hinweis auf House of Lords (Polanski v Condé Nast Publ. Ltd.) RIW 2006, 301. 32 33
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2. Sprachliche Verständigung § 184 S. 1 GVG bestimmt: Die Gerichtssprache ist deutsch. Dies gilt für Verhandlungen, Entscheidungen und den gesamten Schriftverkehr.37 Fremdsprachliche Schriftsätze, die nicht mit einer deutschen Übersetzung versehen sind,38 muss das Gericht nach herrschender Meinung inhaltlich nicht zur Kenntnis nehmen, und sie wahren keine Fristen.39 Im Schrifttum wird demgegenüber vertreten, dass das Gericht wenigstens ausnahmsweise von Amts wegen eine Übersetzung veranlassen muss.40 Dies ist zweifelhaft. Denn § 185 I 1 GVG, der bestimmt, dass das Gericht einen Dolmetscher zuzuziehen hat, gilt ausdrücklich nur für die mündliche Verhandlung. Schriftsätze in fremder Sprache sind aber nicht gänzlich unbeachtlich,41 sondern verpflichten das Gericht, den Absender dazu anzuhalten, eine Übersetzung beizubringen.42 Zweckmäßig ist es dabei natürlich, wenn der Absender in der Sprache benachrichtigt wird, die er beherrscht. § 184 S. 1 GVG hindert das Gericht nicht daran, ergänzend einen fremdsprachlichen Hinweis zu geben. Solche Fürsorglichkeit begründet auch nicht die Besorgnis der Befangenheit. Allerdings hat der BGH43 entschieden, dass jedenfalls ein Urteil nicht in die Sprache des Empfängers übersetzt werden muss und die ausländische Partei sich unverzüglich selbst über die Möglichkeiten der Anfechtung und einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erkundigen hat. Demnach wird es auch ausreichen, wenn der Absender eines fremdsprachlichen Schriftsatzes nur auf deutsch von der Erforderlichkeit einer Übersetzung benachrichtigt wird. In der Folge solch fortgesetzter Kommunikationsstörung werden freilich häufig wegen mangelnder Sprachkenntnis Fristen versäumt werden. Dann aber ist bei der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand großzügig zu verfahren.44 Legt eine Partei fremdsprachliche Urkunden als Beweismittel vor, dann kann das Gericht verlangen, dass eine Übersetzung beigebracht wird (§ 143 III ZPO), widrigenfalls die Urkunde unbeachtet45 bleibt. Ermessensleitend ist dabei, dass es dem Beweisgegner nicht zuzumuten ist, selbst für eine Übersetzung zu sorgen. Auf eine Übersetzung kann daher nur verzichtet werden, wenn das Gericht ihrer nicht bedarf und die Gegenpartei einverstanden ist.46 BGH NJW 1982, 532; Linke (Fn. 7), Rn. 263. Bsp. OLG Hamm NJW 1989, 2203. 39 BGH NJW 1982, 532; Kissel, GVG, 5. Aufl. 2008, § 184, Rn. 5. 40 Linke (Fn. 7), Rn. 261, 265; Nagel / Gottwald (Fn. 7), § 4, Rn. 131, 133; Schack (Fn. 8), Rn. 576. 41 So aber KG MDR 1986, 156. 42 OLG Frankfurt NJW 1980, 1173. 43 BGH FamRZ 1996, 347 = NJW-RR 1996, 387 m. abl. Anm. Bachmann, FamRZ 1996, 1276. 44 BGH NJW 1982, 532. 45 Nagel / Gottwald (Fn. 7), § 4, Rn. 137. 46 A.A. Schack (Fn. 8), Rn. 577. 37 38
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Die mündliche Verhandlung muss auf deutsch durchgeführt werden. Wenn ein Verfahrensbeteiligter der deutschen Sprache nicht mächtig ist, ist im Termin ein Dolmetscher zuzuziehen (§ 185 I 1 GVG). Dies kann unterbleiben, wenn die beteiligten Personen sämtlich der Fremdsprache mächtig sind (§ 185 II GVG). Das Gericht kann dann mit der Partei, die der deutschen Sprache nicht mächtig ist, in der Fremdsprache verhandeln.47 Jedoch muss die Gegenpartei nicht in der Fremdsprache verhandeln, und sie kann verlangen, dass das Gericht mit ihr deutsch spricht; insoweit muss dann das Gericht ggf. für die Partei, die der deutschen Sprache nicht mächtig ist, als Dolmetscher fungieren. Die Öffentlichkeit (§§ 169 ff. GVG) kann von einer Verhandlung in fremder Sprache faktisch ausgeschlossen sein. Auf einen Dolmetscher sollte daher nur bei Einverständnis aller Anwesenden, auch der Öffentlichkeit, verzichtet werden, zumal praktisch nicht nachprüfbar ist, ob alle Beteiligten und die gesamte Öffentlichkeit, die Fremdsprache beherrschen. IV. Prozessvoraussetzungen und -hindernisse 1. Parteifähigkeit Parteifähig ist, wer Aktiv- oder Passivsubjekt eines Prozesses (Kläger oder Beklagter, Antragsteller oder -gegner, Streithelfer oder Streitverkündungsempfänger, Vollstreckungsgläubiger oder -schuldner) sein kann.48 Das deutsche Verfahrensrecht knüpft die Parteifähigkeit an die Rechtsfähigkeit an (§ 50 I ZPO) und erkennt sie im Übrigen bestimmten Verbänden ohne Rechtspersönlichkeit zu (§ 50 II ZPO, §§ 124, 161 II, 493 III HGB, § 7 II PartGG). Die Parteifähigkeit von Verbänden bestimmt sich, wie erinnerlich (sub II. 2.), zumeist nach der Gründungs- und bisweilen nach der Sitztheorie. Die Rechtsfähigkeit natürlicher Personen unterliegt dem Recht des Staates, dem die Person angehört (Art. 7 I 1 EGBGB), und bei Staatenlosen dem Recht des Staates des (gewöhnlichen) Aufenthalts (Art. 5 II EGBGB). Umstritten sind Fälle, in denen das ausländische Recht einem Verband die Rechtsfähigkeit verwehrt, ihm aber die Parteifähigkeit zuerkennt.49 Ist in dann für die Parteifähigkeit vor deutschen Gerichten nach den Worten von § 50 I ZPO auf die (fehlende) Rechtsfähigkeit abzustellen, oder reicht Parteifähigkeit nach Heimatrecht aus? Für Letzteres spricht bereits, dass das Urteil im Heimatstaat der fremden Partei leichter Anerkennung finden und vollstreckbar sein wird, wenn es die (dort) richtige Partei bezeichnet.50 Schack (Fn. 8), Rn. 578. Weitergehend Nagel / Gottwald (Fn. 7), § 4, Rn. 139. Nagel / Gottwald (Fn. 7), § 4, Rn. 12; Vollkommer, in: Zöller, ZPO, 26. Aufl. 2007, § 50, Rn. 1. 49 Nachw. zum Meinungsstand bei Schack (Fn. 8), Rn. 530. 50 Schack (Fn. 8), Rn. 530. I.E. ebenso Nagel / Gottwald (Fn. 7), § 4, Rn. 14, 17, 25. S. auch BGHZ 154, 185, 190. 47 48
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Ein Verband, der im Gründungsstaat behördlich aufgelöst oder im Register gelöscht ist und nach Heimatrecht deshalb die Rechtsfähigkeit verloren hat – Beispiele aus der Rechtsprechung bilden etwa eine Corporation liberianischen Rechts,51 eine Aktiengesellschaft schweizerischen Rechts52 sowie eine englische Limited53 –, besteht in Deutschland als Restgesellschaft fort und ist damit aktiv und passiv parteifähig, solange er Inlandsvermögen besitzt. Dieses auf eine sinngemäße Anwendung deutscher gesellschaftsrechtlicher Grundsätze gestützte Ergebnis soll Herrenlosigkeit des Vermögens vermeiden und Gläubigerschutz bewirken.54 Ferner soll aus Gründen des Gläubigerschutzes ein Verband, der im inländischen Rechtsverkehr wie eine juristische Person auftritt, in Deutschland wenigstens Passivpartei sein können, auch wenn ihm nach Heimatrecht die Parteifähigkeit fehlt.55 Zweigniederlassungen ausländischer Unternehmen im Inland besitzen keine Rechtsfähigkeit. Aus Rechtsgeschäften, die mit einer solchen Zweigniederlassung geschlossen wurden, kann das Unternehmen aber unter der Firma der Zweigniederlassung klagen und am besonderen Gerichtsstand der Niederlassung (§ 21 ZPO) verklagt werden.56 Eine Besonderheit gilt nach § 53 KWG, wenn ein Unternehmen mit Sitz außerhalb des EWR (§ 53b I 3 KWG) eine Zweigstelle im Inland unterhält, die Bankgeschäfte betreibt oder Finanzdienstleistungen erbringt; eine solche Zweigstelle gilt selbst als Kredit- oder Finanzdienstleistungsinstitut (§ 53 I KWG). Für Klagen mit Bezug auf den Geschäftsbetrieb der Zweigstelle darf der Gerichtsstand der Niederlassung (§ 21 ZPO) nicht vertraglich ausgeschlossen werden (§ 53 III KWG). 2. Prozessfähigkeit Die Prozessfähigkeit ist die prozessuale Handlungsfähigkeit.57 Sie richtet sich gem. §§ 51 I, 52 ZPO danach, ob die Partei unbeschränkt geschäftsfähig ist. Die Geschäftsfähigkeit unterliegt dem Recht des Staates, dem eine Person angehört (Art. 7 I 1 EGBGB), bzw. bei Staatenlosen des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts (Art. 5 II EGBGB). Ein Ausländer, der nach Heimatrecht nicht prozessfähig ist, gilt gem. § 55 ZPO dennoch vor deutschen Gerichten als prozessfähig, wenn er nach deutschem Recht prozessfähig ist, z. B. bei Angehörigen von Staaten, in denen unbeschränkte Ge51 52 53 54 55 56 57
OLG Stuttgart NJW 1974, 1627. BGHZ 51, 27. OLG Jena DNotZ 2008, 298. OLG Stuttgart NJW 1974, 1627, 1628 m. zust. Anm. Cohn, NJW 1975, 499. BGH NJW 1960, 1204; Schack (Fn. 8), Rn. 531. Nagel / Gottwald (Fn. 7), § 4, Rn. 22. Vollkommer (Fn. 48), § 52, Rn. 1 f.
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schäftsfähigkeit noch nicht mit Ablauf des 18. Lebensjahres eintritt. In solchen Fällen ist freilich damit zu rechnen, dass das Urteil im Ausland nicht anerkannt wird, weil der dortige Minderjährigenschutz nicht eingehalten ist.58 § 55 ZPO stellt im Übrigen nicht auf die Geschäfts-, sondern (abweichend von § 52 ZPO) unmittelbar auf die Prozessfähigkeit eines Ausländers ab. Daraus ist abzuleiten, dass ein nach Heimatrecht prozessfähiger Ausländer auch vor deutschen Gerichten prozessfähig ist, selbst wenn ihm nach Heimatrecht die volle Geschäftsfähigkeit und nach deutschem Recht die Prozessfähigkeit fehlt.59 Zu beachten ist schließlich, dass eine Person, die unter Betreuung oder Pflegschaft steht, für einen Rechtsstreit im Aufgabenkreis des Betreuers oder Pflegers einem Prozessunfähigen gleichsteht (§ 53 ZPO). Personalstatut der Betreuung oder Pflegschaft ist grundsätzlich das Recht des Staates, der die Person angehört; bei Personen mit (gewöhnlichem) Aufenthalt im Inland kann ein Betreuer auch nach deutschem Recht bestellt werden (Art. 24 EGBGB). Im Ausland Entmündigte sind prozessunfähig, wenn die Entmündigung anerkannt (s. § 16a FGG) ist. Die gesetzliche Vertretung Prozessunfähiger richtet sich bei natürlichen Personen nach dem Recht, das für die elterliche Sorge, Betreuung oder Vormundschaft anzuwenden ist (Art. 21, 24 EGBGB).60 Die organschaftliche Vertretung von Verbänden bestimmt sich nach dem Personalstatut, das die jeweils maßgebliche Sitzoder Gründungstheorie (sub II. 2.) festlegt.61 3. Postulationsfähigkeit Postulationsfähig ist, wer selbst wirksam Prozesshandlungen vorzunehmen vermag. Die Postulationsfähigkeit ist als Prozesshandlungsvoraussetzung nach der lex fori und damit in Prozessen vor deutschen Gerichten nach § 78 ZPO zu beurteilen. Danach muss auch eine ausländische Partei vor den Land- und Oberlandesgerichten sowie dem BGH grundsätzlich durch einen Rechtsanwalt vertreten sein.62 Die Bevollmächtigung des anwaltlichen Vertreters richtet sich als Prozesshandlung nach der lex fori und damit nach den §§ 80 ff. ZPO.63 Zulassung und Postulationsfähigkeit ausländischer Rechtsanwälte regelt das Gesetz über die Tätigkeit europäischer Rechtsanwälte in Deutschland (EuRAG). Danach dürfen Angehörige rechtsberatender Berufe aus EU- und EWR-Staaten 58 Hausmann, in: Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2007, Art. 7 EGBGB, Rn. 98; Lindacher, in: MüKo-ZPO, 3. Aufl. 2008, § 55, Rn. 3; Nagel / Gottwald (Fn. 7), § 4, Rn. 39. 59 Hausmann (Fn. 58), Art. 7 EGBGB, Rn. 97; Schack (Fn. 8), Rn. 535. 60 Lindacher (Fn. 58), § 55, Rn. 5; Schack (Fn. 8), Rn. 538; Nagel / Gottwald (Fn. 7), § 4, Rn. 34. 61 Lindacher (Fn. 58), § 55, Rn. 6. 62 Nagel / Gottwald (Fn. 7), § 4, Rn. 40. 63 Schack (Fn. 8), Rn. 547; Nagel / Gottwald (Fn. 7), § 4, Rn. 41.
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(§ 1 EuRAG) sich in Deutschland niederlassen und unter der Bezeichnung des Herkunftsstaates als Rechtsanwalt tätig sein, wenn sie in die zuständige Rechtsanwaltskammer aufgenommen wurden (§§ 2 I, 5 EuRAG). Ein solcher in Deutschland niedergelassener europäischer Rechtsanwalt (§ 2 I EuRAG) kann die Tätigkeit eines Rechtsanwalts nach §§ 1 – 3 BRAO ausüben (§ 2 I 2 EuRAG) und in allen Rechtsangelegenheiten beraten und vertreten.64 Er wird nach Maßgabe der §§ 6 – 42 BRAO zur deutschen Rechtsanwaltschaft zugelassen (§ 4 BRAO) und kann in Deutschland als Rechtsanwalt ohne Bezeichnungszusatz auftreten, wenn er eine mindestens dreijährige effektive und regelmäßige Tätigkeit in Deutschland auf dem Gebiet des deutschen und des Gemeinschaftsrechts nachweist (§§ 11 f. EuRAG) oder erfolgreich eine Eignungsprüfung ablegt (§§ 16 ff. EuRAG). Angehörige rechtsberatender Berufe aus EU- und EWR-Staaten ohne Niederlassung in Deutschland, die nur vorübergehend Dienstleistungen erbringen wollen, dürfen in gerichtlichen Verfahren mit Anwaltszwang als Vertreter nur im Einvernehmen mit einem postulationsfähigen Rechtsanwalt handeln (§ 28 EuRAG). Für Rechtsanwaltsgesellschaften in der Rechtsform eines EU-Mitgliedsstaats gelten die §§ 59c-m BRAO entsprechend.65 Sie können folglich als Prozessbevollmächtigte beauftragt werden und haben dabei die Rechte eines Rechtsanwalts (§ 59l S. 1, 2 BRAO). Diese üben sie durch Organe und Vertreter aus, die jeweils die vorgeschriebenen Voraussetzungen persönlich mitbringen müssen (§ 59l S. 3 BRAO). Für Anwälte aus anderen Staaten eröffnet § 206 BRAO nur die Möglichkeit, sich zur Rechtsbesorgung auf den Gebieten des Herkunftsstaates und des Völkerrechts in Deutschland niederzulassen. 4. Prozessführungsbefugnis Besonderheiten des Fremdenrechts gelten auch bei der (aktiven) Prozessführungsbefugnis. Diese betrifft die Frage, ob eine Rechtsposition einer Person derart zugeordnet ist, dass ihr die gerichtliche Geltendmachung des Rechts im eigenen Namen anheim steht. Grundsätzlich ist prozessführungsbefugt, wer behauptet, Inhaber des eingeklagten Rechts zu sein. Wer ein fremdes Recht einklagt, ist nur ausnahmsweise als Partei kraft Amtes oder Prozessstandschafter prozessführungsbefugt. Kein Fall der Prozessstandschaft ist es, wenn ein ausländischer Verband, der zu den qualifizierten Einrichtungen i. S. v. § 4 UKlaG zählt, aus eigenem Recht eine Verbandsklage nach dem UKlaG im erhebt. Wenn die Prozessführungsbefugnis einer ausländischen Partei nach Heimatrecht auf eine Partei kraft Amtes übergegangen ist, z. B. auf einen Insolvenz- oder Nachlassverwalter oder einen Testamentsvollstrecker, ist dies im inländischen Prozess zu beachten, soweit der Übergang sich nach Heimatrecht auf die Prozessführung in
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Lach, NJW 2000, 1609, 1610. Grunewald / Müller, NJW 2005, 465.
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Deutschland erstreckt und hierzulande anerkannt wird (wie z. B. nicht für einen ausländischen trustee).66 Bei gesetzlicher Prozessstandschaft ist zu unterscheiden, ob sie im materiellen Recht wurzelt und daher nach der lex causae oder dem Forderungsstatut zu beurteilen ist, oder im Prozessrecht und folglich der lex fori unterworfen ist. Demnach ist die in § 265 II ZPO vorgesehene Prozessstandschaft des Veräußerers oder Zedenten für den Rechtsnachfolger vor deutschen Gerichten stets beachtlich. 67 Hingegen beurteilen sich Prozessführungsbefugnisse, die aus materiellrechtlicher Berechtigung mehrerer am Streitgegenstand resultieren (z. B. nach §§ 432 I, 1011, 2039 BGB), nach der für den materiellrechtlichen Streitstoff maßgeblichen Rechtsordnung.68 Nicht ganz eindeutig ist die action oblique des französischen Rechts69 (Art. 1166 CC) einzuordnen. Die action oblique ermöglicht es einem Gläubiger, dessen Anspruchsdurchsetzung gefährdet ist, im eigenen Namen Ansprüche seines Schuldners gegen Drittschuldner einzuklagen, und zwar ohne Titel, Pfändung und Überweisung. Dies beruht auf der Vorstellung eines (nicht dinglich wirkenden) materiellrechtlichen Generalpfandes des Gläubigers am Schuldnervermögen, stellt aber auch eine Vorstufe der Zwangsvollstreckung dar und entfaltet Wirkungen, die dem Vollstreckungsrecht zuzuordnen sind. Ob die Geltendmachung eines Anspruchs mit der action oblique hierzulande (der materiellrechtlichen Anknüpfung folgend) nach der lex causae oder (der prozessualen Wirkung entsprechend) nach der lex fori zu beurteilen ist, ist umstritten. Ausschlaggebend für die lex fori und gegen die Prozessstandschaft der action oblique sollte sein, dass diese die im deutschen Recht grundlegende Trennung zwischen materiellem Recht und Prozessbzw. Vollstreckungsrecht aufhebt, der zufolge ein ungesicherter Gläubiger eines Titels bedarf und nur im Wege der Zwangsvollstreckung auf das Schuldnervermögen zugreifen kann, er hier also erst nach Pfändung und Überweisung (§§ 829, 835 ZPO) den Anspruch gegen den Drittschuldner geltend machen (§ 836 ZPO) könnte. Gewillkürte Prozessstandschaft ist nach deutschem Recht zulässig, wenn der Rechtsinhaber ihr zustimmt und der Prozessstandschafter ein rechtliches Interesse an der Prozessführung hat. Zulässigkeit und Wirkungen der gewillkürten Prozessführungsbefugnis richten sich nach der lex fori. Die Voraussetzungen hingegen, namentlich die Ermächtigung durch den Gläubiger als abgespaltenes Gläubigerrecht, sind materiellrechtlicher Natur und daher entsprechend Art. 33 II EGBGB nach dem Forderungsstatut zu beurteilen.70 Allerdings soll das rechtliche BGHZ 125, 196, 200. BGHZ 118, 312, 315. 68 Nagel / Gottwald (Fn. 7), § 4, Rn. 47; Schack (Fn. 8), Rn. 554. 69 s. dazu Schack (Fn. 8), Rn. 555; Sonnenberger, in: Ferid / Sonnenberger, Das französische Zivilrecht, Bd. 1 / 1, 2. Aufl. 1994, Rn. 1 C 140. 70 BGHZ 125, 196, 204 f. A.A. BGHZ 118, 312, 316; Schack (Fn. 8), Rn. 558: lex causae (Art. 33 I EGBGB). Differenzierend Nagel / Gottwald (Fn. 7), § 4, Rn. 50. 66 67
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Interesse des Prozessstandschafters stets erforderlich sein, um Missbrauch vorzubeugen.71 5. Prozesskostensicherheit Ein Kläger, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt (oder Sitz) nicht in einem EUMitgliedsstaat oder einem EWR-Staat hat, ist auf rechtzeitiges (§ 282 III ZPO)72 Verlangen des Beklagten und Anordnung des Gerichts (§ 113 S. 1 ZPO) gehalten, Sicherheit zu leisten wegen des Prozesskostenerstattungsanspruchs des Beklagten (§§ 110 I, 111 ZPO). Die Obliegenheit steht u. a. unter dem Vorbehalt von Staatsverträgen (§ 110 II Nr. 1, 2 ZPO), die eine Befreiung des Klägers von der Kostensicherheit vorsehen. Staatsverträge, die nur Inländergleichbehandlung vorsehen, befreien nicht; denn § 110 ZPO gilt unabhängig von der Staatsangehörigkeit des Klägers und betrifft ggf. auch Auslandsdeutsche.73 Ebenso wenig ist die (nicht staatsvertragliche) Verbürgung der Gegenseitigkeit hinreichend.74 Umstritten ist, ob ein Streithelfer auf Beklagtenseite Leistung der Sicherheit für seine Kosten (§ 101 ZPO) verlangen kann.75 Ein Dritter, der ein rechtliches Interesse daran hat, dass eine Partei eines anhängigen Prozesses obsiegt, kann dieser Partei als einfacher Streithelfer beitreten (§ 66 I ZPO). Das Beitrittsinteresse besteht etwa, wenn der Dritte bei Prozessverlust der Partei als Alternativoder Regressschuldner in Betracht kommt (z. B. bei Prospekthaftungsfällen im Verhältnis zwischen den potentiell Prospektverantwortlichen). Für die Frage, ob ein Streithelfer auf Beklagtenseite von einem ausländischen Kläger Sicherheitsleistung für seine Kosten verlangen kann, kommt es darauf an, ob seine Position derjenigen eines Beklagten im Hinblick auf den Zweck der §§ 110 ff. ZPO vergleichbar ist. Dem Beklagten wird der Prozess aufgezwungen, und es soll ihm wenigstens erspart bleiben, seinen Prozesskostenanspruch im Ausland verfolgen zu müssen. Die Rechtsstellung des Streithelfers ist dadurch gekennzeichnet, dass er zwar nicht Partei wird, aber Prozesshandlungen für die unterstützte Partei vornehmen kann (§ 67 ZPO). Im Gegenzug trifft ihn die Interventionswirkung (§ 68 ZPO), die darin besteht, dass der Streithelfer Tatsachenfeststellungen und rechtliche Beurteilungen aus dem Erstprozess im Folgeprozess gegen die unterstützte Partei nicht mehr angreifen kann. Tritt ein streithilfeberechtigter Dritter nicht bei, dann entsteht keine Bindung im Folgeprozess. Da Untätigkeit keine Rechtsnachteile bewirkt, wird dem Streithelfer die Prozessbeteiligung nicht (auch nicht mitBGHZ 125, 196. Nagel / Gottwald (Fn. 7), § 4, Rn. 53; Schack (Fn. 8), Rn. 562. 73 Schack (Fn. 8), Rn. 566 f. 74 BGH NJW 2001, 1219; LG Hamburg NJW-RR 2000, 918; Nagel / Gottwald (Fn. 7), § 4, Rn. 62; Schack (Fn. 8), Rn. 567; Wöstmann, in: Hk-ZPO, 2. Aufl. 2007, § 110, Rn. 4. 75 Dagegen OLG Hamburg NJW 1990, 650; Nagel / Gottwald (Fn. 7), § 4, Rn. 53. Dafür Rützel, NJW 1998, 2086; Wöstmann (Fn. 74), § 110, Rn. 2. 71 72
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telbar) aufgezwungen. Es besteht keine Zwangslage, die durch Kostensicherheit zu erleichtern ist. Anders ist es beim streitgenössischen Nebenintervenienten (§ 69 ZPO). Er nimmt eine Doppelstellung als Streithelfer und Streitgenosse ein, und das Urteil wirkt gegen ihn Rechtskraft, auch wenn er nicht beitritt. Die Rechtskrafterstreckung übt einen Beitrittszwang aus, dem Rechnung zu tragen ist, indem dem streitgenössischen Nebenintervenienten wie einer Partei Kostensicherheit zu gewähren ist.76 § 110 ZPO ist auch dann analog anzuwenden, wenn der Beklagte einem Dritten den Streit verkündet. Streitverkündung ist etwa zulässig, wenn die Partei bei Prozessverlust Ansprüche gegen den Dritten geltend machen kann (§ 72 I ZPO). Der Verkündungsempfänger muss zwar nicht dem Prozess beitreten, aber die für ihn nachteilhafte Interventionswirkung entsteht auch ohne Beitritt (§ 74 III ZPO). Streitverkündungsfälle verlaufen nicht selten so, dass der Beklagte einem potentiellen Regressschuldner den Streit verkündet und sich alsbald desinteressiert aus dem Prozess zurückzieht. Denn wenn er verliert, steht im Folgeprozess gegen den Streitverkündungsempfänger wegen der Interventionswirkung der Regressanspruch fest. Aus ebendiesem Grund wird umgekehrt der Streitverkündete dem Prozess beitreten und ihn im ureigenen Interesse wie eine Partei führen. Die unvermeidliche Interventionswirkung schafft einen so starken Anlass zum Beitritt, dass der Verkündungsempfänger im Hinblick auf die Kostensicherheit einem Beklagten gleichzustellen ist. Umstritten ist die Kostensicherheit ferner in den Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes. Gegen die Anwendung von § 110 ZPO wird vorgebracht, dass die Vorschrift von „Kläger“ und „Beklagten“ spricht, Arrest- und Verfügungsverfahren aber keine Klageverfahren seien, und dass außerdem die besondere Eilbedürftigkeit der Anordnung einer Sicherheit entgegenstehe.77 Das Eilargument, das sich vor allem auf den Ausschluss der Sicherheit im Urkundenprozess gem. § 110 II Nr. 2 ZPO a.F. stützte, überzeugt nicht; gerade in Eilverfahren mit ihrem erhöhten Fehlentscheidungsrisiko ist Sicherheitsleistung an der Tagesordnung (§§ 921, 936 ZPO). Was die Bezeichnung der Verfahrensbeteiligten angeht, ist zu unterscheiden. Die Verfahren beginnen als Beschlussverfahren mit Antragsteller und -gegner. Sobald aber Termin bestimmt, Widerspruch eingelegt oder Aufhebungsantrag gestellt ist, geht das Beschlussverfahren in ein Urteilsverfahren mit Kläger und Beklagtem über (§§ 922 I 1, 925 I, 926 II, 927 II ZPO). Folglich ist § 110 ZPO im Arrest- und Verfügungsverfahren zunächst unanwendbar, auch wenn der Schuldner in einer Schutzschrift Kostensicherheit verlangt hatte.78 Im I.E. ebenso Bork, in: Stein / Jonas, ZPO, 22. Aufl. 2004, § 69, Rn. 12. LG Berlin MDR 1957, 552, 552 m. zust. Anm. Weimar, MDR 1957, 553; Nagel / Gottwald (Fn. 7), § 4, Rn. 58 f. 78 Leible, NJW 1995, 2817, 2818 f. A.A. Schütze, in: Wieczorek / Schütze, ZPO, 3. Aufl. 1994, § 110, Rn. 5, 9 betr. Schutzschrift. 76 77
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Urteilsverfahren kann dann Kostensicherheit verlangt werden.79 Dass das Urteilsverfahren im einstweiligen Rechtsschutz nicht die Hauptsache zum Gegenstand hat, ist ohne Belang, weil § 110 ZPO nicht auf den Verfahrensgegenstand abstellt.80 Ferner ist Kostensicherheit nicht etwa deshalb überflüssig, weil Arrest und Verfügung gem. §§ 921, 936 ZPO ohnehin von einer Gläubigersicherheit abhängig gemacht werden können.81 Denn die Sicherheit des § 921 ZPO sichert nur den Schadensersatzanspruch aus § 945 ZPO,82 der Prozesskosten nur ausnahmsweise und unvollständig abdeckt83. Über Art (§ 108 ZPO) und Höhe (§ 112 ZPO) der Sicherheit entscheidet das Gericht nach Ermessen. Ermessensleitend für die Höhe sind die Prozesskosten, die der Beklagte wahrscheinlich aufzuwenden haben wird (§ 112 II 1 ZPO). Umstritten ist, ob dabei nur die Kosten des Rechtszugs anzusetzen sind, in dem über die Sicherheit entschieden wird,84 oder auch die Kosten weiterer Rechtszüge85. Grundsätzlich ist das Gericht nicht gehindert, wahrscheinliche Kosten mehrerer Rechtszüge einzubeziehen. Allerdings kann eine außerordentlich hohe Sicherheit den Justizanspruch des Klägers verletzen.86 Zudem eröffnet § 112 III ZPO dem Beklagten die Möglichkeit, weitere Sicherheit zu verlangen, wenn sich im Verlauf des Prozesses ergibt, dass die Sicherheit nicht hinreicht.87 Die Anordnung einer Sicherheit in Höhe der Kosten sämtlicher möglicher Rechtszüge kann daher ermessensfehlerhaft sein. Die Sicherheitsleistung ist durch Zwischenurteil (§ 303 ZPO) anzuordnen. Das anordnende Zwischenurteil ist nicht selbständig anfechtbar88 (§ 511 I ZPO); die Berufung ist aber gem. § 280 II 1 ZPO statthaft gegen ein Zwischenurteil, welches das Verlangen des Beklagten zurückweist.89 Wenn die Sicherheit nicht fristgemäß (§§ 113 S. 1, 231 II ZPO) geleistet wird, hat das Gericht auf Antrag des Beklagten die Klage für zurückgenommen zu erklären oder ein Rechtsmittel des Klägers zu verwerfen (§ 113 S. 2 ZPO). Eine geleistete Sicherheit ist gem. § 109 ZPO zurück79 Leible, NJW 1995, 2817, 2819; Wöstmann (Fn. 74), § 110, Rn. 2. Ebenso betr. Widerspruch Linke (Fn. 7), Rn. 256; Schack (Fn. 8), Rn. 562 (Fn. 1). 80 A.A. Nagel / Gottwald (Fn. 7), § 4, Rn. 59. 81 So aber Nagel / Gottwald (Fn. 7), § 4, Rn. 59. 82 Vgl. Drescher, in: MüKo-ZPO, 3. Aufl. 2007, § 921, Rn. 6; Grunsky, in: Stein / Jonas, ZPO, 22. Aufl. 2002, § 921, Rn. 7, 10; Thümmel, in: Wieczorek / Schütze, ZPO, 3. Aufl. 1995, § 921, Rn. 8. 83 Vgl. BGHZ 122, 172, 176; Vollkommer (Fn. 48), § 945, Rn. 14b. 84 So im Fall des BGH NJW-RR 2005, 148. 85 So BGH NJW-RR 1990, 378; Söffing, MDR 1989, 599; Wöstmann (Fn. 74), § 112, Rn. 2. 86 I.E. ebenso Schack (Fn. 8), Rn. 567: Recht auf faires Verfahren (Art. 6 I EMRK). Ferner Primozic / Broich, MDR 2007, 188. 87 s. auch BGH NJW-RR 2005, 148. 88 BGHZ 102, 232; Demharter, MDR 1986, 186; Wöstmann (Fn. 74), § 110, Rn. 5. 89 BGHZ 102, 232; Nagel / Gottwald (Fn. 7), § 4, Rn. 53.
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zugeben, wenn der Kläger seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem EU- oder EWR-Staat nimmt.90 Durch die §§ 110 ff. ZPO soll es dem Beklagten erspart werden, seinen Prozesskostenanspruch im Ausland verfolgen zu müssen.91 Daher kann ein Kläger nicht mit Erfolg einwenden, dass in seinem Heimatstaat keine Kostenerstattung stattfindet. Gerade in solchen Fällen sind Anerkennung und Durchsetzbarkeit eines Kostentitels im Ausland unsicher und gewinnt die Kostensicherheit Bedeutung.92
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BGH NJW-RR 2006, 710. Leible, NJW 1995, 2817; Nagel / Gottwald (Fn. 7), § 4, Rn. 53; Schack (Fn. 8), Rn. 562. Schack (Fn. 8), Rn. 563.
Zur „räuberischen“ Nichtigkeitsklage beim Squeeze out Von Harry Schmidt
I. Einführung Das vielfach beklagte1 aktienrechtliche „Berufsklägertum“2 – das auffallend häufige gerichtliche Vorgehen bestimmter Aktionärskreise gegen vor allem auch Kapital- und Strukturmaßnahmen betreffende3 Hauptversammlungsbeschlüsse von Aktiengesellschaften, mit der Folge einer zunächst einmal eintretenden Blockade der Umsetzung der Maßnahme – ist kein Phänomen der „Neuzeit“. Bereits im Jahr 1935 hatte sich das Leipziger Reichsgericht mit einem Fall zu befassen, in dem die beklagte Aktiengesellschaft dem gegen einen Beschluss der Generalversammlung klagenden Aktionär entgegengehalten hatte, dass er „sich schon in anderen Aktiengesellschaften zur Verschaffung gesellschaftsfremder Vorteile als gewerbsmäßiger Opponent betätigt habe“.4 Es brauchte 70 Jahre, bis der Gesetzgeber im Jahr 2005 vor allem mit der Einführung des aus dem Umwandlungsgesetz bekannten Freigabeverfahrens5 auch für Kapitalmaßnahmen und Unternehmensverträge (§ 246a AktG) sowie der Veröffentlichungspflicht für Vergleiche über aktienrechtliche Klagen6 durch das Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG)7 erklärtermaßen den Versuch unternahm, dem Berufsklägertum Schranken zu ziehen.8 Da jedoch mit dem UMAG eine Eindämmung des Berufsklageunwesens 1 Vgl. statt aller Goette DStR 2009, 54 f.; Baums in Gesellschaftsrechtliche Vereinigung (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2007, 2008, S. 109, 112 f. 2 Siehe dazu die rechtstatsächliche Untersuchung von Baums / Keinath / Gajek ZIP 2007, 1629 ff.; Baums a. a. O. Fn. 1, S. 109, 111. 3 Baums / Keinath / Gajek ZIP 2007, 1639 f. 4 RGZ 146, 385, 395. Vgl. auch schon Hachenburg JW 1918, 17, der zu von „Kleinaktionären“ erhobenen Anfechtungsklagen gegen Generalversammlungsbeschlüsse ausführt: „Es ist ein offenes Geheimnis, dass solche Proteste und Klagen meist nur zur Erreichung anderer Zwecke erhoben werden.“ Es sei klargestellt, dass ein solcher Befund jedenfalls für die heutigen Klagen in rechtstatsächlicher Hinsicht in einer solchen Allgemeinheit nicht zuträfe. 5 § 16 Abs. 3 UmwG. 6 § 248a AktG. 7 Vom 22. September 2005, BGBl. I 2005, 2802.
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nicht erreicht werden konnte9, hat sich der Gesetzgeber das Thema der „Bekämpfung missbräuchlicher Aktionärsklagen“10 mit dem Vorhaben eines Gesetzes zur Umsetzung der Aktionärsrichtlinie (ARUG)11 erneut vorgenommen. Auf die insoweit geplanten Regelungen ist hier nicht weiter einzugehen.12 Festzuhalten ist freilich bereits an dieser Stelle, dass nach dem derzeitigen Stand des Gesetzgebungsverfahrens das ARUG – entgegen einer Reihe von Vorschlägen aus Wissenschaft und Praxis und entgegen auch einem Änderungsvorschlag des Bundesrates – darauf verzichten wird, für die nach den Regelungen des Aktiengesetzes bisher nicht fristgebundene Nichtigkeitsklage eine der Monatsfrist für die Anfechtungsklage (§ 246 Abs. 1 AktG) entsprechende Klagefrist einzuführen.13 Darauf ist zurückzukommen. II. Die „räuberische“ Nichtigkeitsklage 1. Nachgeschobene Nichtigkeitsklage Nach einem Beschluss der Hauptversammlung über den Ausschluss der Minderheitsaktionäre gemäß §§ 327a ff. AktG („Squeeze out“) werden zumindest bei börsennotierten Aktiengesellschaften regelmäßig innerhalb der einmonatigen Klagefrist von § 246 Abs. 1 AktG Klagen gegen den Übertragungsbeschluss erhoben.14 Sehr häufig leiten die beklagten Aktiengesellschaften daraufhin ein Freigabeverfahren gemäß §§ 327e Abs. 2, 319 Abs. 6 Satz 1 AktG ein, mit dem Ziel, die Handelsregistereintragung des Übertragungsbeschlusses trotz der Klagen, die zunächst eine Blockade der Handelsregistereintragung des Squeeze out und von dessen Wirksamwerden zur Folge haben, zu erreichen. Denn nach den genannten Vorschriften kann das mit den Klagen befasste Landgericht auf Antrag der beklagten Gesellschaft durch rechtskräftigen Beschluss feststellen, dass die Erhe8 Vgl. zu dieser Zielsetzung die Gesetzesbegründung zum UMAG, BT-Drucks. 15 / 5092, S. 10, 24, 30. Die Einführung des Freigabeverfahrens im UmwG und parallel dazu in § 319 Abs. 6 AktG war dem gegenüber noch nicht damit begründet worden, einer missbräuchlichen Ausnutzung des Klagerechts entgegentreten zu wollen, vgl. BT-Drucks. 12 / 6699, S. 88 ff. 9 Vgl. nur Baums / Keinath / Gajek ZIP 2007, 1649; Gesetzesbegründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Aktionärsrichtlinie (ARUG), BT-Drucks. 16 / 11642, S. 28. 10 Gesetzesbegründung zum ARUG a. a. O. Fn. 9. 11 BT-Drucks. 16 / 11642, S. 1 ff. 12 Vgl. zum Regierungsentwurf etwa Seibert / Florstedt ZIP 2008, 2145 ff.; Drinhausen / Keinath BB 2009, 64 ff.; Stellungnahme des Handelsrechtsausschusses des Deutschen Anwaltsvereins, NZG 2009, 96 ff. 13 Gesetzesbegründung zum Entwurf des ARUG, BT-Drucks. 16 / 11642, S. 95, 102. 14 Vgl. die rechtstatsächliche Untersuchung des Deutschen Aktieninstituts, Squeeze out, Recht und Praxis, 2007, S. 33, die für die Jahre 2004 – 2006 Anfechtungsquoten von 84,0%, 84,6% und 96,1% ausweist.
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bung der Klage der Handelsregistereintragung des Übertragungsbeschlusses nicht entgegensteht. Ein solcher Beschluss darf nur ergehen, wenn die Klage gegen die Wirksamkeit des Übertragungsbeschlusses unzulässig oder offensichtlich unbegründet ist oder wenn das alsbaldige Wirksamwerden der Übertragung der Aktien der Minderheitsaktionäre auf den Hauptaktionär nach freier Überzeugung des Gerichts unter Berücksichtigung der Schwere der mit der Klage geltend gemachten Rechtsverletzungen zur Abwendung der von der Aktiengesellschaft dargelegten wesentlichen Nachteile für die Gesellschaft und ihre Aktionäre vorrangig erscheint. Die Praxis zeigt, dass auch in Squeeze-out-Fällen Freigabeanträge durchaus Erfolg haben können.15 In anderen Fällen kommt es, etwa wenn sich ein für die beklagte Aktiengesellschaft negativer Ausgang des Freigabeverfahrens abzeichnet, noch vor Abschluss des Freigabeverfahrens zu einem Vergleich über die Erledigung der gegen den Übertragungsbeschluss erhobenen Klagen. Vergleiche über die Klagen werden in der Praxis aber auch noch dann abgeschlossen, wenn eine für die Aktiengesellschaft negative Freigabeentscheidung vorliegt. Die Praxis berichtet über eine seit einigen Jahren zu verzeichnende „innovative“ Vorgehensweise von Aktionären – und der Verf. kann derartige Aktivitäten von Berufsklägern auf Grund eigener Erfahrungen aus seiner anwaltlichen Praxis bestätigen –, bei der in zeitlicher Nähe zur absehbaren Beendigung eines Freigabeverfahrens, unmittelbar nach dessen positiven Ausgang für die beklagte Aktiengesellschaft oder sogar noch kurz vor oder nach Abschluss eines Vergleichs über die Erledigung der Klagen eine Nichtigkeitsklage erhoben wird.16 Es drängt sich auf, dass das wahre Ziel einer derart nachgeschobenen Nichtigkeitsklage regelmäßig nicht darin liegt, den angegriffenen Hauptversammlungsbeschluss dauerhaft zu verhindern und dem „Aktienrecht Geltung zu verschaffen“ – denn dann ist jedenfalls von den klageerfahrenen „Berufsklägern“ zu erwarten, dass angebliche Nichtigkeitsgründe bereits unmittelbar nach dem Hauptversammlungsbeschluss geltend gemacht werden –, sondern es um andere Motive und Ziele geht. Diese bedürfen hier jedoch keiner Vertiefung, weil – wie sich zeigen wird – der in dieser Unter15 Siehe dazu die rechtstatsächlichen Angaben in Deutsches Aktieninstitut, a. a. O. Fn. 14, Tabelle 12 (S. 104). Zur mit dem ARUG geplanten Reform des Freigabeverfahrens s. BTDrucks. 16 / 11642, S. 14 ff., 63 ff. 16 Vgl. Hemeling ZHR 172 (2008), 379, 381; Schockenhoff ZIP 2008, 1946; Vetter AG 2008, 193; M. Winter in Liber amicorum Wilhelm Happ, 2006, S. 363, 372; Handelsrechtsausschuss des Deutschen Anwaltsvereins, ZIP 2005, 780; ders. NZG 2008, 543; ders. NZG 2009, 98. Dabei reicht die Dreistigkeit dieser Vorgehensweise sogar so weit, dass ein – dem Kreis der „Berufskläger“ zuzurechnender – Geschäftsführer einer – ebenfalls dem Kreis der Berufskläger zuzurechnenden – Gesellschaft, die als Anfechtungsklägerin und Vergleichspartei den Vergleich (mit weiteren Klägern) abgeschlossen hat, unmittelbar vor dem Vergleichsabschluss und rd. 2 Jahre (!) nach dem Übertragungsbeschluss der Hauptversammlung auf Grund eigenen Aktienbesitzes eine Nichtigkeitsklage erhebt; zu Recht für Rechtsmissbräuchlichkeit einer solchen Vorgehensweise LG Berlin vom 14. August 2008 – 90 O 26 / 08, Urteilsumdruck Seite 6 f. (unveröffentlicht).
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suchung entwickelte Lösungsansatz nicht auf dem „räuberischen“ Moment der nachgeschobenen Nichtigkeitsklage fußt. Die Zahl derartiger nachgeschobener Nichtigkeitsklagen wird teilweise eher zurückhaltend eingeschätzt.17 In seiner Stellungnahme zum Regierungsentwurf zum ARUG geht der Handelsrechtsausschuss des Deutschen Anwaltsvereins indessen davon aus, dass nachgeschobene Nichtigkeitsklagen häufig zu beobachten seien.18 2. Folge der nachgeschobenen Nichtigkeitsklage Nach §§ 327e Abs. 2, 319 Abs. 5 Satz 1 und 2 AktG hat der Vorstand bei der Anmeldung des Übertragungsbeschlusses zur Eintragung in das Handelsregister zu erklären, dass eine Klage gegen die Wirksamkeit des Übertragungsbeschlusses nicht oder nicht fristgemäß erhoben oder eine solche Klage rechtskräftig abgewiesen oder zurückgenommen worden ist (sog. Negativerklärung). Liegt die Negativerklärung nicht vor, so darf der Übertragungsbeschluss nicht in das Handelsregister eingetragen werden. Diese Negativerklärung kann abgegeben werden und damit die Handelsregistereintragung ermöglicht werden, wenn gegen den Übertragungsbeschluss erhobene Klagen durch Abschluss eines Vergleichs erledigt worden sind. Gleichermaßen kann die Handelsregistereintragung erfolgen, wenn eine rechtskräftige Entscheidung im Freigabeverfahren vorliegt, nach der die Erhebung von Klagen der Handelsregistereintragung nicht entgegensteht (§§ 327e Abs. 2, 319 Abs. 6 Satz 1 AktG). Aus der aufgezeigten gesetzlichen Regelung muss man zunächst einmal den Schluss ziehen, dass im Falle einer nachgeschobenen Nichtigkeitsklage eine Negativerklärung nicht abgegeben werden kann bzw., sollte die Handelsregisteranmeldung dem Registergericht auf Grund eines Vergleichs oder einer Freigabeentscheidung bereits vorliegen, das Handelsregister gemäß §§ 327e Abs. 2, 319 Abs. 5 Satz 1, 2. Halbsatz, AktG über die nachgeschobene Nichtigkeitsklage zu informieren ist.19 Auf Grund der nachgeschobenen Nichtigkeitsklage kommt es also zu einer (erneuten) Blockade der Handelsregistereintragung und damit auch des Wirksamwerdens des Squeeze out. Da das Registergericht den Übertragungsbeschluss ohne Negativerklärung nicht in das Handelsregister eintragen darf, bleiben für die beklagte Gesellschaft (und den Hauptaktionär), wenn, wie im Regelfall, ein Interesse an einer zügigen Han17 So wohl Hemeling a. a. O. Fn. 16. Vgl. auch die Gesetzesbegründung zum ARUG, BTDrucks. 16 / 11642, S. 102: Die nachgeschobene Nichtigkeitsrüge sei ein „seltenes, aber ernst zu nehmendes Problem“. 18 NZG 2009, 98. So auch die Annahme des Bundesrats in seiner Stellungnahme zum Regierungsentwurf des ARUG, BT-Drucks. 16 / 11642, S. 91. 19 Wenn das Registergericht nicht ohnehin schon, wie in der Praxis üblich, vom Nichtigkeitskläger über die Erhebung der Nichtigkeitsklage unterrichtet worden ist.
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delsregistereintragung besteht, nur der Weg eines erneuten Freigabeverfahrens (mit dem erneuten Risiko einer nachgeschobenen Nichtigkeitsklage), der Abschluss eines Vergleichs oder, ist ein Vergleich bereits abgeschlossen worden, Verhandlungen über dessen Nachbesserung mit dem Nichtigkeitskläger. Dieses Ergebnis ist äußerst unbefriedigend. Und das Unbehagen über die Vorgehensweise mit der nachgeschobenen Nichtigkeitsklage nimmt noch weiter zu, wenn man sich vor Augen führt, dass in der Praxis teilweise ganz offensichtlich noch nicht einmal Nichtigkeitsgründe geltend gemacht werden, sondern allenfalls Anfechtungsgründe.
3. Gegenstand der Untersuchung Aufgrund des vorstehenden Befunds wird es im Folgenden um die Frage gehen, ob dem Problem der nachgeschobenen Nichtigkeitsklage mit einer Klagefrist auch für die aktienrechtliche Nichtigkeitsklage bereits de lege lata entgegengetreten werden kann. Auch wenn die „räuberische“ nachgeschobene Nichtigkeitsklage den Anlass für diese Untersuchung gibt und den größten Teil der in der Praxis anzutreffenden nachgeschobenen Nichtigkeitsklagen ausmachen wird, beschränken sich die folgenden Ausführungen nicht nur auf diesen Fall. Denn es mag auch Fälle geben, in denen Nichtigkeitsklagen nach Ablauf der für die Anfechtungsklage geltenden Frist aus lauteren Motiven erhoben werden. Gleichwohl haben auch sie einen unerwünschten Verzögerungseffekt für das Wirksamwerden der Strukturmaßnahme. Deshalb ist die Frage einer Klagefrist auch für diese Fallgruppe und damit grundsätzlich zu beantworten.
III. Das Dilemma: Keine gesetzliche Fristgebundenheit der aktienrechtlichen Nichtigkeitsklage im Aktiengesetz 1. Rechtslage im Aktiengesetz a) Grundsatz Anders als § 246 Abs. 1 AktG mit der Monatsfrist für die Anfechtungsklage sieht § 249 AktG für die Erhebung der Nichtigkeitsklage keine Frist vor. Auf dieser Basis kann eine Nichtigkeitsklage daher auch noch lange Zeit nach dem Übertragungsbeschluss erhoben werden. Auch steht eine positive Freigabeentscheidung oder ein Vergleich über die Erledigung der ursprünglichen Klagen der Erhebung einer Nichtigkeitsklage und deren Blockadewirkung für die Handelsregistereintragung nicht entgegen, denn die Freigabeentscheidung oder der Vergleich wirken immer nur für die Klagen, die Gegenstand des Freigabeverfahrens bzw. der vergleichsweisen Erledigung sind.
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Zwar kann es nach § 242 AktG nach Ablauf von drei Jahren seit Handelsregistereintragung des Beschlusses zu einer Heilung der Nichtigkeit kommen. Jedoch löst das die hier behandelte Problematik nicht, da die Nichtigkeitsklage eine Handelsregistereintragung verhindert. Gerade die fehlende Fristgebundenheit der aktienrechtlichen Nichtigkeitsklage ermöglicht also nachgeschobene Nichtigkeitsklagen und macht sie für Berufskläger interessant. b) Zu § 249 Abs. 1 Satz 3 AktG Der durch das UMAG20 in das Aktiengesetz eingefügte § 249 Abs. 1 Satz 3 AktG enthält folgende Regelung: „Schafft der Hauptversammlungsbeschluss Voraussetzungen für eine Umwandlung nach § 1 des Umwandlungsgesetzes und ist der Umwandlungsbeschluss eingetragen, so gilt § 20 Abs. 2 des Umwandlungsgesetzes für den Hauptversammlungsbeschluss entsprechend.“ Nach § 20 Abs. 2 UmwG lassen Mängel der Verschmelzung die Wirkungen der Eintragung im Handelsregister unberührt. Ausweislich der Gesetzesbegründung zu dieser Regelung soll sie ein Problem der Praxis bei Umwandlungsbeschlüssen lösen, welches sich daraus ergebe, dass die Klagefrist des § 14 Abs. 1 UmwG, nach der auch für Nichtigkeitsklagen eine einmonatige Klagefrist gilt, nicht auch auf Nichtigkeitsklagen gegen einen die Umwandlung begleitenden Kapitalerhöhungsbeschluss Anwendung findet. Ein solcher Kapitalerhöhungsbeschluss ist beim übernehmenden Rechtsträger regelmäßig erforderlich, um den Aktionären des übertragenden Rechtsträgers Aktien am übernehmenden Rechtsträger gewähren zu können.21 Zweck von § 249 Abs. 1 Satz 3 AktG ist es, zu vermeiden, dass nach Ablauf der Anfechtungsfristen der §§ 14 Abs. 1 UmwG, 246 Abs. 1 AktG Nichtigkeitsklage gegen den Kapitalerhöhungsbeschluss erhoben wird.22 Auch wenn mit § 249 Abs. 1 Satz 3 AktG nicht offen eine einmonatige Klagefrist für die gegen den einen Umwandlungsbeschluss begleitenden Kapitalerhöhungsbeschluss gerichtete Klage in das Gesetz eingeführt worden ist, ist es doch bemerkenswert, dass der Gesetzgeber nach seiner Vorstellung mit der von ihm getroffenen Regelung im Ergebnis die Frist für eine Nichtigkeitsklage gegen den Kapitalerhöhungsbeschluss auf einen Monat begrenzen, also eine Klagefrist faktisch einführen wollte. Siehe oben unter I. Gesetzesbegründung zum UMAG, BT-Drucks. 15 / 5092, S. 30. 22 Gesetzesbegründung a. a. O. Fn. 21 unter Hinweis darauf, dass mit der Neuregelung die bisherige h. M. bestätigt wird, die hinsichtlich der Klagefrist mit einer Analogie gearbeitet habe. Allerdings ist nicht erkennbar, wie die Regelung ihren Zweck erfüllen soll. Denn die Eintragung des Umwandlungsbeschlusses setzt gem. § 66 UmwG die vorherige Eintragung der Durchführung der Kapitalerhöhung voraus, die im Falle einer Nichtigkeitsklage gerade nicht erfolgt. Der Verweis auf § 20 Abs. 2 UmwG in § 249 Abs. 1 Satz 3 AktG kommt aber erst im Falle der Eintragung des Umwandlungsbeschlusses zum Tragen. 20 21
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2. Rechtslage im Umwandlungsgesetz Bemerkenswert ist es weiterhin, dass § 14 Abs. 1 UmwG für alle Klagen gegen die Wirksamkeit eines Verschmelzungsbeschlusses eine Klagefrist von einem Monat nach der Beschlussfassung vorsieht. Das gilt auch für die aktienrechtliche Nichtigkeitsklage.23 Entsprechendes gilt für die anderen Umwandlungsfälle, also insbesondere auch für die Spaltung (§ 125 Satz 1 UmwG) und den Formwechsel (§ 195 Abs. 1 UmwG). Die Gesetzesbegründung führt dazu die im Falle einer Klage gegen die Wirksamkeit des Verschmelzungsbeschlusses in § 16 Abs. 2 UmwG angeordnete Registersperre gegen die Eintragung der Verschmelzung im Register als erhebliche Folge an und hält deshalb für alle Arten solcher Klagen eine Ausschlussfrist für erforderlich, weil sonst die Eintragung und damit das Wirksamwerden der Verschmelzung auf unbestimmte Zeit hinausgeschoben würde.24 3. Gesetzliche Ungereimtheit Die vom Umwandlungsgesetz abweichende Rechtslage im Aktiengesetz für die Eingliederung und den Squeeze out und die daraus unter dem Gesichtspunkt der Einheit der Rechtsordnung resultierende gesetzliche Ungereimtheit springt förmlich ins Auge: Während der Gesetzgeber im Umwandlungsgesetz die Registersperre auf Grund einer Nichtigkeitsklage zum Anlass nimmt, für eine solche Klage eine Klagefrist zu begründen, verbleibt es im Falle einer Klage gegen einen Eingliederungsbeschluss oder einen Squeeze-out-Beschluss, die gemäß §§ 327e Abs. 2, 319 Abs. 5 Satz 2 AktG ebenfalls eine Registersperre auslöst, bei der Fristungebundenheit der Nichtigkeitsklage.25 Die darin liegende unterschiedliche Behandlung der Fälle der Eingliederung und des Squeeze out einerseits und der Umwandlungsfälle andererseits ist sachlich nicht nachvollziehbar und es ist auch nicht ersichtlich, dass in den erstgenannten Fällen kein sachlich begründetes Interesse daran bestehen sollte, zu vermeiden, dass das Wirksamwerden der Eingliederung oder des Squeeze out auf unbestimmte Zeit hinausgeschoben wird. Im Gegenteil: Die Geltung des Freigabeverfahrens auch für die Fälle der Eingliederung und des Squeeze out gemäß § 319 Abs. 6 AktG und § 327e Abs. 2 AktG zeigt, dass das Gesetz auch für diese Fälle ein Interesse an einer beschleunigten Handelsregistereintragung und damit an einem Wirksamwerden dieser Strukturmaßnahmen anerkennt.
23 Vgl. nur Bork in Lutter, UmwG, 4. Aufl. 2009, § 14 Rz. 4 f., allerdings mit Kritik an der Einbeziehung der Nichtigkeitsklage a. a. O. Rz. 12. 24 Gesetzesbegründung zum UmwG, BT-Drucks. 12 / 6699 S. 87. 25 Zur Rechtslage bei Kapitalmaßnahmen und Unternehmensverträgen siehe unten V.
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4. Forderung nach einer gesetzlichen Einführung einer Klagefrist auch für die Nichtigkeitsklage in der Literatur Es verwundert nach allem nicht, dass sich in der Literatur die Stimmen mehren, die – häufig unter Hinweis auf die Regelung des § 14 Abs. 1 UmwG – den Gesetzgeber auffordern, auch für die aktienrechtliche Nichtigkeitsklage eine Klagefrist von einem Monat einzuführen.26 Regelmäßig soll es dabei um Hauptversammlungsbeschlüsse zu Strukturmaßnahmen gehen, für die das Gesetz das Freigabeverfahren eröffnet.27 In eine ähnliche Richtung geht der Vorschlag des Arbeitskreises Beschlussmängelrecht zur Neufassung der Vorschriften des Aktiengesetzes über Beschlussmängel. Danach gilt auch für die aktienrechtliche Nichtigkeitsklage eine Klagefrist von einem Monat, die jedoch nicht beginnt, bevor der Kläger von den zugrundeliegenden Tatsachen Kenntnis erlangt hat.28 Problematisch an diesem Vorschlag ist allerdings die Anknüpfung des Fristbeginns an die Kenntnis des Klägers von den zugrundeliegenden Tatsachen. Denn dann besteht für den Kläger zunächst einmal die Möglichkeit der Erhebung der Nichtigkeitsklage – mit dem Blockadeeffekt für die Strukturmaßnahme – und damit auch die Möglichkeit der nachgeschobenen Nichtigkeitsklage, während die Frage der „Kenntnis“ von den zugrundeliegenden Tatsachen erst im Rechtsstreit geklärt wird. In den – wohl eher nicht seltenen – Fällen, in denen die beklagte Gesellschaft keine Kenntnis darüber hat, zu welchem Zeitpunkt der Kläger Kenntnis von den zugrundeliegenden Tatsachen erlangt hat, wird eine Negativerklärung mit der Behauptung, die Nichtigkeitsklage sei nicht fristgerecht innerhalb der Monatsfrist erhoben worden, häufig nicht abgegeben werden können. Das Problem der nachgeschobenen Nichtigkeitsklage wird man daher mit dem Regelungsvorschlag des Arbeitskreises Beschlussmängelrecht nicht in dem zu wünschenden Ausmaß in den Griff bekommen. 5. Aktueller Standpunkt des Gesetzgebers im Entwurf des ARUG Es kann davon ausgegangen werden, dass dem Gesetzgeber beim Entwurf des ARUG die in der Literatur erhobenen Forderungen nach einer Ausdehnung der ein26 Bungert in Gesellschaftsrechtliche Vereinigung (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2004, 2005, S. 59, 97; Drinhausen / Keinath BB 2009, 70; Paschos AG 2008, 617; Paschos / Johannsen-Roth NZG 2006, 333; Vetter AG 2008, 193; M. Winter in Liber amicorum Wilhelm Happ, 2006, 363, 372; Handelsrechtsausschuss des Deutschen Anwaltsvereins, ZIP 2005, 780; ders. NZG 2008, 14; so auch ders. zu Strukturmaßnahmen gem. § 246a AktG NZG 2009, 98. 27 So Bungert, Drinhausen / Keinath, Paschos / Johannsen-Roth, M. Winter und Handelsrechtsausschuss des Deutschen Anwaltsvereins, jew. a. a. O. Fn. 26. 28 Arbeitskreis Beschlussmängelrecht, Vorschlag „§ C Beschlussmängelklage“ Abs. 1, AG 2008, 618 mit Begründung dazu a. a. O. S. 623.
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monatigen Klagefrist auf die aktienrechtliche Nichtigkeitsklage bekannt waren. Auch wird im Bundesjustizministerium eine Grundsatzreform des Beschlussmängelrechts des Aktiengesetzes für erforderlich gehalten.29 Gleichwohl sieht der Regierungsentwurf zum ARUG ausdrücklich davon ab, das Thema einer Klagefrist für die Nichtigkeitsklage aufzugreifen.30 In seiner Stellungnahme zum Regierungsentwurf hat der Bundesrat zwar darum gebeten, zu prüfen, ob dem Problem der nachgeschobenen Nichtigkeitsklage durch Einführung einer Klagefrist von einem Monat für die Nichtigkeitsklage begegnet werden könne.31 In ihrer Gegenäußerung dazu hat sich die Bundesregierung jedoch gegen die vorgeschlagene Änderung ausgesprochen. Allerdings hat die Bundesregierung die Ernsthaftigkeit der Problematik der nachgeschobenen Nichtigkeitsklage konstatiert und insoweit eine eingehende Prüfung für angezeigt gehalten, ob hier durch gesetzgeberische Maßnahmen Abhilfe geschaffen werden kann. Angesichts der „Komplexität der Materie“ könne diese Prüfung allerdings nicht mehr im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zum ARUG erfolgen, sondern müsse für die nächste Wahlperiode zurückgestellt werden.32 Damit hat der Gesetzgeber sich nicht etwa gegen die Einführung einer einmonatigen Klagefrist für die Nichtigkeitsklage ausgesprochen, einer solchen Regelung also keine bewusste Absage erteilt. Die Behandlung des Problems ist vielmehr in die nächste Legislaturperiode verschoben worden, wohl um das noch für das Jahr 2009 geplante Inkrafttreten33 des ARUG nicht zu gefährden. Dies im Hinblick auf die Einführung einer Klagefrist für die Nichtigkeitsklage mit einer Komplexität der Materie34 oder damit zu begründen, dass angesichts des straffen Umsetzungszeitplans des ARUG an einen Systembruch nicht zu denken sei35, vermag allerdings nicht zu überzeugen. Für Umwandlungsbeschlüsse unterliegt die aktienrechtliche Nichtigkeitsklage nach § 14 Abs. 1 UmwG bereits seit dem Jahr 1995 einer einmonatigen Klagefrist. Und mit § 249 Abs. 1 Satz 3 AktG hat der Gesetzgeber sogar im Aktiengesetz selbst eine Regelung eingeführt, mit der faktisch eine einmonatige Klagefrist für die Nichtigkeitsklage bei Umwandlungsbeschlüsse begleitenden Kapitalerhöhungsbeschlüssen begründet werden soll (oben unter 1 lit. b). Dass die Einführung einer einmonatigen Klagefrist im Aktiengesetz für Nichtigkeitsklagen, die eine Registersperre auslösen, an der Komplexität der Materie oder wegen eines Systembruchs gegenüber dem bisherigen Beschlussmängelrecht in sachlicher oder zeitlicher Hinsicht scheitern müsste, ist daher Vgl. Seibert / Florstedt ZIP 2008, 2151. BT-Drucks. 16 / 11642, S. 14. 31 BT-Drucks. 16 / 11642, S. 91. 32 BT-Drucks. 16 / 11642, S. 102. Vgl. auch Seibert / Florstedt ZIP 2008, 2152. 33 Vgl. Art. 16 des Regierungsentwurfs zum ARUG, BT-Drucks. 16 / 11642, S. 26; Seibert / Florstedt ZIP 2008, 2145. 34 BT-Drucks. 16 / 11642, S. 102. 35 So Seibert / Florstedt ZIP 2008, 2152. 29 30
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schwerlich anzunehmen. Und schließlich zeigen die Regelungen in § 14 Abs. 1 UmwG und § 249 Abs. 1 Satz 3 AktG auch, dass die Einführung einer Klagefrist für die aktienrechtliche Nichtigkeitsklage nicht in den Kontext einer Grundsatzreform des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts gestellt werden muss. IV. Lösungsansätze 1. Einwand des Rechtsmissbrauchs? Im Falle einer nachgeschobenen Nichtigkeitsklage werden die Umstände des Einzelfalles häufig die Annahme rechtfertigen, dass die Klageerhebung rechtsmissbräuchlich36 und die Klage deshalb unbegründet37 ist. Nach § 319 Abs. 5 Satz 1 AktG greift die Registersperre aber bereits auf Grund einer (fristgemäßen) Klageerhebung ein, unabhängig davon, ob die Klage begründet ist oder nicht. Auch eine unbegründet erhobene Klage ist zunächst einmal erhoben und steht einer Negativerklärung nach § 319 Abs. 5 Satz 1 AktG entgegen, mit der Folge, dass das Registergericht mangels einer Negativerklärung die Handelsregistereintragung nach § 319 Abs. 5 Satz 2 AktG nicht vornehmen darf. Auf die Begründetheit der Klage kommt es insoweit nicht an und sie ist vom Registergericht auch nicht zu prüfen.38 Damit stellt sich die Frage, ob unter dem Gesichtspunkt, dass die Rechtsordnung einem Rechtsmissbrauch nicht nachgeben darf, das Registergericht im Falle einer rechtsmissbräuchlichen nachgeschobenen Nichtigkeitsklage die Handelsregistereintragung auch ohne Vorliegen einer Negativerklärung vornehmen darf, etwa weil § 319 Abs. 5 Satz 2 AktG, der gerade Gegenteiliges anordnet, für die Fälle des Rechtsmissbrauchs teleologisch zu reduzieren ist. Im Rahmen dieses Beitrags kann diese Fragestellung nicht vertieft werden, zumal es in der Praxis auch Fälle geben kann, in denen der Rechtsmissbrauch nicht so offen zu Tage tritt oder ein Rechtsmissbrauch überhaupt nicht vorgeworfen werden kann. Zur grundsätzlichen Lösung der Problematik der nachgeschobenen Nichtigkeitsklage eignet sich der Ansatz des Rechtsmissbrauchs daher eher nicht.
36 Die Gesetzesbegründung zum ARUG geht davon aus, dass im Fall der nachgeschobenen Nichtigkeitsklage der Rechtsmissbrauch „oft evident ist“, vgl. BT-Drucks. 16 / 11642, S. 102. Zurückhaltend demgegenüber Schockenhoff ZIP 2008, 1947. Aus der Rechtsprechung vgl. das in Fn. 16 zitierte Urteil des LG Berlin. Siehe zum Rechtsmissbrauch allgemein das Grundsatzurteil BGHZ 107, 296, 308 ff. und BGH NZG 2007, 714, 715 a.E., 716. 37 Dazu Hüffer Aktiengesetz, 8. Aufl. 2008, § 245 Rz. 26. 38 Vgl. nur Hüffer a. a. O. Fn. 37, § 243 Rz. 57, § 319 Rz. 15.
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2. Nur auf Anfechtungsgründe gestützte Nichtigkeitsklagen In den – in der Praxis durchaus vorkommenden (oben II.2 a.E.) – Fällen, in denen die Klage zwar als Nichtigkeitsklage bezeichnet und die Feststellung der Nichtigkeit des Beschlusses beantragt wird, indessen offensichtlich keine Nichtigkeitsgründe i. S. v. § 241 AktG, sondern allenfalls Anfechtungsgründe i. S. v. § 243 AktG vorgetragen werden, sprechen gute Gründe dafür, dass die Klage als Anfechtungsklage zu behandeln ist. Auf Grund der Identität des mit der Nichtigkeits- und Anfechtungsklage verfolgten Rechtsschutzzieles 39 hat das Gericht – und das gilt dann auch für das Registergericht – im Wege der Auslegung der Klage zu klären, ob die Vorschrift des § 248 AktG oder § 249 AktG Anwendung findet40, die Klage also als Anfechtungs- oder Nichtigkeitsklage zu behandeln ist. Wenn aber offensichtlich keine Nichtigkeitsgründe geltend gemacht werden, liegt es nahe, die Klage trotz ihrer Bezeichnung als Nichtigkeitsklage als Anfechtungsklage zu behandeln. In den Fällen der nachgeschobenen Nichtigkeitsklage wäre dann aber die einmonatige Klagefrist für eine Anfechtungsklage bereits abgelaufen und auf dieser Basis kann die Negativerklärung gemäß § 319 Abs. 5 Satz 1 abgegeben werden, dass eine Klage nicht fristgemäß erhoben worden ist. Allerdings soll auch das hier nicht vertieft werden, da der hier aufgezeigte Lösungsweg im Fall der nachgeschobenen Nichtigkeitsklage dann nicht weiter hilft, wenn – was jedenfalls versierten Klägern nicht schwer fallen sollte – Nichtigkeitsgründe im Sinne von § 241 AktG zumindest behauptet werden. Ob sie tatsächlich vorliegen, ist dann für die Frage der Negativerklärung nicht relevant. 3. Begründung einer Klagefrist im Wege der Analogie a) Meinungsstand In der Rechtsprechung wird die Frage einer mit einer Analogie zu Vorschriften, die für aktienrechtliche Klagen eine Monatsfrist vorsehen (§ 246 Abs. 1 AktG und § 14 Abs. 1 UmwG), zu begründenden einmonatigen Klagefrist für die Nichtigkeitsklage bei nicht Umwandlungen (zu diesen sogleich) betreffenden Strukturmaßnahmen, soweit ersichtlich, bisher nicht behandelt. Auch die Literatur hat – mit einer Ausnahme41 – dieses Thema bisher nicht aufgegriffen. Der Appell an den Gesetzgeber, auch für die Nichtigkeitsklage die Klagefrist von einem Monat zumindest für die Strukturmaßnahmen, die einem Freigabeverfahren unterliegen, gesetzlich zu regeln, spricht allerdings eher dafür, dass diese Stimmen der Begründung einer Klagefrist im Wege der Analogie de lege lata nicht nähertreten wollen42. 39 40 41
Dazu BGH NJW 1997, 1510, 1511; NJW 1999, 1638. BGH a. a. O. Fn. 39. PachosJohannsen-Roth NZG 2006, 333.
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Nur in einem Literaturbeitrag wird die Frage einer analogen Anwendung von § 14 Abs. 1 UmwG auf die Fälle des § 246a AktG und des Squeeze out kurz aufgeworfen, im Hinblick auf § 249 Abs. 1 Satz 3 AktG jedoch verneint.43 Unter Hinweis auf die Gesetzesbegründung44 zu dieser Vorschrift wird angenommen, dass § 249 Abs. 1 Satz 3 AktG ausdrücklich nur „Praxisprobleme im Zusammenhang mit der Anfechtung verschmelzungsbegleitender Kapitalmaßnahmen lösen solle“. Da dem Gesetzgeber die Problematik des fehlenden Fristengleichlaufs für Anfechtungs- und Nichtigkeitsklagen bei anderen Strukturmaßnahmen bekannt gewesen sei, könne insoweit nicht von einer planwidrigen Regelungslücke ausgegangen werden.45 Ein weiterer Literaturbeitrag argumentiert nicht mit einer Analogie, sondern legt im Ergebnis § 319 Abs. 5 Satz 2 AktG einschränkend dahin aus, dass Klagen gegen den Eingliederungsbeschluss zu einer Registersperre nur dann führen, wenn sie innerhalb der einmonatigen Klagefrist erhoben worden sind.46 Eine andere Auslegung würde dazu führen, dass Kläger im Rahmen einer konzertierten Aktion durch immer neue Nichtigkeitsklagen das Freigabeverfahren institutionell leer laufen lassen könnten. Ein solches Gesetzesverständnis sei weder mit dem mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers noch mit dem Gebot effizienter Gesetzesauslegung zu vereinbaren. Diese Argumentation gründet deutlich auf dem Gedanken des Rechtsmissbrauchs und seiner (vorgezogenen) Vermeidung. Für eine generelle Einschränkung von § 319 Abs. 5 Satz 2 AktG im obigen Sinn ist das noch keine tragfähige Basis und die Argumentation würde auch für Nichtigkeitsklagen nicht passen, die aus lauteren Motiven erhoben werden. Die Frage der Begründung einer Klagefrist im Wege der Analogie besitzt daher auch angesichts der Literaturauffassung Relevanz. Ähnlich eher unergiebig ist der Befund zur Auseinandersetzung mit einer analogen Anwendung von § 14 Abs. 1 UmwG auf Fälle außerhalb des Umwandlungsgesetzes in der umwandlungsrechtlichen Rechtsprechung und Literatur. Veröffentlichte Rechtsprechung liegt auch hierzu nicht vor. In einem nicht veröffentlichten Urteil aus dem Jahr 2004 hat sich aber das Landgericht Berlin – zu Recht – für 42 Siehe oben unter III. 3. mit Nachw. in Fn. 26. In der aktienrechtlichen Kommentarliteratur wird an der Fristungebundenheit der Nichtigkeitsklage fest gehalten; vgl. Koppensteiner in Kölner Kommentar zum Aktiengesetz, 3. Aufl. 2004, § 319 Rz. 22; Grunewald in Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, 2. Aufl. 2000, § 319 Rz. 40; Fleischer in Großkommentar zum AktG, 4. Aufl. 2007, § 327 e Rz. 9. So auch Hüffer, Aktiengesetz, 8. Aufl. 2008, § 319 Rz. 14, und Habersack in Emmerich / Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 5. Aufl. 2008, § 319 Rz. 27, jeweils mit der Feststellung, dass eine dem § 14 Abs. 1 UmwG entsprechende Regelung im Aktiengesetz nicht vorgesehen sei. 43 Pachos / Johannsen-Roth NZG 2006, 333. 44 Begründung zum UMAG, BT-Drucks. 15 / 5092, S. 30. 45 Pachos / Johannsen-Roth NZG 2006, 333 Fn. 44. Siehe dazu oben unter lit. b cc. 46 Schockenhoff ZIP 2008, 1949. So wohl auch – allerdings ohne Begründung – Ziemons in K. Schmidt / Lutter (Hrsg.), Aktiengesetz, 2008, § 319 Rz. 31.
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eine analoge Anwendung von § 14 Abs. 1 UmwG auf den verschmelzungsbegleitenden Kapitalerhöhungsbeschluss ausgesprochen, da anderenfalls, also bei der Möglichkeit einer nicht fristgebundenen Nichtigkeitsklage gegen den Kapitalerhöhungsbeschluss, das Ziel von § 14 Abs. 1 UmwG, schnell Klarheit über die Durchführung eines Verschmelzungsbeschlusses zu erhalten, nicht erreicht werden könnte.47 Die h. M. in der umwandlungsrechtlichen Literatur lehnt dagegen eine Anwendung von § 14 Abs. 1 UmwG auf den verschmelzungsbegleitenden Kapitalerhöhungsbeschluss ab.48 Begründet wird das nur mit einem Hinweis auf die Gesetzesbegründung zu § 14 UmwG.49 Das ist freilich nicht nachvollziehbar. Die Gesetzesbegründung zu § 14 UmwG befasst sich nicht mit der Frage einer Klagefrist für Nichtigkeitsklagen gegen verschmelzungsbegleitende Kapitalerhöhungsbeschlüsse, sondern mit der weitergehenden Frage, ob Klagen gegen den Kapitalerhöhungsbeschluss beim übernehmenden Rechtsträger generell ausgeschlossen werden sollten.50 Damit hat die Gesetzesbegründung nicht zugleich einer analogen Anwendung von § 14 Abs. 1 UmwG auf Klagen gegen den Kapitalerhöhungsbeschluss eine Absage erteilt. b) Stellungnahme aa) Entstehungsgeschichte von § 319 Abs. 5 und 6 AktG Nach der Gesetzesbegründung steht für alle Klagearten und damit auch für die aktienrechtliche Nichtigkeitsklage die in § 14 Abs. 1 UmwG geregelte einmonatige Klagefrist in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der in § 16 Abs. 2 UmwG vorgesehenen Registersperre einer solchen Klage. Im Hinblick auf die Registersperre wird eine für alle Klagen geltende Klagefrist für erforderlich gehalten, „weil sonst die Eintragung und damit das Wirksamwerden der Verschmelzung auf unbestimmte Zeit hinausgeschoben würde“.51 Mit dem Gesetz zur Bereinigung des Umwandlungsrechts (UmwBerG) ist ab dem Jahr 1995 mit der Änderung von § 319 AktG durch Einfügung der Absätze 5 und 6 in die Vorschrift auch für die Eingliederung das System der Registersperre und deren Überwindung durch das Freigabe47 LG Berlin v. 25. 03. 2004 – 93 O 145 / 03, Urteilsumdruck S. 13. Vgl. auch LG Berlin BeckRS 2008, 11011, S. 1: Analoge Anwendung von § 246 Abs. 1 AktG auf Feststellungsklagen über eine pflichtwidrige Ausnutzung eines genehmigten Kapitals durch Vorstand und Aufsichtsrat. 48 Bork in Lutter, UmwG, 4. Aufl. 2009, § 14 Rz. 6; Marsch-Barner in Kallmeyer, UmwG, 3. Aufl. 2006, § 14 Rz. 8; Maulbetsch in Maulbetsch / Klumpp / Rose, UmwG, 2009, § 14 Rz. 8; Schöne DB 1995, 1317; a.A. – gegenüber der Voraufl. – nunmehr zu Recht Gehling in Semler / Stengel, UmwG, 2. Aufl. 2007, § 14 Rz. 22. 49 So Marsch-Barner a. a. O. Fn. 48. 50 Gesetzesbegründung zu § 14 UmwG, BT-Drucks. 12 / 6699, S. 87. 51 BT-Drucks. 12 / 6699, S. 87. Die „Zusammengehörigkeit“ von § 14 Abs. 1 UmwG und § 16 Abs. 2 UmwG betont auch K. Schmidt DB 1995, 1850.
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verfahren eingeführt worden.52 Auf Grund der Verweisung in § 327e Abs. 2 AktG auf § 319 Abs. 5 und 6 AktG gilt das auch für den Squeeze out. bb) Planwidrige Unvollständigkeit von § 319 Abs. 5 und 6 AktG Wenn die Geltung der einmonatigen Klagefrist des § 14 Abs. 1 UmwG auf die Einführung einer Registersperre bei der Verschmelzung (und den weiteren Umwandlungsarten) zurückzuführen ist53, drängt sich die Frage auf, warum nicht auch die Einführung der Registersperre bei der Eingliederung mit einer einmonatigen Klagefrist für die Nichtigkeitsklage verbunden worden ist. Denn auch bei der Eingliederung kann die nicht fristgebundene Nichtigkeitsklage das Wirksamwerden der Maßnahme auf unbestimmte Zeit hinausschieben. Dass einer solchen unterschiedlichen, sachlich ohnehin nicht überzeugenden Behandlung der Umwandlungsfälle einerseits und der Eingliederung andererseits (s. oben unter III.3) eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers bei Einführung von § 319 Abs. 5 und 6 AktG zugrunde gelegen hätte, lässt sich der Gesetzesbegründung54 nicht entnehmen. Auch lässt sich das Fehlen einer gesetzlichen Regelung über eine einmonatige Klagefrist für die aktienrechtliche Nichtigkeitsklage nicht in Einklang bringen mit der Zielsetzung des Freigabeverfahrens55, möglichst schnell eine Klärung über die Eintragungsfähigkeit der Strukturmaßnahme im Handelsregister und damit über deren Wirksamkeit herbeizuführen (s. oben unter III.3). Mit der Neufassung von § 319 Abs. 6 Satz 4 AktG durch das Zweite Gesetz zur Bereinigung des Umwandlungsrechts vom 19. April 200756, der für die Entscheidung im Freigabeverfahren eine „Soll-Frist“ von drei Monaten vorsieht, hat dieser Beschleunigungszweck des Freigabeverfahrens im Gesetz seinen ausdrücklichen Niederschlag gefunden und die Bedeutung des Beschleunigungszwecks des Freigabeverfahrens ist dadurch unterstrichen worden. Aus den vorstehenden Gründen ist die Annahme gerechtfertigt, dass in dem Fehlen einer gesetzlichen Regelung über eine einmonatige Klagefrist für Nichtigkeitsklagen gegen Eingliederungsbeschlüsse eine planwidrige Gesetzeslücke liegt. Bei den Regelungen des Umwandlungsgesetzes hat der Gesetzgeber erkannt, dass eine Registersperre und eine nicht fristgebundene Nichtigkeitsklage nicht zueinan52 Art. 6 Nr. 9 lit. c UmwBerG, BGBl. I 1994, S. 3210. Das übersieht Schöne DB 1995, 1319; seine Argumentation zur Ablehnung einer analogen Anwendung von § 14 Abs. 1 UmwG im GmbH-Recht greift daher bei der Eingliederung nicht. 53 Oben unter lit. aa). 54 Vgl. BT-Drucks. 12 / 6699, S. 179. 55 Vgl. Gesetzesbegründung zu § 16 Abs. 3 UmwG, BT-Drucks. 12 / 6699, S. 88 und S. 90 („Beschleunigungsgrundsatz“), auf die die Begründung zu § 319 Abs. 5 und 6 AktG verweist, a. a. O. S. 179. 56 BGBl. I 2007, S. 542.
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der passen und deshalb auch für die Nichtigkeitsklage die einmonatige Klagefrist eingeführt. Bei der Eingliederung ist dieses Konzept nicht vollständig umgesetzt worden, da in § 319 Abs. 5 und 6 AktG zwar das System der Registersperre ebenfalls übernommen worden ist, eine einmonatige Klagefrist für die Nichtigkeitsklage jedoch systemwidrig fehlt. Auf Grund der Verweisung in dem seit 2002 geltenden § 327e Abs. 2 AktG auf § 319 Abs. 5 und 6 AktG schlägt die hier festgestellte planwidrige Gesetzeslücke auch auf den Fall der Nichtigkeitsklage beim Squeeze out durch. cc) Entgegenstehender Wille des Gesetzgebers? Die Regelung in § 249 Abs. 1 Satz 3 AktG über die Wirkungen einer Nichtigkeitsklage gegen einen verschmelzungsbegleitenden Kapitalerhöhungsbeschluss, die für diesen Fall faktisch eine einmonatige Klagefrist begründet57, und die nach der Vorstellung des Gesetzgebers ein „Praxisproblem“ lösen soll (dazu oben unter III. 1 lit. b), steht der Annahme einer planwidrigen Gesetzeslücke, entgegen einer im Schrifttum vertretenen Ansicht58 bereits deshalb nicht entgegen, weil § 249 Abs. 1 Satz 3 AktG erst durch das Ende 2005 in Kraft getretene UMAG in das Aktiengesetz übernommen worden ist. Rückschlüsse auf die Frage einer planwidrigen Gesetzeslücke in der im Jahr 1995 geschaffenen Regelung zur Eingliederung (§ 319 Abs. 5 und 6 AktG) und seit 2002 auch für den Squeeze out geltenden Regelung können aus § 249 Abs. 1 Satz 3 AktG und der Gesetzesbegründung dazu daher nicht gezogen werden. Ohnehin lässt sich der Begründung zu § 249 Abs. 1 Satz 3 AktG nicht entnehmen, dass sich der Gesetzgeber mit dieser Regelung gleichzeitig gegen eine Klagefrist für die Nichtigkeitsklage bei anderen Strukturmaßnahmen aussprechen wollte.59 Außerdem handelt es sich bei der Frage, ob die Nichtigkeitsklage bei der Eingliederung und beim Squeeze out einer Klagefrist unterliegen muss, nicht nur um ein Praxisproblem, sondern um ein Problem der planwidrigen Gesetzeslücke. Es bleibt die Frage, welche Bedeutung dem Umstand beizumessen ist, dass die Bundesregierung den Vorschlag des Bundesrats, im ARUG für die aktienrechtliche Nichtigkeitsklage eine einmonatige Klagefrist gesetzlich zu regeln, zurückgewiesen hat.60 Daran die Begründung einer einmonatigen Klagefrist auch für die aktienrechtliche Nichtigkeitsklage bei der Eingliederung und beim Squeeze out scheitern zu lassen, hieße, das Untätigbleiben des Gesetzgebers trotz erkannten Handlungsbedarfs61 einfach hinzunehmen, was schon allein deshalb nicht überzeugen würde. Auch überzeugen die Argumente, mit denen der Gesetzgeber die 57 58 59 60 61
Siehe dazu oben III. 1 lit. b. Pachos / Johannsen-Roth NZG 2006, 333. Siehe dazu oben III.1 lit. b. Vgl. oben III. 4. Vgl. oben III. 4.
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Behandlung der Problematik in die nächste Legislaturperiode verschieben will, aus den bereits dargelegten Gründen nicht.62 Vor allem aber lässt die Gegenäußerung der Bundesregierung zum Vorschlag des Bundesrats nicht erkennen, dass der Gesetzgeber die planwidrige Lücke seiner gesetzlichen Regelung63 erkannt hätte und er hat sich auch nicht gegen eine einmonatige Klagefrist für die Nichtigkeitsklage ausgesprochen, sondern die Behandlung dieses Themas nur vertagt. Da sich aber die Frage der Ausfüllung einer planwidrigen Gesetzeslücke gerade dann stellt, wenn der Gesetzgeber untätig bleibt, obwohl wegen der Lücke ein Regelungsbedarf besteht, sind die Voraussetzungen für die Einführung einer einmonatigen Klagefrist für die Nichtigkeitsklage bei der Eingliederung und damit auch beim Squeeze out im Wege der Analogie gegeben. dd) § 14 Abs. 1 UmwG als Anknüpfungspunkt für die Analogie Führt man sich den oben aufgezeigten Zusammenhang zwischen der Einführung der Registersperre im Umwandlungsgesetz und der Einführung der einmonatigen Klagefrist auch für die aktienrechtliche Nichtigkeitsklage gegen Umwandlungsbeschlüsse und schließlich die Einführung der Registersperre für die Eingliederung durch das Gesetz zur Bereinigung des Umwandlungsgesetzes vor Augen64, sprechen die besseren Gründe dafür, als Anknüpfungspunkt für eine Analogie nicht § 246 Abs. 1 AktG, sondern § 14 Abs. 1 UmwG heranzuziehen. Daraus folgt dann auch, dass jedenfalls in den Fällen, in denen bei aktienrechtlichen Strukturmaßnahmen Nichtigkeitsklagen eine gesetzliche Registersperre auslösen, und damit bei der Eingliederung und beim Squeeze out, die Nichtigkeitsklage in analoger Anwendung von § 14 Abs. 1 UmwG einer Klagefrist von einem Monat unterliegt.65 4. Folgen für die Negativerklärung, Handelsregisteranmeldung und Handelsregistereintragung Aufgrund der analogen Anwendung von § 14 Abs. 1 UmwG auf die gegen einen Squeeze out-Beschluss gerichtete Nichtigkeitsklage ist eine nach Ablauf der Monatsfrist des § 14 Abs. 1 UmwG erhobene nachgeschobene Nichtigkeitsklage i. S. v. §§ 327 e Abs. 2, 319 Abs. 5 Satz 1 AktG nicht fristgemäß erhoben. Daher kann eine darauf gerichtete Negativerklärung in der Handelsregisteranmeldung Oben III. 4. Oben lit. bb. 64 Oben lit. aa. 65 Das umwandlungsrechtliche Analogieverbot des § 1 Abs. 2 UmwG steht einer analogen Anwendung von Vorschriften des UmwG auf außerhalb des Umwandlungsrechts gelagerte Sachverhalte nicht gegen; vgl. dazu Lutter / Drygala in Lutter, UmwG, 4. Aufl. 2009, § 1 Rz. 35. 62 63
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oder in einer Ergänzung zu einer dem Registergericht bereits vorliegenden Anmeldung abgegeben werden und die Handelsregistereintragung ermöglichen. Es empfiehlt sich, dabei die Argumentation mit der analogen Anwendung von § 14 Abs. 1 UmwG gegenüber dem Handelsregister offen zu legen. V. Exkurs: Hauptversammlungsbeschlüsse zu Kapitalmaßnahmen und Unternehmensverträgen Die in diesem Beitrag gezogene Schlussfolgerung, dass die Einführung einer Registersperre auch auf Grund einer aktienrechtlichen Nichtigkeitsklage mit der Einführung einer einmonatigen Klagefrist für die Nichtigkeitsklage einhergehen muss, lässt sich auf die in § 246a AktG geregelten Fälle der Kapitalmaßnahmen und Unternehmensverträge nicht übertragen. Der Gesetzgeber hat bewusst davon abgesehen, für Klagen gegen Hauptversammlungsbeschlüsse über Kapitalmaßnahmen und Unternehmensverträge in § 246a AktG eine Registersperre vorzusehen66. Daher wird man in dem Umstand, dass mit dem UMAG keine Klagefrist für Nichtigkeitsklagen gegen die vorgenannten Hauptversammlungsbeschlüsse eingeführt worden ist, keine planwidrige Gesetzeslücke sehen können, zumal dem Gesetzgeber bei Inkraftsetzung des UMAG die Problematik der nachgeschobenen Nichtigkeitsklage bekannt gewesen ist.67 In der Gesetzesbegründung zu § 246a AktG wird überdies ausdrücklich festgehalten, dass zur Verringerung des Missbrauchsrisikos bei Klagen gegen Hauptversammlungsbeschlüsse vielfältige Vorschläge unterbreitet worden seien, denen der Gesetzentwurf jedoch bewusst nicht folge.68 Da jedoch Klagen gegen Hauptversammlungsbeschlüsse über Kapitalmaßnahmen und Unternehmensverträge keine gesetzliche, sondern allenfalls eine faktische Registersperre auslösen können, indem das Registergericht eine Klage zum Anlass nimmt, von einer Handelsregistereintragung abzusehen, hat das Gericht die Möglichkeit, eigenverantwortlich die Erfolgsaussichten der Klage zu beurteilen. Bei dieser Prüfung kann das Registergericht dann auch entscheiden, ob die Klageerhebung rechtsmissbräuchlich ist69 oder ob es sich bei einer als Nichtigkeitsklage bezeichneten Klage unter Berücksichtigung der geltend gemachten Klagegründe doch nur um eine Anfechtungsklage handelt, die die für diese Klage geltende ein66 Gesetzesbegründung zu § 246a AktG, BT-Drucks. 15 / 5092 S. 27. Die faktische Registersperre aufgrund einer Nichtigkeitsklage hält Schockenhoff ZIP 2008, 1949 , für ausreichend, um im Geltungsbereich von § 246a AktG eine einmonatige Klagefrist für die Nichtigkeitsklage zu rechtfertigen. 67 Vgl. die Stellungnahme des Handelsrechtsausschusses des Deutschen Anwaltsvereins zum Regierungsentwurf des UMAG, die auf die Problematik der nachgeschobenen Nichtigkeitsklage hinweist, ZIP 2005, 780. 68 Gesetzesbegründung zu § 246a AktG, BT-Drucks. 15 / 5092 S. 29. Für die planwidrige Lückenhaftigkeit von § 319 Abs. 5 und 6 AktG zum Zeitpunkt der Schaffung dieser Regelungen hat das keine Bedeutung; siehe dazu oben IV.3 lit. b cc. 69 Dazu oben IV.1.
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monatige Klagefrist nicht eingehalten hat, und sodann auf dieser Entscheidungsgrundlage die Handelsregistereintragung vornehmen.70 VI. Ergebnis 1. Die Problematik der nachgeschobenen, zu einer (erneuten) Blockade der Handelsregistereintragung führenden Nichtigkeitsklage gegen einen Squeeze-outBeschluss (und gegen einen Eingliederungsbeschluss) resultiert daraus, dass das Gesetz in § 319 Abs. 5 AktG, auf den § 327 e Abs. 2 AktG für den Squeeze out verweist, für den Fall einer Anfechtungs- oder Nichtigkeitsklage zwar eine Registersperre vorsieht, die Nichtigkeitsklage jedoch – anders als gemäß § 14 Abs. 1 UmwG für Umwandlungsbeschlüsse – keiner Klagefrist unterliegt. 2. Ausweislich der Gesetzesbegründung zu § 14 Abs. 1 UmwG stehen die Registersperre einerseits und die einmonatige Klagefrist auch für die aktienrechtliche Nichtigkeitsklage andererseits in einem unmittelbaren Zusammenhang. Mit der einmonatigen Klagefrist soll verhindert werden, dass die Handelsregistereintragung und damit das Wirksamwerden der Umwandlung auf Grund der Registersperre auf unbestimmte Zeit hinausgeschoben wird. 3. Diesem Zusammenhang zwischen Registersperre und Klagefrist hat der Gesetzgeber bei den Fällen der Eingliederung und des Squeeze out nicht Rechnung getragen. Die Gesetzesbegründung zu § 319 Abs. 5 und 6 AktG lässt insoweit nicht erkennen, dass dem eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers zugrunde liegen würde. 4. Im Fehlen einer Klagefrist für die Nichtigkeitsklage gegen Eingliederungsund Squeeze-out-Beschlüsse liegt daher eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes. 5. Der Umstand, dass der Gesetzgeber bei den nach Einführung von § 319 Abs. 5 und 6 AktG erfolgten Änderungen des Aktiengesetzes keine Klagefrist für die Nichtigkeitsklage bei der Eingliederung und dem Squeeze out eingeführt hat, lässt keine Rückschlüsse auf die planwidrige Gesetzeslücke zum Zeitpunkt der Schaffung von § 315 Abs. 5 und 6 AktG zu und macht die Planwidrigkeit nicht etwa rückwirkend hinfällig. 6. Die Gesetzesbegründung zum Entwurf des ARUG spricht sich nicht etwa gegen eine einmonatige Klagefrist für die aktienrechtliche Nichtigkeitsklage aus, sondern will die Behandlung dieses Themas in die nächste Legislaturperiode verschieben. Diese Haltung des Gesetzgebers ändert nichts an der planwidrigen Gesetzeslücke, und da der Gesetzgeber deren Schließung derzeit nicht vornimmt, ist die Lückenfüllung im Wege der Analogie geboten. 70 Oben IV.2. Gleichwohl wäre auch im Interesse einheitlicher Regelungen auch für Beschlüsse zu Kapitalmaßnahmen und Unternehmensverträgen das System der Registersperre mit einer einmonatigen Klagefrist für die Nichtigkeitsklage wünschenswert.
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7. Auf Grund des Zusammenhangs zwischen der umwandlungsrechtlichen Registersperre im Falle von Klagen gegen Umwandlungsbeschlüsse und der in § 14 Abs. 1 UmwG geregelten einmonatigen Klagefrist auch für die Nichtigkeitsklage ist für die Begründung einer Klagefrist für die Nichtigkeitsklage gegen Eingliederungs- und Squeeze-out-Beschlüsse im Analogiewege § 14 Abs. 1 UmwG heranzuziehen. 8. Für die Nichtigkeitsklage gegen den Squeeze-out-Beschluss und gegen den Eingliederungsbeschluss gilt somit eine Klagefrist von einem Monat.
Die limitierte Akzessorietät der Teilnahme am Mord Von Diethelm Klesczewski Zum Ruf der Stadt Leipzig zählt es, Stadt des Rechts zu sein. Kennzeichnend dafür war immer auch der fruchtbare Einfluss, den die Universität Leipzig auf die Rechtsprechung ausübte. Was mit der Spruchtätigkeit des Leipziger Schöppenstuhls begann, setzte sich Ende des 19. Jahrhunderts in der Judikatur des Reichsgerichts fort. Nach der Wende, die ihren Anfang mit der mutigen Demonstration am 9. Oktober 1989 nahm, knüpfte Leipzig an diese Tradition wieder an. Zur Freude des Autors, seines Zeichens Strafrechtswissenschaftler, nahm nicht nur das Bundesverwaltungsgericht seinen Sitz an der Pleiße; auch der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofes verlegte seine Wirkungsstätte hierher. Zu den Aufgaben des BGH gehört es, für eine einheitliche Rechtsprechung zu sorgen, § 132 Abs. 4 GVG. Aus diesem Grund stellt eine langjährige ständige Rechtsprechung bereits für sich genommen einen hohen Rechtswert dar. Dies gilt selbst dann, wenn das wissenschaftliche Schrifttum nahezu einhellig eine andere Auffassung bevorzugt, wie es bei dem Thema meines Beitrages der Fall ist. Je länger ein Gericht der Kritik der Lehre trotzt, desto schwerer fällt es ihm, von den einmal aufgestellten Grundsätzen abzuweichen. Umso bemerkenswerter ist es, wenn ein Spruchkörper des Gerichts sich anschickt, die bisherige ständige Rechtsprechung aufzugeben, wie es der 5. Strafsenat mit einem viel beachteten obiter dictum getan hat, das den Anlass für meinen Beitrag gab.1 Ich werde zunächst die bisherige Rechtsprechung darstellen (I.), um mich sodann der Kritik des Schrifttums zuzuwenden (II.). Es wird sich zeigen, dass die vorgebrachten Einwände gegen die systematische Einordnung der §§ 211 f. teils neben der Sache liegen (II. 1.), teils, auf das Ganze gesehen, weitgehend nicht durchgreifen (II. 2.). Liegt der BGH mit seinem Verständnis des Mordes als selbstständiger Qualifikation größtenteils richtig, so stellt sich die Frage der Anwendung von § 28 StGB neu (III.). Eine nähere Untersuchung fördert schließlich zu Tage, dass man dem Anliegen des BGH besser gerecht wird, wenn man den durch den Grundsatz der limitierten Akzessorietät teleologisch reduzierten § 28 Abs. 2 StGB 1 BGH, JZ 2006, S. 629 m. Bespr. Wilfried Küper, JZ 2006, S. 1157; vgl. w. Hans Kudlich, Ilker Tepe, GA 2008, S. 92. – Soweit nicht anders gekennzeichnet sind Abkürzungen entsprechend Hildebert Kirchner / Cornelie Butz, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 5. Aufl., 2003, verwendet.
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als Rechtsfolgenverweisung versteht und bei Mordmerkmalen (MM) mit Schuldelementen (III. 1.) durch eine zusätzliche Anwendung von § 29 StGB ergänzt (III. 2.). I. Die Leitsätze der bisherigen Rechtsprechung Die bisherige ständige Rechtsprechung geht auf ein Urteil des 2. Strafsenates aus dem Jahre 1951 zurück.2 Danach ist ein Anstifter oder Gehilfe nur dann, aber auch stets dann wegen Teilnahme am Mord zu bestrafen, wenn der Haupttäter den Mordtatbestand vorsätzlich und rechtswidrig verwirklicht.3 Dem Strafgesetzbuch liegt, wie der BGH ausführt, seit der Strafrechtsangleichungsverordnung von 19434 der Grundsatz der limitierten Akzessorietät der Teilnahme zu Grunde, nach dem die Teilnahme abhängig ist vom Unrecht, nicht aber von der Schuld der Haupttat.5 Für den 2. Strafsenat sind alle Mordmerkmale reine Unrechtsmerkmale.6 Dementsprechend setzt die Teilnahme am Mord stets einen Mord als Haupttat voraus. Diese Deutung der Mordmerkmale begründet der 2. Strafsenat wie folgt: Mord und Totschlag seien, wie bereits ihr Wortlaut zeige, „selbständige Tatbestände mit verschiedenem Unrechtsgehalt“7. Ihr Verhältnis entspreche demjenigen des Diebstahles (§ 242 StGB) zum Raub (§ 249 StGB).8 Ebenso wenig wie die in § 249 Abs. 1 StGB umschriebenen Nötigungsmittel bloße Schulderhöhungsgründe seien, ebenso wenig seien die Mordmerkmale als solche anzusehen.9 Sind demnach für den BGH die Mordmerkmale als Unrechtsbestandteile strafbegründend, dann scheidet für ihn schließlich auch die Anwendung von § 50 Abs. 2 StGB a. F. (jetzt § 28 Abs. 2 StGB) aus.10 An dieser Rechtsprechung hat der BGH im Grundsatz auch nach dem Inkrafttreten des EGOWiG11 festgehalten. Lediglich die strenge Akzessorietät der Rechtsfolgenanordnung lockert der BGH nun auf, indem er bei den Motiv- und Absichtsmerkmalen des Mordes § 28 Abs. 1 StGB anwendet.12 Fehlt dem Teilnehmer eines dieser besonderen persönlichen Merkmale, dann wird die Strafe gemäß § 49 Abs. 1 2 BGHSt. 1, 368 m. Anm. Horst Schröder, JZ 1952, S. 649 f.; Helmut v. Weber, MDR 1952, S. 165 f.; m. Bespr. Hans Welzel, JZ 1952, S. 72. 3 BGHSt. 1, 368 (370): Der 2. Senat lehnt daher bei MM jedwede Akzessorietätslockerung ab, s. Küper, JZ 1991, S. 761 (765). 4 Verordnung vom 29. Mai 1943 (RGBl. I, S. 339). 5 BGHSt. 1, 368 (369 f.). 6 BGHSt. 1, 368 (371). 7 BGHSt. 1, 368 (370). 8 Ebenda. 9 BGHSt. 1, 368 (370 f.) in Kritik an Richard Lange, JR 1949, S. 165. 10 BGHSt. 1, 368 (372). 11 Gesetz vom 14. 6. 1968 (BGBl. I, S. 503). 12 BGHSt. 22, 375 (381). m. Bespr. R. Gehrling, JZ 1969, S. 416 u. Horst Schröder, JZ 1969, S. 418.
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Nr. 1 StGB gemildert, wobei freilich die Sperrwirkung der Strafrahmenuntergrenze des § 212 Abs. 1 StGB zu beachten sei.13 Von dieser Strafmilderung sieht der BGH dabei nicht nur dann ab, wenn der Teilnehmer dasselbe Mordmerkmal wie der Haupttäter verwirklicht, sondern auch dann, wenn er ein anderes der 1. oder 3. Gruppe erfüllt.14 II. Die Kritik des Schrifttums Gegen diese Rechtsprechung ist die Lehre schon von Anfang an Sturm gelaufen. Dabei hat sie sich nicht gescheut, die Rechtsprechung polemisch zu verzerren (1.). Lässt man dieses Blendwerk hinter sich, kommt man zur überraschenden Einsicht, dass der 2. Strafsenat die eigenständige Natur des Mordes zu Recht betont (2.). 1. Die Fragwürdigkeit der Exklusivitätsthese Bereits in einer der ersten Besprechungen des Urteils des 2. Strafsenats hat Welzel dem BGH unterstellt, er betrachte den Totschlag und den Mord als zwei sich einander ausschließende Tatbestände.15 Der Wahrheitsgehalt dieser Exklusivitätsthese steht im umgekehrten Verhältnis zu der Beliebtheit, der sie sich im Schrifttum bis heute erfreut.16 Es ist zwar einzuräumen, dass der BGH mit seiner Formel, Mord und Totschlag seien „selbständige Tatbestände mit verschiedenem Unrechtsgehalt“ diese Deutung ein wenig nahe gelegt hat. Wie Küper jedoch bereits 1991 eindringlich dargetan hat, wollte der BGH damit keinesfalls der Exklusivität beider Tatbestände das Wort reden.17 Wie dargelegt, versteht er das Verhältnis zwischen § 211 und § 212 StGB vielmehr in Entsprechung zu dem zwischen § 249 und § 242 StGB. Bei der Bildung von Tatbestandsgruppen unterscheidet man zwischen unselbständigen und selbständigen Qualifikationen18, wobei sich für letztere auch der Begriff des eigenständigen Delikts (delictum sui generis) finden lässt.19 Gilt der BGH, NStZ 2006, S. 34 (35), 288 (289) m. abl. Anm. Ingeborg Puppe. BGHSt. 23, 39 (Problematik der sog. gekreuzten Mordmerkmale). 15 Welzel, JZ 1952, S. 72 (72, 73 u. ö.). 16 Neben Welzel insbes. Werner Beulke / Thomas Hillenkamp, JuS 1975, S. 312 (313); Klaus Geppert / Hartmut Schneider, Jura 1986, S. 108; Burckhardt Jähnke, in: Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, 11. Aufl., hrsg. v. Jähnke / Laufhütte / Odersky, 1992, Vor § 211 Rn. 43; Reinhart Maurach, JuS 1969, S. 254; Reinhart Maurach / Friedrich Christian Schroeder / Manfred Maiwald, Strafrecht Besonderer Teil, Band 1, S. 28; Puppe, JR 1984, S. 233; Walter Sax, ZStW 64 (1952), S. 339. 17 Küper, JZ 1991, S. 761 (764). 18 Hans-Hermann Jescheck / Thomas Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Aufl., 1996, § 26 III 2; Jürgen Baumann / Ulrich Weber / Wolfgang Mitsch, Strafrecht Allgemeiner Teil, 11. Aufl., 2003, § 8 Rn. 79; Reinhart Maurach / Heinz Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil Band 1, 8. Aufl., 1992, § 20 Rn. 46; Eberhard Schmidhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrbuch, 2. Aufl., 1975, Rn. 5 / 57; Johannes Wessels / Werner Beulke, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 38. Aufl., 2008, Rn. 111. 13 14
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Raub dabei als Paradebeispiel für eine selbstständige Qualifikation des Diebstahls20, und entspricht das Verhältnis des Mordes zum Totschlag dem jener beiden Straftaten, geht auch der BGH davon aus, dass der Mord alle Merkmale des Totschlages in sich enthält,21 und nimmt folglich keine Exklusivität zwischen diesen beiden Delikten an. Ein Gutteil der Attraktivität der Exklusivitätsthese besteht in den aberwitzigen Konsequenzen, die man aus ihr ableiten kann. Als eine ihrer Folgen wird ausgemacht, dass es eine Mittäterschaft zwischen jemanden der ohne Mordmerkmale und seinem Kumpanen der unter Verwirklichung eines Mordmerkmales töte, nicht geben könne.22 Zum anderen wird auf Irrtumsfälle hingewiesen. Wer in einem anderen den Tötungsvorsatz in der irrigen Annahme hervorrufe, dieser handle aus Habgier, der könne nur wegen versuchter Anstiftung zum Mord verurteilt werden, nicht auch wegen vollendeter Anstiftung zum Totschlag.23 Diese Konsequenzen sind ersichtlich absurd. Der BGH hat sie weder in der einen24 noch in der anderen Konstellation25 gezogen und musste sie nach seinem Ansatz auch nicht ziehen. Das haben ihm Teile des Schrifttums leider schlecht vergolten: Statt die Stichhaltigkeit des Exklusivitätsvorwurfs zu überdenken, erlag man dessen Blendkraft und legte nun zudem noch dem BGH mangelnde Folgerichtigkeit zur Last.26 2. Mord als selbständige Qualifikation Hat man die Exklusivitätsthese erst einmal in der Mottenkiste der Dogmengeschichte verschwinden lassen, so wird der Blick frei auf die eigentliche dogmatische Konstruktion des BGH: dem Verständnis des Mordes als selbständiger Qualifikation des Totschlages. Begründet wird dies vor allem mit dem Verweis auf den Wortlaut der §§ 211 f. StGB. „Wer in einer in § 211 StGB beschriebenen Weise einen Menschen tötet, wird nach dieser Bestimmung ,als Mörder‘ bestraft, wer vorsätzlich tötet, nach § 212 StGB ,als Totschläger.‘27 Dieses Argument ist zu Recht als zu dürftig empfunden worden.28 Die bloße unterschiedliche Benennung besagt 19 Jescheck / Weigend, (Fn. 18), § 26 III 3; krit. zum Gebrauch des Begriffs delictum sui generis, Bernd Haffke, JuS 1973, S. 403 (407); Günther Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl., 1991, Rn. 6 / 98; Claus Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band 1, 4. Aufl., 2006, § 10 Rn. 136. 20 Jescheck / Weigend, (Fn. 18), § 26 III 3. 21 So ausdrücklich BGHSt. 36, 231 (233 f.) m. Anm. Beulke, NStZ 1990, S. 278; Gerhart Timpe, JZ 1990, S. 97; m. Bespr. Georg Küpper, JuS 1991, S. 639; Ralf Schmitz, JA 1990, S. 62. 22 Karl-Heinz Gössel, ZIS 2008, S. 153 (156, 159); Timpe (Fn. 21). 23 Gössel, ZIS 2008, S. 153 (158 f.). 24 BGHSt. 36, 231 (235). 25 BGHSt. 50, 1 (4) m. Anm. Christian Jäger, JR 2005, S. 477; Puppe, JZ 2005, S. 902. 26 Gössel, ZIS 2008, S. 153 (158 f.); Puppe, JZ 2005, S. 902 (903) m. w. N. 27 BGHSt. 1, 368 (370). 28 Welzel, JZ 1952, S. 72 (73).
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nichts darüber, ob nicht jeder Mörder immer auch ein Totschläger ist. Gegenüber der Tatbestandstechnik bei anderen Delikten fällt zwar der auf den Täter abhebende Sprachgebrauch ebenso auf, wie die sonst bei Grunddelikten unübliche Formel „ohne Mörder zu sein“ im § 212 Abs. 1 StGB. Beides beruht freilich auf der nationalsozialistischen Geisteshaltung des historischen Gesetzgebers: Es sollte ein Täterstrafrecht geschaffen werden, bei dem die Verhängung von Todesstrafe wegen Mordes den Regelfall zu bilden hatte.29 Beide Gesichtspunkte dürfen heute naturgemäß nicht mehr maßgebend sein.30 In einem Rechtsstaat straft man einzig wegen der Tat, und zwar schuldangemessen.31 Auf diesem Hintergrund gewinnt ein Umstand an Bedeutung, auf den Puppe hingewiesen hat: Wer Mörder bzw. Totschläger ist, das definieren die §§ 211 f. StGB unter ausschließlichen Hinweis auf die Tat, die man zu begehen hat. Dementsprechend lassen sich diese beiden Bezeichnungen ohne weiteres als tatstrafrechtliche Begriffe interpretieren.32 Um den Mord als selbständige Qualifikation auszuweisen bedarf es daher einer materiellen Begründung.33 a) Sucht man in der einschlägigen Literatur nach sachhaltigen Kriterien für die Unterscheidung der selbständigen von der unselbständigen Qualifikation, ist das Resultat zumeist wenig befriedigend. Wenn überhaupt ein Kennzeichen für eine eigenständiges Delikt benannt wird, dann die Gesetzessystematik34, bzw. die selbständige Anordnung der Rechtsfolgen und Prozessvoraussetzungen.35 Zur Wahrung der Einheit der Angriffsrichtung sei im Zweifel von einer Unselbständigkeit der Abwandlung auszugehen.36 Diese Kriterien benennen freilich lediglich Folgerungen aus einer materialen Unterscheidung verschiedener Delikte, setzen deren Prinzip daher voraus. b) Hierzu hat Gössel unlängst weiterführende Überlegungen angestellt:37 Er geht davon aus, dass das Strafrecht Rechtsgüter dadurch schützt, dass es Verbote oder Gebote mit Strafe bewehrt. Dementsprechend besteht der Mindestgehalt eines jeden Unrechttatbestandes in einem rechtsgutsbezogenen normwidrigen Verhalten. Eine Abwandlung lässt sich danach nur dann als eigenständig ansehen, wenn ihre Differenz zum Grunddelikt nicht nur quantitativer Natur ist, sondern entweder in Fritz Grau / Karl Krug / Otto Rietzsch, Deutsches Strafrecht, Band I, 2. Aufl., 1943, S. 305. Zutr. Welzel, JZ 1952, S. 72 (73). 31 Vgl. nur Adolf Schönke / Horst Schröder / Walter Stree, Strafgesetzbuch Kommentar, 26. Aufl., 2006, Vor § 13 Rn. 1 – 3. 32 Puppe, JZ 2005, S. 902 (903). 33 Gössel, ZIS 2008, S. 153 (154). 34 Jescheck / Weigend, (Fn. 18), § 26 III. 2; ähnlich: Walter Gropp, in: Festschrift für Manfred Seebode zum 70. Geburtstag, hrsg. v. Hendrik Schwieder u.a., 2008, S. 125 (127 f.). 35 Maurach / Zipf, (Fn. 18), § 20 Rn. 46. 36 Maurach, in: Materialien zur Strafrechtsreform, Band 1, hrsg. v. Bundesministerium für Justiz, 1954, S. 231 (234). 37 Gössel, ZIS 2008, S. 153 (155 f.). 29 30
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einer andersartigen Weise des Angriffs auf dasselbe Rechtsgut besteht oder aber darin, dass die grunddeliktstypische Verletzung eines Rechtsgutes mit der eines anderen Rechtsgutes verknüpft wird. Folgerichtig klassifiziert er den Raub als ein eigenständiges Delikt gegenüber dem Diebstahl, weil in § 249 StGB zu dem in § 242 StGB geschilderten Eigentumsangriff in Form der Wegnahme in Zueignungsabsicht ein Angriff auf die Freiheit in Form der Nötigung (§ 240 StGB) als Mittel der Wegnahme hinzutritt. In diesem Zusammenhang sieht Gössel ein entscheidendes Argument gegen die Eigenständigkeit des Mordes gegenüber dem Totschlag. Wie sich aus dem Folgenden ergibt, greift dies zu kurz. c) Ganz ähnlich wie Gössel sehe ich die Aufgabe des Tatbestandes darin, einen bestimmten Angriff auf ein fremdes Rechtsgut zu umschreiben.38 Dadurch unterscheiden sich die verschiedenen, im StGB zu findenden Grunddelikte (z. B. §§ 212 Abs. 1, 223 Abs. 1, 303 Abs. 1 StGB). Soweit ein Tatbestand hierzu nur Umstände schildert, die den Erfolgs-, Handlungs- oder Gesinnungsunwert erhöhen (z. B. §§ 226 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 3, 225 Abs. 1 3. Var. StGB) kann es sich bei ihm allenfalls um eine unselbständige Qualifikation handeln. Kombiniert dagegen ein Tatbestand den Angriff auf ein Rechtsgut mit dem Angriff auf ein anderes Rechtsgut, wie es beispielsweise beim Raub der Fall ist, hat der Gesetzgeber ihn nicht nur zu einem Grunddelikt in Beziehung zu setzen.39 Nimmt eine Abwandlung zwei Tatbestände in sich auf, hat der Gesetzgeber ihr Verhältnis zueinander eigenständig zu bewerten, was er typischerweise in der Gesetzessystematik und in besonderen Rechtsfolgen zum Ausdruck bringt. Wendet man diese Überlegungen auf die verschiedenen Varianten des Mordes an, so ergibt sich, dass § 211 Abs. 2 StGB, sieht man von drei Ausnahmen ab, jeweils selbständige Qualifikationen enthält. aa) Beginnen wir mit der Tötung aus Habgier. Habgierig tötet, wessen Tätigkeit von einer ungewöhnlichen, ungesunden und sittlich anstößigen Steigerung des Erwerbssinnes dominiert ist.40 Das Motiv liegt stets vor, wenn der Täter von der Absicht beherrscht wird, sich rechtswidrig zu bereichern.41 Einen Hauptanwendungsfall bildet der Raubmord.42 Ist dem so, wird man hier dasselbe konstatieren müssen wie dort: So wie der Diebstahl durch die Nötigung mittels Gewalt oder Drohung eigenständig zum Raub qualifiziert wird, so (umgekehrt) eben auch der Totschlag zum Mord durch das weitergehende Ziel, sich fremdes Vermögen einzuverleiben. Hiergegen lässt sich nicht einwenden, Habgier sei (nur) ein Beweggrund und könne nicht mit einer Bereicherungsabsicht gleichgesetzt werden. Wie Dreher bleibend herausgearbeitet hat, muss sich jeder erfolgsgerichtete niedrige Beweggrund in einer besonderen Absicht konkretisieren, damit ein Tatbezug festDiethelm Klesczewski, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2008, Rn. 1, 13, 77. Vgl. Klesczewski, Strafrecht, Besonderer Teil, 3. Aufl., 2006, S. 8 f. 40 BGHSt. 29, 317 (318). 41 Vgl. HansOLG Hamburg, NJW 1947 / 48, S. 350; näher: Karl Lackner / Kristian Kühl, Strafgesetzbuch mit Erläuterungen, 26. Aufl., 2007, § 211 Rn. 4 m. w. N. 42 Maurach / Schroeder / Maiwald, (Fn. 16), § 2 Rn. 33. 38 39
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stellbar ist.43 Ferner lässt sich dagegen nicht geltend machen, § 249 Abs. 1 StGB verbinde die Gewaltnötigung ursächlich mit der Wegnahme, woran es beim Habgiermord fehle.44 Zum einen gilt es in der Praxis als ausgemacht, dass die Verknüpfung zwischen Gewalt und Wegnahme beim Raub keine kausale sein müsse, sondern eine finale ausreiche.45 Zum anderen liegt der ursächliche Zusammenhang beim Raubmord bereits mit der Tötung des Opfers vor. Denn mit dessen Ableben ist auch der Gewahrsam an der vom Täter anzueignenden Sache aufgehoben. Nichts anderes gilt hier für andere Konstellationen des Habgiermordes (Hervorrufen des Erb- bzw. des Versicherungsfalles, Lohnkiller): Jedes Mal ist der Tod des Opfers Ursache für die (erstrebte) Bereicherung des Täters. bb) Ganz ähnlich liegt es beim Töten zur Befriedigung des Geschlechtstriebes. Ein Hauptanwendungsfall ist hier die Vergewaltigung mit tödlichem Ausgang.46 Wie bei ihr zur einfachen Nötigung der Angriff auf die sexuelle Selbstbestimmung hinzukommt, so auch beim Lustmord. Ähnlich liegt es bei der anderen Konstellation, dem Töten, um sich an der Leiche zu vergehen.47 Denn hier tritt zum Angriff auf das Leben ein Angriff auf das in § 168 Abs. 1 StGB geschützte Pietätsempfinden der Allgemeinheit hinzu.48 cc) Auch bei der grausamen Tötung lässt sich ein doppelter Rechtsgutsangriff nachweisen: den auf das Leben und den auf die Körperintegrität. Zwar ist auch beim Totschlag eine Körperverletzung naturgemäß Durchgangsstadium zum Ableben. Grausam tötet aber erst, wer aus gefühlloser und unbarmherziger Gesinnung dem Opfer besonders starke Schmerzen körperlicher oder seelischer Art zufügt49, die in ihrem Ausmaß zur Tötung nicht erforderlich sind.50 Indem der Mörder hier die Körperverletzung zum Selbstzweck macht, kombiniert er einen „exzesshaften“ Angriff auf die Körperintegrität mit der auf das Leben. dd) Ferner zeigt sich auch die Tötung mit gemeingefährlichen Mitteln als gedoppelter Rechtsgutsangriff: Derartige Mittel zeichnen sich nämlich dadurch aus, dass Eduard Dreher, JR 1970, S. 146 (148). So wohl Gössel, ZIS 2008, S. 153 (156). 45 BGHSt. 4, 210 (211); zust. Gerhard Geilen, Jura 1979, S. 165 (221); Wolfgang Mitsch, BT 2, Teilband 1, Rn. 3 / 38; Rudolf Rengier, Strafrecht Besonderer Teil I, 10. Aufl., 2007, Rn. 7 / 14; Bernd Schünemann, JA 1980, S. 349 (351); Johannes Wessels / Thomas Hillenkamp, Strafrecht Besonderer Teil, Band 2, Rn. 322; a.A. Urs K. Kindhäuser, in: Nomos Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2. Aufl., hrsg. v. Kindhäuser / U. Neumann / Paeffgen, 2005, Vor § 249 Rn. 24 m. w. N. 46 Vgl. nur BGHSt. 19, 101 (105); Harro Otto, Grundkurs Strafrecht. Die einzelnen Delikte, 7. Aufl., 2005, § 4 Rn. 8. 47 Vgl. dazu BGHSt. 50, 80 (88) m. Anm. Hans Kudlich, JR 2005, S. 342; Otto, JZ 2005, S. 799. 48 Zum Rechtsgut des § 168 StGB vgl. BGHSt. 50, 80 (89); zust. Lackner / Kühl, (Fn. 41), § 168 Rn. 1 m. w. N. 49 BGHSt. 3, 180 (181); 3, 264 (264 f.); 49, 189 (196); BGH bei Holtz, MDR 1987, S. 623 m. w. N.; zust. Jähnke, in: LK, (Fn. 16), § 211 Rn. 56. 50 BGH, StV 1997, S. 565 (566); BGH, NStZ 2008, S. 29 m. Anm. Hartmut Schneider. 43 44
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sie nach den konkreten Umständen der Tat geeignet sind, Leib51 oder Leben einer Mehrzahl von Menschen zu gefährden, ohne dass der Täter diese Gefahren beherrschen kann.52 Gleichgültig, ob man in der Gefährdung einer Vielzahl anderer einen Angriff auf deren Rechtsgüter erblickt53, oder ob man darin eine Beeinträchtigung des ungestörten Zusammenlebens in der Gesellschaft sieht54, sind beide Male neben dem Angriff auf das Leben des Opfers auch andere Rechtsgüter durch die gemeingefährliche Begehungsweise mit betroffen. ee) Darüber hinaus steht es der Tötung zur Ermöglichung einer anderen Straftat auf die Stirn geschrieben, dass der Angriff auf das Leben des Opfers Mittel zu einem Angriff auf ein anderes strafrechtlich geschützte Rechtsgut ist. Nicht zuletzt gilt dies aber auch für den Verdeckungsmord. Denn hier wird der Angriff auf das Leben kombiniert mit einer Behinderung der Rechtspflege.55 ff) Demgegenüber fehlt dem Handeln aus Mordlust definitionsgemäß den Bezug zu einem anderen Rechtsgut. Mordlust liegt vor, wenn die Tötung einer anderen Person als solche den alleinigen Tatantrieb bildet, ein darüber hinausgehender Tatzweck fehlt, und daher eine prinzipielle, vom individuellen Träger gelöste Missachtung fremden Lebens zum Ausdruck kommt.56 Ferner steht bei dem Töten aus sonstigen niedrigen Beweggründen in Frage, ob hier ein zusätzlicher Rechtsgutsangriff das Handeln kennzeichnet. Sonstige niedrige Beweggründe sind diejenigen Motive, die nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe stehen, durch hemmungslose, triebhafte Eigensucht bestimmt und deshalb besonders verwerflich, ja verächtlich sind.57 Da die Rechtsprechung derartige Triebfedern durch eine Gesamtwürdigung feststellt58, hängt die Antwort auf diese Frage vom jeweiligen Einzelfall ab. Soweit sonstige niedrige Beweggründe in Analogie zu den zuvor besprochenen MM gebildet werden59, wird man eine selbstständige Abwandlung bejahen können, im Übrigen dagegen im Zweifel nicht. Schließlich lässt sich auch bei der heimtückischen Tötung kein gedoppelter Rechtsgutsangriff aufweisen. Gleichgültig, ob man Heimtücke wie die RechtspreDies hält nicht für ausreichend: Rengier, (Fn. 45), § 4 Rn. 46 m. w. N. BGHSt. 34, 13 (14); 38, 353 m. Anm. Rengier; BGH, NJW 1985, S. 1477 (1478) m. w. N.; BGH, JuS 2006, S. 88. 53 Dazu näher: Gunther Arzt / Ulrich Weber, Strafrecht Besonderer Teil, § 35 Rn. 88 ff. 54 Vgl. Entwurf 1962, BT-Drucks. IV / 650, S. 461 f. Ähnlich zuvor schon: Reinhard Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 18. Aufl., 1931, Vor § 306 Anm. II. 55 Vgl. Klesczewski, BT, (Fn. 39), S. 20; Lackner / Kühl, (Fn. 41), § 211 Rn. 12 m. w. N. 56 BGHSt. 34, 59 (61 m. w. N.); 47, 128 (133); näher: Klesczewski, in: ders., Affekt und Straftat, 2004, S. 57 (74). 57 BGHSt. 3, 132 (132 f.); 47, 128 (130); BGH, NStZ 2004, S. 34. 58 BGH, NStZ 1992, S. 182 m. w. N. 59 Z. B. Töten, um sich sexuell zu erregen (Schönke / Schröder / Eser, [Fn. 31], § 211 Rn. 16, 19), Verdeckung einer Ordnungswidrigkeit (vgl. BGH, NStZ 1992, S. 127 m. Anm. Hohmann, NStZ 1993, S. 183). 51 52
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chung definiert als ein Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers in feindlicher Willensrichtung60, oder ob man wie im Schrifttum vertreten, einen besonderen Vertrauensbruch61, den Missbrauch „sozial positiver Verhaltensmuster“62 oder ein besonders verschlagenes Verhalten63 verlangt, stets geht es („lediglich“) um eine Vorgehensweise, in welcher der Täter in unterschiedlich graduierter Weise unter Verdeckung seiner wahren Absichten agiert. Das Vortäuschen von Respekt vor dem Anderen bzw. von Loyalität etc. ist zwar die Beeinträchtigung eines Grundelements des rechtlichen Miteinanders.64 Gleichwohl liegt darin ebenso wenig ein straftatbestandsmäßiges Handeln, wie auch nicht ersichtlich ist, wie dadurch ein eigenständiges Rechtsgut verletzt werden kann. Vielmehr handelt es sich bei der Heimtücke „nur“ um eine besonders gefährliche Art und Weise, den Tötungsentschluss umzusetzen.65 Nach den oben entwickelten Kriterien lässt die heimtückische Tötung daher „allenfalls“ als unselbständige Qualifikation kennzeichnen. gg) Es ergibt sich ein überraschendes Fazit: Sieht man von den zuletzt genannten drei MM ab, dann lag der 2. Strafsenat intuitiv richtig: Der Mord stellt eine selbständige Abwandlung des Totschlages dar. III. Folgerungen für die Teilnahme am Mord Der BGH leitet aus der Einordnung des Mordes als selbständige Abwandlung, wie dargestellt, her, dass die MM strafbegründend seien, weswegen er bei der Teilnahme zum Mord § 28 Abs. 1 StGB anwendet, soweit der Haupttäter ein MM der 1. und 3. Gruppe erfüllt.66 Diese Vorschrift lockert die Akzessorietät der Teilnahme, falls dem Anstifter oder dem Gehilfe ein besonderes persönliches Merkmal (bpM) fehlt, welches die Strafbarkeit des Haupttäters begründet. Demgegenüber präferiert die weit überwiegende Auffassung im Schrifttum in diesen Fällen die Anwendung von § 28 Abs. 2 StGB, nach dem die Akzessorietät durchbrochen wird, so dass die strafschärfende Wirkung eines bpM nur bei demjenigen Beteiligten eintritt, der es in eigener Person verwirklicht.67 Beide Absätze dieser Norm stellen – 60 So BGHSt. (GS) 30, 105 (119); zust. Hartmut Schneider, in: Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, hrsg. v. Klaus Miebach / Günther M. Sander, 2003, § 211 Rn. 122 m. w. N. 61 Schönke / Schröder / Eser, (Fn. 31), § 211 Rn. 26 m. w. N.; nahe stehend Günther Jakobs, JZ 1984, S. 996. 62 Maria-Katharina Meyer, JR 1979, S. 441 (485). 63 Ulfried Neumann, in: Nomos Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2. Aufl., hrsg. v. Kindhäuser / U. Neumann / Paeffgen, 2005, § 211 Rn. 72; Wolfgang Schild, JA 1991, S. 48 (51); Manfred Seebode, StV 2004, S. 596 (597); Johannes Wessels / Michael Hettinger, Strafrecht Besonderer Teil, Band 1, 32. Aufl., 2008, Rn. 114. 64 Klesczewski, BT, (Fn. 39), S. 17. 65 BGHSt. (GS) 11, 139 (143). 66 BGHSt. 22, 375 (381).
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jeder auf seine Weise – Ausnahmen zum Prinzip der limitierten Akzessorietät dar. Das deutsche Recht hat diesen Grundsatz dabei mit guten Gründen68 so ausgeformt, dass die Teilnahme strikt Vorsatzunrecht des Haupttäters voraussetzt (vgl. §§ 26 f. StGB), während im Bereich der Schuld die Akzessorietät durchbrochen ist, vgl. § 29 StGB69. Ist die Akzessorietät der Teilnahme grundsätzlich auf das Unrecht der Haupttat limitiert, muss daher bei der Teilnahme am Mord in erster Linie danach unterschieden werden, inwiefern die MM dem Unrecht- oder dem Schuldbereich zugehören (1.) Soweit ein MM danach zum Unrecht zählt, ist darüber hinaus zu fragen, inwiefern es seiner besonderen Struktur nach gestattet, von der Akzessorietät zu einer Haupttat abzusehen (2.). Sofern danach die Lösung von Fällen, in denen lediglich der Teilnehmer ein MM aufweist, unbefriedigend bleibt, ist schließlich zu erwägen, inwiefern hier nicht ein Sonderfall mittelbarer Täterschaft gegeben ist (3.). 1. Mordmerkmale als Unrechts- bzw. Schuldelemente Während eine vereinzelt im Schrifttum vertretene Ansicht alle MM als Bestandteile der Schuld ansieht (a)), ordnet eine breitere Meinungsgruppe in der Wissenschaft immerhin die MM der 1. und der 3. Gruppe der Schuld zu (b)). Demgegenüber sieht der BGH unter dem Beifall vieler Stimmen in der Lehre alle MM als Unrechtsmerkmale an (c)). Zutreffend ist es, die MM als Mischung aus Unrechtsund Schuldelementen anzufassen (d)). a) Nach einer von Richard Lange begründeten Auffassung sind alle MM als Schuldmerkmale einzuordnen.70 Das Rechtsgut Leben sei der Höchstwert unserer Rechtsordnung, die in § 212 Abs. 1 StGB geschilderte vorsätzliche Tötung desselben daher höchstes, nicht mehr steigerbares Unrecht. Folglich könnten MM nur Schuldsteigerungen sein.71 Dem ist in dieser Allgemeinheit nicht zuzustimmen. Höchstwert unserer Verfassung ist die Würde des Menschen.72 Demgemäß wider67 Jähnke, in LK, (Fn. 16), Vor § 211 Rn. 39; Lackner / Kühl, (Fn. 41), Vor § 211 Rn. 22; MünchKommStGB / Schneider, (Fn. 59), Vor §§ 211 ff. Rn. 135 ff.; jeweils m. w. N.; Schönke / Schröder / Eser, (Fn. 31), Vor §§ 211 ff. Rn. 3. 68 Überblick bei: Klesczewski, AT, (Fn. 38), Rn. 669; ausführlich: ders., Selbständigkeit und Akzessorietät der Beteiligung an einer Straftat, Habilitationsschrift Hamburg 1997 (abrufbar unter. www.lz-rechtsphilosophie.de), S. 21 ff. 69 Näher: Klesczewski, AT, (Fn. 38), Rn. 763 ff. 70 Lange, JR 1947, S. 165; zuletzt: ders., in: Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, 9. Aufl., hrsg. v. Paulheinz Baldus / Günther Willms, 1974, § 211 Rn. 3; zust. Engisch, GA 1955, S. 165; Oehler, Das objektive Zweckmoment der Handlung, 1960, S. 148; Hardwig, ZStW 68 (1954), S. 14. 71 Dieser Argumentation zust. Brigitte Kelker, Zur Legitimität von Gesinnungsmerkmale im Strafrecht, 2007, S. 586 ff.; Michael Köhler, JuS 1983, S. 762 (763); Karl Lackner, NStZ 1981, S. 348. 72 Näher dazu: Christoph Enders, in: Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Band 1, Stand 2007, hrsg. v. Karlheinz Friauf / Wolfram Höfling, Art. 1 Rn. 37 ff., 42 ff. m. w. N.
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spricht es nicht dem Grundgesetz, wenn ein Angreifer in Notwehr gezielt getötet wird.73 Schon diese von Rechts wegen gebotene Relativierung des fünften Gebotes (2. Mose 20,13) zeigt, dass der schlichte Totschlag noch kein unüberbietbares Unrecht darstellen kann, es hierzu vielmehr weiterer Aspekte bedarf, wie sie sich z. B. in den Mordmerkmalen benannt finden. Insbesondere erweist sich die Unrechtsfundierung des § 211 StGB an den MM der zweiten Gruppe. Wie oben dargelegt (II. 2. c)), beeinträchtigen die hier geschilderten Begehungsweisen eigenständig noch weitere Rechtsgüter bzw. schildern wie bei der Heimtücke eine besonders gefährliche Vorgehensweise. b) Eine im Schrifttum verbreitete Ansicht sieht daher lediglich die MM der 1. und der 3. Gruppe als Schuldmerkmale an.74 Während das Unrecht einer Tat mit dem betroffenen Rechtsgut und der jeweiligen Art und Weise des Angriffs umschrieben werde, gehe es bei der Schuld um die Vorwerfbarkeit der Willensbildung (im Hinblick auf einen Mangel an Rechtsgesinnung).75 Dementsprechend konturierten (überschießende) subjektive Tatbestandsmerkmale den Deliktstyp, während besondere Schuldmerkmale hierzu nichts beitrügen, stattdessen Motive, Gefühle oder Gesinnungen namhaft machten. Gegen diese Ansicht ist mit Überzeugungskraft geltend gemacht worden, dass auch ein Geisteskranker aus Mordlust, Habgier bzw. mit Ermöglichungs- oder Verdeckungsabsicht töten könne.76 Ist dem so, dann kann es bei den Merkmalen der 1. und 3. Gruppe nicht um die Vorwerfbarkeit der Willensbildung gehen. Vielmehr handelt es sich dann um Unrechtselemente. Offensichtlich ist dies bei der 3. Gruppe der MM. Absichten bezeichnen auch nach der hier eingangs referierten Auffassung eine besonders starke Form der finalen Steuerung, mithin Unrechtselemente.77 Indem die Ermöglichungsabsicht auf eine zukünftige Tat Bezug nimmt, umschreibt sie – wie dargetan (II. 2. c) ee)) – auch einen Bezug zu einem weiteren Rechtsgutsangriff. Gleiches gilt für den Verdeckungsmord, der über die Tötung eines Menschen hinaus einen Angriff auf die Rechtspflege intendiert. Aber auch dem Töten aus Habgier bzw. zur Befriedigung des Geschlechtstriebes ist dieser Bezug zur Beeinträchtigung eines weiteren Rechtsguts eingeschrieben, wie die zumeist in Konkurrenz hierzu verwirklichten Straftaten anzeigen (s. o. II. 2. c) aa) und bb)). BVerfGE 115, 118 m. Bespr. Hirsch, NJW 2007, S. 1188. Fritjof Haft, Strafrecht Besonderer Teil II, 8. Aufl., 2005, S. 110, 113 f.; Jescheck / Weigend, (Fn. 18), § 38 II 5, § 42 II 2, § 61 VII 4c); Roxin, (Fn. 19), § 10 Rn. 61, 71; Eberhard Schmidhäuser, Strafrecht Besonderer Teil, 1983, Rn. 2 / 9 f.; Schönke / Schröder / Eser, (Fn. 31), § 211 Rn. 6; Wessels / Beulke, (Fn. 18), Rn. 400, 424; Wessels / Hettinger, Strafrecht Besonderer Teil 1, 32. Aufl., 2008, Rn. 94 ff.; wohl auch Udo Ebert, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Rn. 110, 207 f.; Michael Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, 1997, S. 164 f. u. ö. 75 Jescheck / Weigend, (Fn. 18), § 38 II 5, § 42 II 2, § 61 VII 4c); Roxin, AT I, (Fn. 19), § 10 Rn. 71; Wessels / Beulke, (Fn. 18), Rn. 400, 424. 76 Welzel, JZ 1952, S. 72 (74); ders., Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl., 1969, § 17 II 2 b). 77 Vgl. Roxin, AT I, (Fn. 19), § 12 Rn. 18 f.; Jescheck / Weigend, (Fn. 18), § 29 III 1. Es ehrt letztere, dass sie in § 42 Fn. 16 ihrem diesbezüglichen Zweifel Ausdruck verleihen und zu überwinden suchen. 73 74
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c) Nach allem scheint alles dafür zu sprechen, mit dem BGH alle MM als Unrechtselemente anzusehen.78 Diese Zuordnung wird auch durch die normative Schuldtheorie untermauert, zu der sich nicht nur der BGH79, sondern auch die überwiegende Auffassung im Schrifttum80 bekennt.81 Charakteristisch für die normative Schuldtheorie ist es, dass sie Schuld nicht durch ein positives Kennzeichen (etwa die freie Entscheidung zum Unrecht82), sondern durch ein negatives Kriterium, nämlich dem Zurückbleiben hinter den Verhaltensanforderungen des Rechts, bestimmt. Dies erschwert es ihr, jenseits eindeutiger gesetzlicher Zuordnungen (z. B. in den §§ 17, 20, 35 StGB) dem Schuldurteil einen eigenen Gegenstand zu sichern. Dementsprechend entgeht es ihr, das auf die Willensbildung bezogene Element von Motiven und Absichten eigens auszuformulieren.83 Sie stehen sich alle als unterschiedliche Weisen des zu verantwortenden Zurückbleibens hinter dem Recht gleich. Freilich ist diese Engführung selbst im Rahmen der normativen Schuldtheorie nicht zwingend. Vielmehr soll der Vorwurf, die Fähigkeit, nach der Einsicht in das Unrecht zu handeln, nicht genutzt zu haben, gleichsam nur die Mindestvoraussetzungen der Schuld angeben, die durchaus einer Graduierung nach Schweregraden der Schuld zugänglich ist.84 Nimmt man dies ernst, dann muss man bei Absichten und Beweggründen neben dem finalen Aspekt auch ein Element ausmachen, welches das Ausmaß der Entfernung der Willensbildung des Täters von den Maßstäben des Rechts anspricht und damit der Schuld zugehört. Von dieser Warte unter78 BGHSt. 1, 368 (371); zust. Welzel, JZ 1952, S. 72 (73 f.); ähnlich: Karlheinz Gössel / Dieter Dölling, Strafrecht Besonderer Teil, Band 1, 2. Aufl., 2004, § 4 Rz. 40 ff.; Wolfgang Joecks, Strafgesetzbuch Studienkommentar, 7. Aufl., 2007, § 211 Rn. 11 ff.; Urs K. Kindhäuser, Lehr- und Praxiskommentar zum Strafgesetzbuch, 3. Aufl., 2006, § 211 Rn. 10 ff.; LK / Jähnke, (Fn. 16), § 211 Rn. 6 ff.; Georg Küpper, Strafrecht Besonderer Teil, Band 1, 3. Aufl., 2007 § 1 Rz. 37 ff.; Maurach / Zipf, (Fn. 18), § 22 Rn. 3, 6, 52 – 55; Maurach / Schroeder / Maiwald, (Fn. 16), § 2 Rz. 31 ff.; MünchKommStGB / Schneider, (Fn. 60), § 211 Rn. 49 ff.; Otto, (Fn. 16), § 8 Rn. 3; Rudolf Rengier, Strafrecht Besonderer Teil II, 9. Aufl., 2007, § 4 Rz. 11 ff.; Günter Stratenwerth / Lothar Kuhlen, Strafrecht Allgemeiner Teil I, 5. Aufl., 2004 , § 8 Rn. 137 ff.; Eckhardt Horn, in: Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, 7. / 8. Aufl., Stand Okt. 2005, § 211 Rn. 9 ff. 79 BGHSt. (GS) 2, 194 (200 f.); weitere Folgerungen aus dieser Leitentscheidung in: BGHSt. 4, 74 (78); 4, 347 (352); 8, 393 (396); 9, 370 (375). 80 Walter Gropp, Strafrecht Allgemeiner Teil, 3. Aufl., 2005, Rn. 7 / 34; Hermann Blei, Strafrecht I, Allgemeiner Teil, 18. Aufl., 1983, § 45; Lackner / Kühl, (Fn. 41), Vor § 13 Rn. 23; Maurach / Zipf, (Fn. 18), § 35 Rn. 17; Paeffgen, in: Nomos Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2. Aufl., hrsg. v. Kindhäuser / U. Neumann / Paeffgen, 2005,Vor § 32 Rn. 231, Stratenwerth / Kuhlen, (Fn. 78), § 10 Rn. 2 ff.; Welzel, Strafrecht, (Fn. 76), § 19 III. u. IV. 81 Wie Lackner / Kühl, (Fn. 41), Vor § 13 Rn. 23 m. w. N., darlegen, kommen [mit Ausnahme der Willensschuldtheorems (s. nächste Fn.), das auf einen aktuellen Verschuldensprozess beharrt] alle übrigen derzeit vertretenen Ansichten im Ergebnis mit der normativen Schuldtheorie weitgehend überein. 82 Köhler, (Fn. 74), S. 348 ff.; Klesczewski, AT, (Fn. 38), Rn. 376. 83 Köhler, (Fn. 74), S. 370 f. 364 f. 84 Vgl. Welzel, Strafrecht, (Fn. 76), § 22 III.
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scheiden sich dann die Triebfedern, die einen Geisteskranken zu einer Tötung treiben, von den Beweggründen, aus denen sich ein Schuldfähiger zur Tat bestimmt. Diesen Zusammenhang spricht Welzel selbst im Rahmen seiner Ausführungen zum Schichtenaufbau der Persönlichkeit an:85 Er unterscheidet zwischen den Antrieben der „Tiefenschicht“ und dem Regulationszentrum des Selbst, welches die eigenen Antriebe durch Ausrichtung an rationalen Sinngehalten steuert. Solange die Antriebe rein in der Tiefenschicht verlaufen, ist der Mensch leidend, zum Handeln hingerissen und ohne Steuerung durch das „Ichzentrum“ ohne Schuld. Sobald dagegen das Selbst den Handlungsentschluss an Sinngehalten ausrichtet, werden diese Antriebe ihres pathischen Dranges entkleidet, zu rationalen Beweggründen gemacht, so dass darauf beruhende Handlungen zurechenbar sind. Anhand dieses Doppelcharakters von Motiven lässt sich nun bei den MM ein Schuldelement ausmachen. Ein Geisteskranker mag zur Befriedigung des Geschlechtstriebes töten etc. Sein Handeln ist darum aber nicht auch schon von Beweggründen geleitet. Soweit dagegen jemand schuldhaft tötet, geben die ihn leitenden Motive nicht nur der Tat ihr Gepräge, sondern bestimmen zudem auch noch das Ausmaß der Abkehr von den Maßstäben des Rechts, damit die Schuld mit.86 Gleiches gilt dann grundsätzlich auch für die Ermöglichungs- und die Verdeckungsabsicht. Sie stellen nicht nur auf ein Erstreben eines weiteren unwertigen Außenwelterfolges ab; bei einem schuldhaft handelnden Täter implizieren sie zudem ein höchstes Ausmaß an Geltungsverkehrung, eine an sich schon schweres Unrecht darstellende Tötung aus verwerflichen Zwecken heraus zu wollen.87 d) Nimmt man das Vorhergehende zusammen, so zeigt sich die Ansicht als vorzugswürdig, welche die MM als Mischung aus Unrechts- und Schuldelementen ansieht.88 Geht man die Entscheidungen des BGH zu den MM durch, so zeigt sich, dass auch er sie teils von Anfang an, teils erst im Laufe der letzten 30 Jahre mit Definitionselementen versehen hat, die einen Schuldaspekt ansprechen. aa) Besonders augenfällig ist dies bei den unbenannten niedrigen Beweggründen. Der Täter muss hier die niedrige Bedeutung, welche die Rechtsordnung seinen Beweggründen und Zielen zumisst, erfasst haben, ohne sie auch nach eigenen Maßstäben als niedrig ansehen zu müssen.89 Ferner muss er die besondere Fähigkeit gehabt haben, seine gefühlsmäßigen Regungen gedanklich zu beherrschen und willensmäßig zu steuern.90 Auch in der Rechtsprechung zu den benannten niedWelzel, Strafrecht, (Fn. 76), § 20 I. 2. Köhler, (Fn. 76), S. 364 f. 87 Köhler, GA 1980, S. 121; ders., JuS 1984, S. 762 (767). 88 Paul Bockelmann, Strafrecht Besonderer Teil, Band 2, 1977, S. 8 ff.; Eisele, Strafrecht Besonderer Teil, Band 1, 2008, Rn. 80 ff.; Volker Krey / Manfred Heinrich, Strafrecht, Besonderer Teil, Band 1, 13. Aufl., 2005, Rn. 20 ff.; NK-StGB / Neumann, (Fn. 63), § 211 Rn. 8 ff.; Schmidhäuser, BT, (Fn. 74), Rn. 2 / 9 f.; Schönke / Schröder / Eser, (Fn. 31), § 211 Rn. 6. 89 Vgl. BGH, NJW 2004, S. 1466 (1477); vgl. dazu auch Kudlich / Tepe, GA 2008, S. 92. 90 BGHSt. 6, 329; BGH, NJW 1993, S. 3210 m. krit. Anm. Fabricius, StV 1994, S. 373. 85 86
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rigen Beweggründen finden sich entsprechende Überlegungen. So genügt es dem BGH nicht, bloß die Mordlust festzustellen. Vielmehr ist auch hier zu prüfen, ob der Täter sein Tatmotiv gedanklich zu beherrschen und willensmäßig zu steuern vermochte.91 Des Weiteren kann trotz Handeln aus Habgier der Vorwurf des Mordes entfallen, wenn der Täter im Affekt handelte92. bb) Des Weiteren sind zur Frage des Verdeckungsmordes im Affekt eine Fülle von Entscheidungen ergangen. Auch dies ist kein Zufall, denn der Entschluss, zur Verdeckung der Vortat zu töten, kann ganz spontan aus der neuen Situation des Verfolgtseins entspringen. Nachdem das BVerfG für diese Fallkonstellation eine einengende Auslegung von Verfassungs wegen als geboten angesehen hat93, hat sich der BGH in einer langen Reihe von Entscheidungen darum bemüht, das überkommene instrumentelle Verständnis der Verdeckungsabsicht durch ein Element gesteigerter Schuld anzureichern. Dies ist hier im Einzelnen nicht noch einmal aufzunehmen.94 Festzuhalten ist nur, dass mit dieser Rechtsprechung nicht etwa Schuldkriterien äußerlich an dieses MM herangetragen werden. Macht man sich klar, dass es hier nicht um das Verbergen irgendeines Unrechts geht, sondern präzise um das Verdecken einer Straftat, dann wird klar, dass diese spezielle innere Willensrichtung nur ein Täter aufweisen kann, der jedenfalls die Fähigkeit zur Unrechtseinsicht hat, damit er das, was er verdeckt, als Straftat werten kann. Die neuere Rechtsprechung des 2. Strafsenates sieht die Verdeckungsabsicht nun als ein Regelbeispiel eines niedrigen Beweggrundes an95. Hierdurch eröffnet er sich die Möglichkeit, Verdeckungsmord im Wege einer Gesamtwürdigung ausnahmsweise dann zu verneinen, falls die Triebfeder nicht als auf tiefster Stufe stehend und als besonders verwerflich anzusehen ist96. Lässt man die Kritik an der zweifelhaften Methode dieser Rechtsfindung einmal beiseite, dann eröffnet diese Einordnung dem BGH die Möglichkeit, die zu den niedrigen Beweggründen entwickelten Schuldelemente auch hier zur Geltung zu bringen.97 cc) Sieht man von der Variante der Tötung mit gemeingefährlichen Mitteln ab98, dann enthalten die beiden anderen MM der 2. Gruppe ebenfalls schuldbezogene Definitionselemente. Zum einen lässt der BGH bei der Heimtücke das bewusste BGHSt. 34, 59 (62). BGHSt. 29, 317 (317 f.): Im Einzelfall trotzdem Habgier bejaht. 93 BVerfGE 45, 187 (266) m. Anm. v. Beckmann, GA 1979, S. 441; Schmidhäuser, JR 1978, S. 265; Woesner, NJW 1978, S. 1025. 94 Ausführlich dazu: Klesczewski, in: ders., Affekt und Strafrecht, 2004, S. 57 (74 ff.). 95 BGHSt. 35, 117 (127) m. krit. Anm. v. Schmidhäuser, NStZ 1989, S. 55; Timpe, NStZ 1989, S. 70; u. krit. Bespr. v. Hohmann / Matt, JA 1990, S. 134; Otto, JuraKartei, § 211 Nr. 16; Wolfgang Wohlers, JuS 1990, S. 20 (23). 96 BGHSt. 35, 117 (126 f.). 97 Diese Möglichkeit weist der BGHSt. 35, 117 (121), freilich unverständlicherweise, zurück. 98 Dazu näher Klesczewski, in ders., Affekt und Strafrecht, 2004, S. 57 (68 f.). 91 92
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Ausnutzen99 der Arg- und Wehrlosigkeit nicht ausreichen, sondern verlangt ausdrücklich als Gesinnungskorrektiv zudem noch ein Handeln in feindlicher Willensrichtung, was bei einem Handeln zum vermeintlich Besten des Opfers verneint wird.100 Schließlich setzt das grausame Töten nicht nur das Verursachen übermäßiger Schmerzen voraus, sondern zudem noch ein Handeln in gefühlloser, unbarmherziger Gesinnung.101 Die Schuldrelevanz dieses Definitionselementes kommt dadurch zum Ausdruck, dass es bei einem Handeln im Affekt fehlen kann.102 e) Zieht man ein Fazit, so ergibt sich: Während Mordlust und ähnlich strukturierte sonstige niedrige Beweggründe nach dem oben Ausgeführten (s. o. II. 2. c) ff)) reine besondere Schuldmerkmale sind, stellen die übrigen MM sich als eine Mischung aus Unrechts- und Schuldelementen dar.
2. Die Akzessorietät der Teilnahme und ihre Auflockerung Die gewonnenen Resultate sind nun auf die Akzessorietätsregelungen zu beziehen. Den §§ 26 f. StGB lässt sich dabei entnehmen, dass die Teilnahme grundsätzlich strikt akzessorisch zum Vorsatzunrecht des Haupttäters ist. Dementsprechend besteht Einigkeit, dass § 29 StGB eine Akzessorietätsdurchbrechung für die allgemeinen Schuldmerkmale anordnet.103 Ferner besteht insofern kein Streit, dass etwaige besondere persönliche Unrechtsmerkmale in den Anwendungsbereich des § 28 StGB fallen.104 Strittig ist hingegen, nach welcher Regelung die besonderen Schuldmerkmale zu behandeln sind.105 a) Die Behandlung der besonderen Schuldmerkmale nach § 29 StGB aa) Während die h. M. auf alle besonderen Schuldmerkmale ausnahmslos § 28 StGB anwenden will106, unterfallen nach einer zweiten Ansicht alle besonderen 99 Zur möglichen Schuldrelevanz des bewussten Ausnutzens Köhler, JuS 1984, S. 762; Klesczewski, in: ders., Affekt und Strafrecht, 2004, S. 57 (63 ff.). 100 BGHSt. (GS) 9, 385 (389 f.); dieses Definitionselement wird von einem großen Teil des Schrifttums übernommen, Lackner / Kühl, (Fn. 41), § 211 Rn. 6; MünchKomm / Schneider, (Fn. 60), § 211 Rn. 69; SK-StGB / Horn, (Fn. 78), § 211 Rn. 30 f. 101 BGHSt. 3, 180 (181); 3, 264, BGH bei Dallinger, MDR 1974, S. 14; BGH bei Holtz, MDR 1987, S. 623; BGH, NStZ 1982, S. 379. 102 BGH bei Holtz, MDR 1987, S. 623; eingehend: Klesczewski, in: ders., Affekt und Strafrecht, 2004, S. 57 (67 f.). 103 Vgl. nur Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 27 Rn. 5. 104 Roxin, AT II, (Fn. 103), § 27 Rn. 6. 105 Roxin, AT II, (Fn. 103), § 27 Rn. 7.
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Schuldmerkmale ausnahmslos dem § 29 StGB.107 Schließlich versucht eine dritte Auffassung zu differenzieren. Soweit es um strafmodifizierende besondere Schuldmerkmale gehe, sei es gleichgültig, ob man § 28 Abs. 2 StGB oder § 29 StGB anwende. Soweit strafbegründende besondere Schuldmerkmale (z. B. Böswilligkeit i. S. v. § 90a Abs. 1 Nr. 1 2. Var. StGB) in Rede stünden, müssten zwei Fallgruppen unterschieden werden. Erfülle der Haupttäter dieses Merkmal, der Teilnehmer jedoch nicht, sei § 29 StGB anzuwenden. Fehle dieses Merkmal beim Haupttäter, sei es aber durch den Teilnehmer verwirklicht, dann sei weder § 28 StGB noch § 29 StGB anzuwenden. Beide Male führe dies zur Straflosigkeit des Teilnehmers.108 bb) Für die erstgenannte Ansicht wird einesteils die Kontinuität der Rspr. ins Feld geführt. Anderenteils wird auf die Strafbarkeitslücken hingewiesen, die bei der Anwendung von § 29 StGB entständen. Hierdurch könne man denjenigen Teilnehmer nicht bestrafen, der an einer Haupttat mitwirke, bei dem der Täter auch das besondere Schuldmerkmal verwirkliche, der Teilnehmer, obzwar er die allgemeinen Schuldmerkmale erfülle, hingegen nicht. Schließlich weist man auch auf den Umstand hin, dass durch Anwendung von § 29 StGB ein Teilnehmer, der selbst ein strafbegründendes Schuldmerkmal verwirkliche, auch dann zu verurteilen sei, wenn der Täter keines erfülle und es damit am Garantietatbestand der Haupttat fehle. Dies überzeugt nicht. Zwar trifft es zu, dass zum Garantietatbestand alle Merkmale einer Straftat, also auch besondere Schuldmerkmale, zählen. Es gilt dies freilich auch für allgemeine Schuldmerkmale. Ist dem so, dann müsste die erstgenannte Auffassung konsequenterweise auch beim Fehlen dieser Merkmale die Teilnahme verneinen. Dann würde sie aber zur im Jahre 1943 abgeschafften extremen Akzessorietät zurückkehren. Weil der Gesetzgeber die Grundstrukturen des Teilnahmesystems geändert hat, ist die Kontinuität der Rspr. kein Vorteil, sondern ein hemmendes Festhalten an überholten Denkformen. Mit der Entscheidung für eine limitierte Akzessorietät der Teilnahme hat der Gesetzgeber den Garantietatbestand bezüglich der Merkmale der Haupttat auf deren Unrechtsmerkmale reduziert. § 28 StGB sollte ausdrücklich den Tatbestand, § 29 StGB die Schuld betreffen.109 Dem kann man nur Folge leisten, wenn man § 29 StGB anwendet.110 Auch der Hinweis auf eine Strafbarkeitslücke greift nicht. Zwar trifft es zu, dass derjenige Teilnehmer, dem selbst das besondere Schuldmerkmal fehlt, der aber die allgemeinen Schuldmerkmale erfüllt, schuldhaft an einer Haupttat mitwirkt. Rich106 Vgl. RGSt. 25, 266 (268); BGHSt. 22, 375 (378); zust.: Gallas, Beiträge zur Verbrechenslehre, 1968, S. 121 (156); Erich Samson, in: Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, 7. / 8. Aufl., Stand 2005, § 29 Rn. 2; Schönke / Schröder / Cramer / Heine, (Fn. 31), § 29 Rn. 2; strafbegründende, besondere Schuldmerkmale schlechthin ablehnend: Puppe, ZStW 120 (2008), S. 504. 107 Jakobs, AT, (Fn. 21), Rn. 23 / 5; zust. Klesczewski, AT, (Fn. 38), Rn. 769 ff. 108 Roxin, AT II, (Fn. 103), § 27 Rn. 8 ff.; Bernd Schünemann, in: Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, 12. Aufl., 2006, hrsg. v. Rissing-van Saan / Tiedemann, § 29 Rn. 6. 109 Entwurf 1962; BT-Drucks. IV / 650, S. 153. 110 Roxin, AT II, (Fn. 103), § 27 Rn. 15.
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tig ist auch, dass dem nur durch eine Anwendung von § 28 Abs. 1 StGB Rechnung getragen werden kann. Gleichwohl erreicht der Teilnehmer nicht das Maß der Schuld, welches nach dem Gesetz die Strafbarkeit bei den hier in Rede stehenden Delikten überhaupt erst begründet. Es ist ungereimt, einen Täter straflos ausgehen zu lassen, wenn ihm ein strafbegründendes besonderes Schuldmerkmal fehlt, den Teilnehmer jedoch zu bestrafen. Wer hier § 28 Abs. 1 StGB anwendet, der rechnet dem Teilnehmer die Schuld des Haupttäters an. Dem steht entgegen, dass die Schuld etwas Höchstpersönliches ist. Daher ist die h. M. abzulehnen. cc) Schließlich vermag auch die differenzierende Auffassung nicht zu überzeugen. Hinsichtlich des Fehlens eines besonderen strafbegründenden Schuldmerkmals beim Teilnehmer geht sie zwar denselben Weg wie die hier vertretene Ansicht. Im Übrigen setzt sie sich aber der Kritik aus. Zwar kommt sie bei strafmodifizierenden besonderen Schuldmerkmalen zu demselben Ergebnis wie die hier favorisierte Auffassung. Gleichwohl wird dies dadurch erkauft, dass man die Unterscheidung von Unrechts- und Schuldmerkmalen offen lässt. Dies wirkt sich ungut auf die Konturierung des Begriffs der bpM aus. Daher ist auch hier die Anwendung von § 29 StGB zu empfehlen. Schließlich vermag diese Ansicht auch nicht bei der Lösung der Fallgruppe zu überzeugen, bei der allein der Teilnehmer das besondere strafbegründende Schuldmerkmal verwirklicht. Hier Straflosigkeit anzunehmen, bedeutet einen Rückfall in die extreme Akzessorietät. Dagegen sprechen schon die gegen die erstgenannte Meinung angeführten Gründe. dd) Die ausnahmslose Anwendung von § 29 StGB auf besondere Schuldmerkmale der Beteiligten verdient den Vorzug. Soweit daher ein MM ein reines Schuldmerkmal ist, wie es bei der Mordlust und ähnlich gearteten niedrigen sonstigen Beweggründen der Fall ist, gilt daher eine Akzessorietätsdurchbrechung. Es ist irrelevant, ob der Haupttäter dieses MM erfüllt, solange nur der Teilnehmer aus einem entsprechenden niedrigen Beweggrund heraus agiert. b) Zur Akzessorietät der gemischten Mordmerkmale Soweit dagegen MM eine Unrechts- und eine Schuldseite aufweisen, bedarf es weiterer Untersuchungen. aa) Nach bisher nahezu einmütiger Auffassung sind die MM der 2. Gruppe streng akzessorisch zu behandeln.111 Das bedeutet: Nur dann, aber auch stets dann, wenn der Haupttäter unter Verwirklichung eines dieser MM tötet, ist der Anstifter oder Gehilfe wegen Teilnahme am Mord zu bestrafen.112 Dieses trifft auch uneingeschränkt zu für das Töten mit gemeingefährlichen Mitteln. Im Hinblick auf die Heimtücke gehen die Meinungen auseinander, je nachdem, ob man einen besonde111 BGHSt. 36, 231 (233); genauso MünchKommStGB / Schneider, (Fn. 60), § 211 Rn. 209 m. w. N.; anders wohl nur: Schmidhäuser, BT, (Fn. 74), Rn. 2 / 9 f. 112 BGHSt. 36, 231 (233).
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ren Vertrauensbruch o. ä. voraussetzt oder nicht.113 Zudem hat die obige Analyse ergeben, dass sowohl die heimtückische als auch die grausame Tötung nicht nur eine Unrechts-, sondern auch eine Schuldseite aufweist. Folglich setzt die Teilnahme am Mord hier voraus, dass der Haupttäter zwar die Unrechtsseite beider MM erfüllt. Nicht erforderlich ist es dagegen, dass er auch die Schuldseite aufweist. Hier kommt insofern § 29 StGB zum Tragen mit der Konsequenz, dass der Anstifter oder Gehilfe nur dann wegen Teilnahme am Mord bestraft werden können, wenn sie (auch) die besonderen Gesinnungsmomente aufweisen.114 bb) Weitgehende Einigkeit besteht bislang, dass die MM der 1. und der 3. Gruppe ausnahmslos nach § 28 StGB zu behandeln sind.115 Strittig ist, wie eingangs dargelegt, welcher Absatz dieser Vorschrift anzuwenden ist (dazu sogleich unter cc)). Die Vorfrage aber, ob wirklich alle MM der 1. und 3. Gruppe bpM i. S. v. § 28 StGB sind, wird dabei heute kaum noch aufgeworfen.116 Das mag daran liegen, dass diese MM überwiegend als besondere Schuldmerkmale eingruppiert und daher ohne Weiteres als bpM angesehen werden (s. o. III. 2. a)). Im Hinblick auf die sonst eher restriktive Definition der bpM durch Rechtsprechung, aber auch durch weite Teile des Schrifttums leuchtet dies nicht sogleich ein.117 (1) Die Praxis differenziert nach tat- und täterbezogenen Merkmalen.118 Neben Sonderpflichten sieht sie dabei im Allgemeinen nur die Gewerbs-, Gewohnheitsund Bandenmäßigkeit als bpM an119, während sie sowohl die Zueignungs- oder Bereicherungsabsicht gemäß den §§ 242 Abs. 1, 263 Abs. 1 StGB120 als auch die Eigenhändigkeit der eigenhändigen Delikte stets als tatbezogen erachtet.121 Demgemäß überrascht es, wenn der BGH sowohl das Töten aus Habgier als auch das Töten zur Befriedigung des Geschlechtstriebes im Rahmen des Mordes als bpM kennzeichnet, obwohl er diese MM bisher als reine Unrechtsmerkmale ansieht. (2) Gleichwohl lässt sich diese Judikatur durchaus halten, versucht man die bpM aus einer Unrechtsformenlehre herzuleiten.122 Danach ergibt sich, dass die TatÜberblick bei MünchKommStGB / Schneider, (Fn. 60), § 211 Rn. 209 m. w. N. So Schmidhäuser, BT, (Fn. 74), Rn. 2 / 9 f.; zust. Klesczwski, BT, (Fn. 39), S. 22. 115 BGHSt. 22, 375 (378); genauso: MünchKommStGB / Schneider, (Fn. 60), § 211 Rn. 210. 116 Zur Diskussion Anfang der 1970iger Jahre vgl. den Überblick bei Reinhardt Maurach / Karlheinz Gössel, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Band 2, 7. Aufl., 1989, § 53 Rn. 158 m. w. N. 117 Zum Folgenden näher: Klesczewski, AT, (Fn. 38), Rn. 545, 579, 773; eingehend: ders., ARSP-Beiheft 66 (1997), S. 77 (97). 118 BGHSt. 6, 260 (262); 8, 70 (72); 8, 205 (209); 12, 220 (226 f.); 17, 215 (217); 22, 375 (378); zust. Jescheck / Weigend, (Fn. 18), § 61 VII 4. a) m. w. N. 119 BGHSt. 6, 260 (262); 46, 62 (64); 46, 120 (128). 120 BGHSt. 22, 375 (378). 121 Vgl. Schönke / Schröder / Lenckner, (Fn. 31),Vor §§ 153 ff. Rn. 42 m. w. N.; Schönke / Schröder / Lenckner / Perron, (Fn. 31), § 174 Rn. 20 m. w. N. 122 Zum Folgenden näher: Klesczewski, AT, (Fn. 38), Rn. 545, 579, 773; eingehend: ders., ARSP-Beiheft 66 (1997), S. 77 (97). 113 114
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bestände nicht nur bloßes Schädigungsunrecht umschreiben (z. B. § 212 Abs. 1, § 303 Abs. 1 StGB), sondern manche darüber hinaus zudem noch Erwerbsanmaßungen (z. B. § 242 Abs. 1 StGB) oder Perpetuierungsunrecht (z. B. §§ 243 I 2 Nr. 3, 244 Abs. 1 Nr. 2 StGB) schildern. Die Besonderheit des Erwerbsunrechts besteht dabei darin, dass der Täter zum Tatobjekt ein gedoppelt personales Verhältnis herstellt. Am Beispiel der Unterschlagung: Nicht nur ist der Täter Urheber der Zueignung, sondern er stellt darüber hinaus eine ausschließlich individuelle Herrschaft über seine Beute her. Weil und soweit das Töten aus Habgier in concreto immer mit einer Bereicherungsabsicht verbunden ist (s. o. II. 2. a)), lässt sich diese Form des Mordes ebenfalls entsprechend dem Raub als Erwerbsunrecht qualifizieren. Ganz ähnlich liegt es beim Töten zur Befriedigung des Geschlechtstriebes: Tatobjekt ist hier der Körper eines anderen Menschen (samt seiner Geschlechtseigenschaften). Indem der Täter das Opfer zum Sexobjekt macht, äußert sich ein Miss(ge-)brauchswille, worin ebenfalls eine Erwerbsanmaßung nun bezogen auf eine andere Person zum Ausdruck kommt. Folglich ist auch dieses MM zutreffend als bpM gekennzeichnet. Ähnlich liegt es bei der Ermöglichungsabsicht. Soweit die Tötung dazu dient, eine als Erwerbsunrecht zu charakterisierende Straftat zu ermöglichen, ist auch dieses MM ein bpM. Nicht zuletzt kann auch die Verdeckungsabsicht als bpM gekennzeichnet werden. Soweit der Täter tötet, um seine eigene Straftat zu verdecken, liegt darin spezielles Perpetuierungsunrecht, mit dem er in eigener Person und nach eigenem Lebensplan sich vor der Ahndung begangenen Unrechts drücken und damit die damit verbundene Geltungsanmaßung auf Dauer stellen will. Schließlich ergibt sich daraus auch eine Lösung für die unbenannten niedrigen Beweggründe. Soweit sie im Einzelfall zu einer Erwerbsanmaßung (z. B. das Töten, um sich sexuell zu erregen) oder eine Perpetuierung (etwa: das Verdecken einer eigenen Ordnungswidrigkeit) führen sollen, sind sie als bpM anzusehen, im Übrigen hingegen nicht. cc) Zu klären ist endlich, welcher Absatz von § 28 StGB auf die gemischten MM anzuwenden ist. Der BGH wendet, wie dargetan, § 28 Abs. 1 StGB an. Er begründet sein Vorgehen damit, dass die MM Unrechtsmerkmale seien, welche folglich die Strafe begründeten123. Richtig daran ist, dass, wie sich ergeben hat, mit Ausnahme der Mordlust und einiger Formen von unbenannten niedrigen Beweggründen alle MM eine Unrechts- und eine Schuldseite haben. Ferner haben wir gesehen, dass es sich bei diesen MM mit Ausnahme der Heimtücke um Umschreibungen von (intendierten) Rechtsgutsangriffen handelt, die selbständig zur Tötung hinzutreten. Gleichwohl kann die Lösung des BGH nicht überzeugen.124 Sie führt zu einer systemwidrigen Besserstellung des Teilnehmers. Der Strafrahmen, der gem. §§ 211, 26 f., 28 Abs. 1 , 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB gegenüber dem 123 BGHSt. 1, 368 (370) [m. Anm. Schröder, JZ 1952, S. 649 f.; v. Weber, MDR 1952, S. 265 f.; Welzel, JZ 1952, S. 72 ff.]; BGHSt. 22, 375 (377 f.) [m. Bespr. Gehrling, JZ 1969, S. 416 u. Schröder, JZ 1969, S. 418]. Eingehende Darstellung bei Küper, JZ 1991, S. 761, 862 (910). 124 Zum Folgenden auch: Klesczewski, BT, (Fn. 39), S. 21 f.
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Teilnehmer, dem ein MM in eigener Person fehlt, anzuwenden ist (3 – 15 Jahre), fällt demgegenüber wegen Teilnahme am Totschlag (§§ 212 Abs. 1, 26 f. StGB: 5 – 15 Jahre) zu milde aus. Zwar lässt sich dieses unerwünschte Ergebnis mit der Lehre von der Sperrwirkung des milderen Tatbestandes vermeiden. Doch stellt dies ein Notbehelf dar, der offenbart, dass § 28 Abs. 1 StGB hier nicht die richtige Vorschrift ist. Zweck dieser Norm ist es, eine Strafmilderung bei echten Sonderdelikten zu ermöglichen, bei denen kein Strafrahmen aus einem milderen Allgemeindelikt zur Verfügung steht.125 Selbst soweit man den Mord als selbständige Abwandlung des Totschlages ansieht, bleibt § 212 StGB im Verhältnis zu § 211 StGB ein milderer Tatbestand. Dieser speziellen Regelung der Strafrahmenabstufung gebührt daher der Vorrang. Zu ihr gelangt man freilich nur durch Anwendung von § 28 Abs. 2 StGB. Freilich ist diese Vorschrift aus dem Gedanken der limitierten Akzessorietät heraus teleologisch zu reduzieren, was zudem die Rechtsfolgenlösung impliziert.126 Setzt Teilnahme immer Vorsatzunrecht voraus, kann es eine Teilnahme am Mord bei dem gemischten MM nur geben, wenn der Haupttäter jedenfalls die Unrechtsseite des MM vorsätzlich erfüllt. dd) Für die gemischten MM ergibt sich: Soweit diese tatbezogen sind (z. T. die Ermöglichungsabsicht, z. T. sonstige niedrige Beweggründe) muss die Unrechtsseite dieses MM vom Haupttäter erfüllt sein, während im Hinblick auf die Schuldseite § 29 StGB anzuwenden ist. Soweit die MM als Erwerbs- oder Perpetuierungsunrecht bpM darstellen, ist zunächst § 28 Abs. 2 StGB mit der Maßgabe anzuwenden, dass der Haupttäter stets die Unrechtsseite des MM vorsätzlich verwirklichen muss, damit Teilnahme am Mord vorliegt, während hinsichtlich der Schuldseite auch hier § 29 StGB gilt. 3. Mittelbare Täterschaft bei Hintermännern mit Mordmerkmalen Offen ist nach der eben entwickelte Lösung freilich noch die Konstellation in denen lediglich der Hintermann ein MM verwirklicht127, bzw. in der dieser ein anderes MM als der Haupttäter erfüllt (sog. gekreuzte Mordmerkmale)128. Hier gilt es zu erwägen, ob es sich nicht um Sonderfälle der mittelbaren Täterschaft handelt: So setzt der Angeklagte zur Verwirklichung seiner Rachsucht im Ausgangsfall des BGH die Heeresstreife ein, indem er in ihnen einen, freilich vermeidbaren, Erlaubnisirrtum erzeugt. Das reicht nach der Rspr. und einem Teil des Schrifttums aus, um Irrtumsherrschaft zu begründen.129 Zur anderen Konstellation: Verschweigt 125 Begründung zu § 33 Entwurf 1962, BT-Drs. IV / 650, S. 152. Näher hierzu: Küper, JZ 1991, S. 914 f. m. Fn. 108. 126 Näher Klesczewski, AT, (Fn. 38), Rn. 784. 127 So der Ausgangsfall: BGHSt. 1, 368. 128 So der Fall in: BGHSt. 23, 39. 129 BGHSt. 35, 347 (350 f.); zust. LK / Schünemann, (Fn. 108), § 25 Rn. 91 f. m. w. N.
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etwa der Komplize dem aus Verdeckungsabsicht mordenden Haupttäter, dass er es auf das Hab und Gut des Opfers abgesehen hat, nutzt er dessen Unkenntnis aus, durch die Tötung zur Aufhebung fremden Gewahrsams und damit zur Wegnahme des Komplizen beizutragen. So ließe sich für diesen auch hier mittelbare Täterschaft annehmen.
Vorspruch und Versprechen Der Europäische Integrationsprozess nach Lissabon im Lichte der Präambeltexte des EUV, des AEUV und der EU-Grundrechtecharta Von Markus Kotzur I. Ein Leipziger Prolog zu einer europäischen Integrationserzählung Wenn die Universität Leipzig im Jahre 2009 ihren 600. Geburtstag feiert, so tut sie das im Herzen Europas – Europa verstanden nicht nur als geographischer, sondern kulturell geprägter Raum, dessen Rechtskultur seinerseits die europäische Identität mitbestimmt.1 Wie die Universität kann auch die erstmals im Jahre 1446 urkundlich erwähnte, aber wahrscheinlich schon früher gegründete Leipziger Juristenfakultät auf eine lange und wechselvolle europäische Geschichte zurückblicken. Sie hat die Blütezeit der Weimarer Klassik und später die Sternstunden der „zweiten Weimarer Klassik“, der Weimarer Staatsrechtslehre2, ebenso miterlebt wie ihre eigene Verstrickung in die beiden großen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts.3 Diese Wirkungszusammenhänge, aber auch Fragmentierungen der Geschichte sind allenthalben bekannt. Weniger bekannt sein mag, dass Heinrich Triepels bis heute wirkende Schrift über „Völkerrecht und Landesrecht“ 1899 in Leipzig erschien 1 P. Häberle, Europäische Rechtskultur, 1994 (TB 1997), S. 9 ff.; E. Guild, The Legal Elements of European Identity, 2004; S. Korioth und A. v. Bogdandy, Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht, VVDStRL 62 (2003), S. 117 ff. bzw. S. 156 ff.; zur Identität als Identität des Anderen E. Lerinas, zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, 1995. 2 Grundlegend M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, Staats- und Verwaltungsrechtslehre in Republik und Diktatur (1914 – 1945), 1999; ders., Weimarer Kultur und Bürgerrechte, FAZ v. 11. August 1999; W. Pauly, Wissenschaft vom Verfassungsrecht: Deutschland, in: A. v. Bogdandy / P. Cruz Villalón / P. M. Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. II, 2008, § 27, Rn. 9 ff.; P. Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre unter dem Grundgesetz, 2004; O. Lepsius, Die Wiederentdeckung Weimars durch die bundesdeutsche Staatsrechtslehre, in: Ch. Gusy (Hrsg.), Weimars lange Schatten – Weimar als Argument nach 1945, 2003, 354 ff. 3 Siehe etwa H. Dreier / W. Pauly, Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, VVDStRL 60 (2001), S. 9 ff. bzw. 73 ff.; D. Willoweit (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Rechtsliteratur im 20. Jahrhundert, 2007, S. 83 ff.; K. Lüderssen, Der Staat geht unter – das Unrecht bleibt? Regierungskriminalität in der ehemaligen DDR, 1992.
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und Triepel selbst in Leipzig lehrte; dass Herrmann Jahrreiss sich an der Leipziger Juristenfakultät habilitierte, der große Verwaltungsrechtswissenschaftler Otto Mayer in Leipzig auch Völkerrechtsvorlesungen anbot oder Wolfgang Abendroth nach dem Zweiten Weltkrieg hier für kurze Zeit einen völkerrechtlichen Lehrstuhl innehatte. Nach der Wiedervereinigung und der Neugründung der Fakultät war Rudolf Geiger der erste Ordinarius, der in Leipzig das Europarecht vertrat und auf dessen Gründungsinitiative das Institut für Völkerrecht, Europarecht und ausländisches öffentliches Recht an der Juristenfakultät zurückgeht. Leipzig hat indes jenseits aller akademischen Gelehrsamkeit in der Friedlichen Revolution des annus mirabilis 1989 – so Peter Häberles viel zitiertes Diktum4 – eine weit tragendere Rolle für die politische Einigung Europas und für eine neue, „konstitutionelle“ Dynamik in den internationalen Beziehungen übernommen.5 Es waren die Friedensgebete und die berühmten Montagsdemonstrationen („Wir sind das Volk!“, „Wir sind ein Volk!“)6, die die „Leipziger Freiheit“ zum geflügelten Wort werden ließen, die deutsch-deutsche Wiedervereinigung mitermöglichten und tiefgreifende Wandlungen in der Weltordnung des ausgehenden 20. Jahrhunderts mitbedingten.7 Ohne diese Wandlungsprozesse wäre auch die heutige Europa- und Völkerrechtsordnung eine andere – auch die Bundesrepublik Deutschland, die im Jubiläumsjahr 2009 ihren 60. Geburtstag feiert, wäre eine andere. Leipzigs Bürgerschaft hat Deutsche Geschichte, und mehr noch ein Stück weit Europäische Integrations- und Völkerrechtsgeschichte geschrieben. Sie tat das durch gelebten Bürgersinn, der im friedlichen Aufbegehren gegen ein freiheitsfeindliches Regime epochemachenden Ausdruck fand. Völkerrechtswissenschaft und -praxis, die politischen Akteure und nicht zuletzt die Bürgerinnen und Bürger Europas sind dadurch in die Verantwortung genommen. Wenn die Präambel des EUV „eingedenk der historischen Bedeutung der Überwindung der Teilung des europäischen Kontinents“ die Notwendigkeit erkennt, „feste Grundlagen für die Gestalt des zukünftigen Europas zu schaffen“, stellt sich die Union dieser Verantwortung. Sie weiß aber auch, dass trotz aller feierlich gestimmten Präambelversprechen dem alltäglichen Einigwerden Europas häufig jene Strahlkraft seiner großen politiWiederum „Europäische Rechtskultur“ (Fn. 1), S. 15. Eine vorzügliche Übersicht zur völkerrechtlichen Konstitutionalisierungsdebatte findet sich bei M. Knauff, Konstitutionalisierung im inner- und überstaatlichen Recht – Konvergenz oder Divergenz, ZaöRV 68 (2008), S. 453 ff. 6 P. Häberle, Der Entwurf der Arbeitsgruppe „Neue Verfassung der DDR“ des Runden Tisches (1990), in: JöR 39 (1990), S. 319 ff., 331 f. 7 So heißt es bei K. Hesse, in: M. Morlok (Hrsg.), Die Welt des Verfassungsstaates, 2001, in seinen „Einleitenden Bemerkungen“, S. 11 ff., 13: „Wir leben insoweit von dem Gedankengut einer Welt, die nicht mehr die unsere ist und die, wie wir immer deutlicher sehen, in den tiefen Wandlungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts ihren Untergang gefunden hat. Über ihre Grundlagen, bislang als gesichert geltende Bestandteile der Staats- und Verfassungslehre, ist die Geschichte hinweggegangen. Den bekannten Tatbestand jener Wandlungen umschreibe ich hier mit den geläufigen Stichworten: Funktionswandel moderner Staatlichkeit, Internationalisierung oder auch Globalisierung, Europäisierung“. 4 5
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schen Ideen fehlt, die in seinen konstitutionellen Texten so selbstbewusst wie selbstgewiss präsent sind.8 Europa als „Einheit in Vielfalt“ (J. Ch. Burckhardt)9 ist retrospektiv ein anspruchsvoller Gedächtnis-, prospektiv ein nicht minder anspruchsvoller Vorstellungsraum10, der seine Bürger fordert und – konstitutionell gedacht – mit ihrerseits anspruchsvollen Verfassungserwartungen konfrontiert.11 Gerade für junge Menschen, die Europas Trümmerfeld nach 1945 nicht mehr aus eigenem Erleben kennen, denen leidvolle Erfahrungen und leidenschaftliches Europawerben der Gründerjahre allenfalls aus dem Geschichtsunterricht präsent sind12, bleibt das heute integrierte Europa ein mehr oder weniger selbstverständliches „Faktum ohne besonderen Charme“13. Wie also soll die Constitutio Europaea begeistern, ihren citoyen ansprechen und für das Gemeinschaftsprojekt gewinnen? Wie soll sie ein europäisches „Wir- Gefühl“ erzeugen?14 Wie soll sie Fragmentierungen zwischen (vermeintlich) „altem“ und „neuem“ Europa überwinden, wie die funktionalistisch-marktbezogene Integrationslogik in eine politische, verfassungsstiftende wandeln? Wie Marktfreiheit und soziale Gerechtigkeit einander zuordnen, wie mitgliedstaatliche und „europäische Souveränität“ ausbalancieren? Eine erste 8 Zu denken ist etwa an den von Frankreich ausgehenden Menschenrechtsuniversalismus, vgl. L. Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte, 2. Aufl., Bonn 1991, S. 231 ff.; H. Bielefeldt, Universale Menschenrechte angesichts der Pluralität der Kulturen, in: H.-R. Reuter (Hrsg.), Ethik der Menschenrechte. Zum Streit um die Universalität einer Idee, Tübingen 1999, S. 43 ff. 9 Grundrechtsspezifisch A. Weber, Einheit und Vielfalt der europäischen Grundrechtsordnung(en), DVBl. 2003, S. 220 ff. 10 In diesem Kontext sei auch auf die Relevanz von Europabildern oder Europaentwürfen aus der Feder von „Dichtern und Denkern“ verwiesen, siehe etwa W. Graf Vitzthum, „Römischer hauch“ – Stefan Georges staatspoetisches Europabild, in: FS E. Jayme, München 2004, S. 1763 ff. 11 Was freilich nicht mit einer konstitutionellen Vereinnahmung des freiheitsbegabten Individuums verwechselt werden darf, vgl. P. Kirchhof, Grundrechtsinhalte und Grundrechtsvoraussetzungen, in: D. Merten / H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. I, 2004, § 21, Rn. 4, seinerseits anknüpfend an H. Krüger, Verfassungsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: FS U. Scheuner, 1973, S. 285 ff., 286 ff., und an J. Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: HStR, Bd. V, 1992, § 115, Rn. 7 f. 12 Zu denken ist überdies an W. Churchills Neuordnungsideen unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, dazu M. Seidel, Der europäische Verfassungsprozess und Winston Churchills Züricher Vision der „Vereinigten Staaten von Europa“, EuZW 2008, S. 1. 13 U. Sarcinelli / M. C. Herrmann, Europa in der Wahrnehmung junger Menschen – Bedingungen und Konsequenzen für Politikvermittlung und politische Bildungsarbeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament B25 – 26 / 98 (12. Juni 1998), S. 10 ff., 11. 14 A. Deringer, Europäisches Parlament und Maastrichturteil des Bundesverfassungsgerichts, in: FS U. Everling, Bd. I, 1995, S. 248 ff., 251: Gemeinsame Identität aus einem „Wir-Gefühl“, das gerade keine Homogenität voraussetzt; ein „Europa ohne Wir-Gefühl“ beklagt demgegenüber die SZ vom 17. Oktober 2001, S. 4. Auch im gemeinsamen Kampf gegen terroristische Bedrohungen nach dem 11. September 2001 habe die „neue politische Zeitrechnung“ jedenfalls noch kein „echtes europäisches Wir-Gefühl“ hervorgebracht.
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Antwort mögen die Präambeltexte bereithalten. In ihnen finden Integrationsgeschichte(n) und Integrationsbekenntnisse zusammen, sie stellen zugleich Integrationsfragen, gerichtet an die Bürgerinnen und Bürger Europas, und zeigen ihnen eine Integrationsperspektive auf. Kurz: sie sind Vorspruch und Versprechen. II. Die normative Wirkung von Präambelbestimmungen In feierlicher Sprache und bürgernah verorten Verfassungspräambeln die politische Einheitsbildung historisch, verbinden werthafte Bekenntnisse mit wegleitenden Erkenntnissen und wagen den Blick in die Zukunft, kurz: sie formulieren die Quintessenz des folgenden Textes, wollen Narrative, gar „Meistererzählungen“ sein.15 Die Frage nach ihrer Normativität ist damit freilich noch nicht beantwortet. Für die Grundgesetzpräambel (alte Fassung) hat das Bundesverfassungsgericht in seinem berühmten Grundlagenvertragsurteil (E 36, S. 1 ff.) eindeutige Stellung genommen. Das Wiedervereinigungsgebot und das Selbstbestimmungsrecht waren im Präambeltext verankert. Das Gericht betonte nachdrücklich, dass der Vorspruch des Grundgesetzes nicht nur politische Bedeutung, sondern auch rechtlichen Gehalt habe, der sich gerade durch das Zusammenspiel mit den operativen Verfassungsbestimmungen entfalte.16 Letztere seien „im Lichte“ der Präambel zu lesen. Gleiches gilt für völkerrechtliche Vertragspräambeln. Sie sind, wie schon Art. 31 Abs. 2 WVK zeigt, ein integraler Bestandteil des jeweiligen Vertragstextes. Ihnen kommt – im Rahmen ihrer spezifischen Funktionen – dieselbe rechtliche Bindungswirkung zu wie jedem anderen Vertragsbestandteil auch.17 Die Präambeln enthalten – parallel zu Verfassungspräambeln – zumeist aber keine operativen Elemente, sondern beschreiben die historische Ausgangslage, benennen Motive oder nehmen Bezug auf andere, kontextrelevante völkerrechtliche Regelungen vertragsoder gewohnheitsrechtlicher Natur.18 Die einzelnen Präambelbestandteile haben daher eine unterschiedliche rechtliche Bindungswirkung. Das Bild von relativer, 15 P. Häberle, Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, in: FS Broermann, Berlin 1982, S. 211 ff., 245; siehe auch A.-C. Kulow, Inhalte und Funktionen der Präambel des EG-Vertrages, 1997, zu den kognitiven, deliberativen und voluntativen Elementen von Präambeltexten; M. Kotzur, Theorieelemente des internationalen Menschenrechtschutzes, 2001, S. 102. 16 E 36, 1 (17). 17 In diesem Sinne schon G. Fitzmaurice, The Law and Procedure of the International Court of Justice 1951 – 4, in: The British Yearbook of International Law 33 (1957), S. 202 ff., 228; H. Köck, Vertragsinterpretation und Vertragsrechtskonvention, 1976, S. 30; für die Präambel der SVN R. Wolfrum, in: B. Simma (Hrsg.), Charta der Vereinten Nationen, 1991, Präambel Rn. 13. 18 Allgemein zur rechtsmethodischen Bedeutung von Präambeln P. J. Tettinger / K. Stern, in: dies. (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Präambel A, Rn. 10.
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noch deutlicher von abgestufter Normativität bietet sich an.19 Parallel zur verfassungsrechtlichen Analyse kommt es im Zusammenspiel von Präambeltexten mit operativen Vertragsbestandteilen zu normativer Verdichtung. Durch den Reformvertrag von Lissabon20 – auch wenn er auf das anspruchsvolle Prädikat der Verfassung und jede „Staatsnähe“ implizierende Integrationssymbolik verzichtet – erhält das Europäische Vertragswerk eine noch stärkere konstitutionelle Qualität als bisher.21 Die Präambeln zu EUV, AEUV und EU-Grundrechtecharta bieten ein Konzentrat des konstitutionellen Programms.
III. Die Präambeltrias von EUV, AEUV und EU-Grundrechtecharta – eine konstitutionelle Meistererzählung des politisch integrierten Europa 1. Die Präambel des EUV In den meisten Teilen bleibt die Präambel des EUV22 – von notwendigen Modifikationen redaktioneller Art abgesehen – unverändert und steht damit für die Kontinuität des politischen Integrationsprogramms seit Maastricht. Die europäische Verfassungsgenese ist denn auch weniger Revolution als Evolution.23 Eine wesentliche Neuerung verdient vor dem Hintergrund solcher Evolutionsdynamik daher umso größerer Aufmerksamkeit. Die Präambel erhält einen neuen zweiten, mit dem ersten der Präambel des gescheiterten Verfassungsvertragsentwurfes identischen Erwägungsgrund – ein Ausdruck sehr bewusster konstitutioneller Kontinuität24: „Schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben.“
19 U. Fastenrath, Relative Normativity in International Law, in: EJIL 4 (1993), S. 305 ff., 330: „International Law as an Order of Graduated Normativity“. 20 Mit ausführlicher Literaturübersicht J. Ph. Terhechte, Der Vertrag von Lissabon: Grundlegende Verfassungsurkunde der europäischen Gemeinschaft oder technischer Änderungsvertrag? EuR 43 (2008), S. 143 ff.; weiterhin F. Balaguer Callejon, La constitución europea tras el consejo europeo de Bruselas y el tratado de Lisboa, ReDCE 8 (2007), S. 11 ff.; F. C. Mayer, Die Rückkehr der europäischen Verfassung? Ein Leitfaden zum Vertrag von Lissabon, ZaöRV 67 (2007), S. 1142 ff.; I. Pernice, Der Vertrag von Lissabon – Ende des Verfassungsprozesses der EU?, EuZW 2008, S. 65 ff. 21 M. Heinig, Europäisches Verfassungsrecht ohne Verfassungsvertrag, JZ 2007, S. 905 ff. 22 Im Folgenden werden die Abkürzungen EUV und AEUV für die neue Fassung nach dem Reformationsvertrag verwendet. 23 Vgl. in diesem Zusammenhang auch H.-J. Rabe, Zur Metamorphose des Europäischen Verfassungsvertrages, NJW 2007, S. 3153 ff.; A. Weber, Vom Verfassungsvertrag zum Vertrag von Lissabon, EuZW 2008, S. 7 ff. 24 K. H. Fischer, Der Vertrag von Lissabon, 2008, S. 107 f.
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Der Text reflektiert noch manchen Streit, der im Verfassungskonvent ausgetragen wurde. Er knüpft zunächst an das „kulturelle“, „religiöse“ und „humanistische Erbe“ Europas an. Einen eindeutigen Gottesbezug, gar eine invocatio dei, kennt er nicht.25 Während vor allem Polen, Irland, Italien, Malta, Litauen, Portugal, die Slowakei und Tschechien einen klaren Verweis auf das spezifisch christliche Erbe Europas wünschten, leisteten Belgien und das streng laizistische Frankreich den stärksten Widerstand.26 Bundeskanzlerin A. Merkel hatte Papst Benedikt XVI. bei seinem Deutschlandbesuch im Herbst 2006 ebenfalls zugesichert, für eine Verankerung der christlichen Wurzeln Europas in seinem zentralen Einigungsdokument eintreten zu wollen. Zum kulturellen Erbe Europas gehört aber nicht nur das Christentum, sondern auch das Judentum und in vielerlei Hinsicht der Islam. Zu Europas kulturellem Erbe gehört die religiöse Toleranz, in den Religionskriegen blutig errungen. Nicht nur multi-kulturelle und multi-ethnische, sondern auch multi-religiöse Gesellschaften formulieren ihre je eigenen Herausforderungen an die Europäische „Verfasstheit“.27 Kann dann (welcher?) Gott in der „Verfassung des Pluralismus“ seinen Platz haben?28 Im gleichberechtigten pluralistischen Nebeneinander verbietet sich aber nicht jedweder Gottesbezug, notwendig wird nur eine gleichwertige säkulare Begründung von Verantwortung vor der, in der und für die Gemeinschaft.29 Bemerkenswert ist auch, wenn „die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit“ als „universelle Werte“ qualifiziert werden. Hier verschmelzen Wertorientierung und normative Verbindlichkeit, rechtlich und ethisch-moralisch Gesolltes.30 Werte umschreiben individuelle oder gesamtgesellschaftliche Grundeinstellungen, die besonderen Richtigkeitsanspruch erheben, Kontinuität betonen und die Legitimationsgrundlage für wiederum individuelles oder kollektives Handeln schaffen 25 Eine exzellente Übersicht zum Diskussionsstand geben H. Goerlich / W. Huber / K. Lehmann, Verfassung ohne Gottesbezug? Zu einer aktuellen europäischen Kontroverse, 2004. Siehe überdies P. J. Tettinger / K. Stern, in: dies. (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Präambel B, Rn. 1 ff. 26 Ausführliche Nachweise bei H. Goerlich, Der Gottesbezug in Verfassungen, in: ders. / W. Huber / K. Lehmann, Verfassung ohne Gottesbezug? Zu einer aktuellen europäischen Kontroverse, 2004, S. 9 ff. 10. 27 Th. Fleiner (Hrsg.), Die multikulturelle und multi-ethische Gesellschaft, 1995. 28 P. Häberle, „Gott“ im Verfassungsstaat, in: FS W. Zeidler, 1987, S. 3 ff.; N. K. Riedel, Gott in der europäischen Verfassung?, EuR 2005, S. 676 ff.; siehe auch J. Geerlings, Der Fortgang des europäischen Verfassungsprozesses, Recht und Politik 2006, S. 23 ff. 29 In diesem Sinne auch J. H. H. Weiler, Ein christliches Europa. Erkundungsgänge, 2004. 30 Fraglich bleibt überdies, wie stark europäisch die tatsächliche oder vermeintliche Universalität europäisch determiniert ist, dazu M. Kotzur, Universality – a Principle of European and Global Constitutionalism, in: Historia Constitucional (revista electrónica), n. 6 2005. http: //hc.rediris.es/06/index.html, p. 201 ff.; ders., Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte: Ein regionaler Akteur im Dienste universeller Menschenrechte, in: B. v. Hoffmann, Universalität der Menschenrechte. Kulturelle Pluralität, 2009, S. 41 ff., 43 ff.
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wollen – damit kommt das normative Moment ins Spiel.31 Wenngleich stets subjektiv, sind Werte doch intersubjektiv vermittelbar und Kommunikationsgrundlage für das tägliche neue „Sich-Einig-Werden“ in einer politischen Gemeinschaft. Sie prägen deren „Meistererzählung“, weil sie umschreiben, was jeder politischen Ordnungs- wie Einheitsbildung vor- und damit aufgegeben ist. Sie erfüllen auf diese Weise selbst eine normative Orientierungs- und Ordnungsfunktion.32 Die unveräußerlichen Rechte des Menschen, in den demokratischen Revolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts politisch erstritten, sind auch für Europa das zentrale Integrationsparadigma. Freiheit und Gleichheit finden in ihnen zusammen. Der neu gefasste Art. 6 EUV verankert die dreifache Menschenrechtsbindung der Union positiv-rechtlich: die Bindung an die vom „soft law“ zum „hard law“ erstarkte Grundrechtecharta in seinem Abs. 1, die Bindung an die EMRK, die von einer Rechtserkenntnis- zu einer Rechtsquelle wird, in Abs. 2, die durch die EuGHRechtsprechung entwickelte Bindung an die Menschenrechte und Grundfreiheiten, wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, in Abs. 3. In den Grund- und Menschenrechten finden Freiheit und Gleichheit zusammen. In der Demokratie finden sie die ihnen angemessene Form der Herrschaftsorganisation. Der Rechtsstaat verweist seinerseits zurück auf ein Geburtsparadigma der Union. Sie ist, in den Worten des ersten Kommissionspräsidenten W. Hallstein, damals freilich bezogen auf die Gemeinschaften, ein „Geschöpf des Rechts“.33 Die Gemeinschaft wird zugleich unter die Herrschaft des Rechts, die „rule of law“ gestellt. Das Recht wirkt als Formprinzip des Raumes, in dem Freiheit und Sicherheit Realität werden können. Diese Rechtsidee transformiert Art. 3 Abs. 2 EUV vom in Präambel und Art. 2 EUV benannten Gemeinschaftswert zum Unionsziel. Die Europäische Union beruht nicht auf einem vorrechtlichen Substrat, sondern der Einigungskraft ihres Rechts und dem Einigungswillen ihrer Bürgerinnen und Bürger. Dieser Rolle des europäischen „citoyen“34 ist sich der Reformvertrag von Lissabon nicht minder bewusst als der gescheiterte Verfassungsvertrag. 2. Die Präambel des AEUV Nach der Reform von Lissabon wird der bisherige EGV zum „Vertrag über die Arbeitsweisen der Europäischen Union“. Damit sind zunächst zahlreiche redaktionelle Änderungen verbunden, die auch den Präambeltext betreffen. Im Übrigen 31 Ähnlich Ch. Calliess, Europa als Wertegemeinschaft – Integration und Identität durch europäisches Verfassungsrecht?, JZ 2004, S. 1033 ff., 1034 unter Verweis auf Arbeiten von U. Di Fabio. 32 U. Di Fabio, Grundrechte als Wertordnung, JZ 2004, S. 1 ff., 3. 33 W. Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, 5. Aufl. 1979, S. 53. 34 M. Kotzur, Grenznachbarschaftliche Zusammenarbeit in Europa, 2004, S. 283 ff. m. w. N.
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bleibt dieser aber weithin unverändert und hält die Gründungsversprechen des alten EWGV lebendig, die aber im Lichte des heute erreichten Integrationsgrades neu gelesen werden müssen. So wie die Präambel des EUV von einer „neuen Stufe“ im europäischen Integrationsprozess spricht, hebt die Präambel des AEUV an mit dem „festen Willen, die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker zu schaffen“. Dynamik ist ihr Programm. Die „ever closer Union“ der englischen Textfassung erinnert an das berühmte „to form a more perfect Union“ der werdenden USA, von A. Hamilton bezeichnet als ein „act of choice and reflection“.35 So soll auch die Europäische Einigung auf der kritisch reflektierten Wahl, auf dem bewussten Wollen der europäischen Völker gründen. Wahrgenommen wird der Prozess aber häufig als das Projekt politischer Eliten und nicht als Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger Europas, verfasste Einheit immer neu zu erringen.36 Daher muss der konkrete Mehrwert eines geeinten und verfassten Europa eben diesen Bürgerinnen und Bürgern auch nach Lissabon in einer ehrlichen, durchaus wertbewussten Verfassungsdebatte immer neu deutlich gemacht werden: der Grundrechtsschutz durch die europäische Grundrechtecharta; die Verringerung des Demokratiedefizits auf europäischer Ebene bei einer gleichzeitigen Stärkung der nationalen Parlamente37; flexiblere Mehrheitsentscheidungen und die Verringerung nationaler Vetomöglichkeiten; größere Kompetenzklarheit; größere Eindeutigkeit hinsichtlich der rechtlichen Regelungsinstrumente; Transparenzgewinne; schließlich das Prinzip der doppelten Mehrheit, das neben den Staaten auch den Völkern und damit jedem citoyen echte Partizipationsmöglichkeiten eröffnet.38 Weiterhin ringt die Präambel des AEUV um eine Balance zwischen Marktorientierung und freiem Wettbewerb einerseits, europäischer „Sozialstaatlichkeit“ andererseits. Der Markt wird instrumental verstanden, er dient „stetiger Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen“. Dazu bedarf es eines „ausgewogenen Handelsverkehrs“ und „redlichen Wettbewerbs“. Gerade in Zeiten der globalen Finanzkrise gewinnt die etwas altmodisch klingende Wendung von der „Redlichkeit“ brennende Aktualität. Einheitliche Lebensverhältnisse sind gewollt, wenn der 35 A. N. Holcombe, Our More Perfect Union. From Eighteenth-Century Principles to Twentieth-Century Praxis, 1967, p. 4. 36 Ob diese Bürgerinnen und Bürger ihrerseits ein europäisches Volk formen oder als solches imaginiert werden können, ist eine weitere Frage, siehe etwa A. Augustin, Das Volk in der Europäischen Union, 2000; M. La Torre, Citizenship: A European Wager, in: Ratio Juris 8 (1995), S. 113 ff.; ders. (Hrsg.), European Citizenship: An Institutional Challenge, 1998. 37 Europa hat bisher zu lange nur die rechtliche Integration betont, sich nun aber allmählich gegenüber dem demokratischem Deutungs- und Legitimationsstrang geöffnet: siehe Ch. Möllers aus Anlass der „Göttinger Gespräche zum deutschen und europäischen Verfassungsrecht“, die vom 15. bis 17. Juni 2006 mit dem Symposium „Verfassungswandel im europäischen Staaten- und Verfassungsverbund“ ihren Auftakt fanden, dazu der Tagungsbericht von D. Thym, DVBl. 2006, S. 1427 ff., 1427. 38 J. Geerlings, Der Europäische Verfassungsprozess nach den gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden, DVBl. 2006, S. 129 ff., 130.
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„Abstand zwischen einzelnen Gebieten“ und der „Rückstand weniger begünstigter Gebiete“ verringert werden soll. Dieses Solidaritätsangebot gilt auch für die überseeischen Gebiete. Die Integrationslogik bleibt bei alldem immer auch eine wirtschaftlich motivierte. Durch den Zusammenschluss ihrer Wirtschaftskräfte will die Union Frieden und Freiheit wahren, dabei und dafür „umfassenden Zugang zur Bildung“ und „ständige Weiterbildung“ ermöglichen. So weist die Präambel des AEUV die Union als eine Wirtschafts- und Solidargemeinschaft aus, deren Erfolg im Wesentlichen von Wissen und Bildung abhängt. Im Zusammenklang mit Art. 3 EUV misst der AEUV der ökonomischen Komponente bei den Unionszielen großes Gewicht, allerdings kein Primat vor den anderen Vertragszielen bei.39 Schon das Ziel, die Werte zu fördern (Art. 3 Abs. 1 EUV), verweist auf den Wert der Freiheit und damit auch auf die Wirtschaftsfreiheit. Das Wohlergehen der Völker (ebenfalls Art. 3 Abs. 1 EUV) setzt leistungsfähige Volkswirtschaften voraus und fordert zugleich Gemeinwohlverträglichkeit des Wirtschaftens. Damit wird die soziale Marktwirtschaft für Europa zu einem Zukunftsmodell. Art. 3 Abs. 3 EUV spricht ausdrücklich von einer „in hohem Maße wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft“.40 Es ist eben dieser 3. Absatz des neugefassten „Zielartikels“ – er ersetzt mit seiner Zielbündelung die bisherigen Art. 2 EUV und Art. 2 und 3 EGV41 –, der die wirtschaftliche Zielperspektive der Union neu kontextualisiert. Nicht die Ökonomie, die nachhaltige Entwicklung Europas, wird zum verklammernden Oberbegriff, der ökonomische, ökologische und soziale Ziele einander zuordnet. Das Ziel der Nachhaltigkeit („sustainable development“, „sustainability“) wurde schon zusammen mit der UmweltQuerschnittsklausel des Amsterdamer Vertrages in das Europäische Vertragswerk aufgenommen42, damals allerdings umweltrechtlich verengt. Nach durchaus kontroverser Diskussion wurde die Stabilität des Preisniveaus bereits in den Verfassungsvertrag inkorporiert, angesichts der seinerzeitigen Streitigkeiten um den „Stabilitäts- und Wachstumspakt“ (1997)43 keine Selbstverständ39 U. Häde, in: Ch. Calliess / M. Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 3. Aufl. 2007, Art. 4 EGV, Rn. 8; U. Kempen, in: R. Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 4 EGV, Rn. 8 ff.; P. Badura, Staatsziele und Garantien der Wirtschaftsverfassung in Deutschland und Europa, FS K. Stern, 1997, S. 409 ff., 414 ff. 40 M. Kotzur, Die Soziale Marktwirtschaft nach dem Reformvertrag, in: I. Pernice (Hrsg.), Der Vertrag von Lissabon: Reform der EU ohne Verfassung, 2008, S. 197 ff. 41 K. H. Fischer, Der Vertrag von Lissabon, 2008, S. 111. 42 J. P. Jaqué, in: H. von der Groeben / J. Schwarze (Hrsg.), EUV / EGV-Kommentar, Bd. 1, 6. Aufl. 2003, Art. 2 EUV, Rn. 2. 43 Dazu gehören VO (EG) Nr. 14566 / 97 des Rates vom 7. Juli 1997 über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken, ABlEG Nr. L 209, S. 1; VO (EG) Nr. 1467 / 97 des Rates vom 7. Juli 1997 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit, ABl. L 209, S. 6; Entschließung des Europäischen Rates vom 17. Juni 1997 über den Stabilitäts- und Wachstumspakt, ABlEG Nr. C 236, S. 1; R. Bandilla, in: Grabitz / Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Bd. II (Stand Dezember 2005), Art. 104 EGV, Rn. 5.
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lichkeit, aber für das Selbstverständnis der Europäischen Union als „Stabilitätsgemeinschaft“44 umso wichtiger – in der aktuellen Krise insbesondere mancher Belastungsprobe unterzogen. Die Formel wurde in den Reformvertrag von Lissabon übernommen. Gleiches gilt für einen hohen Beschäftigungsstand, das ausgewogene Wirtschaftswachstum und – wenngleich nicht explizit so genannt, der Sache nach aber mitgedacht – das außenwirtschaftliche Gleichgewicht.45 Das Wachstumsziel entspricht der „wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft“. Der wirtschaftliche und technische Fortschritt bleibt in das Nachhaltigkeitsprinzip eingebunden. Der letzte Passus von Art. 3 Abs. 3 EUV stellt wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt nebeneinander. Ein Raumbezug wird greifbar und das kooperativ-grenzüberschreitende Moment ist implizit betont, denn wirtschaftlicher Zusammenhalt erfordert wirtschaftliche Zusammenarbeit. Darüber hinaus ist der Begriff „Zusammenhalt“, der seit dem Maastrichter Vertrag den weit schwächeren Terminus „Beziehungen“ ersetzt, als Votum für den Übergang von rein völkerrechtlich geprägtem Austausch zu einem verfassten, föderalen Strukturen folgenden Gemeinwesen zu verstehen.46 Die Idee des Zusammenhalts kulminiert schließlich im Solidaritätskonzept.47 Die Solidarität hat aber nicht nur für die Wirtschaftsgemeinschaft Bedeutung. Im Gewand der Gemeinschaftstreue48 kehrt die Solidarität als Baustein der Rechtsgemeinschaft wieder, in der Grundrechtecharta korrelieren Solidarität, Leistungsstaatlichkeit und gesellschaftliche Eigenverantwortung. Damit ist die Brücke zur Wohlfahrts- und Solidargemeinschaft gespannt. Gerechtigkeit und Solidarität sind der Union nach Art. 2 EUV ein Wert. Solidarität ist ihr ein Ziel: nach innen gem. Art. 3 Abs. 3 AEUV, nach außen gem. Art. 3 Abs. 5 AEUV (Solidarität zwischen den Völkern). Die sozialen Komponenten der Marktwirtschaft wurden bereits angesprochen. Wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt haben gleichen Rang.49 Die sozialen Grundrechte50 der Grundrechtecharta gestal44 BVerfGE 89, 155 (205); R. Streinz / Ch. Ohler / Ch. Herrmann, Totgesagte leben länger – oder doch nicht?, NJW 2004, S. 1553 ff., 1553; J. Hellermann, Die europäische Wirtschafts- und Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft und der nationale Stabilitätspakt in der bundesstaatlichen Solidargemeinschaft, EuR 2000, S. 24 ff. 45 R. Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 2 EGV, Rn. 23; M. Zuleeg, in: H. von der Groeben / J. Schwarze (Hrsg.), EUV / EGV-Kommentar, Bd. 1, 6. Aufl. 2003, Art. 2 EGV, Rn. 9; R. Geiger, EUV / EGV, 4. Aufl. 2004, Art. 2 EGV, Rn. 3. 46 A. von Bogdandy, Europäische Prinzipienlehre, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 149 ff., 182. 47 B. Losch / W. Ch. Radau, Die soziale Verfassungsaufgabe der Europäischen Union, NVwZ 2003, S. 1440 ff., S. 1442, auch unter Verweis (in Fn. 21) auf die Stellungnahmen des UN-Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, GRC Dokument Contrib. 182. 48 Früh M. Lück, Die Gemeinschaftstreue als allgemeines Rechtsprinzip im Recht der Europäischen Gemeinschaften, 1992; siehe auch J. Kokott, in: R. Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 307 EGV, Rn. 20; K. Schmalenbach, in: Ch. Calliess / M. Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 3. Aufl. 2007, Art. 307 EGV, Rn. 18. 49 M. Pechstein, in: R. Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 2 EUV, Rn. 8.
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ten das soziale Zielprogramm näher, auch teilhaberechtlich aus. Art. 3 Abs. 5 AEUV nimmt die Unionsbürger schließlich in weltbürgerliche Verantwortung – eine Verfassungszumutung, die nicht ohne Rückwirkung auf die Mitgliedstaaten bleibt. Mitgliedsstaatliche Politik muss die Staatsbürger davon überzeugen, dass trotz immenser Sparzwänge und hoher Arbeitslosigkeit im Inland, trotz globaler Finanzkrise und hoher Neuverschuldung im Rahmen diverser „Konjunkturpakete“, die finanziellen Aufwendungen zum Wiederaufbau anderwärts auch im wohlverstandenen eigenen Interesse liegen. Die Präambel des AEUV gibt im Zusammenwirken mit den Artikeln über die Werte und Ziele der Union nicht nur ihren Bürgern, sondern auch der Weltgemeinschaft ein Versprechen. Seine Erfüllung steht auf einem anderen Blatt, aber ein Bekenntnis bleibt unzweifelhaft: Europa will keine „Festung“ sein51. 3. Die Präambel der Grundrechtecharta Die Grundrechtecharta sollte einschließlich ihrer Präambel in den Verfassungsvertrag inkorporiert werden. Nach dem Lissabonner Reformprojekt bleibt sie eigenständiger, gleichsam ein dritter „Gründungs“-Vertrag mit primärrechtlicher Qualität.52 Art. 6 Abs. 1 EUV ordnet die normative Verbindlichkeit an. Aus dem „feierlichen Versprechen“ der Mitgliedstaaten wird positives Recht – das seinerseits in der Präambel feierliche Versprechen gibt. Weil mit der Charta ein geschriebenes Dokument vorliegt, ist diesem Versprechen bürgerfreundliche Transparenz verliehen.53 Es kann die Bürgerinnen und Bürger direkt ansprechen54; für die Theoriebildung der Jurisprudenz bildet es den Auftakt textgeleiteter und kontextbezogener Interpretation. Die Grundrechtecharta stellt schon in ihrer Präambel klar, dass sie aufgreifen will, was von EuGH und EGMR richterrechtlich entwickelt wurde. Sie will zugleich „Wertbasis“ der sich verfassenden Union sein 50 B. Losch / W. Ch. Radau, Die soziale Verfassungsaufgabe der Europäischen Union, NVwZ 2003, S. 1440 ff., 1441. 51 Allgemein P. Schiffauer, Zum Verfassungszustand der Europäischen Union nach der Unterzeichnung des Vertrags von Lissabon, EuGRZ 2008, S. 1 ff. 52 E. Pache / F. Rösch, Europäischer Grundrechtsschutz nach Lissabon – die Rolle der EMRK und der Grundrechtecharta in der EU, EuZW 2008, S. 519 ff. 53 Wörtlich heißt es: „Zu diesem Zweck ist es notwendig, angesichts der Weiterentwicklung der Gesellschaft, des sozialen Fortschritts und der wissenschaftlichen und technologischen Entwicklung den Schutz der Grundrechte zu stärken, indem sie in einer Charta sichtbarer gemacht werden“. 54 Eine andere Frage ist, ob die Union nach dem Vorbild mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen, etwa der deutschen Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG), eines Grundrechtsbeschwerdeverfahren bedarf; dazu M. A. Dauses, Braucht die Europäische Union eine Grundrechtsbeschwerde?, EuZW 2008, S. 449. Ebenso offen bleibt, inwieweit die neu geschaffene „Europäische Grundrechtsagentur“ den europäischen Grundrechtsschutz bürgernah effektivieren kann, siehe I. Härtel, Die Europäische Grundrechtsagentur: unnötige Bürokratie oder gesteigerter Grundrechtsschutz?, EuR 43 (2008), S. 489 ff.
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bzw. werden55, spricht deshalb von unteilbaren und universellen Werten, verortet die Menschenwürde als „anthropologische Prämisse“ der europäischen Grundrechtsgemeinschaft 56. Aus dem Zusammenspiel zwischen dem Würdebekenntnis der Präambel und Art. 1 der Charta ist dem Menschenbild der Union sein normatives Leitbild vorgegeben: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“.57 Das Unionsrecht hat rezipiert, worin freiheitlichen Verfassungsordnungen nach dem Muster von Art. 1 Abs. 1 GG gründen. Von Art. 1 Grundrechtecharta und den europäischen Menschenrechtsverbürgungen her gedacht, nimmt das Unionsrecht den einzelnen als Menschen, von Art. 9 EUV her gedacht als Bürger ernst. Ein einheitliches Menschen- und Bürgerbild ist damit freilich nicht verbunden. Das Unionsrecht setzt einen Menschen voraus, der komplex und widersprüchlich58, teils verantwortungsbewusst, teils verantwortungsvergessen ist, der sich als gemeinwohlorientierter citoyen59 und egoistischer bourgeois versteht, der heute am politischen Prozess partizipieren und morgen in sein „right to be let alone“ flüchten will. Aber gerade diesen Menschen will die Union in „den Mittelpunkt ihres Handels rücken“, ihm ferner einen „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ begründen. Damit ist ein maßgebliches Verfassungsziel aus Art. 3 Abs. 2 EUV wiederholt.60 Der Europäische Rat von Tampere hatte schon im Jahre 1999 diesen Dreiklang geprägt.61 Die Grundrechtecharta stellt nun klar, dass nur ein grund55 K. Notz, Die Grundrechtscharta als Wertbasis der EU-Verfassung, in: W. Weidenfeld (Hrsg.), Die Europäische Verfassung in der Analyse, 2005, S. 59 ff.; U. Di Fabio, Grundrechte als Wertordnung, JZ 2004, S. 1 ff. 56 Grundlegend P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 4. Aufl. 2008, S. 19; ders., Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 22. 57 H.-P. Folz, in: Ch. Vedder / W. Heintschel v. Heinegg (Hrsg.), Europäischer Verfassungsvertrag, Art. II-61, Rn. 1; M. Borowsky, in: J. Meyer (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. 2006, Art. 1, Rn. 6 ff. 58 Zum folgenden P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 4. Aufl. 2008, S. 37 ff. 59 R. Smend, Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 309 ff., unterscheidend zwischen dem „sittlich an den Staat gebundenen Bürger“ (citoyen) und dem „rechenhaften Egoist der kapitalistischen Zeit“ (bourgeois); weiterhin U. K. Preuß, Der EU-Staatsbürger – Bourgeois oder Citoyen, in: G. Winter (Hrsg.), Das Öffentliche Heute, 2002, S. 179 ff.; M. La Torre, Citizenship: A European Wager, Vol. 8, Ratio Juris (1995), S. 113 ff. 60 M. Ruffert, Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in schwierigem Terrain – Kontinuierliche Verfassungsgebung in schwierigem Terrain, in: I. Pernice (Hrsg.), Der Vertrag von Lissabon: Reform der EU ohne Verfassung?, 2008, S. 169 ff., 170. 61 Siehe die Schlussfolgerungen des Vorsitzes zum Rat von Tampere (15. / 16. 10. 1999), www.europarl.eu.int / summits / tam_de.htm; ausführlich und mit vielen weiteren Nachweisen zum „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ M. Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, 2002, S. 557 ff., 618 ff.; später G. Brinkmann, An Area of Freedom, Security and Justice: Five Years After its Creation: The Immigration and Asylum Agenda, ELJ 10:2 (2004); E. Pache (Hrsg.), Die Europäische Union – Ein Raum der
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rechtsradizierter Raum Freiheit in Sicherheit ermöglicht und dabei rechtsstaatlichen Anforderungen genügt. Die Freiheit ist dabei grundrechtlich und „grundfreiheitlich“ ausbuchstabiert, deshalb bezieht sich die Präambel ausdrücklich auf „den freien Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr sowie die Niederlassungsfreiheit“. Auch Art. 67 AEUV beschreibt den „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ als einen, „in dem die Grundrechte und die verschiedenen Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten geachtet werden.“ Gemeineuropäisches Verfassungsrecht entsteht aus den kulturell grundierten gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten.62 Unter diesen nehmen die Grund- und Menschenrechte eine prominente Stellung ein (Art. 6 Abs. 2 EUV alte Fassung).63 Seit der Gerichtshof in der Rechtssache „Stauder gegen die Stadt Ulm“64 erstmals auf die Grundrechte rekurrierte, hat er in weit ausgreifender Rechtsprechung nahezu alle verfassungsstaatlichen Grundrechtsgarantien „europäisiert“.65 So konnte sich im ineinandergreifenden Wechselspiel von mitgliedstaatlichen und unionaler Teilverfassung(en) ein „gemeineuropäisches Grundrechte-Recht“, aus dessen kulturellen Grundierungen und Ausstrahlungswirkungen wiederum eine gemeineuropäische Grundrechtskultur entwickeln.66 Diese Kultur lebt nicht zuletzt von ihrer Pluralität. Deshalb will die Union, so ein weiteres zentrales Präambelversprechen, die Kulturen und Traditionen der Völker Europas achten, die nationale Identität der Mitgliedstaaten respektieren. Grundrechtliche Universalität und Partikularität sind als einander korrespondierende, nicht etwa ausschließende Prinzipien gedacht. Aus diesem Grunde wird auch die Subsidiarität neuerlich betont.67 Die Grundrechtsbindung der Gemeinschaft soll einer Aushöhlung des Prinzips der begrenzten Einzelfallermächtigung nicht ungewollten Vorschub leisten. Freiheit, der Sicherheit und des Rechts?, 2005; R. Streinz, Europarecht, 8. Aufl. 2008, Rn. 958 ff. 62 P. Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 261 ff.; ders., Europäische Rechtskultur, 1994 (TB 1997), S. 33 ff.; ders., Europäische Verfassungslehre, 5. Aufl. 2008, S. 104 ff., 124 ff. und öfter; P. Ridola, Die kulturgeschichtlichen Grundlagen der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen, in: Liber Amicorum P. Häberle, 2004, S. 173 ff. 63 C. Stumpf, in: J. Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2000, Art. 6 EUV, Rn. 4 ff.; P. Pescatore, Die Menschenrechte und die europäische Integration, Integration 1969, S. 103 ff.; S. Broß, Grundrechte und Grundwerte in Europa, JZ 2003, S. 429 ff.; Th. Oppermann, Europarecht, 3. Aufl. 2005, § 6 Rn. 26 ff. mit zahlreichen w. N. aus der kaum mehr zu überblickenden Literatur. 64 RS. 29 / 69, Slg. 1969, 419. 65 Detaillierte Nachweise dazu bei H.-J. Schütz / Th. Bruha / D. König, Casebook Europarecht, 2004, S. 867 ff.; J. Schwarze, in: ders. (Hrsg.), EU-Kommentar, 2000, Art. 220 EGV, Rn. 16. 66 Grundlegend P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 5. Aufl. 2008, S. 6, S. 330 ff. 67 Statt aller A. D’Atena, Die Subsidiarität: Werte und Regeln, in: Liber Amicorum P. Häberle, 2004, S. 327 ff. mit zahlreichen w. N.
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Wie gezeigt reflektiert der Präambeltext der Grundrechte-Charta in vielem die Präambelbestimmungen von EUV und AEUV, ebenso die Werte und Ziele der Union aus Art. 2 und 3 EUV. Manche Textelemente werden wörtlich wiederholt. Das gilt schließlich auch für den „Frieden“. Schon im ersten Passus ist mit der „friedlichen Zukunft“ ein klassisches, Identität stiftendes und Legitimität begründendes Paradigma einer jeden Rechtsordnung aufgegriffen: die Ausrichtung auf den Frieden hin.68 Nichts anderes meint das Staatziel der „Friedensstaatlichkeit“69, das sich in den entsprechenden Normensembles der mitgliedstaatlichen Verfassungen findet. Der ebenfalls schon mehrfach angesprochene „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ muss notwendig ein Raum des Friedens in Freiheit und Sicherheit sein – konstituiert durch das Recht, abgesichert durch die Grundrechte. Umfasst ist nicht allein der negative Frieden, der rein formal auf die aktuelle Abwesenheit von militärischer Gewalt abstellt. Umfasst ist darüber hinaus der vielschichtigere, kaum verbindlich definierbare positive oder materiale Friedensbegriff. Er verweist nach außen auf eine evolutive Entwicklung der internationalen Beziehungen, nach innen auf einen gesamtgesellschaftlichen Zustand, in dem all diejenigen Gründe von vornherein abgebaut werden sollen, die potentiell zu kriegerischen Auseinandersetzungen und sonstigen Formen von Gewaltanwendung führen könnten.70 Material angereichert wird der Friedensbegriff zudem durch die in Art. 2 EUV formulierten Werte der Union. Wertorientierung bleibt eine existentielle Friedensbedingung. Wer sich zur Achtung der Menschenrechte, zu Freiheit und Demokratie, zu Pluralismus, Toleranz und Gerechtigkeit etc. bekennt, muss – soll das Bekenntnis glaubwürdig bleiben – zu stetiger Aussöhnung bereit sein.71 Die deutsch-französische, deutsch-tschechische und deutsch-polnische Freundschaft geben nur einige Beispiele. Dass sie nicht schlicht für selbstverständlich genommen werden dürfen, sondern stetig aktiver Verfestigung bedürfen, beweist die Tagespolitik.
68 Klassikertext ist I. Kant, Zum ewigen Frieden (1794), etwa in der von O. Höffe hrsgg. Ausgabe 1995. 69 K.-P. Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997, S. 237 ff.; zur „Friedensfunktion des Staatsbegriffs“ M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, 6. Aufl. 2003, S. 52 ff. 70 Aus der völkerrechtlichen Lit. R. Wolfrum, Art. 1 SVN Rn. 5, in: B. Simma (Hrsg.), Charta der Vereinten Nationen, 1991; kritisch A. Randelzhofer, Der normative Gehalt des Friedensbegriffs im Völkerrecht der Gegenwart, in: J. Delbrück (Hrsg.), Völkerrecht und Kriegsverhütung, 1979, S. 13 ff., 15 ff.; J. Isensee, Positivität und Überpositivität der Grundrechte, in: D. Merten / H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. II, 2006, § 26 Rn. 93. 71 Eine Verfassungskultur der Toleranz postuliert J. P. Müller, Einheit der Verfassung und Vielfalt der Kultur, in: Liber Amicorum P. Häberle, Tübingen 2004, S. 17 ff., 20 ff.
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IV. Die Gemeinschaftsidee im Spiegel der Präambelbestimmungen Die hier vorgestellten Präambelbestimmungen sind die gemeinsamen Narrative der Gemeinschaft. Sie erzählen von der Gemeinschaftsidee, verorten sie historisch, konturieren ihre Zukunftsperspektive, vor allem verleihen sie ihr Konturen. Von der Rechts- und Friedensgemeinschaft, der Wirtschafts- und Solidargemeinschaft war schon die Rede. Auch die Ideen von Vorsorge und Entwicklung klingen an. Es bedarf der Gemeinschaft zur Daseins-, Risiko und Freiheitsvorsorge, weil der Nationalstaat allein diesen Vorsorgeaufgaben72 nicht mehr gewachsen ist. Die Wertegemeinschaft ist in den Präambeltexten ausdrücklich benannt. Wert- und Verantwortungsethik bilden zwei Seiten ein und derselben Medaille. In den Präambeln und insbesondere Art. 2 EUV sind die identitätsstiftenden Gemeinschaftswerte zu einem konstitutionellen Text, zu einem Verfassungsversprechen geworden. Das „Wertefeuerwerk“73, das der Vertrag von Lissabon weitgehend aus dem Verfassungsvertrag übernimmt, mag den irritieren, der allen Werttheorien skeptisch gegenübersteht.74 Doch verstecken sich hinter den Werten Verfassungsprinzipien, die als grundlegende Strukturentscheidungen die Infrastruktur des gesamten europäischen Rechtssystems prägen. Förderung der Werte heißt also auch: Sicherung der Verfassungsprinzipien durch Union und Mitgliedstaaten, durch alle drei staatlichen respektive Gemeinschaftsgewalten. Europa ist Verantwortungsgemeinschaft nach innen wie nach außen hin. Mit dem Vertrag von Lissabon erwächst die Union in Völkerrechtspersönlichkeit und besitzt damit völkerrechtliche Handlungsfähigkeit.75 Art. 3 Abs. 5 EUV greift die relevanten Präambelversprechen auf und leitet aus der völkerrechtlichen Handlungsfähigkeit ein weit ausgreifendes Unionsziel ab: von der Friedenssicherung über die Armutsbekämpfung bis zum Schutz der Rechte des Kindes, mit einem deutlichen Akzent auf dem ganzheitlichen Ansatz nachhaltiger Entwicklung,76 ist 72 Zum Parallelbegriff des nicht allein ökologisch gemeinten „Vorsorgestaates“ H. Hofmann, „Umweltstaat“: Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen und Schutz vor den Gefahren und Risiken von Wissenschaft und Technik in staatlicher Verantwortung, in: FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2001, S. 873 ff.; R. Steinberg, Der ökologische Verfassungsstaat, 1998; A. Scherzberg und O. Lepsius, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse, VVDStRL 63 (2004). 73 Ebd., S. 1037. 74 Auch das Bundesverfassungsgericht ist für seine Einordnung der Grundrechte als „objektive Werteordnung“ vielfach kritisiert worden, vgl. K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd, III / 2, 1994, S. 1685; M. Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG-Kommentar, 4. Aufl. 2007, vor Art. 1, Rn. 66. 75 A. Hofmann / W. Wessels, Der Vertrag von Lissabon – eine tragfähige und abschließende Antwort auf konstitutionelle Grundfragen, integration 2008, S. 3 ff. 76 J. Luther, Zur Entwicklung des Rechts auf Entwicklung – Europäische Beiträge, in: Liber Amicorum P. Häberle, Tübingen 2004, S. 17 ff.; W. Kahl (Hrsg.), Nachhaltigkeit als Verbundbegriff, 2008.
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ein weiter Verantwortungshorizont abgesteckt. Kritiker werden hinter dieser ehrgeizigen Vision einer „besseren Weltordnung“ wenig normativ Verwertbares vermuten. Doch im Kontext der einzelnen Politiken kann pathetischem Bekennen durchaus pragmatisches Handeln folgen. Die strikte Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts unter Wahrung der Grundsätze der Vereinten Nationen verdient besondere Erwähnung. Die Klausel hat ihr Vorbild in völkerrechtlichen Öffnungsklauseln der mitgliedstaatlichen Verfassungen. Sie mahnt für die Europäische Union eine aktive Rolle in Sachen Völkerrecht an. Die alles bündelnde Gemeinschaftsidee ist indes die der Kulturgemeinschaft. Das „kulturelle Erbe“ aus der Präambel des EUV hat Leitmotivcharakter.77 In Art. 3 Abs. 3 EUV wird die Präambelaussage zum normativ verbindlichen Unionsziel verdichtet: die Union „wahrt“ den „Reichtum“ der „kulturellen und sprachlichen Vielfalt“ ihrer Mitgliedstaaten; sie „sorgt für den Schutz und die Entwicklung des kulturellen Erbes Europas“. Für die europäische Rechtsgemeinschaft ist ein Bekenntnis zu gemeinsamen Kulturwerten drängender als für Nationalstaaten, die das einigende Band gemeinsamer Kultur und geteilter kultureller Werte selbstverständlicher erleben. Der Schutz und die Entwicklung des kulturellen Erbes Europas vermitteln identitätsstiftende Anbindung an Tradition und Herkommen. Aus dem Erbe soll zugleich eine Zukunftsperspektive erwachsen.78 Überdies trägt die „Kulturgemeinschaftsklausel“ eine noch deutlicher normative Handschrift als es der typischerweise eher bekenntnishafte Bezug auf den „kulturellen Reichtum“ erwarten ließe. Die Wahrung der kulturellen Vielfalt sichert mitgliedstaatliche Interessen und die nationale Identität der Mitgliedstaaten, ergänzend geschützt durch das Subsidiaritätsprinzip. In der Wahrung der Sprachenvielfalt79 steckt zudem ein individualrechtliches Moment.80 Alles in allem sind Europas Verfassungsbausteine wie Toleranz und Pluralismus, Menschenrechte, Demokratie, Rechts- und Sozialstaatlichkeit kulturelle Errungenschaften. Die Entwicklung des kulturellen Erbes Europas umfasst deren geltungssichernde Fortbildung.
A. Pizzorusso, Il patrimonio costituzionale europeo, 2002. Europa ist ein kultureller Raum gemeinsam erlebten, geteilten „Schicksals“: L. Kühnhardt, Constituting Europe, 2003, S. 18 („expression of shared destiny and common interests“); F. Reimer, Wertegemeinschaft durch Wertenormierung. Die Grundwerteklausel im Europäischen Verfassungsvertrag, in: ZG 2003, S. 208 ff.; M. Stolleis, Europa – seine historischen Wurzeln und seine künftige Verfassung, 1996, S. 6. 79 Die „Sprachenvielfalt als europäischen Rechtswert“ bezeichnet E. Jayme, Ein Internationales Privatrecht für Europa, in: ders., Ein Internationales Privatrecht für Europa. Reden zur Verleihung des Landesforschungspreises Baden-Württemberg, 1989, S. 5 ff., 11 ff.; M. Borghi, La liberté de la langue et ses limites, in: D. Thürer / J.-F. Aubert / J. P. Müller (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, 2001, S. 607 ff.; Th. Bruha (Hrsg.), Die Europäische Union und ihre Sprachen, 1998; siehe auch die Staatsrechtslehrereferate von R. Schweizer und W. Kahl zum Beratungsgegenstand „Sprache als Kultur- und Rechtsgut“, VVDStRL 65 (2006), S. 346 ff. bzw. 386 ff. 80 Vgl. P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 744 ff. 77 78
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V. Schlussbetrachtung Die Präambeltrias aus EUV, AEUV und Grundrechte-Charta erzählt teils erkenntnisorientiert, teils bekenntnishaft die europäische Integrationsgeschichte in ihrem Kern. Sie spricht von Hoffnungen, wagt Versprechen, fordert Verantwortung ein. Vor allem verweisen die Präambeltexte – im Zusammenspiel mit Art. 2 und 3 EUV – auf die Werte und Ziele der Union, die ihrerseits den archimedischen Punkt europäischer Verfassungsidentität81 bilden. Wie in einem Brennspiegel führen sie zusammen, was die Europäische Verfassung sein will, welche Kriterien sie unmittelbar an die maßgeblichen Identifikationsprozesse der europäischen Bürger mit ihrer Verfassung anlegt und wie sie – mittelbar identitätsbildend – die Dynamik politischer Einheitsbildung in Europa zu steuern trachtet.82 Hier schließt sich der Kreis zum dem, was als „Leipziger Prolog“ den Erwägungen vorangestellt wurde. Nicht als Eliteprojekt, rechtliches Konstrukt oder Marktnotwendigkeit, sondern nur durch gelebten Bürgersinn kann sich Europa zur politischen Gemeinschaft emanzipieren, kann Europa „in guter Verfassung sein“.83 „Wir Sind das Volk!“, „Wir sind ein Volk“ wurde zum Programmsatz in der „Meistererzählung“ der wiedervereinigten Bundesrepublik Deutschland. „Wir sind die Bürgerinnen und Bürger Europas!“ sollte zum Programmsatz in der Meistererzählung des geeinten Europa werden. Die Universität bietet den Raum, solche Programmatik aus der Perspektive der unterschiedlichsten Disziplinen wissenschaftlich zu beleuchten und darüber hinaus einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das gilt gewiss nicht nur in Jubiläumsjahren.
81 Früh qualifizierte der EuGH die Ziele des EGV als „vertragsprägende Norm“, Slg. 1974, 359 Rn. 10 – Kommission / Frankreich; von einer „Grundnorm des Integrationsprogramms“ spricht mit Blick auf Art. 2 EG R. Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 2 EGV, Rn. 2.; zum identitätsstiftenden Moment von Art. 6 Abs. 1 EUV M. Pechstein, in: R. Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 2 EUV, Rn. 9; zum Zusammenhang von Unionsbürgerschaft und innerer Identität der Gemeinschaft ebd., Rn. 12; siehe schließlich R. Geiger, EUV / EGV, 4. Aufl. 2004, Art. 2, Rn. 3 zur „Identität“ und „Individualität“ der Union. 82 Zur „Identität durch Verfassungsrecht“ einschließlich der Differenzierung in unmittelbare und mittelbare Verfassungsidentität A. v. Bogdandy, Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht, VVDStRL 62 (2003), S. 156 ff., 170 ff.; die staatliche Identität als ein Produkt der Rechtsordnung wertet Ch. Möllers, Staat als Argument, 2000, S. 151 ff. 83 A. Hatje / A. Kindt, Der Vertrag von Lissabon – Europa endlich in guter Verfassung?, NJW 2008, S. 1761 ff.
Parlamentarische und plebiszitäre Gesetzgebung Von Martin Oldiges Leipzig ist seit jeher eine Stadt des Rechts.1 Seit Gründung der Leipziger Universität vor nunmehr sechshundert Jahren wird hier das Recht gelehrt2; ebenfalls seit Jahrhunderten wird von Leipziger Spruchkörpern unterschiedlichster Art Recht gesprochen3. An die große Zeit der Rechtsprechung des Reichsgerichts erinnert bis heute dessen grandioses Gerichtsgebäude, in dem jetzt das Bundesverwaltungsgericht residiert. Von den sächsischen Gerichten, die gegenwärtig ihren Sitz in Leipzig haben, soll hier nur der Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen (SächsVerfGH) Erwähnung finden, denn die nachfolgende Darstellung wäre unvollständig, nähme sie nicht auch auf seine Rechtsprechung Bezug. Als Kind der Errichtung demokratisch-rechtstaatlicher Staatswesen auf dem Gebiet der früheren Deutschen Demokratischen Republik4 wirkt er als eines der drei Verfassungsorgane im Freistaat Sachsen. Seine Aufgabe, darin den Landesverfassungsgerichten der übrigen Bundesländer weitgehend vergleichbar, besteht darin, über die Wahrung der Verfassung des Freistaates im Handeln all seiner Organe, Gerichte und Behörden zu wachen. Seine Rechtsprechung hierzu ist reichhaltig5 und gibt Anregungen auch zu diesem Beitrag.
Vgl. hierzu Kern, Leipzig als Stadt des Rechts, ZZP 1998, 261. Auch ohne dass die Juristenfakultät der Universität Leipzig von deren Gründung an bereits als Einrichtung existierte, fand die Rechtslehre doch schon in der päpstlichen Stiftungsurkunde vom 9. September 1409 mit der Formulierung „in utroque iure, videlicet canonico et civili“ (Unterweisung sowohl im kirchlichen als auch im weltlichen Recht) Erwähnung. Vgl. Friedberg, Das Collegium Juridicum, 1882, S. 9 f. m. Nw., ders., in: Festschrift zur Feier des 500jährigen Bestehens der Universität Leipzig, 1909, 2. Bd., S. 1 f. 3 Blaschke, Vom Stadtbrief zum Reichsgericht. Die Stadt Leipzig als Ort der Rechtsprechung. In: Leipzig. Stadt der Rechtsprechung, 1994. 4 Der SächsVerfGH nahm mit seiner konstituierenden Sitzung am 15. Juli 1993 seine Tätigkeit auf. 5 Vgl. hierzu die Übersichten bei Lenz / Meng, Zehn Jahre Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen, SächsVBl. 2003, 153; Budde / Tolkmitt / Umbach, In weiter Ferne so nah – Fünfzehn Jahre Landesverfassungsgerichtsbarkeit im Freistaat Sachsen, SächsVBl. 2008, 257. 1 2
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I. Rechtsfragen plebiszitärer Gesetzgebung in der Rechtsprechung des SächsVerfGH Anders als das Grundgesetz gestatten die Verfassungen aller Länder der Bundesrepublik Deutschland in Anerkennung von Elementen direkter Demokratie mehr oder weniger begrenzt eine plebiszitäre Gesetzgebung (Volksgesetzgebung) neben der herkömmlichen Form parlamentarischer Gesetzgebung6; in einigen Ländern kann durch Volksinitiative darüber hinaus begehrt werden, dass sich die jeweilige Volksvertretung auch mit sonstigen Gegenständen der politischen Willensbildung befasst. Die Landesverfassungen regeln durchweg recht ausführlich das Verfahren plebiszitärer Willensbildung, aber nur knapp deren zulässige Gegenstände und insbesondere gar nicht das Verhältnis von plebiszitärer und parlamentarischer Gesetzgebung. Das wissenschaftliche Schrifttum hat auf diese Regelungsdefizite reagiert, teils mit umfassenden Monographien7, teils mit – meist auf aktuelle Rechtsprechung reagierenden – Zeitschriftenbeiträgen 8. Der Meinungsvielfalt dieser literarischen Äußerungen vergleichbar haben auch die Landesverfassungsgerichte, soweit sie mit Fragen plebiszitärer Gesetzgebung befasst wurden, durchaus divergierende Entscheidungen getroffen9. Damit sind bis heute manche Fragen um die Volksgesetzgebung nicht abschließend beantwortet. Die in neuerer Zeit zu beobachtende Tendenz, das Verfahren plebiszitärer Willensbildung durch Verfassungsänderung zu erleichtern, wie auch die wachsende Neigung in der Bevölkerung, sich dieses Instruments zu bedienen, werden auch weiterhin verfassungsrechtliche Streitfragen aufwerfen, über die dann die Verfassungsgerichte der Länder zu befinden haben werden. Jüngstes Beispiel hierfür ist die Anrufung des ThürVerfGH in der Aus6
Überblick bei Hartmann, Volksgesetzgebung in Ländern und Kommunen, DVBl. 2001,
776. 7 Vgl. u. a. Bu ÿgiel, Volkswille und repräsentative Entscheidung, 1991; JŸrgens, Direkte Demokratie in den Bundesländern, 1993; Przygade, Die deutsche Rechtsprechung zur unmittelbaren Demokratie, 1995; Weixner, Direkte Demokratie in den Bundesländern, 2002; Rosenke, Die Finanzbeschränkungen bei der Volksgesetzgebung in Deutschland, 2006. 8 Hier sei nur verwiesen auf Peine, Volksbeschlossene Gesetze und ihre Änderung durch den parlamentarischen Gesetzgeber, Der Staat 18 (1979), 375; Borowski, Parlamentsgesetzliche Änderungen volksbeschlossener Gesetze, DÖV 2000, 481; Isensee, Volksgesetzgebung – Vitalisierung oder Störung der parlamentarischen Demokratie?, DVBl. 2001, 1161; Schweiger, Volksbegehren und „Volksinitiative“ – Verfssungsgerichtliche Vorprüfung von Anträgen auf ihre Zulassung, NVwZ 2002, 1471; Kertels / Brink, Quod licet jovi – Volksgesetzgebung und Budgetrecht, NVwZ 2003, 435; Zschoch, Volksgesetzgebung und Haushaltsvorbehalt, NVwZ 2003, 438; Engelken, Kann ein Volksbegehren Sperrwirkung für Gesetzgebung und Regierung haben?, DVBl. 2005, 415; Jacobsen, Zur Verbindlichkeit der Volksgesetzgebung, DÖV 2007, 949; Rossi / Lenski, Treuepflichten im Nebeneinander von plebiszitärer und repräsentativer Demokratie, DVBl. 2008, 416. 9 Überblicke mit unterschiedlichem Gegenstand bei Kertels / Brink (Fn 8), NVwZ 2003, 435 ff.; SächsVerfGH v. 11. 7. 2002, JbSächsOVG 10 (2002), 9 (29 f.), auch in SächsVBl. 2002, 236, und in NVwZ 2003, 472 (474); HbgVerfG v. 15. 12. 2004, DVBl. 2005, 439 (440 f. – zu Lit. und Rspr.); HbgVerfG v. 22. 4. 2005, DVBl. 2006, 631 (633 ff.).
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einandersetzung um eine auf die Erleichterung kommunaler Bürgerbegehren gerichtete plebiszitäre Gesetzesinitiative10. Auch der SächsVerfGH ist mehrfach mit Problemen plebiszitärer Gesetzgebung befasst worden. Das soll der nachfolgende kurze Überblick über die einschlägigen Entscheidungen des Gerichtshofs veranschaulichen. Bereits in seinem Beschluss vom 17. Juli 199811 hatte sich der Gerichtshof mit zwei grundsätzlichen Problemen der Volksgesetzgebung und der dabei anfallenden verfassungsrechtlichen Rechtssetzungsmöglichkeiten zu befassen. In materiellrechtlicher Hinsicht ging es um die Frage, ob ein parlamentarisches Gesetzgebungsverfahren – im vorliegenden Fall handelte es sich um Entwürfe für Gesetze zur Gemeindegebietsreform – zurückgestellt werden müsse, solange ein dagegen gerichtetes Volksantragsverfahren noch nicht abgeschlossen sei. Der Gerichtshof verneinte diese Frage mit der Begründung, dass die dem Landtag und die dem Volk jeweils zugewiesenen Gesetzgebungskompetenzen nach Maßgabe der sächsischen Verfassung gleichwertig und in ihrer verfahrensrechtlichen Ausgestaltung voneinander unabhängig seien; gegenseitige Rücksichtnahme könne weder in der einen noch in der anderen Richtung verlangt werden. Auch der Grundsatz der Organtreue schmälere nicht verfassungsrechtliche Gesetzgebungskompetenzen; Rücksichtnahme könne vom parlamentarischen Gesetzgeber allenfalls ganz ausnahmsweise und frühestens nach erfolgreichem Abschluss des sich – an das Antragsverfahren anschließenden – Volksbegehrens verlangt werden. In prozessualer Hinsicht erklärte der Verfassungsgerichtshof die zur Organisation des Plebiszits berufene Vertrauensperson im Organstreitverfahren für beteiligtenfähig. Der Volksgesetzgeber sei als antragsberechtigter „anderer Beteiligter“ zu verstehen, für den in gerichtlicher Prozeßstandschaft die Vertrauensperson handele. Im Urteil vom 17. Dezember 199812 ging es um die eher ungewöhnliche Konstellation, dass sich der Verfassungsrechtsstreit um das Vorliegen der formellen Voraussetzungen einer erfolgreichen Volksantrages erledigt hatte, weil dieser Antrag inzwischen vom Landtag abgelehnt worden war. Der Verfassungsgerichtshof stellte klar, dass damit automatisch und ohne Rücksicht auf die Zulässigkeit des Volksantrages der Weg zum Volksbegehren eröffnet sei. Er entschied aber auch weiterhin, dass die im Gesetz über Volksantrag, Volksbegehren und Volksentscheid (VVVG) getroffenen Verfahrensregelungen mit der sächsischen Landesverfassung insoweit nicht in Einklang stünden, wie dort die Initiatoren bei Streit über die formelle Zulässigkeit eines Volksantrages darauf verwiesen würden, gegen eine ablehnende Entscheidung des Landtagspräsidenten ihrerseits den Verfassungsgerichtshof anzurufen. Art. 71 II 3 SächsVerf sehe vielmehr vor, dass der Land10 FAZ Nr. 5 v. 7. 1. 2009, S. 4. Inzwischen hat sich der Rechtsstreit durch Rücknahme der Verfassungsklage erledigt. 11 SächsVerfGH v. 17. 7. 1998 (Vf. 32 – I – 98), JbSächsOVG 6 (1998), 40, auch in SächsVBl. 1998, S. 216. 12 SächsVerfGH v. 17. 12. 1998 (Vf. 12,13 – X – 98), JbSächsOVG 6 (1998), 69.
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tagspräsident seinerseits bei Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit des Volksantrages – und damit auch bei nur formeller Unzulässigkeit – die Entscheidung des SächsVerfGH einzuholen habe. Dem Beschluss vom 26. August 199913 lag die Frage zugrunde, ob Staatsregierung und Landtagspräsident im Verfahren zur Prüfung der Zulässigkeit eines Volksbegehrens aus Gründen der Verfahrensbeschleunigung verpflichtet sein könnten, eine Stellungnahme bis zu einem bestimmten Termin abzugeben bzw. in entsprechender Weise darüber eine Entscheidung zu treffen. Eine derartige Verpflichtung gegenüber der als Antragstellerin aktiv gewordenen Vertrauensperson hätte sich allein aus dem Gesichtspunkt der Organtreue herleiten lassen. Der Verfassungsgerichtshof entschied jedoch, dass im plebiszitären Gesetzgebungsverfahren eine zur Organtreue verpflichtende Rechtsbeziehung der Vertrauensperson zur Staatsregierung nicht bestehe; hinsichtlich des auf den Landtagspräsidenten bezogenen Entscheidungsbegehrens sah der Verfassungsgerichtshof im Verfahren der einstweiligen Anordnung, um das es sich hier handelte, keinen Regelungsbedarf. Große Aufmerksamkeit erregte der Gerichtshof mit seinem Urteil vom 11. Juli 200214, in dem er sich mit dem sog. Haushaltsvorbehalt der plebiszitären Gesetzgebung zu befassen hatte. Gegenstand des Verfahrens war die bis heute nicht abschließend beantwortete Frage, ob der Volksgesetzgeber befugt ist, im plebiszitären Gesetzgebungsverfahren auch solche Gesetze zu erlassen, die für den Staatshaushalt finanzielle Kosten zur Folge haben (finanz- oder haushaltswirksame Gesetze). Die Verfassungen der Länder nehmen mit unterschiedlichen Formulierungen den Staats- oder Landeshaushalt15, den Haushaltsplan16, Haushaltsgesetze17, Haushaltsangelegenheiten18, Finanzfragen19 oder auch finanzwirksame Gesetze20 von der Gesetzgebungskompetenz des Volkes aus. Für den Freistaat Sachsen entschied der Gerichtshof, dass der Begriff „Haushaltsgesetz“ i. S. der SächsVerf formell zu verstehen sei und nur die den Haushaltsplan feststellenden Gesetzgebungsakte meine; Gesetze, die lediglich finanzielle Folgen für den Staatshaushalt hätten, also finanzwirksam seien, fielen nicht hierunter. Angesichts der finanziellen Folgewirkungen nahezu aller Gesetze sei eine Volksgesetzgebung SächsVerfGH v. 26. 8. 1999 (Vf. 59 – I – 99), nicht veröffentlicht. SächsVerfGH v. 11. 7. 2002 (Fn. 9), JbSächsOVG 10 (2002), 9. Stellungnahmen hierzu vor allem bei Kertels / Brink (Fn 8), NVwZ 2003, 435, und Zschoch (Fn 8), NVwZ 2004, 438. 15 Art. 73 BayVerf; Art. 62 V BlnVerf.; Art. 76 II BbgVerf; Art. 59 MeVVerf; Art. 41 II SchlHVerf; Art. 82 II ThürVerf. 16 Art. 70 II BremVerf (hier auch: „Einzelheiten“ des Haushaltsplanes); Art. 124 I 3 HessVerf. 17 Art. 60 VI BWVerf; Art. 48 I 3 NdsVerf; Art. 73 I SächsVerf; Art. 81 I 3 LSAVerf. 18 Art. 50 I 2 HbgVerf. 19 Art. 68 I 3 NWVerf; Art. 108a I 2 RhPfVerf. 20 Art. 99 I 3 SaarlVerf: „Finanzwirksame Gesetze, insbesondere Gesetze über . . . Staatsleistungen und den Staatshaushalt“. 13 14
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anders nicht denkbar. Das elementar dem Demokratieprinzip zuzurechnende Budgetrecht des Landtages sieht der Verfassungsgerichtshof durch seine restriktive Verfassungsinterpretation jedenfalls solange nicht gefährdet, wie der Landtag noch in der Lage sei, die vom Volksgesetzgeber geschaffenen haushaltswirksamen Positionen budgetär aufzufangen. Mit der hier wiedergegebenen Rechtsprechung hat der SächsVerfGH zu den wesentlichen, noch offenen Problemen plebiszitärer Gesetzgebung Stellung bezogen. Es handelt sich zunächst um den verfassungsprozessualen Status der Volksinitiative in den verschiedenen Abschnitten des plebiszitären Verfahrens, weiterhin um gegenständliche Beschränkungen der plebiszitären Gesetzgebungskompetenz und schließlich um eine mögliche Bindungs- oder Sperrwirkung plebiszitärer gegenüber parlamentarischer Gesetzgebung. Diese drei Problembereiche sollen nachfolgend näher betrachtet werden. II. Der verfassungsprozessuale Status der Volksinitiative Die materiell-verfassungsrechtlichen Fragen, die das plebiszitäre Gesetzgebungsverfahren aufwirft, gelangen in der Regel erst im Konfliktfall zur Sprache und verlangen dann nach Antworten von den Verfassungsgerichten der jeweiligen Länder. Dementsprechend hat sich in den vergangenen Jahrzehnten eine Fülle diesbezüglicher Verfassungsrechtsprechung angesammelt; die dargestellte Rechtsprechung des SächsVerfGH ist nur ein Teil hiervon. In allen an die Landesverfassungsgerichte herangetragenen Konfliktfällen stellt sich als erstes die Frage nach der statthaften Verfahrensart und danach, wer zur Einleitung einer verfassungsgerichtlichen Verfahrens berechtigt ist. Teilweise sind die Antworten auf diese Fragen verfassungsrechtlich bereits vorgegeben. So ist es beispielsweise in Sachsen, wo die Verfassung bestimmt, dass der Landtagspräsident, wenn er nach entsprechender Prüfung einen Volksantrag für verfassungswidrig hält, eine diesbezügliche Entscheidung des SächsVerfGH zu beantragen hat21. Die im Volksantrag zu bezeichnende Vertrauensperson und ihr Stellvertreter22 erhalten vom Gerichtshof Gelegenheit zur Äußerung; sie können dem Verfahren beitreten23. Die ursprüngliche gesetzliche Regelung, wonach der Landtagspräsident jedenfalls über die formelle Zulässigkeit eines Volksantrages selbst entschied und dieser Bescheid dann von der Vertrauensperson vor dem SächsVerfGH angefochten werden konnte24, ist, wie schon dargestellt, zu Recht vom Verfassungsgerichtshof für verfassungswidrig erklärt worden25. 21 22 23 24 25
Art. 71 II 2 SächsVerf; vgl. auch § 11 I VVVG. § 3 VVVG. § 11 II VVVG. §§ 10 I, 11 I VVVG (a.F.). SächsVerfGH (Fn. 12), JbSächsOVG 6, 73 f.
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Manifestiert sich in diesem Zusammenhang der verfassungsprozessuale Status einer Volksinitiative von Verfassungs wegen in der Beitrittsberechtigung ihrer Vertrauensperson26, bedarf ihr Status in anderen Konfliktfällen jedoch noch der Klärung. Regelmäßig ergeben sich derartige Konflikte, wenn eine Volksinitiative meint, dass ein Verfassungsorgan – Regierung oder Parlament – während eines Volksgesetzgebungsverfahrens oder danach die ihm nach der Verfassung obliegenden Pflichten verletzt, etwa eine von ihr in Anspruch genommene Bindungs- oder Sperrwirkung nicht beachtet habe. Das ist der klassische Fall eines Organstreitverfahrens; seine Statthaftigkeit hängt allerdings davon ab, ob die Volksinitiative ihrerseits „organstreitfähig“27 ist. Organstreitfähig sind nach den insoweit gleichlautenden Landesverfassungen28 oberste Staatsorgane (Verfassungsorgane) oder andere Beteiligte, die durch die Verfassung oder in der Geschäftsordnung eines obersten Verfassungsorgans mit eigener Zuständigkeit ausgestattet sind. Bei einem Volksgesetzgebungsverfahren fällt es naturgemäß schwer, ein institutionelles Gebilde zu fixieren, das als „Verfassungsorgan“ oder auch nur als „anderer Beteiligter“ bezeichnet werden könnte. Ein Volksgesetzgebungsverfahren entfaltet sich in – maximal – drei Etappen29. Von einem bestimmten Quorum Stimmberechtigter oder Einwohner eines Landes kann ein Volksantrag in Gang gesetzt werden, der sich auf einen Gesetzesentwurf – in einigen Ländern auch auf einen sonstigen Gegenstand politischer Willensbildung – bezieht. Stimmt das Parlament dem Antrag nicht binnen bestimmter Frist zu, können die Antragsteller ein Volksbegehren mit dem Ziel in Gang setzen, einen Volksentscheid über den Antrag herbeizuführen. Erreicht auch das Volksbegehren ein bestimmtes Quorum an Unterstützern, findet der Volksentscheid statt. Findet sich dabei eine Stimmenmehrheit, ist das Gesetz beschlossen. Dieses Verfahren steht – mit einigen Modifikationen – auch für verfassungsändernde Gesetze zur Verfügung. Bei all dem ist ein institutionell oder auch nur personell fixierter Träger der Volksinitiative nicht erkennbar. Die Volksinitiative wird vielmehr von einem von Etappe zu Etappe unterschiedlichen Quorum von Unterstützern gebildet, deren einzige Gemeinsamkeit ihre jeweilige Listenunterschrift darstellt. Demgegenüber wird man jedenfalls unter einem Staats- oder Verfassungsorgan ein institutionell und personell etabliertes, das Verfassungsleben eines Staatswesens dauerhaft prägendes Element zu verstehen haben, das im Zusammenwirken mit den übrigen Verfassungsorganen eine einheitsstiftende und für das Staatswesen insgesamt inte26 Die Bezeichnung für Verfahrensrepräsentanten einer Volksinitiative ist in den Ländern verschieden. Vgl. etwa § 3 II Nr. 3 HbgVVVG: „benannte Personen“; Art. 64 II, 67 II BayLWG „Beauftragte“. 27 Begriff von Engelken (Fn. 8), DVBl. 2005, 416 mit Fn. 4; er bezeichnet die Parteifähigkeit im Organstreitverfahren. 28 Vgl. nur Art. 81 I Nr. 1 SächsVerf. 29 Vgl. beispielhaft Art. 71 und 72 SächsVerf.; die Begriffe und das Verfahren unterscheiden sich teilweise von den Regelungen in anderen Landesverfassungen.
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grative Funktion wahrnimmt. Eine derartige organhafte Verdichtung von Verfassungsfunktionen lässt sich in keiner Phase des plebiszitären Gesetzgebungsverfahrens erkennen30. Hieraus darf aber nicht gefolgert werden, dass eine Volksinitiative insgesamt verfassungsprozessual ignoriert werden müsste und ein Organstreitverfahren im Zusammenhang mit der Volksgesetzgebung damit generell ausgeschlossen wäre31. Ein solches Verfahren bliebe bei dieser Konsequenz rechtsschutzlos; seine Initiatoren könnten sich gegen verfassungswidrige Behinderungen nicht wehren. Dieses Ergebnis würde dem Umstand nicht gerecht, das sich hinter der Volksinitiative der Volksgesetzgeber verbirgt, dem von der Verfassung Gesetzgebungskompetenzen zugewiesen sind, die sich nur in ihrer Realisierung, nicht aber funktional von der parlamentarischen Gesetzgebung unterscheiden. Volks- und parlamentarische Gesetzgeber stehen sich gleichrangig gegenüber und müssen darum auch vor dem Verfassungsgericht in gleicher Weise ihre Verfassungsrechte verteidigen können32. Dem kann Rechnung getragen werden, wenn man den sich in einer Volksinitiative manifestierenden Volksgesetzgeber als einen mit eigenen verfassungsrechtlichen Zuständigkeiten bedachten „anderen Beteiligten“ versteht. In der Tat ist diese Rechtsfigur mit ihrer Auffangfunktion geeignet, eine Volksinitiative organstreitfähig zu machen. Ihr Sinn besteht gerade darin, auch solchen Verfassungspositionen, die nicht selbst schon den Status von Verfassungsorganen besitzen, in ihrer Bedeutung für das Verfassungsleben diesem aber vergleichbar sind, verfassungsprozessualen Schutz zu verleihen. Diesen Vorgaben wird eine Volksinitiative zweifellos gerecht. Das rechtfertigt zwar ihre Organstreitfähigkeit, jedoch ist sie damit in Ermangelung personeller und funktioneller Institutionalisierung im Verfassungsprozess noch keineswegs handlungsfähig. Hier kommt ihr zugute, dass in den Landesverfassungen selbst oder in den Ausführungsgesetzen durchweg „Vertrauenspersonen“ („benannte Personen“, „Beauftragte“) vorgesehen sind, die als Sachwalter der Interessen der Volksinitiative auftreten sollen. Dieser Sachwalterschaft entspricht verfassungsprozessual eine gesetzliche Prozessstandschaft, die es den Vertrauenspersonen ermöglicht, in eigenem Namen für die Volksinitiative aufzutreten33. 30 Ausdrücklich gegen die Qualifizierung einer Volksinitiative als Verfassungsorgan BlnVerfGH v. 2. 6. 1999, DVBl. 1999, 979 (980), auch in DÖV 1999, 823, sowie HbgVerfG v. 27. 4. 2007, DVBl. 2007, 801 (LS 1), auch in DÖV 2007, 981 (LS 1). Das HbgVerfG hatte die Frage, ob eine Volksinitiative als Verfassungsorgan oder als „anderer Beteiligter“ zu verstehen sei, in seinen Entscheidungen vom 15. 12. 2003, NVwZ-RR 2004 (Fn. 9), 672 (673), und vom 15. 12. 2004, DVBl. 2005, 439, noch offen gelassen. 31 So allerdings BlnVerfGH (Fn. 30), DVBl. 1999, 980. 32 SächsVerfGH (Fn. 11), JbSächsOVG 6, 41 f.; HbgVerfG (Fn. 30), DVBl. 2005, 439, Engelken, (Fn. 8), DVBl. 2005, 416. 33 SächsVerfGH (Fn. 11), JbSächsOVG 6, 41 f.; SächsVerfGH (Fn. 13); HbgVerfG (Fn. 30), NVwZ-RR 2004, 673; HbgVerG (Fn. 30), DVBl. 2005, 439; BVerfG v. 24. 6. 1997, BVerfGE 96, 139 (148); BVerfG v. 9. 7. 1997, BVerfGE 96, 231 (240).
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Eine Volksinitiative ist organstreitfähig, sobald, solange und soweit sie in ihren verfassungsrechtlichen Befugnissen verletzt sein kann. Solange ihre Initiatoren noch Unterstützungsunterschriften für den Volksantrag sammeln, ist eine Volksinitiative noch nicht existent; sie entsteht gerade erst. Die Unterschriften zu sammeln ist allein Sache der Initiatoren; Behinderungen wie etwa Verboten müsste fachgerichtlich entgegengetreten werden. Mit Einreichung des Volksantrages beim Landtagspräsidenten nimmt das Volksgesetzgebungsverfahren jedoch seinen Anfang; fortan steht die Volksinitiative mit eigenen Rechten dem parlamentarischen Gesetzgeber gegenüber und kann, wenn sie sich von diesem verfassungswidrig behindert meint, hiergegen Organklage erheben34. Andererseits endet diese verfassungsprozessuale Befugnis, wenn die Volksinitiative kein verfassungsrechlicher Akteur mehr ist. Eine verfassungsrechtliche Position ist ihr nur um ihres Zieles willen, der Volksgesetzgebung, gewährt. Hat sie dieses Ziel erreicht und ist ein Volksgesetz durch Volksentscheid erlassen, scheidet sie aus dem Verfassungsleben aus. Eine mögliche Bindung des Gesetzgebers an das Volksgesetz durchzusetzen, ist nicht mehr ihre Sache; dies muss auf anderem Wege gelöst werden35. Schließlich wird auch während des Volksgesetzgebungsverfahrens die Volksinitiative nicht in jedem Behinderungsfall bereits in ihren Verfassungsrechten verletzt. Diese sind nur dann berührt, wenn die verfassungsrechtlich vorgegebenen Spielregeln nicht eingehalten werden, nicht aber schon bei Streitigkeiten über Einzelheiten der Durchführung36. Auch hier sind zunächst andere Möglichkeiten der Streitentscheidung zu suchen37. III. Der Haushaltsvorbehalt für Volksgesetze Die Landesverfassungen lassen eine Volksgesetzgebung nicht uneingeschränkt zu, sondern enthalten ihr sämtlich, untereinander jedoch nicht übereinstimmend, verschiedene Regelungsbereiche vor. Vereinzelt ist die Verfassung selbst einer plebiszitären Änderung entzogen38; die meisten Verfassungen lassen verfassungs34 So ausdrücklich SächsVerfGH (Fn. 11), JbSächsOVG 6, 42. Offen gelassen („jedenfalls nach erfolgreicher Durchführung des Volksbegehrens“) vom HbgVerfG (Fn. 30), NVwZ – RR 2004, 672 (LS 1); ebenso HbgVerfG (Fn. 9), DVBl. 2005, 439 (LS 1), und HbgVerfG (Fn. 30), DVBl. 2007, 848 (LS 1). 35 HbgVerfG (Fn. 30), DVBl. 2007, 848 (LS 4).Etwas anderes soll hiernach jedoch gelten, wenn Gegenstand eines Volksentscheides nicht eine Gesetzesvorlage, sondern eine Aufforderung an die Regierung ist. 36 Engelken, (Fn. 8), DVBl. 2005, 417. Dies nicht erkannt zu haben ist der Fehler des BlnVerfGH (Fn. 30), DVBl. 1997, 990, der statt dessen der Volksinitiative generell die Organstreitfähigkeit abspricht. 37 Vgl. Engelken (Fn. 8), DVBl. 2005, 417. 38 Vgl. Art. 62 V BlnVerf; Art. 100 IV SaarlVerf. Plebiszitäre Verfassungsänderungen sind auch dort nicht vorgesehen, wo Verfassungsänderungen in einem Referendum bestätigt werden müssen; vgl. Art. 75 II BayVerf; Art. 123 II HessVerf.
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ändernde Plebiszite zwar zu, unterwerfen den Volksentscheid darüber jedoch in der Regel einem bestimmten Quorum, das, wenn es Quoren auch für schlichte Volksgesetze gibt, diese dann in ihrer Höhe übersteigt39. Weitere Vorbehalte – wiederum in unterschiedlicher verbalen Fassung – finden sich in fast allen Verfassungen40; sie betreffen Abgaben sowie Dienst- und Versorgungsbezüge. Den sicherlich bedeutendsten – und im Übrigen auch umstrittensten – Vorbehalt, dem die Volksgesetzgebung unterworfen ist, stellt der Parlamentsvorbehalt für Haushalts- und Finanzangelegenheiten dar; er ist in freilich unterschiedlicher Ausprägung41 in sämtlichen Verfassungen enthalten. Danach sind – je nach Verfassungstext – das Haushaltsgesetz oder der Haushaltsplan, der Staats- oder Landeshaushalt, Haushaltsangelegenheiten, Finanzfragen oder auch finanzwirksame Gesetze und Staatsleistungen dem Zugriff des plebiszitären Gesetzgebers entzogen. Die Verschiedenheit der Begriffswahl gibt zu der Frage Anlass, ob damit jeweils auch Unterschiedliches gemeint oder ob sie eher zufällig zustande gekommen ist und durchweg Gleiches bewirken will. Bei der notwendigen Interpretation der Verfassungstexte bieten sich zwei Positionen an, die man grob mit den Begriffen Haushaltsvorbehalt und Finanzvorbehalt umschreiben kann. Ein Haushaltsvorbehalt würde den Volksgesetzgeber nur von dem engeren Bereich des durch Haushaltsgesetz festgestellten Haushaltsplanes fernhalten; beim Finanzvorbehalt wären ihm auch solche Initiativen verwehrt, die auf finanzwirksame Gesetze abzielen, also auf solche Gesetze, die im Falle ihrer Realisierung finanzielle – und damit letztlich auch budgetäre – Auswirkungen hätten. Relativ einfach liegen die Dinge dort, wo sich der Vorbehalt generell auf „finanzwirksame Gesetze“ erstreckt42. Das sind alle Gesetze, die auf der Einnahmenoder Ausgabenseite bei den staatlichen Finanzen zu Buche schlagen, ohne dass es dabei auf das Ausmaß der Finanzwirksamkeit ankäme43. Unerheblich ist auch, ob solche Gesetze unmittelbar ausgabengerichtet sind, indem sie staatliche Leistungen gewähren, oder ob ihre Ausgabenrelevanz sich nur mittelbar daraus ergibt, dass die angestrebte fachpolitische Regelung im Vollzug Mittel für Personal-, Sach- oder sonstige Kosten verlangt. Soweit Landesverfassungen den Volksgesetzgeber von solchen Gesetzesvorhaben ausschließen, die „Finanzfragen“ betreffen44, scheinen auf den ersten Blick 39 Ohne Quorum meinen Baden-Württemberg Art. 64 III BWVerf) und Sachsen (Art. 74 III SächsVerf) auskommen zu können. Im Hinblick auf die demokratische Legitimation kritisch hierzu Engelken (Fn. 8), DVBl. 2005, 422 Fn. 53, sowie BremStGH v. 14. 2. 2000, NVwZ –RR 2001, 1 (3). 40 Ausnahme: Art. 73 BayVerf – nur „Staatshaushalt“. 41 Vgl. oben Fn. 15 – 20. 42 Art. 99 I 3 SaarlVerf. Hier auch der erläuternde Hinweis „insbesondere . . . Staatsleistungen“. 43 SaarlVerfGH v. 23.1. 2006 (zitiert nach juris), LS 4. 44 Art. 68 I 4 NWVerf; Art. 108 a I 2 RhPfVerf.
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die Dinge gleich zu liegen wie beim generellen Ausschluss finanzwirksamer Gesetzesvorhaben. Dem steht jedoch entgegen, dass sich die beiden Länder, die diese Formulierung gewählt haben (Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz), dabei am entsprechenden Wortlaut der preußischen Verfassung45 aus der Zeit der Weimarer Republik orientieren und deren damalige Interpretation übernehmen wollten. Mit dem Bezug auf Finanzfragen sollte ein enges, auf Haushaltsplan und Haushaltsgesetz ausgerichtetes Verständnis des Vorbehalts vermieden und die Grundlage dafür geschaffen werden, den Haushalt vor plebiszitären Ausgabenerhöhungen zu bewahren. Andererseits sollte die mit dem Begriff „Finanzfragen“ verbundene Einschränkung nicht schon auf jedes ausgabenwirksame Gesetz erstreckt werden. Der nordrhein-westfälische Verfassungsgerichtshof hat darum entschieden, dass mit der von der Landesverfassung formulierten Wendung nur solche plebiszitären Gesetzesvorhaben erfasst sein sollen, „deren Schwerpunkt in der Anordnung von Einnahmen oder Ausgaben liegt, die den Staatshaushalt wesentlich beeinflussen“46. Diese Differenzierung stellt den im Wortlaut der betreffenden Verfassungsbestimmungen anklingenden Finanzvorbehalt etwas näher in Richtung eines Haushaltsvorbehaltes. Finanzwirksame Gesetzesvorhaben sollen demnach dem Volksgesetzgeber nur dann entzogen sein, wenn sie zugleich auch haushaltsrelevant, also unmittelbar auf Einnahmen oder Ausgaben bezogen sind und dem Haushaltsgesetzgeber gegebenenfalls nötigen würden, in dem austarierten Haushalt maßgebliche Umschichtungen vorzunehmen. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass in der heutigen Zeit ohnehin nicht viele Gesetze frei von finanziellen Folgewirkungen bleiben47. Beschränkte man die Volksgesetzgebung hierauf, bliebe ihr für ihr Wirken nur eine kleine „Spielwiese“, deren beengter Raum in einem Missverhältnis zu dem Anspruch stünde, den eine Verfassung mit der Entscheidung für eine zur parlamentarisch-repräsentativen Gesetzgebung hinzutretende plebiszitäre Gesetzgebung sich selbst stellt48. Die grundsätzlich offene Ermöglichung von Volksgesetzen darf jedenfalls, steht nicht der Verfassungstext selbst dahinter, nicht durch eine engherzige Verfassungsinterpretation wieder zurückgenommen werden. Diese differenzierende Lösung hat sich in den letzten Jahren auch dort durchgesetzt, wo die einschlägigen Verfassungsformulierungen eher auf einen Haushaltsvorbehalt schließen ließen. Das ist bei solchen Vorschriften der Fall, die bereits mit ihrem Wortlaut auf den Haushalt verweisen und damit nahelegen, dass dem Volksgesetzgeber lediglich eine Befassung mit Haushaltsplan und Haushaltsgesetz vorenthalten sei. Die Verfassungsgerichte der Länder beschreiten, soweit sie mit Fragen des Parlamentsvorbehaltes für plebiszitäre Gesetzgebung überhaupt beArt. 6 III preußVerf v. 30. 11. 1920. NWVerfGH v. 26. 6. 1981, NVwZ 1982, 189 (190). 47 BayVerfGH v. 15. 12. 1976, BayVerfGHE 29, 244 (269); SächsVerfGH (Fn. 9), JbSächsOVG 10, 26. 48 Ähnlich auch BremStGH v. 17. 6. 1997, NVwZ 1998, 388 (390). 45 46
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fasst waren, diesen Weg jedoch nicht, sondern interpretieren ganz überwiegend auch auf den Staatshaushalt verweisende Parlamentsvorbehalte im Sinne eines Ausschlusses finanzwirksamer Gesetze von haushaltswirtschaftlicher Relevanz49. In einer recht frühen Entscheidung50 hat das Bayerische Verfassungsgericht zum Ausdruck gebracht, dass unter dem in der Landesverfassung in Bezug auf die Begrenzung der Volksgesetzgebung verwendeten Begriff „Staatshaushalt“51 die Gesamtheit der Einnahmen und Ausgaben des Staates zu verstehen sei und darum ein Volksbegehren ausschließe, wenn es „auf den Gesamtbestand des Haushalts Einfluss nehmen würde, demnach das Gleichgewicht des gesamten Haushalts stören und damit zu einer wesentlichen Beeinträchtigung des Budgetrechts des Parlaments führen könnte“52. Diese Formel findet sich ganz oder annähernd wörtlich in der weiteren Rechtsprechung der Landesverfassungsgerichte53. Trotz mancher Kritik im wissenschaftlichen Schrifttum54 ist diese Rechtsprechung begrüßenswert, weil sie unter Vermeidung extremer Positionen eine mittlere Stellung bezieht. Der Volksgesetzgeber wird hierbei nicht generell von finanzwirksamen Gesetzesinitiativen ferngehalten, ist aber verpflichtet, die besondere Budgetverantwortung des Parlaments zu respektieren. Fraglich ist freilich, ob der Volksgesetzgeber – und die Landesverfassungsgerichte im Streitfall mit ihm – nicht überfordert ist, wenn es darum geht, im Einzelfall zu bestimmen, wo die Grenze zur Störung des Haushaltsgleichgewichts und zur wesentlichen Beeinträchtigung des parlamentarischen Budgetrechts verläuft55. Hier liegt es zunächst einmal nahe, quantitative Kriterien heranzuziehen und die Tragweite finanzieller Auswirkungen eines plebiszitären Gesetzesvorhabens nach ihrem prozentualen Anteil am Gesamthaushalt zu bestimmen. Dem lässt sich indes entgegenhalten, dass die Budgethoheit der Parlamente faktisch ohnehin auf die jeweils „freie Spitze“ beschränkt sei. Im Übrigen wäre neben der Quantität der auf49 Überblick bei Platter, Neue Entwicklungen in der Rechtsprechung zum Haushaltsvorbehalt bei der Volksgesetzgebung, ZParl. 2004, 496. 50 BayVerfGH (Fn. 47), BayVerfGHE 29, 244. 51 Art. 73 BayVerf. 52 BayVerGHE 29, 244 (263 ff.). 53 Vgl. BayVerfGH v. 17. 11. 1994, DVBl. 1995, 419; BayVerfGH v. 31. 3. 2000, NVwZ-RR 2000, 461; BayVerfGH v. 4. 4. 2008, DVBl. 2008, 784; BremStGH (Fn. 48), NVwZ 1998, 388; BremStGH v. 11. 5. 1998, DVBl. 1998, 830; BVerfG (als VerfG von Schleswig-Holstein) v. 3. 7. 2000, BVerfGE 102, 176; ThürVerfGH v. 19. 9. 2001, LKV 2002, 83; BbgVerfG v. 20. 9. 2001, LKV 2002, 77; NdsStGH v. 23.10. 2001, DVBl. 2002, 43; BlnVerGH v. 22. 11. 2005 (zitiert nach juris). 54 Vgl. u. a. Rosenke, Die Finanzbeschränkungen bei der Volksgesetzgebung in Deutschland, 2006; Schweiger (Fn. 8), NVwZ 2002, 1471 (1473); Kertels / Brink (Fn. 8), NVwZ 2003, 435; Lembcke / Peuker / Seifarth, Anm. zu BayVerfGH v. 4. 4. 2008, DVBl. 2008, 784. 55 Insofern kritisch SächsVerfGH (Fn. 9), JbSächsOVG 10, 35; Rux, Die Haushaltsvorbehalte in Bezug auf die direktdemokratischen Verfahren in den Verfassungen der neuen Bundesländer, LKV 2002, 252; Kertels / Brink, (Fn. 8), NVwZ 2003, 437 f.
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zuwendenden Haushaltsmittel auch die Bedeutung der plebiszitär beschlossenen Ausgaben für die Gesamtstruktur des Haushalts zu bedenken. Diesen Erwägungen versuchen die Landesverfassungsgerichte in ihrer Rechtsprechung dadurch Rechnung zu tragen, dass sie auf die „Umstände des Einzelfalles“, etwa auf „Art und zeitliche Dauer der finanziellen Belastung“ abstellen56. Erforderlich sei eine wertende Gesamtbeurteilung, die neben der absoluten und relativen Höhe der Kosten eines Volksbegehrens auch die Umstände des Einzelfalles einbezieht, so z. B. die Art und Dauer der zu erwartenden Belastungen“57. Oder ganz ähnlich: Es sei eine „differenzierende Betrachtungsweise“ vorzunehmen, in deren Rahmen „Art, Höhe, Dauer und Disponibilität der finanziellen Folgen“ gewichtet werden müssten; dabei sei der Prozentwert, der die Kosten eines auf einen Gesetzentwurf gerichteten Volksbegehrens im Verhältnis zum Gesamthaushalt darstellen, ein wichtiger Anhaltspunkt, jedoch nicht alleiniger Entscheidungsmaßstab58. Diese Formulierungen, mit denen das Kriterium der Wahrung des Haushaltsgleichgewichts und der Vermeidung wesentlicher Beeinträchtigungen des parlamentarischen Budgetrechts verfassungsrechtlich operationabel gemacht werden soll, erweisen sich bei genauerem Hinsehen jedoch als überaus problematisch. Die Einzelfallorientierung eröffnet den Landesverfassungsgerichten einen eigenen, weiten Beurteilungsspielraum und verschleiert durch die Verlagerung der Entscheidung in ein Gerichtsverfahren die Tatsache, dass es sich in Wahrheit um die verfassungsrechtlich unbeantwortete politische Frage nach Umfang und Grenzen plebiszitärer Gesetzgebung handelt59. Eine bessere Lösung ist freilich derzeit nicht in Sicht, solange man sich nicht der radikalen Entscheidung des SächsVerfGH anschließen mag, wonach allein die (formelle) Haushaltsgesetzgebung dem plebiszitären Zugriff entzogen und die Volksgesetzgebung im Übrigen ohne Rücksicht auf finanzielle Auswirkungen zulässig ist. Dem stehen freilich nach der Ansicht anderer Landesverfassungsgerichte unterschiedlich zu interpretierende Verfassungstexte entgegen. So weisen der BayVerfGH wie auch das HbgVerfG ausdrücklich darauf hin, dass sich in ihren Landesverfassungen die Vorbehaltsklausel für Volksgesetzgebung auf den „Staatshaushalt“ bzw. auf „Haushaltsangelegenheiten“ bezieht60; im Unterschied zu einem Ausschluss lediglich von „Haushaltsgesetzen“ oder „Haushaltsplänen“ (wie eben 56 57
BVerfG (Fn. 53), BVerfGE 102, 188. Dem folgend HbgVerfG (Fn. 9), DVBl. 2006, 635. BayVerfGH (Fn. 53), DVBl. 1995, LS 4 und S. 425 f.; HbgVerfG (Fn. 9), DVBl. 2006,
636. 58 BremStGH (Fn. 48), NVwZ 1998, 390; BremStGH (Fn. 53), DVBl. 1998, 832; ThürVerfGH (Fn. 53), LKV 2002, 93. Ähnlich auch BlnVerfGH (Fn. 53), LS 2. 59 So die berechtigte Kritik des SächsVerfGH (Fn. 9), JbSächsOVG 10, 35, der zutreffend auf die Manipulationsanfälligkeit dieser Lösung hinweist, die sich daraus ergibt, dass der Landtag durch eine entsprechende strukturelle Gestaltung des Haushalts den Umfang plebiszitärer Handlungsräume selbst bestimmen könnte. 60 BayVerfGH (Fn. 53), DVBl. 1995, 424 f.; HbgVerfG (Fn 9), DVBl. 2006, 631, HbgVerfG v. 3. 3. 2005, NVwZ- RR 2006, 370, 371.
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auch in der sächsischen Verfassung61) bezögen sich diese Begriffe auch auf finanzwirksame Gesetze. Diese Betonung der Unterschiedlichkeit der jeweiligen Verfassungstexte62 lässt erwarten, dass sich die Rechtsprechung derjenigen Landesverfassungsgerichte, die eine weite Interpretation von Parlamentsvorbehalten vornehmen, in absehbarer Zeit nicht ändern wird. Sie macht zugleich aber auch deutlich, dass der SächsVerfGH nicht aus einer „herrschenden Meinung“ innerhalb der Verfassungsjudikatur ausschert63, sondern seine Entscheidung allein auf der Grundlage speziell der sächsischen Verfassung getroffen hat64. Ob sich die Verfassungsgerichte der Länder mit vergleichbarem Verfassungstext65 seiner Rechtsprechung anschließen werden, bleibt abzuwarten. Steht demnach die Entscheidung des SächsVerfGH vom 11. 7. 2002 nicht wirklich im Widerspruch zur Rechtsprechung der übrigen Landesverfassungsgerichte, muss sie sich doch gegenüber denjenigen Entscheidungen und wissenschaftlichen Äußerungen durchsetzen, die noch einen Schritt weitergehen und die landesverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalte nicht nur de constitutione lata im Sinne eines weiten Finanzvorbehaltes interpretieren, sondern generell auch Verfassungsänderungen, die den Parlamentsvorbehalt auf die formale Haushaltsgesetzgebung beschränken sollen, unter Berufung auf höherrangiges Recht für unzulässig erklären66. Wäre ein enger, auf die formale Haushaltsgesetzgebung reduzierter Haushaltsvorbehalt auch de constitutione ferenda nicht zu erreichen, ließe sich die sächsische Rechtsprechung de constitutione lata nicht halten. „Höherrangiges Recht“ im Sinne der zuletzt zitierten Auffassung sind das Homogenitätsgebot des Art. 28 I GG einerseits und die „Ewigkeitsklauseln“, die in einigen Landesverfassungen selbst enthalten sind und die Grenzen jeglicher Verfassungsänderung markieren67. Gelegentlich wird auch auf Art. 109 II GG verwiesen, der die Haushaltswirtschaft auch der Länder auf die Erfordernisse des gesamtArt. 73 I SächsVerf: „Haushaltsgesetze“. So auch Rux, Anm. zu BVerfG v. 3.7. 2000 (Fn. 53), DVBl. 2001, 549 (550). 63 So wohl die Ansicht von Kertels / Brink, (Fn. 8), NVwZ 2003, 436; Zschoch, (Fn. 8), NVwZ 2003, 439; HbgVerfG (Fn. 9), DVBl. 2006, 635. 64 Darauf weist der Gerichtshof auch ausdrücklich hin; vgl. SächsVerfGH (Fn. 9), JbSächsOVG 10, 29 ff. 65 Art. 60 VI BWVerf (Staatshaushaltsgesetze); Art 70 II BremVerf (Haushaltsplan); Art. 124 I 3 HessVerf (Haushaltsplan); Art. 81 I 3 LSAVerf (Haushaltsgesetze). Für eine enge Interpretation dieser Vorschriften Rux (Fn. 62), DVBl. 2001, 550. 66 BremStGH (Fn. 39), NVwZ-RR 2001, 1; BayVerGH (Fn. 53), NVwZ-RR 2000, 402, 404 f.; zu beiden Entscheidungen Schweiger (Fn. 8), NVwZ 2002, 1471. Für Grenzen einer Verfassungsänderung auch Isensee, (Fn. 8), DVBl. 2001, 1163 ff.; Rux (Fn 55), LKV 2002, 252. Vgl. auch Platter (Fn. 49), ZParl 2004, 496. 67 Vgl. u. a. Art. 75 I 2 BayVerf: Verstoß gegen den demokratischen Grundgedanken der Verfassung; Art. 64 I 1 BWVerf: Grundsätze des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaats; Art. 74 I 2 SächsVerf. i. V. m. Art. 1 (Grundstrukturen des Freistaates), Art. 3 (Staatsstrukturen), Art. 14 (Menschenwürde) und Art. 36 (Bindungswirkung der Grundrechte). 61 62
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wirtschaftlichen Gleichgewichts verpflichtet68; diese Vorschrift grenzt indes nur eine finanzwirksame Volksgesetzgebung haushaltswirtschaftlich ein, verbietet sie aber nicht als solche. Die Argumentation im Übrigen besagt, dass das grundgesetzlich den Ländern vorgegebene und auch nach Landesverfassungsrecht unantastbare Demokratieprinzip nicht zuletzt auch das parlamentarische Haushaltsbewilligungsrecht (Budgetrecht) als traditionellen und elementaren Bestandteil garantiere69. Dieses als unveränderlich geschützte parlamentarische Budgetrecht stehe volksgesetzgeberischen Aktivitäten jedenfalls dann entgegen, wenn sie mit finanziellen Auswirkungen verbunden seien, die auf die Gestaltung des Hauhalts einen wesentlichen Einfluss nähmen. Der Haushalt spiegele das politische Gesamtprogramm des Parlaments wider, auf das der Volksgesetzgeber keinen Einfluss nehmen dürfe. Dieser Argumentation lässt sich indes entgegen halten, dass sie die Volksgesetzgebung zu einem zweitrangigen Instrument legislatorischer Politikgestaltung macht. Zwar wird ganz überwiegend, auch in der Rechtsprechung der Landesverfassungsgerichte, beteuert, dass parlamentarische und plebiszitäre Gesetzgebung gleichrangig seien70. Derartige Beteuerungen beziehen sich jedoch in ihrer Zielrichtung regelmäßig auf die Gleichrangigkeit der Gesetze in ihrem Verhältnis zueinander und nicht auf die Gleichrangigkeit der dieser zugrunde liegenden gesetzgeberischen Gewalt. Allerdings proklamieren die Landesverfassungen auch insoweit – dabei durchaus im Einklang mit dem Homogenitätsgebot des Art. 28 I 1 GG71 – die Ebenbürtigkeit von Parlament und Volk72. Diese Ebenbürtigkeit duldet grundsätzlich keine Differenzierung nach dem Grad der Finanzwirksamkeit der jeweiligen Gesetzgebungsvorhaben, es sei denn, die Verfassung des betreffenden Landes schränkte selbst schon den Handlungsspielraum plebiszitärer Gesetzgebung ein. Das ist ganz offenkundig dort der Fall, wo „Finanzfragen“ von der plebiszitären Gesetzgebungsbefugnis ausgenommen sind. Es ist weiterhin nichts dagegen einzuwenden, wenn der Ausschluss von Gesetzen über den Staatshaushalt oder Haushaltsangelegenheiten im Sinne eines „Finanztabus“73 als BremStGH (Fn. 66), NVwZ-RR 2001, 4. BayVerfGH (Fn. 53), NVwZ-RR 2000, 403: Sicherung der Funktionsfähigkeit demokratischer Institutionen durch Budgetverantwortung des Parlaments. Ähnlich Isensee (Fn. 8), DVBl. 2001, 1163 f., der die Haushaltsprärogative als Essentiale des Parlamentarismus und als republikanisches Erfordernis versteht. 70 Übersicht und Zustimmung in HbgVerfG (Fn. 9), DVBl. 2005, 440 f. 71 Das Homogenitätsgebot steht nach h. M. plebiszitären Elementen der Landesverfassungen nicht entgegen, solange die Grundstrukturen parlamentarisch-repräsentativer Demokratie – auch im Bereich der Gesetzgebung – gewahrt bleiben. Vgl. hierzu u. a. Nierhaus, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 5. Aufl. 2009, Art. 28 Rdn. 15; Lšwer, in: v. Münch / Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 5. Aufl. 2001, Art. 28 Rdn. 19 f. Hopfe, in: Linck / Jutzi / Hopfe, Die Verfassung des Freistaates Thüringen, 1994, Art. 82 Rdn. 3; Meissner, in: Degenhart / Meissner, Handbuch der Verfassung des Freistaates Sachsen, 1997, § 13 Rdn. 21 (S. 378 f.); Rossi / Lenski, (Fn. 8), DVBl. 2008, 416; HbgVerfG (Fn. 9), DVBl. 2005, 441. 72 Vgl. u. a. Art. 3 II 1 SächsVerf: „Die Gesetzgebung steht dem Landtag oder unmittelbar dem Volke zu.“ 68 69
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Ausschluss von Gesetzen mit wesentlicher Bedeutung für den Staatshaushalt interpretiert wird. Soweit sich der verfassungsrechtliche Vorbehalt aber auf „Haushaltsgesetze“ beschränkt, liefert die Verfassung selbst keinen Ansatz für eine ausweitende Interpretation74. Gegen dieses Ergebnis lässt sich nicht vorbringen, die strikt wortlautbezogene Interpretation des Begriffes „Haushaltsgesetz“ entleere den Haushaltsvorbehalt seines Sinnes, da die Budgetbewilligung durch Haushaltsgesetz ohnehin nur vom Parlament und nicht vom Volksgesetzgeber geleistet werden könne75. Dieses Argument ist zwar insofern richtig, als der Volksgesetzgeber schon aus tatsächlichen, aber auch aus rechtlichen Gründen nicht in das förmliche Budgetbewilligungsverfahren einbezogen werden kann.76 Haushaltsgesetze im Sinne des Haushaltsvorbehaltes sind jedoch nicht nur die budgetären Bewilligungsakte als solche, sondern sämtliche unmittelbar auf Ausweisungen des Haushaltsplans gerichteten legislatorischen Zugriffe. Anders als Sachgesetze, deren finanzielle Auswirkungen der Haushaltsgesetzgeber zur Kenntnis zu nehmen und zu berücksichtigen hat, greifen haushaltsgestaltende Volksgesetze in das durch den Haushaltsvorbehalt geschützte Budgetbewilligungsrecht des Parlaments ein77. Insofern läuft der verfassungsrechtliche Haushaltsvorbehalt auch bei enger, wortlautbezogener Interpretation keineswegs leer. Finanzwirksamkeit eines Gesetzesvorhabens bedeutet für sich genommen also keine Beeinträchtigung des parlamentarischen Budgetrechts; der Umfang der finanziellen Auswirkungen spielt dabei keine Rolle. Nur so kann der Verfassungsentscheidung für die Gleichrangigkeit parlamentarischer und plebiszitärer Politikgestaltung hinreichend Rechnung getragen werden. Das parlamentarische System ist von Verfassungs wegen plebiszitär modifiziert. Das bedeutet auch, dass der Volksgesetzgeber zwar innerhalb der Schranken des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, im Übrigen aber ohne Rücksicht auf deren Finanzwirksamkeit andere politische Prioritäten setzen darf als das Parlament78. Wenn das Parlament – 73 Begriff u. a. in SächsVerfGH (Fn. 14), JbSächsOVG 10, 31; HbgVerfG (Fn. 9), DVBl. 2006, 633. 74 Vgl. hierzu die auf Wortlaut, Enstehungsgeschichte, systematischen Zusammenhang sowie Sinn und Zweck der Vorbehaltsklausel abstellende Untersuchung des SächsVerfGH (Fn. 9), JbSächsOVG 10, 27 ff. Zustimmung zu diesem hermeneutischen Vorgehen bei Kertels / Brink, (Fn. 8), NVwZ 2003, 436 f. 75 ThürVerfGH (Fn. 53), LKV 2002, 92; BremStGH (Fn. 48), NVwZ 1998, 389; BayVerfGH (Fn. 47), BayVerfGHE 29, 263 ff.; BayVerfGH (Fn. 53), DVBl. 2008, 786; Zschoch (Fn. 8), NVwZ 2003, 440. 76 Wohl zu weitgehend der SächsVerfGH, wenn er auch die Haushaltsbewilligung durch Volksgesetz allein durch den ausdrücklichen Parlamentsvorbehalt für ausgeschlossen ansieht; SächsVerfGH (Fn. 9), JbSächsOVG 10, 32. 77 Auch der BayVerfGH unterscheidet zwischen Gesetzen, die unmittelbar den Haushalt oder einzelne Haushaltsansätze betreffen (und darum von der Volksgesetzgebung generell ausgeschlossen sind) und Gesetzen mit sachpolitischem Regelungsgehalt, die erst im Praxisvollzug finanzwirksam werden. BayVerGH (Fn. 53), DVBl. 2008, 785.
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hier ist wie stets seine regierende Mehrheit gemeint – mit solch fremdgesetzten Prioritäten nicht leben kann, steht ihm der Weg offen, das Volksgesetz durch ein nachfolgendes Parlamentsgesetz wieder außer Kraft zu setzen und die eigenen politischen Prioritäten wieder zur Geltung zu bringen79. Ob das opportun ist, erweist sich allerdings meist als politisches Problem80. IV. Bindungs- und Sperrwirkung plebiszitärer Gesetzgebung Der eben getroffene Hinweis auf ein parlamentarisches Derogationsrecht gegenüber Volksgesetzen wirft die generelle Frage danach auf, ob plebiszitäre Gesetzgebung den legislatorischen Befugnissen des Parlaments Grenzen setzt. Diese Frage bezieht sich sowohl auf eine mögliche Gebundenheit des parlamentarischen Gesetzgebers an vorangegangene plebiszitäre Gesetzgebung wie auch auf ein mögliches Wohlverhaltensgebot an das Parlament schon während des Zeitraums einer plebiszitären Gesetzgebungsinitiative. Was zunächst die Frage einer möglichen Bindung des parlamentarischen Gesetzgebers an eine vorausgegangene Volksgesetzgebung betrifft, so muss als erstes konstatiert werden, dass keine der einschlägigen Regelungen des Landesverfassungsrechts hierauf eine Antwort gibt. Parlamentarische und plebiszitäre Gesetzgebung stehen in allen Landesverfassungen unvermittelt nebeneinander. Ihrem Wortlaut lässt sich nichts darüber entnehmen, ob ein im Wege der Volksgesetzgebung erlassenes Gesetz nachträglich durch eigene legislatorische Aktivitäten vom Parlament wieder aufgehoben werden darf; das gilt im Übrigen auch für eine mögliche Bindungswirkung in umgekehrter Richtung. Dieser Befund wirft die Frage nach einem den Verfassungsnormen möglicherweise zugrunde liegenden konstitutionellen Vorverständnis auf. Darüber, ob Parlamentsgesetze durch plebiszitäre Gesetzgebungsakte abgeändert werden dürfen, wird kaum nachgedacht81. Das erübrigt sich, wenn man sich den interventionistischen, auf Ergänzung und ggf. auf Korrektur der von der Parlamentsmehrheit betriebenen Politik gerichteten Sinn der Volksgesetzgebung vor Augen hält. Bestandskraft von Volksgesetzen gegenüber parlamentarischer Gesetzgebung setzt demgegenüber einen Legitimitätsüberschuss plebiszitärer Demokratie im Verhältnis zu deren repräsentativen Erscheinungsformen voraus. So wäre es, wenn sich Anhaltspunkte dafür ergäben, dass plebiszitäre Demokratie die „eigentliche“ und legitimere Form der Demokratie wäre und plebiszitäre Gesetze drum ein höheres Maß an demokratischer Legitimität aufwiesen. Einer derartigen InterSächsVerfGH (Fn. 9), JbSächsOVG 10, 24 ff. SächsVerfGH (Fn. 9), JbSächsOVG 10, 36; zustimmend Kertels / Brink (Fn. 8), NVwZ 2003, 438. Ähnlich auch Schweiger (Fn. 8), NVwZ 2002, 474. 80 Bedenken auch bei BremStGH (Fn. 48), NVwZ 1998, 390. 81 Vgl. nur Borowski, (Fn. 8), DÖV 2007, 481. 78 79
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pretation der Landesverfassungen steht jedoch die – über Art. 28 I 2 GG auch für die Länder verbindliche – Entscheidung des Grundgesetzes für eine repräsentativ gestaltete Form der Demokratie entgegen. Das Plebiszit ist demnach keine höherwertige Form der Demokratie, sondern deren Ergänzung und ggf. ihr Korrektiv82. Die Legitimität parlamentarischer Gesetzgebung beruht auf den das Parlament konstituierenden demokratischen Wahlen; die demokratische Legitimität des Volksgesetzgebers muss dagegen von Fall zu Fall erst eingeholt werden83. Mangelt es aber der Volksgesetzgebung gegenüber ihrem parlamentarischen Pendant an einem höheren „Nimbus“, kann auch dem Volksgesetz kein höherer Rang eingeräumt werden als dem parlamentarischen84. Die Existenz eines Volksgesetzes hindert das Parlament darum nicht daran, in derselben Angelegenheit ein eigenes, ggf. auch abweichendes Gesetz zu beschließen. Legislatorische Konflikte müssen nach den klassischen Kollisionsregeln ausgetragen werden. Nach dem Grundsatz ãlex posterior derogat legi prioriÒ hat das spätere Gesetz gegenüber dem früheren derogierende Wirkung85; eine echte Bestandskraft kann das Volksgesetz nicht für sich beanspruchen86. Macht man sich die These von der Gleichrangigkeit parlamentarischer und plebiszitärer Gesetze zu eigen, scheidet jedenfalls eine dauerhaft-unbegrenzte Bindung des Parlaments an Volksgesetze aus87. Eine solche Bindung hätte zur Folge, dass Volksgesetze nur vom Volksgesetzgeber selbst abgeändert oder aufgehoben werden könnten. Das würde, wie zutreffend eingewandt wird, eine dem Stufenbau der Rechtsordnung unbekannte, neue hierarchische Zwischenstufe schaffen. Letztlich kann aber auch denjenigen Ansichten, die für eine sachlich oder zeitlich begrenzte Relativierung eines Plebiszitvorranges eintreten, nicht gefolgt werden. Sie stoßen allesamt auf den Einwand, dass selbst dem Postulat einer auch nur relativen Überlegenheit plebiszitärer Gesetze eine verfassungsrechtliche Basis fehlt. Weder für eine Bindung des Parlaments bis zu einer wesentlichen Änderung der Sach- oder Rechtslage88 noch für eine solche Bindung bis zum Ende der jeweiligen Jacobsen (Fn. 8), DÖV 2007, 951; Rossi / Lenski (Fn. 8), DVBl. 2008, 417. Sie steht und fällt damit je nachdem, in welchem Umfang die Initiatoren das Abstimmungsvolk aktivieren können; vgl. Isensee (Fn. 8), DVBl. 2001, 1166; Engelken (Fn. 8), DVBl. 2005, 421, mit Bedenken gegenüber der Vereinbarkeit der SächsVerf mit Art. 28 I 1 GG (S. 422 Fn. 53). 84 So die sicherlich h. M.; vgl. u. a. Borowski (Fn. 8), DÖV 2000, 491; HbgVerfG v. 31. 3. 2006, NVwZ-RR 2007, 571 (572); HbgVerfGH (Fn. 9), DVBl. 2005, 440 f. 85 Borowski (Fn. 8), DÖV 2000, 484; Rossi / Lenski (Fn 8), DVBl. 2008, 419; HbgVerfG (Fn. 9), DVBl. 2005, 442. 86 SaarlVerfGH v. 14. 7. 1987, NVwZ 1988, 245 (249). 87 Ausführlich Borowski (Fn. 8), DÖV 2000, 486. 88 Vor allem vertreten von Peine (Fn. 8), Der Staat 18 (1979), 400 f.; neuerdings auch Jacobsen (Fn. 8), DÖV 2007, 958 f. Hiergegen ausführlich Borowski (Fn. 8), DÖV 2000, 487; Engelken (Fn. 8), DVBl. 2005, 419. Im Ergebnis ebenso HbgVerfG (Fn. 9), DVBl. 2005, 442. 82 83
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Legislaturperiode89 findet sich eine entsprechende verfassungsrechtliche Rechtfertigung. Auch das verfassungsimmanente Gebot der Organtreue90 vermag diese nicht zu begründen. Dieses Gebot dient als ein Korrektiv bei der Wahrnehmung organschaftlicher Kompetenzen, indem es zu wechselseitiger Rücksichtnahme verpflichtet, vermag aber Kompetenzen von Verfassungsorganen weder zu schaffen noch zu einzuschränken91. Allerdings wird politische Klugheit die regierende Parlamentsmehrheit in aller Regel davon abhalten, sich leichtfertig über eine plebiszitär geäußerte Volksmeinung hinwegzusetzen92. Schließlich ist noch auf ein verfassungsprozessuales Problem hinzuweisen. Ist das Volksgesetz erst einmal beschlossen und verkündet, hat es keinen Verteidiger mehr, des es prozessual vor derogierenden Parlamentsakten schützen könnte. Mit erfolgreichem Abschluss des plebiszitären Verfahrens endet auch die organschaftliche Funktion der Volksinitiatoren. Damit fehlt es für ein Organstreitverfahren an einem Antragsteller mit der prozessualen Qualifikation eines „anderen Beteiligten“, der die Verletzung eigener Rechte rügen könnte93. Das gilt schon während der Phase parlamentarischer Gesetzgebung, wo mit prozessualen Mitteln – aus praktischen Gründen käme nur die einstweilige Anordnung in Betracht94 – dem Parlament Einhalt geboten werden müsste. Ist das derogierende Parlamentsgesetz aber erst einmal in Kraft, treten noch weitere Hindernisse hinzu. Zwar hätte eine mit parlamentarischer Inkompetenz verbundene verfassungsrechtliche Bindungswirkung die Verfassungswidrigkeit und Nichtigkeit des derogierenden Parlamentsgesetzes zur Folge95; sie könnte auch außerhalb eines Organstreitverfahrens geltend gemacht werden96. Der Verstoß gegen das Gebot der Organtreue beim Erlass eines Gesetzes lässt dagegen dessen formelle und materielle Verfassungsmäßigkeit unberührt und hat keine Folgen für die Wirksamkeit des treuwidrig zustande gekommenen Gesetzes97. 89 So wohl Jacobsen (Fn. 8), DÖV 2007, 958; mit dem parlamentarischen Änderungsakt werde „gegen die aktuellste institutionalisierte Abbildung des Volkswillens“ verstoßen. W. Nw. und Diskussion bei Borowski (Fn. 8), DÖV 2000, 488. 90 Hierzu m. w. Nw. Borowski (Fn. 8), DÖV 2000, 490. 91 HbgVerfG (Fn. 9), DVBl. 2005, 443. Die Forderung des Gerichts, das Parlament dürfe gleichwohl bei seiner abändernden Beschlussfassung sich nicht leichtfertig über den Volkswillen hinwegsetzen, sondern müsse ihn würdigen und abwägen, ist als Rechtsgebot kaum operationabel. 92 Zur politischen Bindungswirkung plebiszitärer Entscheidungen ausführlich Borowski (Fn. 8), DÖV 2000, 483. Vgl. weiterhin Engelken (Fn. 8), DVBl. 2005, 410. 93 HbgVerfG (Fn. 30), DVBl. 2007, 848 (LS 4 und 5), juris Rz. 90. Zwar ließe sich jetzt der Volksgesetzgeber insgesamt als Träger eines zu schützenden Volkswillens verstehen. Dieser Volksgesetzgeber ist indes nach Beendigung der organschaftlichen Funktion der Volksinitiative nicht mehr handlungsfähig. 94 So auch – zur parallelen Problematik der Durchsetzung einer verfassungsrechtlichen Sperrwirkung – Engelken (Fn. 8), DVBl. 2005, 418. 95 Borowski (Fn 8), DVBl. 2000, 484. 96 So in dem der Entscheidung HbgVerfG (Fn. 84), NVwZ-RR 2007, 571 zugrunde liegenden Fall.
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Von der Frage, ob ein zustande gekommenes Volksgesetz gegenüber dem Parlament Bindungswirkung entfaltet und nachfolgende Derogationsversuche zum Scheitern verurteilt, ist die zeitlich vorrangige Frage zu unterscheiden, ob einem in Gang gesetzten, aber noch nicht abgeschlossenen Volksgesetzgebungsverfahren eine Sperrwirkung derart zukommt, dass legislatorische Maßnahmen des Parlaments mit dem Ziel, das Plebiszit zu unterlaufen98, von der Volksinitiative verfassungsgerichtlich unterbunden werden können99. Eine Sperrwirkung der hier angedeuteten Art besäße absoluten Charakter; gesetzliche Maßnahmen bzgl. des von der Volksinitiative besetzten Sachgebietes wären ausnahmslos unzulässig, sofern sie – in dieser oder jener Weise – mit der plebiszitären Zielsetzung konfligierten. Der Rechtsprechung der Landesverfassungsgerichte sind derartige Konstellationen bekannt, sei es als modifizierende Vorwegnahme einer schulpolitischen Volksinitiative100 oder als parlamentarische Weiterführung eines auf Gemeindegebietsreform bezogenen Gesetzgebungsvorhabens trotz einer auf Verhinderung der Reform gerichteten Volksinitiative101. Kürzlich war vor dem ThürVerfGH ein Verfahren gegen ein Parlamentsgesetz anhängig, das Ziele eines Volksbegehrens nach „Mehr Demokratie in Thüringens Kommunen“ bei gleichzeitiger verfahrensrechtlicher Erschwerung in der Sache teilweise vorweg nehmen sollte102. Für eine derartige absolute Sperrwirkung plebiszitärer Gesetzgebungsverfahren gibt es keinen verfassungsrechtlich tragfähigen Anhalt103. Sie hätte eine Rangerhöhung der plebiszitären gegenüber der parlamentarischen Gesetzgebung zur Folge, die sich weder mit dem Homogenitätsgebot des Art. 28 I 1 GG noch mit der Grundentscheidung der Landesverfassungen für die parlamentarisch-repräsentative Demokratie vereinbaren ließe104. Elemente direkter Demokratie genießen keinen Vorrang gegenüber mittelbar-demokratischer Staatlichkeit; dementsprechend dürfen der parlamentarischen Gesetzgebung keine plebiszitären Schranken gesetzt werden105. Die Gefahr, dass eine parlamentarische Mehrheit dank der größeren Schnelligkeit parlamentarischer Gesetzgebung plebiszitäre Bestrebungen unter97 A. A. (Möglichkeit einer abstrakten Normenkontrolle) HbgVerfG (Fn. 30), DVBl. 2007, 849 (LS 6), juris Rz 91. Das Gericht verkennt, dass die Pflicht zur Organtreue als modales Gebot nur das Verhältnis der jeweils betroffenen Staatsorgane prägt. 98 Die Frage stellt sich in gleicher Weise auch bzgl. exekutivem Unterlaufen plebiszitärer Anliegen; vgl. Engelken (Fn. 8), DVBl. 2005, 415 f. 99 Diese Unterscheidung findet sich auch bei Borowski (Fn. 8), DÖV 2000. 483 u. 489. 100 SaarlVerfGH (Fn. 86), NVwZ 1988, 245. 101 SächsVerfGH (Fn. 11), JbSächsOVG 6, 40. 102 FAZ-Meldung v. 7. 1. 2009 (Fn. 10). Das Gesetz wurde inzwischen aufgehoben, und der Verfassungsrechtsstreit hat sich damit erledigt. 103 SächsVerfGH (Fn. 11) JbSächsOVG 6, 43. 104 SaarlVerfGH (Fn 86), NVwZ 1988, 249; etwas differenzierend Borowski (Fn. 8), DÖV 2000, 489. 105 Engelken (Fn. 8), DVBl. 2005, 420 f.
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läuft, kann eine generelle Sperrwirkung nicht rechtfertigen; ihr kann, wie noch zu zeigen sein wird, besser mit dem Gebot der Organtreue begegnet werden106. Unklarheiten darüber, wann und in welchem gegenständlichen Umfang eine solche Sperre greifen müsste, lassen diese Instrument auch in praktischer Hinsicht als ungeeignet erscheinen107. Eine allgemeine, wenngleich zeitlich fixierte Sperrwirkung geht von plebiszitären Gesetzgebungsvorhaben auch nicht dort aus, wo die Landesverfassungen vorsehen, dass der parlamentarische Gesetzgeber, wenn es zu einem Volksentscheid kommt, zusammen mit dem plebiszitären Gesetzesentwurf auch einen eigenen Entwurf zur Entscheidung stellen kann108. Dies ist offenkundig der Weg, den das Parlament nach der Vorstellung der Verfassungsgeber einschlagen sollte, wenn es meint, eine bessere Lösung als die Volksinitiative gefunden zu haben. Dieses Verfahren, bei dem das Volk über einen parlamentarisch erarbeiteten Gesetzesentwurf entscheidet, ist aber keineswegs verfassungsrechtlich vorgeschrieben, sondern belässt dem Parlament die ihm auch sonst zustehende Möglichkeit, einen Entwurf selbst Gesetz werden zu lassen. Fehlt es damit an einer verfassungsrechtlich begründbaren generellen Sperrwirkung plebiszitärer Gesetzgebungsverfahren, ist damit doch nicht ausgeschlossen, dass sich eine solche Sperrwirkung im Einzelfall einstellt. Der verfassungsrechtliche Ansatz hierfür ist das verfassungsimmanente Gebot der Organtreue, das Staatsorgane bei der Wahrnehmung ihrer Kompetenzen wechselseitig zur Rücksichtnahme verpflichtet109 Staatsorgane haben sich, nach einer geläufigen Formulierung110, so zueinander zu verhalten, „dass sie ihre verfassungsrechtlichen Zuständigkeiten verantwortlich und gewissenhaft, frei von Zeitnot und Pression ausüben können“. Im vorliegenden Zusammenhang bedeutet dies für das Parlament, dass es seine verfassungsrechtlichen Befugnisse zurücknehmen muss, wenn andernfalls ohne triftigen Grund ein Volksgesetzgebungsverfahren erschwert oder konterkariert werden würde. Das Gebot der Organtreue betrifft hiernach also das Verhältnis von Parlament und Volksgesetzgeber. Bei letzterem handelt es sich zwar nicht um ein Staatsorgan; wegen struktureller Gleichheit ist der Gedanke der Organtreue aber sinngemäß im Verhältnis zwischen parlamentarischem und plebiszitärem Gesetzgeber anwendbar111. Freilich wird man dafür eine gewisse Verfestigung des plebiszitären Gesetzgebungsvorhabens verlangen müssen. Die Phase des Volksantrages, in der sich erst herausstellen muss, ob das Vorhaben eine formelle Gestalt annimmt, reicht hierfür Borowski (Fn. 8), DÖV 2000, 489. Borowski (Fn 8), DÖV 2000, 490. 108 Vgl. nur Art. 72 II 3 SächsVerf. Insoweit würde es sich um ein „Referendum“ handeln. Vgl. dazu Borowski (Fn. 8), DÖV 2000, 481. 109 Hierzu ausführlich Rossi / Lenski (Fn. 8), DVBl. 2008, 420 ff. 110 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2 Aufl. 1984, S. 134 f. 111 SächsVerfGH (Fn. 11), JbSächsOVG 6, 44. 106 107
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nicht aus. Auch wenn der Volksantrag bereits beim Landtag eingebracht ist, die Volksinitiative aber noch mangels parlamentarischer Zustimmung die notwendige Unterstützung in der Bevölkerung sucht, kann es dem Landtag – allein schon wegen der langen Fristen des plebiszitären Verfahrens – nicht verwehrt sein, von seinem Gesetzgebungsrecht Gebrauch zu machen. Die Phase gebotener Organtreue ist indes dann erreicht, wenn der Erfolg des Volksbegehrens förmlich festgestellt ist112. Spätestens dann steht die Möglichkeit einer Volksgesetzgebung fest. Inhaltlich bedeutet das Gebot der Organtreue primär eine Missbrauchsschranke113; sie sichert das plebiszitäre Gesetzgebungsvorhaben davor, dass ihm durch legislatorische Maßnahmen des Parlaments manipulativ die Grundlage oder der rechtliche Anknüpfungspunkt seines Begehrens entzogen wird114. Im Einzelfall kann das sogar bedeuten, dass sich der parlamentarische Gesetzgeber einer legislatorischen Aktivität auf dem vom Volksgesetzgeber ins Auge gefassten Regelungsgebiet enthalten muss115. Das wird regelmäßig schon dann der Fall sein, wenn es ihm zuzumuten ist, die ihm verfassungsrechtlich nahegelegte Möglichkeit zu nutzen, einen eigenen Alternativentwurf zum Volksentscheid vorzulegen. Dem SächsVerfGH zufolge kann vom Parlament die Zurückstellung eigener, konkurrierender Gesetzgebungsvorhaben weiterhin auch dann verlangt werden, wenn damit ein faktisch oder rechtlich irreversibler Zustand herbeigeführt würde, der einen Volksentscheid obsolet machte, und wenn das parlamentarische Verfahren Aufschub verträgt, ohne dass wesentliche Nachteile drohen116. Der Gesichtspunkt der Organtreue vermag die parlamentarische Gesetzgebungsbefugnis indes nur im Einzelfall einzuschränken. So wie der plebiszitäre Gesetzgebungsvorschlag letztlich ein politisches Kampfinstrument oppositioneller Kräfte darstellt, muss auch der regierenden Parlamentsmehrheit die Möglichkeit verbleiben, sich legislatorisch zur Wehr zu setzen und ggf. auch ein Volksbegehren zu Fall zu bringen117 . Diese eher politische Betrachtungsweise deckt auf, dass die Einführung direktdemokratischer Elemente in die Landesverfassungen dazu beiträgt, den plebiszitären Gesetzgeber als den politischen Gegenspieler der Parlamentsmehrheit zu verstehen und den neuen Akteur auf der politischen Bühne auch verfassungsrechtlich in eine Position zu versetzen, die eine politische Balance zwischen den beiden Gesetzgebern schafft, ohne dass dabei der herkömmliche repräsentative Parlamentarismus Schaden leidet. Das ist, so wie die Dinge nun einmal liegen, nur mit dem Mittel einer einzelfallbezogenen Abwägung zu leisten118.
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SächsVerfGH (Fn. 11), JbSächsOVG 6, 44. Borowski (Fn. 8), DÖV 2000, 490. Rossi / Lenski (Fn. 8), DVBl. 2008, 423; SaarlVerfGH (Fn. 86), NVwZ 1988, 248. Rossi / Lenski, ebenda. SächsVerfGH (Fn. 11), JbSächsOVG 6, 44. SaarlVerGH (Fn. 86), NVwZ 1988, 248. Zum Gebot der Abwägung auch Rossi / Lenski (Fn. 8), DVBl. 2008, 423.
Toleranz als Verfassungsprinzip? Von Frank Rottmann I. Einführung 1. Das Wort „Toleranz“ ist in internationalen Rechtstexten zwar recht häufig zu finden1, kommt jedoch weder im Grundgesetz noch in den meisten Verfassungen der Länder vor. Auch dem Bürgerlichen Recht, dem Strafrecht und nahezu allen Bereichen des Verwaltungsrechts ist dieser Begriff fremd. Man findet ihn – wenn ich es recht sehe – nur bei der Umschreibung des Erziehungs- und Bildungsauftrags der Schulen in wenigen Verfassungen der Länder2 und in manchen Schulge1 Zum materiellen Gehalt des Toleranzbegriffs im internationalen Recht vgl. Maria J. Roca, Der Toleranzbegriff im internationalen Recht, in: R. Grote / I. Härtel / K.-E. Hain (Hrsg.) „Die Ordnung der Freiheit“, Festschrift für Christian Starck zum 70. Geburtstag, Tübingen, 2007, S. 905 ff., 927 f.. Die Untersuchung zur juristischen Funktion der Toleranz in den universalen internationalen Quellen hat zum Ergebnis, dass Toleranz in erster Linie einen angemessenen Schutz von Minderheiten sicherstellen soll, so dass sich diese in die Gesellschaft, in der sie zusammen leben, ohne Identitätsverlust eingliedern können. Als Fazit hält Roca, S. 928, dazu richtig fest: „Hierzu ist es erforderlich, dass die praktische Konkordanz der Minderheitenrechte mit den legitimen Rechten der Mehrheit auf Grund einer juristischen Anerkennung erfolgt, die nicht den Charakter eines Privilegs hat“. 2 Art. 15 Abs. 4 M-V Verf. bezeichnet es als Ziel der schulischen Erziehung „die Entwicklung zur freien Persönlichkeit, die aus Ehrfurcht vor dem Leben und im Geiste der Toleranz bereit ist, Verantwortung für die Gemeinschaft mit anderen Menschen und Völkern sowie gegenüber künftigen Generationen zu tragen“. Nach Art. 27 Abs. 1 Verf LSA ist „Ziel der unter staatlicher Aufsicht stehenden Erziehung und Bildung der Jugend die Entwicklung zur freien Persönlichkeit, die im Geiste der Toleranz bereit ist, Verantwortung für die Gemeinschaft mit anderen Menschen und Völkern und gegenüber künftigen Generationen zu tragen“. Nach Art. 22 Abs. 1 Thür Verf haben „Erziehung und Bildung . . . die Aufgabe, selbstständiges Denken und Handeln, Achtung vor der Würde des Menschen und Toleranz gegenüber der Überzeugung anderer, Anerkennung der Demokratie und Freiheit, den Willen zu sozialer Gerechtigkeit, die Friedfertigkeit im Zusammenleben der Kulturen und Völker und die Verantwortung für die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen und der Umwelt zu fördern.“ In den nach 1945 verabschiedeten Länderverfassungen der „alten“ Bundesländer taucht der Begriff der Toleranz als ausdrücklich formulierter Wertbegriff dagegen nicht auf. In die Nähe von „Toleranz“ kommen aber Begriffe wie „Achtung“ und „Duldsamkeit“ – Art. 56 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 4 HessVerf., Art. 26 Nr. 1 BremVerf., Art. 7 Abs. 2 NRW-Verf. Insofern war Art. 148 WRV traditionsbildend, der Toleranz als Bildungs- und Erziehungsziel zwar nicht ausdrücklich nannte, den Lehrenden aber die Pflicht auferlegte, im Unterricht in öffentlichen Schulen darauf Bedacht zu nehmen, dass die Empfindungen anders Denkender nicht verletzt werden. Die Toleranzvorschrift setzte der Schule also nicht Ziele sondern Schranken; vgl.
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setzen. Es heißt dann dort z. B., dass die Schülerinnen und Schüler zu „Toleranz gegenüber kultureller Vielfalt“3 erzogen werden sollen und „die Grundsätze der Gerechtigkeit, der Solidarität und Toleranz“4 einüben und achten sollen. 2. Angesichts der seltenen Verwendung des Begriffs der Toleranz in Normtexten verwundert es nicht, dass die Rechtsprechung sich meist nur beiläufig mit ihm auseinandergesetzt hat. Soweit dies geschah, blieb das Toleranzprinzip meist ein konturenarmes, ja fast inhaltloses Postulat5. Dies überrascht auch deshalb nicht, weil die Forderung nach Toleranz argumentativ sowohl zur Stärkung als auch zur Schwächung des Grundrechtsschutzes einer Minderheit eingesetzt werden kann. Wenn etwa die Minderheit gegenüber der Mehrheit geltend machen darf, gerade sie als Minderheit sei auf den besonderen Schutz der Rechtsordnung in Glaubensangelegenheiten angewiesen, dann dient das Toleranzgebot dem Minderheitenschutz6. Umgekehrt kann ein Konzept der (gestuften) Toleranz den Minderheitenschutz aber auch herabzonen und relativieren, so z. B. wenn die christlich orientierte Mehrheit der Eltern von der Minderheit verlangen darf, dass diese die Symbole des christlichen Glaubens der Mehrheit toleriert7. Es kommt in der jeweiligen Situation also immer darauf an, wer sich wem gegenüber nach der Rechtsordnung tolerant zu verhalten hat. Das Toleranzprinzip selbst gibt hierauf keine Antwort. Es nennt keine Kriterien und Maßstäbe für die Entscheidung, wer von wem Toleranz einfordern darf. Insofern ist der Begriff der Toleranz offen. Er bedarf, um einen angebbaren normativen Gehalt zu bekommen, der Füllung durch andere Prinzipien und Werte. Er ist ein „normativ abhängiger Begriff“8, weil er auf andere (verfassungs-)normative Maßdazu i.E. K. Schreiner, Toleranz in: O. Brunner, W. Conze, R. Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, 1990, Band 6, S. 445 ff., 579 f. 3 § 1 Abs. 2 Nr. 8 SG LSA. 4 Vgl. etwa § 2 Abs. 1 Satz 3, 4 ThürSchulG; weitere Nachweise bei Ch. Enders, Toleranz als Rechtsprinzip? – Überlegungen zu den verfassungsrechtlichen Maßgaben anhand höchstrichterlicher Entscheidungen, in: Enders / Kahlo (Hrsg.), Toleranz als Ordnungsprinzip? Die moderne Bürgergesellschaft zwischen Offenheit und Selbstaufgabe, 2007, S. 243 ff. und Fn. 2. 5 So J. Hellermann, Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, 1993, S. 105 f.; E.-W. Böckenförde, DÖV 1974, 253, 257; A. Podlech, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit und die besonderen Gewaltverhältnisse, 1969, S. 85; F. E. Schnapp, JZ 1985, 857, 860. 6 Das in Räumen einer Schule hängende Kruzifix muss dann – um ein Beispiel zu nennen, an dem sich eine verfassungsrechtliche Auseinandersetzung Mitte der 90-er Jahre entzündet hatte – entfernt werden, wenn Eltern als Anhänger der anthroposophischen Weltanschauung der Lehre Rudolf Steiners für ihre Tochter dies fordern; vgl. BVerfGE 93, 1, 22 f., (Mehrheitsvotum). 7 Das bedeutet dann konkret: Das Kruzifix bleibt im Schulraum hängen, vgl. BVerfGE 93, 1, 32 (Minderheitsvotum). Zum Versuch, den Konflikt i. S. praktischer Konkordanz verfahrensrechtlich zu „entschärfen“, vgl. H. Goerlich, NVwZ 1995, 1184 ff.
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stäbe – wie z. B. auf den Gleichheitssatz und die speziellen Diskriminierungs- und Privilegierungsverbote, auf die Glaubensfreiheit, die Gewissensfreiheit, die Gewährleistung ungestörter Religionsausübung in einer pluralistischen Gesellschaft oder auch auf die Freiheit von zwar verfassungsfeindlichen, weil nicht verbotenen politischen Parteien – verweist, die die konkrete Entscheidung eines Konflikts – etwa bei kollidierenden Grundrechtspositionen der Bürger – in dem einen oder anderen Sinn rechtfertigen können. Er enthält diese normativen Maßstäbe aber selbst nicht9. Der Begriff der Toleranz ist also unbestimmt und inhaltsleer, wenn er nicht grundrechtsdogmatisch untersetzt wird etwa durch die Aussage, dass „das Grundrecht der Glaubensfreiheit in besonderem Maße den Schutz der Minderheit“ bezweckt10 oder durch die These, dass „für nicht gläubige Schüler das Kreuz im Klassenzimmer nicht die Bedeutung eines Symbols für christliche Glaubensinhalte“ hat, „sondern nur die eines Sinnbildes für die Zielsetzung einer christlichen Gemeinschaftsschule“11. Auch in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – etwa in dem Urteil zu dem in Deutschland heftig diskutierten Kopftuchfall – finden sich zum Begriff der Toleranz nur beiläufige Bemerkungen, die die getroffene Entscheidung letztlich nicht tragen12. 8 Vgl. dazu R. Forst, Toleranz im Konflikt, Erste Auflage 2003, S. 48 ff., zit. Forst I; ders.: Das Recht auf Rechtfertigung, 1. Aufl. 2007, S. 214 f., zit.: Forst II; ders.: Vier Konzeptionen der Toleranz, in: M. Kaufmann (Hrsg.), Integration oder Toleranz? Minderheiten als philisophisches Problem, 2001, S. 106 ff., 114 f., zit.: Forst III. 9 Man kann deshalb allenfalls sagen, dass das Grundgesetz, „wenn es politische, religiöse, kulturelle und geistige Freiheiten seiner Bürger in Grundrechten gewährleistet, wenn es Gleichbehandlungsgebote und Diskriminierungsverbote statuiert, wenn es das politische Leben in einer demokratischen Ordnung verfasst, . . . damit auf eine mittelbare Weise auch Aussagen zur Toleranz“ trifft, vgl. etwa H.-J. Papier, Toleranz als Rechtsprinzip, in: R. Jacobs, H.-J. Papier, P.-K. Schuster (Hrsg.), Festschrift für Peter Raue zum 65. Geburtstag, Köln 2006, S. 255 f., ebd. auch zum Folgenden. In diesem vagen Sinn liegt dann das Toleranzprinzip „einer Vielzahl von Rechtsinstituten der Verfassung zu Grunde“, benennt aber nicht selbst die für die Entscheidung einer (Grund-)Rechtsfrage maßgeblichen Kriterien. Verschiedentlich wird daher von der Toleranz als einer „Verfassungsvoraussetzung“ gesprochen, s. etwa W. Hassemer, Religiöse Toleranz im Rechtsstaat, Das Beispiel des Islam, 2004, S. 48. 10 BVerfGE 93, 1, 24 (Mehrheitsvotum). 11 Davon geht die Minderheit in dieser Entscheidung aus; BVerfGE 93, 1, 32 f. 12 Die Mehrheit des 2. Senats des BVerfG stellte in der Kopftuchentscheidung in erster Linie darauf ab, dass der einzelne Schüler in der Schule dem Einfluss eines bestimmten Glaubens, den Handlungen, in denen dieser sich manifestiert, und den Symbolen, in denen er sich darstellt, unvermeidlich ausgesetzt ist. Da Schulpflicht besteht, könne er einer Beeinflussung durch den Lehrer nicht ausweichen. Deshalb bestehe ein „unvermeidliche(s) Spannungsverhältnis zwischen positiver Glaubensfreiheit eines Lehrers einerseits und der staatlichen Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität, dem Erziehungsrecht der Eltern sowie der negativen Glaubensfreiheit der Schüler“ andererseits. Der dann folgende Hinweis, dieses „Spannungsverhältnis“ sei „unter Berücksichtigung des Toleranzgebots (vom zuständigen Landesgesetzgeber) zu lösen“, lässt die Beantwortung, wer von wem tolerantes Verhalten erwarten darf, aber offen – vgl. BVerfGE 108, 282, 301 f. Der Konflikt bleibt unentschieden. Auch das „dissenting vote“ argumentiert im Kopftuchfall mit dem Toleranzprinzip. Es stellt
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Es ließen sich noch weitere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts anführen, in denen immer nur beiläufig von den „das Verfassungssystem insgesamt kennzeichnenden Prinzipien des Pluralismus und der Toleranz“13 oder von der „Wertentscheidung der Verfassung für Toleranz“14 die Rede ist. Sie belegen, dass die konkrete Rechtsarbeit zu einzelnen Fallkonstellationen – sieht man vom Bereich der Schule ab – und die grundrechtliche Dogmatik zur Religions-, Bekenntnis-, Gewissens- und Meinungsfreiheit bisher ganz gut ohne den „Grundsatz der Toleranz“ ausgekommen sind. ,Toleranz‘ ist also keine von der Rechtsprechung filigran ausgearbeitete dogmatische Figur, allenfalls eine „rechtspraktische Abbreviatur“15. Sie erlaubt, die Prämissen, wie unter dem Grundgesetz auftretende normative Spannungslagen – insbesondere bei nicht kompatiblen Grundrechtsausübungen – fallbezogen „aufgelöst“ werden können in eine griffige Formel bzw. ein prägnantes Schlagwort zu fassen – mehr aber auch nicht. Mit Recht wurde daher im Schrifttum16 schon früh darauf hingewiesen, dass Toleranz im pluralistischen, freiheitlich-rechtsstaatlich verfassten Gemeinwesen eine vom Bürger zu übende moralische Haltung ist, die sich z. B. in der freiwilligen Nichtausübung bestehender Rechte mit Rücksicht auf Andere äußern kann. Als rechtliches Gebot dürfe sie aber nicht verstanden werden. Denn was der Staat von seinen Bürgern an wechselseitiger Rücksichtnahme hoheitlich einfordern dürfe, ergebe sich aus der Rechtsordnung mit ihren Freiheitsgarantien und sei keine Frage der Toleranz. 3. Wenn die Rechtswissenschaft – trotz dieser schon vor vielen Jahrzehnten gewonnenen Einsichten – sich neuerdings mit der ,Toleranz‘ wieder intensiver befasst17 und fragt, ob sie ein Rechts- oder Ordnungsprinzip und die rechtsstaatliche fest, dass das Grundgesetz Offenheit und Toleranz in der Sphäre der Gesellschaft als Prinzip anerkennt, allerdings – wie hinzugefügt werden muss – auch nur dort. Denn diese Offenheit und Toleranz gehe nicht so weit, „solchen Symbolen Eingang in den Staatsdienst zu eröffnen, die herrschende Wertmaßstäbe herausfordern und deshalb geeignet sind, Konflikte zu verursachen“. Die grundsätzliche Offenheit und Toleranz in der Gesellschaft dürfe nicht auf das staatliche Binnenverhältnis übertragen werden; BVerfGE 108, 314, 334. 13 BVerfGE 31, 58, 75 – Spanien-Ehe. 14 BVerfGE 33, 23, 32 – Eidesverweigerung, vgl. auch BVerfGE 5, 85, 393 – KPD-Verbot; 13, 46, 54 – Auswirkungen eines Parteiverbotes; 47, 198, 239 – Wahlwerbung; 12, 1, 5 – Glaubenswerbung; 19, 226, 242 – Kirchensteuer in glaubensverschiedener Ehe; 24, 236 ff. – Lumpensammlerentscheidung, 28, 243, 264 – Wehrdienstbefreiung; 33, 23, 32 – Eidesverweigerung; 41, 29, 64 – Badische Simultanschule; 41, 65, 78 – Christliche Gemeinschaftsschule bayerischer Prägung; 47, 46, 85 – Sexualkundeunterricht; 52, 223, 247 – Schulgebet. 15 B. Pieroth, DVBl. 1994, 949, 961. 16 E.-W. Böckenförde, DÖV 74, 253, 257; A. Podlech, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit und die besonderen Gewaltverhältnisse, 1969, S. 85; ähnlich: W. Hassemer (Fn. 9), S. 42 ff., der betont, dass Toleranz als eine persönliche Haltung nicht erzwungen werden kann. 17 Vgl. etwa H.-J. Papier (Fn. 9), S. 255 f.; D. Grimm, Wie viel Toleranz verlangt das Grundgesetz?, in: ders., Die Verfassung und die Politik, 2001, S. 118 f.; W. Hassemer (Fn. 9), S. 36 ff., Ch. Enders (Fn. 4), S. 243 ff.; H. Goerlich, in: Enders / Kahlo (Fn. 4), S. 207 ff.;
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Freiheitsordnung eine Ordnung „institutionalisierter Toleranz“ sei18, so lässt dies auf eine gewisse Verunsicherung schließen19. Sie rührt wohl in erster Linie daher, dass die Gesellschaft in ihren kulturell-religiös fundierten Werthaltungen und Lebenswelten mehr und mehr inhomogen geworden ist und sich deshalb das normative Postulat ethnisch-kultureller oder bloß kultureller Homogenität dauerhaft kaum mehr durchhalten lässt20. Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass die westlichen Gesellschaften in den vergangenen Jahrzehnten zu Einwanderungsländern geworden sind. Ein hoher Prozentsatz der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland besteht heute aus Migranten, die in anderen Kulturkreisen geboren wurden, und ihren Kindern. Sie leben in Deutschland oft schon in der dritten Generation. Sie bilden zusammen mit Flüchtlingen, Russlanddeutschen und anderen ethnischen Gruppen eine vergleichsweise unterprivilegierte Schicht, die sich mehr und mehr in Parallelgesellschaften ausdifferenziert hat. Diese werden von Teilen der Mehrheitsgesellschaft als Bedrohung empfunden. Zum anderen hat sich die ökonomische Situation der deutschen Mittelschicht trotz des sich bereits wieder abschwächenden Wirtschaftsaufschwunges des letzten Jahres im Zeichen der Globalisierung der Finanzströme und Märkte sowie der Abwanderung industrieller Betriebe, ja ganzer Industriezweige ins Ausland, zunehmend verschlechtert21. Auch das führt zu einer Verunsicherung großer Teile der Bevölkerung, die sich im Zeichen der weltweiten „Finanzkrise“ und der erwarteten wirtschaftlichen Rezession noch verstärken dürfte. Hinzu kommt, dass die religiösen und kulturellen Minderheiten heute besser als früher in der Lage sind, dem Assimilations- und Integrationsdruck, der von der Mehrheitsgesellschaft ausgeht, zu widerstehen. Denn mit Hilfe moderner digitaler Kommunikationsmedien lässt sich leicht der Kontakt mit Familienangehörigen und gesellschaftlichen Gruppen in der „alten Heimat“ aufrecht erhalten. Außerdem ist die Bewahrung der eigenen sprachlichen, religiösen, weltanschaulichen und soziokulturellen Identität im Zeichen weltumspannender Kommunikationsnetze und preisgünstiger Transportmöglichkeiten heute kein gravierendes Problem mehr. Wenn die Beobachtung zutrifft, dass die Gesellschaft nicht nur Deutschlands, sondern auch Frankreichs, Spaniens, der Niederlande usw. sich mehr und mehr in K.-H. Ladeur / I. Augsberg, Toleranz, Religion, Recht. Die Herausforderung des „neutralen“ Staates durch neue Formen der Religiösität in der postmodernen Gesellschaft, 2007. 18 Ch. Enders (Fn. 4), S. 245. 19 Sie ist im Übrigen auch der Ausgangspunkt einer breiten und intensiven Diskussion des Toleranzbegriffs in den Bereichen von Philosophie und Politikwissenschaft – s. etwa M. Kaufmann (Fn. 8), mit einer Vielzahl von Beiträgen oder H. Lademacher / R. Loos / S. Goenveld (Hrsg.), Ablehnung-Duldung-Anerkennung. Toleranz in den Niederlanden und in Deutschland. Ein historischer und aktueller Vergleich, 2004. 20 H. Goerlich in: Enders / Kahlo (Fn. 4), S. 207 ff., 209; anders E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 24, Rn. 46 ff. 21 Zur Erosion der Mittelschicht s. M. Grabka und J. Frick vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung; dazu DER SPIEGEL, Nr. 10, 03. 03. 2008, S. 39 ff.
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eine Vielzahl von Teilgesellschaften ausdifferenziert, die sehr unterschiedlichen kulturellen Normen und Werten sowie arabischen, afrikanischen oder ostasiatischen Traditionen verpflichtet sind, dann lässt sich die Forderung nach Herstellung einer kulturellen Homogenität in diesen Gesellschaften kaum mehr verwirklichen. Einigermaßen homogen ist dann allenfalls noch die Mehrheitsgesellschaft mit ihrer „Leitkultur“22. Sie fühlt sich von den fremden kulturellen und auch religiösen Werten, Riten und Gebräuchen bedroht. Das führt zu Konflikten, die – wie z. B. der Streit um die Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen in der Presse und die gewaltbereiten Reaktionen hierauf oder auch der Streit um den Bau von Moscheen oder das Tragen von Kopftüchern im Schulunterricht zeigen – dem zeitgenössischen Bewusstsein neuartig erscheinen, in historischer Sicht aber keineswegs neu sind. Denn die religiös und weltanschaulich motivierte Verfolgung von Andersgläubigen und Andersdenkenden hat eine lange Geschichte. 4. Entstehen religiöse und kulturelle Konflikte, die man glaubte überwunden zu haben, unter historisch völlig veränderten Bedingungen „neu“, so liegt es nahe, die „alten“ historischen Konzepte zur Konfliktaustragung und Konflikt„bewältigung“ daraufhin zu befragen, ob sie für die Beilegung dieser „neuen“ Konflikte möglicherweise tauglich sind. Eines dieser Konzepte ist das der ,Toleranz‘, denn sie verspricht ein gedeihliches „Miteinander im Dissens“. Das andere ist das des demokratischen Rechtsstaates. Er sucht Konflikte dadurch beizulegen, dass er einklagbare Grundrechte gewährleistet, in Wahlen und Abstimmungen den Erwerb und Gebrauch staatlicher Gewalt legitimiert und mit der Gewaltenteilung dem Missbrauch des staatlichen Gewaltmonopols entgegenwirkt. Es stellt sich daher die Frage, ob das Toleranzkonzept bei der rechtlichen Aufarbeitung von Konflikten auch heute noch etwas zu leisten vermag, was der demokratische, gewaltenteilende und Grundrechte gewährleistende Rechtsstaat nicht in der Lage ist zu leisten. Im Folgenden soll zunächst an Christian Thomasius erinnert werden, der in nachreformatorischer Zeit an der Universität Leipzig und später in Halle als ein wichtiger Wegbereiter moderner Rechtskultur23 streitbar für Toleranz gegenüber konfessionellen Abweichlern und Sektierern und für individuelle Glaubens- und 22 S. P. Huntington, WHO ARE WE? Die Krise der amerikanischen Identität, 2006, S. 218 ff. versteht darunter die anglo-protestantische Kultur Amerikas, die durch den Multikulturalismus bedroht sei. Dieser stehe seinem Wesen nach in Opposition zur europäischen Zivilisation und führe zu einer Marginalisierung demokratischer Prinzipien, westlicher Kultur und Identität. Bassam Tibi, Europa ohne Identität?, 1998, S. 183, 185 prägte dann den Begriff der „europäischen Leitkultur“. Es sei Aufgabe der Europäer, auf dem Boden der europäischen Moderne einen säkularen Normen- und Wertekatalog verbindlich für sich und andere zu entwickeln und mit den Migranten zu teilen. Zu diesem Normenbestand gehöre auch die Toleranz, a. a. O., S. 180 ff. Bei I. Isensee in: R. Grote / I. Härtel / K.-E. Hain (Hrsg.), (Fn. 1), S. 55 ff., 69 f. wird der Begriff der „deutschen Leitkultur“ dann gegen den „abgemagerte(n) Verfassungspatriotismus des Habermas-Lagers“ in Stellung gebracht und steht für ein positives Bekenntnis zu deutscher Kultur und Identität. 23 So H. Lück (Hrsg.), Christian Thomasius (1655 – 1728), Wegbereiter moderner Rechtskultur und Juristenausbildung, 2006.
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Gewissensfreiheit eintrat. Indem Thomasius den Unterschied zwischen theologisch-philosophischer und rationaler Naturrechtsbegründung in Auseinandersetzung mit den Lehren von Grotius und Pufendorf verschärfte, leitete er den Prozess der Säkularisierung des Naturrechts ein. In seiner rationalistischen Konstruktion des Gemeinwesens als rationales Zweckgebilde, das im Interesse der Einzelnen von Einzelnen gegründet wird, kündigte sich nicht nur der moderne Individualismus24, sondern zugleich ein personales Verständnis von Freiheit als Grundlage der Menschen- und Bürgerrechte an. Die Ambivalenzen des Toleranzbegriffs werden deutlicher, wenn man sich von den jeweils besonderen geschichtlichen Argumentations- und Konfliktlagen löst und nach den Prämissen fragt, die unterschiedlichen Verständnissen von Toleranz zu Grunde liegen. Dies soll anschließend in einem knappen Überblick geschehen. Dabei zeigt sich, dass das ,klassische‘ Toleranzverständnis auf dem Grundgedanken beruht, dass eine Autorität einer oder mehreren Minderheiten erlaubt, ihren individuellen Überzeugungen gemäß zu leben, solange dadurch die Vorherrschaft der Autorität nicht in Frage gestellt wird. In diesem Verständnis ist ,Toleranz‘ einseitig gewährte und jederzeit wieder entziehbare Freiheit (III.1). Davon lässt sich das Verständnis der Toleranz als eine Strategie zur Herstellung „friedlicher Koexistenz“ abgrenzen. ,Toleranz‘ hat hier die Funktion, ein annäherndes Kräftegleichgewicht zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Machtzentren herzustellen und nach Möglichkeit zu erhalten (III.2.). Von einem solchen machtpolitischen Kalkül unterscheidet sich das Konzept der „respektierenden Toleranz“ grundlegend. Es beruht auf einer moralisch begründeten Form wechselseitiger Achtung der sich tolerierenden gesellschaftlichen Gruppen und Individuen (III.3.). Abgelöst wird es vom Konzept des grundrechtsgewährleistenden demokratischen Rechtsstaates, in dem der möglicherweise noch verbleibende rechtliche Stellenwert des Toleranzprinzips fragwürdig geworden ist (III.4.). Die Frage, ob dem Grundsatz der Toleranz verstanden als Verfassungsprinzip noch eine eigenständige normative Bedeutung zukommt, wird kontrovers diskutiert. Soweit sie nicht rundweg verneint wird, kann man im Wesentlichen drei Auffassungen unterscheiden, die im Folgenden kurz dargelegt und einer kritischen Prüfung unterzogen werden sollen. Die rechtliche Bedeutung des Grundsatzes der Toleranz wird zum einen darin gesehen, dass ,Toleranz‘ eine verfassungsrechtlich intendierte „Staatsbürgertugend“25 sei, zu deren Verwirklichung die Bürger aufgefordert sind (IV.1). Zum anderen wird die Auffassung vertreten, dass sich bestimmte verfassungsrechtliche Institute und verfassungsrechtsdogmatische Aussagen auf ein spezifisches inhaltliches Verständnis von Toleranz zurückführen las24 E. Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Aufl., 1963, S. 371 ff., 383 f.; vgl. auch W. Schneiders in: ders. (Hrsg), Christian Thomasius 1655 – 1728, Interpretationen zu Werk und Wirkung, 1989, S. 1 ff., 13 f., für den sich im Toleranzverständnis von Thomasius der Tendenz nach bereits der liberale Rechtsstaat zeigt. 25 A. Debus, Das Verfassungsprinzip der Toleranz unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1999, S. 254.
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sen, das für die verfassungsrechtliche Begründung von Entscheidungen in bestimmten Konfliktslagen nach wie vor bedeutsam sei. Toleranz wird hier als „staatsgerichtetes“ Wohlwollensgebot verstanden26 (IV.2.). Nach einer anderen Konzeption ist das Toleranzprinzip schließlich ein zentrales Element einer Theorie der Rechtfertigung von Entscheidungen, das die Rechtsarbeit (auch) mit verfassungsrechtlichen Normen strukturiere27. In diesem Verständnis könnte das Toleranzprinzip vertraute juristische Methoden der Entscheidungsfindung und Entscheidungsbegründung möglicherweise ergänzen, vielleicht sogar ersetzen (IV.3.). II. Das Konzept der Toleranz bei Christian Thomasius 1. Christian Thomasius wurde am 01. Januar 1655 in Leipzig als Sohn des namhaften Leipziger Aristotelikers, Philosophiehistorikers und Rektors der Thomasschule, Jakob Thomasius, geboren. Seine Mutter stammte aus einer Theologenfamilie. Thomasius erhielt eine humanistisch-protestantische Erziehung. Nachdem er 1669 Baccalaureus und 1672 Magister artium geworden war, studierte er seit 1674 Jurisprudenz. In Frankfurt / Oder erhielt er eine gute technisch-juristische Schulung und erwarb 1679 die Doktorwürde. Eine Bildungsreise nach den Niederlanden war wohl ein erstes äußeres Zeichen dafür, dass Thomasius sich von der Leipziger Tradition der Rezeption und Verteidigung der wissenschaftlichen Methode des Aristotelismus abwendete und sich von der Rückwärtsgewandtheit der orthodoxen Theologie abzugrenzen suchte, die der katholischen Spätscholastik mit eigenen Begriffen und Denkstrukturen begegnete28. Nach seiner Rückkehr aus Holland ließ sich Thomasius in Leipzig als Anwalt nieder. Die Praxis befriedigte ihn jedoch nicht und war auch wirtschaftlich wenig erfolgreich. Er begann, Vorlesungen über Naturrecht zu halten und sah seine eigentliche Aufgabe darin, Pufendorfs naturrechtliches System im Sinne einer Säkularisierung des Naturrechts zu vollenden29. In Anlehnung an Pufendorf erklärte er das Naturrecht für eine Wissenschaft, die vorurteilsfrei30 von Juristen betrieben werden müsse und nicht den TheoCh. Enders (Fn. 8), S. 264. R. Forst II (Fn. 8), S. 211 ff.; vgl. auch R. Forst I, S. 656 ff., 675 ff. und zu einzelnen Toleranzkonflikten – „Kruzifix-Urteil“ des BVerfG, „Kopftuchfällen“, Anerkennung von Homosexualität etc., S. 708 ff. 28 Zum Leben und den Hauptschriften von Thomasius vgl. vor allem E. Wolf (Fn. 24); K. Luig, Christian Thomasius, in: M. Stolleis (Hrsg.), Staatsdenker in der frühen Neuzeit, 1994, S. 227 ff., St. Buchholz, in: H. Lück (Fn. 23), S. 91 ff. 29 Vgl. E. Wolf (Fn. 24), 375, 380 ff. 30 Thomasius kämpfte gegen die „scholastischen Grillen“ und die „Bücher Aristoteles“, dessen Philosophie für ihn „ein Aufschlagebuch einiger Kunstwörter“ ist, „deren die meisten nicht zur wahren Weisheit, sondern zur Naseweisheit dienen“ – vgl. Vorrede zur göttlichen Rechtsgelahrtheit, § 35, S. 24, zit. nach E. Wolf (Fn. 24), S. 379, Fn. 18. 26 27
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logen und Philosophen überlassen werden dürfe. Thomasius wendete sich damit gegen jede Vermengung theologischer, philosophischer und juristischer Denkweisen und betonte die Eigenständigkeit der rationalen Naturrechtsbegründung, indem er den theologischen Gedanken des „ius divinum“ aus dem Bereich der wissenschaftlichen Rechtslehre ausgrenzte. Damit sonderte er die theologischen und philosophischen Elemente des Naturrechts von dem juristischen Kernbereich ab und unterschied scharf zwischen der religiösen Lebensordnung, die auf göttlichem geoffenbarten Recht beruhe, und dem gesellschaftlich-politischen Lebensbereich, dessen Grundlage das weltlich verstandene Naturrecht sei. Mit dieser Trennung wollte er den Fürstenstaat von jeder Unterordnung unter Theologie und Kirche freistellen. In der rationalistischen Konstruktion des Naturrechts durch Thomasius kündigte sich der moderne Individualismus an, da die aus der „Offenbarung“ abgeleiteten Normen nun ebenso aus dem Bereich des Rechts herausfielen wie die „objektiven“ Werte der Sittenordnung und der Gemeinschaftsbindungen31. Bei Thomasius geht alles Recht vom Subjekt aus: Die angeborenen unveräußerlichen Rechte des Individuums werden von ihm als „iura connata“ scharf von den durch positive Satzung erworbenen „iura acquisita“ unterschieden32. 2. Als Thomasius 1687 eine Vorlesung in deutscher Sprache ankündigte33, war dies nicht nur ein Verstoß gegen die akademischen Traditionen, sondern wurde zu Recht auch als Angriff auf die damals noch den Unterricht bestimmende Methode des lutherischen Aristotelismus verstanden. Wesentlicher als dies war aber die Herausforderung, die sein Lehrer Alberti in dem Hauptwerk von 1688, den Institutiones Iurisprudentiae Divinae, sehen musste. Denn dieses war direkt gegen ihn, den herausragenden Vertreter der orthodoxen Theologie und Naturrechtslehre, gerichtet. Als Thomasius 1688 auch noch eine deutschsprachige wissenschaftliche Zeitschrift gründete, die sich der Kritik an blinder Rechtgläubigkeit, religiöser Unduldsamkeit und akademischer Engstirnigkeit verschrieb und mit polemischen Mitteln, oft holzschnittartig und popularisierend gezielt einen satirisch-kritischen Stil pflegte, verschärfte sich der Konflikt mit den Leipziger Kollegen aller Fakultäten. Die Lage spitzte sich weiter zu, als sich die Theologische Fakultät beim Kurfürstlichen Hof in Dresden über Thomasius beklagte, weil er die Heilige Schrift 31 Thomasius entwickelt eine damals revolutionäre Unterscheidung von Recht und Moral sowie die Trennung von Kirche und Staat, die das alte Ideal des religiösen Tugendstaates zumindest der Tendenz nach durch das des liberalen Rechtsstaates ersetzt, vgl. zu diesem Aspekt und zur Frage, ob die Aufklärung in Deutschland mit Thomasius einsetzt: W. Schneiders (Fn. 24), S. 13 f. 32 E. Wolf (Fn. 24), S. 383 f. 33 St. Buchholz, Toleranz im späten 17. Jahrhundert: Über das Fürstenrecht in theologischen Streitigkeiten, in: Heiner Lück (Hrsg.), (Fn. 23), S. 91 ff., 95; s. hierzu auch die Studie von E. Bloch, Christian Thomasius, ein deutscher Gelehrter ohne Misere, in: Naturrecht und menschliche Würde, 1972, S. 315 ff.
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„nach seinem Kopf“ auslege und „das sogenannte pietistische Unwesen ungescheut verteidige“34. Obwohl der Sächsische Hof zunächst noch zurückhaltend reagierte, machte sich Thomasius bei seinem Landesherrn schließlich völlig unbeliebt, als er in einer Schrift die Ehe des Lutherischen Herzogs Moritz Wilhelm von SachsenZeitz mit Maria Amalia, einer Reformierten und Tochter des Großen Kurfürsten, verteidigte (1689). In dieser Stellungnahme kam zwar die tolerante Grundhaltung von Thomasius in religiösen Fragen zum Ausdruck. Da die Heirat aber am Dresdner Hof unerwünscht war, wurde gegen ihn am 10. 03. 1690 ein Lehr- und Publikationsverbot ausgesprochen. Er musste Leipzig verlassen, erhielt aber bereits am 04. April vom Kurfürsten Friedrich III. die Bestellung als Kurfürstlicher Rat und die Erlaubnis, in Halle philosophisch-juristische Vorlesungen anzukündigen35. 3. Der Grundsatz der Toleranz hat bei Thomasius verschiedene rechtliche Dimensionen. Zum einen legt Thomasius besonderen Wert auf die Feststellung, dass die weltliche Obrigkeit keine Machtbefugnis über Glauben und Meinung besitze. In Glaubensangelegenheiten habe der Fürst kein Recht. Die innere Haltung der Bürger sei keinem Zwang unterworfen, weil die Religion nicht zu den Grundlagen des Staates gehöre und es nicht erforderlich sei, dass im Staat nur eine Religion oder Konfession existiert36. Damit werden der Herrschaftsgewalt des Fürsten Grenzen gesetzt. Weil religiöser Glaube und religiöse Handlungen für Thomasius zum privaten Bereich der Untertanen gehören, darf die Fürstengewalt nur zur polizeirechtlichen Abwehr von Gefährdungen und Störungen für das Gemeinwesen eingesetzt werden: „Die Pflicht eines Fürsten als Fürsten besteht darinnen, dass er den äußerlichen Frieden in seinem Staat erhalte. Sie erfordert nicht, dass, wenn seine Unterthanen einer falschen christlichen Religion zugethan seyn, er dieselben zu der wahren seligmachenden bringe und führe“37. Der Schutzbereich des im Ansatz abwehrrechtlichen Verständnisses der Religionsfreiheit bezieht sich bei Thomasius allerdings nur auf das ,forum internum‘; nur für diesen schmalen Bereich wird die Ausübung von Gewissenszwang ausgeschlossen38. Vor dem Hintergrund heftiger theologischer Auseinandersetzungen zwischen den Konfessionen und dem alten Machtstreit zwischen Priestertum und weltlicher E. Wolf, (Fn. 24), S. 390. Nachdem Thomasius’ Lehrer Samuel Stryk aus Frankfurt als Professor primarius ebenfalls nach Halle gekommen war, entschloss sich Friedrich III. zur formellen Errichtung der längst geplanten neuen Universität in Halle, die am 01. Juli 1694 eingeweiht wurde. Stryk wurde der Erste Direktor und praktischer Organisator; vgl. dazu i.E. E. Wolf (Fn. 24), S. 391 f. 36 Vgl. dazu K. Luig (Fn. 28), S. 227 ff., 249 f. 37 Christian Thomasius, Das Recht Evangelischer Fürsten in theologischen Streitigkeiten gründlich ausgeführet und wider die papistischen Lehr-Sätze eines Theologie zu Leipzig verthaydiget, 3. u. 4. Satz (1696), 5. Aufl. Halle, 1713, S. 26.62. 38 Thomasius bekannte sich zu einer religio naturalis, die keiner äußeren Zeichen bedarf und leugnete damit die Notwendigkeit eines öffentlichen cultus externus für den Bestand des Gemeinwesens. Damit fällt alles Äußerliche dem Staat zu. 34 35
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Herrschaft soll der Grundsatz der Toleranz zum anderen eine gesellschaftsbefriedende Wirkung entfalten. Über Toleranz wird dann in diesem Zusammenhang gesagt: „Bey so gestalten Sachen nun ist es leicht zu begreiffen, dass das beste Mittel sey, dass man einander in so weit dulde, dass man aeusserlich im gemeinen Leben friedlich mit einander ümgehe, die Pflichten des Rechts der Natur einander nicht versage und auff den Cantzeln und in den Schriften die vorgegebene irrige Meynungen mit aller Sanfftmuth widerlege, im uebrigen die Zuhörer zum Zanck und Haß und andern Feindseligkeiten der Widriggesinneten nicht antreibe, sondern sie davon abmahne und darinnen mit gutem Exempel vorgehe.“39 Toleranz wird hier in erster Linie als Pflicht zur Mäßigung verstanden. Das eigentliche Ziel der Toleranz besteht nach Auffassung von Thomasius aber vor allem darin, die außerhalb der reichsverfassungsrechtlich gewährten Paritätsordnung stehenden Abweichler und Sektierer vor Verfolgung zu schützen. Aufgabe des Fürsten sei es, immer dann das ,Regal von der Toleranz‘ einzusetzen, wenn die Geistlichkeit Gewissenszwang einführen will, die Anerkennung ihrer Konfession verlangt und bei Verweigerung die Landesverweisung durchzusetzen sucht. Der Fürst soll dann den (orthodoxen) Klerus daran hindern, den Abweichler zu schmähen und zu verdammen, damit Ruhe und Frieden des Gemeinwesens nicht nachhaltig gestört werden40. Das setzt eine superioritas territorialis des Fürsten als ungeteilte höchste Gewalt voraus: „Die Kirche ist in der Republic und die Republic ist nicht die Kirche“.41 Das Verständnis von Glaube und Religion als private Angelegenheiten, die der Macht des Fürsten und dem Einfluss der anerkannten Religionsgemeinschaften entzogen und deshalb von ihnen zu tolerieren sind, schafft Raum für ein individualrechtliches Verständnis der Glaubens- und Gewissensfreiheit. Denn wenn es nicht Aufgabe des Fürsten ist, seine Untertanen tugendhaft zu machen oder für deren Seligkeit zu sorgen, können Religion und Gewissen der Sphäre der Privatheit des Einzelnen zugeordnet werden. Damit ist zugleich die Grundlage gelegt für eine rational begründete Lehre von der Gewissensfreiheit (Glaubensfreiheit) als Postulat der Individualvernunft42, die ganz wesentlich zur Herausbildung des modernen individualrechtlichen Verständnisses der Glaubens- und Gewissensfreiheit beigetragen hat. Thomasius‘ Einsicht, dass Ruhe und Frieden des Gemeinwesens nicht davon abhängen, ob die Untertanen einer einheitlichen Glaubensrichtung angehören und ob der Landesherr sich zur gleichen Konfession bekennt wie die Mehrheit seiner Untertanen, bleibt zwar einerseits überkommenen Vorstellungen von Toleranz verhaftet, greift aber in ihrer strikten Absage an jegliche theologisch begründete Rechtfertigung eines Gewissenszwangs doch weit darüber hinaus. Denn Thomasius Vgl. oben Fn. 37. Vgl. i.E. St. Buchholz (Fn. 28), S. 100 ff. 41 Ch. Thomasius, Rettung des Rechts der Fürsten in Kirchensachen (1699), ed. Johann Gottfried Zeidler, Franckfurt am Mayn, 1701, § 44. 42 E. Wolf (Fn. 24), S. 384. 39 40
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wendet die Forderung nach religiöser Toleranz nicht nur gegen die Fürstenmacht selbst, sondern vor allem auch gegen den Machtanspruch der Kirchen. Weil Glaubensfragen juristisch nicht entscheidbar sind, haben Fürst und Klerus kein Recht, ihre Glaubensüberzeugungen den Menschen aufzuzwingen. Persönliche Gotteserkenntnis verträgt keinen Zwang43. III. Zur Ambivalenz des Toleranzprinzips: Von der tolerierten Freiheit zum tolerierenden Freiheitsgebrauch 1. Dem Mailänder Toleranzedikt des Jahres 313 liegt das Konzept der Toleranz als einseitig gewährte Freiheit zu Grunde. Damals war – wenn auch nur für eine kurze Zeit – eine Kulturstufe erreicht, in der die Religion zur Gewissenssache geworden war und auch als solche geachtet wurde. Der Gedanke der Religionsfreiheit wurde in den Worten ausgedrückt, „ . . . dass die Freiheit der Religion nicht versagt werden darf und dass es dem Willen und der Entscheidung eines jeden überlassen bleiben muss, wie er seinen Gottesdienst nach seinem Ermessen ausrichten will“. Jedem ist – so das Edikt – damit die Erlaubnis gegeben, „seinem Glauben und seinem Gottesdienst nachzukommen, was offenbar für die Ruhe in unseren Zeiten erforderlich ist“44. Von dem Gedanken eines für die Staatsgewalt unantastbaren Grundrechts der Glaubens-, Gewissens-, Bekenntnis- und Religionsausübungsfreiheit war man allerdings noch weit entfernt. Nur ein gewisser weltanschaulicher Relativismus einer aufgeklärten Spätkultur und Überlegungen der Staatsräson bildeten die Grundlage des Edikts. Es verlieh der Minderheit keine dauerhafte gesicherte Rechtsstellung, sondern duldete lediglich vorübergehend abweichendes Verhalten in Religionsangelegenheiten. Als wenige Jahrzehnte nach Erlass des Edikts das Christentum selbst zur Staatsreligion erklärt wurde, kehrte man zum antiken Etatismus in Religionsangelegenheiten zurück. Die Erlaubnis wurde einfach wieder entzogen45. Im Mailänder Toleranzedikt bezeichnet Toleranz daher nur die einseitige Beziehung zwischen einer Autorität und einer von deren Wertvorstellungen abweichenden Minderheit. Die geübte Toleranz besteht allein darin, dass die Autorität der Minderheit gestattet, für einen ungewissen Zeitraum ihren Überzeugungen gemäß zu leben. 43 Daraus folgt für Thomasius zugleich, dass die wahre Kirche ausschließlich eine spirituelle Gemeinschaft ist, die weder Zwang noch Unterordnung kennt; vgl. dazu i.E. St. Buchholz (Fn. 28), S. 97 ff. 44 Vgl. etwa R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 12. Aufl. 1994, § 32, S. 313 f. und zu Einzelheiten: Kranjc in: Enders / Kahlo (Fn. 4), S. 45 ff., dort auch zum Toleranzedikt von Nikomedia, ebd. S. 41 ff. Der Begriff der Toleranz taucht weder in diesen Edikten noch in dem Religionsfrieden des 16. Jahrhunderts auf; dort wird von concordantia gesprochen. 45 R. Forst I (Fn. 8), S. 67 f.
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Das Verständnis der Toleranz als von der Obrigkeit gewährte Freiheit in Religionsangelegenheiten ist das Grundprinzip der klassischen Toleranzgesetzgebungen bis zum Ausbruch der Religionskriege in Europa und auch noch in den Zeiten danach. So erklärt z. B. Heinrich IV. im Edikt von Nantes von 1598, das die Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Hugenotten in Frankreich beenden sollte, Folgendes: „Um keinen Anlass zu Unruhen und Streitigkeiten zwischen unseren Untertanen bestehen zu lassen, haben Wir erlaubt und erlauben Wir den Anhängern der sogenannten reformierten Religion, in allen Städten und Ortschaften unseres Königreichs und Ländern unseres Machtbereiches zu leben und zu wohnen, ohne dass dort nach ihnen gesucht wird oder sie bedrückt und belästigt und gezwungen werden, etwas gegen ihr Gewissen zu tun.“46 Auch hier ist Toleranz nur eine Strategie der Konfliktvermeidung, der eine Kosten-Nutzen-Analyse vorausgeht. Zum einen werden die abweichenden Überzeugungen und Praktiken der „sogenannten reformierten Religionen“ geduldet, damit diese die Machtposition der Obrigkeit nicht mehr in Frage stellen und jeder „Anlass zu Unruhen und Streitigkeiten“ vermieden wird. Die Kultfreiheit wird allerdings unter strengen Auflagen erteilt, ist nur an bestimmten Orten zulässig und in Paris und in einem Umkreis von fünf Meilen um die Hauptstadt verboten. Zum anderen wird die Dominanz der katholischen Konfession, die die Mehrheit stellt, in vielen Einzelheiten festgeschrieben, um auch dieser religiösen Gruppe keinen „Anlass zu Unruhen und Streitigkeiten“ zu geben. Insgesamt sollen die Herrschaft des Souveräns gesichert und gestärkt und die dominierende Stellung der Mehrheitskonfession bewahrt werden. Es erscheint bei Abwägung aller Interessen vernünftiger, der Minderheit bestimmte Schutzräume zuzubilligen und ihr begrenzte Freiheiten zu geben, anstatt Konformität zu erzwingen. Ändert sich die politische Lage, dann kann das Freiheit gewährende Edikt, ohne dass dafür Gründe angegeben werden müssten, revoziert werden, was dann auch im Jahr 1685 geschah. 2. Misslingt die Strategie einer solchen Machtsicherung durch Freiheitsgewährung und kommt es zu Bürger- und Religionskriegen, in denen sich ungefähr gleich starke Gruppen gegenüber stehen, dann ist das Gewaltmonopol des Herrschers grundsätzlich in Frage gestellt. Damit stellt sich das Toleranzproblem neu. Denn Toleranz führt in solchen Situationen nur dann zu einem Modus vivendi, wenn die Konfliktparteien die „friedliche Koexistenz“ der kriegerischen Auseinandersetzung vorziehen. Toleranz, verstanden „als Strategie zur Herstellung und Bewahrung friedlicher Koexistenz“47 setzt mithin ein annäherndes Machtgleichgewicht zwischen den sich bekämpfenden Kräften voraus. Allerdings hält jeder Waffenstillstand nur so lange, wie alle Beteiligten die Fortführung der Auseinandersetzungen 46 Zit. in: C. Herdtle / Th. Leeb, Toleranz – Texte zur Theorie und politischen Praxis, 1987, S. 69. 47 R. Forst I (Fn. 8), S. 44 f. spricht insoweit von der Koexistenz-Konzeption der Toleranz, der ein „Liberalismus der Furcht“ zu Grunde liegen kann.
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wegen der damit verbundenen hohen Kosten scheuen. Das Kräftegleichgewicht, aus dem Toleranz entstehen soll und vorübergehend auch entsteht, ist daher immer fragil und instabil. Die auf ein Gleichgewicht der Kräfte angewiesene Toleranz unterscheidet sich von der Strategie der Disziplinierung durch Freiheitsgewährung nicht dadurch, dass nun der religiös- oder weltanschaulich begründete eigene Wahrheitsanspruch relativiert oder sogar der des anderen respektiert würde. Nur die Machtsituation hat sich verändert: Die Minderheit ist nun nicht mehr auf die Duldung durch die Mehrheit angewiesen, sondern vermag diese zur Duldung – bei veränderten Machtverhältnissen vielleicht sogar einmal zur Übernahme – ihrer Glaubensinhalte zu zwingen. Da nur die pragmatische Einsicht in die zu hohen Kosten der Konfrontation und vielleicht noch die Einsicht in die Schrecken und Grausamkeit religiöser Konflikte den Ausbruch gewalttätiger Auseinandersetzungen verhindern, kann, wie schon erwähnt, Toleranz leicht in Intoleranz umschlagen. Gewalttätige Auseinandersetzungen lösen dann nicht selten Phasen friedlicher Koexistenz ab. Das liegt im Wesentlichen daran, dass das gegenseitige Misstrauen, der andere könne den Zeitraum der friedlichen Koexistenz zur Verschaffung machtstrategischer Vorteile nutzen, durch diese Art von Toleranz nicht ausgeräumt wird. Mehr noch: Gerade in Zeiten eines labilen Machtgleichgewichts wird jede Seite besonderen Wert darauf legen, ihre eigene weltanschaulich-kulturelle Identität nicht nur zu bewahren, sondern sie, wenn möglich, zu festigen und zu stärken. Das hat seinen Preis, denn weltanschaulich-kulturelle Homogenität bedeutet Aufgabe von Pluralität und damit Intoleranz bei der Auseinandersetzung mit Dissidenten. Vor allem in tatsächlicher Hinsicht ist das Konzept dieser Art von Toleranz daher äußerst voraussetzungsvoll, da jede Veränderung des Kräftegleichgewichts neue Konflikte auslösen kann. Außerdem baut es das gegenseitige Misstrauen nicht ab und fördert Tendenzen zu intolerantem Verhalten gegenüber Dissidenten im eigenen weltanschaulich geprägten Kulturkreis. 3. Toleranz aus Respekt48 beruht auf einer moralisch begründeten Form der wechselseitigen Achtung der sich tolerierenden Individuen bzw. Gruppen. Dabei ist der Grundgedanke der, dass die Toleranz eine Haltung der Bürger zueinander ist. Sie sind zugleich Tolerierende und Tolerierte, dem Recht Unterworfene und es Autorisierende. Das bedeutet, dass die Autorität nun nicht mehr bei einem oder mehreren Herrschaftszentren liegt, die sich nicht zu legitimieren brauchen, sondern aus einem Prozess demokratischer Legitimation entsteht, der bestimmte Grundrechte nicht verletzen darf. Toleranz aus Respekt setzt indes nicht voraus, dass der Einzelne und gesellschaftliche Gruppen die religiösen Überzeugungen und weltanschaulichen Gewiss48 Zu den verschiedenen Varianten der Respekt-Konzeption der Toleranz s. i.E. R. Forst I (Fn. 8), S. 45 ff.
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heiten der anderen teilen oder sie sogar als wahr anerkennen. Insofern unterscheidet sie sich von Akzeptanz. Die Überzeugungen der anderen werden vielmehr nach wie vor abgelehnt, weil man sich der eigenen Wahrheit gewiss ist. Man hat aber gute Gründe, dass es richtig oder sogar geboten ist, die falschen oder schlechten Überzeugungen bzw. Praktiken anderer zu tolerieren. Sie ergeben sich aus der Einsicht aller Beteiligten, dass es vernünftiger ist, Konflikte in friedlicher Kommunikation statt mit den Mitteln von Zwang und Gewalt auszutragen und ggf. beizulegen. Das setzt die wechselseitige Verhaltenserwartung voraus, dass einzelne Personen oder Personengruppen in Ausübung ihres Glaubens und ihres Bekenntnisses sowie in ihrem Handeln aus Gewissensgründen sich gewaltfrei verhalten, ohne von einer überlegenen Instanz dazu gezwungen zu werden. Eine solche stabile reziproke Verhaltenserwartung stellt sich erstens nur ein, wenn die Akteure zwischen für sie gültigen, weil wahren Glaubensinhalten und weltanschaulichen Maßstäben ihres Gewissens und den sich aus ihnen ergebenden „außenwirksamen“ Handlungen unterscheiden. Das konnte historisch betrachtet erst gelingen, als der einheitliche Kosmos wahrer Überzeugungen zerfallen war und deshalb aus dem Wahrheitsanspruch des Glaubens, des Gewissens und der Weltanschauung kein unmittelbarer Wirkungsanspruch mehr abgeleitet wurde49. Die wechselseitige Anerkennung der Glaubens- und Gewissensfreiheit als Recht setzt mithin voraus, dass Glauben und Gewissen so verinnerlicht sind, dass sie nicht mehr zu Revolten neigen. Sie wurden daher zunächst nur als Recht zur Hausandacht gewährt, weil diese am unauffälligsten praktiziert werden kann. Die Säkularisation des sozialen Lebens war daher eine der wesentlichsten Voraussetzungen des Duldungsgedankens der Toleranz. Und sie ging historisch der Herausbildung des Rechts auf Glaubens- und Gewissensfreiheit voraus50. Die reziproken Verhaltenserwartungen beziehen sich zweitens nur auf die Friedlichkeit der Kommunikationsform, nicht aber auf die kommunizierten Inhalte. Denn über die miteinander im Widerstreit stehenden religiösen Wahrheitsansprüche und Gewissensüberzeugungen einer Person kann man zwar streiten, sie lassen sich aber nicht wegdiskutieren. Toleriert wird also nur die aus Überzeugungen abgeleitete konkrete Handlung, soweit sie auf die Mittel von Gewalt, Zwang und Repression verzichtet, nicht aber der die Überzeugung rechtfertigende absolute Wahrheitsanspruch. Für die Herausbildung stabiler reziproker Verhaltenserwartung ist drittens wichtig, dass der Kommunikationspartner als Person – ungeachtet seiner religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen – respektiert wird. Mit Häretikern spricht man 49 N. Luhmann, Grundrechte als Institution, Ein Beitrag zur politischen Soziologie 1965, S. 97 f. weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass auf diese Weise die Wahrheitsfrage durch die Gewährung von Kommunikationsfreiheiten neutralisiert werde. 50 M. Freund, Die Idee der Toleranz im England der großen Revolution, 1927, S. 84; Die Glaubens- und Gewissensfreiheit wurde zunächst als Recht zur Hausandacht eingeführt. Dem entspricht bei Thomasius ein sehr enges Verständnis der religio naturalis, die keiner äußeren Zeichen bedarf; vgl. dazu oben bei Fn. 38.
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nicht auf gleicher Augenhöhe, sondern man verfolgt sie und macht ihnen, wird man ihrer habhaft, den Prozess. Die Respektierung auch des Häretikers als Person bedeutet daher zu allererst, dass der eigene Glauben und das eigene Gewissen die Verfolgung und Vernichtung des Ungläubigen oder weltanschaulichen Gegners nicht zwingend verlangen. Die Unterscheidung zwischen dem Haben eines Glaubens, einer Weltanschauung und eines Gewissens und dem Handeln nach ihnen, ist daher auch in dieser Hinsicht bedeutsam. Toleranz aus Respekt setzt also nicht nur voraus, dass Glaubensgemeinschaften, die sich in der Minderheit befinden, nicht mehr zu Revolten neigen. Die religiöse „Leitkultur“ muss vielmehr selbst bereit sein, den Häretiker als Person und die häretische Minderheit als Gruppe von Personen zu respektieren. Viertens schließlich muss es eine Instanz geben, die – mit den notwendigen Machtmitteln ausgestattet – sicherstellt, dass nicht doch von Fall zu Fall oder in besonderen historischen Situationen Toleranz in Intoleranz umschlägt oder die gesellschaftlichen Strukturen sich so verändern, dass eine Gruppe der anderen ihre Wahrheitsgewissheit aufnötigen kann. Der Begriff der Toleranz impliziert daher die Notwendigkeit der Bestimmung der Grenzen der Toleranz; der Bereich des Nicht-Tolerierbaren muss definiert werden. Außerdem ist schon aus praktischen Gründen unbegrenzte Toleranz nicht möglich, denn sie würde zu der Paradoxie führen, dass Toleranz ganz verschwinden würde51. Oder mit den Worten von Popper52: „Wenn wir der Intoleranz den Rechtsanspruch zugestehen, toleriert zu werden, dann zerstören wir die Toleranz und den Rechtsstaat“. Auch die Toleranz aus Respekt ist daher auf eine verlässliche Instanz angewiesen, die die Grenzen des gerade noch Tolerierbaren verbindlich festlegt und die Überschreitungen der Grenze zur Intoleranz wirksam zu sanktionieren vermag. 4. Die politischen und geistesgeschichtlichen Grundlagen der über einen langen Zeitraum sich entwickelnden neuen, auf Respekt vor der Person gegründeten Toleranz-Konzeption, können hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden. Sie sind eng mit der Anerkennung und Gewährleistung von Menschen- und Bürgerrechten in den Verfassungen der Neuzeit verbunden. Einige wenige Hinweise müssen genügen, um zu zeigen, dass das neue Verständnis von Toleranz, also die respektvolle „Haltung“ der Bürger zueinander, sich mehr und mehr zu grundrechtlichen Rechtsbeziehungen zwischen dem Bürger und dem Staat und zu Rechtsbeziehungen zwischen den Bürgern verfestigt hat. Das Konzept des grundrechtsgewährenden demokratischen und gewaltenteilenden Rechtsstaats löste nach und nach das Denken in Kategorien der Toleranz ab. Ob diese Verrechtlichung den Begriff der Toleranz letztlich entbehrlich gemacht hat, ist erst später zu untersuchen. Der Gedanke einer dem Staat vorausliegenden natürlichen Freiheit der Menschen, die der Staat nicht nur nicht antasten darf, sondern auf der er zu allererst R. Forst I, (Fn. 8), S. 37. R. Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt, Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren, 8. Aufl. 1995, S. 216. 51 52
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beruht, hatte sich schon in der Niederländischen und der Englischen Revolution entwickelt53. Er setzte sich in den beiden großen Revolutionen des 18. Jahrhunderts, der Amerikanischen und der Französischen, in deren Menschenrechtserklärungen, nämlich der Virginia Bill of Rights vom 12. 06. 1776 und der Déclaration des droits de l’homme et du citoyen vom 26. 08. 1789 durch. Anstelle von Grundrechtsideen und -philosophien und an die Stelle von „natural rights“ oder „birthrights of the Englishmen“ haben die amerikanischen Verfassungen der Einzelstaaten die Grundrechte verfassungsmäßig verankert und positiviert, genauer: positiv konstitutionalisiert und gerichtlich einklagbar gemacht. Die verfassungsmäßigen Rechte jedermanns konnten der Staatsgewalt nun als positiv geltende Rechtssätze entgegen gehalten werden. Die französische Menschenrechtserklärung wollte dagegen keine konkrete Verfassung sein. Im Gegenteil, sie nimmt für sich sogar überverfassungsmäßigen Rang in Anspruch: „Eine Gesellschaft, in der die Verbürgung der Rechte (der Deklaration) nicht gesichert und die Gewaltenteilung nicht festgelegt ist, hat keine Verfassung bestimmt“, so heißt es im berühmten Art. 16 der Menschenrechtserklärung. Damit sind qualitative Maßstäbe gesetzt, an denen sich entscheidet, ob lediglich ein Organisationsstatut, eine rudimentäre Regelung grundlegender Strukturen und Rechte oder eben eine Verfassung vorliegt. Die Konzentration der Deklaration auf die Aufstellung zentraler Grundsätze, die der Verfassungsgeber erst noch konkretisieren sollte54, schwächte ihre normative Kraft. Der vorläufige Verzicht auf die positive Konstitutionalisierung der Menschen- und Bürgerrechte trug letztlich wesentlich zum wechselhaften Schicksal der realen und juristischen Bedeutung der Menschen- und Bürgerrechtserklärung und ihres Verhältnisses zu den verfassungsmäßigen Grundrechten in der französischen Verfassungsgeschichte bei. Die Rechtsqualität der Grundrechte als vor- bzw. überstaatliche Rechte einerseits oder als verfassungsrechtliche Verbürgungen andererseits blieb lange umstritten. Erst in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts hat das Prinzip der Positivierung von Rechten auch in Frankreich die philosophische Begründung von Rechten abgelöst. So unterschiedlich die historischen Entwicklungslinien im amerikanischen und französischen Rechtskreis und dann auch in Deutschland verliefen, sie mündeten schließlich alle in Verfassungen, die justitiable Grundrechte gewährleisten, gewaltenteilende und gewaltenzuordnende Strukturen aufweisen, rechtsstaatliche Vorkehrungen in Verfahren und Organisationsformen sowie für die Begründung von Entscheidungen vorsehen und von der demokratischen Legitimation von Herrschaft geprägt sind. In ihnen hat die, – wie Kant55 formulierte – „hochmüthige“ 53 Dazu vgl. etwa R. Forst I (Fn. 8) S. 442 ff.; G. Besier, in: O. Brunner / W. Conze / R. Kosseleck (Hrsg.) (Fn. 2), S. 499 f., 505. 54 Näheres bei K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III, 1, 1988, § 59, IV, S. 82 ff. und R. Forst I, (Fn. 8), S. 446 ff., 452 ff. 55 s. dazu etwa Ch. Enders (Fn. 4), S. 245 f.
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Toleranz, die nach Goethes56 Diktum eine „Beleidigung“ darstellt, keinen Platz. Freiheit wird nicht mehr in disziplinierender Absicht gewährt, sondern ist in einklagbaren Grundrechten gewährleistet. Obwohl der Prozess der Verrechtlichung der Beziehungen zwischen Staat und Bürger und der Bürger zueinander von dem neuen Verständnis von respektierender Toleranz zwischen den Bürgern maßgeblich angestoßen wurde, könnte die dann erfolgte Institutionalisierung justitiabler, alle staatliche Gewalt als unmittelbares Recht bindender Grundrechte, gleichzeitig die Erosion des Toleranzprinzips eingeleitet haben. Der Grundrechte gewährleistende Rechtsstaat wäre dann die Antwort auf das historisch überkommene Toleranzproblem. Denn wenn der vertikale Bereich der Beziehungen des Staates zum Bürger und der horizontale Bereich der Beziehungen der Bürger zueinander (verfassungs-)rechtlich geordnet sind, brauchen Konflikte nicht mehr notwendig „in“ Toleranz beigelegt zu werden. Das Recht gibt den Beteiligten dann Ansprüche, über die im Konfliktfall in rechtsstaatlichen Verfahren begründet zu entscheiden ist. Respektierende Toleranz, verstanden als ein Konzept zur Beilegung von Konflikten, verspricht dagegen „nur“ ein „Miteinander im Dissens“, allenfalls einen von beiden Seiten getragenen Kompromiss. Sie sieht Entscheidungen nach Maßgabe des Rechts, um dessen Inhalt gestritten und das vom Richter gesprochen wird, nicht vor. Kann man deshalb auf respektierende Toleranz im Rechtsstaat verzichten? Ist das Prinzip der Toleranz damit als Verfassungsprinzip obsolet geworden? Hat es gewissermaßen nur den Prozess einer Entwicklung hin zum Rechtsstaat angetrieben, worin sich dann aber auch seine Wirkkraft erschöpfte? Oder ist ,Toleranz‘ ein Verfassungsprinzip, das für die Auslegung und Konkretisierung der Grundrechte im demokratischen Rechtsstaat weiterhin unverzichtbar ist? Diesen Fragen soll nun nachgegangen werden, indem drei Positionen kurz dargestellt und kritisch beleuchtet werden, die dem Grundsatz der Toleranz einen eigenständigen verfassungsrechtlichen bzw. methodischen Stellenwert zuweisen. IV. Zum verfassungsrechtlichen Stellenwert des Toleranzprinzips 1. Das Verständnis der Toleranz als Bürgerzielbestimmung und Verfassungsdirektive weist dem Staat die Aufgabe zu, für eine sittlich fundierte Rechtskultur und Bürgerethik zu sorgen, die die staatsbürgerliche Pflicht zur Toleranz einschließt. In einer religiös-weltanschaulich inhomogenen Gesellschaft wie der der Bundesrepublik Deutschland komme der „Toleranz als unentbehrliche Grundhaltung für die vom Staat zu schaffende und zu schützende – auch religiöse – Frie56 Vgl. dazu G. Besier (Fn. 53), S. 505, dort auch zur Unterscheidung zwischen einem formalen und einem inhaltlichen Toleranzbegriff bei Goethe, der auf die positive Anerkennung fremder Religionen als echter und berechtigter Möglichkeit der Begegnung mit dem Heiligen abzielt.
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densordnung sowohl im Verhältnis der einzelnen Staatsbürger zueinander als auch für die friedliche Koexistenz der verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften große Bedeutung zu.“57 Das durch eine beeindruckende normative Dichte belegte Toleranzprinzip unter dem Grundgesetz sei konturenscharf und müsse rechtlich als „Bürgerzielbestimmung“ verstanden werden. Als „Verfassungsdirektive“58 sei es ein objektiver Verfassungsauftrag, der die Bürger dazu verpflichtete, ihre widerstreitenden Grundrechtspositionen in toleranter Haltung zum Ausgleich zu bringen. Da trotzdem anerkannt wird, dass weder diesseits noch jenseits der Verfassungswidrigkeit Raum für Toleranz im rechtlichen Sinn ist59, also Toleranz erst dort beginnt, wo das Recht endet60, ist das so verstandene Toleranzprinzip genau betrachtet allerdings nur ein Appell an die Bürger, ihre gesellschaftlichen Konflikte außerhalb des Rahmens des Rechts in „Toleranz“ beizulegen. Sie werden (objektiv-)rechtlich zu freundlichem und duldsamem Zusammenleben und entsprechendem Verhalten aufgefordert. Toleranz verpflichtet also zur „Mäßigung“ des exzessiven Grundrechtsgebrauchs61. Das Prinzip der Mäßigung legt eigentlich nahe, dass im Kopftuchfall die Muslima auf die Bedeckung ihres Kopfes mit dem Tuch verzichtet. Denn in den Augen der Mehrheitsgesellschaft verhält sich die Trägerin gewissermaßen „exzessiv“. Dieser Schluss wird indes nicht gezogen62, sondern statt dessen in geläufigen verfassungsrechtlichen Kategorien argumentiert: Nach dem Grundsatz praktischer Konkordanz müsse eine „beiderseitige Optimierung“ der gegenläufigen Rechtspositionen gefunden werden, deren Grenzziehung „nach beiden Seiten zugleich“ maßvoll zu geschehen habe. Dabei wird allerdings übersehen, dass die zu praktizierende Toleranz zwischen muslimischen und Schülern anderen Glaubens ein Problem der Ausübung miteinander kollidierender Grundrechte auf der Ebene rechtlicher Gleichordnung darstellt, während in den Rechtsbeziehungen des Dienstherrn zur angehenden (muslimischen) Lehrerin eine solche Kollisionslage gerade nicht besteht. Es macht also einen rechtlich erheblichen Unterschied, ob sich Schüler in einer symmetrischen Kommunikationsstruktur in Toleranz begegnen oder ob die Kommunikationsstruktur in doppelter Hinsicht, nämlich in den Rechtsbeziehungen zwischen Schulverwaltung und der Lehrerin einerseits und zwischen ihr und Kindern / Eltern andererseits, asymmetrisch ausgestaltet ist. Toleranz als ein die persönlichen Rechtsbeziehungen in ihrer Gesamtheit diffus erfassender Argumentationstopos ebnet diese Unterschiede ein und dringt daher nicht zu den grundrechtsrelevanten Rechtsfragen durch. 57 58 59 60 61 62
A. Debus (Fn. 25), S. 236 f. A. Debus (Fn. 25), S. 254. A. Debus (Fn. 25), S. 234. A. Debus (Fn. 25), S. 239. A. Debus (Fn. 25), S. 237 f. A. Debus, NVwZ 2001, 1355 ff.
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Toleranz als Bürgerzielbestimmung begegnet intolerantem Verhalten nicht mit Sanktionen. Die Mäßigung im alltäglichen Grundrechtsgebrauch, versteht man darunter nicht Beleidigungen und herabsetzende Werturteile, die ohnehin nicht in den Schutzbereich von Einzelgrundrechten fallen, kann rechtlich nicht erzwungen werden. Hierin liegt eine entscheidende Schwäche dieser Konzeption. Denn es wird nicht deutlich, welche rechtliche Relevanz dem Verständnis von Toleranz als „Verfassungsdirektive“ beizumessen ist. Verzichtet man ausdrücklich darauf, das Toleranzgebot als rechtlich durchsetzbare, sanktionierbare Grundpflicht zu fassen, so weist man ihm letztlich nur den Rang einer ethischen Grundpflicht zu63. Es ist dann keine Verfassungsdirektive, sondern ein allgemeines sittlich-ethisches Postulat. Das Konzept der Toleranz, das dem dargelegten Ansatz zu Grunde liegt, ist außerdem in sich nicht stimmig. Denn wenn es richtig ist, dass sich das Postulat einer homogenen religiös-weltanschaulichen Gesellschaft in einer zunehmend multikulturellen und multireligiös werdenden Gesellschaft nicht mehr aufrecht erhalten lässt, so kann die „Substanz“ der politischen Gemeinschaft auch nicht mehr in einer allseits konsentierten sittlich-ethischen Grundhaltung gefunden werden. Denn aus kulturell-religiöser Vielfalt lässt sich keine einheitliche Grundhaltung ableiten. Außerdem lässt sich ein größeres Maß an gesellschaftlicher Homogenität nicht allein mit einer verfassungsrechtlichen Aufwertung des Toleranzprinzips erreichen, wenn das sittlich-ethische Toleranzverständnis die religiös-kulturelle Vielfalt einer offenen Rechtsgesellschaft nicht abbildet. Der Einwand, ohne Anerkennung des Toleranzprinzips als Verfassungsdirektive könnten religiös-weltanschauliche Konflikte nicht friedlich beigelegt werden, überzeugt daher letztlich nicht. Man mag zwar begründet fordern, dass die Bürger sich untereinander in „einer sittlich fundierten Rechtskultur und Bürgerethik (begegnen sollen), die die staatsbürgerliche Pflicht zur Toleranz einschließt“64, erzwingen lässt sich das aber nicht. Oder anders gewendet: Nimmt der eine die Freiheit des anderen – wenn auch nur zähneknirschend – hin, so ist für die Gesellschaft bereits viel gewonnen. Denn wie die religiösen Konflikte und Konfessionskriege der Vergangenheit zeigen, ist es schon als eine Kulturleistung anzuerkennen, wenn der eine des anderen grundrechtlich geschützten Freiheitsgebrauch überhaupt hinnimmt, ohne auf ihn mit den Mitteln von Gewalt, Repression, Einschüchterung und Drohung zu reagieren. 2. Auch in anderer Sicht ist der „Rechtsstaat nicht die letzte und endgültige Antwort auf die Frage der Toleranz“65. Die Sphäre einer eigenständigen rechtlichen Funktion des Toleranzgebotes wird zwischen den ursprünglichen Polen der Bedeutung des Toleranzgebots für die Genese freiheitlich-rechtsstaatlicher Prinzipien und ihrer Erledigung durch den modernen Staat gesucht, in dem diese Prinzipien 63 64 65
A. Debus (Fn. 25), S. 252. A. Debus (Fn. 25), S. 253 f. Ch. Enders (Fn. 4), S. 246.
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unmittelbar rechtlich an ihr Ziel gekommen scheinen66. Im Ergebnis stellte sich dabei heraus, dass sich aus dem Toleranzgebot zwar keine Rechtsansprüche auf besondere Rücksichtnahme ableiten lassen67. Das Verständnis der Toleranz als staatsgerichtetes „Wohlwollensgebot“ wirke sich aber zugunsten jeder friedlichen, ob durch Worte oder Symbole geäußerten inneren Überzeugung68 aus. Das ungewohnt Fremde und Andersartige dürfe deshalb „nach dem Grundsatz des toleranzgebotenen Wohlwollens vom Staat nicht per se unter Generalverdacht gestellt werden.“69 Als „Wohlwollensgebot“ verstanden könnte das Toleranzprinzip in der Tat den Grundrechtsschutz der Minderheit verstärken. So wird z. B. für die Entscheidung des eingangs geschilderten Kopftuchfalls herausgearbeitet, dass abstrakte Gefahren für die Neutralität der Amtsführung oder den Schulfrieden, die mit dem äußeren Bekenntnis der Lehrperson zu ihrer inneren Haltung nur möglicherweise, in rein abstrakter Perspektive, verbunden sein könnten, nicht ausreichen, um die Eignung für das öffentliche Amt zu verneinen und damit den Grundrechtseingriff zu rechtfertigen. Es bedürfe vielmehr konkreter und sicherer Anhaltspunkte, namentlich in der Unterrichtsgestaltung, dass eine solche Gefahr bestehe70. Indes ist in der beamtenrechtlichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts schon seit geraumer Zeit anerkannt, dass die geforderte prognostische Persönlichkeitsbeurteilung eine konkrete und einzelfallbezogene Würdigung der gesamten Persönlichkeit des Bewerbers voraussetzt71. Auf das „ungewohnt Fremde und Andersartige“ lässt sich nach gefestigter Rechtsprechung eine verlässliche Prognose daher ebenso wenig stützen wie auf die abstrakte Gefahr einer künftigen Störung des Schulfriedens, so dass schon aus diesen Gründen das Wohlwollensgebot keinen zusätzlichen Ertrag verspricht. Damit ist indes die angenommene eigenständige rechtliche Funktion des Toleranzgebotes noch nicht abschließend umschrieben. Denn in anderen Konstellationen – wie etwa bei der verfassungsrechtlichen Einordnung der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen – kann das Toleranzgebot auch zu einer Relativierung des Grundrechtsschutzes führen. Es wird gewissermaßen gegen das Grundrecht auf Gewissensfreiheit in Stellung gebracht: Das Gewissensrecht auf Kriegsdienstverweigerung, so wird gesagt, lasse sich nicht als notwendiger Bestandteil einer freiheitlichen Rechtsordnung nach Rechtsprinzipien begründen. Es sei nur rechtliche Toleranzgewährung, nicht aber Gewährleistung einer mit dem Menschen geborenen (natürlichen) Freiheit72. Ch. Enders (Fn. 4), S. 246. Ch. Enders (Fn. 4), S. 253 ff. 68 Ch. Enders (Fn. 4), S. 263 ff. 69 Ch. Enders (Fn. 4), S. 264. 70 Vgl. auch A. Debus, NVwZ 2001, 1356 f. zum Aspekt der vorbeugenden Gefahrenabwehr. 71 BVerfGE 39, 334, 353; 92, 140, 155. 66 67
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Die rechtliche Einordnung der Verweigerung des Kriegsdienstes mit der Waffe aus Gewissensgründen als „Toleranzgewährung“ geht von mehreren Prämissen aus: Zum einen wird zwischen „bloßen“ und „notwendigen“ Bestandteilen der Rechtsordnung des Grundgesetzes unterschieden. Dies erinnert an die Konzeption der französischen Menschenrechtserklärung, in der die Menschen- und Bürgerrechte noch nicht konstitutionell eingebunden waren und nur den Prüfungsmaßstab dafür abgaben, ob eine konkrete Verfassung sich zu Recht als Verfassung bezeichnen durfte. In dieser Tradition steht das Grundgesetz aber nicht. Es unterscheidet nicht zwischen philosophiegeschichtlich ableitbaren „überpositiven“ und deshalb „notwendigen“ Rechtsprinzipien und „an sich“ entbehrlichen Bestandteilen der Rechtsordnung, sondern zwischen normativen Grundsätzen, die in Art. 79 Abs. 3 GG benannt bzw. in den Art. 1 und 20 GG niedergelegt und deshalb einer Verfassungsänderung nicht zugänglich sind und anderen nicht änderungsfesten Normen. Die zweite Prämisse lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass nur der starke Staat sich Toleranz leisten könne. Das so verstandene Toleranzgebot beruht also nicht auf dem Konzept der Toleranz aus Respekt, denn nach diesem Verständnis müsste die Entscheidung, aus Gewissensgründen einen anderen Menschen nicht töten zu dürfen, „respektvoll“ toleriert werden. Sie stellt vielmehr auf Nützlichkeitserwägungen ab – z. B. darauf, dass ein Zwang zum Kriegsdienst keine schlagkräftige Armee schafft – und reflektiert in der Nachfolge Hegels, ob der Staat stark genug sei, um ausnahmsweise Freiheit gewähren zu können73. Es ist das alte Konzept der nur vorübergehend erlaubten und gewährten Freiheit, das hier aufscheint. Der „wohlwollende“ Staat trägt mithin einen Januskopf. Dem Bürger freundlich in Toleranz zugewandt setzt er dem staatlichen Eingriff in die aktiv ausgeübte Glaubensfreiheit gewisse Grenzen. In Kriegszeiten zeigt er dagegen sein anderes Gesicht und entzieht dem Bürger sein Wohlwollen. Da das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen verstanden wird als ein aus Gründen der Toleranz gewährtes Privileg, kann es prinzipiell auch wieder entzogen werden. Die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen ist in Art. 4 Abs. 3 S. 1 GG als Grundrecht anerkannt; sie lässt sich deshalb nicht als „Toleranzgewährung“ verstehen. Das gilt auch für das Verwaltungsverfahren zur Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer. Es gewährt keinen „toleranzgebotenen Dispens“ und greift selbst in die Gewissensfreiheit nicht ein, da vom Verweigerer nicht die Offenbarung seines Gewissens, sondern nur die Begründung seiner Gewissensentscheidung verlangt wird. Die „Darlegungslast“ des Wehrpflichtigen soll lediglich das Vorliegen einer Gewissensentscheidung glaubhaft machen. Sie ist deshalb nicht Folge einer Gewährung eines Rechts aus Toleranz. 72 73
Ch. Enders (Fn. 4), S. 258. Vgl. Ch. Enders (Fn. 4), S. 258.
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Es lässt sich also festhalten, dass die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen durchaus „rechtsgrundsätzliche“ Qualität hat. Sie ist grundrechtlich gefordert und lex specialis gegenüber der Gewissensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG. Sie regelt die Wirkungen der Gewissensfreiheit im Bereich der Wehrpflicht abschließend. Sie war im Übrigen als Grundrecht schon zu einer Zeit im Verfassungstext enthalten, als an eine „Wiederbewaffnung der Bundesrepublik“ noch nicht entfernt zu denken war. Dies führte – nebenbei bemerkt – zu dem skurrilen Versuch, die verfassungsrechtliche Billigung der Aufstellung von Streitkräften aus dem schon von Anfang an im Grundgesetz enthaltenen Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung abzuleiten74. In dieser Logik ließe sich zugespitzt für den Staat der Bundesrepublik argumentieren, dass das Grundrecht der Gewissensfreiheit erst den „starken Staat“ hervorgebracht und nicht etwa dieser aus Toleranz das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung gewährt hat. Insgesamt gesehen ist der Ertrag der dogmatischen Figur des staatsgerichteten Wohlwollensgebotes und des verfassungsrechtlichen Toleranzgebotes als gering zu veranschlagen. Damit bleibt die Frage, ob sich eine Sphäre einer eigenständigen rechtlichen Funktion des Toleranzgebotes angeben lässt, weiterhin offen. 3. Während das Konzept des Verständnisses der Toleranz als „staatsgerichtetes Wohlwollensgebot“ eher punktuell und tastend die Funktion des Toleranzgebotes zu bestimmen sucht, leitet eine dritte Auffassung aus dem Toleranzprinzip ein prinzipielles Recht des Bürgers auf Rechtfertigung ab. Die normative Komponente des Toleranzprinzips bestehe darin, das „basale Recht auf Rechtfertigung“ in Konfliktfällen zur Geltung zu bringen. Dieses wird verstanden als „Pflicht zur reziprok-allgemeinen Rechtfertigung“75. Sie sei ihrem Wesen nach eine ethische Pflicht, führe aber auch zu juristisch verwertbaren Argumenten. Ausgangspunkt dieser Rechtfertigungstheorie ist eine Analyse des Begriffs der Toleranz. Er enthält drei Komponenten: Die erste ist die sogenannte „AblehnungsKomponente“. Sie besagt, dass die tolerierten Überzeugungen oder Praktiken als falsch angesehen oder als schlecht verurteilt werden. Damit wird der Begriff der Toleranz von dem der Indifferenz und dem der Bejahung abgegrenzt. Zur Toleranz gehört zweitens eine positive „Akzeptanz-Komponente“. Sie nennt die Gründe dafür, warum es sinnvoll ist, die falschen oder schlechten Überzeugungen bzw. Praktiken zu tolerieren. Dies eröffnet eine neue Argumentationsebene. Zwar stehen sich die jeweiligen Ablehnungsgründe weiterhin unversöhnlich gegenüber. Auf der Metaebene können nun aber Argumente ausgetauscht werden, die ein ,Miteinander im Dissens‘ ermöglichen. Drittens schließlich gehört eine „Zurückweisungs-Komponente“ zum Toleranzbegriff. Sie benennt die Gründe für die Bestimmung der Grenzen der Toleranz. Es 74 Dazu R. Herzog, in Maunz / Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, 29. Lfg., Art. 4 Rn. 176. 75 R. Forst II ( Fn. 8), S. 220.
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handelt sich dabei um eine negative Bewertung, die ein Ende von Toleranz und ggf. ein Eingreifen fordert76. Will man, um zu einem Diskurs auf der Metaebene zu gelangen, gemeinsame Gründe dafür finden, warum man die falschen oder schlechten Überzeugungen und Praktiken Anderer tolerieren soll, so lassen sich argumentativ zwei Modelle einer Respekt-Konzeption unterscheiden, nämlich das Modell formaler Gleichheit und das Modell qualitativer Gleichheit77. Während das erste von einer strikten Trennung zwischen dem privaten und dem öffentlichen Raum ausgeht und die ethischen Differenzen zwischen Bürgern auf den privaten Bereich beschränken will, damit sie nicht zu Konflikten in der öffentlich-politischen Sphäre führen, reagiert das Modell qualitativer Gleichheit darauf, dass bestimmte strikte Regelungen formaler Gleichheit dazu führen können, ethisch-kulturelle Lebensformen zu bevorzugen, deren Überzeugungen und Praktiken leichter mit der Trennung von „privat“ und „öffentlich“ vereinbar sind oder dem bisherigen Verständnis dieser Trennung besser entsprechen. Wechselseitige Toleranz impliziert in diesem Verständnis, den Anspruch anderer auf vollwertige Mitgliedschaft in der politischen Gemeinschaft anzuerkennen, ohne zu verlangen, dass sie dazu ihre ethisch-kulturelle Identität in einem reziprok nicht forderbaren Maße aufgeben müssen78. Ob Kopftücher als religiöse Symbole in einer Schule erlaubt sind, entscheide sich genau hier: Die Auffassung, die Wahrnehmung religiöser Pflichten sei als bloß individuelle Präferenz anzusehen, die in das „Private“ gehöre und deshalb im öffentlichen Raum keine Grundlage für besonderen Respekt sei, gründe im Modell formaler Gleichheit. Im Unterschied dazu stelle das Modell der qualitativen Gleichheit darauf ab, dass jede religiös gebundene Person oder Weltanschauungsgruppe das Recht habe, sich auch im öffentlichen Raum zu ihrer religiös-weltanschaulichen Identität zu bekennen. Dies führt zu der Schlussfolgerung: „Es kann nicht Aufgabe von Gerichten und Schulämtern sein zu entscheiden, was eine authentische religiöse Pflicht ist und was nicht“79. Um nun die rechte Toleranzbegründung und die Wahl zwischen dem formalen und dem qualitativen Gleichheitsmodell vornehmen zu können, ist es notwendig zu klären, welche Gründe ausreichend sind, um bestimmte Freiheiten bzw. Freiheitsbeschränkungen im politischen Kontext zu rechtfertigen. Sie werden in den Kriterien der Reziprozität und der Allgemeinheit gefunden. Freiheitsgewährende und -beschränkende Normen würden den Anspruch erheben, wechselseitig forderbar und allgemein legitimiert zu sein; ein Anspruch, der die Kriterien von ReziproR. Forst II (Fn. 8), S. 213 und grundlegend R. Forst I (Fn. 8), S. 30 ff. R. Forst I (Fn. 8), S. 46 ff. 78 R. Forst I (Fn. 8), S. 46 f.; 697 f. 79 R. Forst I (Fn. 8), S. 723, ebd. auch zum disziplinierenden Moment einer solchen Entscheidung. 76 77
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zität und Allgemeinheit impliziert. Das bedeute, dass niemand seinem Gegenüber bestimmte Forderungen ausschlagen darf, die er selbst erhebt (Reziprozität der Inhalte) und dass niemand anderen die eigenen Wertvorstellungen und Interessen einfach unterstellen darf, auch nicht im Rückgriff auf transzendente Wahrheiten, die ja beiderseitig nicht geteilt werden (Reziprozität der Gründe). Unter Allgemeinheit wird schließlich verstanden, dass Gründe für allgemein legitimierbare Toleranz- und Freiheitsregelungen unter allen Betroffenen grundsätzlich teilbar sein müssen. Zusammenfassend wird Toleranz als eine „diskursive Tugend der Gerechtigkeit“ beschrieben, die auf einem Prinzip der Rechtfertigung gerecht(fertigt)er Normen aufruht. Die Gerechtigkeit ist damit die Ressource, die dem normabhängigen Begriff der Toleranz „Substanz“ verleiht80. Die Prinzipien oder Werte, die sich zusammengefasst als Gerechtigkeit bezeichnen lassen, bilden daher die Grundlage der Pflicht zur reziprok-allgemeinen Rechtfertigung. Juristisch-methodisch betrachtet ist die Gerechtigkeit indes nur eine „Leerstelle“. Sie taugt nicht als Lückenbüßer für die juristische Methodik oder als Grundlage für die Deduktion von Entscheidungen. Die konkrete Arbeit der Rechtsanwender in Exekutive, Legislative und Judikative kann daher nicht als reine Erkenntnis eines objektiv vorgegebenen Gegenstands des Rechts bestimmt werden. Außerdem bringt der Rekurs auf „Gerechtigkeit“ nur eine sich ständig verlängernde Kette von Ersetzungen hervor81. Die Endlosigkeit der jeweiligen Ersetzungskette wird dann an einem bestimmten Punkt – hier bei den Begriffen der Reziprozität und Allgemeinheit – abgebrochen. Im Ergebnis führt die Theorie des Gerechtigkeitsdiskurses also dazu, dass die Arbeit der Rechtsanwendung als reine Erkenntnis des objektiv vorgegebenen Gegenstands des Rechts bestimmt wird, obwohl sie von konkreten Normtexten ausgehen müsste, deren „Sinn“ zur Begründung einer Entscheidung erst noch ermittelt werden muss. Rechtsanwendung ist außerdem von konkreten verfassungsrechtlichen Strukturen, Verfahren und verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen und Prinzipien geprägt, von denen nicht abstrahiert werden darf. Obwohl die verfassungstheoretische Grundlage der aus der Respekt-Konzeption entwickelten Theorie der Rechtfertigung von Entscheidungen nicht hinreichend ausgearbeitet ist, kann das Kriterium der reziprok-allgemeinen Rechtfertigung für die Beurteilung von bestimmten Fallkonstellationen doch durchaus hilfreich sein. Mit ihm lässt sich z. B. im Kruzifix-Fall die religiöse Neutralität zentraler gesellschaftlicher Institutionen gut begründen. Neutralität bedeutet dann z. B., dass religiöse und staatliche Symbolik nicht miteinander vermischt werden dürfen82. R. Forst II (Fn. 8), S. 220. Vgl. etwa Fr. Müller / R. Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Grundlagen Öffentliches Recht, 9. Aufl., 2004, S. 153 zur Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte der letzten Jahre, die das Gerechtigkeitsthema wieder zum Modethema hat werden lassen. 82 R. Forst II (Fn. 8), S. 216 f. 80 81
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Auch im Fall des Kopftuchstreits ist der Hinweis sicherlich richtig, dass aus der Perspektive der Mehrheit „fremde“ Lebensformen nicht unter Generalverdacht gestellt werden dürfen und sehr präzise im Einzelfall geprüft werden muss, ob lediglich eine auffällige Lebensform vorliegt oder damit die Ungleichbehandlung von Frauen in der Familie und anderen sozialen Gemeinschaften unterstützt und gefördert werden soll. Freilich leisten die Grundsätze der Rechtsanwendungsgleichheit, die konkreten Diskriminierungs- und Privilegierungsverbote, der Grundsatz des Übermaßverbotes, die Dogmatik zu Prognoseentscheidungen und zur Grundrechtsausübung in Sonderrechtsverhältnissen solche Entscheidungsbegründungen nicht nur auch, sondern viel differenzierter, als dies eine allgemeine Rechtfertigungstheorie vermag. 4. Die kritische Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Verständnissen von Toleranz als Bürgerzielbestimmung und Verfassungsdirektive einerseits, als „staatsgerichtetes“ Wohlwollensgebot andererseits und schließlich als breit fundierte Rechtfertigungstheorie hat ergeben, dass das Toleranzgebot als allgemein gültiges Verfassungsprinzip ausgedient hat. Dies liegt in erster Linie an der normativen Abhängigkeit des Toleranzbegriffs, der selbst keine inhaltlichen Maßstäbe dafür angibt, wer von wem Toleranz einfordern darf. Außerdem hat die differenzierte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den relevanten Einzelgrundrechten der Religions-, Glaubens-, Bekenntnis-, Gewissens- und Meinungsfreiheit den Rekurs auf ein allgemein formuliertes Prinzip der Toleranz entbehrlich gemacht. All dies bedeutet freilich nicht, dass auf „Toleranz“ als Haltung der Bürger bei der Austragung von Konflikten gänzlich verzichtet werden könnte. Denn nicht zufällig fordern die Verfassungen der Länder in unterschiedlichen Formulierungen eine Erziehung der Kinder und Jugendlichen zu ,Toleranz‘. Auf diesen spezifisch verfassungsrechtlichen Begriff der Toleranz, der den Erziehungsauftrag des Staates näher konkretisiert, konnte im Rahmen des hier erörterten Themas, ob Toleranz ein allgemein gültiges Verfassungsprinzip ist, das über den Bereich der Erziehung in der Schule hinausweisend einen verfassungsrechtsdogmatischen und -methodischen Ertrag verspricht, nicht näher eingegangen werden. Allerdings liegt es auf der Hand, dass „Toleranz aus Richterhand“ im Bereich von Erziehung und Schule hier wohl nicht weiterhilft, sondern psychologische und pädagogische Konzepte gefragt sind, damit Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund, die in besonderen religiös-kulturellen Traditionen aufgewachsen sind, sich in der sogenannten Mehrheitsgesellschaft nicht ausgeschlossen fühlen bzw. von ihr nicht ausgeschlossen werden. Außerdem wäre zu fragen, unter welchen Voraussetzungen Kinder und Jugendliche eine respektierende Haltung von Toleranz zu entwickeln vermögen und ob dazu nicht auch gehört, dass Eltern und Lehrer in „reflektierter Intoleranz“83 auf non-konformes Verhalten und Regelverstöße in bestimmten Pha83 Vgl. dazu etwa H. Röhr, Reflektierte Intoleranz, in: Zeitschrift für Pädagogik 2, Heft 5 / 2006, S. 699 ff.
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sen der Persönlichkeitsentwicklung reagieren. Ein verfassungsrechtlicher Begriff der Toleranz für den Bereich der Erziehung und das Schulwesen wäre daher im Kontext von pädagogischen und (entwicklungs-)psychologischen Konzepten zu diskutieren und zu entwickeln. ,Toleranz‘ als (Verfassungs-)Rechtsbegriff des Schul- und Erziehungsrechts wäre dann als verbindliche Vorgabe zu verstehen, die in den Schul-, Erziehungs- und Unterrichtskonzepten der Länder sowie in Lehrplänen einerseits und in der schulischen Praxis von Lehrern, Eltern und Kindern umgesetzt werden muss. Ein solches Toleranzgebot will besondere charakterliche Eigenschaften und Haltungen von Kindern und Jugendlichen herausbilden und unterscheidet sich dadurch grundlegend von dem hier erörterten allgemeinen Verständnis der Toleranz als Rechts- und Verfassungsprinzip.
Wirtschaftliche Zweckverbände und Stadtrechtsentstehung in Obersachsen und der Mark Meißen im 13. Jahrhundert* Von Adrian Schmidt-Recla
I. Einleitung Das 13. Jahrhundert ist – bezogen auf den heute mittel- und ostdeutschen Raum – das Jahrhundert zahlreicher Stadtgründungen und damit der Stadtrechtsentwicklung. Die ostwärts im Gefolge der ottonischen Erwerbungen ausgreifende Entwicklung beginnt mit Magdeburg spätestens im Jahre 1188 und setzt sich fort bis nach Breslau und darüber hinaus. Die flächendeckende Verbreitung der kommunalen Autonomie im 13. Jahrhundert ist ein entscheidendes Charakteristikum der spätmittelalterlichen Rechtsentwicklung in Mittel- und Ostmitteleuropa. Sie verlief in den meisten Kommunen in etwa gleich. Im Folgenden werden einige wesentliche, grobe Charakteristika genannt. Ihren Ausgang nimmt die Entwicklung in der grundherrlichen Privilegierung von Siedelunternehmern, sogenannten Lokatoren. Mit der grundherrlichen Zusage, die Siedler könnten selbst entscheiden, welche Regeln sie ihrem Zusammenleben zugrunde legten, gelang es diesen vor allem im 12. und 13. Jahrhundert tätigen Lokatoren, in Territorien östlich von Saale und Elbe, die schon seit dem 9. Jahrhundert Ziel militärischer Eroberungen gegen slawische Völker gewesen waren, neben den Slawen Siedler aus allen Teilen des staufischen Reiches anzusiedeln. Die grundherrliche Privilegierung beschränkte sich dabei meist darauf, den Siedlern die Selbstregulierung ihres lokalen und regionalen Marktes zu überlassen. Der Lokator erhielt oft das vererbliche Recht, als grundherrlicher Richter den Siedelge* Dieser Beitrag zur Festschrift der Juristenfakultät der Universität Leipzig zu Ehren des 600. Gründungstages der alma mater Lipsiensis fußt zu Teilen auf Erkenntnissen, die in rechtsgeschichtlichen Seminaren gewonnen wurden, die der Mentor des Verf., Bernd-Rüdiger Kern, an der Juristenfakultät der Universität Leipzig abgehalten hat. Ich danke insbesondere Frau Antje Witthauer und Herrn Daniel Bögeholz, die mir mit ihren Arbeiten im Seminar „Stadt-, Berg- und Stiftungsrecht in Freiberg / Sa.“ wesentliche Einsichten in die Stadtrechtsgeschichte von Freiberg / Sa. gegeben haben. Der Aufsatz basiert auf einem Manuskript für einen Vortrag, den ich am 8. 7. 2008 für die Gruppe „Individuum – Korporation – Gemeinwohl“ an der Universität Konstanz im Rahmen des Exzellenzclusters 16 („Kulturelle Grundlagen von Integration“) gehalten habe.
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nossen, aus denen sich die Schöffen im grundherrlichen Gericht rekrutierten, vorzustehen. Das geltende, bei den Gründungen im 12. und 13. Jahrhundert oft ungeschriebene Recht war zweigeteilt: in autonomes Marktrecht und grundherrliches Landrecht. Das Marktrecht, in dem es in der Regel um rechte Maße und Gewichte und um Bestimmungen zum Handel mit Auswärtigen ging, ist die Quelle des autonomen Stadtrechts. An seiner Übung und seiner Verschriftlichung bildete sich die kommunale Selbstverwaltung, der kommunale Rat. Die das Marktrecht übenden Räte mussten zwangsläufig in Konkurrenz zum grundherrlichen Landrecht und seinem Hüter, dem Schöffenkollegium geraten. War der Rat wirtschaftlich potent, gelang es ihm regelmäßig im Verlauf des 14. und 15. Jahrhunderts, durch Pacht und Kauf dem Grundherrn immer mehr Stücke aus dem Landrecht zu schneiden und seiner Selbstverwaltungskompetenz einzuverleiben. So war in vielen Kommunen bis zum Ende des 15. Jahrhunderts die Niedergerichtsbarkeit – also die streitige und nichtstreitige Zivilgerichtsbarkeit – und Teile der minder schweres, unrechtes Handeln betreffenden Strafgerichtsbarkeit (wenn davon gesprochen werden darf) in den Händen des Rates konzentriert, der Grundherr überließ vereinzelt (in herrschaftsfernen Territorien wie etwa der Oberlausitz und in regionalen Zentren) auch die schweres unrechtes Handeln betreffende Hochgerichtsbarkeit der Kommune. Diese Blüte städtischer Autonomie endete mit dem Niedergang der Reichsgewalt, die den Kommunen genau diesen rechtlichen Entfaltungsraum bot und mit dem Erstarken der Territorialgewalten während des 16. Jahrhunderts. Natürlich sind die Einzelheiten zur stadtverfassungsrechtlichen Entwicklung in den einzelnen Kommunen verschiedentlich historisch erforscht. Das betrifft auch die hier gewählten Beispiele. Weniger untersucht ist die Frage, wie die von Ort zu Ort verschiedenen und lokalen Gegebenheiten folgenden wirtschaftlichen Träger dieser Entwicklung auf die Entwicklung eigener Stadtrechte und Stadtrechtskreise eingewirkt haben und zu welchen charakteristischen rechtlichen Folgen das führte. Untersuchungen von Heiner Lück und Werner Freitag sollen als exemplarischer Einstieg für die mitteldeutsche Stadt Halle / Saale dienen. Im Anschluss werden Parallelitäten und Differenzen für die meißnische Stadt Freiberg / Sachsen aufgezeigt, für deren Stadtrechtsentwicklung und Gerichtsverfassungssituation auch heute noch Abhandlungen aus dem ausgehenden 19. und dem beginnenden 20. Jahrhundert1 maßgeblich sind. Die Ergebnisse bieten sich etwa an für den ferneren Vergleich etwa mit anderen im Mittelalter relevanten Bergstädten.2 1 Hubert Ermisch, in: Urkundenbuch der Stadt Freiberg I, II, in: Codex Diplomaticus Saxoniae Regiae (CDSR), 2. Hauptteil, Bde. 12 und 13, Leipzig 1883 und 1886; ders., Das sächsische Bergrecht des Mittelalters, Leipzig 1887 und ders., Das Freiberger Stadtrecht, Leipzig 1889; Manfred Unger, Stadtgemeinde und Bergwesen Freibergs im Mittelalter, Diss. Leipzig 1957. 2 Etwa Goslar, Iglau (heute Jihlava) und Kuttenberg (heute Kutna Hora). Zu letzterem vgl. Guido Pfeifer, Ius regale montanorum: Ein Beitrag zur spätmittelalterlichen Rezeptionsgeschichte des römischen Rechts in Mitteleuropa, Ebelsbach 2000.
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II. Wirtschaftliche Zweckverbände in Halle / Saale und Freiberg / Sachsen Halle / Saale war das gesamte Mittelalter hindurch eine „Salzstadt“3. Salzhaltige Sole die aus im Mittelalter insgesamt vier Solequellen (den Brunnen / Bornen) gewonnen und seit dem 12. Jahrhundert in im Tal der Saale gelegenen Siedehäusern, den sogenannten „Pfannen“ von den „Pfännern“ gradiert und zu Salz versiedet wurde, war ein wichtiger ökonomischer Faktor der mittelalterlichen Stadt. Halle deckte große Teile des mittel- und ostdeutschen Salzbedarfs während des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Träger der Salzproduktion und damit Garant für die Prosperität der Kommune war die Gemeinschaft der siedeberechtigten Bürger von Halle, der sogenannten Pfänner. Freiberg / Sachsen dagegen war eine Bergbaustadt, die, am Nordrand des Erzgebirges gelegen, Silberbergleuten aus ganz Europa wirtschaftliche Betätigungsmöglichkeiten erschloss. Freiberg war während des Spätmittelalters und der beginnenden frühen Neuzeit die bevölkerungsreichste und wirtschaftlich potenteste Stadt in ganz Obersachsen – Leipzig und Dresden hielten während des 13. und 14. Jahrhunderts wirtschaftlich nicht Schritt mit der Silbermetropole. Produzenten des verhütteten, gebrannten, zu Barren geschlagenen und zu Münzen geprägten Silbers und damit Garant für die Prosperität der Kommune waren die abbauberechtigten Grundeigner und die Finder, Schürfer und Hauer des Erzes, die Stolleneigner und Bergleute, die sich als „Gewerken“ zu genossenschaftlich organisierten Gemeinschaften zusammenschlossen. Beide – die hallischen Pfänner und die freibergischen Gewerken – nahmen bei der Gründung der beiden Städte und bei der Entwicklung des Rechts derselben eine prominente Stellung ein. 1. Halle / Saale a) Eine schriftliche Erwähnung eines karolingischen Kastells „ad locam qui vocatur Halla“4 aus dem Jahre 806 gibt die Geburtsstunde Halles (und Magdeburgs) her. Karls d. Großen Sohn Karl soll diese Befestigung, das sogenannte 3 Der Begriff der Salzstadt wird in der wirtschafts- und rechtshistorischen Literatur seit einem Aufsatz von Karl Theodor v. Inama-Sternegg, Zur Verfassungsgeschichte der deutschen Salinen im Mittelalter, in: Sitzungsberichte der Philosophisch-Historischen Classe der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften 111, Wien 1886, S. 569 – 602, als feststehender Terminus für einen bestimmten in Europa beobachtbaren Typ Stadt benutzt. 4 Urkundenbuch der Stadt Halle, ihrer Stifter und Klöster, Teil 1 (806 – 1300), bearb. v. Arthur Bierbach, Magdeburg 1930, Nr. 1: Et inde post non multos dies Aquasgrani veniens, Karlum filium suum in terram Sclavorum, qui dicuntur Sorabi, qui sedent super Albim fluvium, cum exercitu misit, in qua expeditione Miliduoch Sclavorum dux interfectus est, duoque castella ab exercitu aedificata, unum super ripam fluminis Salae, alterum iuxta fluvium Albim. Sclavisque pacatis, Karlus cum exercitu regressus [ . . . ] ad imperatorem venit.
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„Frankenkastell“, dessen Reste bis heute nicht gefunden sind, zur Grenzsicherung gegen die – aus fränkischer Sichtweise – jenseits der Saale siedelnden slawischen Völker angelegt haben.5 aa) Im Jahre 961 wurde die urbs Halle als Pertinenz der Burg Giebichenstein neben anderen Plätzen von König Otto I. an das Magdeburger Moritzkloster übertragen, um die Gründung des Magdeburger Erzbistums voranzutreiben.6 Die betreffende Urkunde verschweigt nicht, was das Besondere an diesem Halle, das sich innerhalb von drei Generationen vom locus zur urbs entwickelt hatte, war: Halle wurde cum salsugine eius, also mit seiner Salzquelle an das Kloster übertragen. Der König verfügte über seinen Ort und dessen wirtschaftliche Haupterwerbsquelle, die fortan in der Hand des Magdeburger Moritzklosters war. Seit dem Reichstag in Roncaglia 1158 ist schriftlich bekannt, dass die Ausbeute der Solequellen als königliches Salzregal beansprucht wurde, im Jahre 961 befand es sich am Saaleufer jedenfalls in Otto I. Hand. bb) Die Salzproduktion lässt sich als bestimmender Wirtschaftsfaktor schon für die Anfänge der Stadt nachweisen. Aber: eine allein oder primär an diesem Erwerbszweig ausgerichtete Siedlung ist die Stadt Halle nie gewesen. Die stadtgeschichtliche Forschung geht davon aus, dass die sich im Verlauf des 12. und 13. Jahrhunderts konstituierende Stadtsiedlung als eine um 1200 nach innen und außen abgeschlossene Kaufleutesiedlung um einen bestehenden Markt anzusehen sei.7 Stadtherr und Inhaber des Salzregals der 1177 erstmals als civitas bezeichneten8 Stadt Halle war seit der Umwandlung des Magdeburger Moritzklosters im Zuge der Erzbistumsgründung im Jahre 986 der Magdeburger Erzbischof, bis das Erzbistum 1680 an Kurbrandenburg fiel und Halle preußisch wurde. Betrachten wir einige Grundfakten der Stadtrechtsentwicklung. b) Ein originäres Stadtrecht von Halle existiert nicht, Halle wurde mit Magdeburger Stadtrecht bewidmet. Die Übereinstimmung beider ist so eng, dass eine wohl 1235 ergangene Rechtsbelehrung von Halle in die schlesische Stadt Neumarkt9 heute als Quelle des Magdeburger Stadtrechts gilt. Der Schöffenstuhl in 5 Vgl. Werner Freitag, Halle 806 bis 1806. Salz, Residenz und Universität, Halle / S. 2006, S. 16 ff. 6 Urkundenbuch der Stadt Halle I, Nr. 4: Nos [ . . . ] omnem regionem repagumque vocatum Neletice omnemque utilitatem in eo manentem, urbem videlicet Giuiconsten cum salsugine eius ceterasque urbes cum omn[ibus ad ea]s pertinentibus, aquis salsis et insulsis, terris cultis et incultis, manicipiis Teutonicis et Sclavanicis [ . . . ] ad ecclesiam Magdeburg [ . . . ] transfundimus et donamus [ . . . ]. Vgl. Freitag, in: Werner Freitag, Heiner Lück, Halle und das Salz. Eine Salzstadt in Mittelalter und Früher Neuzeit, Halle 2002, S. 15 – 36, 17. 7 Freitag, Halle 806 – 1806, S. 29 ff. 8 Urkundenbuch der Stadt Halle I, Nr. 77; Erich Sandow, Das Halle-Neumarkter Recht, Stuttgart 1932, S. 124. Im Jahre 1231 erschien Halle wieder als civitas, vgl. Urkundenbuch der Stadt Halle I, Nr. 209. 9 Vgl. dazu Bernd Kannowski, Stephan Dusil, Der Hallensische Schöffenbrief für Neumarkt von 1235 und der Sachsenspiegel, in: ZRG Germ. Abt. 120 (2003), S. 61 ff.
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Magdeburg war der Oberhof für die Stadtkommune Halle – dies wurde oft ausdrücklich hervorgehoben.10 Das Magdeburger Stadtrecht, dessen erste schriftliche Spuren bis 1188 zurückreichen, bildete sich während des 13. Jahrhunderts zu einem Normenkomplex heraus, der sich autonom neben dem Sachsenspiegelrecht entwickelte. Beide sind einander zwar in Teilbereichen ähnlich, aber nicht identisch. Das gilt nicht nur für den Inhalt, sondern auch hinsichtlich der unterschiedlichen Charakterisierung beider Normkomplexe als Rechtsquellen. Anders als der Sachsenspiegel war das Magdeburger Stadtrecht von Beginn an bürgerschaftlich gesetztes, vom Grundherrn sanktioniertes Recht. aa) Ein Stadtrecht ist immer an ein Selbstverwaltungsorgan der Kommune gebunden. Erst dessen Etablierung unterschied die Stadt von der Landgemeinde, die in das allgemeine Gerichtsverfassungsrecht des Territoriums eingebunden blieb: Mit dem Rat löste sich die Kommune aus dem Landrecht. Dieser Zusammenschluss erfolgte zunächst meist anlassbezogen11 – in Halle etwa schlossen sich 1172 cives Hallenses zusammen, um eine Brücke zu errichten.12 Im Jahre 1200 erklären die burgenses de Hallo ihren consensus zu einer Verfügung des Stadtherrn zugunsten des Deutschen Ordens.13 Der Rat der Stadt Halle, der als sichtbares Zeichen der Autonomie als Bürgerausschuss schließlich seit 1225 nachweisbar ist14, und im Jahre 1258 als consules civitatis Hallensis urkundlich erscheint,15 bestand 1258 aus elf Personen – im Jahre 1300 waren es zwölf.16 Das blieb so bis 1428 – typisch für eine Stadt Magdeburger Rechts.17 10 Do Magdeburg allirerst besaczt wart mit kuniges Otten des grossen rate und mit des landes willeköre und bestetiget an seinem rechte, als es noch weichbilde rechte hat nach der alden gewonheit und Halle doraus gestiftet wart: dorumb ist es alles mit einem rechte begriffen. Hirumb sullen alle die von Polen und von Behemen und us der marke zu Meissen und us der marke zu Lusicz alle ir recht zu Halle holen, und von den steten die do binnen besessin sein. Ab sie des orteiles aber nicht enkunnen ader ab in broch wirt an einem orteile, das müssen sie zu Magdeburg holen, darumb daz es alle weichbilde beschirmet; Tit. 10 des Rechtsbuchs von der Gerichtsverfassung; vgl. Paul Laband, Magdeburger Rechtsquellen, Königsberg 1869, S. 56. 11 S. zum Folgenden auch Freitag, Halle 806 – 1806, S. 37 – 47. 12 Urkundenbuch der Stadt Halle I, Nr. 71: [ . . . ] nos [ . . . ] locum molendino aptum in lacu Sale fluvii iuxta pontem, in cuius edificacione cives Hallenses convenerant, fratribus in Halla [ . . . ] tradidimus [ . . . ]. 13 Urkundenbuch der Stadt Halle I, Nr. 114. In der Zeugenreihe erscheinen dann zehn dieser burgenses namentlich. 14 Sandow, Das Halle-Neumarkter Recht, S. 127. In einer aus dem Zeitraum 1205 – 1232 stammenden, verlorenen aber erschließbaren Urkunde erscheinen die hallischen cives civitatis als Prozesspartei; vgl. Urkundenbuch der Stadt Halle I, Nr. 215. 15 Urkundenbuch der Stadt Halle I, Nr. 292: Nos Marquardus, Heydenricus de Viridario, Conradus Kronigk, Hermannus Hundertmarck, Cyriacus, Bertrammus dives, Her[mannus] dictus Ruschenbergk, Thidericus Kotze, Remeko, Baldewinus, Ludulfus filius Ludulfi, consules civitatis Hallensis, cum communitate burgensium in Hallo omnibus presentem paginam inspecturis eternam in domino salutem [ . . . ]. 16 Freitag, Halle 806 – 1806, S. 45.
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bb) 1235 erfolgte die Mitteilung des Stadtrechts an die schlesische Tochterstadt Neumarkt. In der betreffenden Belehrungsurkunde erscheinen als Urheber freilich nicht Ratleute, sondern Schöffen, also Angehörige des grundherrlichen Landgerichts namentlich.18 Die Schöffen freilich bestätigten die Urkunde nach Neumarkt mit dem Stadtsiegel – cum sigillo burgensium. Es dürfte kein Fehlgriff sein zu behaupten, dass der Rat wie in anderen Magdeburger Städten aus dem Schöffenkolleg herausgewachsen ist. Hiermit stimmt es überein, dass unter den burgenses des Jahres 1200 auch ein Johannes scultetus zu finden ist19 – der Schultheiß, ein grundherrlicher Lehnsmann, der in das sich etablierende Bürgerkollegium eingebunden ist. Erstmals im Jahre 1305 sind Bürgermeister als proconsules belegt.20 Einzelheiten aus dem in Halle geltenden Magdeburger Stadtrecht und Unterschiede zum Landrecht des Sachsenspiegels sind hier nicht das Thema. Das 1235 nach Neumarkt mitgeteilte Hallische Stadtrecht, das von den Schöffen als ius civile bezeichnet wurde, weist aber – und das interessiert hier vordringlich – eben so wenig wie die sonstigen Quellen Magdeburger Stadtrechts auf die Salzproduktion zurückgehende Besonderheiten auf.21 Der Schöffenbrief behandelt die grundherrlichen Gerichte der Hoch- und Niedergerichtsbarkeit (das Burggrafen- und das Schultheißending) und die Abgrenzung ihrer Zuständigkeit, Rechtsfolgen von unrechtem Tun wie Totschlag, Notzucht, Heimsuchung und Verletzung, Gegenstände des Erbrechts (mit der typisch sächsischen Gerade), der Zwangsvollstreckung wegen Forderungen und des Fremdenrechts. Es gibt Abschnitte über die Innungen der Handwerker. Die Schöffen, die dieses Recht übten, die Schöffen des stadtherrlichen Berggerichts, ließen seit dem Jahre 1266 Schöffenbücher führen.22 cc) Die Bindung der Stadtkommune Halle an Magdeburg war und blieb konstitutiv. Das manifestiert sich nicht zuletzt darin, dass Halle in den Oberhofzug nach Magdeburg integriert blieb. Zwischen 1180 und 1220 erreichte die politische Stellung der Magdeburger Erzbischöfe ihren Zenit – die askanischen Markgrafen von Brandenburg erkannten den Erzbischof als Lehnsherrn an.23 Dem Rat gelang es in 17 Eine Urkunde aus dem Jahr 1327, Urkundenbuch der Stadt Halle II, Nr. 621, informiert darüber, dass und wie die Ratleute rotierten – es gab drei Ratskollegien – den alten, den oberalten und den sitzenden Rat – mit insgesamt 36 Ratleuten. Nur der sitzende Rat ist entscheidend. 18 Urkundenbuch der Stadt Halle I, Nr. 224: [ . . . ] Hec sunt nomina scabinorum qui presentem paginam compilaverunt: Bruno, Conradus, Henricus, Alexander, Burchardus, Cunradus, Bruno, Rudgerus. Predicti scabini presentem paginam apposicione sigilli burgensium muniunt et confirmant. 19 Urkundenbuch der Stadt Halle I, Nr. 114. 20 Freitag, Halle 806 – 1806, S. 45. 21 Vgl. Urkundenbuch der Stadt Halle I, Nr. 224. 22 Gustav Hertel (Hrsg.), Die Hallischen Schöffenbücher Teil 1 (1266 – 1400), Halle 1882. 23 Mathias Tullner, Geschichte des Landes Sachsen-Anhalt, 3. Aufl., Magdeburg 2001, S. 41; s. dort auch zum folgenden.
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dieser entscheidenden Frühphase und auch später nicht, etwa das Schöffengericht an sich zu ziehen. Seit dem 15. Jh. griffen Kursachsen und Kurbrandenburg auf das Erzbistum zu. Zeitweilig erschöpfte sich das in der Konkurrenz der Askanier und der Wettiner um den Stuhl des Erzbischofs.24 Die Streitigkeiten führten für Halle schon 1478 zum Verlust der städtischen Autonomie: Erzbischof Ernst eroberte Halle und ließ mittlerweile ergangene Rechte und Privilegien öffentlich verbrennen und den Roland einmauern.25 c) Auch das Salzregal blieb wie das Schöffengericht das gesamte Mittelalter über in der Hand der Magdeburger Erzbischöfe. Seine konkrete Ausgestaltung soll nun etwas näher betrachtet werden. aa) Die Erzbischöfe verfügten über das Salzregal, indem sie Einzelberechtigungen daraus an Lehnsnehmer verliehen und dabei die geschickte Variante wählten, diese Einzelberechtigungen dem gestaffelten Gewinnungsprozess des Salzes anzulehnen. Die Erzbischöfe verliehen anfangs (1) die Brunnenanteile, (2) die Grundstücke, die sich dazu eigneten, Siedehäuser anzulegen und (3) die Siedehäuser mit den Siedepfannen selbst – jeweils an verschiedene Lehnsnehmer, wobei tiefe Staffelungen möglich waren.26 Daraus folgt: diejenigen, die aus der Sole das Salz machten und dieses auf dem „Hallmarkt“ verkauften, nutzten ein fremdes, ein Lehnsgut, sie waren weder freie Eigentümer der Quellen noch der im Tal der Saale gelegenen Siedegrundstücke (sogenannte Koten oder Talgüter). Sie waren wirtschaftlich auf die Zuteilung eines fremden Gutes angewiesen. bb) Dass die siedeberechtigten Bürger von Halle, die sich untereinander als sogenannte „Pfänner“ in einer Innung genossenschaftlich27 organisierten, nach mehr, insbesondere nach den Grundstücken, greifen mussten, liegt auf der Hand und sie waren damit 1263 teilweise erfolgreich – jeder Lehnsherr war käuflich, musste es sein. Der damalige Erzbischof verglich sich in diesem Jahr gegen die Zahlung von 2.200 Mark Silber mit den cives Hallenses dahingehend, dass diese Eigentümer 24 Entscheidend für Halle war die Wahl Ernsts v. Wettin zum Erzbischof 1476 und dessen Entscheidung, die erzbischöfliche Residenz 1478 nach Halle zu verlegen. Die Präsenz des Grundherrn in der neu errichteten Moritzburg griff schwer in die städtische Autonomie ein. 25 Gudrun Wittek, Rolande als Sinnbilder für mittelalterlichen Stadtfrieden? in: Dieter Pötschke (Hrsg.), Rolande, Kaiser und Recht. Zur Rechtsgeschichte des Harzraums und seiner Umgebung, Berlin 1999, S. 158 – 187, 181. Dieses Schicksal teilte Halle mit Zerbst, Stendal und Quedlinburg (wobei dort die Rolande geschont wurden) – in letzterer Stadt war das erfolgreiche historische rollback des Grundherrn augenfällig: der Bischof nahm die Vogtei ein und setzte Schöffen ein, die die Stadt regieren sollten, womit der Rat vernichtet war; s. wieder Wittek, in: Pötschke, Rolande, Kaiser und Recht, S. 158, 186. 26 Freitag, in: Freitag / Lück, Halle und das Salz, S. 15, 17. 27 Für die Zugehörigkeit zur Genossenschaft galt ein personenrechtliches Prinzip. Pfänner wurde nicht, wer Eigentümer eines Siedegrundstücks oder der zum Sieden erforderlichen Gerätschaften war, sondern wem die Genossenschaft als Person die Mitgliedschaft gewährte; vgl. Freitag, in: Freitag / Lück, Halle und das Salz, S. 15, 23.
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der Siedehütten werden konnten. Freilich: auf die Essenz, auf die Sole verzichtete er nicht; diesbezüglich mussten die Bürger ihn als Herrn der Brunnen anerkennen. Immerhin gelang es ihnen, die Zahl der Brunnen auf vier zu begrenzen, die der Inhaber des Regals rechtlich beliebig hätte vermehren können.28 Werner Freitag kommt aus der Schilderung dieser vertraglich geregelten Interessenlage zu folgendem Urteil über die eigentümliche Verfassung einer Salzstadt im Vergleich zu anderen Kommunen: Die Salzstadt Halle weiche vom Idealtypus Stadt ab, indem für den Bereich des wirtschaftlichen Sondergutes Salz patrimoniale Herrschaftsrechte festzustellen seien. Die ansonsten voll handlungsfähige, autonome Stadt konnte diese Beziehungen zum Stadtherrn nicht durch Gewaltakt (also Unrecht) oder durch Kauf (also Recht) ablösen, wenn auch Veränderungen zugunsten der Stadt zu konstatieren seien, die auf die Kalkulierbarkeit und Exklusivität der Erwerbschancen hinausliefen.29 cc) Immerhin: die Pfänner waren und blieben bis zu den auch in Halle nicht ausbleibenden Ständekämpfen im 15. Jahrhundert eine aufgrund wirtschaftlicher Bedeutung entscheidende Gruppe innerhalb der Bürgerschaft. Wenn von der Einigung des Jahres 1263 zwischen Erzbischof und cives Hallenses die Rede war, dann muss hinsichtlich der Zusammensetzung des zwölfköpfigen Rates davon ausgegangen werden, dass die Pfänner in diesem Kollegium keine Minderheit stellten:30 Das Wohl der Kommune bestand in nicht zuletzt im Wohl der Pfänner, des Salzpatriziats. Ein erkennbares Priorat aber hatten die Pfänner wohl nicht. 1475, nachdem sich die Innungen das Vertretungsrecht auch in Halle erkämpft hatten, schilderte der Pfänner Hans Waltheim, wie ein vollkommener Rat zusammengesetzt sein musste: Ein volkommen rath ist zusammen gesatzt von drey gelencken; das sint vier vom tale, vier von den innungen und vier von der gemeinheit, wen die so zusammen sitzen, das in ein volkommen rath dem ist gebotten gehorsam zu sein.31 d) Diese patrimonialen, monopolistischen Herrschaftsrechte wirkten sich charakteristisch aus: Quasi heraus gebrochen aus dem Recht der Stadt insgesamt wurde das Recht des Salzbezirks, des „Tales“ („Tal“ wegen seiner Lage im Tal der Saale), als Talrecht32 verselbständigt und um 1315 aufgezeichnet.33 Seit 1386 wurde von den Schöffen des patrimonialen Talgerichts ein Talschöffenbuch geführt, in welchem das Talrecht schriftlich überliefert ist. Die kommunale Rechtsetzung zunächst durch die grundherrlichen Schöffen der Stadt und später durch den Rat hatte auf das exemte Talrecht nur insoweit Einfluss, Urkundenbuch der Stadt Halle I, Nr. 310. Freitag, in: Freitag / Lück, Halle und das Salz, S. 15, 19 f. 30 Freitag, in: Freitag / Lück, Halle und das Salz, S. 15, 25. 31 Zit. nach Freitag, Halle 806 – 1806, S. 44. 32 Vgl. dazu Lück, Das Thal als Bereich besonderer Gerichtsbarkeit und Rechtsaufzeichnung im Spätmittelalter, in: Freitag / Lück, Halle und das Salz, S. 37 – 50. 33 Urkundenbuch der Stadt Halle II, Nr. 556. 28 29
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als sie in städtischen Willküren seit 1420 festlegte, dass nur hallische Bürger als Inhaber der Siedeberechtigung und Eigentümer der Siedekoten in Betracht kamen.34 Alle anderen rechtlich relevanten Belange der Salzproduktion und des Konfliktaustrages zwischen den verschiedenen Beteiligten regelte exklusiv das seit 1263 vom Erzbischof anerkannte Talrecht, das eine genossenschaftliche Einung darstellte und von den erzbischöflichen Brunnenmeistern und den Talschöffen „tu eynem gemeyne vrome unser herren der penere [ . . . ] un allen guden luden ryke un arm dy tu deme dale horen“ vereinbart wurde. Das Talrecht sprach der Erzbischof durch seinen Richter, den Salzgrafen. Das Talrecht regelte die Talgerichtsverfassung inklusive der zugehörigen Kompetenzregelungen, das Prozessrecht vor dem Talgericht, Totschlag und Salzdiebstahl im Salzbezirk, das Immobiliarsachenrecht (bezüglich der Siedebezirksgrundstücke), das Dienst- und Personenrecht der unterschiedlichen am Sieden beteiligten Personengruppen, den Friedebruch im Siedebezirk und in einzelnen Siedehütten und schließlich das Umweltrecht und produktionsspezifisches Gefahrenabwehrrecht. e) Halle beherbergte demnach mit seiner charakteristischen Teilung in „Bergstadt“ (wobei Bergstadt hier nicht Bergbaustadt bedeutet, sondern nur die geografische Differenz zwischen dem auf einem Hügel gelegenen Markt- und dem Siedebezirk aufzeigt) und „Talstadt“ drei verschiedene Gerichtsbarkeiten: die städtische Niedergerichtsbarkeit der Stadt, die dem Schöffengericht mit dem grundherrlichen Schultheißen oblag,35 wobei augenfällig der Umstand ist, dass der Rat der Stadt Halle zu keinem Zeitpunkt im Besitz der Niedergerichtsbarkeit war, die Hochgerichtsbarkeit, die der Burggraf von Magdeburg als der Vertreter des Erzbischofs ausübte36 und die Talgerichtsbarkeit der Saline und der Pfänner, die die Talschöffen unter dem Vorsitz des erzbischöflichen Salzgrafen innehatten.37 Das wird sichtbar in einer Urkunde aus dem Jahre 1314, in der sämtliche Gremien der spätmittelalterlichen Salzstadt zusammenwirkten, um eine Wiese mit dem bei der Stadt gelegenen Kloster Neuwerk zu tauschen. Auf Verfügendenseite treten auf nos consules, scabini montis et vallis, unionum magistri ac universis oppidani.38 Die städtische Autonomie, die Halle genoss, war – gemessen an anderen Kommunen39 – vergleichsweise schmal. Freitag, in: Freitag / Lück, Halle und das Salz, S. 15, 21. Der Schultheiß in Halle hatte – im Unterschied zu Magdeburg – kein echtes Ding, es handelte sich vielmehr um ein regelmäßig aller 14 Tage ausgelegtes gebotenes Ding; vgl. § 7 des Hallischen Rechtsbriefes für Neumarkt (aus dem Jahre 1235). Die Schöffen des Berggerichts müssen es auch gewesen sein, von denen das Weistum für Neumarkt stammt; vgl. Sandow, Das Halle-Neumarkter Recht, S. 128. 36 Ferdinand v. Martitz, Das eheliche Güterrecht des Sachsenspiegels und der verwandten Rechtsquellen (mit einer Einleitung über die Quellen des sächsischen Rechts), Leipzig 1867, S. 8. 37 Vgl. Lück, in: Freitag / Lück, Halle und das Salz, S. 37, 39, 43. 38 Urkundenbuch der Stadt Halle, ihrer Stifter und Klöster, Teil 2 (1301 – 1350), bearb. v. Arthur Bierbach, Magdeburg 1939, Nr. 537. 34 35
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Auf die Entwicklung des Stadtrechts und auf seine inhaltliche Ausgestaltung hatten die Pfänner keinen messbaren Einfluss. Insoweit waren sie Stadtbürger wie andere. Die Verleihung des Magdeburger Stadtrechts an die Stadt Halle und die Aufzeichnung des Hallischen Rechts für Neumarkt erfolgte ohne jeden erkennbaren Bezug zum wirtschaftlichen Erwerbsschwerpunkt der Stadtbürger. Halle unterscheidet sich insofern nicht von anderen Städten Magdeburger Rechts (etwa Leipzig, Görlitz, Breslau). Die kommunale Autonomie hat sich mithin in Halle zwar nicht gänzlich ohne den wirtschaftlichen Zweckverband der Pfänner vollzogen – immerhin stellten sie Ratleute. Eine besondere Prägung hat der Zweckverband aber dem Stadtrecht nicht gegeben. 2. Freiberg a) Ganz anders war die Lage in Freiberg. Hier geht die spätere Stadt auf eine ursprünglich genossenschaftliche Ansiedlung von Bergleuten zurück, die sich nach einem Silberfund in der Nähe des meißnischen Rodungsdorfes Christiansdorf in unmittelbarer Nähe dieses Dorfes an der Freiberger Mulde niederließen und dort mit dem Schurf begannen. Die Funde lockten in den 80er Jahren des 12. Jahrhunderts zahlreiche „Silbergräber“ in noch slawische und neue (deutsche) Rodungsdörfer entlang der Freiberger Mulde, es entstanden Gruben und Schmelzhütten. Die Silber- und Erzgräber kamen aus dem Erzgebirge selbst, aus dem Harz, aber auch aus Thüringen, Franken, Hessen und vom Mittelrhein – ein für obersächsische Städte typisches Bild. Mehrere Dörfer mit ihren Gruben und Hütten verschmolzen zu einer Bergmannssiedlung, der „Sächsstadt“, dem „Freien Berg“, die in den Jahren 1185 – 1190 durch Markgraf Otto den Reichen (1125 – 1190) eine feste Ummauerung erhielt40 und wohl im Zusammenhang mit diesem die Siedler nach außen sichtbar zusammenfassenden und abschließenden Ereignis auch als Stadt gegründet wurde.41 Mit der räumlichen Abschließung einher ging die rechtliche: die Kommune konstituiert sich durch den Bürgereid,42 der sich auf einen Markt und das dort geübte Recht bezieht – das ist die Ausgangslage für die Entstehung von autonomem Stadtrecht als Satzungsrecht. b) Aber: Freiberg war mehr, denn das entscheidende Agens in der Kommune waren nicht die Kaufleute, die den Markt (wie in anderen Städten mit oder gegen 39 Etwa Magdeburg selbst, Freiberg (s. u.) oder Görlitz, auf das hier nicht eingegangen werden kann. 40 Vgl. zu den Einzelheiten der Siedlungsgeschichte eingehend Manfred Unger, Von den Anfängen der bäuerlichen Besiedlung bis zum Ende der Machtkämpfe um den Besitz der Bergstadt 1162 bis 1307, in: Hanns-Heinz Kasper, Eberhard Wächter (Hrsg.), Geschichte der Bergstadt Freiberg, Weimar 1986, S. 15 – 57, insb. S. 15 – 31. 41 Hubert Ermisch, Urkundenbuch der Stadt Freiberg in Sachsen I, Codex Diplomaticus Saxoniae Regiae (CDSR) II 12, Leipzig 1883, S. XVI-XVIII. 42 S. zum Stadtbegriff der staufischen und nachstaufischen Zeit (1125 – 1313) Ernst Pitz, Art. Stadt, in: LexMA VII, Sp. 2177.
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die Bauern und Ackerbürger) beherrschten, und auch nicht die Ackerbürger, zu denen sich die alten Christiansdorfer Bauern gewandelt haben werden, sondern die Bergleute, und für das beginnende 13. Jahrhundert galt die kommunale Gleichung Bürger = Bergmann: Freiberg war entstanden als eine Bergmannskolonie, in der ältesten Zeit waren fast alle Einwohner Bergleute und zwar die einzigen, die in der Mark Meißen Bergbau trieben.43 aa) In Freiberg deckten sich die Begriffe Bürger (burgenses, cives) und Bergleute (montani) nahezu44 und die Rechte, die der Grundherr der Kommune bei ihrer Gründung in den 80er Jahren des 12. Jahrhunderts erteilt hatte, bezogen sich nicht nur auf das Stadtrecht und die Stadtverwaltung, sondern auch auf bergrechtliche Verhältnisse: Am 8. August 1241 beurkundete Markgraf Heinrich v. Meißen einen Vergleich zwischen einerseits dem Kloster Altzelle und andererseits viginti quatuor consules Vribergensis opidi, in dem sich Kommune und Kloster über die jeweilige Beteiligung an neu gefundenen Bergwerken einigten. Streitpunkt war das Verhältnis, in dem Rechte des Klosters am Berg zu Rechten der Stadt am Berg standen. Das in der Urkunde herangezogene, nicht schriftlich überlieferte jus quod consulibus Vribergensis opidi in prima constructione sui concessum fuit,45 war also Bergrecht und Stadtrecht zugleich, die Kommune war bei ihrer prima constructio eine communitas montanorum. Klar ist mit dieser Urkunde auch, dass Freiberg zu dieser Zeit Stadt war und über ein Selbstverwaltungsgremium, einen Rat, jene 24 consules nämlich, verfügte. bb) Damit stimmt auch überein, dass schon die früheste Erwähnung eines ius Freybergense in der sogenannten „Kulmer Handfeste“ aus dem Jahre 1233, mit der der Deutschordensmeister Hermann von Salza den Städten Kulm und Thorn (heute Chelmno und Torun) Privilegien verlieh, sich selbst aber bestimmte Regalien vorbehielt, dieses als ein Bergrecht identifiziert: Während dem Finder von Gold bzw. Edelmetall das in Schlesien geltende Recht zustand, sollte der Finder von Silber oder derjenige, in dessen ager Silber gefunden werde, „freibergisch“ Recht (ius Freybergense) und damit die an keine weiteren Bedingungen geknüpfte Abbauberechtigung haben.46 Heiner Lück erkennt hierin den Erwerb des Rechts nicht nur zum eigenen Abbau, sondern auch zur Verleihung der Abbauberechtigung.47 Da43 Ermisch, Urkundenbuch der Stadt Freiberg in Sachsen II (Bergbau, Bergrecht, Münze), CDSR II 13, Leipzig 1886, S. XXXI. 44 Vgl. auch Unger, in: Kasper / Wächter (Hrsg.), Geschichte der Bergstadt Freiberg, S. 15, 30. 45 CDSR II 12, Nr. 14. 46 Der Deutschordensmeister Hermann v. Salza behält seinem Orden Regalien vor, darunter „venas salis auri argentique fodinas et omne genus metalli preter ferrum dergestalt, ut inventor auri sive in cujus bonis inventum fuerit idem jus habeat, quod in terra ducis Slesie in hujusmodi inventione talibus est concessum; er erklärt aber weiter dass der inventor autem argenti sive is in cujus agris inventum fuerit jus Freybergense in hujusmodi inventione habeat imperpetuum.“, CDSR II 13, Nr. 864. 47 Lück, Art. Bergrecht, Bergregal, in: Albrecht Cordes, Heiner Lück, Dieter Werkmüller (Hrsg.), Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte (HRG), 2. Aufl., Berlin 2005, Sp. 529.
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mit ist einerseits das auf Roncaglia zurückgehende, und 1233 noch keine hundert Jahre alte Bergregal erledigt und die Bergbaufreiheit anerkannt.48 Andererseits weist Hermann v. Salza unverkennbar auf ein in diesem Jahr schon bestehendes (freilich schriftlich nicht überliefertes) Recht in Freiberg hin, welches damit in einer Reihe mit den Bergrechten von Iglau in Mähren (heute Jihlava / Tschechien, 1249) und Goslar im Harz (1271) steht. 1310 wurde das Freiberger Bergrecht erstmals schriftlich fixiert. Es verwundert nicht, wenn es hier in § 9 heißt: „Wo eyn man ercz suchen will, das mag her thun mit rechte. Kumpt jenre, des das erbe is, und vordert syn ackirteil, das ist ein czweiunddristeil, und butet syne kost wissentlich czweyn erhaften mannen, ee man kerben und seil ynwirft, der hat is mit rechte. Der dorfherre hat darane nicht. [ . . . ]“.49 Damit ist dem Finder das Aneignungsrecht ganz im Sinne auch der Kulmer Handfeste zugesprochen und die entscheidende wirtschaftliche und rechtliche relevante Privilegierung der Bergleute vorgenommen.50 Schlagwortartig wird diese Privilegierung als „Bergbaufreiheit“ charakterisiert. Am Bergrecht von 1310 lässt sich in § 1 und § 11 f. auch ablesen, wie das Konkurrenzverhältnis von Grundherr und Bergmann gelöst wurde. Wurde Erz gefunden, hatte der Finder das anzuzeigen. Ihm wurden daraufhin vom Bergmeister ausgehend von der Fundstelle insgesamt sieben „Lehen“ Grund zu je sieben Lachter im Quadrat (etwa 1.400 qm) zugesprochen, auf denen der Finder nach Erz schürfen und Stollen abteufen durfte.51 Auf diesen Flächen hatte der Finder das alleinige Aneignungsrecht an allem geschürften Erz.52 Zusätzlich wurden sieben weitere „Lehen“ abgemessen – je eines für den Markgrafen, die Markgräfin, den Marschall, den Truchsessen, den Kämmerer, die (Freiberger) Bürger, und den Bergmeister, an deren Erträgen die genannten Hoheitsträger beteiligt werden mussten.53 Damit blieb der Grundherr formal Grundherr und der Bergmann formal Lehnsnehmer – aber eben nicht bezogen auf die im Grund verborgenen Bodenschätze. c) Die schon erwähnte Besonderheit in der personellen Zusammensetzung der Kommune wirkte sich in Freiberg sogar territorial aus. Je weiter der Bergbau ausgriff, je mehr Bergwerke und Verhüttungsanlagen die Gewerken fanden, errichteten und ausbeuteten, umso weiter wuchs ihr Recht in das Erzgebirge hinein. Der Lück, Art. Bergrecht, Bergregal, in: Cordes / Lück (Hrsg.), HRG2 2005, Sp. 529. 49 CDSR II 13, Nr. 1, § 9. 50 S. a. Unger, in: Kasper / Wächter (Hrsg.), Geschichte der Bergstadt Freiberg, S. 15, 25. 51 Auf die besonderen Schwierigkeiten der Markscheidung, die besonders erfahrene Personen erforderte – eben den Bergmeister – soll hier nicht eingegangen werden. 52 Der Grundbesitzer wurde lediglich durch den so genannten (kein wirtschaftliches Äquivalent) darstellenden „Ackerteil“ entschädigt. 53 CDSR II 13, Nr. 1, §§ 1, 11, 12. Die richtige Wahl der aussichtsreichsten Fundstelle war demnach entscheidend für den wirtschaftlichen Erfolg der Schürfung. Die Beteiligung der genannten Hoheitsträger an den sieben weiteren Lehen vollzog sich in Form einer Abgabe, die ihnen der Finder überlassen musste. 48
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Zusammenhang zwischen den Bergwerken und der Stadt blieb dabei bestehen – das Gebirge galt als zum Stadtgebiet gehörig. Das Freiberger Recht als kommunales Recht galt wegen der Personen, die es trugen, territorial, wie das Freiberger Stadtrecht in Kapitel 1 § 1: „uf alleme gebirge, daz in di stat zu Vriberc gehorit“54 und das Freiberger Bergrecht in § 2: „Dy burgere von Friberg haben ouch daz recht beyde arm unde riche uf allem gebirge yn myns herren lande, das sy da nymand mag ufgehalden noch ir gut vorsprechen“55 aussagt. Für die montani des Erzgebirges galt nicht wie in den ummauerten Städten des Mittelalters der Satz „Stadtluft macht frei“. Sie konnten sich seit den ersten Erwähnungen des das Bergregal des Grundherrn durchbrechenden Aneignungsrechts auf die Aussage „Bergluft macht frei“ verlassen. d) Was eben von der Stadt als Bergmannskolonie gesagt wurde, bedarf freilich der Ergänzung. Seit dem beginnenden 13. Jahrhundert begann sich das Bild zu komplettieren: zur Sächsstadt trat die Oberstadt, zu den Bergleuten die Kaufleute. An dieser Stelle wird die Frage der wechselseitigen Durchdringung von wirtschaftlichen Interessen deutlich. Dabei ist die Antwort, wie die Freiberger das Aufeinandertreffen dieser Interessen in ihrer Stadtverfassung gelöst haben, schon en passant gegeben: Wer sich mit der Stadtverfassung magdeburgischer, obersächsischer, meißnischer, böhmischer und schlesischer Städte auskennt, der sucht und findet einen 24-köpfigen Rat nur einmal – in Freiberg. aa) Dieses 24-er Gremium bestand in Freiberg bis 1279. Sehr wahrscheinlich wechselten sich die Ratsmitglieder wohl nicht in zwei Gruppen zu zwölf Personen ab (etwa in Gestalt eines alten und eines sitzenden Rates).56 Auch die Vermutung, dass die 24 vielleicht nur in bergrechtlichen Angelegenheiten aufgetreten seien und ansonsten ein Rat mit Normalgröße (zwölf Räte) amtete, lässt sich im Einzelfall nicht belegen.57 Vielleicht hängt diese ungewöhnlich hohe Zahl damit zusammen, dass zwölf Räte aus der Sächsstadt und zwölf Räte aus der sich parallel entwickelnden, vom Markt und den Kaufleuten geprägten Oberstadt entsandt wurden.58 Auch das wäre ein Beleg für die Stärke des Wirtschaftsverbandes der Bergleute. Seit 1291 ist in Freiberg der Bürgermeister belegt und seit 1294 erfuhr die Stadt einen weiteren beträchtlichen Autonomiezuwachs gegenüber dem Grundherrn. bb) Am 24. Mai dieses Jahres beurkundete Markgraf Friedrich der Freidige eine mit den lieben burgeren von Vryberc getroffene Vereinbarung, wonach „unse ges54 Urkundenbuch der Stadt Freiberg in Sachsen III, CDSR II 14, Leipzig 1891, S. 14. So mussten die auf dem Gebirge Ansässigen und Hüttenbesitzer ihre Güter mit den Bürgern der Stadt verschossen (Freiberger Stadtrecht, Kapitel 4 § 4 f.) und waren sie wie die Bürger der Stadt vom Zoll befreit (Freiberger Stadtrecht, Kapitel 40 § 3 f.). 55 CDSR II 13, Nr. 1, § 2. 56 Ermisch, in CDSR II 14, S. LVII. 57 Ermisch, in CDSR II 14, S. LVII. 58 Johannes Langer, Die Anfänge Freibergs und seines Bergbaus, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte (NASG) 25 (1931), S. 1, 16.
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worn suln gewaldic sin unse recht zu jagene und zu seczene allis, daz uns unde unsir stat unde unseme bercwerke nucze ist, unde swes wir mit in uberkumen, daz sal niemand widerreden. Wenne si uns daz gelobt haben, so gelobe wir in daz wider, daz si irs libes irs gutes immer ane vare suln vor uns sin [ . . . ].“59 Auch in dieser Übertragung der Rechtssetzungsgewalt auf die Stadt60 wird deutlich, wie eng in Freiberg Stadt- und Bergrecht verknüpft waren – sie wurden beide in die Hand der Freiberger Bürger gelegt. e) Der Rat hat diese aus einer von 1288 bis 1307 dauernden Schwächephase der Meißner Markgrafen resultierende Privilegierung sofort genutzt. In enger zeitlicher Folge entstanden die Kodifikationen des Stadtrechts (1305) und des Bergrechts (1310). Es ist hier nicht der Raum, einen Abriss des Stadtrechts und seiner Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte zu geben. Das Forschungsdesiderat zum Freiberger Stadtrecht ist enorm, weil die Quelle eine Fülle interessanter Befunde zeigt, wie etwa das fränkische Dritteilsrecht der überlebenden Ehefrau mitten im Verbreitungsgebiet des Sachsenspiegels, der vom Geraderecht geprägt war. Es sollen einige Normkomplexe genannt werden, in denen sich im Unterschied zu Halle zeigt, dass die Interessen der Bergleute deutlichen Niederschlag selbst im Stadtrecht fanden. aa) Deutlich wird das etwa in den Stadtrechtsartikeln, die sich mit Münzangelegenheiten befassen, die rechtliche Stellung des Münzmeisters klären (der zwar Gewalt, aber nicht ohne das Stadtgericht habe61 – also sein Recht vor dem Gericht des Freiberger Rates suchen musste), Bußen für den unerlaubten Wechsel von Silber gegen Geld enthielten, dem Münzmeister das Recht sicherten, nur fein gebranntes, beimischungsfreies Silber anzunehmen62 und etwa Freiberger Bürgern das Privileg zuerkannten, unter Umgehung der Freiberger Münze direkt Barrensilber als Zahlungsmittel zu verwenden.63 Kapitel 4 § 4 regelt die Steuerpflicht der Bürger und Bergleute, indem beide miteinander gleichgestellt werden, auch wenn der Bergmann auf dem Gebirge ansässig ist.64 Bergbaulichen Hintergrund hat sicher auch Kapitel 4 § 16 mit seiner CDSR II 12, Nr. 49. Mit den gesworn kann nur der Rat gemeint gewesen sein, wie sich aus Kapitel 48 § 1 des Freiberger Stadtrechts ergibt: „Uber alle dise amechtlute unde uber alle, di da amecht gehaben mugen, unde uber alle dise innunge, di da vor geschriben sint, unde uber allez, daz da ist in dem wikbilde unde gesin mac, ouch uf dem gebirge, daz her in di stat gehort, haben di burger, di zwelf geswornen, di hoiste unde di groziste gewalt unde gerichte, ich meine di burger di zwelf geswornen in Vriberg, daz sie sullen unde mugen setcen unde heizen allez, daz si wizzen unde daz si dunket gut unde nutze sin der stat unde den luten armen unde richen ane widerrede.“ CDSR II 14, S. 146. 61 Freiberger Stadtrecht, Kapitel 7 § 1, CDSR II 14, S. 46. 62 Freiberger Stadtrecht, Kapitel 6 § 4 f., CDSR II 14, S. 43 f. 63 Freiberger Stadtrecht, Kapitel 3 § 16, CDSR II 14, S. 45. 64 Freiberger Stadtrecht, Kapitel 4 § 4, CDSR II 14, S. 31: „Welch man oder bercman gesezzen ist uf deme gebirge, waz he gutis hat daz dal he herin verschozzen in die stat mit den burgeren.“ 59 60
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Anordnung über die Steuerpflicht von in Gesellschaft gebundenem Gut.65 In Kapitel 39 § 6 ist das Waffenrecht der Bürger, unter ausdrücklichem Hinweis auf die Berg- und Hüttenleute im Bergbaugebiet geregelt.66 Schließlich schweigt das Stadtrecht auch nicht zur Tätigkeit von Lehnhauern als Pächter von mit einem Grubenfeld belehnten (s. o.) Gewerken67, erwähnt in seinen Artikeln über die rechtliche Stellung des Bergmeisters in Kapitel 37 § 2 auch den, der sich im Bergbau verdingt („gedinge“) und den Hauer – also den Lohnarbeiter.68 bb) Solche Regeln haben es in Halle nie ins Stadtrecht geschafft, sie fehlen übrigens in solcher Detailtiefe auch im Talrecht. Angesichts dieser Tatsachen ist es nicht verwunderlich, dass die ältere das Stadtrecht enthaltende Handschrift aus dem Ratsarchiv Freiberg im 16. / 17. Jahrhundert mit der Vorbemerkung „Ao: 1294 leges civiles et jura metallica Fribergensibus sunt conscripta“69, wobei sich der unbekannte Verfasser dieser Notiz zwar im Jahr der Niederschrift, nicht aber im Inhalt dessen, was ihm vorlag, irrte. f) Gerichtsverfassungsrechtliches Ergebnis dieser engen Verflechtung von Stadt und Berg und Stadtrecht und Bergrecht ist, dass die in Halle feststellbare Teilung der Gerichtskompetenzen in Freiberg überhaupt nicht vorkam. Der Freiberger Rat war sowohl Stadt-, als auch Landgericht und Berggericht in einem. Die städtische Niedergerichtsbarkeit hatte der Rat seit 1255 inne.70 Er übte sie seit diesem Jahr auch im Bergbaudistrikt, also auf dem Gebirge aus.71 In der Urkunde Markgraf Heinrichs des Erlauchten vom 6 Juli 1255 heißt es: „Volumus preterea ut, si quid in Vriberc vel in montibus judicandum fuerit vel tractandum, quod hoc fiat coram advocato et illis viginti quatuor et burgensibus nostris de Vriberc, et propter hujusmodi causas neminem ipsorum trahere volumus ad nostram curiam 65 Freiberger Stadtrecht, Kapitel 4 § 16, CDSR II 14, S. 32: „Swaz ein man gutis hat zu geselleschaft, daz sal he verschozzen zu rechte.“ 66 Freiberger Stadtrecht, Kapitel 39 § 6, CDSR II 14, S. 134. 67 Freiberger Stadtrecht, Kapitel 6 § 10 f., CDSR II 14, S. 44. 68 Freiberger Stadtrecht, Kapitel 37 § 2, CDSR II 14, S. 130 (Gerichtskompetenz des Bergmeisters): „Ist, daz ein bercwerc wirdit in deme wicbilde, daz man schechte sinket oder kowen setzit oder vert gedinge oder howet mit howeren, unde daz sich lute werren in den kowen oder in den schechten, daz sal der bercmeister richten zu rechte, uzenwendic den kowen nicht.“ Der Lehnhauer ist auch Gegenstand in Kapitel 6 § 10 f.: „Wo lenhower sin, di da erz howen inme lande unde daz verkoufen in den erzkameren, di wile iz wenic gildet, so sullen si iz geben umme munzpfenninge unde nicht umme silber [ . . . ]“, CDSR II 14, S. 44. 69 Ermisch, in: CDSR II 14, S. XXI. 70 CDSR II 12, Nr. 19. Richter im Niedergericht war der grundherrliche Untervogt, der aftervoget, der freilich von den Bürgern bestätigt werden musste. Ohne Bestätigung bestand seine richterliche Gewalt nicht, Freiberger Stadtrecht, Kapitel 32 § 1, CDSR II 14, S. 121. Auch war er auf die Rolle des Urteilers beschränkt: „Unde wenne he gerichte sitzet, he sal nichein urteil teilen, he ne sal ouch keinez strafen zu rechte; he sal urteil vregen, unde waz vor im geteidingit wirt, daz sal he richten nach rechte.“, Freiberger Stadtrecht, Kapitel 32 § 2, CDSR II 14, S. 121. 71 Unger, in: Kasper / Wächter (Hrsg.), Geschichte der Bergstadt Freiberg, S. 15, 41.
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quoquo modo.“72 Die Übertragung auch der Hochgerichtsbarkeit auf den Rat wird dann für das Jahr 1294 angesetzt,73 als es dem Rat gelang, auch den grundherrlichen Vogt (advocatus) in die städtische Gerichtsverfassung einzugliedern.74 Seine Stellung leitete er von nun an vom kommunalen Stadtrecht, nicht mehr vom Grundherrn ab. Die Berggerichtsbarkeit teilte sich der Rat zwar grundsätzlich mit dem Bergmeister, allerdings war der nur für Sachen zuständig, die sich in den Gruben und Berggebäuden selbst ereigneten. Alle Streitigkeiten – auch unter Bergleuten – die sich über Tage und außerhalb der Bergwerksgebäude ereigneten, fielen unter die Kompetenz des Rates.75 Darüber hinaus existierte aus Freiberg heraus kein Oberhofzug. Stadt und Berg waren nie mit einem Mutterrecht belehnt worden und bildeten so eine Enklave territorialer, rechtlicher Autonomie mitten im Verbreitungsgebiet des Sachsenspiegels. III. Conclusio Keine Abhandlung über Freiberg und Halle kann enden ohne die klassische Agricola-Anekdote, die Halle und Freiberg, Salz und Silber und Nieder- und Obersachsen miteinander verbindet. Der Freiberger Georgius Agricola notierte 1546 (hier in neuhochdeutscher Fassung): „Als Fuhrleute aus Halle vierspännig, wie es heute auch noch geschieht, Salz unmittelbar durch das Meißner Land nach Böhmen fahren, wo dieses Gewürz noch heut nicht weniger als einst fehlt, sehen sie in den Räderspuren ein Stück Bleiglanz, das durch die Gießbäche aufgedeckt ist. Weil das dem Goslarer ähnlich ist, werfen sie es auf den Wagen und nehmen es mit nach Goslar. Denn dieselben Fuhrleute pflegten aus dieser Stadt Blei abzufahren. Da man aus diesem Bleiglanz viel mehr Silber ausschmolz als aus dem Goslarer, begab sich eine Anzahl Bergleute an diesen Platz im Meißner Land, wo jetzt die bekannte und reiche Stadt Freiberg liegt. Ein Gerücht, das sich hält, und das Gerede der Leute rühmt, dass die Bergleute aus den Bergwerken reich geworden sind. [ . . . Und Bergleute verließen mit einem Bergmeister Niedersachsen und vereinigten sich] mit jenen zu einer Genossenschaft; davon ist der Teil von Freiberg, den noch in unserer Zeit die Bergleute bewohnen, Sächsstadt genannt worden.“76 CDSR II 12, Nr. 19. Gustav Eduard Benseler, Geschichte Freibergs und seines Bergbaues, Freiberg 1846, S. 340 f. 74 Freiberger Stadtrecht, Kapitel 34 § 1 ff., CDSR II 14. Dem obirsten voite wird die Rechtsprechungsgewalt über Leib und Leben zugesprochen, er wird aber hinsichtlich seiner Stellung gegenüber den Bürgern wie der Untervogt behandelt. Urteiler und damit Entscheider waren die Räte. 75 Freiberger Stadtrecht, Kapitel 37 § 2, CDSR II 14, S. 130. 76 Zit. nach Unger, in: Kasper / Wächter (Hrsg.), Geschichte der Bergstadt Freiberg, S. 15, 22. 72 73
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Die charakteristischen Unterschiede in der Rechtsentwicklung der beiden Städte verlangen nach einer schlüssigen Erklärung. Eine solche Erklärung kann an zwei Grundfakten ansetzen. 1. Zwar existierten in beiden Städten starke wirtschaftliche Zweckverbände, deren Tätigkeit rechtlich einzufassen war. Allerdings wird sich sagen lassen, dass die Kommune Halle sich höchstwahrscheinlich auch ohne die Salzsieder als dann deutlicher erkennbare Kaufmannssiedlung entwickelt hätte. Die planvolle Anlegung eines Siedlungskristallisationspunktes durch die kriegerisch erfolgreichen Franken bereits im Jahre 806 und der sich hieran anschließende Rechtsverkehr zwischen Franken, Sachsen und Thüringern einerseits und Sorben andererseits bot hierfür die ausreichende Grundlage – ebenso wie in Magdeburg selbst. Das Hallische Stadtrecht scherte deswegen nicht aus der Magdeburger Stadtrechtsfamilie aus, die die adäquaten Rechtsregeln für mittelalterliche Ackerbürger-77 und Kaufmannssiedlungen bereithielt. Für Freiberg gilt genau das nicht. Die Besiedelung der Nordseite des Erzgebirges durch Siedler aus dem Norden und Nordwesten des staufischen Reiches setzte nicht an militärisch bedeutsamen Kristallisationspunkten (in Betracht käme die Burg Meißen) an, sondern erfolgte nur wegen der profitablen Silberfunde entlang der Freiberger Mulde. Ohne diese Funde wäre Christiansdorf ein Rodungsdorf wie viele geblieben. Trotz der Passwege nach Böhmen war der Erzgebirgsraum keine wirtschaftlich so relevante „Kontaktzone“ wie der Rhein in der Spätantike oder die Saale im fränkischen Frühmittelalter. Ohne Übertreibung wird sich sagen lassen, dass Freiberg ohne die Silberbergleute nicht entstanden wäre. Ihre tatsächliche, wirtschaftliche und dem folgend auch rechtliche Stellung innerhalb der Bürgerschaft musste eine viel stärkere sein als die der Pfänner in Halle. Die Ironie der Geschichte wollte es, dass es gerade hallische Fuhrleute waren, die den montani den Weg wiesen. 2. Zwar unterlag der Wirtschaftszweig, den beide Zweckverbände betrieben, grundsätzlich dem Regalienrecht der jeweiligen Grundherren. Jedoch wurden die betreffenden Regalien höchst unterschiedlich ausgeübt: Bezüglich des Bodenschatzes Sole verzichtete der hallische Grundherr zu keinem Zeitpunkt auf die Zuteilungsrechte an die Produzenten. Die siedeberechtigten Pfänner waren das gesamte Mittelalter hindurch nie Eigentümer der Brunnen, aus denen die Sole gewonnen wurde. Hinsichtlich des Bodenschatzes Silber dagegen nahm der Grundherr schon zum ersten beobachtbaren Zeitpunkt sein Regal zurück und beschränkte sich auf eine nachgelagerte Beteiligung am wirtschaftlichen Ertrag des Silberbergbaus in Gestalt der Ablieferungspflicht an die grundherrliche Münze.78 Dieses a posteriori bestehende Beteiligungsrecht ist von einem a priori 77 Das zeigt sich etwa an weiteren Beispielen aus dem Erzbistum Magdeburg. Städte wie Zerbst und Neuhaldensleben etwa sind hinsichtlich des hier geltenden Stadtrechts mit Halle, Meißen, Görlitz und später auch Leipzig durchaus vergleichbar, wenn nicht sogar austauschbar.
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bestehenden Zuteilungsrecht zu unterscheiden, denn die Grundstückseigentümer und Bergleute wurden von vornherein Eigentümer des Erzes und des Silbers. Die Münze fungierte vor allem als Wechselstelle, in der Silber gegen Geld abgerechnet wurde.79 So konnten die Gewerken den vollen Wert ihres zu Eigentum erworbenen Erzes und Silbers realisieren. Der Einfluss des Regalherrn beschränkte sich darauf, an der Festlegung des Wechselkurses mitzuwirken, zudem behielten die Freiberger Bürger wie erwähnt das Recht, das lötige Silber als Zahlungsmittel zu gebrauchen. Das musste den privaten Unternehmergeist anlocken und so blieben die Bergleute im Erzgebirge als Monopolisten weitgehend unter sich. Das führte nicht nur zu einer Enklave fränkischen Rechts mitten im Sachsenspiegelverbreitungsgebiet, sondern auch zu einer für das hier betrachtete Territorium beispiellosen Ausbreitung des Geltungsgebiets eines Stadtrechts, so dass statt von einem Freiberger Weichbildrecht richtiger von Freiberger Territorialrecht gesprochen werden muss. 3. Das m. E. entscheidende wirtschaftsrechtliche agens für diese Differenzen lässt sich einfach konkretisieren. Das Wirtschaftsgut Sole musste auch einer fränkischen Expeditionstruppe auffallen, es war am Siedelplatz wahrscheinlich schon immer bekannt. Der Grundherr konnte es nicht übersehen, er musste es selbst nutzen und konnte es zuteilen, wem er wollte. Das Wirtschaftsgut Silber dagegen verlangte besondere Sachkunde. Es wurde für den Grundherrn erst nutzbar, wenn es ihm verhüttet vorgelegt wurde. Der Bergmann als Anbieter eines stark nachgefragten Produkts verhandelte von vornherein aus einer wirtschaftlich stärkeren Position als ein Abnehmer. Das sicherte der Bergbaukommune ungleich größere rechtliche Autonomie als der Salzkommune: Erst mit den kursächsischen Konstitutionen, die der aus den Religionskriegen des beginnenden 16. Jahrhunderts gestärkt hervorgegangene kursächsische Territorialstaat 1572 gegen erbitterten Widerstand des Freiberger Rates auch im Erzgebirge durchsetzte, endete der Freiberger rechtsgeschichtliche Sonderweg. Halles kommunale Autonomie dagegen brach bereits in den lokal begrenzten ständischen Auseinandersetzungen der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in sich zusammen.
CDSR II 13, Nr. 1, § 9 S. 5: „und das silber gehort yn dy muncze czu Friberg.“ Unger, in: Kasper / Wächter (Hrsg.), Geschichte der Bergstadt Freiberg, S. 15, 53: die Münze war de facto die Bank für die Bergleute wie für den Inhaber des Münzregals. 78 79
Europarechtlicher Artenschutz als Grenze der Stadtentwicklung? Von Wolfgang Köck
I. Einführung: Stadtentwicklung und Artenschutz Stadtentwicklung in den neuen Bundesländern beinhaltet eine doppelte Herausforderung. Sie muss den Stadtkörper anpassen an die geschrumpfte Bevölkerung und die gewandelte Wirtschaftsstruktur, sie muss ihn aber zugleich auch räumlich erweitern, um die Chancen, die sich aus zwischenzeitlichen überörtlichen Infrastrukturentscheidungen, wie etwa Fernstraßen(aus)bau oder mancherorts auch Flughafen(um)bau, ergeben (Stichwort: Entwicklungsachsen), für die Stadt zu nutzen, und um für gewandelte Nutzungsbedürfnisse gerüstet zu sein. Auch „die schrumpfende Stadt wächst“.1 Die Antwort auf die Schrumpfungsproblematik2 lautet: Stadtumbau!3 Er wird insbesondere mit Städtebauförderungsmitteln des Bundes betrieben („Stadtumbau Ost“). In den Städten der neuen Bundesländer wird unter Stadtumbau zu allererst (Teil-)Abriss und Aufwertung der Plattenbau-Wohnsiedlungen zur Bewältigung der Leerstandsproblematik verstanden. Die „kompakte Stadt“ wird zur „perforierten Stadt“,4 zur eher extensiv genutzten Stadtlandschaft im Raum des einstmals intensiv genutzten Stadtkörpers. Mit dem Konzept der „Zwischennutzung“5 versuchen manche Städte der Perforierung neue Lebensqualität abzugewinnen, indem beispielsweise Gehölzanpflanzungen auf Zeit vorgenommen werden. Auch die Lenkung naturschutzrechtlicher Ausgleichsmaßnahmen zur Aufwertung des Innenbereichs6 gehört zum Handlungsrepertoire der „perforierten Stadt“. Parallel dazu 1 Bauer, in: IzR 2003, 635, 637. Siehe auch Tiefensee, in: ApuZ B 28 / 2003, 3 ff. Zur Einordnung der Schrumpfung in den demographischen Wandel auch Schmidt / Große Starmann, in: APuZ 21 – 22 / 2006, 10 ff. 2 Dazu etwa v. Löwis / Neumann / Wickel, EurUP 206, 54 ff. Speziell zur Schrumpfung in Ostdeutschland: Hannemann, in: APuZ B 28 / 2003, 16 ff. 3 Vgl. Schmidt-Eichstaedt, IzR 2003, 695 ff. 4 Döhler, in: Deutsches Architektenblatt 4 / 2003, 6 ff.; siehe auch Besecke / Hänsch / Henckel, EurUP 2006, 64, 67. 5 Lütke-Daldrup, Handlungsstrategien zur Stärkung der Innenentwicklung am Beispiel der Stadt Leipzig, Manuskript 2004. 6 Dazu näher Köck, NuR 2004, 1 ff.
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bemühen sich die betroffenen Städte um eine Wiedernutzung der zwischenzeitlich brach gefallenen Industrieflächen im Stadtbereich.7 Ein solches „Flächenrecycling“ trifft aber auf vielfache Hindernisse,8 nicht zuletzt auf das Hindernis, dass durch die zwischenzeitliche Überplanung des Außenbereichs die Reallokation des Altbestandes ökonomisch an Grenzen stößt. Für Investoren ist es gegenwärtig noch aus vielen Gründen billiger, neu erschlossene Flächen zu nutzen, als Altstandorte einer neuen Nutzung zuzuführen. Aus ehemaligen städtischen Industriestandorten sind infolgedessen vielerorts Sukzessionsflächen geworden, die ein reiches Artenleben beherbergen. Die Anpassung an überörtliche Infrastrukturentscheidungen und an gewandelte Ansprüche (Flächenbedürfnisse) der Industrie und der Wohnung Suchenden beinhaltet demgegenüber zumeist nicht Reallokation des Bestandes, sondern Erweiterung und neue räumliche Erschließung. Beide Anpassungen – die Anpassung nach innen aufgrund der Leerstandsproblematik und des industriellen Strukturwandels, und die Anpassung nach außen infolge gewandelter Rahmenbedingungen – müssen die Erfordernisse des europarechtlichen Artenschutzes beachten. Diese Erfordernisse sind, wie die Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland durch den EuGH eindrucksvoll vor Augen geführt hat,9 anspruchsvoll. Sie stellen gerade auch die Städte vor große Herausforderungen, weil geplante Perforierungen (Zwischennutzungskonzepte; Wiedergewinnung von Natur- und Landschaft im Stadtkörper durch Lenkung naturschutzrechtlicher Ausgleichsmaßnahmen in den Innenbereich) und ungeplante Sukzessionen der Kernstadt neuen Artenreichtum beschert haben, und weil die Überplanung des Außenbereichs wie des Innenbereichs unter dem rechtlichen Vorbehalt ihrer Realisierbarkeit angesichts artenschutzrechtlicher Vorgaben steht.10 Ziel dieses Beitrages ist es, die Konsequenzen des europarechtlichen Artenschutzes für die kommunale Bauleitplanung zu beleuchten. Dabei wird zu zeigen sein, dass ein vorausschauendes – auf die Bedürfnisse des Artenschutzrechts abgestelltes – kommunales bzw. regionales Flächen- und Maßnahmenmanagement, helfen kann, ihre Handlungsspielräume auch unter neuen europarechtlichen Anforderungen weitgehend zu wahren.
Vgl. Bauer, in: IzR 2003, 635 ff. Überblick etwa bei Tomerius, NuR 2005, 14 ff. 9 Vgl. EuGH, Urt. v. 10. 1. 2006, Rs. C-98 / 03. 10 Bebauungspläne, deren Realisierbarkeit ein unüberwindbares rechtliches Hindernis entgegensteht, sind nicht erforderlich und damit nichtig – § 1 Abs. 3 BauGB (dazu näher unten III.). 7 8
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II. Europarechtlicher Artenschutz 1. Abgrenzung zum Gebietsschutz Der europarechtliche Artenschutz ist in den beiden zentralen Richtlinien des europäischen Naturschutzes, der sog. FFH-RL aus dem Jahre 1992 und der älteren Vogelschutzrichtlinie (VSRL) aus dem Jahre 1979, geregelt. Er umfasst zwei Elemente: den Artenschutz in den europäischen Vorranggebieten für den Naturschutz („Natura 2000“), die sich aus den sog. „FFH-Gebieten“ (Sites of Community Importance – SCI), die Deutschland bis zum Jahre 2010 auszuweisen hat, und den europäischen Vogelschutzgebieten (Special Protection Areas – SPA) zusammensetzen (Art. 1 Abs. 2 und Art. 3 – 11 FFH-RL),11 und den Artenschutz außerhalb dieser besonderen Schutzgebiete – Anders als die Vogelschutzrichtlinie, deren Tatbestände grundsätzlich alle in Europa heimischen Wildvogelarten schützen (Art. 1 VS-RL), beschränkt sich der Schutz der FFH-RL auf eine Auswahl gefährdeter oder bedeutsamer Tier- und Pflanzenarten (Anhang IV FFH-RL).12 Für diese Arten müssen die Mitgliedstaaten gemäß Art. 12 Abs. 1 und 13 Abs. 1 FFH-RL ein strenges bzw. striktes Schutzsystem einrichten, welches die spezifischen artenschutzrechtlichen Verbote der Richtlinie genau umsetzt.13 Neben der Schaffung eines vollständigen gesetzlichen Rahmens setzt ein strenges Schutzsystem den Erlass kohärenter und koordinierter vorbeugender Maßnahmen und die Durchführung konkreter besonderer Schutzmaßnahmen voraus.14 Die Mitgliedstaaten sind nicht nur verpflichtet, ein System und Programm zur angemessenen, insbesondere zusammenhängenden und lückenlosen Überwachung aller streng geschützten Arten des Anhang IV zu schaffen, sondern müssen auch die tatsächliche Funktionsfähigkeit gewährleisten.15
Durch die Regelungen des Artenschutzes außerhalb besonderer Schutzgebiete verfügt auch das europäische Naturschutzrecht über flächendeckend wirksame Schutzregelungen (die zudem über die EG-Umwelthaftungs-RL haftungsbewehrt sind). Im Folgenden bleiben die besonderen Artenschutzanforderungen in den ausFür einen einführenden Überblick: Köck, EurUP 2008, 154 ff. Die in Anhang IV aufgelisteten streng zu schützenden Arten sind begrifflich nicht mit den in Anhang II gekennzeichneten prioritären Arten gleichzusetzen, auch wenn es weitgehende Übereinstimmungen gibt. 13 EuGH Urt. v. 20. 10. 2005 – Rs. C-6 / 04 –, Slg, 2005, I-9017 Rn. 25. 14 EuGH Urt. v. 11. 1. 2007 – Rs. C-183 / 05 –, Irland, Slg. 2007, I-0000 Rn. 29 f. Zu den Schutzmaßnahmen gehört u. a., dass eine Umweltverträglichkeitsprüfung vor relevanten Genehmigungen durchgeführt wird (EuGH a. a. O., Rn. 36 f.). 15 EuGH Urt. v. 11. 1. 2007 – Rs. C-183 / 05 –, Irland, Slg. 2007, I-0000 Rn. 13 – 18, 19 – 25, 31. In der Praxis bedeutet dies, dass die Mitgliedstaaten ausreichende finanzielle und personelle Mittel bereitstellen und für die Geeignetheit und die Wirksamkeit der Maßnahmen sorgen müssen. 11 12
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gewählten und einzurichtenden besonderen Schutzgebieten des „Natura 2000“Netzes außer Betracht. 2. Schwierigkeiten mit der Umsetzung des europarechtlichen Artenschutzes in Deutschland Die Transformation des europäischen Artenschutzrechts in das nationale Recht verlief anders als die Rechtsumsetzung des Gebietsschutzrechts, die von Anfang an mit Widerständen verbunden war, zunächst unaufgeregt und reibungslos. In § 42 Abs. 1 BNatSchG a.F. ist das Nachstellen, Fangen, Verletzen oder Töten von wild lebenden Tieren besonders geschützter Arten16 und auch die Entnahme, Beschädigung oder Zustörung ihrer Entwicklungsformen, Nist-, Brut-, Wohn- und Zufluchtstätten (Nr. 1) verboten worden. Für wild lebende Tiere der streng geschützten Arten17 wurde durch § 42 Abs. 1 Nr. 3 BNatSchG darüber hinaus jegliche Störung an ihren Nist-, Brut-, Wohn- oder Zufluchtstätten durch Aufsuchen, Fotografieren, Filmen oder ähnliche Handlungen verboten. Analoge Regelungen wurden für besonders geschützte bzw. streng geschützte Pflanzenarten geschaffen (§ 42 Abs. 1 Nrn. 2 und 4 BNatSchG). Die in § 42 Abs. 1 BNatSchG a.F. normierten Artenschutzverbote gingen zum Teil über den europarechtlich gebotenen Artenschutz hinaus, da sie – anders als wesentliche Verbotstatbestände der VSRL und der FFH-Richtlinie18 – nicht auf absichtliche Handlungen beschränkt waren. Erheblich eingeschränkt wurden diese Verbote allerdings durch die Regelung des § 43 Abs. 4 BNatSchG a.F. Diese Norm bestimmte, dass die Verbote nicht für den Fall gelten, dass die Handlungen der guten fachlichen Praxis (gfP) der Landwirtschaft entsprechen oder unter Beachtung der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung zugelassen worden sind, „soweit hierbei Tiere, einschließlich ihrer Nist-, Brut-, Wohn- oder Zufluchtstätten und Pflanzen der besonders geschützten Arten nicht absichtlich beeinträchtigt werden.“ Der als Beschränkung der Ausnahme verwendete Absichtlichkeitsbegriff wurde in der nationalen Rechtsanwendungspraxis eng verstanden und als mutwilliges, auf finales Beeinträchtigungshandeln gerichtetes Verhalten gedeutet. Bestätigt wurde diese Deutung durch ein Grundsatzurteil des BVerwG aus dem Jahre 2001, in dem festgestellt wurde, dass „unvermeidbare Folgen rechtmäßigen Handelns“ nicht absichtlich im Sinne von § 43 Abs. 4 BNatSchG sind.19 Die Ausnahmevorschrift des § 43 Abs. 4 BNatSchG a.F. und ihre Deutung in der Praxis beschränkten den Artenschutz jenseits des mutwilligen Handelns somit auf die Pflichten der gfP und der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung. Beides war 16 17 18 19
Siehe zum Begriff der besonders geschützten Arten: § 10 Abs. 2 Nr. 10 BNatSchG. Siehe zum Begriff der streng geschützten Arten: § 10 Abs. 2 Nr. 11 BNatSchG. Vgl. Art. 5 VSRL; Art. 12 Abs. 1 lit. a) bis c) FFH-RL. Vgl. BVerwGE 112, 321, 330.
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unzureichend. Der nationale Gesetzgeber hatte zwar die Eingriffsregelung mit einer Sonderregelung zur Artenschutzproblematik versehen (§ 19 Abs. 3 BNatSchG a.F.), sich dabei allerdings nicht strikt an den Ausnahmevoraussetzungen der FFH-RL orientiert. Zudem gilt die Eingriffsregelung von vorn herein nicht für die land-, forst- und fischereiwirtschaftliche Bodennutzung (§ 18 Abs. 2 BNatSchG) und auch nicht für Bauvorhaben im sog. Innenbereich (§ 21 Abs. 2 BNatSchG). Dass die Artenschutzkonzeption des nationalen Gesetzgebers und auch die nationale Anwendungspraxis mit den europarechtlichen Vorgaben nicht vereinbar waren, deutete sich schon im sog. „Caretta-Urteil“ des EuGH vom 30. 1. 2002 an.20 Der EuGH entschied damals, dass der Verkehr mit Mopeds auf den Fortpflanzungsstränden der Schildkröte Caretta caretta, insbesondere der damit verbundene Lärm, und das Vorhandensein von Anlegestellen für Tretboote und andere Boote jedenfalls dann absichtliche Störungen der betroffenen Tierart während der Fortpflanzungszeit darstellen, wenn auf das Vorhandensein der Schildkrötennester durch eine entsprechende Beschilderung aufmerksam gemacht worden und Kraftfahrverbote verfügt worden sind (Rn. 34 ff.). Ein mutwilliges und final auf Beeinträchtigung oder Störung geschützter Arten gerichtetes Verhalten war demgemäß nicht erforderlich. Von einem absichtlichen Handeln war vielmehr schon immer dann auszugehen, wenn eine Handlung in Kenntnis des Vorkommens geschützter Arten und in Kenntnis dessen vorgenommen wird, dass durch die Handlung die Art beeinträchtigt wird oder werden kann.21 Auch unvermeidbare Folgen rechtmäßigen Handelns konnten somit „absichtlich“ im Sinne der FFH-RL sein.22 Die nationale Anwendungspraxis wurde durch die Caretta-Entscheidung des EuGH kaum beeinflusst.23 Erst das Urteil des EuGH vom 10. 1. 2006,24 das die fehlerhafte rechtliche Umsetzung der FFH-RL, insbesondere auch seiner artenschutzrechtlichen Vorschriften, durch die Bundesrepublik Deutschland feststellte, machte einer breiteren (Fach-)Öffentlichkeit in Deutschland bewusst, dass die Artenschutzregelungen der VSRL und der FFH-RL eine ähnliche Tragweite für die Realisierung von Plänen und Projekten haben können wie die Schutzgebietsregeln Rs. C-103 / 00, abgedruckt in NuR 2004, 596. Vgl. Gellermann, NuR 2003, 385 ff.; ders., NuR 2005, 504 ff.; Gassner, NuR 2004, 560 ff.; Müller, NuR 2005, 157 ff.; Fischer-Hüftle, NuR 2005, 768 ff. 22 Deutlich EuGH, Urt. v. 20. 10. 2005, Rs. C-6 / 04, Rn. 113. In dieser Entscheidung ging es um die Vereinbarkeit des britischen Naturschutzrechts mit den Vorgaben der FFH-RL. Das Gericht machte deutlich, dass eine britische Ausnahmeregelung, die darauf abstellt, dass eine Tötungs-, Beschädigungs- oder Zerstörungshandlung rechtmäßig ist, dem Geist und Zweck der FFH-RL zuwider läuft. 23 Die besondere Konstellation des Falles verstellte den Blick auf die weitergehenden Folgen, so dass die nationale Rechtsprechung zunächst unbeeindruckt den durch das BVerwGJudikat aus dem Jahre 2001 eingeschlagenen Kurs weiter verfolgte. Siehe etwa BVerwG, NVwZ 2005, 943, 947; VGH Mannheim, NuR 2006, 443, 445; OVG Lüneburg, ZUR 2006, 38, 41. Anders aber schon VGH Kassel, Urt. v. 25. 2. 2004, NVwZ-RR 2004, 732. Siehe zum Ganzen auch Lütkes, NVwZ 2008, 598, 600. 24 Vgl. EuGH, Urt. v. 10. 1. 2006, Rs. C-98 / 03. 20 21
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zur Errichtung des Natura 2000-Netzes. Beanstandet worden ist in der genannten Entscheidung u. a. auch der § 43 Abs. 4 BNatSchG a.F., weil durch diese Norm Verbote generell (und nicht nur in den durch die FFH-RL vorgesehenen Fällen) auf absichtliches Handeln beschränkt worden sind (Rn. 53 ff.), und weil die nationale Transformationsnorm die europarechtlichen Ausnahmevoraussetzungen des Art. 16 FFH-RL nicht ausreichend beachtet hatte (Rn. 61). Die Feststellung der Europarechtswidrigkeit des § 43 Abs. 4 BNatSchG hatte zur Folge, dass die Norm wegen des Vorrangs des Europarechts nicht mehr anwendbar war und dass Abweichungen von den artenschutzrechtlichen Verboten nunmehr einzig unter den Voraussetzungen der in der FFH-Richtlinie vorgesehenen Ausnahmebestimmungen gestattet werden konnten.25 Der unmittelbare Rückgriff auf diese Ausnahmebestimmungen war den nationalen Behörden möglich, weil sie die Voraussetzungen für eine Direktwirkung erfüllten und weil § 62 BNatSchG für die Erteilung einer Befreiung ohnehin bereits u. a. auf die Voraussetzungen der FFH-RL verwiesen „und damit die vollständige Anwendung des europäischen Prüfprogramms“ sichergestellt hatte.26 Für die Anpassung des nationalen Naturschutzrechts an die Imperative, die sich aus dem EuGH-Urteil vom 10. 1. 2006 ergaben, benötigte der nationale Gesetzgeber nahezu zwei Jahre: Am 12. 12. 2007 wurde das Erste Gesetz zur Änderung des BNatSchG, die sog. „kleine BNatSchG-Novelle“, verabschiedet,27 die sowohl den europarechtlichen Vorgaben gerecht werden, als auch für die Betroffenen akzeptable und im Vollzug praktikable Ergebnisse bei der Anwendung der Verbotsbestimmungen erzielen sollte.28 3. Die kleine BNatSchG-Novelle (2007): Zweispurigkeit des Artenschutzrechts – national und europäisch geschützte Arten Die „kleine BNatSchG-Novelle“ 2007 ist der Versuch, die bisherige nationale Artenschutzkonzeption so weit wie möglich zu erhalten, gleichzeitig aber den europarechtlichen Vorgaben zu genügen. Konsequenz dieses Bemühens ist die Aufspaltung des Artenschutzes in ein am status quo orientiertes Schutzregime für national geschützte Arten und ein nunmehr strengeres Schutzregime für europäisch geschützte Arten. Für die lediglich national geschützten Arten bleibt es bei der Orientierung an der guten fachlichen Praxis der Landwirtschaft (§ 42 Abs. 4 S. 1 BNatSchG) und beim Vorrang der Eingriffsregelung (§ 42 Abs. 5 S. 5 BNatSchG).29 25 Vgl. BVerwG, Urt. v. 21. 6. 2006, BVerwGE 126, 166 (Rn. 38) – Ortsumgehung Stralsund; siehe zu den rechtlichen Begründungen für den Vorrang des Europarechts grundlegend etwa Oppermann, Europarecht, 3. Aufl. 2005, § 7, Rn. 2 ff.; Jarass / Beljin, NVwZ 2004, 1 ff. 26 BVerwGE 126, 166 (Rn. 38). 27 BGBl. I, S. 2873. 28 Siehe die Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 16 / 5100, S. 8. 29 Vgl. Dolde, NVwZ 2008, 121, 124; Philipp, NVwZ 2008, 593, 597.
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Für die europarechtlich geschützten Arten, die Anhang IV-Arten der FFH-RL und die europäischen Vogelarten, gelten strengere Schutzregelungen. Auch in diesem Bereich aber hat sich der nationale Gesetzgeber bemüht, den Betroffenen – insbesondere der Landwirtschaft und den Trägern baulicher Vorhaben – durch normative Festlegungen dessen, was nicht als Verstoß gegen artenschutzrechtliche Verbote anzusehen ist (§ 42 Abs. 4 und 5 BNatSchG), einen rechtssicheren Handlungskorridor zu eröffnen.30 Dabei hat der nationale Gesetzgeber mehrfach auf das Leitlinienpapier der EG-Kommission zurückgegriffen,31 um – wie es in der Gesetzesbegründung heißt – „bestehende und von der Europäischen Kommission anerkannte Spielräume bei der Auslegung der artenschutzrechtlichen Vorschriften“ zu nutzen. Dieses Bemühen ist insofern positiv zu würdigen, als es mehr Transparenz für die Rechtsunterworfenen schafft. Ob es demgegenüber wirklich sinnvoll ist, bestimmte Aspekte des rechtlich unverbindlichen Leitlinienpapiers der Europäischen Kommission, das stetiger Prüfung und ggf. Revision durch die europäische Rechtsprechung unterliegt, explizit in nationales Recht zu überführen, sei dahingestellt. Riskant ist ein solches Unterfangen allemal. Zudem lässt sich nicht jede umstrittene Regelung der Novelle eindeutig auf das Leitlinienpapier zurückführen.32 Schon jetzt wird in Teilen der Fachliteratur die Auffassung vertreten, dass die sog. „kleine BNatSchG-Novelle“ in einzelnen Regelungen erneut den europarechtlichen Maßstab verfehlt hat.33 Auch künftig wird daher die rechtliche Verarbeitung des Artenschutzes ohne Rückgriff auf die europarechtlichen Artenschutzregelungen und deren Konkretisierung durch die Rechtsprechung des EuGH, durch die Rechtsprechung nationaler Gerichte und die Leitlinien zur Rechtsanwendung der Europäischen Kommission nicht auskommen. 4. Artenschutzrechtliche Verbote Im Folgenden werden zentrale artenschutzrechtlichen Verbote in der Fassung der sog. „kleinen BNatSchG-Novelle“ (2007), die ohne Änderung in das geplante Vollgesetz eines BNatSchG überführt werden sollen,34 näher erläutert. In die Erläuterung einbezogen wird die Interpretation der europarechtlichen Verbotstatbestände Vgl. dazu insbesondere Lütkes, NVwZ 2008, 598, 601 f. Guidance document on the strict protection of animal species of Community interest under the Habitats Directive 92 / 43 / EG, Final version, February 2007. Das Guidance document liegt mittlerweile auch in deutscher Sprache vor: Leitfaden zum strengen Schutzsystem für Tierarten von gemeinschaftlichem Interesse im Rahmen der FFH-Richtlinie 92 / 43 / EG, Endgültige Fassung, Februar 2007 (http: //ec.europa.eu/environment/nature/). 32 So die Verbotsausschlussregelung des § 42 Abs. 5 S. 3 BNatSchG n. F., soweit sie sich auch auf das Tötungsverbot (§ 42 Abs. 1 Nr. 1) erstreckt. Siehe dazu auch Niederstadt / Krüsemann, ZUR 2007, 347, 350; Möckel, ZUR 2008, 57, 60. 33 Siehe etwa Gellermann, NuR 2007, 783; Niederstadt / Krüsemann, ZUR 2007, 347 ff.; Möckel, ZUR 2008, 57, 61 ff.; Lau / Steeck, NuR 2008, 386 ff.; siehe auch Czybulka, EuRUP 2008, 20 ff. 34 Vgl. § 44 des Regierungs-Entwurfs für ein BNtSchG (Stand: 11. 3. 2009). 30 31
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durch das erwähnte Leitlinienpapier der Europäischen Kommission, die Rechtsprechung des EuGH und nationaler Gerichte sowie die einschlägige juristische Literatur zum europarechtlichen Artenschutz. Die Darstellung konzentriert sich auf die Verbote, die mit Blick auf die kommunale Bauleitplanung Bedeutung haben. Vernachlässigt werden in dieser Darstellung demgegenüber die artenschutzrechtlichen Sonderregelungen für die Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft (§ 42 Abs. 4 S. 2 und 3 BNatSchG). Ebenfalls nicht gesondert eingegangen, wird auf die Artenschutzregelungen für wildlebende Pflanzen (Art. 13 FFH-RL; § 42 Abs. 1 Nr. 4 BNatSchG). a) Das sog. „Tötungsverbot“ (§ 42 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG) § 42 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG regelt das sog. „Tötungsverbot“: Verboten ist es hiernach, „wild lebenden Tieren der besonders geschützten Arten nachzustellen, sie zu fangen, zu verletzen oder zu töten oder ihre Entwicklungsformen aus der Natur zu entnehmen, zu beschädigen oder zu zerstören“. Das Verbot ist exemplarbezogen zu verstehen,35 erfasst also jedes einzelne Individuum einer europäisch geschützten Tierart. Es dient der Umsetzung von Art. 12 Abs. 1 lit. a) und c) FFH-RL sowie Art. 5 lit. a) bis c) VSRL. Mit dem Tötungsverbot hat sich das BVerwG kürzlich im Zusammenhang mit einem Planfeststellungsverfahren zur Autobahn A 44 (Hessisch Lichtenau) befasst. Konkret ging es um die Frage, ob der Betrieb einer Autobahn, der Flugrouten von Fledermäusen kreuzt, schon deshalb den Tatbestand des Tötungsverbotes erfüllt, weil sich nicht ausschließen lässt, „dass einzelne Exemplare durch den Autobahnverkehr zu Schaden kommen“. Für das BVerwG reicht dieses allgemeine Wissen um den sog. „Roadkill“ aber nicht aus, um den Tatbestand als erfüllt anzusehen: „Soll das Tötungsverbot nicht zu einem unverhältnismäßigen Planungshindernis werden, so ist vielmehr zu fordern, dass sich das Risiko des Erfolgseintritts durch das Vorhaben in signifikanter Weise erhöht“.36 Darin liegt in der Sache eine Einschränkung des exemplarbezogenen Tötungsverbotes und eine aus dem Verhältnismäßigkeitsgebot abgeleitete vorsichtige Öffnung für eine funktionsbezogene Betrachtungsweise.37 Findet diese Sichtweise europarechtliche Anerkennung, erscheint auch die Durchbrechung des exemplarbezogenen Tötungsverbotes in § 42 Abs. 5 S. 2 BNatSchG als noch europarechtskonform.
35 Siehe dazu aus der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH: Urt. v. 18. 5. 2006 – Rs. C-221 / 04 –, Fischotter, Slg. 2006, I-4515 Rn. 48; Urt. v. 11. 1. 2006 – Rs. C-98 / 03 – Deutschland, Slg. 2006, I-53 Rn. 75; siehe auch BVerwG, Urt. v. 16. 3. 2006, BVerwGE 125, 116, Rn. 563 – Flughafen Berlin-Schönefeld. 36 Vgl. BVerwG, Urt. v. 12. 3. 2008, BVerwGE 130, 299 = Nur 2008, 633, 653 (Rn. 219) – Lichtenauer Hochland. 37 Vgl. dazu auch Gassner, NuR 2008, 614.
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b) Störungsverbot (§ 42 Abs. 1 Nr. 2 BNatSchG) Gem. § 42 Abs. 1 Nr. 2 BNatSchG ist es verboten, „wild lebende Tiere der streng geschützten Arten und der europäischen Vogelarten während der Fortpflanzungs-, Aufzucht-, Mauser-, Überwinterungs- und Wanderungszeiten erheblich zu stören“. Die Norm dient der Umsetzung des Art. 12 Abs. 1 lit. b) FFH-RL und des Art. 5 lit. d) VSRL. Während für die Verbotsnorm der VSRL geklärt ist, dass sie nicht exemplarbezogen, sondern populationsbezogen zu verstehen ist, weil nur eine solche Störung verboten ist, die sich „auf die Zielsetzung dieser Richtlinie erheblich auswirkt“,38 ist der Befund für das Störungsverbot der FFH-RL nicht so eindeutig. Gem. Art. 12 Abs. 1 lit b) FFH-RL ist jede absichtliche Störung der in Anhang IV Buchst. a) gelisteten Tierarten, insbesondere während der Fortpflanzungs-, Aufzucht-, Überwinterungs- und Wanderungszeiten verboten. Die EU-Kommission hat in ihrem Leitfaden aber erkennen lassen, dass nicht jede Störungshandlung den Tatbestand erfüllen soll, sondern nur solche Störungen, die die „Überlebenschancen, den Fortpflanzungserfolg oder die Reproduktionsfähigkeit einer geschützten Art vermindern“. Dies rechtfertigt es, für die Bewertung der Störung auf sensible Zeiten, eben die in der Norm genannten Fortpflanzungs-, Aufzucht-, Überwinterungs- und Wanderungszeit, abzustellen.39 Das Leitlinienpapier spricht aber auch davon, für die Bewertung einer Störung die Auswirkungen der störenden Handlung „auf den Erhaltungszustand der Art auf Populationsebene und biogeographischer Ebene in einem Mitgliedstaat zu berücksichtigen“.40 Dies ist als eine funktionsbezogene Betrachtungsweise verstanden worden,41 die den nationalen Gesetzgeber dazu veranlasst hat, in seinem § 42 Abs. 1 Nr. 2 BNatSchG Störungen nur dann als rechtlich erheblich anzuerkennen, „wenn sich durch die Störung der Erhaltungszustand der lokalen Population einer Art verschlechtert.“42 Ob der nationale Gesetzgeber mit dieser Regelung den Bedeutungsrahmen des Leitfadens wie den Deutungshorizont der Richtlinienregelung überschritten hat, ist umstritten,43 dürfte aber zu verneinen sein, weil Art. 12 Abs. 1 lit. b) FFH-RL lediglich von Störung Siehe dazu auch BVerwGE 125, 116, Rn. 563 – Flughafen Berlin-Schönefeld. A.A. Niederstadt / Krüsemann, ZUR 2007, 347, 349. 40 Vgl. EU-Kommission, Leitfaden (Fn. 31), Abschnitt II.3.2.a, Rn. 39. 41 Vgl. Möckel, ZUR 2008, 57, 59. 42 Die Vereinbarkeit mit den europarechtlichen Vorgaben bejahend: Möckel, ZUR 2008, 57, 59; a.A. demgegenüber Gellermann, NuR 2007, 165, 168; wohl auch Philipp, NVwZ 2008, 593, 596. 43 Verneinend, und damit die Europarechtskonformität bejahend: Möckel, ZUR 2008, 59; Lau / Steeck, NuR 2008, 386, 388; Gassner, NuR 2008, 613; wohl auch Louis, NuR 2008, 65, 66. Zweifelnd demgegenüber Dolde, NVwZ 2008, 121, 123, der sich insoweit auf die Entscheidung des BVerwG zum Flughafen Schönefeld beruft (BVerwGE 125, 116, Rn. 563), die hier zur Klärung aber nichts beiträgt. Für eine exemplarbezogene Interpretation des Art. 12 Abs. 1 lit. b) FFH-RL demgegenüber: Gellermann, NuR 2007, 783, 785; Philipp, NVwZ 2008, 593, 596. 38 39
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„dieser Arten“ spricht und damit doch deutliche Unterschiede zu den Tatbestandsfassungen in lit. a) und c) bestehen.44 Demgemäß durfte der nationale Gesetzgeber das Störungsverbot populationsbezogen ausgestalten. c) Schutz der Lebensstätten (§ 42 Abs. 1 Nr. 3 BNatSchG) Gem. § 42 Abs. 1 Nr. 3 BNatSchG ist es verboten, Fortpflanzungs- oder Ruhestätten der wild lebenden Tiere der besonders geschützten Arten aus der Natur zu entnehmen, zu beschädigen oder zu zerstören. Das Verbot dient der Umsetzung von Art. 12 Abs. 1 lit. d) FFH-RL sowie Art. 5 lit. b) VSRL und ist ausweislich des Leitlinienpapiers der EU-Kommission funktionsbezogen zu verstehen. Es zielt darauf ab, „die ökologische Funktionalität von Fortpflanzungs- und Ruhestätten zu sichern“.45 Die Lebensstätten müssen so geschützt werden, dass sie „alles bieten können, was für den Fortpflanzungserfolg und die ungestörte Rast der betreffenden Art erforderlich ist“.46 Der Schutz der „ökologischen Funktionalität“ umfasst zunächst einmal das Quartier (Nest, Höhle), wenn dieser Platz regelmäßig aufgesucht wird – unabhängig davon, ob die einzelne geschützte Art aktuell anwesend ist oder nicht.47 Der Schutz der „ökologischen Funktionalität“ umfasst darüber hinaus in gewissem Maße aber auch die Umgebung von Nestern, Höhlen etc.,48 wobei die EU-Kommission zwischen Arten unterscheidet, die einen kleinen Aktionsradius haben, und solchen, die große Lebensräume beanspruchen.49 Bei letzterem kann es nur um den Quartiersschutz im engeren Sinne gehen, alles Weitere muss über einen gebietsbezogenen Artenschutz, sprich: über das einzurichtende „Natura 2000“-Netz, gewährleistet werden.50 Damit korrespondiert die gefestigte nationale Rechtsprechung, die den Lebensstättenschutz vom Schutz der Nahrungsreviere abgrenzt.51 Auch das Leitlinienpapier sieht Futtergebiete nicht als durch den Lebensstättenschutz mit umfasst an.52 Die EU-Kommission betont in ihrem Leitlinienpapier, dass es auf die Lebensstättenbedürfnisse der jeweiligen geschützten Art ankommt.53 Insofern verbieten sich generalisierende Betrachtungsweisen. Erforderlich zur Feststellung der Tatbestandsmäßigkeit einer beeinträchtigenden Handlung ist demgemäß eine fachliche So auch Lau / Steeck, NuR 2008, 386, 388. Leitfaden (Fn. 31), Abschnitt II.3.4, Rn. 53. 46 Leitfaden (Fn. 31), ebenda. 47 Leitfaden (Fn. 31), Abschnitt II.3.4, Rn. 54. 48 Leitfaden (Fn. 31), Abschnitt II.3.4, Rn. 57. 49 Leitfaden (Fn. 31), Abschnitt II.3.4, Rn. 62 ff. 50 Leitfaden (Fn. 31), Abschnitt II.3.4, Rn. 64. 51 Siehe BVerwG, Urt. v. 11. 1. 2001, BVerwGE 112, 321, 325; bestätigt in: BVerwGE 126, 166, Rn. 33 – Ortsumgehung Stralsund. Vgl. dazu auch Dolde, NVwZ 2008, 121, 123. 52 Leitfaden (Fn. 31), Abschnitt II.3.4, Rn. 61. 53 Leitfaden (Fn. 31), Abschnitt II.3.4, Rn. 55. 44 45
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Bewertung im Einzelfall. So kann auch die Beschädigung von Teilen einer Lebensstätte im Einzelfall noch unerheblich im Sinne von § 42 Abs. 1 Nr. 3 BNatSchG sein, wenn die geschützte Art ohne Weiteres auf andere Quartiere im betroffenen Raum ausweichen kann und damit die ökologische Funktion insgesamt gewahrt ist.54 Wird demgegenüber ein ganzes Brutrevier beseitigt, ist unabhängig davon, ob die Nester gerade genutzt werden, der Verbotstatbestand erfüllt, weil in diesem Falle keine lokalen Ausweichmöglichkeiten für die nächste Brutperiode mehr verbleiben.55 Der nationale Gesetzgeber hat in § 42 Abs. 5 S. 2 und 3 BNatSchG einschränkend normiert, dass ein Verstoß gegen das Verbot zum Schutz der Lebensstätten nicht vorliegt, „soweit die ökologische Funktion der von dem Eingriff oder Vorhaben betroffenen Fortpflanzungs- oder Ruhestätte im räumlichen Zusammenhang weiter erfüllt wird. Soweit erforderlich, können auch vorgezogene Ausgleichsmaßnahmen festgesetzt werden“. Diese Verbotseinschränkung findet zwar keinen expliziten Rückhalt im Normtext der FFH-RL, greift aber auf durch den Richtlinienzweck gedeckte Überlegungen des Leitlinienpapiers der EU-Kommission zurück, das davon ausgeht, dass die ökologische Funktionalität auch dann gewahrt sein kann, wenn „potenzielle Verluste von Teilen oder Funktionen der Stätte“ durch funktionserhaltende Maßnahmen, wie z. B. „die Erweiterung der Stätte oder die Schaffung neuer Habitate innerhalb oder in direkter funktioneller Verbindung zu einer Fortpflanzungs- oder Ruhestätte“ ausgeglichen werden und damit eine kontinuierliche ökologische Funktionalität der Lebensstätte gewährleistet wird.56 Der Hinweis auf kontinuierliche funktionserhaltende Maßnahmen (measures which ensure the continous ecological functionality: CEF-Measures) hat in der Literatur viel Wirbel verursacht und auch Kritik hervorgerufen.57 Von einer unzulässigen Relativierung der Verbotstatbestände ist gesprochen worden und auch davon, dass Ausgleichsmaßnahmen ihren sicheren Einsatzort ausschließlich im Bereich des Ausnahmeregimes (Art. 16 FFH-RL) haben können.58 Hingewiesen worden ist auch darauf, dass das BVerwG mit Blick auf die Erfordernisse des europarechtlichen Artenschutzes den herkömmlichen nationalen Kompensationskonzepten auf der Grundlage der Eingriffsregelung bereits eine Absage erteilt habe.59 54 Vgl. BVerwGE 126, 166 = NVwZ 2006, 1407; OVG Koblenz, Urt. v. 13. 2. 2008, NVwZ-RR 2008, 514, 517. Instruktiv dazu auch Kratsch, NuR 2007, 100, 103. 55 BVerwGE 126, 166, Rn. 33 – Ortsumgehung Stralsund; VGH Kassel, Urt. v. 21. 2. 2008, ZUR 2008, 380, 383 – Stadtbahnhof. 56 Leitfaden (Fn. 31), Abschnitt II.3.4, Rn. 74. 57 Siehe etwa Niederstadt / Krüsemann, ZUR 2007, 347, 349 f.; siehe auch Czybulka, EurUP 2008, 20, 26. 58 Siehe nur Gellermann / Schreiber, Schutz wildlebender Tiere und Pflanzen in staatlichen Planungs- und Zulassungsverfahren, 2007, S. 57 f. 59 Siehe BVerwGE 126, 166, Rn. 36; Philipp, NVwZ 2008, 593, 596. Zu den Unterschieden zwischen einer Kompensation nach der Eingriffsregelung und den CEF-Measures ausführlich: Köck, ZUR 2006, 518, 521 f.
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In der Tat wird man konzedieren müssen, dass die Voraussetzungen für die Anwendung des § 42 Abs. 5 S. 2 und 3 BNatSchG streng sind und die Erwartungen, die auf die flexibilisierende Wirkung dieses Instrumentes gesetzt werden, demgemäß nicht allzu hoch angesetzt werden sollten. (Richtigerweise wird auch darauf aufmerksam gemacht, dass der Einsatzort für Ausgleichsmaßnahmen innerhalb des Ausnahmeregimes – Art. 16 Abs. 1 FFH-RL bzw. § 42 Abs. 8 BNatSchG – auf einem gesicherten Rechtsboden stehen.60 Mit Blick auf die Besonderheiten der Bauleitplanung ist aber bereits hier zu vermerken, dass die Inanspruchnahme des Ausnahmeregimes hier wegen des Alternativenprüfungsgebotes vor hohen Hürden steht.) Die „vorgezogenen Ausgleichsmaßnahmen“ müssen so spezifisch sein, dass die später beabsichtigten Eingriffshandlungen im Ergebnis folgenlos bleiben werden, weil durch die vorgezogenen Maßnahmen die ökologische Funktion der Lebensstätte kontinuierlich gewahrt bleibt. Das Leitlinienpapier betont in diesem Zusammenhang, dass die ökologische Funktion dieser Maßnahmen für die betreffenden Arten eindeutig nachzuweisen ist.61 Hierfür bedarf es überwachender Maßnahmen (Monitoring). 5. Ausnahmen von den artenschutzrechtlichen Verboten § 43 Abs. 8 BNatSchG bestimmt, dass die nach Landesrecht zuständigen Behörden von den Verboten des § 42 im Einzelfall aus bestimmten Gründen Ausnahmen zulassen können. U.a. ist es möglich, eine Ausnahme „aus zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Art“ zuzulassen (§ 43 Abs. 8 Nr. 5 BNatSchG), wenn „zumutbare Alternativen nicht gegeben sind und sich der Erhaltungszustand der Populationen einer Art nicht verschlechtert, soweit nicht Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 92 / 43 / EWG weitergehende Anforderungen enthält“ (Art. 43 Abs. 8 S. 2 BNatSchG). Die Ausnahmeregelung orientiert sich an Art. 16 Abs. 1 FFH-RL und an Art. 9 Abs. 1 VSRL. Die VSRL kennt ihrem Wortlaut nach zwar keine Ausnahmevorschrift, die zwingende sozioökonomische Gründe außerhalb der Interessen der Land-, Forst-, Fischerei- und Wasserwirtschaft anerkennt, zutreffend ist aber darauf hingewiesen worden, dass auch mit Blick auf den Vogelschutz außerhalb besonderer Schutzgebiete zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit und zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen der Ausnahmegrund des Art. 16 Abs. 1 lit. c) FFH-RL entsprechend angewendet werden62 und demgemäß auch im nationalen Umset60 So auch Philipp, NVwZ 2008, 596: „Wunder sollte man von den vorgezogenen Ausgleichsmaßnahmen nicht erwarten. Wenn ein vorgezogener Ausgleich möglich ist und dadurch ein günstiger Erhaltungszustand der Art gewährleistet werden kann, wird das Vorhaben in aller Regel auch im Wege der Ausnahme oder Befreiung möglich sein.“ 61 Leitfaden (Fn. 31), Abschnitt II.3.4, Rn. 74. 62 Vgl. Gellermann, NuR 2007, 783, 789; Dolde, NVwZ 2008, 121, 125; Philipp, NVwZ 2008, 593, 597; siehe auch LANA-Hinweise v. 29. 5. 2006, S. 7; Köck, ZUR 2006, 518, 522.
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zungsgesetz verwendet werden darf.63 Im Übrigen sind die Ausnahmevorschriften eng auszulegen.64 a) Keine zumutbaren Alternativen Voraussetzung für die Erteilung einer Ausnahme ist zunächst, dass der Standort, der für ein Vorhaben bzw. für eine Überplanung benötigt wird, alternativlos ist (§ 42 Abs. 8 S. 2 BNatSchG). Ob dies im Einzelfall gegeben ist, ist von den Gerichten vollinhaltlich überprüfbar. Ein planerischer Entscheidungsspielraum steht den für die Entscheidung zuständigen Stellen nicht zu.65 Insbesondere kann sich auch die planende Gemeinde zur Rechtfertigung ihrer Bauleitplanung nicht auf ein Planungsermessen berufen.66 Alternativlos ist ein Standort dann, wenn andere Standorte ebenfalls artenschutzrechtliche bzw. naturschutzrechtliche Konfliktlagen aufwerfen,67 oder aus anderen rechtlichen Erfordernissen ungeeignet sind. Alternativlos ist ein Standort auch dann, wenn sich ein anderer Standort aus naturschutzexternen Gründen als unverhältnismäßiges Mittel erweist,68 z. B. wenn die Realisierung an einem anderen Ort nur mit unverhältnismäßigen Mehrkosten möglich sein wird.69 Für die Alternativenprüfung kann im Übrigen auf die Kriterien zurückgegriffen werden, die von der Rechtsprechung im Zusammenhang mit der FFH-Verträglichkeitsprüfung bzw. der Sicherung potenzieller FFH-Gebiete gewonnen worden sind70. Demgemäß wird man vom Vorhabensträger bzw. Planungsträger verlangen können, dass gewisse Abstriche am Planungsziel in Kauf genommen werden.71 Selbständige Teilziele müssen allerdings nicht aufgegeben werden.72 Auch zweitbeste A.A. wohl Niederstadt / Krüsemann, ZUR 2007, 347, 353. Vgl. EuGH, Urt. v. 26. 10. 2006, Rs. C-239 / 04, Slg. 2006, I-10183, Rn. 35 f. – Portugal (zu den Ausnahmeregelungen des FFH-Gebietsschutzes). 65 Vgl. BVerwG, Beschl. v. 13. 3. 2008, NuR 2008, 495, 500 – Autobahn A 4. 66 Siehe auch Pauli, BauR 2008, 759, 768. 67 Vgl. BVerwG, Urt. v. 12. 3. 2008, BVerwGE 130, 299 = NuR 2008, 633, 655 – Hessisch Lichtenau; BVerwG, Beschl. v. 13. 3. 2008, NuR 2008, 493, 500 – Autobahn A 4; OVG Koblenz, Urt. v. 13. 2. 2008, NVwZ-RR 2008, 514, 518 – Handwerkerpark. 68 Vgl. BVerwG, Urt. v. 12. 3. 2008, BVerwGE 130, 299 = NuR 2008, 633, 655 – Hessisch Lichtenau. 69 Vgl. BVerwG, Beschl. v. 13. 3. 2008, NuR 2008, 493, 500 – Autobahn A 4; siehe aus der insoweit übertragbaren Rechtsprechung zu den FFH-Gebieten auch BVerwG, Urt. v. 27. 1. 2000, in: BVerwGE 110, 302, 310 f. – B 1. 70 Siehe etwa Köck, ZUR 2005, 466, 467 f. 71 BVerwG, Urt. v. 17. 5. 2002, in: BVerwGE 116, 254, 263 – A 44; BVerwGE 120, 1, 11; BVerwG, Urt. v. 17. 1. 2007, BVerwGE 128, 1 = NVwZ 2007, 1054, 1071, Rn. 143 – Westumfahrung Halle. 72 BVerwG, Urt. v. 17. 1. 2007, BVerwGE 128, 1 = NVwZ 2007, 1054, 1071, Rn. 143 – Westumfahrung Halle. 63 64
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oder drittbeste Standorte können zumutbar sein, wenn sich das angestrebte Planungsziel dort im Wesentlichen noch verwirklichen lässt. b) Auswirkungen der Ausnahme auf den Erhaltungsstand Eine Ausnahme darf trotz Alternativlosigkeit nur dann erteilt werden, wenn sich dadurch „der Erhaltungszustand der Populationen einer Art nicht verschlechtert“. Art. 16 Abs. 1 FFH-RL verlangt scheinbar weitergehend noch, „dass die Populationen der betroffenen Art in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet trotz der Ausnahmeregelung ohne Beeinträchtigung in einem günstigen Erhaltungszustand verweilen“ müssen.73 Um das Vorliegen dieser Voraussetzung prüfen zu können, bedarf es der Ermittlung des Erhaltungszustandes auf der Ebene des natürlichen Verbreitungsgebietes (biogeographische Region) und auch auf der Ebene der lokalen Population.74 Ist der Erhaltungszustand auf der Ebene des natürlichen Verbreitungsgebietes günstig, liegt die Ausnahmevoraussetzung gem. der Rechtsprechung des BVerwG auch dann vor, wenn die beantragte Maßnahme auf der Ebene der lokalen Population negative Auswirkungen hat.75 Ist hingegen auf der Ebene des natürlichen Verbreitungsgebiets der Erhaltungszustand der geschützten Art nicht als günstig zu beurteilen, wie es häufig der Fall sein wird,76 kann die Ausnahmevoraussetzung nur dann als erfüllt angesehen werden, wenn nachgewiesen wird, das sich durch Verwirklichung der Ausnahme der Erhaltungszustand der betroffenen Population nicht verschlechtert bzw. die Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustandes nicht behindert wird.77 In beiden Fällen kommt Ausgleichsmaßnahmen – obwohl sie in der FFH-RL nicht ausdrücklich angesprochen werden – nach Auffassung der EU-Kommission eine wichtige flexibilisierende Bedeutung zu.78 Ergibt sich nämlich, dass die verbotene Handlung voraussichtlich zur Verschlechterung des Erhaltungszustandes der lokalen Population führen wird, kann durch aktive Ausgleichsmaßnahmen, die allerdings im Zeitpunkt der Vornahme der verbotenen Handlung 73 Sicherheitshalber hat deshalb der nationale Gesetzgeber in seinem § 43 Abs. 8 S. 2 BNatSchG noch den Halbsatz aufgenommen: „ . . . soweit nicht Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 92 / 43 / EWG weitergehende Anforderungen enthält.“ Ob dieser Zusatz wirklich notwendig war, ist angesichts des EuGH-Urteils v. 14. 6. 2007, NuR 2007, 477, Rn. 28 f., zweifelhaft (vgl. Dolde, NVwZ 2008, 121, 126 mwN.; Pauli, BauR 2008., 759, 769; a.A. etwa Möckel, ZUR 2008, 57, 63). 74 Leitfaden (Fn. 31), Abschnitt III.2, Rn. 43. 75 Vgl. BVerwGE 126, 166, Rn. 45 – Ortsumgehung Stralsund. Siehe auch VGH Kassel, Urt. v. 21. 2. 2008, ZUR 2008, 380, 382 – Stadtbahnhof. 76 Vgl. Ssymank, EurUP 2008, 158, 163 f. 77 Vgl. EuGH, Urt. v. 14. 6. 2007 – C-342 / 05; siehe auch Philipp, NVwZ 2008, 597; Gellermann / Schreiber, Schutz wildlebender Tiere und Pflanzen (Fn. 58), S. 74. Dazu schon Köck, ZUR 2006, 518, 523. 78 Vgl. Leitfaden (Fn. 31), Abschnitt III.2.3, Rn. 53 und 55 ff.
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bereits wirksam sein müssen,79 der Verschlechterung entgegengewirkt werden. Anders als bei der Abarbeitung der herkömmlichen Eingriffsregelung genügt keine allgemeine Saldierung, vielmehr müssen die Ausgleichsmaßnahmen spezifisch artbezogen ansetzen.80 Der Erfolg dieser Maßnahmen ist nachzuweisen. c) Zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses Die Erteilung einer Ausnahme setzt schließlich noch einen rechtfertigenden Grund voraus. Als rechtfertigend nennt das Gesetz u. a. „zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses, einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Art“. Anerkennungsfähig sind damit nur öffentliche Interessen, keine Privatinteressen. Da der Kreis der öffentlichen Interessen aber nicht eingeschränkt ist, werden hier nicht nur Infrastrukturprojekte oder Einrichtungen der Daseinsvorsorge erfasst, sondern auch solche Vorhaben und Planungen, die der Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen durch Ansiedlung von Industrie und Gewerbe dienen. Auch die planerische Ausweisung von Siedlungsgebieten für den Wohnbedarf der Bevölkerung ist ein öffentliches Interesse. Selbst der Bau eines Wohnhauses im städtischen Innenbereich auf der Grundlage von § 34 BauGB dient idR nicht nur dem Privatinteresse des Bauherrn, sondern wesentlich zugleich auch dem öffentlichen Interesse an einer kompakten Stadt. Es versteht sich von selbst, dass die Feststellung eines überwiegenden sozioökonomischen Interesses gegenüber dem Artenschutzinteresse nur dann erfolgen kann, wenn die Risiken für den Artenschutz fehlerfrei ermittelt worden sind.81 Das BVerwG hat darauf aufmerksam gemacht, dass insoweit „die besten einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse abgerufen, dokumentiert und berücksichtigt“ worden sein müssen und dass Ermittlungsmängel notwendig auf eine Abwägungsentscheidung durchschlagen.82 Das Erfordernis des rechtfertigenden Grundes dürfte bei der Bauleitplanung jedenfalls dann keine Schwierigkeiten bereiten, wenn man es ausreichen lässt, dass der Plan „vernünftigerweise geboten“ ist83; denn diese Anforderung dürfte sich schon aus der Planrechtfertigung (§ 1 Abs. 3 BauGB), den Zielen der Bauleitplanung (§ 1 Abs. 5 BauGB) und dem Gebot gerechter Abwägung (§ 1 Abs. 7 BauGB) ableiten lassen. Zwingend sind diese Gründe lediglich dann nicht, wenn die Planung allein nach dem Prinzip Hoffnung rein angebotsorientiert erfolgt ist84, die städtebauliche Konzeption, deren Umsetzung der Bauleitplan dient, also nicht durch tatsächliche Anhaltspunkte (z. B. Baunachfragen) gestützt werden Vgl. Gellermann / Schreiber (Fn. 58), S. 75; siehe auch Köck, ZUR 2006, 518, 523. Siehe dazu auch BVerwG, Urt. v. 16. 3. 2006, BVerwGE 125, 116, Rn. 558 – Flughafen Berlin-Schönefeld. 81 Vgl. statt vieler Philipp, NVwZ 2008, 593, 596. 82 BVerwG, Urt. v. 17. 1. 2007, BVerwGE 128, 1, Rn. 114 – Westumfahrung Halle. 83 Vgl. BVerwG, Urt. v. 27. 1. 2000, in: BVerwGE 110, 302. 79 80
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kann.85 Die jüngere Rechtsprechung zum Verhältnis von Bauleitplanung und Artenschutz lässt erkennen, dass sie sich an diesem Maßstab orientiert. So heißt es in einem Urteil des OVG Koblenz vom 13. 2. 2008, dass der rechtfertigende Grund „nicht das Vorliegen von Sachzwängen (verlangt), denen niemand ausweichen kann. Gemeint ist vielmehr ein durch Vernunft und Verantwortungsbewusstsein geleitetes staatliches Handeln, das jedoch gegebenenfalls hinter der Bedeutung des Artenschutzes zurückzustehen hat.“86 Im konkreten Fall sah das Gericht den rechtfertigenden Grund als gegeben an: „Unter Ausnutzung einer Konversionsfläche verfolgt die Plangeberin das Ziel, zeitnah für kleinere und mittlere Handwerksbetriebe in städtischer Lage zu erschwinglichem Preis angemessene Betriebsgrundstücke zur Verfügung zu stellen. Damit soll eine Entlastung immissionsintensiver städtischer Gemengelagen bewirkt und eine (schon feststellbare) Abwanderung von Gewerbebetrieben ins Umland verhindert werden. ( . . . ) Nach solchen Gewerbegrundstücken besteht auch eine stabile Nachfrage . . .“.87 In ihrem Leitlinienpapier vertritt die EU-Kommission die Auffassung, dass das öffentliche Interesse an der Bebauung nur dann überwiegend sein kann, „wenn es ein langfristiges Interesse ist: kurzfristige Interessen, die nur kurzfristige Vorteile bringen, wären demnach nicht hinreichend, um schwerer zu wiegen als die langfristigen Interessen des Artenschutzes“.88 Mit Blick auf die Bauleitplanung bzw. die Baugenehmigungserteilung wird man vor diesem Hintergrund insbesondere Projekte kritisch zu hinterfragen haben, die von vorn herein nur für eine bestimmte Zeitphase bestimmt sind und für die das Institut des sog. „Baurechts auf Zeit“ entwickelt worden ist. Das BVerwG hatte in seinem Urteil zum Flughafen Berlin-Schönefeld vom 16. 3. 2006 Anleihen beim Enteignungsrecht genommen: „Die Belange, die sich für seine Verwirklichung (Errichtung und Betrieb des Flughafens; WK) anführen lassen, wiegen so schwer, dass sie ( . . . ) das Gemeinwohlerfordernis des Art. 14 III 1 GG erfüllen ( . . . ). Zeichnen sie sich durch Qualifikationsmerkmale aus, die den strengen Anforderungen des Enteignungsrechts genügen, so rechtfertigen sie es auch als zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses i.S. des Art. 16 I lit. c FFH-RL, von den Verboten des § 42 I BNatSchG Befreiung zu gewähren.“89 Wendet man dieses Kriterium auf die Bauleitplanung an, könnten als „zwingend“ nur solche Planungen anerkannt werden, deren Realisierung so wichtig ist, dass das Wohl der Allgemeinheit eine Enteignung zu Gunsten der Gemeinde 84 Siehe dazu auch Louis, NuR 1995, 62, 69, der diese Anforderung schon an das Tatbestandsmerkmal des Erfordernisses der überwiegenden Gründe des Gemeinwohls knüpft. 85 An einem zeitnahem Volllaufen überplanter Flächen muss der planenden Gemeinde schon deshalb gelegen sein, weil sie letztlich das Risiko natürlicher Sukzession zu tragen hat. Ein Baugebiet, für das keine unmittelbare Nachfrage besteht und brachliegt, kann auch nachträglich noch an artenschutzrechtlichen Erfordernissen scheitern. 86 OVG Koblenz, Urt. v. 13. 2. 2008, NVwZ-RR 2008, 514, 518 – Handwerkerpark. 87 OVG Koblenz, ebenda. 88 Leitfaden (Fn. 31), Abschnitt III.2.1, Rn. 24. 89 BVerwGE 125, 116, Rn. 566.
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ermöglicht (§ 37 Abs 1 und Abs. 3 S. 1 BauGB). In der begleitenden Literatur ist allerdings bereits zutreffend darauf hingewiesen worden, dass die Aussage des BVerwG nicht mehr als eine ,Faustformel‘ ist,90 bruchlos auf die Bauleitplanung übertragen lässt sie sich nicht. III. Auswirkungen auf die Bauleitplanung 1. Keine unmittelbare Geltung der artenschutzrechtlichen Verbote91 In Rechtsprechung und Literatur besteht Einvernehmen, dass die artenschutzrechtlichen Verbote nicht unmittelbar für die planenden Gemeinden gelten, weil diese mit ihrer Planung lediglich ein Angebot für künftige Flächennutzungsmöglichkeiten unterbreiten, nicht aber schon konkrete Beeinträchtigungen oder Zerstörungen für die geschützten Arten gestatten92. Daraus folgt allerdings nicht die Unbeachtlichkeit des Artenschutzrechts im Vorgang der Bauleitplanung, weil die artenschutzrechtlichen Vorgaben über den Grundsatz der Plannichtigkeit bei dauerhaft ausgeschlossener Planverwirklichung, der aus § 1 Abs. 3 BauGB abgeleitet wird, mittelbar auf die Bauleitplanung einwirken:93 Eine Bauleitplanung verstößt gegen das Gebot der Erforderlichkeit der Bauleitplanung, wenn sich die entgegenstehenden naturschutzrechtlichen Bestimmungen als dauerhaft rechtliches Hindernis für die Verwirklichung des Planes erweisen94. Soweit allerdings die Voraussetzungen für eine Ausnahme oder für eine Befreiung gegeben sind und damit eine sog. „objektive Befreiungslage“ besteht, liegt ein Fall von dauerhaft ausgeschlossener Planverwirklichung nicht vor. Auf die tatsächliche Erteilung einer Ausnahme oder Befreiung kommt es nicht an; diese ist erst für das konkrete Bauvorhaben notwendig, nicht schon für den vorbereitenden Plan.95
Philipp, NVwZ 2008, 597. Siehe zu den nachstehenden Ausführungen auch Köck, ZUR 2006, 518 ff. 92 Siehe nur Gellermann, NuR 2003, 385, 390; Schrödter, in: Schrödter (Fn. 6), zu § 1a, Rn. 143 ff.; Vogt, ZUR 2006, 21, 26; Pauli, BauR 2008, 759 f. 93 Siehe aus der Rechtsprechung nur VGH Kassel, Urt. v. 21. 12. 2000, NuR 2001, 702, 704; VGH Mannheim, Urt. v. 15. 12. 2003, BauR 2004, 717. 94 Vgl. BVerwG, Beschl. v. 25. 8. 1997, NuR 1998, 136; OVG Koblenz, Urt. v. 13. 2. 2008, NvwZ-RR 2008, 514, 515 – Handwerkerpark. Siehe zum Grundsatz der Plannichtigkeit bei dauerhaft ausgeschlossener Planverwirklichung auch Ziekow, VerwArch 97 (2006), 115, 133 ff.; Kube, NVwZ 2005, 515 ff. 95 OVG Koblenz, NVwZ-RR 2008, 515 f. 90 91
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2. Artenschutzbezogene Ermittlungspflichten bei der Bauleitplanung Eine Bauleitplanung ist nur dann erforderlich und damit zulässig, wenn der Planrealisierung dauerhaft keine artenschutzrechtlichen Bestimmungen entgegenstehen. Die voraussichtlichen Folgen der Planrealisierung für die Umwelt sind im Vorgang der Planung nach Maßgabe des Abwägungsgebotes und nach Maßgabe verfahrensmäßiger Vorschriften abzuschätzen. Ermittlungspflichten ergeben sich insbesondere aus der rechtlichen Anerkennung der Belange von Natur und Landschaft (Auswirkungen auf Tiere und Pflanzen – § 1 Abs. 6 Nr. 7 lit a BauGB), der Pflicht zur planerischen Verarbeitung der Eingriffsfolgen für Natur und Landschaft (§ 1a Abs. 3 BauGB)96 sowie aus der Pflicht zur Durchführung einer Umweltprüfung (§ 2 Abs. 4 BauGB). Die auf der Grundlage dieser Pflichten zu generierenden Informationen, verschaffen der planenden Gemeinde ein Grundwissen über die voraussichtlichen Folgen der Planrealisierung für Natur und Landschaft, die sie jedenfalls in die Lage versetzt, mögliche artenschutzrechtliche Konflikte zu erkennen und auf der Grundlage dieser Kenntnis ggf. weitere spezifische Ermittlungen zur Aufklärung der artenschutzrechtlichen Betroffenheit vorzunehmen.97 Das BVerwG hat in mehreren Entscheidungen, die Planfeststellungen betreffen, deutlich gemacht, dass die Untersuchungstiefe maßgeblich von den naturräumlichen Gegebenheiten im Einzelfall abhängt. „Lassen bestimmte Vegetationsstrukturen sichere Rückschlüsse auf die faunistische Ausstattung zu, so kann es mit der gezielten Erhebung der insoweit maßgeblichen repräsentativen Daten sein Bewenden haben“.98 Und an anderer Stelle heißt es: „Untersuchungen quasi ,ins Blaue hinein‘ sind nicht veranlasst. Der individuumsbezogene Ansatz der artenschutzrechtlichen Vorschriften verlangt aber andererseits Ermittlungen, deren Ergebnisse die Planfeststellungsbehörde in die Lage versetzen, die tatbestandlichen Voraussetzungen der Verbotstatbestände zu überprüfen.“99 Diese Erwägungen sind trotz der nur mittelbaren Bedeutung des Artenschutzrechts für die Bauleitplanung auch auf Bauleitplanungsverfahren übertragbar. 3. Vermeidung artenschutzrechtlicher Konflikte – zur Bedeutung der örtlichen Landschaftsplanung und vorgezogener funktionserhaltender Maßnahmen (CEF-Measures) Im Abschnitt II.4.3 dieses Beitrages ist auf die Bedeutung funktionserhaltender Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Lebensstättenschutz (§ 42 Abs. 1 Nr. 3 BNatSchG) hingewiesen worden. Diese Hinweise haben einerseits deutlich ge96 Siehe zu den diesbezüglichen Ermittlungspflichten des Plangebers: BVerwG DVBl. 2001, 386, 391. 97 Siehe dazu näher VGH Kassel, Urt. v. 25. 2. 2004, NVwZ-RR 2004, 732, 734. 98 Vgl. BVerwG, Beschl. v. 13. 3. 2008, NuR 2008, 495, 499, Rn. 33 – Autobahn A 4. 99 BVerwG, Beschl. v.13. 3. 2008, ebenda.
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macht, dass der Einsatzbereich von Ausgleichsmaßnahmen zur Vermeidung der Erfüllung des Verbotstatbestandes zum Lebensstättenschutz nur schmal ist. Andererseits aber sind dadurch insbesondere für die Bauleitplanung Wege aufgezeigt worden, die es einer vorausschauend planenden Gemeinde ermöglicht, ihre planerischen Instrumente so einzusetzen, dass Konflikte mit dem Artenschutzrecht gar nicht erst entstehen. Schon auf der Ebene der Flächennutzungsplanung sind die voraussichtlichen Konflikte mit dem Artenschutz zu verarbeiten (§ 1a Abs. 3 BauGB).100 Eine funktionierende Landschaftsplanung auf örtlicher Ebene kann helfen, schon auf dieser großmaßstäblichen Ebene der örtlichen Bauleitplanung sensible Flächen aus der künftigen lokalen Siedlungs- und Verkehrsplanung herauszufiltern bzw. bei unvermeidbaren Konfliktlagen kompensierende Räume zu identifizieren und zu sichern (§ 5 Abs. 2a BauGB) sowie vorgezogene Ausgleichsmaßnahmen vorzusehen. Die in vielen Kommunen eingerichteten Institutionen zur Flächen- und Maßnahmenbevorratung für den Ausgleich von Eingriffen in Natur und Landschaft („Flächenund Maßnahmenpools“) müssen allerdings auf die spezifischen Bedingungen des Artenschutzes eingestellt werden. Nur dann werden diese Einrichtungen genutzt werden können, um kommunale Handlungsoptionen auch angesichts der Herausforderungen des Artenschutzes so weit wie möglich zu wahren. Den planenden Gemeinden ist sehr zu raten, sich nicht erst auf der Ebene der verbindlichen Bauleitplanung, sprich: der kleinmaßstäblichen Ebene der Bebauungsplanung, möglichen Konflikten mit dem Artenschutz anzunehmen, sondern die an sich im Gesetzesmodell angedachten, aber in der Praxis kaum beachteten,101 strategischen Dimensionen einer auf den gesamten Gemeindebereich bezogenen Flächennutzungsplanung zu nutzen, um proaktiv die Artenschutzaspekte zu verarbeiten. 4. Bewältigung der Artenschutzproblematik auf der Ebene der Baugenehmigungsentscheidung Artenschutzrechtliche Erfordernisse stehen einer Bauleitplanung auch dann nicht entgegen, wenn diesen Erfordernissen durch planerische Festlegungen zur Bauweise (§ 9 Abs. 1 Nr. 2 BauGB), bzw. auf der Ebene der Eröffnungskontrolle konkreter Vorhaben durch hierauf bezogene Auflagen Rechnung getragen werden kann102. Letzteres ist etwa dann der Fall, wenn das Artenschutzrecht eine Bebauung nicht dauerhaft hindert, sondern lediglich temporäre Anforderungen im Hinblick auf die Durchführung eines Bauvorhabens stellt, denen durch konkrete Nebenbestimmungen in der Baugenehmigung entsprochen werden kann (z. B. Verbot der Durchführung von Bauarbeiten in der Brutzeit)103. Insbesondere den TötungsVgl. dazu auch Louis, NuR 2008, 65, 67. Dazu näher Köck, Pläne, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Vosskuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band II, § 37, Rn. 74. 102 Siehe dazu grundsätzlich Zieckow, VerwArch 97 (2006), 115, 133. 100 101
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und Störungsverboten der §§ 42 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 BNatSchG dürfte i.d.R. schon über zeitliche Steuerungen der Vorhabensdurchführung Rechnung getragen werden können104. Größere Probleme bereitet demgegenüber das Verbot der Beeinträchtigung der Lebensstätten, weil dieser Schutz unabhängig davon besteht, ob die geschützten Tiere gerade anwesend sind (siehe oben II.4.c). Soweit es nicht positive Kenntnisse darüber gibt, dass einzelne geschützte Arten ihre Lebensstätten regelmäßig wechseln, oder dass eine Lebensstätte dauerhaft aufgegeben worden ist, bzw. nur Teile der Lebensstätte betroffen sind und Ausweichquartiere (ggf. auch durch CEF-Measures) in genügender Zahl verbleiben (siehe oben II.4.c), steht einer Bebauungsplanung, deren Verwirklichung zu einer Beeinträchtigung geschützter Lebensstätten führt, das artenschutzrechtliche Verbot des § 42 Abs. 1 Nr. 3 BNatSchG entgegen. In diesem Falle hängen die Rechtmäßigkeit und damit auch die Geltung des Bauleitplanes davon ab, ob die Voraussetzungen für eine Ausnahme bzw. eine Befreiung („objektive Befreiungslage“) gegeben ist. 5. Beweisanforderungen an das Vorliegen einer Befreiungslage Eine Befreiungslage ist gegeben, wenn aufgrund der Sachverhaltsermittlungen mit hinreichender Sicherheit prognostiziert werden kann, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen der Ausnahme gem. § 43 Abs. 8 BNatSchG vorliegen (siehe oben II.5.). Mit Blick auf das Kriterium des Erhaltungszustandes beinhaltet dies, dass fortbestehende vernünftige Zweifel daran, dass Verschlechterungen des Erhaltungszustandes der Population einer Art nicht eintreten werden, bzw. dass das zur Erhaltung der Population einer Art entwickelte und umgesetzte Ausgleichskonzept greifen wird, zu Lasten des Bauleitplanes geht.105 Die nötige Sicherheit kann die planende Gemeinde dadurch erlangen, dass sie die Erfolge ihrer vorgezogenen Ausgleichsmaßnahmen beobachtet und vorsorglich Korrekturmaßnahmen festlegt, für den Fall, dass das Monitoring einen Fehlschlag der bisherigen Prognose anzeigt.106 IV. Fazit Der europarechtliche Artenschutz hat die Anforderungen an die Infrastrukturund Bauleitplanung deutlich verschärft. Der nationale Gesetzgeber hat in seiner Reaktion auf das Urteil des EuGH vom 10. 1. 2006 sein Rechtsprogramm auf die Vgl. dazu etwa Louis / Wolf, NuR 2002, 455; Vogt, ZUR 2006, 21, 27. Siehe auch Schrödter, in: Schrödter, BauGB-Kommentar, 7. Aufl. 2006, zu § 1a, Rn. 148. 105 Vgl. BVerwG, Urt. v. 17. 1. 2007, BVerwGE 128, 1, Rn. 56 – Westumfahrung Halle. 106 BVerwG, Urt. v. 17. 1. 2007, BVerwGE 128, 1, Rn. 55 – Westumfahrung Halle. 103 104
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Erfordernisse des europäischen Rechts eingestellt, dabei aber die durch Rechtsprechung, Literatur und insbesondere Kommissionsauffassung identifizierten Spielräume genutzt, um sozioökonomische Optionen so weit wie möglich zu wahren. Klarheit besteht nun darüber, dass künftig mehr für den Natur- und Artenschutz getan werden muss. Das ist der Preis, den eine Gesellschaft zu zahlen hat, die über viele Jahrzehnte den Natur- und Landschaftsschutz hintan gestellt hat. Die Knappheit von Natur und Arten sorgt nun dafür, dass Entwicklung zumindest am status quo des gegenwärtigen Erhaltungszustandes rückgebunden bleibt und dass durch die Realisierung von Plänen und Projekten die Erreichung eines günstigen Erhaltungszustandes nicht verhindert werden darf. Der günstige Erhaltungszustand, auf den es hinzuarbeiten gilt, wird allerdings nicht nur durch plan- und projektbezogene, am Verursacherprinzip orientierte, Ausgleichsmaßnahmen erzielt werden können. Hierfür bedarf es nationaler und europäischer Programme. Die Lösungen, die insbesondere durch die Rechtsprechung entwickelt worden sind, zeigen, die gewachsene Sensibilität für die Bedürfnisse von Natur und Landschaft, aber auch die Bereitschaft, sich zwingenden Projekten und Plänen nicht zu versperren. Die Hürden dafür sind anspruchsvoll, aber nicht unüberwindbar. Für Schwarzmalerei 107 besteht also kein Anlass. Insbesondere durch die Anforderungen an die Prognosesicherheit und durch die Verpflichtung zur Beobachtung und zur Erfolgskontrolle der arterhaltenden Maßnahmen (siehe oben III.5.) sind wichtige Weichenstellungen dafür getroffen, dass das neue – europäisch geprägte – Ausgleichskonzept nicht das Schicksal der tradierten Eingriffsregelung erleidet, deren weitgehende Erfolglosigkeit durch die stetige Verschlechterung des Erhaltungszustandes der Arten ausreichend indiziert ist. Ihre Funktion als sog. „weiches Verschlechterungsverbot“108 hat die tradierte Eingriffsregelung jedenfalls bisher nicht einlösen können. Wohl auch deshalb verfolgt die Bundesregierung in ihrem Kabinettsentwurf zur Neuregelung des BNatSchG nun den Weg, die Eingriffsregelung stärker für die Flächen- und Maßnahmenbevorratung zu öffnen (§ 16 BNatSchG-E), wie es auf Bundesebene bisher nur im Bereich der Bauleitplanung der Fall war.109 Gerade die Ablösung bestandserhaltender bzw. -entwickelnder Maßnahmen vom konkreten Eingriff, den die Flächen- und Maßnahmenbevorratung eröffnet, ist geeignet, gemeindliche Planungsoptionen vorausschauend zu wahren. Diese Möglichkeiten sollten proaktiv schon auf der Ebene der Flächennutzungsplanung genutzt werden (siehe oben III.3.).
107 Siehe dazu den zur Streitschrift geratenen Beitrag von Vallendar, in: EurUP 2007, 275 ff. 108 Vgl. Rehbinder, Ziele, Grundsätze, Strategien und Instrumente, in: Salzwedel u. a., Grundzüge des Umweltrechts (1997), Rn. 44. 109 Dazu näher Köck, NuR 2004, 1 ff.; ders., in: Köck / Thum / Wolf, Praxis und Perspektiven der Eingriffsregelung, 2005, 9 ff.
Polizeirecht als Risikozuordnungsrecht Überlegungen zur Funktion des polizeirechtlichen Haftungsregimes, dargestellt an Fällen der Zustandsverantwortlichkeit Von Stefan Haack
I. Polizeirechtliche Haftungsregeln als Risikozuordnungsrecht in den Fällen der Zustandsverantwortlichkeit Von einer Zustandsstörerhaftung im Polizeirecht wird gesprochen, wenn der Eigentümer oder der Besitzer einer Sache bei Gefahren, die sich unmittelbar aus dem Zustand der Sache ergeben, zur Abwehr eben dieser Gefahren polizeirechtlich verpflichtet werden kann. Grundlage der Zustandsverantwortlichkeit im sächsischen Polizeirecht bildet dabei § 5 SächsPolG. Zurückzuführen ist sie im wesentlichen auf zwei Gedanken1: nämlich einerseits darauf, dass es in aller Regel der Eigentümer oder der Sachherrschaftsinhaber sein wird, der vor allen anderen auf die gefährliche Sache einwirken kann, und andererseits darauf, dass derjenige, der ein Objekt für sich nutzt, grundsätzlich auch die Nachteile hinnehmen muss (und somit auch jene Gefahren zu verantworten hat), die mit dieser Sache verknüpft sind. Der zuerst genannte Haftungsgrund entspringt letztendlich dem Ziel, die Gefahr effektiv zu bekämpfen: je leichter auf eine Sache eingewirkt werden kann, desto besser muss es gelingen, jene Gefahr zu beenden, welche durch deren Beschaffenheit ausgelöst wird. Theoretisch interessanter ist jedoch der zweite Anknüpfungspunkt: der Zusammenhang von Nutzungsmöglichkeit und Risikohaftung, der sich bei genauerer Betrachtung aus einem rechtlichen Zuordnungsverhältnis, nämlich aus dem Zugeordnetsein von Sachen zu Menschen durch das Rechtsinstitut des Privateigentums, herleiten lässt. Mit dieser Beziehung von Menschen und Sachen verbindet das polizeirechtliche Haftungsregime ein weiteres, auf die Gefahrenbeseitigung sich beziehendes Zuordnungsverhältnis: die Zuordnung nämlich von Risiken zum einzelnen oder zur Allgemeinheit. § 5 SächsPolG verdeutlicht insofern in ganz besonderer Klarheit einen grundlegenden Wesenszug jedweden polizeirechtlichen Haftungsregimes, der möglicherweise als ein zentraler Wesenszug der öffentlich-rechtlichen Ordnung überhaupt aufgefasst werden muss: Haftungsregeln im Polizeirecht bilden, indem sie eine effektive Gefahrenabwehr 1 Dazu BVerfGE 102, 1, 17 f. und F. Schoch, in: Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 13. Auflage, 2. Kapitel Rn. 144.
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ermöglichen sollen, ein Risikozuordnungs- und Risikoverteilungsprogramm, das abgrenzen muss, welchen Fall der Gefährdung die Allgemeinheit zu dulden oder aus sich heraus zu bewältigen hat – und für welchen Fall der Gefährdung der Einzelne einsteht.2 Gefahren für die Allgemeinheit abzuwehren, gehört zu den zentralen Aufgaben des Staates; die Festlegung jedoch, welche Risiken und welche Verantwortung hierbei der einzelne trägt, ergibt sich daraus nicht automatisch – die Verantwortlichkeit muss abgegrenzt und die Risikolast muss aufgeteilt werden; gerade hierin liegt jedoch die Funktion des polizeirechtlichen Haftungsregimes. Sichtbar wird an diesem Punkt auch, dass Zuordnung (als ein Mixtum aus Norm, Entscheidung und Ordnung) das spezifische Wesen des Rechts ist, indem es Verantwortlichkeiten verteilt (hiermit ist es Entscheidung) und dadurch zugleich Menschen zu Menschen und Menschen zu Dingen in bestimmte Zuordnungsverhältnisse stellt, die als die Bestandteile eines verbindlichen Regelungsganzen und damit zugleich als konkrete Gebote erkannt, begriffen, befolgt, verletzt und durchgesetzt werden können (hiermit ist das Recht Norm) – um in der Summe des ganzen die öffentlich-rechtliche Ordnung des Staates entstehen zu lassen (hiermit bezieht sich das Recht auf die Ordnung). Dies zugrunde gelegt, sollen die folgenden Abschnitte zeigen, wie eine Deutung der Vorschriften über die Zustandsverantwortlichkeit als Risikozuordnungsprogramm dazu beitragen kann, eines der zentralen Probleme in der Dogmatik und in der Praxis des Polizeirechts zu lösen. Gemeint ist damit die Frage nach den Grenzen der Zustandsstörerverantwortlichkeit in jenen Situationen, in denen es, obwohl die Eingriffsvoraussetzungen erfüllt sind, unbillig erscheint, den Zustandsstörer in Anspruch zu nehmen.3 Zu denken ist dabei zuallererst an die bekannte Konstellation des kontaminierten und gesundheitsgefährdenden Grundstücks, die auch in Leipzig, durch industrielle Altlasten der DDR-Zeit und durch die militärische Nutzung einzelner Geländeausschnitte, anzutreffen gewesen ist.4 Zu denken ist weiterhin an jene Fälle, in denen eine Naturkatastrophe (wie beispielsweise eine FlussÜberschwemmung) Grundstücke in gesundheitsgefährdender Weise verschmutzt 2 Zum Gedanken der Risikoverteilung im Gefahrenabwehrrecht siehe E. Denninger, in: Lisken / Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 4. Auflage, E 119; C. Gusy, Polizeirecht, 6. Auflage, Rnrn. 327 ff.; zum „Risiko“ als Gegenstand öffentlich-rechtlicher Normen im allgemeinen s. M. Böhm, NVwZ 2005, 609; M. Brenner / A. Nehrig, DÖV 2003, 1024; U. Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, passim und U. Volkmann, JZ 2004, 696. 3 Siehe dazu (mit zahlreichen weiterführenden Nachweisen) E. Denninger, in: Lisken / Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 4. Auflage, E 115 ff.; C. Gusy, Polizeirecht, 6. Auflage, Rnrn. 356 ff.; D. Kugelmann, Polizei- und Ordnungsrecht, S. 270 f.; W.-R. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 5. Auflage, Rnrn. 271 ff.; W.-R. Schenke / R. P. Schenke, in: Steiner (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 8. Auflage, II Rnrn. 173 ff.; F. Schoch, in: Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 13. Auflage, 2. Kapitel Rnrn. 148 ff.; T. Würtenberger, in: Achterberg / Püttner / Würtenberger (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Bd. II, 2. Auflage, § 21 Rnrn. 204 f. 4 Auf § 4 BBodSchG, der diese Fälle nunmehr erfasst, lassen sich die folgenden Erwägungen sinngemäß übertragen.
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hat (das Elbe-Hochwasser des Jahres 2002 hat auch im Leipziger Raum zu entsprechenden Schäden geführt). Zu denken ist schließlich ebenso an den Fund von Fliegerbomben und sonstigen Kriegsgerätschaften, die fachgerecht entschärft und entsorgt werden müssen – auch mit Fällen dieser Art war die Polizei in Leipzig beschäftigt, als die Innenstadt in den zurückliegenden Jahren neu bebaut worden ist. Unangemessen könnte eine unbegrenzte polizeiliche Inanspruchnahme des Zustandsverantwortlichen in den beschriebenen Situationen erscheinen, weil dieser selbst in seinem Eigentum durch nicht zu beeinflussende Kräfte – durch ein Unglück, durch einen Krieg oder durch die Gewalt der Natur – verletzt worden ist und sich daher selbst in einer Art Opferrolle befindet. Das Kostenrisiko, das dem Zustandsverantwortlichen droht, ist dabei in den meisten Fällen sehr hoch und mitunter unkalkulierbar – den Wert seines Grundstücks können die entsprechenden Sanierungskosten leicht übersteigen. Möglichkeiten, dem vorzubeugen, bestehen allenfalls in engen Grenzen. Von der Dogmatik des Polizeirechts her gesehen, liegt die Versuchung sehr nahe, diesen Einwand als irrelevant abzutun – das Opfer zu sein, ist, polizeirechtlich betrachtet, kein Grund für einen Wegfall der Verantwortlichkeit. Verschuldensfragen sind im Tatbestand des § 5 SächsPolG nicht zu prüfen; wer wofür etwas kann, ist im Rahmen der Eingriffsvoraussetzungen irrelevant. Subjektive Elemente blendet der Gesetzgeber des Polizeirechts ganz bewusst aus, dessen Regelungen vom Prinzip der effektiven Gefahrenabwehr geprägt sind. Es sind jedoch die Grundrechte, die eine solche unbegrenzte und ungebremste Inanspruchnahme des Zustandsstörers verhindern: unter der Geltung des Grundgesetzes sind sie es (und ist es damit zuallererst Art. 14 GG), die eine qualitativ und quantitativ schrankenlose Risikoübertragung auf die Privatperson untersagen. Nutzen und Risiko des Eigentums an einer Sache können danach vom Gesetzgeber nur insoweit miteinander zwangsverbunden werden, wie dies dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entspricht. Um festzustellen, welche Möglichkeiten einer Haftungsbeschränkung zugunsten der Betroffenen existieren, ist es unerlässlich, jene Normen und Begriffe zu analysieren, die über die Abgrenzung der Zustandsverantwortlichkeit, und damit auch über deren inhaltliche Weite, entscheiden. Gerade in diesem Punkt muss es hilfreich erscheinen, polizeirechtliche Haftungsregeln als ein Programm der Risikozuordnung zu konzipieren.
II. Risikozuordnung im Zusammenspiel von Primär- und Sekundärebene In rechtsdogmatischer Hinsicht zu überprüfen ist dabei die Frage, auf welcher Regelungsebene des Polizeirechts angesetzt werden muss, um eine mögliche Unbilligkeit zu beheben – nämlich bereits auf der sogenannten Primärebene, wo die Rechtmäßigkeit des polizeilichen Einschreitens gegen einen Zustandsverantwortlichen zu beurteilen ist, oder erst auf der Sekundärebene, wo es darum geht, die
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Kosten des polizeilichen Handelns dem Störer aufzuerlegen? Beide Regelungsebenen werden von verschiedenen Grundanliegen geprägt: während die Eingriffsermächtigung auf Primärebene der Polizei ein effektives Einschreiten gegen Gefahren ermöglichen muss, gilt für die Kostenentscheidung der Grundsatz, dass Lasten gerecht verteilt werden sollten – womit zugleich festgelegt wird, wann und wofür der öffentliche Haushalt (und damit letztendlich: der Steuern zahlende Bürger) aufkommen darf. Anders ausgedrückt: während auf der Primärebene das Risiko, das verteilt werden soll, in der Pflicht zur Bewältigung der Gefahr selbst liegt, besteht das Risiko, das auf der Sekundärebene verteilt werden soll, in der finanziellen Belastung. Das Regelungsziel des § 5 SächsPolG lässt sich folglich dahingehend beschreiben, die Verantwortung für die Gefahrenbekämpfung ganz oder zum Teil auf den Eigentümer oder auf den Besitzer der gefährlichen Sache zu übertragen. Entlastungen von einer solchen Verantwortlichkeit stehen damit immer in einem Spannungsverhältnis zum Grundsatz der effektiven Gefahrenbekämpfung, der sehr oft ein schnelles Eingreifen erfordert. Vor diesem Hintergrund erscheint es naheliegend, Beschränkungen der Zustandsverantwortlichkeit auf der Sekundärebene zu verankern. Hier jedoch ergibt sich das Problem, dass eine solche Beschränkung der Zustandsverantwortlichkeit im Rahmen der Kostenverteilung de lege lata unmöglich ist – vom Gesetzgeber wurde die Zuordnung des Sekundärrisikos (des Risikos, die Kosten tragen zu müssen) mit der Zuordnung des Primärrisikos (der Verantwortlichkeit, die Gefahr abzuwehren) verbunden. Derjenige, dem durch die Polizeiverfügung selbst (also auf Primärebene) ein bestimmtes Handeln abverlangt wird (das Hochwassertreibgut vom Grundstück zu schaffen, das verseuchte Erdreich abzutragen usw.), muss dies selbstverständlich auf eigene Kosten vollbringen und wird auch nur selten Regress nehmen können. Kann er oder will er diese Pflicht nicht erfüllen, so muss die Polizei das Nötige selbst tun – sprich: die Verfügung durch Ersatzvornahme gemäß § 24 SächsVwVG vollstrecken. Deren Kosten hat der Adressat der Ursprungsverfügung, hier also der Zustandsstörer, zu übernehmen. Diese Konsequenz wiederum ist nach dem Gesetzeswortlaut des § 24 SächsVwVG nicht zu umgehen, so dass für eine Beschränkung der Zustandsverantwortlichkeit im Rahmen der Kostenentscheidung kein Raum bleibt. III. Begrenzungen der Zustandsstörerhaftung unter dem Gesichtspunkt der Risikoverteilung bei der Tatbestandsexegese Eine erste Möglichkeit, die Zustandsstörerhaftung auf dogmatisch stimmige Art zu begrenzen und hierfür den Gedanken der Risikozuordnung fruchtbar zu machen, ergibt sich möglicherweise aus einer sachlich angemessenen Einschränkung des Gefahrenbegriffs. „Gefahr“ als der zentrale Anknüpfungspunkt der polizeirechtlichen Verantwortlichkeit wird herkömmlicherweise als ein Zustand definiert, der nach allgemeiner Lebenserfahrung in näherer Zeit bei ungehindertem Ablauf des zu erwartenden Geschehens den Eintritt eines Schadens für ein Schutzgut der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung erwarten lässt5. Begrenzen lässt sich eine
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Zustandsverantwortlichkeit zunächst einmal, indem man die rechtlich relevanten Gefahrenschwellen kritisch betrachtet: die Frage, wann im konkreten Fall eine Gefahr bejaht werden muss, ist, wie herauszuarbeiten bleibt, ein Risikozuordnungsakt, der als solcher wertungsabhängig ist und dessen Charakter bewusst gemacht werden muss. So sind im Hinblick auf den Zustand einer Sache ohne weiteres Fallgestaltungen denkbar, die als solche die Gefahrenschwelle nicht überschreiten, die jedoch in eine akute Gefahrensituation umschlagen können, wenn ein weiterer Umstand hinzukommt. Erinnert sei hierzu an die bekannten Felsgrundstück-Fälle6 – an jene Fälle nämlich, in denen sich auf dem Grundstück des einen eine steile Felswand befindet, von der aus brüchiges Gestein auf das Grundstück eines anderen hinunterzustürzen droht, wo sich Personen aufhalten und Wertgegenstände befinden. Dem Eigentümer der Felswand ist ein solches Risiko über die Zustandsverantwortlichkeit erst in jenem Moment zuzuordnen, in dem es einen ganz konkreten Anhaltspunkt dafür gibt, dass ein solcher Absturz bevorsteht: das gewöhnliche Risiko eines Steinschlags, wie es bei Felswänden besteht, ist als Naturphänomen ein Risiko der Allgemeinheit, die sich mit der natürlichen Beschaffenheit ihres Lebensraums einrichten muss. Die Rechtsfigur der „latenten Gefahr“7, auf welche die ältere Rechtsprechung in einem etwas anderen Kontext abgestellt hat, ist zumindest in diesen Zusammenhängen entbehrlich und trägt dazu bei, die Zustandsverantwortlichkeit zu entgrenzen. Gegen die konturenlose Ausdehnung der Zustandsverantwortlichkeit in diesen und ähnlichen Situationen spricht es nicht zuletzt auch, dass mit dem Recht zum sogenannten Gefahrerforschungseingriff in den Fällen des Gefahrenverdachts ein wirksames Mittel zur Gefahrenbekämpfung besteht. Eine weitere Fallkonstellation, in der ein Verständnis des polizeirechtlichen Haftungsregimes als Risikozuordnungsrecht hilfreich sein kann, betrifft die Rechtspflicht zur Missbrauchsvorbeugung.8 Inwieweit darf dem Besitzer einer Sache, die von Fremden zu kriminellen Zwecken missbraucht werden kann, polizeirechtlich auferlegt werden, präventive Gegenmaßnahmen zu treffen? Zu denken ist dabei zum Beispiel an die Verpflichtung eines Kernkraftwerkbetreibers, einen bewaffneten Werkschutz zu engagieren, oder auch an die Verpflichtung von Fluggesellschaften, auf ihren Flügen Skymarshalls einzusetzen (wenn man in beiden Fällen von spezialgesetzlichen Ermächtigungsgrundlagen und Rechtspflichten zunächst einmal absieht). Inwiefern geht auch in einer solchen Situation die Gefahr vom Zustand der Sache selbst aus (so dass ihr Eigentümer für Schutzmaßnahmen verStatt vieler D. Kugelmann, Polizei- und Ordnungsrecht, S. 151. Dazu V. Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 14. Auflage, § 9 Rnrn. 73 f. mit umfassenden Rechtsprechungsnachweisen. 7 Dazu F. Schoch, in: Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 13. Auflage, 2. Kapitel Rnrn. 156 f. 8 Dazu E. Denninger, in: Lisken / Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 4. Auflage, E 109; B. Pieroth / B. Schlink / M. Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, 5. Auflage, § 9 Rnrn. 47 f. 5 6
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antwortlich gemacht werden kann)? Wiederum handelt es sich um Abgrenzungsfragen innerhalb des Gefahrenbegriffs im Kontext der Zustandsverantwortlichkeit – diesmal im Hinblick auf ein Hinzutreten von rechtswidrig handelnden Fremden. Die Art und Weise der Verwirklichung einer Gefahr, um die es in den Missbrauchskonstellationen geht, entspricht dabei nicht der Gefährlichkeit der Sache selbst (auch dort, wo eine solche wie beim Kernkraftwerk existiert, ist sie eine andere Gefahr), sondern ergibt sich aus den kriminellen Handlungen Fremder. Wenn man das Verhältnis von Besitzern und Sacheigentümern zur Allgemeinheit im Blick hat, innerhalb dessen § 5 SächsPolG Risiken und Verantwortung zuordnen will, entstammt die Missbrauchsgefahr in erster Linie der Sphäre der Allgemeinheit9, die Terroristen hervorbringt – und die es daher grundsätzlich selbst zu verantworten hat, wie Taten dieser Art vorgebeugt werden soll. Anordnungen an den Privaten, bestimmte Einrichtungen wie Flugzeuge oder Kernreaktoren gegen einen Missbrauch als Massenvernichtungswaffen zu schützen, können sich daher nur aus expliziten gesetzlichen Regeln10, nicht jedoch aus der allgemeinen Haftung des Zustandsstörers ergeben.11 Eine weitere Gruppe von Fällen, in denen die Zustandsverantwortlichkeit schon auf Tatbestandsebene eingegrenzt werden kann, betrifft jene Konstellationen, in denen ein Privater die gefährliche Sache mit Genehmigung einer Behörde betreibt.12 Ob Genehmigungen zum Anlagenbetrieb auch die Folgen dieses Betriebs legalisieren, und inwieweit dies wiederum die Zustandsverantwortlichkeit ausschließt, wird schon seit langem kontrovers diskutiert – wobei die Meinungsverschiedenheiten anfangs grundsätzliche Fragen, inzwischen jedoch nur mehr Detailfragen betreffen. Der Ansatz, § 5 SächsPolG als Bestandteil eines Risikoverteilungsprogramms zu interpretieren, lässt sich auch hieran erklären und zur Auflösung nutzen. Weitestgehend unstreitig ist es inzwischen, dass die bloße behördliche Duldung eines bestimmten Anlagenbetriebs dessen praktische Folgen nicht legalisiert (doch kann sie im Rahmen der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen sein).13 Weiterhin anerkannt ist es, dass die Frage nach einem möglichen Ausschluss der Zustandsverantwortlichkeit zuallererst vom Inhalt der Genehmigung abhängt, wenn eine solche erteilt worden ist. Allgemein formuliert, hat die Behörde den privaten Anlagenbetreiber durch ihre Entscheidung, allerdings auch nur im Umfang ihrer Entscheidung, vom Risiko der Zustandshaftung befreit. Kontaminationen eines Grundstücks, die, objektiv betrachtet, von der Genehmigung 9 So auch E. Denninger, in: Lisken / Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 4. Auflage, E 109 a.E. 10 So z. B. in § 19b LuftVG und § 7 Abs. 2 Nr. 5 AtG; zum letzten siehe auch BVerwGE 81, 185. 11 So auch E. Denninger, in: Lisken / Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 4. Auflage, E 110; B. Pieroth / B. Schlink / M. Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, 5. Auflage, § 9 Rn. 47 a.E. 12 Dazu W.-R. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 5. Auflage, Rn. 273 m. w. N. 13 W.-R. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 5. Auflage, Rn. 273.
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abgedeckt werden sollten, weil die Behörde sie erwartet und akzeptiert hat, lassen sich daher nicht noch im Nachhinein unter den Tatbestand von § 5 SächsPolG subsumieren. Hiermit sind allerdings weitere rechtliche Schwierigkeiten verbunden, die mit der Frage beginnen, wie der Umfang einer solchen Risikoübernahme praktisch festgestellt werden soll – doch ist dies ein Problem, das nur von Fall zu Fall untersucht und gelöst werden kann. Uneinheitlich beurteilt wurde zudem, ob es auf die Rechtmäßigkeit der Genehmigung ankommen darf. Für die Übernahme des Risikos und der Verantwortung durch die Behörde, und damit für den Ausschluss des Tatbestands in § 5 SächsPolG, erscheint die Rechtmäßigkeit der Genehmigung jedoch irrelevant. Auch eine rechtswidrige Risiko- und Verantwortungsübernahme ist wirksam, bis sie im Wege des § 48 VwVfG rückgängig gemacht worden ist. Ein weiteres Problem betrifft den maßgeblichen Zeitpunkt für eine Legalisierung, wenn die Genehmigung der Gefahrenerkenntnis vorausging. Hierbei wird überwiegend vertreten, dass nur jene Gefahren abgedeckt sind, welche die Behörde objektiv vorhersehen konnte, als sie die Genehmigung erteilt hat – und jene gerade nicht, die sich erst später, im Zuge des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts, herausgestellt haben: nur das objektiv zu Erkennende sei rechtlich fassbar und könne Gegenstand eines Verwaltungsakts sein.14 Entscheidend ist insofern letztlich die Frage, wer das Risiko und wer mit dem Risiko auch die Kosten zu tragen hat, wenn sich eine Technik, die zunächst als unbedenklich eingestuft wurde, im Nachhinein als Gefährdung erweist.15 Wenn man beachtet, dass § 5 SächsPolG dem Sacheigentümer die Verantwortung prinzipiell zuordnen will, ist richtigerweise zu fragen, ob sich aus dem jeweils einschlägigen Anlagengenehmigungsrecht Hinweise darauf ergeben, dass die fragliche Genehmigung auch künftige Risiken abdecken soll. Wo dies nicht der Fall ist, bleibt es beim Grundsatz des § 5 SächsPolG – und bleibt es damit bei der Maxime, dass Risiko und Freiheit miteinander verbunden sein müssen. IV. Begrenzungen der Zustandsstörerhaftung unter dem Gesichtspunkt der Risikoverteilung bei der Rechtsfolgenauswahl Denkbar sind Beschränkungen der Zustandsstörerhaftung grundsätzlich auch im Rahmen der Rechtsfolgenauswahl – insbesondere dort, wo der Umfang des Ermessens festgestellt werden soll, das die Polizei ausüben muss, wenn sie gegen einen Zustandsstörer einschreiten will. Anzuknüpfen ist dabei an die Grundrechtsgarantien aus dem Grundgesetz und der Sächsischen Landesverfassung, die Ermessensspielräume begrenzen – und die damit möglicherweise, entgegen der Intention von § 5 SächsPolG, den Einzelnen unter ganz bestimmten Bedingungen davor schützen, zur Abwehr von Risiken für die Allgemeinheit in Anspruch genommen zu 14 Vgl. dazu W.-R. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 5. Auflage, Rn. 273 mit Fn. 140 (mit umfassenden Literaturnachweisen zu beiden Auffassungen). 15 Grundlegend dazu U. Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, S. 65 ff.
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werden. Fungieren also die Grundrechte, so ist richtigerweise zu fragen, als Korrektive des polizeirechtlich festgelegten Risikoverteilungsprogramms? Und weiter gefragt: wenn sie als diese Korrektive fungieren, wie groß ist dann ihre rechtliche Kraft? Beschränkt sich ihr Einsatz darauf, äußerste Grenzen zu statuieren – wie beispielsweise die Absicherung des Existenzminimums und den Ausschluss von Willkür? Oder aber durchdringen grundrechtliche Verfassungsgebote das Polizeirecht in weit größerem Umfang, als dies der bisher herrschenden Lehre bewusst war – und korrigieren hierdurch die gesetzgeberisch gewollte Risiko- und Verantwortungszuordnung? Festzuhalten ist dabei zunächst, dass nicht jede beliebige Risiko- und Verantwortungszuordnung mit den Grundrechtsgewährleistungen zu vereinbaren ist. Auch die Grundrechte, als die grundlegenden verfassungsrechtlichen Normen zum Verhältnis von Staat und Privatem, enthalten Vorgaben zur Verteilung von Risiken und Verantwortlichkeiten, die in ihrem Kern auf die Idee zurückgeführt werden können, dass der einzelne sein Leben eigenverantwortlich führt – was wiederum mit einer Verantwortlichkeit des einzelnen für sein eigenes Tun gegenüber den anderen korrespondiert.16 In dieser Funktion ist insbesondere auch das Eigentumsgrundrecht (Art. 14 GG bzw. Art. 31 SächsVerf) zu sehen17, das in unserem Kontext im Mittelpunkt steht. Innerhalb dieser Vorschrift existieren, im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Einordnung der Zustandsverantwortlichkeit, zwei Anknüpfungspunkte, die auch bei der Frage nach ihren Grenzen als Ausgangspunkt der Überlegungen dienen. Gesetzliche Regeln zur Zustandsverantwortlichkeit sind zunächst, was ihre Einordnung in die Dogmatik des Eigentumsgrundrechts betrifft, als Inhalts- und Schrankenbestimmungen im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG bzw. Art. 31 Abs. 1 Satz 2 SächsVerf zu qualifizieren18; inhaltlich stehen sie dabei (und das ist der zweite Anknüpfungspunkt) in enger Beziehung zur Verpflichtung des Eigentums auf das Gemeinwohl aus Art. 14 Abs. 2 GG bzw. Art. 31 Abs. 2 SächsVerf.19 Aus der Gemeinwohlverpflichtung folgt dabei einer der beiden eingangs erwähnten Haftungsgründe rechtlicher Zustandsverantwortlichkeit: mit den Nutzungen, die der einzelne aus seinem Eigentum zieht, korrespondiert sein Verantwortlichsein gegenüber der Allgemeinheit, wenn sich aus dieser Sache Gefahren ergeben. Dem entspricht voll und ganz der Grundgedanke des polizeirechtlich festgelegten Risikoverteilungsprogramms, wie § 5 SächsPolG es statuiert. Wie dies mit dem Gebot der Privatnützigkeit im Einzelfall in Einklang gebracht werden soll, hat BVerfGE 102, 1 für die Fälle des kontaminierten Grundstücks entschieden. Grenze der Inanspruchnahme sei demnach der Verkehrswert des Grundstücks, über den die Sanierungskosten nicht hinausreichen dürften; 16 Grundlegend zu den staatstheoretischen Konsequenzen daraus S. Haack, Verlust der Staatlichkeit, S. 40 ff. 17 BVerfGE 102, 1, 15. 18 BVerfGE 102, 1, 16 f.; F. Schoch, in: Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 13. Auflage, 2. Kapitel Rn. 145. 19 F. Schoch, in: Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 13. Auflage, 2. Kapitel Rn. 145.
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wäre dies der Fall, so hätte der Eigentümer kein Interesse mehr daran, sein Grundstück privatnützig zu gebrauchen.20 Auch unterhalb dieser Schwelle sei es jedoch geboten, die Zustandsstörerhaftung zu begrenzen, wenn das Grundstück den wesentlichen Vermögensbestandteil des Betroffenen bildet und zu seiner Lebensführung dient.21 Der Zweck des Eigentums, ein Leben in Eigenverantwortung möglich zu machen, sei bei einer stärkeren Belastung des Grundstücksbesitzers offensichtlich nicht mehr erreichbar. Aus denselben Gründen dürften auch jene Vermögensteile nicht beeinträchtigt werden (und zwar auch dann nicht beeinträchtigt werden, wenn der Verkehrswert des Grundstücks höher ist als der Aufwand einer Sanierung), die in keinem rechtlichen oder ökonomischen Zusammenhang zum Grundstück stehen.22 Auch die Fahrlässigkeit eines Grundstückserwerbers reiche für sich allein nicht dazu aus, um ihn als Zustandsverantwortlichen unbeschränkt in Anspruch zu nehmen; ebenso wie die Frage, ob der Eigentümer Vorteile aus dem Risiko schöpfen wollte, sei auch seine Fahrlässigkeit im einzelnen Fall als ein Abwägungsgesichtspunkt zu beachten. Wichtig erscheint über allen diesen Einzelheiten zunächst die Erkenntnis, dass entsprechend der Ansicht der Karlsruher Richter Art. 14 GG eine wesentlich genauere Betrachtung der Folgen einer Zustandsstörerhaftung erfordert, als das Risikoverteilungsprogramm des § 5 SächsPolG dies intendiert. Art. 14 GG und Art. 31 SächsVerf untersagen es demzufolge, für Gefahren, die sich aus dem Zustand einer Sache ergeben, in jeder Situation und um jeden Preis den Sachherrschaftsinhaber haften zu lassen. Herzustellen ist vielmehr ein Ausgleich (und wir ergänzen: eine Risiko- und Verantwortungszuordnung) im einzelnen Fall. Zumindest diese Erkenntnis ist nicht auf die Fallgruppen der Grundstückskontaminierung beschränkt. Aus der Sicht einer praxisorientierten, auf die Gefahrenabwehr zugeschnittenen Handhabung des Polizeirechts mag eine solche Beschränkung in bestimmten Situationen hinderlich wirken – doch handelt es sich letztlich um eine unausweichliche Folge der Regel, dass Grundrechte, wenn sie als Rechtssätze gelten, eine verhältnismäßige und ihren Wesensgehalt respektierende Behördenentscheidung erfordern, die eben nur im einzelnen Fall, unter der Berücksichtigung sämtlicher seiner Sonderumstände, hervorgebracht werden kann. Die weitreichende Zuordnung von Risiko und Verantwortung an den Privaten zur effektiven Gefahrenabwehr im Polizeirecht wird insofern durch das grundgesetzliche Anliegen eines freiverantwortlich zu gestaltenden Lebens in gleicher Weise bestätigt und korrigiert. Auch Art. 14 GG bzw. Art. 31 SächsVerf sehen Risiko und Verantwortung ambivalent. Bezogen auf Privatnützigkeit und Sozialbindung des Eigentums, heißt Verantwortung hierbei von vornherein: Verantwortung für sich und Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit. Der Einzelne, der sein Eigentum nutzt, tut dies demzufolge in doppelter Weise auf eigenes Risiko hin: zum einen, als es ihm grundsätzlich frei20 21 22
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steht, mit dem, was sein Eigentum ist, nach eigenem Gutdünken zu handeln – auf sein eigenes Risiko hin, ob ihm dies den erhofften Erfolg bringt; und dies zum anderen, als er für Gefahren einstehen muss, die sich hieraus ergeben. Diese beiden Risiken und Verantwortlichkeiten sind es, die grundrechtlich gewollt und gesollt sind – und die, von Fall zu Fall, in Gewicht und Rechtsrelevanz variieren. Das Koordinatensystem, innerhalb dessen sie sich bewegen und rechtlich erfasst werden müssen, wird durch den Grundsatz der effektiven Gefahrenabwehr einerseits und die individuellen Belange des Betroffenen andererseits determiniert. Ein praktischer Ausweg, wie dieser verfassungsrechtlich gebotene Ausgleich von individuellen grundrechtlichen Belangen und effektiver Gefahrenabwehr zustande gebracht werden kann, besteht beispielsweise darin, das Auswahlermessen als reduziert anzusehen – und zwar dahingehend als reduziert, dass vom Betroffenen nur eine Duldung der Gefahrenbeseitigung durch die Behörde, nicht jedoch die Bekämpfung der Gefahr selbst verlangt werden kann. Eine solche Korrektur des Auswahlermessens auf Primärebene müsste schließlich auch bei der Frage der Kostenverteilung berücksichtigt werden – rechtlich wäre es jedenfalls möglich (und durch die Grundrechte ist es geboten), die Kosten zum Abtransport des Hochwassertreibgutes ebenso wie die Kosten zur Abtragung des verunreinigten Erdreichs die Behörden tragen zu lassen. Die Kostentragungspflicht im Rahmen der Ersatzvornahme (§ 24 SächsVwVfG i. V. m. § 30 Abs. 1 SächsPolG) wäre dann nicht anzuwenden, weil es sich um keine Vollstreckung der (Duldungs-)Verfügung handelt.23 V. Konsequenzen für die Dogmatik des Polizeirechts Indem man die polizeirechtlichen Regelungen zur Zustandsverantwortlichkeit bewusster als bisher als Mechanismen zur Zuordnung von Risiken und Verantwortlichkeiten im Verhältnis von Privatem und Allgemeinheit begreift, lassen sich Unstimmigkeiten und Unbilligkeiten bei der Haftung des Zustandsstörers beheben. Das starre Risikoverteilungsprogramm des § 5 SächsPolG wird hierbei einerseits durch eine Korrektur des Gefahrenbegriffs und andererseits durch Grundrechtsvorgaben relativiert, die es erfordern, das verfassungsrechtliche Leitbild eines frei verantworteten Daseins mit dem (hieraus sich zwingend ergebenden) Verantwortlichsein des einzelnen gegenüber der Allgemeinheit von Fall zu Fall zu koordinieren. Effektivität der Gefahrenabwehr als Maxime des Polizeirechts bedeutet, das Risiko eines Schadens für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung und damit letztlich für 23 § 6 Abs. 2 SächsPolG wäre dann aus verfassungsrechtlichen Gründen ebenfalls unanwendbar. Mit dem Wortlaut der Norm erscheint dies insofern vereinbar, als § 6 Abs. 1 SächsPolG voraussetzt, dass Maßnahmen gegenüber dem Störer den Zweck „nicht oder nicht rechtzeitig“ erreichen – was in unserem Zusammenhang indes nicht der Fall ist; Maßnahmen, die getroffen werden könnten und ihren Zweck (die Grundstückssanierung) möglicherweise auch erreichen, sind hier in ihren verfassungsrechtlichen Grenzen betroffen. § 6 SächsPolG scheidet für diese Konstellation aus.
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die Allgemeinheit soweit es geht zu minimieren – die Frage nach den Grenzen der Zustandsverantwortlichkeit im Polizeirecht hat uns jedoch gezeigt, dass sich ein dementsprechend stringentes Risikoverteilungs- und Risikoverringerungsprogramm in der grundgesetzlichen Verfassungsordnung, in der die Grundrechte unmittelbar rechtlich gelten, nur in begrenztem Umfang verwirklichen lässt. Dass der Spielraum der Behörden ebenso wie der Spielraum des Gesetzgebers selbst geringer ist, als dies die herrschende polizeirechtliche Lehrmeinung vertritt, wird allmählich bewusst. Grundrechte haben das klassische Gefahrenabwehrrecht zu einem Rechtsstoff gemacht, in welchem die effektive Gefahrenbekämpfung zwar immer noch das höchste, indes nicht mehr das alleinige Prinzip des polizeilichen Einschreitens sein kann. Ein Verständnis des Polizeirechts als Risikozuordnungsrecht macht diese Neuorientierung bewusst.
VI. Universität im Rückblick
Von Leipzig nach Göttingen Eine Studie zu wissenschaftlichen Netzwerken und Freundschaften vor und nach 1945 Von Eva Schumann
I. Einführung Nach dem Personal- und Vorlesungsverzeichnis der Universität Leipzig lehrten an der Juristenfakultät im Sommersemester 1945 folgende Ordinarien: Hans-Otto de Boor, Wilhelm Gallas, Günter Haupt, Karl Michaelis, Eberhard Schmidt, Hans Thieme, Werner Weber und Franz Wieacker. Abgesehen von Gallas, der seine Stelle in Leipzig aufgrund des Dienstes in der Wehrmacht nicht angetreten hatte, und von dem 1946 verstorbenen Haupt fanden sämtliche Leipziger Ordinarien des Jahres 1945 in der Nachkriegszeit Aufnahme an der Göttinger Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät. Hinzu kommen zwei weitere Kollegen, Ernst Rudolf Huber und Friedrich Schaffstein, die in den 1930er Jahren an die Leipziger Fakultät berufen wurden, von 1941 bis 1944 der Reichsuniversität Straßburg angehörten und – nachdem die Wiedereinstellung schließlich geglückt war – bis zu ihrer Emeritierung in Göttingen lehrten. Somit wechselten nicht nur die Leipziger Ordinarien des Jahres 1945 nahezu geschlossen an die Göttinger Fakultät, vielmehr fanden insgesamt acht Professoren, die zwischen 1933 und 1945 an der Leipziger Juristenfakultät lehrten und forschten, nach 1945 ihren Weg nach Göttingen. Natürlich gab es gute Gründe für entlassene oder aus der sowjetisch besetzten Zone geflüchtete stellungslose Professoren mit der Göttinger Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät in Kontakt zu treten: Die Georgia Augusta nahm als erste deutsche Universität zum 1. 9. 1945 den Lehrbetrieb im weitgehend unzerstörten Göttingen wieder auf, im juristischen Fachbereich waren 1945 zahlreiche Stellen frei, wie die Leipziger Juristenfakultät gehörte auch die Göttinger Fakultät traditionell zu den renommiertesten juristischen Fakultäten und schließlich stellte aus Leipziger Perspektive Göttingen auch geografisch eine der ersten Anlaufstationen in den westlichen Besatzungszonen dar.1 1 Zu Göttingen in der Nachkriegszeit vgl. Eva Schumann, Die Göttinger Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät 1933 – 1955, in: dies. (Hrsg.), Kontinuitäten und Zäsuren, Rechtswissenschaft und Justiz im „Dritten Reich“ und in der Nachkriegszeit, 2008, S. 65, 107 ff.
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Zu berücksichtigen ist aber auch, dass sich die Berufungen der ehemaligen Leipziger Ordinarien nach Göttingen über einen Zeitraum von etwa zehn Jahren erstreckten und bei einem Blick in die Personalakten der Eindruck entsteht, dass ein Kollege nach dem anderen Schritt für Schritt „nachgeholt“ wurde. Der nahe liegenden Annahme, dass sich die Lebenswege der Genannten kaum zufällig mehrfach kreuzten, sondern zwischen ihnen besondere wissenschaftliche, aber auch enge persönliche Verbindungen bestanden, soll in diesem Beitrag nachgegangen werden. II. Acht Leipziger und Göttinger Professoren Von den genannten acht Leipziger und später Göttinger Professoren stammten sechs aus der Generation, die – um 1900 geboren – 1933 oder in den Jahren danach den ersten Ruf auf einen Lehrstuhl erhielten: Ernst Rudolf Huber, Karl Michaelis, Friedrich Schaffstein, Hans Thieme, Werner Weber und Franz Wieacker. Lediglich die beiden deutlich älteren Professoren, Hans-Otto de Boor (9. 9. 1886 – 10. 2. 1956)2 und Eberhard Schmidt (16. 3. 1891 – 17. 6. 1977)3, waren bereits seit Anfang der 1920er Jahre Ordinarien, traten gemeinsam zum 1. 10. 1935 ihre Stellen in Leipzig an und hatten diese dort bis zum Ende der NS-Zeit (de Boor noch einige Jahre darüber hinaus) inne. Während für de Boor und Schmidt nur zehn gemeinsame Jahre in Leipzig zu verzeichnen sind (Schmidt hatte Göttingen schon wieder verlassen, als de Boor 1950 dorthin berufen wurde), waren die sechs jüngeren Professoren in unterschiedlichen Konstellationen schon vor ihrer Zeit in Leipzig, aber auch danach durch persönliche und wissenschaftliche Beziehungen miteinander verbunden. Dies gilt nicht nur für die Bonner Carl Schmitt-Schüler Ernst Rudolf Huber (8. 6. 1903 – 28. 10. 1990)4 und Werner Weber (31. 8. 1904 – 29. 11. 1976)5; früh verbunden 2 Hans-Otto de Boor (Bürgerliches Recht, Urheberrecht, Rechtsvergleichung, Zivilprozessrecht): 1916 Habilitation (Greifswald), 1917 – 1920 Lehrvertretung Göttingen, 1921 – 1934 o. Prof. Frankfurt a.M., 1934 Marburg, 1935 – 1950 Leipzig, 1950 – 1954 Göttingen. Vgl. Gedenkworte des Rektors der Georg-August-Universität Professor Dr. Werner Weber, in: Georg Erler / Werner Weber / Eugen Ulmer / Karl Michaelis, Hans-Otto de Boor zum Gedenken, 1957, S. 7 – 11. 3 Eberhard Schmidt (Straf- und Strafprozessrecht, Strafrechtsgeschichte): 1920 Habilitation (Berlin), 1921 – 1926 o. Prof. Breslau, 1926 – 1929 Kiel, 1929 – 1935 Hamburg, 1935 – 1945 Leipzig, 1945 – 1948 Göttingen, 1948 – 1959 Heidelberg. Zu Leben und Werk: Simone v. Hardenberg, Eberhard Schmidt (1891 – 1977), 2009. 4 Ernst Rudolf Huber (Staats- und Verwaltungsrecht, Verfassungsgeschichte): 1931 Habilitation (Bonn), 1933 – 1937 o. Prof. Kiel, 1937 – 1941 Leipzig, 1941 – 1944 Straßburg, 1956 Honorarprofessor Freiburg, 1957 – 1962 o. Prof. Wilhelmshaven (Hochschule für Sozialwissenschaften), 1962 – 1968 Göttingen. Zu Leben und Werk: Ewald Grothe, Zwischen Geschichte und Recht, Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung 1900 – 1970, 2005; ders., „Strengste Zurückhaltung und unbedingter Takt“ – Der Verfassungshistoriker Ernst Rudolf Huber und die NS-Vergangenheit, in: Eva Schumann (Hrsg.), Kontinuitäten und Zäsuren,
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waren auch die beiden Göttinger Privatdozenten Karl Michaelis (21. 12. 1900 – 14. 8. 2001)6 und Friedrich Schaffstein (28. 7. 1905 – 6. 11. 2001)7, die in den Jahren 1930 / 31 in Göttingen habilitiert wurden und beide – neben ihren unterschiedlichen dogmatischen Schwerpunkten – zeitlebens zu den Grundlagen des Rechts arbeiteten. Weitere gemeinsame Stationen waren dann Kiel in den Jahren 1935 bis 1938 und seit Mitte der 1950er Jahre wieder Göttingen. Bis ins hohe Alter blieb diese Freundschaft bestehen (2001 starben beide in Göttingen – Michaelis 100-jährig und Schaffstein im Alter von 96 Jahren) und bis zu seinem Tod im Jahre 1994 war auch Franz Wieacker (5. 8. 1908 – 17. 2. 1994)8 mit beiden freundschaftlich verbunden.9 In Leipzig waren beide allerdings zeitlich versetzt tätig: Schaffstein von 1933 bis 193510 und Michaelis von 1938 bis 1945. Rechtswissenschaft und Justiz im „Dritten Reich“ und in der Nachkriegszeit, 2008, S. 327 – 348; Martin Jürgens, Staat und Reich bei Ernst Rudolf Huber, Sein Leben und Werk bis 1945 aus rechtsgeschichtlicher Sicht, 2004; Matthias Maetschke, Ernst Rudolf Huber, Im Schatten Carl Schmitts – Ernst Rudolf Hubers Bonner Jahre 1924 – 1933, in: Mathias Schmoeckel, Die Juristen der Universität Bonn im „Dritten Reich“, 2004, S. 368 – 386; Ralf Walkenhaus, Konservatives Staatsdenken, Eine wissenssoziologische Studie zu Ernst Rudolf Huber, 1997. 5 Werner Weber (Staats- und Verwaltungsrecht, Staatskirchenrecht): 1928 Promotion bei Carl Schmitt, 1931 – 1937 Referent unter Adolf Grimme und später Bernhard Rust im Preuß. Kultus- und Reichserziehungsministerium, 1935 – 1942 o. Prof. Berlin (Handelshochschule als Nachfolger Carl Schmitts), 1942 – 1945 Leipzig (1945 entlassen), 1947 – 1949 Lehrvertretung und 1949 – 1972 o. Prof. Göttingen (dort Rektor von 1956 – 1958). Dazu die Nachrufe von Hans Schneider, AöR 1977, S. 470 – 473; Christian Starck, Würdigung – Erinnerung an Werner Weber (geb. 1904), DÖV 2004, S. 996 – 1000. 6 Karl Michaelis (Zivil- und Zivilprozessrecht, Neuere Privatrechtsgeschichte, Rechtsphilosophie): 1931 Habilitation (Göttingen), 1934 – 1938 o. Prof. Kiel, 1938 – 1945 Leipzig (1945 entlassen), 1951 – 1956 o. Prof. Münster, 1956 – 1969 Göttingen. Vgl. Nachruf von Hans-Martin Pawlowski, NJW 2001, S. 3031. 7 Friedrich Schaffstein (Straf- und Strafprozessrecht, Strafrechtsgeschichte, Rechtsphilosophie): 1930 Habilitation (Göttingen), 1932 – 1933 Lehrvertretungen in Marburg und Göttingen, 1933 – 1935 o. Prof. Leipzig, 1935 – 1941 Kiel, 1941 – 1944 Straßburg, 1952 – 1954 Lehrvertretung und 1954 – 1969 o. Prof. Göttingen. Dazu die Nachrufe von Manfred Maiwald, NJW 2002, S. 1250 f.; Hans-Ludwig Schreiber, Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 2003, S. 338 – 341; Werner Beulke, In memoriam Friedrich Schaffstein, MSchrKrim 2002, S. 81 – 83. 8 Franz Wieacker (Römisches Recht, Bürgerliches Recht, Neuere Privatrechtsgeschichte): 1933 Habilitation (Freiburg i.Br.), 1933 – 1936 Lehrvertretungen in Frankfurt a.M., Kiel und Leipzig, 1937 – 1939 ao. Prof. und 1939 – 1945 o. Prof. Leipzig, 1945 – 1948 Lehrvertretungen in Göttingen und Freiburg i.Br., 1948 – 1953 o. Prof. Freiburg i.Br., 1953 – 1973 Göttingen. Zu Leben und Werk: Okko Behrends, Franz Wieacker 5. 8. 1908 – 17. 2. 1994, ZRG-RA 112 (1995), S. XIII-LXII, 744 – 769 (Schriftenverzeichnis). Vgl. weiter Ralf Kohlhepp, Franz Wieacker und die NS-Zeit, ZRG-RA 122 (2005), S. 203 – 223. 9 Wieacker dürfte Michaelis und Schaffstein bereits in seiner Göttinger Studienzeit 1928 / 29 kennen gelernt haben, bevor er seinem Lehrer Fritz Pringsheim nach Freiburg i.Br. folgte. 10 In dieser Zeit war Thieme als Vertretungsdozent in Leipzig und wirkte ebenso wie Schaffstein an der 1934 von der Leipziger Juristenfakultät für Richard Schmidt herausgegebenen Festschrift mit. Außerdem hatte Thieme aus der Frankfurter Zeit, vermittelt durch sei-
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Vor allem aber gehörten Huber, Michaelis, Schaffstein und Wieacker in den 1930er Jahren der jungen Kieler Elite an, deren Rechtserneuerungsprogramm die nationalsozialistische Forschung und Lehre bis zum Ende der NS-Zeit prägte und zu deren erweiterten Kreis der Kiel-Kitzeberger Lagergemeinschaft auch Hans Thieme (10. 8. 1906 – 3. 10. 2000)11 zu rechnen ist. III. Gemeinsame Stationen bis 1945 1. Die „jungen Rechtslehrer“ der Stoßtruppfakultät Kiel Die „Kieler Schule“12 bezeichnet eine Gruppe von zehn jungen Dozenten – neben Huber, Michaelis, Schaffstein und Wieacker sind noch Martin Busse, Georg Dahm, Karl August Eckhardt, Karl Larenz, Wolfgang Siebert und Paul Ritterbusch zu nennen13 –, die in der NS-Zeit an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät in Kiel lehrten14 und sich nach den Plänen des Reichserziehungsministeriums (REM) in den Dienst einer umfassenden völkischen Rechtserneuerung stellten.15 nen Lehrer Franz Beyerle, Kontakte zu de Boor und Wieacker. Dazu Adolf Laufs, Nachruf auf Hans Thieme, ZRG-GA 119 (2002), S. 15, 16. 11 Hans Thieme (Bürgerliches Recht, Deutsche Rechtsgeschichte): 1931 Habilitation (Frankfurt a. M.), 1934 – 1935 Lehrvertretungen in Breslau und Leipzig, 1935 – 1938 ao. Prof. und 1938 – 1940 o. Prof. Breslau, 1940 – 1945 Leipzig, 1946 – 1953 Göttingen, 1953 – 1974 Freiburg. Dazu Laufs, ZRG-GA 119 (2002), S. 15 – 26. Vgl. weiter Rolf Lieberwirth, Die Rechtshistoriker der Leipziger Juristenfakultät in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Karl Kroeschell (Hrsg.), Festschrift für Hans Thieme zu seinem 80. Geburtstag, 1986, S. 391 – 402. 12 In der Literatur finden sich stattdessen auch die Bezeichnungen „Kieler Arbeitskreis“, „Kieler Gruppe“ oder „Kieler Richtung“; dazu auch Ralf Frassek, Von der „völkischen Lebensordnung“ zum Recht, Die Umsetzung weltanschaulicher Programmatik in den schuldrechtlichen Schriften von Karl Larenz (1903 – 1993), 1996, S. 28. Kritisch zum Begriff der „Schule“ Grothe (2005) (Anm. 4), S. 171 f.; Ralf Walkenhaus, Gab es eine „Kieler Schule“?, Die Kieler Grenzlanduniversität und das Konzept der „politischen Wissenschaften“ im Dritten Reich, in: Wilhelm Bleek / Hans J. Lietzmann (Hrsg.), Schulen der deutschen Politikwissenschaft, 1999, S. 159, 164 ff., 177 ff. 13 Die Genannten wurden schon in der NS-Zeit als Mitglieder der Kieler Schule betrachtet (so etwa Heinrich Lange, Die Entwicklung der Wissenschaft vom Bürgerlichen Recht seit 1933, 1941, S. 11; Justus Wilhelm Hedemann, Zehn Jahre Akademie für Deutsches Recht, DR 1943, S. 673, 674) und nahmen sich selbst auch als „Schule“ wahr; vgl. nur Karl Michaelis, Hochschulunterricht und Rechtswirklichkeit, DR 1942, S. 1400, 1402, 1403 (Fn. 6). Dazu auch Erich Döhring, Geschichte der juristischen Fakultät 1665 – 1965, in: Karl Jordan (Hrsg.), Geschichte der Christian-Albrechts-Universität Kiel 1665 – 1965, Bd. III / 1, 1965, S. 209 ff. Einen wesentlich kleineren Kreis nennt Jörn Eckert, Was war die Kieler Schule?, in: Franz Jürgen Säcker (Hrsg.), Recht und Rechtslehre im Nationalsozialismus, Kieler Rechtswissenschaftliche Abhandlungen (NF), Bd. 1, 1992, S. 37, 54: Er rechnet lediglich Dahm, Huber, Larenz, Michaelis, Schaffstein und Siebert zur Kieler Schule. [Der Beitrag von Eckert wurde mit kleineren Ergänzungen auch unter dem Titel „Die Juristische Fakultät im Nationalsozialismus“, in: Hans-Werner Prahl (Hrsg.), Uni-Formierung des Geistes, Universität Kiel im Nationalsozialismus, Bd. 1, 1995, S. 51 ff. veröffentlicht.]
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Von Anfang an wurde das Konzept der „politischen Stoßtruppfakultäten“ in Kiel besonders konsequent umgesetzt.16 Nachdem schon 1933 sechs Ordinarien aus rassischen oder politischen Gründen versetzt, beurlaubt, entlassen oder zwangsemeritiert worden waren und weitere drei Stellen 1934 und 1935 frei wurden,17 konnte die Kieler Fakultät nahezu komplett neu aufgebaut werden.18 Auf die freien Stellen wurden durchgängig politisch zuverlässige Jungwissenschaftler des Jahrgangs um 1900 berufen19 und die Neuberufenen stellten sich dieser ersten Bewährung20 mit großer Begeisterung.21 Eine herausgehobene Stellung nahm diese Gruppe nicht nur innerhalb der Universität Kiel durch die Besetzung des Rektorats über einen Zeitraum von sechs 14 Im Folgenden wird die Lehrtätigkeit in Kiel für die einzelnen Mitglieder der Schule zwischen 1933 und 1945 in Klammern angegeben: Busse (1935 – 1941), Dahm (1933 – 1939), Eckhardt (1933 – 1934), Huber (1933 – 1937), Larenz (1933 – 1945), Michaelis (1934 – 1938), Ritterbusch (1935 – 1941), Schaffstein (1935 – 1941), Wolfgang Siebert (1935 – 1938) und Wieacker (1935 – 1936 als Vertretungsdozent). 15 Dazu Eckert (Anm. 13), S. 37 ff. Vgl. weiter Ralf Frassek, Göttinger Hegel-Lektüre, Kieler Schule und nationalsozialistische Juristenausbildung, in: Eva Schumann (Hrsg.), Kontinuitäten und Zäsuren, Rechtswissenschaft und Justiz im „Dritten Reich“ und in der Nachkriegszeit, 2008, S. 45, 50; Grothe (2005) (Anm. 4), S. 171 mwN; Jürgens (Anm. 4), S. 15 ff. 16 Dazu Eckert (Anm. 13) S. 46 ff., insb. S. 49 f. mit Hinweis auf erste Pläne des Preußischen Kultusministeriums vom Mai 1933. Frassek (Anm. 15), S. 54 spricht vom „Konzept einer Kaderbildung“. 17 1933 betraf dies Gerhard Husserl, Hermann Kantorowicz, Otto Opet, Karl Rauch, Walter Schücking und Werner Wedemeyer; 1934 wurde Heinrich Hoeniger versetzt und Hans v. Hentig und Woldemar Poetzsch-Heffter gingen nach Bonn (1934) und Leipzig (1935). Von zehn Professoren, die Anfang 1933 in Kiel lehrten, blieb nur Walther Schoenborn auf seinem Lehrstuhl. Dazu Eckert (Anm. 13), S. 42 ff. 18 Nach dem Konzept des REM sollten politisch zuverlässige Jungwissenschaftler konzentriert „für den aktiven Einsatz in der nationalsozialistischen Bewegung“ vor allem an den „Grenzlanduniversitäten Breslau, Königsberg und Kiel“ eingesetzt und zu diesem Zweck „besonders die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät dieser 3 Universitäten weitgehend personell umgestaltet“ werden, während „die altangesehenen großen Universitäten wie Berlin, Leipzig, München usw. in ihrer bisherigen wissenschaftlichen Zusammensetzung“ erhalten bleiben „und nach Möglichkeit nur langjährig bewährte, wenn auch selbstverständlich politisch positive, Dozenten dorthin“ berufen werden sollten. Entwurf eines Referentenschreibens vom 13. 4. 1934, zit. nach Eckert (Anm. 13), S. 47 f. 19 1933 / 34 traten Dahm die Nachfolge von Kantorowicz, Huber die Nachfolge von Schücking, Larenz die Nachfolge von Husserl und Michaelis die Nachfolge von Wedemeyer an. Der Lehrstuhl von Karl Rauch wurde noch Ende 1933 mit Eckhardt besetzt (dieser hatte den Lehrstuhl bereits 1928 – 1930 inne gehabt), während Rauch den nun freien Lehrstuhl Eckhardts in Bonn erhielt. 1935 wurde Friedrich Schaffstein auf den Lehrstuhl von Hans v. Hentig berufen. Dazu Eckert (Anm. 13), S. 49 ff.; Grothe (2005) (Anm. 4), S. 170 f. 20 Lediglich Eckhardt (seit 1928 Ordinarius zunächst in Kiel, dann in Berlin und Bonn; zu ihm und seiner Zeit in Kiel vgl. Eckert (Anm. 13), S. 50 ff.) und Ritterbusch (Schüler von Richard Schmidt und seit 1933 Ordinarius in Königsberg) waren keine Erstberufenen. 21 Dazu auch Frassek (Anm. 15), S. 50 f. Zur Kieler Fakultät in der NS-Zeit vgl. auch Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914 – 1945, 1999, S. 279 ff.
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Jahren mit Dahm (1935 – 1937) und Ritterbusch (1937 – 1941) ein,22 vielmehr beanspruchte die Kieler Schule auch reichsweit eine Sonderstellung für sich,23 die selbst von ihren Gegnern anerkannt wurde.24 So schrieb Heinrich Lange25, der vor allem in der Frage der Rechtserneuerung der Kieler Richtung scharf entgegentrat, 1941 über die Gruppe und deren Ziele folgendes: „Aus und neben diesen Anschauungen Carl Schmitts entwickelte sich die Kieler Schule. In Kiel hatten sich die Rechtslehrer Huber, Dahm, Schaffstein, Ritterbusch, Eckhardt, Larenz, Siebert, Michaelis, Wieacker und Busse26 zu gemeinschaftlicher Arbeit zusammengefunden. Sie versuchten, das neue Recht und damit auch das bisherige bürgerliche Recht auf völlig neuen Grundlagen mit neuer Methode zu errichten. Unter Führung von Ritterbusch kämpften sie gegen alle allgemeinen Teile und Lehren in der Wissenschaft und Gesetzgebung, sie kämpften aber auch gegen das bürgerliche Recht als solches und forderten dessen Zerschlagung in Einzelgebiete.“ 27
Eckert (Anm. 13), S. 48. Vgl. nur die Beurteilung der Kieler Schule durch Rektor Paul Ritterbusch, Die Entwicklung der Universität Kiel seit 1933, Kieler Blätter 1941, S. 5, 11: „Das interessanteste Experiment, das in diesen Jahren gärender Entwicklung gemacht wurde, war das besondere Herausstellen der Grenzlanduniversitäten Königsberg, Breslau und Kiel. Allerdings ist dieses Experiment keineswegs konsequent durchgeführt worden. An unserer Universität hat es sich positiv in der besonderen Zusammensetzung und Herausstellung der rechtswissenschaftlichen Fakultät ausgewirkt. In der Tat wurde die Kieler rechtswissenschaftliche Fakultät aus den besten Kräften der jungen Rechtswissenschaft neugebildet, in einer geistigen Geschlossenheit und Homogenität, wie sie keine andere deutsche Fakultät aufweisen konnte. Ähnliche Versuche kamen in Königsberg und Breslau nicht annähernd zur Durchführung. [ . . . ] Für die Kieler Fakultät und ihre Angehörigen ist dieses ,Experiment‘ wohl das entscheidendste Erlebnis ihrer wissenschaftlichen Entwicklung gewesen. Sie hat auch tatsächlich wie keine andere deutsche Fakultät positiv gewirkt und gleichsam, solange sie zusammen war, der jungen deutschen Rechtswissenschaft ein gewisses Gesicht verliehen.“ 24 Lange (Anm. 13), S. 7 ff., insb. S. 9 (in Abgrenzung zu eigenen Arbeiten): „Neben und gegen diese nach und nach in ruhigere Bahnen einmündende Arbeiten an der Neugestaltung des Rechts stellte sich seit Ende 1933 eine Gruppe der Rechtswissenschaft. In die zahlreichen Lücken, die durch die Beamtengesetzgebung an den deutschen Hochschulen entstanden waren, waren junge Kräfte eingerückt und damit rasch auf verantwortungsvolle Stellen gelangt. Ein Teil von ihnen sammelte sich vor allem [ . . . ] in der Kieler juristischen Fakultät als junge Mannschaft zu kämpferischem Einsatz.“ 25 Der ehemalige Leipziger Privatdozent Heinrich Lange (25. 3. 1900 – 17. 9. 1977) war seit 1934 Ordinarius zunächst in Breslau und seit 1939 in München. Zu Leben und Werk vgl. Wilhelm Wolf, Vom alten zum neuen Privatrecht, Das Konzept der normgestützten Kollektivierung in den zivilrechtlichen Arbeiten Heinrich Langes (1900 – 1977), 1998. Bis zu seiner Berufung nach Breslau war Lange (seit 1. 8. 1933) Hochschulreferent im sächsischen Volksbildungsministerium. Von dieser Position aus hatte er dafür gesorgt, dass der Leipziger Staatsrechtler Erwin Jacobi zwangsweise in den Ruhestand versetzt wurde. Dazu Wolf, S. 25 ff., 27; Martin Otto, Von der Eigenkirche zum Volkseigenen Betrieb: Erwin Jacobi (1884 – 1965), 2008, S. 237 ff. 26 An dieser Stelle folgt im Text von Lange folgende Fußnote: „Ihnen standen Höhn und Maunz nahe.“ 27 Lange (Anm. 13), S. 11; weiter heißt es dort zu den neuen Einzelgebieten mit Verweis auf die einschlägigen Publikationen (S. 11 f.): „Siebert stellte das personenrechtliche 22 23
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Zur Bedeutung der Kieler Schule in Lehre und Forschung vertrat Lange die Auffassung, dass ihr Einfluss zwar im Bereich des Bürgerlichen Rechts auf dem Gebiete der Rechtsprechung, der Rechtsgestaltung und Rechtslehre nicht groß gewesen sei,28 sie jedoch maßgeblich die Neugestaltung des juristischen Studiums von 1935 und die Wissenschaftspolitik bis Ende der 1930er Jahre beeinflusst hätte.29 Nachdem Ende der 1930er Jahre zahlreiche Professoren der Kieler Schule an andere Fakultäten berufen worden waren,30 verloren die Kieler Rechtslehrer zwar ihre Sichtbarkeit als geschlossene Gruppe,31 ihr wissenschaftlicher Einfluss bestand jedoch – u. a. auch im Rahmen des Kriegseinsatzes der deutschen Geisteswissenschaften32 – bis zum Ende der NS-Zeit fort33 und die persönlichen BindunGemeinschaftsverhältnis dem Schuldvertrag entgegen und baute auf ihm das Arbeitsverhältnis auf. Eckhardt leugnete das subjektive Recht zugunsten der Pflicht gänzlich. Larenz und Siebert stellten das subjektive Recht in der Denkform der konkreten Rechtsstellung des Volksgenossen dar. Larenz und später Michaelis gliederten den Begriff des Rechtssubjektes und der Rechtsfähigkeit auf. Höhn kämpfte gegen alle juristischen Gemeinschaftsbildungen, vor allem gegen die juristische Person und leugnete die Bedeutung Otto von Gierkes für die Gegenwart. Wieacker kämpfte gegen die Zusammenfassung der verschiedensten Güter insbesondere von Boden und völlig gleichgültiger Fahrnis in einer Eigentumsordnung, Busse für die völlige Lösung des Bauern- und Bodenrechtes aus den Klammern bürgerlich-rechtlicher Systematik und Dogmatik.“ 28 Lange (Anm. 13), S. 15 ff.; dort heißt es u. a. zum Gegensatz zwischen Kieler Schule und Akademie für Deutsches Recht: „Auf dem Gebiete der Rechtsgestaltung aber konnte die Kieler Richtung wenig praktische Betätigung finden, weil hier die wissenschaftliche Führung bei der Akademie für Deutsches Recht lag [ . . . ].“ Dazu auch Wolf (Anm. 25), S. 141 f.; zu Langes Arbeit in der Akademie für Deutsches Recht Wolf, S. 34 ff. Zum Richtungsstreit innerhalb der privatrechtlichen Rechtserneuerungsbewegung Wolf, S. 40 ff., 61 ff. (mit weiteren Hinweisen auf Auseinandersetzungen zwischen Lange und Michaelis, S. 64 f.). Vgl. weiter Hans Hattenhauer, Das NS-Volksgesetzbuch, in: Arno Buschmann / Franz-Ludwig Knemeyer u. a. (Hrsg.), Festschrift für Rudolf Gmür zum 70. Geburtstag, 1983, S. 255, 264 ff. mwN (insb. auf S. 267); Ralf Frassek, Steter Tropfen höhlt den Stein – Juristenausbildung im Nationalsozialismus und danach, ZRG-GA 117 (2000), S. 294, 310 ff. 29 Lange (Anm. 13), S. 12 f., 17. Dazu Ralf Frassek, Weltanschaulich begründete Reformbestrebungen für das juristische Studium in den 30er und 40er Jahren, ZRG-GA 111 (1994), S. 564, 576 (Fn. 41). 30 Zum Ende der Schule in Kiel vgl. Eckert (Anm. 13), S. 68 ff. 31 Dazu Lange (Anm. 13), S. 17 f.: „Wie es allen örtlichen Gemeinschaftsbildungen zu ergehen pflegt, so konnte auch die Kieler Arbeitsgemeinschaft nicht dauernd erhalten bleiben. Siebert, der sich mehr und mehr dem Arbeitsrecht widmete, übersiedelte nach Berlin, Wieacker und Michaelis, Dahm und Huber gingen nach Leipzig, und es blieben so Ritterbusch, Larenz und Busse in Kiel. Auch die ideenmäßigen Bande lockerten sich. Der wissenschaftspolitische Einfluß dieser Richtung aber blieb noch lange Zeit groß. Nachdem Carl Schmitt seine Ämter niedergelegt hatte, vereinigte Ritterbusch das Amt eines Reichsfachgruppenleiters Hochschullehrer im NSRB mit dem entsprechenden Amte im NS-Dozentenbund in seiner Person. Auf dem Juristentage 1939 trat darum die Kieler Richtung stärker hervor.“ 32 Dazu der Kieler Rektor Ritterbusch, Kieler Blätter 1941, S. 22: „Ein besonderes Zeichen für unsere Universität ist auch, daß der Kriegseinsatz der Deutschen Geisteswissen-
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gen zwischen etlichen Mitgliedern der Kieler Schule hielten weit über die NS-Zeit hinaus ein Leben lang.34 a) Lagerkameradschaft und die Idee der Rechtserneuerung als Gemeinschaftsaufgabe Einen für die politischen Zwecke bewusst eingesetzten und nach außen gut dokumentierten Höhepunkt der kameradschaftlichen Verbundenheit der Mitglieder der Kieler Schule stellte „Das Kitzeberger Lager junger Rechtslehrer“ vom 26. Mai bis 1. Juni 1935 dar,35 auf dessen Bedeutung für die Rechtserneuerung Eckhardt, Referent im REM von 1934 – 1936 und für die Studienreform der Rechts- und Staatswissenschaften verantwortlich, an exponierter Stelle der ersten Ausgabe der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Deutsche Rechtswissenschaft (DRW) hinwies: „Von Reichswissenschaftsminister Rust und Reichsjuristenführer Frank beauftragt, rief ich im Mai 1935 eine Gruppe junger Dozenten und Habilitanden zu einem Gemeinschaftslager in Kiel-Kitzeberg zusammen, um in kameradschaftlicher Zusammenarbeit mit ihnen nach einer klaren Linie in unserem Kampf um eine neue, von nationalsozialistischem Geist getragene deutsche Rechtswissenschaft zu suchen. Keine fachwissenschaftliche Tagung alten Stiles sollte es werden [ . . . ]. Und es wurde auch keine. Von der ersten Stunde an entbrannte ein hartes Ringen um eine neue Weltanschauung [ . . . ]. In rascher, oft leidenschaftlicher Rede und Gegenrede entfaltete sich die Diskussion [ . . . ]. Immer klarer
schaften von ihr seinen Ausgang nahm. Der Rektor der Universität ist der Leiter dieses Kriegseinsatzes, und eine Reihe von Kieler Dozenten sind Leiter einzelner Arbeitskreise.“ Zur „Aktion Ritterbusch“ siehe auch unten IV. 5. 33 Zur anhaltenden Bedeutung der Kieler Schule hält Lange (Anm. 13), S. 37 f. fest: „Unter dieser Betrachtungsweise gelangt man auch zu einer gerechten Würdigung der Richtungskämpfe in der Rechtswissenschaft. Die Kieler Schule mag im einzelnen geschadet haben, mag die Kluft zwischen Wissenschaft und Praxis vertieft, den Konservatismus der letzteren versteift haben, ihr stürmisches Drängen hat das wesentliche Ergebnis gehabt, daß ihr Versuch einer Umwertung aller Werte zur Nachprüfung aller wissenschaftlichen Güter und damit zu vertiefter Erkenntnis des Wertvollen und Wertlosen geführt hat. In diesem Erfolge liegt ihre Stellung und bleibende Bedeutung. Die kämpferische Haltung einzelner sollte darum der Deutschen Rechtswissenschaft auch in Zukunft nicht fehlen.“ Vgl. weiter Grothe (2005) (Anm. 4), S. 168 f. 34 Bei einigen Mitgliedern der Kieler Schule dürfte die gemeinsame Zeit in Kiel nur zu einer Verfestigung bereits vorhandener persönlicher Kontakte geführt haben. So hatten in den 1920er Jahren nicht nur Michaelis und Schaffstein ihre akademische Ausbildung in Göttingen erhalten (s. o.), auch Larenz und Busse, beide ebenso wie Michaelis Schüler von Julius Binder, und Eckhardt (Schüler Herbert Meyers) kamen aus Göttingen; dazu Schumann (Anm. 1), S. 71 f. Dahm und Schaffstein hatten schon als Privatdozenten 1932 gemeinsam die Streitschrift „Liberales oder autoritäres Strafrecht“ verfasst. Erstmals trafen in Kiel hingegen Dahm, Huber und Larenz zusammen (dazu Ralf Dreier, Karl Larenz über seine Haltung im ,Dritten Reich‘, JZ 1993, S. 454, 455). 35 Zum Kitzeberger Lager auch Eckert (Anm. 13), S. 55 ff.; Bernd Rüthers, Entartetes Recht, Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich, 1988, S. 41 ff.
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zeichneten sich einheitliche Anschauungen ab; nicht nur in der einhelligen Ablehnung überholter Begriffswelten, [ . . . ] sondern ebenso über die großen Linien des Neubaus, für den unsere Generation die Fundamente zu legen hat. Einig waren wir uns auch in dem scharfen Abrücken von alten und jungen Rechtswissenschaftlern, in deren Munde unsere Weltanschauung zur Phrase wird. Und bei allen diesen Aussprachen im großen Kreise, all den vielen Unterhaltungen zu zweit oder dritt, wuchs das beglückende Gefühl einer echten Gemeinschaft und kameradschaftlichen Zusammengehörigkeit.“36
Teilnehmer des Kitzeberger Lagers waren außer Eckhardt und den Kieler Dozenten Busse, Dahm, Huber, Larenz, Michaelis, Ritterbusch, Schaffstein, Siebert und Wieacker noch die Rechtslehrer Heinrich Lange, Hans Thieme und Hans Würdinger aus Breslau, Theodor Maunz (Freiburg i.Br.), Reinhard Höhn (Heidelberg) und Heinrich Henkel (Marburg).37 Die kameradschaftliche Verbundenheit des Teilnehmerkreises hob auch der damals 27-jährige Wieacker in seinem in der DRW abgedruckten Bericht über „Das Kitzeberger Lager junger Rechtslehrer“ hervor: „Ohne Bindung an ein vorgefaßtes Arbeitsprogramm ergab sich in den gemeinsamen Besprechungen eine vielfach spontane Übereinstimmung über die Grundhaltung, auf die die neue Rechtswissenschaft über alle Einzelergebnisse und nähere Formulierungen hinaus angewiesen ist. [ . . . ] Wanderungen, Ausmärsche, Frühsport und die kleinen Ereignisse des Lagerlebens schufen die Entspannung und kameradschaftliche Beziehung, in der die Übereinstimmung im Denken sich zur kämpfenden Arbeitsgemeinschaft vertieft.“38
Über die Idee des gemeinsamen Kampfes für die Rechtserneuerung, der sich die Kitzeberger Dozentengemeinschaft verpflichtet fühlte, schrieb Wieacker: „Weiterhin ergab sich eine neue Einstellung: Über die in den letzten Jahren überall geförderte und erfolgreiche Polemik gegen die Voraussetzungen des älteren Rechtsdenkens hinaus wurden in gemeinschaftlicher Arbeit die neuen Formen sichtbar, in denen das völkische Recht lebendig sein wird. Daher hinterließ das Kitzeberger Treffen bei den Teilnehmern den Eindruck, daß hier im Kampf um die neue Rechtswissenschaft eine neue Art der Gemeinschaftsarbeit ins Leben trat: es sind in einer Lagergemeinschaft die Voraussetzungen für eine gemeinschaftliche Grundhaltung festgestellt und diese Grundhaltung selbst an einer Reihe von wesentlichen Fragenkreisen bewährt worden. Es bestand Einigkeit darüber, daß die im Lager gewonnene Gemeinschaft aufrechtzuerhalten und in den nächsten Semestern durch erneute Treffen zu vertiefen sei.“39
Karl August Eckhardt, Zum Geleit (15. 10. 1935), DRW 1936, S. 3. Franz Wieacker, Das Kitzeberger Lager junger Rechtslehrer, DRW 1936, S. 74. Für Ritterbusch ist noch Königsberg angegeben. 38 Wieacker, DRW 1936, S. 74. 39 Wieacker, DRW 1936, S. 80. Rückblickend beurteilte Wieacker (Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 515, Fn. 2) den Kampf der jungen Wissenschaftler für die Rechtserneuerung kritisch: „Anderes gilt wieder für die Kritik meist jüngerer Zivilrechtsdogmatiker an den traditionellen Begriffsbildungen der Pandektenwissenschaft und des bürgerlichen Rechts (an der auch der Verfasser beteiligt war). Trotz überwiegend sachlich begründeter Motive kann ihr der Vorwurf nicht erspart werden, daß sie sich – vor allem in den ersten 36 37
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Im Geleitwort zum ersten Band der DRW wurde von Eckhardt zusätzlich die Exklusivität der Kitzeberger Gemeinschaft als einer neuen jungen Elite40 betont: „Am 1. Juni trennten wir uns mit der Gewißheit, daß die Richtung des Weiterkampfes gesichert sei, und daß wir diesen Kampf Schulter an Schulter führen würden. [ . . . ] wir kämpfen um eine gemeinsame Grundhaltung in allen entscheidenden Fragen, die es zu erarbeiten und in Forschung und Lehre durchzusetzen gilt. In diesem Sinne fühlen wir uns als Kampfgemeinschaft. In diese Gemeinschaft kann man nicht eintreten oder zugewählt werden, man kann nur hineinwachsen. [ . . . ] Wir kennen dafür nur eine Voraussetzung: kompromißlose nationalsozialistische Gesinnung und kämpferische Haltung. Der sicherste Weg zu uns führt durch SA und SS.“41
Konkrete Pläne zur Umsetzung des Rechtserneuerungsprogramms lagen zu diesem Zeitpunkt längst auf dem Tisch und wurden von Eckhardt im Geleitwort ebenfalls angekündigt: die Herausgabe der neuen Lehrbuchreihe „Grundzüge der Rechtswissenschaften“ (hrsg. von Dahm, Eckhardt und Huber), einer neuen Abhandlungsreihe (hrsg. von Ritterbusch, Schaffstein und Siebert) und einer eigenen Zeitschrift,42 die von den Teilnehmern des Kitzeberger Lagers mit Schriften und Beiträgen bestückt und von der Hanseatischen Verlagsanstalt Hamburg (HAVA) betreut werden sollten. Außerdem wurde betont, dass künftig mit einer intensiven Mitarbeit der Kitzeberger Dozenten im Zentralorgan des Bundes Nationalsozialistischer Deutscher Juristen (BNSDJ), der Zeitschrift Deutsches Recht (DR) unter der Schriftleitung von Reinhard Höhn, zu rechnen sei.43 Jahren – terminologisch und ideologisch von unwahren Pathosformeln jener Zeit nicht zureichend distanzierte [ . . . ].“ 40 Ursprünglich war sogar geplant, die Zeitschrift „Junge Rechtswissenschaft“ zu nennen. Dazu Wolf (Anm. 25), S. 32 f., 61. 41 Eckhardt, DRW 1936, S. 4. In Heft 1 des ersten Bandes der DRW wurden sechs der in Kitzeberg gehaltenen Referate veröffentlicht: Eckhardt, Recht oder Pflicht, S. 7 ff.; Würdinger, Das subjektive Recht im Privatrecht, S. 15 ff.; Siebert, Subjektives Recht, konkrete Berechtigung, Pflichtenordnung, S. 23 ff.; Larenz, Gemeinschaft und Rechtsstellung, S. 31 ff.; Schaffstein, Das subjektive Recht im Strafrecht, S. 39 ff.; Höhn, Das subjektive öffentliche Recht und der neue Staat, S. 49 ff. 42 Erste Pläne der jungen Kieler Rechtslehrer, ihrer Richtung durch eine eigene Zeitschrift Gehör zu verschaffen, gehen auf das Jahr 1933 zurück, wie sich aus einem Schreiben von Larenz an Heinrich Heckel vom 25. 8. 1933 ergibt (in Auszügen abgedruckt bei Lothar Becker, ,Schritte auf einer abschüssiger Bahn‘, 1999, S. 99): „Wir hatten in Kiel den Plan gehegt, eine eigene Zeitschrift der Jungen zu gründen u. diesen Plan auch höheren Orts mitgeteilt.“ Vgl. weiter Grothe (2005) (Anm. 4), S. 211. 43 Eckhardt, DRW 1936, S. 4. Dazu auch Lange (Anm. 13), S. 14 f. (in Abgrenzung zur Rechtserneuerung durch die Akademie für Deutsches Recht): „Ein Ringen um das Durchsetzen der eigenen Ideen begann. 1935 legten die Kieler Rechtslehrer einen Gemeinschaftsband: ,Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft‘ vor. Seit 1936 gab Eckhardt im Auftrag von Reichsminister Rust und Dr. Frank die Zeitschrift ,Deutsche Rechtswissenschaft‘ heraus, die er zu einem Kampforgan für diese Anschauungen ausgestaltete und für die er die rechtspolitische Führung beanspruchte. Seit 1934 öffnete Höhn, der diesem Kreise damals nahestand, als Schriftleiter des Deutschen Rechtes das Kampfblatt des BNSDJ diesen Anschauungen [ . . . ].“ Zu weiteren Wirkungen der Kieler Schule vgl. Eckert (Anm. 13), S. 65 ff.
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Auf die Mitarbeit der Kieler Dozenten in den genannten Reihen und Zeitschriften wird noch zurückzukommen sein (dazu unten IV. 2 und 3). Hier soll der Hinweis genügen, dass das 1936 von der Reichsleitung des NSD-Dozentenbundes einberufene und in Bad Elster unter der Leitung von Höhn und Ritterbusch durchgeführte „Lager junger Rechtslehrer“ ebenfalls den Geist gemeinsamer Rechtserneuerung beschwor.44 Auch auf diesem Dozentenlager spielte die Kieler Schule, die mit Busse, Siebert, Ritterbusch und Wieacker etwa die Hälfte der Referenten stellte, eine wesentliche Rolle.45 Wie schon in der ersten Ausgabe der DRW wurden auch in Heft 1 des zweiten Bandes von 1937 etliche Referate der Tagung – beginnend mit Wieackers Beitrag „Der Stand der Rechtserneuerung auf dem Gebiete des bürgerlichen Rechts“ – veröffentlicht.46 Auch wenn die Idee der Rechtserneuerung als Gemeinschaftsaufgabe keineswegs auf die Kieler Schule beschränkt werden kann,47 so waren die Kiel-Kitzeberger Rechtslehrer doch gewillt, sich an dieser Aufgabe richtungsweisend zu beteiligen,48 44 Berthold Hofmann, Das Lager junger Rechtslehrer in Bad Elster, DRW 1937, S. 84, 89: „Am Schlusse des Lagers war die große Linie des Kampfes um eine nationalsozialistische Rechtswissenschaft neu herausgestellt. Die Teilnehmer waren in den kurzen Tagen des Zusammenseins zu einer Kameradschaft zusammengewachsen, die jeden die Größe und Verpflichtung unseres Kampfes um ein neues Recht aufs neue fühlen ließ. [ . . . ] So mündete die weltanschauliche Grundhaltung und das wissenschaftliche Ergebnis des Lehrgangs in jenen Kreis von Menschenführung und Wissenschaftsarbeit, den schon das Kitzeberger Lager junger Rechtslehrer vom Frühjahr 1935 vorgezeichnet hatte.“ 45 Aus dem Bericht von Hofmann ergibt sich, dass Busse zum Bauernrecht, Siebert zum Arbeitsrecht, Ritterbusch zum Völkerrecht und Höhn zum Staats- und Verwaltungsrecht vortrugen. 46 DRW 1937, S. 3 – 27. Wieacker verwies in seinem Beitrag zur Rechtserneuerung vor allem auf die Kieler Rechtslehrer (insbesondere mehrfach auf Busse, Eckhardt, Larenz und Siebert, aber auch auf Dahm, Huber und Schaffstein), daneben noch auf weitere Referenten des Lagers in Bad Elster (wie Hermann Krause und Reinhard Höhn) sowie auf Heinrich Lange und Heinrich Stoll. Auf Wieackers Beitrag folgen: Hermann Krause, Bericht über Stand und Aufgaben des Wirtschaftsrechts, S. 28 ff.; Gottfried Boldt, Bericht über Stand und Aufgaben des Strafrechts, S. 39 ff.; Karl Siegert, Die Lage des Strafverfahrensrechts, S. 47 ff.; Norbert Gürke, Der Stand der Völkerrechtswissenschaft, S. 57 ff. 47 Diese Idee lag auch den Projekten der Akademie für Deutsches Recht zugrunde, dazu etwa Heinrich Lange, Lage und Aufgabe der Deutschen Privatrechtswissenschaft, 1937, S. 28 f.: „Diese großen Aufgaben der Rechtswissenschaft können nicht vom Einzelnen in eigenbestimmter, eigenwilliger Arbeit gelöst werden. Nicht im unverbundenen Nebeneinander einzelner Juristen, sondern in treuer Gemeinschaftsarbeit des deutschen Rechtsstandes kann dieses Werk vollendet werden. [ . . . ] Der Präsident der Akademie für Deutsches Recht hat die deutsche Privatrechtswissenschaft zu geplanter Gemeinschaftsarbeit aufgerufen. Sie ist ihm einhellig gefolgt.“ Vgl. zur geistigen Erneuerung als Gemeinschaftsaufgabe aber auch Paul Ritterbusch, Idee und Aufgabe der Reichsuniversität, Der Deutsche Staat der Gegenwart, Heft 8, 1935. 48 Dies wurde auch in der zeitgenössischen Literatur so gesehen, vgl. nur Theodor Maunz, Der deutsche Hochschullehrer und die Rechtserneuerung, DR 1936, S. 488, 491: „Die Abhandlungen der Kieler Rechtslehrer Dahm, ,Verrat und Verbrechen‘, und Schaffstein, ,Das Verbrechen als Pflichtverletzung‘, [ . . . ] sind Beispiele der strafrechtlichen Erneuerungs-
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wobei die DRW als Publikationsorgan der „Jungen Rechtswissenschaft“ eine nicht unwesentliche Rolle spielte.49 b) Kieler Schule und Studienreform Die Bedeutung, die das REM der juristischen Ausbildung in Kiel zumaß,50 wurde in den am 18. 1. 1935 verkündeten Richtlinien für das Studium der Rechtswissenschaft mit der Empfehlung an die Studenten, bevorzugt an den als „politischer Stoßtrupp“ ausersehenen juristischen Fakultäten in Kiel, Breslau und Königsberg zu studieren, zum Ausdruck gebracht.51 Mit dieser Empfehlung verband sich die Vorstellung, dass die neue Studienordnung einen neuen Dozentenbewegung. [ . . . ] Die Rechtsphilosophie, Rechtsmethoden- und Rechtsfindungslehre fand als Vorkämpfer um die Erneuerung u. a. die Rechtslehrer [ . . . ] Larenz (Kiel), [ . . . ] Ritterbusch (Kiel) [ . . . ].“ Aus dem Wirtschaftsrecht (S. 492) werden „für die neue Lehre vom Eigentum Weber, Wieacker“ und für „das neue Recht der Arbeit [ . . . ] Siebert, Thieme“ genannt. „In wichtigen Einzelarbeiten haben ferner Michaelis (Kiel) und Thieme (Breslau) die Auswirkungen der neuen Anschauungen aufgezeigt.“ Und weiter: „Ein bewährtes Mittel des politischen Kampfes und Sieges des Nationalsozialismus wurde auch in der Erneuerungsbewegung des Rechts erprobt: [ . . . ] Einmal in dem organisatorischen Versuch der Bildung von juristischen Stoßtruppfakultäten (Breslau, Kiel und Königsberg), sodann in dem geschlossenen Einsatz verschiedenartiger Kräfte, die schlagartig auf das gleiche Ziel gerichtet werden. Das Kitzeberger Lager junger Rechtslehrer unter Leitung des Berliner Rechtslehrers Eckhardt, der Kampf um das subjektive Recht und das Suchen nach der neuen Stellung des Richters, wie sie in der Zeitschrift ,Deutsche Rechtswissenschaft‘ entwickelt wurden, sind Beispiele dieser Kampfmethode.“ 49 So auch im Ergebnis Becker (Anm. 42), S. 217 f. zu den der Kieler Schule nahe stehenden Zeitschriften ZgStW und DRW: „Die ,Neue Deutsche Rechtswissenschaft‘ propagierte eine neue Form wissenschaftlicher Gemeinschaftsarbeit, ausgehend von einer einheitlichen ideologischen Grundlage, gestärkt durch das in Arbeitslagern erlebte Gemeinschaftsgefühl. In diesem Konzept spielten die Fachzeitschriften wieder eine bedeutende Rolle. [ . . . ] Bei den Organen der ,Neuen Deutschen Rechtswissenschaft‘ handelte es sich um einen völlig neuen Zeitschriftentypus, der mit dem traditionellen Charakter eines ,offenen Forums‘ nur noch wenig gemein hatte. An die Stelle eines großen, breit gefächerten Herausgebergremiums trat ein Zeitschriftenführer oder ein kleiner, persönlich eng verbundener Wissenschaftlerkreis. Die Mitarbeiterauswahl konzentrierte man auf bestimmte örtlich oder weltanschaulich gebundene Kreise. Zur Veröffentlichung kamen allein Auftragsarbeiten, die zuvor bei ausgewählten Verfassern gegen Zahlung eines überdurchschnittlichen Honorars angefordert worden waren. Die Herausgeber selbst trugen mit zahlreichen Beiträgen und Rezensionen zur Profilierung der eigenen Zeitschrift bei.“ Vgl. weiter Rüthers (Anm. 35), S. 48 ff. 50 Zur Juristenausbildung in der NS-Zeit und zur Bedeutung Kiels vgl. Frassek, ZRG-GA 117 (2000), S. 300 ff.; ders., ZRG-GA 111 (1994), S. 564, 569 ff.; ders. (Anm. 15), S. 49 ff. 51 Richtlinien für das Studium der Rechtswissenschaft vom 18. 1. 1935, Deutsche Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 1935, S. 48, 49: „I. Grundgedanken. Lehrer und Studenten der Rechte! Die deutsche Rechtswissenschaft muß nationalsozialistisch werden. [ . . . ] IV. Leitsätze für die Studenten. [ . . . ] 2. Der Neubau der Universitäten kann nicht von heute auf morgen erfolgen. Bevorzugt zunächst die rechtswissenschaftlichen Fakultäten in Kiel, Breslau und Königsberg, die als politischer Stoßtrupp ausersehen sind!“ Vgl. weiter Reinhard Höhn, Die neue Studienordnung für Rechtswissenschaft im Rahmen der Universitätsreform, DR 1935, S. 51, 52; Ritterbusch, Kieler Blätter 1941, S. 11.
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typus erfordere, der die Rechtserneuerung in die Lehre und die Idee des Gemeinschaftserlebnisses in den Kreis der Studenten trage.52 Auch zur Erfüllung dieser Aufgabe fühlten sich die jungen Kieler Dozenten in besonderem Maße berufen.53 Die im Wesentlichen von Eckhardt entworfene neue Studienordnung von 1935 war nur wenige Wochen zuvor auf einer Arbeitstagung der BNSDJ-Reichsfachgruppe Hochschullehrer, deren Leiter Carl Schmitt war, in Berlin am 20. / 21. 12. 1934 als Gemeinschaftsarbeit zwischen den Ministerien und der Reichsfachgruppe der Fachöffentlichkeit vorgestellt54 und – wie Heinrich Lange später an verschiedenen Stellen betonte – trotz erheblicher Widerstände55 durchgesetzt worden: 52 So explizit Höhn, DR 1935, S. 52: „Eine solche neue Studienordnung mit ihren klar gekennzeichneten Ziele erfordert auch einen neuen Dozententypus. [ . . . ] Nur wenn er das Gemeinschaftserlebnis dieser Zeit in sich trägt, können seine Vorlesungen das bieten, was die neue Studienordnung von ihm verlangt. [ . . . ] Deshalb glaubt auch die neue Studienordnung nicht ohne eine neue Dozentengeneration diese Aufgaben lösen zu können. [ . . . ] Das ist heute für die Jurisprudenz in besonderem Maße in Kiel, Königsberg und Breslau der Fall, deshalb werden diese Universitäten dem jungen Juristen besonders empfohlen.“ 53 Schon vor Erlass der Studienordnung, noch in seiner Leipziger Zeit, hatte sich Schaffstein zur Reform des juristischen Studiums geäußert (Politische Universität und Neuordnung des juristischen Studiums, DJZ 1934, Sp. 511 – 517). Zu ersten Reformplänen in einer Denkschrift des preußischen Kultusministeriums hatte auch Huber 1934 im Namen der Kieler Fakultät gegenüber Staatssekretär Stuckart Stellung genommen und sich für den Ausbau der geschichtlichen und politischen Fächer ausgesprochen. Die Denkschrift war acht ausgewählten „jüngeren nationalsozialistischen Dozenten“ zugeschickt worden und zwar u. a. an Dahm, Huber, Ritterbusch und Schaffstein. Auf Huber geht – nach Auskunft von Tula Huber-Simons – die Aufnahme der Vorlesung „Verfassungsgeschichte der Neuzeit“ in die Studienordnung zurück. Dazu Grothe (2005) (Anm. 4), S. 181, 194 ff. Vgl. weiter Stellungnahme der Kieler Schule (Frassek, ZRG-GA 111 (1994), S. 591) zur Umsetzung der Studienreform: „In Kiel gibt es seit mehreren Jahren überhaupt keine gewerbsmäßigen Repetitoren mehr! [ . . . ] Wo die Studienordnung sinngemäß verstanden und gehandhabt worden ist, hat sie sich pädagogisch sehr wohl bewährt.“ 54 Als Referenten der Tagung, an der über 170 Hochschullehrer der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften teilnahmen, traten aus der Kieler Schule neben Eckhardt noch Larenz (für den Bereich der Rechtsphilosophie) und Ritterbusch (für die Bereiche Staatslehre und Politik) auf. Dazu insgesamt Karl August Eckhardt, Das Studium der Rechtswissenschaft, Der deutsche Staat der Gegenwart, Heft 11, 1935, Vorwort; Johannes Heckel / Heinrich Henkel / Gustav Adolf Walz / Karl Larenz, Berichte über die Lage und das Studium des öffentlichen Rechts, Der Deutsche Staat der Gegenwart, Heft 12, 1935, Vorbemerkung. Zur Studienreform und der Hochschullehrertagung im Dezember 1934 vgl. auch Frassek, ZRG-GA 117 (2000), S. 300 ff.; ders., ZRG-GA 111 (1994), S. 569 ff.; ders. (Anm. 15), S. 52 ff.; Grothe (2005) (Anm. 4), S. 196 ff.; Andreas Koenen, Der Fall Carl Schmitt, Sein Aufstieg zum „Kronjuristen des Dritten Reichs“, 1995, S. 641 ff. 55 Diese Widerstände dürften u. a. auf die von den jüngeren Dozenten deutlich formulierte Abgrenzung zur älteren Generation zurückzuführen sein; so insb. Eckhardt (Anm. 54), S. 20: „Es geht nicht an, daß ein Professor, weil er dienstälter ist, die Vorlesung allein anzeigt und die Studenten sie infolgedessen überhaupt nicht hören. In Zukunft machen wir das so: haben wir einen unfähigen Ordinarius irgendwo oder haben wir jemand, der wegen seiner wissenschaftlichen Verdienste zu schade ist für einen umfangreichen Vorlesungsbetrieb (Heiterkeit), dann setzen wir ihm einen tüchtigen Privatdozenten ins Fell, der ebenfalls in die Prüfungskommission hineinkommt, mit dem strikten Auftrag, dieselben Vorlesungen zu halten. Die
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„Unter der Führung von K. A. Eckhardt, der 1934 im Reichs- und preußischen Wissenschaftsministerium eine maßgebende Stellung gewonnen hatte, erzielten Carl Schmitt und die Kieler Richtung ihren sichtbarsten Erfolg, als sie auf Grund einer Tagung der juristischen Hochschullehrer am 20. und 21. Dezember 1934 in Berlin gegen breiteste Gegnerschaft aus verschiedensten Lagern die Studienordnung vom 15. Januar 1935 durchsetzten. Die Studienordnung bedeutete die schärfste Kampfansage gegen die Technik, den Umfang und die Bedeutung des bürgerlichen Rechts und des Bürgerlichen Gesetzbuchs. [ . . . ] Nach und nach löste sich die Kieler Schule von Carl Schmitt. Eckhardt versuchte, eine gemeinsame Front der jungen Rechtswissenschaft zu bilden; er berief zu diesem Zweck das Kitzeberger Lager ein.“56
Da die neue Studienordnung die überkommene Fächereinteilung auflöste57 und stattdessen den Stoff innerhalb der neuen Fächer (Geschichte, Volk, Stände, Staat, Rechtsverkehr, Rechtsschutz usw.)58 unter Aufgabe der Trennung zwischen privatem und öffentlichen Recht59 nach neuen Kriterien (in Orientierung an der LebensStudenten werden dann sehr schnell zu dem gehen, der besser liest. Wir müssen dahin kommen, daß wir an jeder Universität für jedes Hauptfach gute Dozenten haben. (Großer Beifall.)“ Vgl. auch Höhn, DR 1935, S. 52 zur neuen Studienordnung: „Sie bricht auch mit einem der Hauptfehler der bisherigen Universität, dem Anciennitätsprinzip.“ Vgl. in diesem Zusammenhang auch Michael Grüttner, Machtergreifung als Generationskonflikt, in: Rüdiger vom Bruch / Brigitte Kaderas (Hrsg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik, Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, 2002, S. 339, 340 ff. 56 Lange (Anm. 13), S. 12 ff. Vgl. auch ders., Zum System des deutschen Vermögensrechts, Zu einer Schrift von Franz Wieacker, AcP 1941, S. 290. Zu Lange, der auf der Tagung das Referat zum Bürgerlichen Recht gehalten hatte, vgl. Eckhardt (Anm. 54), S. 16: „Infolgedessen kann unser Ziel nur sein, durch [ . . . ] eine Auflockerung des alten Vorlesungsplanes den Weg frei zu machen für eine grundsätzliche Neugestaltung. Wenn Herr Kollege Lange gestern sagte, wir könnten die Vorlesung nicht grundsätzlich neu gestalten, solange die Gesetzgebung selbst nicht vorangegangen sei, so muß ich dieser Ansicht energisch widersprechen: Wenn wir uns zurückhalten, dann wird jede Gesetzesreform ohne uns gemacht, wenn wir aber auf dem Gebiete der Studienreform vorstoßen, dann könnten wir unter Umständen außerordentlich viel leisten.“ Dazu auch Wolf (Anm. 25), S. 32 f., 40 ff.; Frassek, ZRG-GA 117 (2000), S. 302 f., 310 ff. 57 Allerdings wurde die neue Studienordnung an den Fakultäten in unterschiedlich starkem Maße umgesetzt. Vgl. nur Frassek (Anm. 15), S. 55 f.; ders., ZRG-GA 117 (2000), S. 315 ff. mit einem Vergleich der Vorlesungen der juristischen Fakultäten in Halle, Kiel und Tübingen. Der im Anhang (ebenda, S. 356 ff.) abgedruckte Vorlesungsplan für die genannten Fakultäten zeigt, dass in Kiel bereits im Wintersemester 1935 / 36 die Studienordnung vollständig umgesetzt war: Larenz las „Familie“, Siebert „Ware und Geld“, Wieacker „Boden“ und Dahm „Deutsches Recht“. 58 Neben der neuen Stoffeinteilung (insb. der Gliederung des BGB in Lebensbereiche wie „Vertrag und Unrecht“, „Ware und Geld“, „Boden“, „Familienerbe“ usw.) und dem starken Ausbau der historischen Grundlagenfächer war vor allem das dem Fachstudium vorgeschaltete politische Grundstudium mit Vorlesungen über Rasse, Sippe, Volkskunde usw. charakteristisch. Dazu auch Grothe (2005) (Anm. 4), S. 199 f. 59 Für die Auflösung der Trennung von öffentlichem und privatem Recht setzte sich auch Ernst Rudolf Huber ein, vgl. Karl Lasch, 4. Jahrestagung der Akademie für Deutsches Recht, DR 1937, S. 434, 435. Vgl. weiter Stolleis (Anm. 21), S. 338 ff.
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wirklichkeit und in Weiterführung des von Carl Schmitt entwickelten „konkreten Ordnungsdenkens“)60 ordnete,61 galt es die vorlesungsbegleitenden Grundrisse entsprechend der neuen Studienordnung zu überarbeiten.62 Auch dieser Aufgabe widmeten sich die jungen Rechtslehrer der Kieler Schule vor allem in der Reihe Grundzüge der Rechtswissenschaft (dazu unten IV. 2b) mit Nachdruck,63 während die meisten juristischen Lehrbücher auch nach 1935 noch der alten Stoffeinteilung und damit den geltenden Gesetzen folgten. Als die Akademie für Deutsches Recht 1938 unter maßgeblicher Mitarbeit von Heinrich Lange einen Reformentwurf vorlegte, der eine weitgehende Rückgängig60 Zum „konkreten Ordnungsdenken“ vgl. Carl Schmitt, Über die drei Arten rechtswissenschaftlichen Denkens, 1934. Kritisch Rüthers (Anm. 35), S. 63 ff. mwN. 61 Franz Wieacker hob noch in der zweiten Auflage seiner Privatrechtsgeschichte der Neuzeit von 1967 (S. 555) die neue Stoffeinteilung in Abgrenzung zu den Studienordnungen nach 1945 lobend hervor: „Dagegen verteilte die (in ihrem Inhalt insoweit wesentlich nicht politisch motivierte) Reichsstudienordnung von 1935 den herkömmlichen Vorlesungsstoff der fünf Bücher des BGB mit bemerkenswerter Selbständigkeit und Sinn für pädagogisch produktive Wirklichkeitszusammenhänge neu. [ . . . ] Auch die Zuordnung des Mobiliarsachenrechts zu den Umsatz- und Kreditgeschäften (,Ware und Geld‘), die Verselbständigung des Liegenschafts- und Bodenrechts (,Boden‘!) und die Zusammenstellung von Familiengüter- und Erbrecht (,Familienerbe‘) förderten nach dem Urteil des Vfs. die Veranschaulichung der Funktionszusammenhänge der Privatrechtsordnung. Trotz der eigenwilligen und nicht eben glücklichen Benennung der Vorlesungen war diese improvisierte Reform zumindest in diesen Rechtsmaterien ein (von politischen Verzerrungen kaum beeinflusster) ernsthafter und der Erwägung werter Versuch, den Rechtsunterricht aus traditionellen Bahnen herauszuführen.“ 62 An der neuen Studienordnung orientierte sich auch die erfolgreiche, von Heinrich Stoll und Heinrich Lange herausgegebene und bei J. C. B. Mohr (Tübingen) 1935 – 1944 erschienene Reihe „Grundrisse des Deutschen Rechts“ (nach dem Tod Heinrich Stolls 1937 war Heinrich Lange alleine Herausgeber): Bd. 1: Heinrich Stoll, Deutsches Bauernrecht, 1. Aufl. 1935, 2. Aufl. 1938, 3. Aufl. 1942, 4. Aufl. 1943, 5. Aufl. 1944 (besorgt von Fritz Baur seit der 2. Aufl.); Bd. 2: Hans Kreller, Römische Rechtsgeschichte, 1936; Bd. 3: Arthur Nikisch, Arbeitsrecht, 2 Teilbände, 1. Aufl. 1936 / 38, 2. Aufl. 1944; Bd. 4: Heinrich Stoll, Vertrag und Unrecht, 2 Teilbände, 1. Aufl. 1936, 2. Aufl. 1941 / 42, 3. Aufl. 1943, 4. Aufl. 1944 (besorgt von Wilhelm Felgentraeger seit der 2. Aufl.); Bd. 5: Hans Erich Feine, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 1. Aufl. 1937, 2. Aufl. 1940, 3. Aufl. 1943; Bd. 6: Heinrich Lange, Boden, Ware und Geld, 3 Teilbände (Bd. 1: Grundfragen, Bd. 2: Bodenrecht, Bd. 3: Ware und Geld), 1. Aufl. 1937, 2. Aufl. 1942 – 1944, 3. Aufl. 1944 (nur Teilband 1); Bd. 7: Hellmut Georg Isele, Familie und Familienerbe, 1938; Bd. 8: Rudolf Reinhardt, Handel und Gewerbe, 1938; Bd. 9: Günter Haupt, Gesellschaftsrecht, 1. Aufl. 1939, 2. Aufl. 1942, 3. Aufl. 1944; Bd. 10: Wolfgang Bernhardt, Rechtsstreit 1939. Zu den unterschiedlichen Konzeptionen der Tübinger Grundrissreihe von Stoll / Lange einerseits und derjenigen der Kiel-Kitzeberger Gruppe andererseits vgl. Frassek, ZRG-GA 117 (2000), S. 327 ff.; Grothe (2005) (Anm. 4), S. 206 ff.; Wolf (Anm. 25), S. 63 ff., 67 ff. 63 Von den Mitgliedern der Kieler Schule erschien außerhalb dieser Reihe etwa noch die Arbeit von Franz Wieacker, Zum System des deutschen Vermögensrechts, Erwägungen und Vorschläge, Leipziger rechtswissenschaftliche Studien, Heft 126, 1941 (es handelt sich dabei um eine Sonderausgabe aus den Leipziger „Beiträgen zur Rechtserneuerung“; im Vorwort schreibt Wieacker dazu, dass die Schrift „aus einem Bericht in der Arbeitsgemeinschaft der
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machung der Eckhardtschen Studienreform vorsah,64 gaben die Kieler Professoren Anfang 1939 eine Stellungnahme ab, die damals nicht veröffentlicht wurde, jedoch in drei Fassungen überliefert ist.65 Die erste Fassung der Stellungnahme (mit „Entwurf“ überschrieben) ist von Larenz und Busse unterzeichnet, die zweite Fassung (die Reinschrift des Entwurfs) – etwa halb so lang wie die Endfassung und weniger gemäßigt als diese – trägt die Überschrift „Stellungnahme der Fachgruppe Rechtswissenschaft in der Reichsleitung des NSD-Dozentenbundes zu dem Akademieplan einer neuen rechtswissenschaftlichen Studienordnung“. Wer dieser Fachgruppe angehörte, ergibt sich aus einem Schreiben der Reichsleitung der NSDAP vom 4. 2. 1939 an die „Mitglieder des Arbeitsausschusses für juristische Studienund Ausbildungsfragen des NSD-Dozentenbundes“ (NSDDB): Neben den Göttinger Professoren Wilhelm Saure (als Vorsitzenden des Arbeitsausschusses) und Karl Siegert, beide überzeugte Nationalsozialisten, 66 werden die (ehemaligen) Kieler Leipziger Juristenfakultät für die Neugestaltung des volksgenössischen Rechts hervorgegangen“ sei). Dazu auch Lange, AcP 1941, S. 290 ff., 302 f. 64 Der Entwurf, auch als „Drei-Männer-Entwurf Lange – Weber – Felgentraeger“ bezeichnet, wird vor allem auf Lange und weniger auf Werner Weber und Wilhelm Felgentraeger zurückgeführt. Kritik an der Studienreform war auch von anderer Seite geäußert worden, vgl. etwa v. Schwerin, Studienreform und Rechtsreform, ZAkDR 1937, S. 455 – 458; Hugelmann, Zur Reform des rechtswissenschaftlichen Studiums, ZAkDR 1937, S. 592 – 594. Dazu insgesamt Frassek, ZRG-GA 111 (1994), S. 572 ff., insb. S. 585 ff. (zu den unterschiedlichen Ansätzen zur Reform des juristischen Studiums durch die Studienordnung 1935 / Kieler Schule einerseits und die Akademie für Deutsches Recht / Heinrich Lange andererseits). Das Auseinanderfallen von Studienordnung und geltendem Recht war einer der Hauptkritikpunkte, der von Lange auch an anderer Stelle (Anm. 13), S. 16 geltend gemacht wurde. Nach Auffassung der Mitglieder der Kieler Schule musste dies hingenommen werden, weil nur so eine Rechtserneuerung ermöglicht werden könne. So insb. Wolfgang Siebert, Rechtssystem und Studienordnung, Ein Beitrag zur Berufserziehung des Rechtswahrernachwuchses, DR 1939, S. 829, 830; Michaelis, DR 1942, S. 1403. Dazu auch Wolf (Anm. 25), S. 43 ff., der insoweit eine „fundamentale Gegnerschaft“ zwischen Lange und der Kieler Schule annimmt (S. 44). Vgl. weiter Grothe (2005) (Anm. 4), S. 201 f. 65 Bei Frassek, ZRG-GA 111 (1994), S. 586 ff. ist die letzte Fassung mit dem Titel „Der Aufbau des Rechtsstudiums – Stellungnahme zum Studienplan-Entwurf der Akademie für Deutsches Recht“ abgedruckt. In der Stellungnahme heißt es in Abgrenzung zum Akademieentwurf: „Dem gegenüber hat die junge nationalsozialistische Rechtswissenschaft eine andere Auffassung entwickelt, die in der Studienreform von 1935 ihren ersten Ausdruck gefunden hat. [ . . . ] Es war zu erwarten, daß die Träger der überkommenen Auffassung gegen die Studienordnung einwenden würden, sie zerreiße die auf der überlieferten, d. h. auf dem gemeinrechtlichen Rechtssystem beruhenden Zusammenhänge [ . . . ]. Betrachtet man von hier aus den Plan des Akademie-Ausschusses, so sieht man, daß er in vollem Umfang zu der früheren Auffassung zurückkehrt. [ . . . ] Der Wiederherstellung und starken Betonung des alten ,Zivilrechts‘ mitsamt seiner historischen Wurzel, dem römischen Recht, entspricht eine ebenso charakteristische Zurückdrängung anderer Vorlesungen. [ . . . ] Es ist jedoch in keiner Weise einzusehen und auch in keiner Weise vom nationalsozialistischen Standpunkte zu verantworten, daß die politischen Grundvorlesungen zugunsten von privatrechtlichen in katastrophaler Weise beschnitten werden.“ Die Stellungnahme endet mit der Aussage, dass „die vom Akademie-Ausschuß geplante Rückkehr zum alten Studienaufbau [ . . . ] aus pädagogische[n] wie aus weltanschaulichen und rechtspolitischen Gründen gleichermaßen verhängnisvoll“ wäre.
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Dozenten Busse, Dahm, Larenz, Ritterbusch, Siebert und Wieacker genannt.67 In dem Schreiben wurden die Mitglieder des Arbeitsausschusses gebeten, „dringend von Veröffentlichungen oder persönlichen Stellungnahmen in dieser Frage gegenüber irgendwelchen Stellen abzusehen“, da sich der Stellvertreter des Führers, Rudolf Hess, die „Federführung in dieser Angelegenheit“ vorbehalten habe.68 Das Ziel, den Richtungsstreit um die Studienreform und die Rechtserneuerung zwischen der Kieler Schule und der Gruppe um Heinrich Lange in der Akademie für Deutsches Recht zu beenden und eine „kameradschaftliche Zusammenarbeit“ zwischen beiden Lagern herbeizuführen,69 rückte mit der Übernahme der DRW durch die Abteilung für Rechtsforschung der Akademie für Deutsches Recht zum 1. 1. 1939 näher (dazu unten IV. 3a).70 Auch während des Krieges arbeiteten Mitglieder der Kieler Schule weiterhin an der Reform der Juristenausbildung mit – so insbesondere an der Neukonzeption des Studiengangs Verwaltungswissenschaften auf Einladung Ritterbuschs, der von 1941 bis 1944 als ständiger Stellvertreter des Amtschefs Wissenschaft im REM auch für Studienfragen zuständig war. Beteiligt an der Ausarbeitung der Vorlesungsinhalte des neu zu konzipierenden Studiengangs waren laut Besprechungsprotokoll der Berliner Arbeitstagung vom 17. 2. 1943 vorrangig die (ehemaligen) Kieler Dozenten Busse, Dahm, Huber, Larenz, Michaelis, Siebert und Wieacker.71 Zu Wilhelm Saure und Karl Siegert vgl. Schumann (Anm. 1), S. 76, 89 f. Dazu Frassek, ZRG-GA 111 (1994), S. 577. Als Mitglied des NSDDB hielt Wieacker auch auf dem Wissenschaftslager des Fachkreises Rechtswissenschaft des NSDDB in Würzburg vom 21. – 24. 10. 1942 einen Vortrag zum Thema „Das römische Weltreich und die Rechtsstellung der nichtrömischen Reichsangehörigen“, der in Deutschlands Erneuerung 1943, S. 271 – 283 veröffentlicht wurde. 68 Zitiert nach Frassek, ZRG-GA 111 (1994), S. 580. Vgl. weiter ders., ZRG-GA 117 (2000), S. 314 f., 332; ders. (Anm. 15), S. 59 ff. Siebert, der auf dem Juristentag im Mai 1939 einen Vortrag zum Thema „Rechtssystem und Studienordnung“ beisteuerte, hielt sich jedenfalls im Verhältnis zu den Aussagen in der Stellungnahme zurück und die Akademie für Deutsches Recht gab wiederum den Fakultäten Gelegenheit zur Stellungnahme zu einer im Juli 1939 vorgelegten „Denkschrift über die Neuregelung des rechtswissenschaftlichen Hochschulstudiums“; dazu Frassek, ZRG-GA 111 (1994), S. 580 f.; ders., ZRG-GA 117 (2000), S. 333. 69 Dazu Frassek (Anm. 15), S. 60 f. mwN. 70 Zur geistigen Integration der Kieler Rechtslehrer in die Arbeit der Akademie für Deutsches Recht vgl. etwa Justus Wilhelm Hedemann, Arbeit am Volksgesetzbuch, DR 1941, S. 1913, 1915 (zum damaligen Stand der Rechtserneuerung): „Es liegen nur Arbeitsergebnisse frei gebildeter, in den Rahmen der Akademie für Deutsches Recht eingegliederter Kollegien vor.“ Es folgt die Fußnote: „Nebenher gehen aus jüngster Zeit wissenschaftliche Untersuchungen einzelner Rechtswahrer. So vor allem das besinnliche und sehr zum Nachdenken anregende Buch von Franz Wieacker, ,Zum System des deutschen Vermögensrechts, Erwägungen und Vorschläge‘, 1941. Daran anschließend ein reichhaltiger Aufsatz von Wolfgang Siebert, DR 1941, 1506 ff.“ 71 Frassek, ZRG-GA 117 (2000), S. 321 (Fn. 80). Frassek nennt außerdem noch Höhn als Teilnehmer der Besprechung. Dabei stießen die Vorschläge Ritterbuschs bei den Teilnehmern teilweise auf starke Kritik. So schrieb beispielsweise Weber am 14. Oktober 1943 aus Leipzig 66 67
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Letztmals trat der „Alt-Kieler“ Kreis unter der Leitung Sieberts in Sachen Studienreform im Mai 1944 zusammen.72 Unter den zehn Experten, die an den Beratungen teilnahmen, waren Dahm, Eckhardt, Huber, Michaelis, Ritterbusch und Schaffstein.73 2. An der Leipziger Juristenfakultät Während Friedrich Schaffstein nach zweijähriger Tätigkeit in Leipzig 1935 nach Kiel berufen wurde, gingen Wieacker (zum 1. 1. 1937), Huber (zum 1. 10. 1937), Michaelis (zum 13. 12. 1938) und Dahm (Anfang 1939) in umgekehrter Richtung seinem Lehrer Carl Schmitt zu den neuesten Reformplänen: „Die Empörung ist überall stark. [ . . . ] Ritterbusch hat das seinige dazu getan, um die letzten Reste juristischer Tradition auszumerzen und durch seine unausgereiften Gedanken und Steckenpferde zu ersetzen. [ . . . ] Inzwischen soll Ritterbusch eingezogen worden sein und Groh hielt es doch für geraten, noch einmal – wenn auch reichlich spät – einige Dekane und Kollegen unsere Faches zuzuziehen. Die Herren haben gestern in Berlin getagt. Ob es ihnen gelungen ist, aus dem Fachschulprogramm wieder eine Art akademischen Studienplan zu gewinnen, weiß ich noch nicht. Siebert, der vor einigen Tagen hier war, um bei seinem Freunde Michaelis Rat und Hilfe zu holen, fand ich gegenüber den taktischen Aufgaben einer solchen Lage ziemlich hilflos.“ Zit. nach Frank-Rutger Hausmann, „Deutsche Geisteswissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg, Die „Aktion Ritterbusch“ (1940 – 1945), 3. Aufl. 2007, S. 259. 72 Unter dem Vorsitz von Siebert kamen noch bis Sommer 1944 Vertreter der juristischen Fakultäten regelmäßig zusammen, um Vorschläge zur weiteren Reform des Studiums zu diskutieren. Am 26. / 27. 2. 1943 fand eine Tagung in Leipzig statt. Eine für Ende 1943 geplante Tagung wurde aufgrund eines Bombenschadens in Sieberts Berliner Dekanat von Michaelis von Leipzig aus geplant und schließlich aufgrund der Bombenschäden in Leipzig in Breslau am 17. / 18. 12. 1943 durchgeführt. Als Ergebnis der Diskussionen trat eine leicht modifizierte Studienordnung („Neuordnung des Studiums in den Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultäten“) am 1. Oktober 1944 in Kraft. Dazu Frassek, ZRG-GA 117 (2000), S. 331, 334 f. Inhaltlich sahen die im Vorfeld diskutierten Vorschläge nach wie vor eine starke Präsenz der historischen Grundlagenfächer vor: So schlug z. B. eine Arbeitsgruppe der Öffentlichrechtler unter der Leitung von Huber (und unter Mitarbeit von Weber) im Januar 1941 eine Vorlesung „Verfassungsgeschichte des Reiches“ mit drei bis fünf Stunden vor; Michaelis und Schaffstein machten sich 1941 / 42 für eine drei- bis fünfstündige Vorlesung zur Verfassungsgeschichte der Neuzeit stark. Dazu Grothe (2005) (Anm. 4), S. 203 f. 73 Grothe (2005) (Anm. 4), S. 204 mwN. Auch noch nach 1945 beteiligten sich einzelne aus dem Kreis der ehemaligen Kieler an den Diskussionen zur Studienreform, vgl. etwa Karl Michaelis, Juristisches Studium und Rechtswirklichkeit, Über den Studienbeginn 1918, 1945, 1985, in: Wolfgang Sellert / Karl Michaelis (Hrsg.), Die Wiedereröffnung der Göttinger Juristischen Fakultät zum Wintersemester 1945 – 46, 1986, S. 17 – 31; ders., Die heutige Juristenausbildung und ihr Verhältnis zur Rechtswirklichkeit, JuS 1991, S. 798 – 805. Vgl. aber auch Ernst Rudolf Huber, Über die Reform des Studiums des öffentlichen Rechts, Der Staat 1968, S. 273 – 285 (insb. S. 275: „In engem Zusammenhang damit steht die Wiederbelebung des juristischen Positivismus, besser gesagt: des Normativismus und Formalismus im öffentlichrechtlichen Denken. Das ist ein Rückfall des Rechtsdenkens um gut vierzig Jahre. Unser Lehrbetrieb im öffentlichen Recht arbeitet mit einem Rechtssystem ohne Philosophie und ohne Soziologie.“). Nach Hubers Studienplan (S. 278 ff.) sollte das Studium mit einer vierstündigen Vorlesung zur Verfassungsgeschichte des 18. – 20. Jahrhunderts beginnen und erst für das zweite Semester waren Vorlesungen zum geltenden Recht vorgesehen.
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von Kiel nach Leipzig.74 In Leipzig waren seit dem 1. 10. 1935 auch de Boor und Schmidt;75 1940 kamen Thieme und 1942 Weber hinzu. Mit Ausnahme von Huber und Dahm, die 1941 an die Reichsuniversität Straßburg wechselten, blieben die Genannten bis zum Kriegsende – teilweise auch darüber hinaus – an der Leipziger Fakultät. Da der Forschungsstand zur Juristenfakultät in der NS-Zeit noch immer erhebliche Lücken aufweist,76 lassen sich die wissenschaftliche Zusammenarbeit und die persönlichen Beziehungen der Leipziger Ordinarien nur ansatzweise rekonstruieren. Aus den Vorlesungsverzeichnissen ist jedoch ersichtlich, dass gemeinsame Veranstaltungen nicht unüblich waren. So haben Wieacker und Michaelis seit 1940 regelmäßig gemeinsam zivilrechtliche Seminare durchgeführt. Mit Thieme hat Wieacker im 3. Trimester 1940 ein Seminar zur neueren Privatrechtsgeschichte und mit Weber (in Zusammenarbeit mit Hans-Georg Gadamer und dem Institut für Kultur- und Universalgeschichte) ein interdisziplinäres Kolloquium zur Außenpolitik und Staatenkunde im Sommersemester 1943 und Wintersemester 1943 / 44 angeboten. In die Leipziger Zeit fällt auch die Mitarbeit von de Boor, Michaelis, Schmidt, Weber und Wieacker in der Akademie für Deutsches Recht (dazu unten IV. 4). Die ehemaligen jungen Kieler Dozenten, deren Programm zur Rechtserneuerung zunächst als eigene Richtung im Gegensatz zu den Arbeiten der Akademie für Deutsches Recht stand, waren inzwischen so etabliert, dass sie in die Akademie problemlos integriert werden konnten. Als 1941 die Leipziger Festschrift für Heinrich Siber zum 70. Geburtstag erschien, wirkten sechs Professoren aus der Achtergruppe mit: de Boor, Huber, Michaelis, Schmidt, Thieme und Wieacker.77 Auch die Mitarbeit am Gemein74 Georg Dahm wäre gerne schon Anfang 1934 nach Leipzig gegangen, weil er – wie er in einem Schreiben vom 23. 2. 1934 erklärte – „es überhaupt als einen großen Vorzug und eine Ehre betrachten würde, an einer Universität wie Leipzig lehren zu dürfen. Ich schätze die sich aus einer Berufung nach Leipzig ergebenden Möglichkeiten in der Tat noch höher ein als die Arbeitsmöglichkeiten in Kiel“; zit. nach Eckert (Anm. 13), S. 69. Vgl. weiter Grothe (2005) (Anm. 4), S. 183 (Fn. 83) zu Huber, der den Ruf nach Leipzig 1937 als „Ehre und Auszeichnung“ betrachtete. Insgesamt bleibt der Eindruck, dass die junge Kieler Elite schon bald zur Fortsetzung ihrer Karrieren einen Wechsel an die älteren renommierten Fakultäten anstrebte. 75 Dazu v. Hardenberg (Anm. 3), S. 225. 76 Die Aufarbeitung der Fakultätsgeschichte wird vor allem dadurch erschwert, dass die Fakultätsakten 1943 nahezu vollständig verbrannt sind. Dazu Ulrich von Hehl, Zum Stand der Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: ders. (Hrsg.), Sachsens Landesuniversität in Monarchie, Republik und Diktatur, Beiträge zur Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Reihe A, Bd. 3, 2005, S. 19 ff. Vgl. auch Thomas Henne, Die Aberkennung von Doktorgraden an der Juristenfakultät der Universität Leipzig 1933 – 1945, 2007, S. 18 f. Zu den Dozenten im Öffentlichen Recht vgl. Stolleis (Anm. 21), S. 285 ff. 77 Leipziger Juristenfakultät (Hrsg.), Festschrift der Leipziger Juristenfakultät für Heinrich Siber zum 10. April 1940, Leipziger rechtswissenschaftliche Studien, Heft 124, 1941,
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schaftswerk „Kriegseinsatz der deutschen Geisteswissenschaften“ fällt in die Leipziger Zeit (dazu unten IV. 5). Im Rahmen dieses Projektes fand im Oktober 1940 in Leipzig die von Huber organisierte Tagung der deutschen Staatsrechtslehrer statt; die Vorträge der Tagung wurden in zwei Bänden von Huber 1941 und 1943, allerdings dann schon von Straßburg aus, veröffentlicht.78 Bis zu seinem Wechsel nach Straßburg (31. 10. 1941) war Huber auch Dekan der Juristenfakultät und hatte dieses wichtige Amt bereits eineinhalb Jahre nach Eintritt in die Fakultät zum 1. 4. 1939 erhalten.79 Letzter Dekan in der NS-Zeit war Michaelis seit 1. 4. 1943; ihm folgte als erster Nachkriegsdekan de Boor. Gegen Ende des Krieges waren von den aktiven Fakultätsmitgliedern Thieme und Wieacker als Soldaten eingezogen, so dass zum Zeitpunkt der Besetzung Leipzigs im April 1945 nur noch de Boor, Günter Haupt, Michaelis, Weber und Schmidt als Fakultätsmitglieder anwesend waren.80 Letzterer wurde in den ersten Besatzungstagen von den Amerikanern festgenommen und in ein Kriegsgefangenenlager nach Attichy (Frankreich) gebracht, dann aber im Oktober 1945 wieder entlassen.81 Nach dem Besatzungswechsel am 1. 7. 1945 wurde – im Gegensatz zur Praxis in den westlichen Besatzungszonen – ein großer Teil der Lehrkräfte entlassen, so dass zum Zeitpunkt der Wiedereröffnung der Universität Anfang 1946 nur noch ein Drittel der Professoren- / Dozentenstellen besetzt war.82 Bereits Mitte Oktober 1945 waren aufgrund ihrer Mitgliedschaft in der NSDAP die Professoren Haupt, Michaelis und Weber zusammen mit über 50 weiteren Professoren aus anderen Fakultäten entlassen worden.83 Dieser Entlassungswelle 2 Bände. Von den genannten Professoren sind folgende Beiträge in Bd. 1 enthalten: Wieacker, Hausgenossenschaft und Erbeinsetzung. Über die Anfänge des römischen Testamens, S. 1 – 58; Schmidt, Inquisitionsprozeß und Rezeption, Studien zur Geschichte des Strafverfahrens in Deutschland vom 13. bis 16. Jahrhundert, S. 97 – 192; Huber, Die verfassungsrechtliche Stellung des Beamtentums, S. 275 – 326. Bd. 2 enthält von de Boor, Zur Lehre vom Parteiwechsel und vom Parteibegriff, S. 38 – 183 und Michaelis, Beiträge zur Gliederung und Weiterbildung des Schadensrechts, S. 185 – 370; von den weiteren Beiträgen stammt einer auch von Dahm, Der Tätertyp im Strafrecht, S. 183 – 246. 78 Herwig Schäfer, Juristische Lehre und Forschung an der Reichsuniversität Straßburg 1941 – 1944, 1999, S. 168. 79 Henne (Anm. 76), S. 27; dort findet sich auch der Nachweis, dass unter Hubers Dekanat 1940 die meisten Aberkennungen von Doktorgraden erfolgten. 80 Karl Michaelis, Denkschrift der Leipziger Juristenfakultät, Über die Haltung der deutschen Intellektuellen zur nationalsozialistischen Regierung und über die Ursachen für die Möglichkeit des Hitler-Regimes in Deutschland, Der Staat 1991, S. 81; Otto (Anm. 25), S. 263. 81 Dazu v. Hardenberg (Anm. 3), S. 334 ff.; Bericht über die Vorgänge an der Universität Leipzig vom 16. Mai 1945 bis zum 21. Januar 1946, Erstattet vom damaligen Rektor Professor Dr. B. Schweitzer, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1985, S. 355, 357. 82 Dazu Helga A. Welch, Entnazifizierung und Wiedereröffnung der Universität Leipzig 1945 – 1946, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1985, S. 339, 342 ff. 83 Dazu Otto (Anm. 25), S. 268.
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folgte eine besondere Eingabe des Senats an die Zentralverwaltung in Berlin und die Sowjetische Militäradministration mit der – im Ergebnis erfolglosen – Bitte, fünf Professoren (darunter die drei entlassenen Juristen), „die sich im Kampf gegen den Nationalsozialismus um die Universität hochverdient gemacht [hätten] und als Erzieher der kommenden Generation nicht zu entbehren [seien], in irgendeiner Form der Universität zu erhalten“.84 Zu erwähnen ist noch, dass Michaelis in Abstimmung mit den damals anwesenden Mitgliedern der Fakultät, de Boor, Haupt und Weber, im Mai 1945 zur Information der amerikanischen Besatzungsbehörden eine Denkschrift der Leipziger Juristenfakultät mit dem Titel „Über die Haltung der deutschen Intellektuellen zur nationalsozialistischen Regierung und über die Ursachen für die Möglichkeit des Hitler-Regimes in Deutschland“ verfasste, in der er auf die Verantwortung der Hochschullehrer einging, deren Verhalten in der NS-Zeit jedoch weithin verteidigte.85 Schmidt, Thieme und Wieacker kehrten nach ihrer Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft nicht mehr an die Leipziger Juristenfakultät zurück; 1946 verstarb Günter Haupt, Michaelis übersiedelte im Januar 1948 nach Münster, Weber nahm – nach Entlassung und Lehrverbot bis 1947 – 1949 einen Ruf nach Göttingen an und auch de Boor verließ Anfang 1950 Leipzig, so dass innerhalb weniger Jahre keiner der Ordinarien von 1945 mehr an der Fakultät lehrte.86 3. Huber und Schaffstein an der Reichsuniversität Straßburg Wie bereits erwähnt wirkten Huber und Schaffstein zunächst gemeinsam an der Kieler Fakultät (1935 – 1937) und seit 1941 an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Reichsuniversität Straßburg. Wohl kaum zufällig waren etliche Professoren aus dem Kreis der Kieler Schule am Aufbau in Straßburg 1941 beteiligt – wie bereits Herwig Schäfer in seiner Arbeit über die Straßburger Fakultät festgestellt hat: „Die personelle Zusammensetzung des juristischen Lehrkörpers der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät legt die Vermutung nahe, daß dort die zwischen 1933 und 1937 / 38 an der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Kiel bestehende sogenannte ,Kieler Schule‘ ihre Fortsetzung finden sollte. Denn mit Dulckeit, Dahm, Huber, Schaffstein und Nikisch hatte ein nicht geringer Teil der Straßburger JuraProfessoren in den dreißiger Jahren der Kieler Rechtsfakultät angehört. [ . . . ] Jedenfalls in wissenschafts-organisatorischer Hinsicht findet sich eine klare Parallele zu der Kieler Rechtsfakultät. Auch in Straßburg sahen sich die Fakultätsmitglieder als eine Lehr- und Forschungsgemeinschaft, was an gemeinsamen fachübergreifenden seminarähnlichen VerSchweitzer, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1985, S. 361 f. Denkschrift, Der Staat 1991, S. 81 ff. Ähnlich auch Karl Michaelis, Berichte und Kritik, Die unbegrenzte Auslegung, Der Staat 1971, S. 229, 235 f. 86 Dazu insgesamt Otto (Anm. 25), S. 317, 323. 84 85
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anstaltungen zum Ausdruck kam. [ . . . ] Die Annahme, daß Dahm, Schaffstein, Huber und vielleicht auch Nikisch und Dulckeit zu einem Wechsel nach Straßburg neben anderem durch die Aussicht bewogen wurden, dort mit Kollegen zusammenzuarbeiten, um deren gemeinsame Grundüberzeugung sie aus früheren Kieler Jahren wussten und mit denen sie sich bei aller unveränderten Bejahung des Nationalsozialismus in der Ablehnung bestimmter Auswüchse der nationalsozialistischen Diktatur einig waren, dürfte nicht fern liegen.“87
Letzteres findet Unterstützung in einer Mitteilung Hubers, aus der sich ergibt, dass er 1940 mit Schaffstein wegen des Aufbaus der Straßburger Fakultät in Kontakt stand.88 Schaffstein, erster Dekan der Straßburger Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät, betonte zudem in einem Beitrag über die Aufgaben der Reichsuniversität und die besonderen Herausforderungen für die dort tätigen Dozenten in der Deutschen Justiz (DJ) 1941, dass das Ziel einer Erneuerung des Rechts und des Rechtsdenkens nur in der Gemeinschaftsarbeit über die Fachgrenzen hinaus (eine Idee, der sich schon die jungen Kieler Rechtslehrer verpflichtet gefühlt hatten) erreicht werden könne.89 Außerdem sollten aus Leipzig auch noch die Kiel-Kitzeberger Dozenten Wieacker und Thieme für Straßburg gewonnen werden. Ob der Einspruch des Gauleiters von Sachsen gegen die geplante Berufung von fünf Leipziger Professoren nach Straßburg (neben den vier Juristen ist noch der Historiker Hermann Heimpel zu nennen) erfolgreich war, erscheint zweifelhaft, denn zumindest Wieacker lehnte den Ruf erst nach längeren Verhandlungen in Straßburg 1942 ab.90
87 Schäfer (Anm. 78), S. 235 ff. Entgegen anderen Stimmen in der Literatur weist Schäfer (S. 238) aber auch darauf hin, dass es keine Anhaltspunkte dafür gebe, dass „die Lehrstühle der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät durch das Reichserziehungsministerium oder unter dem Einfluss der NSDAP gezielt so besetzt wurden, daß sie quasi als Erbin der Kieler Schule ausgestattet werden sollte“. Vgl. weiter Stolleis (Anm. 21), S. 298. 88 Dazu Schäfer (Anm. 78), S. 79; Grothe (2005) (Anm. 4), S. 172 (Fn. 29), 186; Jürgens (Anm. 4), S. 28. 89 Friedrich Schaffstein, Die Reichsuniversität Straßburg und ihre Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät, DJ 1941, S. 965 f. Schaffsteins Forderung nach einer inter- und intradisziplinären Zusammenarbeit lag auch ganz auf der Linie des von dem Kieler Rektor Paul Ritterbusch ausgehenden Gemeinschaftswerks „Kriegseinsatz der deutschen Geisteswissenschaften“ (dazu unten IV. 5). 90 Schäfer (Anm. 78), S. 55, 99 f. Vgl. weiter Grothe (2005) (Anm. 4), S. 185 f. Wieacker hielt sich noch am 25. 8. 1942 zu Berufungsverhandlungen in Straßburg auf und schrieb von dort (Hotel Rotes Haus) einen Brief an Carl Schmitt; dazu Hausmann (Anm. 71), S. 254 (Fn. 419).
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IV. Wissenschaftliche Netzwerke in der NS-Zeit 1. „Der deutsche Staat der Gegenwart“ hrsg. von Carl Schmitt Zwischen 1933 und 1936 gab Carl Schmitt in der Hanseatischen Verlagsanstalt Hamburg (HAVA), mit der er bereits seit 1931 in Kontakt stand,91 die wissenschaftspolitische Reihe „Der deutsche Staat der Gegenwart“ heraus, deren zu günstigen Preisen (1 – 3 Reichsmark) verkaufte Schriften zur nationalsozialistischen Rechtserneuerung vor allem junger Rechtslehrer92 eine für juristische Werke ungewöhnliche Auflagenhöhe erreichten.93 Von den insgesamt zwanzig Heften stammte neben dem ersten Heft ein weiteres aus der Feder Carl Schmitts,94 als Hefte Nr. 2 und 16 erschienen von Huber „Die Gestalt des deutschen Sozialismus“ (1934) und „Wesen und Inhalt der politischen Verfassung“ (1935), Heft 4 mit dem Titel „Politische Strafrechtswissenschaft“ (1934) enthielt die Leipziger Antrittsvorlesung Schaffsteins und 1935 erschienen von Wieacker als Heft 13 „Wandlungen der Eigentumsverfassung“ und als Heft 19 „Eigentum und Enteignung“ – letzteres gemeinsam mit Werner Weber. Insgesamt stammte die Hälfte der Schriften dieser Reihe von Mitgliedern der Kieler Schule,95 wobei in dieser Zeit der Grundstock 91 Siegfried Lokatis, Hanseatische Verlagsanstalt, Archiv für Geschichte des Buchwesens 38 (1992), S. 48 ff. Auf die Vermittlung von Carl Schmitt war 1933 in der Hanseatischen Verlagsanstalt das bereits 1932 von Dahm und Schaffstein verfasste Werk „Liberales oder autoritäres Strafrecht“ veröffentlicht worden. Dazu auch Koenen (Anm. 54), S. 481 f. 92 Dazu Lange (Anm. 13), S. 9 f.: „Der Berliner Staats- und Völkerrechtler Carl Schmitt hatte sich seit 1933 mit ganzer Kraft den wissenschaftlichen und organisatorischen Fragen einer Neugestaltung des Rechtslebens und Rechtsstandes gewidmet. Er, der die Schwächen der bürgerlichen Welt und einer neutralen positivistischen Rechtswissenschaft seit Jahren klar erkannt und von verschiedenen Positionen aus bekämpft hatte, sammelte um sich einen Kreis junger Hochschullehrer und Jungjuristen [ . . . ]. [ . . . ] In der Schriftenreihe ,Der deutsche Staat der Gegenwart‘ veröffentlichte er Abhandlungen junger Rechtswissenschaftler, die dem Überlieferten den Kampf ansagten.“ Der Verlag warb mit einem Zitat aus Gesetzgebung und Literatur (so am Ende von Heft 14): „Es wäre zu wünschen, daß diese auf hohem Niveau stehende Schriftenreihe bei unseren Juristen weitestgehend Einführung fände und daß das nationalsozialistische Gedankengut, das in diesen Arbeiten zum Ausdruck kommt, als bedeutsame Ansätze einer deutschen Rechtserneuerung, in die Praxis schnellen Eingang fände.“ 93 Dazu Lokatis, Archiv für Geschichte des Buchwesens 1992, S. 51, 54 (die Gesamtauflage für alle Hefte lag bei 30.000 Exemplaren). 94 Heft 1: Staat, Bewegung, Volk: Die Dreigliederung der politischen Einheit, 1933; Heft 6: Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches: Der Sieg des Bürgers über den Soldaten, 1934. 95 Weitere Autoren der Reihe waren Heinrich Henkel (Heft 3: Strafrichter und Gesetz im neuen Staat; Heft 10: Die Unabhängigkeit des Richters in ihrem neuen Sinngehalt), Reinhard Höhn (Heft 5: Die Wandlungen im staatsrechtlichen Denken; Heft 14: Rechtsgemeinschaft und Volksgemeinschaft), Heinrich Lange (Heft 7: Vom alten zum neuen Schuldrecht), Paul Ritterbusch (Heft 8: Idee und Aufgabe der Reichsuniversität), Theodor Maunz (Heft 9: Neue Grundlagen des Verwaltungsrechts), Karl August Eckhardt (Heft 11: Das Studium der Rechtswissenschaft; Heft 15: Das Studium der Wirtschaftswissenschaft), Johannes Heckel / Heinrich Henkel / Gustav Adolf Walz / Karl Larenz (Heft 12: Berichte über die Lage und das
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einer auch später noch fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Autoren und der HAVA gelegt wurde:96 Seit 1935 / 36 betreute der Verlag die Grundrissreihe „Grundzüge der Rechts- und Wirtschaftswissenschaft“, die DRW, die Neue Folge der Kieler Universitätsreden97 und später auch etliche juristische Schriften aus dem Gemeinschaftswerk „Kriegseinsatz der deutschen Geisteswissenschaften“. Die Schrift „Eigentum und Enteignung“ von Weber / Wieacker, die die Ergebnisse der Arbeitstagung der Reichsfachgruppe Hochschullehrer des BNSDJ vom 15. / 16. 6. 1935 wiedergab und diskutierte, wurde in einer Besprechung Hubers, der ebenfalls an der Tagung teilgenommen hatte,98 in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft (ZgStW) mit dem Lob versehen, dass die von Weber und Wieacker formulierten „Leitsätze einen vorbildlichen Versuch der Rechtswissenschaft dar[stellten], an der Erneuerung des deutschen Rechts gestaltenden Anteil zu nehmen“.99 Die Schrift von Weber / Wieacker war gleichStudium des öffentlichen Rechts), Günther Krauß / Otto v. Schweinichen (Heft 17: Disputation über den Rechtsstaat), Wolfgang Siebert (Heft 18: Das Arbeitsverhältnis in der Ordnung der nationalen Arbeit), Gottfried Neeße (Heft 20: Partei und Staat). Dazu auch Lokatis, Archiv für Geschichte des Buchwesens 1992, S. 52 ff. Als Heft 11 der Reihe war ursprünglich „Volksgeist und Rechtssetzung“ von Hans Thieme für 1934 angekündigt, jedoch nicht erschienen; dazu Koenen (Anm. 54), S. 456 f. (Fn. 36). 96 Dazu Lokatis, Archiv für Geschichte des Buchwesens 1992, S. 62 ff.; Koenen (Anm. 54), S. 644 ff. 97 In den Kieler Universitätsreden wurden u. a. 1935 die Vorträge von Huber „Vom Sinn der Verfassung“ und Dahm „Gemeinschaft und Strafrecht“ veröffentlicht. 98 Als weiterer Teilnehmer aus Kiel ist noch Siebert zu verzeichnen. Dazu Weber / Wieacker, Eigentum und Enteignung, Vorbemerkung, S. 5. Weber war auch an der von Carl Schmitt als Reichsfachgruppenleiter Hochschullehrer des BNSDJ ausgerichteten Arbeitstagung zur Studienreform 1936 (neben weiteren Mitgliedern der Reichsfachgruppe wie Georg Dahm, Heinrich Lange, Johannes Heckel) als einer von acht Referenten beteiligt. Dazu Anna-Maria von Lösch, Der nackte Geist, Die Juristische Fakultät der Berliner Universität im Umbruch von 1933, 1999, S. 450. 99 Ernst Rudolf Huber zu: Weber, Werner und Franz Wieacker, Eigentum und Enteignung (Der deutsche Staat der Gegenwart. Hrsg. von Carl Schmitt, H. 19), Hamburg 1935. Hanseatische Verlagsanstalt. 68 S. RM 2,–, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 96 (1936), S. 585. Weiter heißt es dort, S. 586 f.: „Hervorzuheben ist die Klarheit und Entschiedenheit, mit der beide Berichte gegen die liberal-individualistische Eigentumsvorstellung sowie gegen die daraus folgende Eigentums- und Entschädigungsgarantie Stellung nehmen. Das Eigentum wird konsequent als eine von der Gemeinschaft verliehene, auf sie bezogene gliedhafte Stellung behandelt, die ihre Bindungen in sich selbst trägt. [ . . . ] Diese ergänzenden Hinweise setzen den großen Wert der beiden Berichte nicht herab. Sie stehen im neueren Schrifttum in ihrer Art fast einzig da, weil sie ein höchst bedeutsames Problem der konkreten Rechtsgestaltung in wahrhaft wissenschaftlichem Geiste anpacken und meistern. Ist an Webers Arbeit die zuverlässige Gründlichkeit und die klare Systematik besonders hervorzuheben, so zeigt Wieackers Bericht insbesondere die Fähigkeit, die im vorhandenen Material verborgen wirkende Grundhaltung zu erarbeiten und damit Theorie im echten Sinne zu bilden. Damit hat Wieacker die in den ,Wandlungen der Eigentumsverfassung‘ begonnene Linie glücklich und fruchtbringend fortgeführt.“ Diese letztgenannte Arbeit Wieackers (ebenfalls in der von
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sam Vorarbeit zu dem von Hans Frank 1937 herausgegebenen parteiamtlichen Gemeinschaftswerk „Deutsches Verwaltungsrecht“, an dem mehr als zwanzig Juristen, darunter führende Nationalsozialisten, mitgewirkt hatten: Wieacker steuerte den Abschnitt „§ 23 Die Enteignung“ (S. 449 – 467) und Weber den Abschnitt „§ 24 Das Problem der öffentlich-rechtlichen Entschädigung“ (S. 468 – 484) bei.100 2. Werke und Reihen der Kieler Schule a) Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft 1935 erschien als Gemeinschaftswerk der Kieler Rechtslehrer Dahm, Huber, Larenz, Michaelis, Schaffstein und Siebert der Band „Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft“.101 Die Herausgeber traten als wissenschaftlich geschlossene Gruppe auf,102 die sich – wie Larenz im Vorwort formulierte – in „gemeinsamer Überzeugung“ einer „neuen Rechtswissenschaft“ verpflichtet fühlte.103 Schmitt herausgegebenen Reihe erschienen) wurde von Larenz sehr günstig besprochen (ZgStW 1936, S. 412, 416: „W. leistet damit für eine kommende Reform des Sachenrechts etwas Ähnliches wie Lange für das Schuldrecht [gemeint ist das Werk von Heinrich Lange, Vom alten zum neuen Schuldrecht, 1934, Anm. d. Verf.] [ . . . ]. Er hat sich als erster an die zusammenfassende Bearbeitung des werdenden Eigentumsrechts gewagt und die Erkenntnis des neuen Rechts um ein großes Stück weitergeführt. Jede folgende Arbeit auf diesem Gebiet wird auf der von W. aufbauen müssen.“). Vgl. zu diesen Schriften und weiteren Arbeiten Wieackers zur nationalsozialistischen Eigentumslehre (Zum Wandel der Eigentumsverfassung, DJZ 1934, S. 1446 ff.; Eigentum und Eigen, DR 1935, S. 496 ff.; Bodenrecht, 1938; Vielfalt und Einheit der deutschen Bodenrechtswissenschaft der Gegenwart, 1942) Helmut Rittstieg, Die juristische Eigentumslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, Quaderni Fiorentini 5 – 6 (1976 – 77), Tomo II, S. 703 – 721, insb. S. 709 ff.; Franz Wieacker, ,Wandlungen der Eigentumsverfassung‘ Revisited, ebenda, S. 841 – 859. Vgl. weiter Karl Kroeschell, Die nationalsozialistische Eigentumslehre, in: Michael Stolleis / Dieter Simon (Hrsg.), Rechtsgeschichte im Nationalsozialismus, 1989, S. 43, 52 ff.; Hausmann (Anm. 71), S. 271 f. 100 Von Huber stammte der Abschnitt „§ 12 Die Selbstverwaltung der Berufsstände“ (S. 239 – 261). Weitere Mitarbeiter waren u. a. Werner Best, Ernst Forsthoff, Reinhard Höhn, Arnold Köttgen, Theodor Maunz, Ulrich Scheuner und Wilhelm Stuckart. Im Geleitwort von Reichsinnenminister Wilhelm Frick heißt es: „Vieles, was in dem Werk betreten wurde, ist Neuland. Der Herausgeber und seine Mitarbeiter bieten die Gewähr dafür, daß dieses Neuland in verantwortungsvoller Wissenschaftlichkeit erforscht und mit nationalsozialistischem Geiste erfüllt wurde.“ Dazu auch Stolleis (Anm. 21), S. 359 f. 101 Das Werk enthält folgende Beiträge: Michaelis „Wandlungen des deutschen Rechtsdenkens seit dem Eindringen des fremden Rechts“ (es handelte sich um die Kieler Antrittsvorlesung; dazu Hans Thieme, AcP 1937, S. 101 f.), Dahm „Verbrechen und Tatbestand“, Schaffstein „Das Verbrechen als Pflichtwidrigkeit“, Huber „Neue Grundbegriffe des hoheitlichen Rechts“, Siebert „Vom Wesen des Rechtsmißbrauchs (Über die konkrete Gestaltung der Rechte)“, Larenz „Rechtsperson und subjektives Recht. Zur Wandlung der Rechtsgrundbegriffe“. 102 Auch an anderen Stellen rühmten die „Kieler“ ihre geschlossene Kameradschaft, so etwa Huber 1934; dazu Grothe (2005) (Anm. 4) S. 181.
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Die Idee der Rechtserneuerung als gemeinsame und intradisziplinär zu erfüllende Aufgabe zieht sich auch durch die einzelnen Beiträge. So verwies etwa Dahm in seinem Beitrag über „Verbrechen und Tatbestand“ in der ersten Fußnote auf gleich gesinnte Autoren und zwar in erster Linie auf andere Mitglieder der Kieler Schule (Larenz, Ritterbusch, Huber, Schaffstein, Siebert, Wieacker) und ihr nahe stehende Personen wie Carl Schmitt und Reinhard Höhn.104 Auch in anderen Beiträgen wird in den Fußnoten häufig auf Werke anderer Mitglieder der Kieler Schule verwiesen, so etwa bei Huber „Neue Grundbegriffe des hoheitlichen Rechts“ auf Eckhardt, Larenz, Schaffstein, Siebert und Wieacker. b) Grundzüge der Rechts- und Wirtschaftswissenschaft Noch im selben Jahr startete auch die Lehrbuchreihe „Grundzüge der Rechtsund Wirtschaftswissenschaft“. Die auserkorenen Autoren der von den Juristen Dahm, Eckhardt und Huber herausgegebenen Reihe A: Rechtswissenschaft (als Herausgeber der Reihe B: Wirtschaftswissenschaft fungierten Jens Jessen und Erwin Wiskemann) gehörten überwiegend dem bewährten HAVA-Autorenteam der zu diesem Zeitpunkt schon auslaufenden Schriftenreihe Carl Schmitts („Der deutsche Staat der Gegenwart“) an und waren mit den Teilnehmern des Kitzeberger Lagers fast vollständig identisch. Dort im Lager waren Ende Mai 1935 die als Autoren der Reihe vorgesehenen und im September 1935 mit mindestens einem Grundriss angekündigten vierzehn Dozenten105 auf die gemeinsame Aufgabe ein103 Aus dem Vorwort: „Die hier vereinigten Abhandlungen enthalten vielfach Gedanken, die in gemeinsamer wissenschaftlicher Aussprache der Kieler Rechtslehrer erarbeitet wurden. Sie sind so der Ausdruck der kameradschaftlichen Zusammenarbeit und des wissenschaftlichen Wollens der Kieler Juristen-Fakultät. Es ist die gemeinsame Überzeugung der Mitarbeiter dieses Bandes, daß die deutsche Rechtswissenschaft an einem Wendepunkt ihrer Entwicklung steht, daß sie von Grund auf neu zu beginnen hat, daß sie aber auch dazu berufen ist, voranzugehen in dem Ringen unserer Zeit um das artgemäße deutsche Rechtsdenken, das ,konkret‘ und ,ganzheitlich‘ zugleich ist. [ . . . ] Die Beiträge behandeln keine Einzelfragen, sondern Grundfragen, die für alle Rechtsgebiete von Bedeutung sind. Ihre innere Zusammengehörigkeit ist leicht zu erkennen, auch wo im einzelnen Unterschiede bestehen. Als das wichtigste Ergebnis des Bandes will es mir erscheinen, daß sich bestimmte Grundgedanken, etwa über die Zusammengehörigkeit von Gemeinschaft und Recht, völkischem Leben und völkischer Ordnung, Lebensverhältnis und Rechtsbegriff, sowie über die Bedeutung des Treue- und Pflichtgedankens im Straf- und ,Zivil‘-recht durch alle Beiträge hindurchziehen und immer wieder die Stellung auch zu einzelnen Fragen bestimmen. Darin kommt die Art und Haltung der neuen Rechtswissenschaft zum Ausdruck.“ Dazu auch Frassek (Anm. 15), S. 50 f. 104 Dahm, Verbrechen und Tatbestand, S. 62 f. (Fn. 1); dort heißt es am Ende: „Der im folgenden entwickelte Standpunkt berührt sich eng mit den Anschauungen, die Schaffstein und Siebert in ihren neueren Arbeiten entwickelt haben. Es sei auch auf die Beiträge von Schaffstein und Siebert in diesem Sammelband hingewiesen.“ Auf S. 74 f. folgt dann ein Hinweis auf vergleichbare Ansätze im Zivilrecht von Siebert und Wieacker. Im Zusammenhang mit der Tätertypenlehre finden sich Verweise auf Schaffstein, aber auch auf Carl Schmitt, Julius Binder und Hans Welzel. Schaffstein verwies in seinem Beitrag „Das Verbrechen als Pflichtverletzung“, S. 108 ff. wiederum mehrfach auf Dahm.
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geschworen worden.106 Ganz im Sinne der Idee gemeinsamer Rechtserneuerung warb der Verlag für die Reihe mit dem Satz: „Jeder einzelne Teil ist selbständig und in sich geschlossen, das Gesamtwerk stellt dennoch eine geistige Einheit dar.“107 Außerdem legte der Verlag nahe, dass es sich bei der Reihe um die amtlich empfohlene Studienliteratur handle und warb für das 1935 konzipierte Programm mit folgendem Text: „Der geistige Aufbruch, den wir erleben, verlangt die völlige Neugestaltung des gesamten Studiums an den Hochschulen [ . . . ]. Das Reichswissenschaftsministerium hat dieser Tatsache durch eine Neuordnung des Studiums der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, die in enger Zusammenarbeit mit dem BNSDJ von dem zuständigen Referenten, Professor Dr. K. A. Eckhardt, geschaffen wurde, zuerst planmäßig Rechnung getragen. Den damit gegebenen, völlig neuartigen Richtlinien ist die Gemeinschaftsarbeit einer einheitlichen Gruppe von jungen Kämpfern der Wissenschaft und Erziehung gefolgt; in Anlehnung an die Neuordnung des Studiums und in enger Fühlungsnahme mit dem Reichswissenschaftsministerium erscheint in fortlaufender Folge eine Reihe von Darstellungen der Gesamtgebiete des Rechtes und der Wirtschaft unter dem Titel ,Grundzüge der Rechts- und Wirtschaftswissenschaft‘. [ . . . ] Für jede Vorlesung der Rechts- und Wirtschaftswissenschaft wird in absehbarer Zeit der entsprechende Grundriß, verfaßt von einem jungen, nationalsozialistischen Hochschullehrer, im Rahmen dieser Reihe vorhanden sein.“108
Während die von Michaelis und Schaffstein für die Reihe angekündigten Lehrbücher („Verbrechen und Strafe“ und „Rechtsstreit und Vollstreckung“) nie erschienen, legte Wieacker ein 340 Seiten umfassendes Werk zum „Bodenrecht“ vor 105 1935 angekündigt, aber nicht in der Grundrissreihe erschienen: Siebert „Ware, Geld und Wertpapiere“ und „Arbeitsrecht“; Eckhardt „Familie und Familienerbe“ und „Germanische Rechtsgeschichte“; Höhn „Volk und Staat“ (Höhn veröffentlichte stattdessen 1938 den Beitrag „Volk, Staat und Recht“ in dem von ihm, Theodor Maunz und Ernst Swoboda herausgegebenen Band „Grundfragen der Rechtsauffassung“); Schaffstein „Verbrechen und Strafe“; Ritterbusch „Verfassungsgeschichte der Neuzeit“; Michaelis „Rechtsstreit und Vollstreckung“; Busse „Bauernrecht“; Larenz „Rechts- und Staatsphilosophie“ (auch als „Einführung in die Rechtsphilosophie“ angekündigt). Die Ankündigung erfolgte als Inserat der HAVA im Börsenblatt vom 7. 9. 1935 und später auf den letzten Seiten der in der Reihe erschienenen Werke. Zur Zusammenarbeit mit der HAVA vgl. Koenen (Anm. 54), S. 644 f., 649 f. 106 So Lokatis, Archiv für Geschichte des Buchwesens 1992, S. 62 f. 107 Dieser Satz findet sich nicht nur in dem von der HAVA im Börsenblatt vom 7. 9. 1935 geschalteten Inserat, sondern auch auf den letzten beiden Seiten der seit 1936 erschienenen Grundrisse zusammen mit einer Liste der Einzelwerke. Allerdings beschwor nicht nur der Verlag werbewirksam die „geistige Einheit“ der Reihe, vielmehr nahmen auch die Kieler Rechtslehrer für sich in Anspruch, eine Grundrissreihe aus einem „einheitlichen Geiste“ zu schaffen (so Huber auf eine Anfrage des Verlegers Oskar Siebeck, sich an der Grundrissreihe seines Verlages zu beteiligen; Grothe (2005) (Anm. 4), S. 207). Entsprechende Vorstellungen hatte Huber auch für die Herausgeber einer Zeitschrift, die eine „strenge und geschlossene Einheit der weltanschaulichen und politischen Grundhaltung“ bilden müssten, wobei dieses Konzept nur dann erfolgreich sein könne, wenn es „in der Hand von Mitgliedern einer Fakultät“ liege (zit. nach Grothe, S. 212). 108 Inserat der HAVA im Börsenblatt vom 7. 9. 1935; abgedruckt bei Lokatis, Archiv für Geschichte des Buchwesens 1992, S. 63.
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und das in der Reihe erschienene Verfassungsrechtslehrbuch von Huber entwickelte sich – ebenso wie Larenz’ „Vertrag und Unrecht“ – in zwei Auflagen zum NS-Standardwerk.109 Nicht erschienen ist auch die von Eckhardt im Geleitwort zur DRW angekündigte Abhandlungsreihe, die von Ritterbusch, Schaffstein und Siebert herausgegeben werden sollte. Stattdessen gaben die Kieler Rechtslehrer Larenz, Michaelis und Siebert seit 1938 die Reihe „Abhandlungen aus dem Kieler Seminar für deutsches Gemeinrecht“ heraus.110 3. Mitarbeit in den neu gegründeten NS-Zeitschriften Neben der Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht (ZAkDR), auf die noch zurückzukommen sein wird, wurden in den 1930er Jahren zwei weitere juristische Fachzeitschriften mit nationalsozialistischer Ausrichtung neu gegründet: die seit 1931 vom BNSDJ herausgegebene Zeitschrift Deutsches Recht (DR)111 und die mit dem in Kitzeberg erweiterten Kieler Kreis aufs engste verbundene DRW.112 Das Programm beider Zeitschriften war ausschließlich auf die nationalsozialistische Rechtserneuerung ausgerichtet113 – das der DRW unter starker Einbeziehung 109 In der Reihe A erschienen 1936 / 1937 von Karl Larenz „Vertrag und Unrecht“ (in zwei Teilen), 1937 von Hans Würdinger „Gesellschaften“ (Teil 1, Teil 2 folgte 1943), von Ernst Rudolf Huber „Verfassung“ (nochmals in stark erweiterter 2. Aufl. 1939 unter dem Titel „Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches“) und von Theodor Maunz „Verwaltung“ sowie 1938 von Franz Wieacker „Bodenrecht“. Nach längerer Pause wurden dann 1943 von Heinrich Henkel „Das deutsche Strafverfahren“ und 1944 von Georg Dahm „Deutsches Recht“ veröffentlicht. Seit 1939 wurde die Reihe nur noch von Dahm und Huber herausgeben und Eckhardt nicht mehr als Herausgeber aufgeführt. Zu Hubers Verfassungsrechtslehrbuch vgl. Stolleis (Anm. 21), S. 348 f. mwN. 110 In dieser Reihe erschienen: Heft 1: Hans Tägert, Die Geltendmachung des Drittschadens, 1938; Heft 2: Hans-Detlev Fischer, Gefälligkeitsfahrt und vorvertragliche Haftung, Beiträge zum Problem des fiktiven Vertrages, 1938; Heft 3: Richard Benser, Die Systematik des Privatrechts in Blackstone’s ,Commentaries on the Laws of England‘, Ein Beitrag zur Geschichte des Rechtssystems, 1938 (aus dem Nachlass des Verfassers von Karl Michaelis herausgegeben). 111 Zu den von BNSDJ herausgegebenen Zeitschriften vgl. Lothar Becker, Die „Selbstgleichschaltung“ juristischer Zeitschriften im Nationalsozialismus, in: Michael Stolleis (Hrsg.), Juristische Zeitschriften, Die neuen Medien des 18.-20. Jahrhunderts, 1999, S. 481, 485. Die ZAkDR war diesem Bund zwar nicht angeschlossen, wohl aber „kameradschaftlich“ verbunden. 112 Einen Überblick über die juristische Fachpresse in der NS-Zeit geben Götz-Thomas Heine, Juristische Zeitschriften zur NS-Zeit, in: Peter Salje (Hrsg.), Recht und Unrecht im Nationalsozialismus, 1985, S. 272 – 293; Bernd Rüthers / Martin Schmitt, Die juristische Fachpresse nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, JZ 1988, S. 369 – 377; Becker (Anm. 111), S. 481 – 500; Stolleis (Anm. 21), S. 299 ff. Vgl. weiter Becker (Anm. 42), mit einem Überblick über den Forschungsstand auf S. 2 ff. und über den juristischen Zeitschriftenmarkt seit 1933 auf S. 9 ff. 113 In einer Richtlinie der Schriftleitung der DR vom November 1933 wurde dies ausdrücklich festgeschrieben: „Die Aufgabe des ,Deutschen Rechts‘ besteht in der Darstellung
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der „Jungen Rechtswissenschaft“, einschließlich der von ihr ausgehenden Reform des Rechtsunterrichts.114 Im Geleitwort zur ersten Ausgabe der DRW wird aber nicht nur die Verbindung zum Kiel-Kitzeberger Kreis besonders hervorgehoben, sondern auch die Einbindung dieser jungen Elite in die Gesamtaufgabe der Rechtserneuerung, die bis dahin vor allem durch die Zeitschriften der Deutschen Rechtsfront und die Arbeiten der Akademie für Deutsches Recht geleistet worden war: „Unser Wollen wird sich spiegeln in unseren Beiträgen zu der Lehrbuchreihe ,Grundzüge der Rechts- und Wirtschaftswissenschaft‘; [ . . . ]. An dem Zentralorgan des Bundes Nationalsozialistischer Deutscher Juristen ,Deutsches Recht‘ werden wir ständig mitarbeiten, fühlen wir uns doch den Kameraden aus der Deutschen Rechtsfront, die, an anderem Platze, aber in gleicher Gesinnung wie wir, unter der Führung Hans Franks für ein nationalsozialistisches Recht kämpfen, weit enger verbunden als den Fachkollegen, die anschauungsmäßig nicht zu uns gehören. So ist es uns Pflicht und Genugtuung, im ,Deutschen Recht‘ von den Ergebnissen unserer Arbeit zu berichten. Für diese Arbeit selbst aber brauchen wir eine eigene Zeitschrift, die, unbeschwert durch Einzelfragen, der geistigen Auseinandersetzung über die Zentralprobleme der deutschen Rechtswissenschaft dient. Wir brauchen nicht minder eine Zeitschrift für die Neugestaltung der deutschen Hochschule, an der wir Rechtslehrer kraft Berufes unseren gemessenen Anteil haben. Zwei Aufgaben sind daher durch die Reichsminister Rust und Frank, in deren Auftrag ich die Herausgabe übernommen habe, der Zeitschrift ,Deutsche Rechtswissenschaft‘ gesetzt: der Kampf um eine neue Rechtslehre und die Arbeit an der neuen Hochschulverfassung.“115
a) Deutsche Rechtswissenschaft (DRW) Das erste Heft der im Auftrag von Hans Frank und Bernhard Rust von Eckhardt herausgegebenen DRW, die ebenso wie andere Schriften und Reihen der Kieler Schule von der HAVA verlegt wurde,116 stand – wie Eckhardt im Geleitwort be-
und Erörterung von Reformvorschlägen für die Erneuerung des Deutschen Rechts. Aufsätze, die sich nur mit dem geltenden Recht befassen, werden nicht angenommen.“ Zit. nach Michael Sunnus, Der NS-Rechtswahrerbund (1928 – 1945), 1990, S. 73. Zu den beiden neu gegründeten NS-Zeitschriften vgl. auch Heine (Anm. 112), S. 287 ff. Becker (Anm. 42), S. 31 weist darauf hin, dass die DR unter namhaften Wissenschaftlern einen schlechten Ruf hatte. 114 Dies ergibt sich nicht nur aus dem Geleitwort Eckhardts, sondern auch aus zahlreichen in der DRW abgedruckten Beiträgen. Vgl. etwa Karl Michaelis, Die Überwindung der Begriffe Rechtsfähigkeit und Parteifähigkeit, DRW 1937, S. 301 ff. mit programmatischen Worten zur Rechtserneuerung in der Einführung und mit Hinweis darauf, dass „die Rechtswissenschaft [ . . . ] keineswegs geschlossen zu der neuen Aufgabe, von der hier ein Stück in Angriff genommen werden soll“, stehe. Vgl. auch Rüthers (Anm. 35), S. 51. 115 Eckhardt, DRW 1936, S. 4 f. Eckhardt hat die Zeitschrift bis zum 3. Jahrgang 1938 betreut; dazu ders., An die Leser der ,Deutschen Rechtswissenschaft‘, DRW 1938, S. 382.
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tonte – „noch ganz unter dem Eindruck des Kitzeberger Lagers“ und den dort gehaltenen Referaten, von denen sechs abgedruckt wurden (zusammen mit dem Bericht Wieackers über das Lager machen diese 80 von 96 Seiten aus).117 In der kritischen Besprechung des ersten Heftes der DRW von Julius v. Gierke in der Zeitschrift für das Gesamte Handelsrecht und Konkursrecht (ZHR) 1936118 wird vor allem die ablehnende Haltung der älteren Generation gegenüber dem Rechtserneuerungsprogramm der Kiel-Kitzeberger Gruppe deutlich.119 Zum Jahreswechsel 1938 / 39 wurde die DRW nach dem nicht ganz freiwilligen Rückzug Eckhardts aus der Wissenschaftspolitik120 von der Abteilung für Rechts-
116 Becker (Anm. 42), S. 141 ff. bezeichnet die DRW als „Organ des Sicherheitsdienstes“ und weist darauf hin (Fn. 74), dass in einer vom Geheimen Staatspolizeiamt (Gestapa) erstellten Liste mit Zeitschriftenneugründungen vom Januar 1936 als Herausgeber der DRW das Gestapa angegeben wurde. Da Reinhard Höhn, seit 1934 Schriftleiter der DR, kulturpolitischer Referent des SD und Eckhardt, seit 1936 Herausgeber der DRW, Referent im SD waren, ist ein Einfluss des SD auf die beiden NS-Zeitschriften jedenfalls nicht unwahrscheinlich. Zu den Beziehungen zwischen HAVA und SD vgl. auch Lokatis, Archiv für Geschichte des Buchwesens 1992, S. 60 ff. Zu den Beziehungen Eckhardts zum SD vgl. Frassek, ZRG-GA 117 (2000), S. 308 f. 117 Insgesamt stammen von den 34 Beiträgen des ersten Jahrgangs 1936 sechzehn von Mitgliedern der Kieler Schule. Das erste Heft des zweiten Jahrgangs von 1937 wurde vor allem mit Beiträgen bestückt, die als Referate Gegenstand des zweiten Lagers junger Rechtslehrer in Bad Elster waren (zusammen mit dem Bericht von Hofmann über das Lager nehmen diese 88 von 96 Seiten ein). 118 Zu Julius v. Gierke (1875 – 1960), Mitherausgeber der ZHR, vgl. Schumann (Anm. 1), S. 74 ff. mwN. 119 Julius v. Gierke, Literatur, Deutsche Rechtswissenschaft, ZHR 1936, S. 348 – 368; von der Kritik ist lediglich der Beitrag von Hans Würdinger, der ebenfalls Mitherausgeber der ZHR war, ausgenommen. Zur Besprechung v. Gierkes hat wiederum Eckhardt, Zum Begriff des subjektiven Rechts, DRW 1936, S. 352 – 359 – teilweise scharf – Stellung genommen und dabei auf die alten Verbindungen der Kieler Rechtslehrer zu Göttingen hingewiesen (S. 353): „Ich befinde mich dabei in der angenehmen Lage, mich mit einem Manne auseinanderzusetzen, der, in bester germanistischer Schule geformt, sich ehrlich bemüht, unseren Gedankengängen Verständnis abzugewinnen, und der die Mehrzahl von uns aus gemeinsamen Wirken an der Alma mater Georgia-Augusta persönlich kennt, also gewiß nicht aus grundsätzlich gegnerischer Einstellung urteilt.“ Zu v. Gierkes Kritik an Wieackers Bericht über die im Kitzeberger Lager gehaltenen Referate (ZHR 1936, S. 360) heißt es weiter (DRW 1936, S. 354): „Wieackers Bericht hält sich an die ursprünglichen Referate. Begreiflicherweise bevorzugt der Bericht die Fragen, die den Berichterstatter besonders fesselten, wie er überhaupt das Gepräge seiner Diktion nicht verleugnet. Ich muß mich jedoch energisch dagegen verwahren, daß einem Kameraden, dem wir für seine entsagungsvolle, sorgfältige Ausarbeitung herzlich dankbar sind, von einem Außenstehenden ,ganz falsche‘ Berichterstattung vorgeworfen wird.“ Außerdem wurde die erste Ausgabe der DRW noch von Ernst Rudolf Huber, ZgStW 1937, S. 724 – 727 besprochen. 120 Zu Eckhardts Absturz im Bereich der Wissenschaftspolitik 1937 vgl. Becker (Anm. 42), S. 160 ff.; Frassek, ZRG-GA 117 (2000), S. 313 f.; Hermann Nehlsen, In memoriam Karl August Eckhardt, ZRG-GA 1987 (104), S. 497, 507 ff. Zur DRW und zu Eckhardt als Herausgeber vgl. Lokatis, Archiv für Geschichte des Buchwesens 1992, S. 61 ff., insb. S. 66. Eckhardt selbst erklärte seine „Entlastung“ von der Herausgabe der DRW damit, dass
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forschung der Akademie für Deutsches Recht übernommen und trug ab Bd. 4 (1939) den Untertitel Vierteljahresschrift der Akademie für Deutsches Recht.121 Verantwortlich waren nun die Klassensekretäre der Abteilung für Rechtsforschung, die Professoren Wilhelm Felgentraeger, Heinrich Lange und Werner Weber.122 Das Programm der Zeitschrift sollte sich jedoch nach Ankündigung des Präsidenten der Akademie für Deutsches Recht Hans Frank nicht wesentlich ändern123 und neben einzelnen Beiträgen älterer Kollegen wie Rudolf Smend, Heinrich Siber und Paul Koschaker124 wurde die Zeitschrift auch weiterhin stark mit Beiträgen von den Kiel-Kitzeberger Rechtslehrern bestückt.125 b) Deutsches Recht (DR) Wie von Eckhardt im Geleitwort zur DRW angekündigt brachte sich der KielKitzeberger Kreis seit 1934 / 1935 auch verstärkt in das als Zeitschrift des BNSDJ 1931 gegründete, seit 1936 als Publikationsorgan des NS-Rechtswahrerbundes er sich nach seiner Tätigkeit als Referent im REM vom 1. 10. 1934 bis 31. 3. 1936 und der damit verbundenen Wahrnehmung rechtspolitischer Aufgaben nun wieder verstärkt der germanischen Rechtsgeschichte als Leiter des neu errichteten Deutschrechtlichen Forschungsinstituts in Bonn widmen wolle (An die Leser der ,Deutschen Rechtswissenschaft‘!, DRW 1938, S. 382). 1938 trat Eckhardt auch das letzte Mal als Herausgeber der Gründzüge der Rechtswissenschaft auf, die seit 1939 nur noch von Huber und Dahm herausgegeben wurden. 121 Dazu Geleitwort von Hans Frank, DRW 1939, S. 1 ff. Lange (Anm. 13), S. 27 f. sieht darin eine Ablösung der Kieler Ausrichtung der Zeitschrift: „Vor allem aber schuf sich die Akademie in der Zeitschrift ,Deutsche Rechtswissenschaft‘, die bisher dem Kampf für die Anschauungen des Kieler Kreises und gewisser staatsrechtlicher Lehren gedient hatte, seit 1939 das Organ der Abteilung für Rechtsforschung zur Veröffentlichung von Aufsätzen von grundlegender Bedeutung aus dem Bereiche des gesamten Rechts.“ Das Hervorgehen der Zeitschrift aus der Kieler Schule betont auch Hedemann, DR 1943, S. 674: „Seit 1939 hat die Akademie auch die hervorragende, spezifisch wissenschaftliche Zeitschrift ,Deutsche Rechtswissenschaft‘ übernommen, die einige Jahre zuvor von der jungen Kieler Schule her ihren Ausgang genommen hat.“ 122 Zum Herausgeberwechsel vgl. auch Hanseatische Verlagsanstalt, An die Leser der ,Deutschen Rechtswissenschaft‘!, DRW 1938, S. 382. Vgl. weiter Becker (Anm. 42), S. 164 ff.; Hans-Rainer Pichinot, Die Akademie für Deutsches Recht – Aufbau und Entwicklung einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft des Dritten Reichs, Diss. iur., Kiel 1981, S. 102 f.; Wolf (Anm. 25), S. 62 f. 123 Frank, DRW 1939, 1: „Diese Zeitschrift wird auch künftig ihre Aufgabe dann erfüllen, wenn sie der revolutionären nationalsozialistischen Rechtsbesinnung den Schwung geistigen Vorkämpfertums erhält. Ich rufe daher vor allem die jungen deutschen Rechtswissenschaftler auf, an dieser Zeitschrift mitzuarbeiten.“ 124 Dazu auch Becker (Anm. 42), S. 162. 125 Hervorzuheben ist insb. Heft 1 von Bd. 6 (1941), das insgesamt vier Abhandlungen von dem ehemaligen Kieler Professor Jens Jessen und dem der Kieler Schule nahe stehenden Theodor Maunz sowie von Huber „Bau und Gefüge des Reiches“ und von Wieacker „Die Forderung als Mittel und Gegenstand der Vermögenszuordnung“ enthält. Bd. 4 (1939) enthält von Schaffstein „Zur Abkehr der strafrechtlichen Tatbestandsauslegung von der zivilrechtlichen Begriffsbildung“ und von Huber „Die Rechtsgestalt der NSDAP“.
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(NSRB) dienende Kampfblatt Deutsches Recht ein.126 Reinhard Höhn, Schriftleiter der DR seit 1934, reservierte der ihm nahe stehenden Kiel-Kitzeberger Gruppe 1935 sogar ein ganzes Heft der Zeitschrift, das von Herausgeber Hans Frank folgendermaßen angekündigt wurde: „Für dieses Heft des ,Deutschen Rechts‘ hat sich ein Kreis junger deutscher Rechtsgelehrter zur Gemeinschaftsarbeit zusammengefunden, die dem großen Gemeinschaftswerk der deutschen Rechtsjugend, dem nationalsozialistischen Reich die nationalsozialistische Rechtsordnung aufzubauen, in wissenschaftlicher Methode fruchtbar dienen wollen. Im Namen des Deutschen Rechtsstandes begrüße ich voll Vertrauen in die Zukunft der jungen Rechtsgelehrsamkeit des Nationalsozialismus diese Kameraden unter den Rechtslehrern, die im ,Deutschen Recht‘ nun fortlaufend die Ergebnisse ihrer Gemeinschaftsarbeit veröffentlichen werden. In diesem Heft wird als erste Reihe ein Teil der Ergebnisse eines unter meinem Patronat im Sommer dieses Jahres stattgefundenen Lagers junger Rechtsgelehrter dargelegt. Der Deutsche Rechtsstand betrachtet diese junge Generation der deutschen Rechtsgelehrten als den geistigen Vorkämpfertyp der neu erstehenden deutschen Rechtswissenschaft. Die Arbeiten zeigen, daß mit der glühenden Liebe zum nationalsozialistischen Führer und seinem Reich, daß mit dem unbeugsamen, stürmischen Temperament des Kämpfertums der NSDAP die schöpferische Sachbeherrschung aus tiefster, ernstester Forschung und ideenmäßiger Klärung verbunden werden kann. Die Zusammenarbeit zwischen den jungen Rechtslehrern und der nationalsozialistischen Deutschen Rechtsfront wird den Mitgliedern der Rechtsfront ein willkommener Appell bleiben, die Arbeit am nationalsozialistischen Recht begriffsmäßig immer weiter zu klären und so zu versachlichen, daß der Gedanke der schöpferischen Rechtsrevolution vom Wunschbild zur gesetzgeberischen Wirklichkeit wird.“127
Das Heft mit dem Titel „Junge Rechtswissenschaft“ enthielt Beiträge von Eckhardt, Höhn, Maunz, Siebert, Heinrich Lange, Larenz, Hans Würdinger, Wieacker, Thieme und Helmut Seydel.128
126 Aus dem Kreis der Kieler Schule sind, teilweise mit mehreren Beiträgen jährlich (ohne Buchbesprechungen), vertreten: 1934 Busse, Dahm, Schaffstein, Siebert; 1935 Busse, Eckhardt, Huber, Larenz, Michaelis, Schaffstein, Siebert, Wieacker; 1936 Busse, Dahm, Ritterbusch, Schaffstein, Siebert, Wieacker; 1937 Eckhardt, Larenz, Siebert, Wieacker. Aber auch Thieme, der nur gelegentlich in der DRW mitarbeitete, ist in der DR mehrfach vertreten, so etwa mit „Führerprinzip in der Arbeitsverfassung“ und „Nationalsozialistisches Arbeitsrecht“ in DR 1935, S. 214 ff. und S. 501 ff. 127 Hans Frank, Zur Einführung, DR 1935, S. 469. 128 DR 1935, Heft 19 / 20 „Junge Rechtswissenschaft“: Eckhardt, Die Fahne des Reichs, S. 472 ff.; Höhn, Partei und Staat, S. 474 ff.; Maunz, Die Zukunft der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 478 ff.; Siebert, Betriebsgemeinschaft und Arbeitsverhältnis, S. 481 ff.; Lange, Abstraktes oder kausales dingliches Geschäft, S. 485 ff.; Larenz, Die Wandlung des Vertragsbegriffs, S. 488 ff.; Würdinger, Das subjektive Recht im Privatrecht, S. 492 ff.; Wieacker, Eigentum und Eigen, S. 496 ff.; Thieme, Nationalsozialistisches Arbeitsrecht, S. 501 ff.; Seydel, Gedanken zur Neugestaltung des Zivilprozesses, S. 504 ff. In den beiden folgenden Ausgaben, Heft 21 / 22 „Straf- und Strafprozeßrecht“ und Heft 23 / 24 „Verfahrensrecht“, folgen Beiträge von Schaffstein (Grundsätzliches zur Erneuerung des Strafverfahrens, S. 520 ff.) und Michaelis (Ständische Ehrengerichtsbarkeit, S. 572 ff.).
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1939 wurde die DR als Wochenausgabe (Reihe A) mit der Juristischen Wochenschrift und als Monatsausgabe (Reihe B) mit der Zeitschrift Deutsche Rechtspflege vereinigt.129 Beide Reihen wurden bis zur Einstellung der Zeitschrift gegen Ende des Krieges von dem Kiel-Kitzeberger Kreis regelmäßig genutzt. Aber nicht nur der Blick in die Inhaltsverzeichnisse der neu gegründeten NSZeitschriften verrät die rege Mitarbeit der genannten Professoren, darüber hinaus geben auch deren Bibliographien Zeugnis dafür ab, dass die jungen Rechtslehrer der Kieler Schule die nationalsozialistisch ausgerichteten Zeitschriften bevorzugt haben. So erschienen beispielsweise von Franz Wieacker zwischen 1934 und 1944 elf Beiträge in der DR, fünf Beiträge in der DRW und dreizehn Beiträge in der ZAkDR130 (sowie acht Beiträge in der von Carl Schmitt von 1934 bis 1936 herausgegebenen Deutschen Juristenzeitung, die 1936 in der ZAkDR aufging,131 und sieben Beiträge in der von Huber und zwei weiteren Kieler Professoren herausgegebenen ZgStW132). 4. Rechtsgestaltung in der Akademie für Deutsches Recht Das in der von Hans Frank 1933 gegründeten Akademie für Deutsches Recht133 betriebene „große Werk der deutschen Rechtserneuerung“134 wurde – im Vergleich Dazu auch Heine (Anm. 112), S. 286 ff. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die Vorankündigungen aus der ZAkDR für die DRW-Hefte (seit 1939 Vierteljahresschrift der Akademie für Deutsches Recht). So heißt es in der ZAkDR 1941, S. 146: „Prof. Dr. Franz Wieacker, Leipzig, und Prof. Dr. Hans Brandt, Kiel, beide anerkannte Vorkämpfer für die Erneuerung des sog. bürgerlichen Rechts, behandeln zwei eng miteinander zusammenhängende Probleme: Wieacker die Forderung als Mittel und Gegenstand der Vermögenszuordnung (ein Beitrag zur Kritik der Unterscheidung zwischen Schuldrecht und Sachenrecht), Brand die Folgen aus dem Ende der dinglichen Einigung.“ 131 Die DJZ wurde seit 1934 vom Reichsfachgruppenleiter Hochschullehrer des BNSDJ, Carl Schmitt, unter Mitwirkung der Mitglieder des Reichsfachgruppenrates (darunter Heinrich Lange, Dahm, Huber und Ritterbusch) herausgegeben. Dazu und zur späteren Übernahme durch die ZAkDR vgl. Heine (Anm. 112), S. 285; Becker (Anm. 42), S. 29; Rüthers (Anm. 35), S. 50 f.; Wolf (Anm. 25), S. 58 ff.; Stolleis (Anm. 21), S. 300 f. 132 Zum Einfluss der Kieler Schule auf die ZgStW vgl. Becker (Anm. 42), S. 139 ff.; Stolleis (Anm. 21), S. 303. Insbesondere wies Huber in einem Schreiben an Siebeck vom 8. 5. 1934 darauf hin, dass für das Programm der Zeitschrift ein kleiner, persönlich eng verbundener Wissenschaftlerkreis ausgehend von einer gemeinsamen politischen Auffassung Gewähr bieten müsse: „Diese genannten Voraussetzungen können m. E. am besten von Kiel aus erfüllt werden.“ (zit. nach Becker, S. 141). Becker, S. 138 ff. ordnet diese Zeitschrift ebenso wie die DRW als Zeitschrift der „Jungen Rechten“ ein. Mitherausgeber der Zeitschrift waren von 1934 bis 1944 neben Huber die beiden Kieler Wirtschaftswissenschaftler Hermann Bente und Andreas Predöhl, die Redaktion des juristischen Teils zog jedoch mit Huber von Kiel nach Leipzig und schließlich nach Straßburg. Dazu Grothe (2005) (Anm. 4), S. 212 ff.; Jürgens (Anm. 4), S. 20 f. 133 Die Gründung der Akademie für Deutsches Recht erfolgte am 26. 6. 1933, die feierliche Proklamation am 2. 10. 1933 in der Aula der Leipziger Universität anlässlich des ersten 129 130
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zur Kieler Schule – nicht nur von einer deutlich größeren Gruppe von Hochschullehrern getragen, sondern erfolgte vor allem auch unter starker Einbeziehung von Praktikern.135 Trotz unterschiedlicher Ansätze bei der konkreten Umsetzung der Erneuerung des Rechts136 wurden – nach einiger Zeit – auch etliche Rechtslehrer der Kieler Schule Mitglieder der Akademie137 oder ihrer Ausschüsse138, wurden zu einzelnen Themenbereichen zur Mitarbeit herangezogen oder ausdrücklich zur Stellungnahme zu den Arbeiten einzelner Akademieausschüsse aufgefordert.139 nationalsozialistischen Deutschen Juristentags, dazu Hans Frank, Vorwort, JahrbAkDR 1933 / 34, S. 5. Vgl. dazu insgesamt Pichinot (Anm. 122), S. 7 ff. Vgl. weiter Hans Hattenhauer, Die Akademie für Deutsches Recht (1933 – 1944), JuS 1986, S. 680 – 684; Susanne Adlberger, Wilhelm Kisch – Leben und Wirken (1874 – 1952), Von der Kaiser-Wilhelms-Universität Straßburg bis zur nationalsozialistischen Akademie für Deutsches Recht, 2007, S. 174 ff. 134 So Ernst Rudolf Huber im Vorwort der Festschrift für Siber (Anm. 77), Bd. 1, S. IV. Vgl. weiter § 2 der Satzung der Akademie für Deutsches Recht (JahrbAkDR 1933 / 34, S. 249 f.): „Aufgabe der Akademie für Deutsches Recht ist, die Neugestaltung des deutschen Rechtslebens zu fördern und in enger dauernder Verbindung mit den für die Gesetzgebung zuständigen Stellen das nationalsozialistische Programm auf dem gesamten Gebiete des Rechts und der Wirtschaft zu verwirklichen. [ . . . ] Im einzelnen ist der Wirkungskreis der Akademie für Deutsches Recht vor allem 1. die Anregung, Begutachtung, Vorbereitung und Ausarbeitung von Gesetzentwürfen, 2. die Neugestaltung und Vereinheitlichung der rechtsund staatswissenschaftlichen Ausbildung, 3. die Herausgabe und Unterstützung wissenschaftlicher Veröffentlichungen, [ . . . ].“ 135 So Frank, JahrbAkDR 1933 / 34, S. 5. Vgl. weiter Hedemann, DR 1943, S. 673 ff. 136 Den Gegensatz zwischen Kieler Schule und Akademie für Deutsches Recht hob Lange (Anm. 13), S. 17, 21, 28, 37 f. mehrfach hervor. Dazu auch Frassek, ZRG-GA 117 (2000), S. 310 ff. 137 Aus der Gruppe der Kieler Dozenten war lediglich Dahm von Beginn an ordentliches Mitglied der Akademie für Deutsches Recht (Mitgliederverzeichnis, JahrbAkDR 1933 / 34, S. 252). 138 Als im Zusammenhang mit der Bildung einer größeren Anzahl von Unter- und Sonderausschüssen des Ausschusses für Personen-, Vereins- und Schuldrecht auch Busse, Larenz und Wieacker zu den Arbeiten herangezogen wurden, kommentierte Lange (Anm. 13), S. 25 die Zusammenarbeit folgendermaßen: „Hier arbeiteten Wissenschaftler aller Richtungen an sachlichen Einzelaufgaben zusammen, Vertreter der älteren Generation, aber auch des Kieler Kreises. Hier schwanden aber auch die Gegensätze weitgehend in dieser Zusammenarbeit.“ 139 So schildert beispielsweise Lange (Anm. 13), S. 23 die Zusammenarbeit im Vorfeld des Ehegesetzes von 1938: Der Akademieentwurf des Familienrechtsausschusses unter der Leitung von Ferdinand Mößmer von 1936, der im Ehescheidungsrecht die Ablösung des Verschuldensprinzips durch das Zerrüttungsprinzip vorsah, wurde zwei Mitgliedern der Kieler Schule (Larenz und Wieacker) zugeleitet und deren Stellungnahmen in der DR abgedruckt (Wieacker, Geschichtliche Ausgangspunkte der Ehereform, DR 1937, S. 178 – 184; Larenz, Grundsätzliches zum Ehescheidungsrecht, DR 1937, S. 184 – 188). In der Vorankündigung der Stellungnahmen (DR 1937, S. 177) heißt es, dass sich deren weltanschaulich und historisch begründete Auffassung in allem Grundsätzlichen mit dem Entwurf Mößmers decke; entsprechendes gelte für den von der wissenschaftlichen Abteilung des NSRB vorgelegten und ebenfalls in der DR 1937 abgedruckten Entwurf. Hingegen sah § 55 EheG 1938 zwar in Abs. 1 das Zerrüttungsprinzip vor, dieses wurde jedoch nach Abs. 2 (Verschuldensprinzip)
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Darüber hinaus arbeiteten sie rege in den Publikationsorganen der Akademie, vor allem in der 1934 gegründeten ZAkDR,140 mit.141 Seit 1936 hatte die Akademie für Deutsches Recht zwei Abteilungen: die Abteilung für Rechtsgestaltung, deren zahlreiche Ausschüsse sich mit der Vorbereitung neuer Gesetze befassten,142 und die Abteilung für Rechtsforschung, die sich losgelöst von konkreten Reformen wissenschaftlichen Themen widmen konnte und aus drei Klassen bestand143 (einer der drei Klassensekretäre war Werner Weber).144 Die Arbeit in den Ausschüssen galt als Beispiel „echter Zusammenarbeit“. 145 Vor allem Wieacker brachte seine Arbeit in mehrere Ausschüsse ein;146 so arbeiwieder stark eingeschränkt; dazu Eva Schumann, Die Reichsgerichtsrechtsprechung in Familiensachen von 1933 – 1945, in: Bernd-Rüdiger Kern / Adrian Schmidt-Recla (Hrsg.), 125 Jahre Reichsgericht, Schriften zur Rechtsgeschichte 126, 2006, S. 171, 184 ff. mwN. Vgl. weiter Lange (Anm. 13), S. 22, 24, 27. 140 Zur Gründung der ZAkDR vgl. Pichinot (Anm. 122), S. 29 ff. 141 Vor allem Wieacker veröffentlichte zahlreiche Beiträge in der ZAkDR. So erschienen von ihm zunächst vor allem Rezensionen zu den neuen Grundrissen aus den Reihen Stoll / Lange bei Mohr / Siebeck und Dahm / Eckhardt / Huber bei der HAVA, während sich in den späteren Ausgaben auch längere Beiträge zum römischen Recht, Schuld-, Sachen-, Familienrecht und zur Juristenausbildung finden (ZAkDR 1935, S. 273 ff.; ZAkDR 1937, S. 156 (2 Rezensionen), S. 189, S. 220, S. 252; ZAkDR 1938, S. 284, S. 320, S. 590 ff., S. 751; ZAkDR 1939, S. 235 f., S. 403 ff.; ZAkDR 1943, S. 33 ff.). Auch Weber nutzte als Klassensekretär die ZAkDR in starkem Umfang; zwischen 1937 und 1944 erschienen dort etwa die Hälfte seiner Zeitschriftenbeiträge (ZAkDR 1937, S. 87 f., S. 363 ff., S. 763; ZAkDR 1938, S. 135 ff., S. 487, S. 532 ff., S. 665 f., S. 677 f.; ZAkDR 1939, S. 104, S. 367 ff., S. 450, S. 655 f., S. 679 f., S. 691; ZAkDR 1940, S. 223 f., S. 274, S. 388 f.; ZAkDR 1941, S. 69, S. 133, S. 247, S. 275 f.; ZAkDR 1943, S. 181, S. 253 f.; ein weiterer Beitrag erschien in JahrbAkDR 1937, S. 184 ff.). Aber auch Huber publizierte regelmäßig in der ZAkDR (ZAkDR 1937, S. 73 ff., S. 323 ff., S. 366 ff.; ZAkDR 1938, S. 78 ff., S. 452; ZAkDR 1939, S. 364 ff., S. 435 ff.; ZAkDR 1940, S. 261 ff.), wenngleich seine Beiträge überwiegend in der von ihm herausgegebenen ZgStW und anderen Zeitschriften erschienen. Außerdem war er mit einem Beitrag „Öffentliches Recht und Neugestaltung des Bürgerlichen Rechts“ in: Hans Frank (Hrsg.), Zur Erneuerung des Bürgerlichen Rechts, Schriften der Akademie für Deutsches Recht, Gruppe Rechtsgrundlagen und Rechtsphilosophie, Nr. 7, 1938, S. 51 – 64 vertreten. Seltener nutzten die ZAkDR Michaelis (ZAkDR 1941, S. 108 ff., S. 330 f.; ZAkDR 1942, S. 278 ff.; ZAkDR 1943, S. 233 ff.) und de Boor (ZAkDR 1935, S. 830 ff.; ZAkDR 1937, S. 266 ff.; ZAkDR 1938, S. 834 ff.). 142 Zu den Ausschüssen vgl. Pichinot (Anm. 122), S. 18 ff. 143 Dazu Pichinot (Anm. 122), S. 72 ff. (zur Abteilung für Rechtsforschung, deren konstituierende Sitzung erst im Juni 1937 stattfand, S. 99 ff.; zur Abteilung für Rechtsgestaltung S. 104 ff.); Adlberger (Anm. 133), S. 191 ff. Vgl. weiter C. A. Emge, Die wissenschaftliche Arbeit in der Akademie für deutsches Recht, DR 1939, S. 539 f. 144 Weber war Sekretär der Klasse II: Erforschung des Rechtes von Reich und Volk (Staats- und Verwaltungsrecht, Kirchenrecht, Völkerrecht, Strafrecht, Strafverfahrensrecht, Jugendrecht, Verkehrsrecht und Arbeitsrecht); aus Berichte und Bemerkungen, ZAkDR 1937, S. 117. Vgl. auch Lange (Anm. 13), S. 18, 24 (Fn. 1). 145 So Emge, DR 1939, S. 539. 146 Zu nennen sind neben den im Folgenden aufgeführten Ausschüssen noch die Ausschüsse für Fahrnisrecht und für Familienrecht.
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tete er im Ausschuss für das Volksgesetzbuch147 (Buch I „Der Volksgenosse“) zusammen mit Michaelis148 und im Ausschuss für Bodenrecht zusammen mit Weber,149 der ebenfalls in mehreren Ausschüssen, vor allem aber im Ausschuss für Religionsrecht, tätig war.150 Gemeinsam mit den ehemaligen Kieler Kollegen Schaffstein und Siebert war Wieacker zudem im Bereich der Reform des Jugendrechts tätig. Siebert war Vorsit147 Zum Volksgesetzbuch, dem prominentesten Projekt der Akademie für Deutsches Recht vgl. Lange (Anm. 13), S. 31 ff.; Heinrich Lehmann, Vom Werden des Volksgesetzbuchs, DR 1942, S. 1492 ff.; Geleitwort des Präsidenten der Akademie für Deutsches Recht, Reichsminister Dr. Hans Frank, JahrbAkDR 1939 / 40, S. VII-X. Vgl. weiter Wolf (Anm. 25), S. 143 ff. 148 Aus der Arbeit der Akademieausschüsse, ZAkDR 1940, S. 336. Weitere Mitarbeiter im Ausschuss für Buch I waren u. a. der ehemalige Kieler Kollege Siebert und als Teilnehmer der Beratung des Abschnitts „Aberkennung der volksgenössischen Rechtsstellung“ auch Dahm. Dazu auch Justus Wilhelm Hedemann / Heinrich Lehmannn / Wolfgang Siebert, Volksgesetzbuch, Grundregeln und Buch I, Entwurf und Erläuterungen, Arbeitsberichte der Akademie für Deutsches Recht, Bd. 22, 1942, S. 7. Vgl. weiter Hattenhauer (Anm. 28), S. 271 ff.; Christine Wegerich, Die Flucht in die Grenzenlosigkeit, Justus Wilhelm Hedemann (1878 – 1963), 2004, S. 72. Michaelis und Wieacker haben später angegeben, dass sich ihre Mitarbeit lediglich auf die Teilnahme an einzelnen Sitzungen bezog; dazu Werner Schubert (Hrsg.), Akademie für Deutsches Recht 1933 – 1945, Protokolle der Ausschüsse, Bd. III / 1: Volksgesetzbuch, 1988, S. 17 (Fn. 63). Mit dem Volksgesetzbuch beschäftigte sich auch de Boor in seinem Beitrag „Volksgesetzbuch, Nebengesetze und Verfahrensrecht“, JahrbAkDR 1939 / 40, S. 48 ff. 149 Insbesondere haben beide an der Neugestaltung des Liegenschaftsrechts mitgewirkt (beteiligt war u. a. auch noch Busse); dazu Vorwort von Wilhelm Felgentraeger, in: Eugen Locher, Die Neugestaltung des Liegenschaftsrechtes, Im Auftrag des Ausschusses für Bodenrecht der Akademie für Deutsches Recht, Arbeitsberichte der Akademie für Deutsches Recht, Bd. 18, 1942. Vgl. weiter Werner Schubert (Hrsg.), Akademie für Deutsches Recht 1933 – 1945, Protokolle der Ausschüsse, Bd. III / 7: Ausschüsse für Immobiliarkredit, Bodenrecht (allgemeines Grundstücksrecht), Hypothekenrecht und Enteignungsrecht, 1995, S. 54 ff., 64 f., 71 ff., 76 ff., 81 ff., 553 ff., 564 ff. Vgl. auch Kohlhepp, ZRG-RA 122 (2005), S. 212 ff. Über seine Arbeit in den Ausschüssen für Enteignungsrecht und Jugendrecht (s. u.) schrieb Wieacker in seiner Privatrechtsgeschichte (Anm. 39), S. 536, Fn. 82 rückblickend: „So überwogen nach Ausweis der Veröffentlichungen der Akademie z. B. in den Ausschüssen [ . . . ] für Jugendarbeits- und Jugendstrafrecht, ja selbst für Enteignungsrecht eine rechtsstaatliche, wissenschaftliche oder an sachlichen Gesichtspunkten orientierte Grundhaltung.“ Ähnlich S. 515, Fn. 2. 150 Dazu Werner Schubert (Hrsg.), Akademie für Deutsches Recht 1933 – 1945, Protokolle der Ausschüsse, Bd. XV: Ausschuß für Religionsrecht, 2003, S. XXII ff., XXVII, XXXVI. Einen vor dem Ausschuss am 29. 4. 1939 gehaltenen Vortrag veröffentlichte Weber 1939 in den Schriften der Akademie für Deutsches Recht als Bd. 3 der Gruppe Verfassungs- und Verwaltungsrecht unter dem Titel „Die politische Klausel in den Konkordaten: Staat und Bischofsamt“ (dazu Besprechung von Huber, DRW 1940, 162 ff.). Im Vorjahr (am 3. 12. 1938) hatte er über das Reichskonkordat vorgetragen; zu diesem Thema gibt es von Weber Veröffentlichungen in der ZAkDR 1938, S. 532 ff. („Das Reichskonkordat in der deutschen Rechtsentwicklung“) und in der ZgStW 99 (1939), S. 193 ff. („Das Nihil obstat, Beiträge zum Verhältnis von Staat und katholischer Kirche“). Außerdem arbeitete Weber noch im Ausschuss für Enteignungsrecht, in den schuldrechtlichen Ausschüssen und im Kolonialrechtsausschuss mit.
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zender des Ausschusses für Jugendrecht, der in drei Arbeitsgemeinschaften aufgeteilt wurde, die von Siebert (Jugendarbeitsrecht),151 Wieacker (Jugendpflegerecht)152 und Schaffstein (Jugendstrafrecht)153 geleitet wurden.154 Aus der Arbeit ging u. a. die seit 1941 gemeinsam herausgegebene Reihe „Schriften zum Jugendrecht“ hervor.155 151 Von Siebert erschien bereits im JahrbAkDR 1936, S. 158 ff. der Beitrag „Die künftige Stellung des Jugendlichen im Arbeitsrecht“. 152 Vgl. auch Franz Wieacker, Der gegenwärtige Stand des Jugendhilferechts, ZStW 58 (1939), S. 53 – 74 (Vorbericht, der am 11. 12. 1937 in der Arbeitsgemeinschaft für Jugendstraf- und Jugendpflegerecht des Jugendrechtsausschusses der Akademie erstattet wurde). 153 Von Schaffstein entstanden in der NS-Zeit zahlreiche Arbeiten zum Jugendstrafrecht, z. B. 1937 die Monographie „Die Erneuerung des Jugendstrafrechts“ (im Vorwort heißt es: „Die Ausführungen dieser Schrift sind wesentlich beeinflußt durch die Aussprachen in dem von der Reichsführung der H.J. errichteten Seminar für Jugendrecht an der Universität Kiel. Sie stellen insofern ebenso eine Gemeinschaftsarbeit des Seminars dar, wie der seiner Zeit in ,Deutsches Recht‘ 1936, S. 64 ff. erschienene Aufsatz über ,Strafe und Erziehung im künftigen Jugendstrafrecht‘.“). Vgl. weiter von Schaffstein: Strafe und Erziehung im Jugendstrafrecht und Jugendstrafvollzug, Das junge Deutschland 1936, S. 1 ff.; Zur Neugestaltung des Jugendstrafrechts, Deutsches Strafrecht 1937, S. 73 – 91; Gedanken über den Strafvollzug an jungen Gefangenen, ZStW 56 (1937), S. 642 – 646; Die Bewahrung asozialer Minderjähriger, JahrbAkDR 1938, S. 64 ff.; Das Problem der Halberwachsenen im künftigen Strafrecht, DJ 1937, S. 347 – 351; Strafregistrierung und Rehabilitation im künftigen Jugendstrafrecht, DJ 1938, S. 1681 – 1685. Dem Jugendstrafrecht blieb Schaffstein aber auch nach 1945 treu: Von 1959 bis 1983 gab er ein Lehrbuch zum Jugendstrafrecht mit insgesamt acht Auflagen heraus, seit der 9. Aufl. gemeinsam mit Werner Beulke. Schaffstein nutzte die Publikationsorgane der Akademie aber auch für andere Beiträge; so erschienen von ihm noch „Die weltanschaulichen Grundlagen der deutschen Strafrechtsentwicklung seit der Carolina“, ZAkDR 1935, S. 106 ff. und „Gemeinschaftsarbeit am neuen Strafrecht“, ZAkDR 1938, S. 806 ff. 154 Pichinot (Anm. 122), S. 131, 171. Vgl. weiter Aus der Arbeit der Akademieausschüsse, ZAkDR 1938, S. 59 f. zur Zusammenarbeit der Arbeitsgemeinschaften, insb. zwischen den von Schaffstein und Wieacker geleiteten: „Diese enge Verbindung ist sachlich aus den einheitlichen Grundgedanken des gesamten Jugendrechts heraus gerechtfertigt. [ . . . ] In der ersten gemeinsamen Sitzung der beiden Arbeitsgemeinschaften [am 10. / 11. 12. 1937, Anm. d. Verf.] referierte Prof. Dr. Schaffstein über die vordringlichsten Aufgaben [ . . . ]. Am zweiten Tag der Sitzung sprach Prof. Dr. Wieacker, Leipzig, über Probleme des Jugendhilferechts [ . . . ].“ In einem weiteren Bericht über eine Tagung des Ausschusses für Jugendrecht am 15. 6. 1938 (an der Reichsarbeitsminister Seldte, der Jugendführer des Deutschen Reiches v. Schirach und Reichsminister Frank anwesend waren) heißt es über die Verdienste des Ausschusses für das Jugendschutzgesetz (ZAkDR 1938, S. 479): „Der Reichsarbeitsminister sprach im Namen der Reichsregierung dem Jugendrechtsausschuß für die wertvolle Mitarbeit an dem Zustandekommen des Gesetzes den Dank aus [ . . . ]. Die Akademie für Deutsches Recht hat sich der deutschen Jugend mit besonderer Liebe angenommen und sich darum bemüht, dem politischen Wollen einer revolutionären Grundhaltung die gesetzliche Regelung in der Gemeinschaftsordnung zuteil werden zu lassen.“ Vgl. weiter Kundgebung des Jugendrechtsausschusses, ZAkDR 1940, S. 357. Dazu insgesamt auch Werner Schubert (Hrsg.), Akademie für Deutsches Recht 1933 – 1945, Protokolle der Ausschüsse, Bd. XI: Ausschuß für Jugendrecht, Arbeitsgemeinschaften für Jugendarbeitsrecht und Jugendstrafrecht, 2001, S. 26 ff., 83 ff., 139 ff. 155 In der Reihe erschienen 1941 als Bd. 1 von Wolfgang Siebert „Grundzüge des deutschen Jugendrechts“ (in drei Auflagen bis 1943), als Bd. 2 von Gerhard Klemer „Jugendstraf-
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Hans-Otto de Boor leistete Vorarbeiten für den Bereich des Zivilprozessrechts156 und arbeitete außerdem im Ausschuss für Urheber- und Verlagsrecht mit.157 Eberhard Schmidt schließlich war von 1937 – 1942 Mitglied des Arbeitsausschusses für Wehrstrafrecht und Mitarbeiter der von der Akademie herausgegebenen Zeitschrift für Wehrrecht.158 In den Arbeitsberichten der Akademie für Deutsches Recht erschien von ihm 1938 in Bd. 6 mit dem Titel „Zur Neugestaltung des Strafverfahrens der Wehrmacht“ der Beitrag „Rechtsmittel des Wehrmachtstrafverfahrens“. 5. Die Aktion Ritterbusch: Gemeinschaftswerk „Kriegseinsatz der deutschen Geisteswissenschaften“ Am „Kriegseinsatz der deutschen Geisteswissenschaften“ unter der Leitung von Paul Ritterbusch159 im Auftrag des Reichserziehungsministeriums waren in ihrer recht und Hitler-Jugend“ und als Bd. 3 von Siegfried Brieger „Die Erziehungsbeihilfe im Lehrverhältnis“ sowie 1943 als Bd. 4 von Franz Baaden „Jugendverfassung und Jugenddienstpflicht“. Zur Reihe vgl. Wolfgang Siebert, Grundgedanken und Aufbau des deutschen Jugendrechts, DR 1941, S. 93; Hans-Helmut Dietze, ZgStW 103 (1943), S. 167 – 172. 156 Zu nennen ist insb. die „Die Auflockerung des Zivilprozesses. Ein Beitrag zur Prozeßreform“ (1939 in den von Hans Frank herausgegebenen Schriften der Akademie für deutsches Recht als Bd. 1 der Gruppe Bürgerliche Rechtspflege erschienen). Dazu auch Werner Schubert (Hrsg.), Akademie für Deutsches Recht 1933 – 1945, Protokolle der Ausschüsse, Bd. VI: Zivilprozeß und Gerichtsverfassung, 1997, S. 61 ff. 157 Werner Schubert (Hrsg.), Akademie für Deutsches Recht 1933 – 1945, Protokolle der Ausschüsse, Bd. IX: Ausschüsse für den gewerblichen Rechtsschutz (Patent-, Warenzeichen-, Geschmacksmusterrecht, Wettbewerbsrecht), für Urheber- und Verlagsrecht sowie für Kartellrecht, 1999, S. XLVII. Bereits 1934 war von de Boor „Der Urheber als schöpferische Einzelpersönlichkeit“, in: Das Recht des schöpferischen Menschen, Festschrift der Akademie für Deutsches Recht anläßlich des Kongresses der Internationalen Vereinigung für gewerblichen Rechtsschutz, 1936, S. 239 ff. erschienen. Aus diesem Jahr stammt auch die Arbeit „Die Methode des englischen Rechts und die deutsche Rechtsreform“, die in den von Hans Frank herausgegebenen Schriften der Akademie für deutsches Recht als Bd. 7 der Gruppe Rechtsgrundlagen und Rechtsphilosophie veröffentlicht wurde. 158 Dazu v. Hardenberg (Anm. 3), S. 246 ff., 337. 159 Anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „Deutsche Wissenschaft im Kampf um Reich und Lebensraum“ in Berlin am 7. 12. 1941 hielt Ritterbusch eine Rede, die unter gleichnamigem Titel in Raumforschung und Raumordnung 1942, S. 3 – 8 abgedruckt ist und den Zusammenhang zwischen Krieg und den Geisteswissenschaften beschreibt: „Es war eine Bestätigung für den weitgehenden Wandel in der Auffassung vom Wesen des Krieges, wenn sich bald nach Beginn dieses Krieges die deutsche Geisteswissenschaft aus eigenem Entschluß zu einem weitgehenden Gemeinschaftswerk zusammengefunden hat, das nahezu alle geisteswissenschaftlichen Disziplinen umfaßt und das im Zentrum dieser Ausstellung steht.“ Als Ziele des Krieges werden der Kampf um das Reich, eine neue Ordnung Europas und der Wandel der Weltordnung beschrieben, die den Einsatz der Geisteswissenschaften, insb. zur Formung des neuen Europas die geistige Auseinandersetzung mit dem eigenen Wesen und der geistigen Wertwelt des Gegners, verlange. Am Ende heißt es: „Niemals, so meine ich, hat die deutsche Wissenschaft vor größeren Aufgaben gestanden. Eine Welt wesentlich mitzugestalten, ist ihr aufgegeben.“
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Leipziger Zeit die Professoren Huber (seit 1941 von Straßburg aus), Michaelis, Schmidt, Thieme, Weber und Wieacker aktiv (und teilweise an mehreren Projekten) beteiligt.160 Zu den zwölf geisteswissenschaftlichen Sparten des Wissenschaftseinsatzes gehörte die Rechtsgeschichte als Bestandteil der Disziplin Geschichte und als eigene Disziplinen das Staatsrecht, das Völkerrecht und das Zivilrecht, wobei das „Gemeinschaftswerk“ durch inter- und intradisziplinäres Arbeiten gekennzeichnet war.161 Insgesamt wurden in den Jahren 1941 – 1944 mit finanzieller Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) 43 Monographien und 24 auf Tagungen des „Gemeinschaftswerkes“ zurückgehende Sammelbände veröffentlicht; gefördert wurden als kriegs- oder staatswichtig anerkannte Arbeiten, wobei die juristischen Schriften zu einem großen Teil – wohl auch aufgrund der guten Beziehungen der Herausgeber – bei der HAVA erschienen.162 An der Kieler Eröffnungstagung vom 27. / 28. 4. 1940, die zur Aufstellung des Gesamtprogramms diente, nahm neben Hermann Jahrreiß, wie Ritterbusch ein Schüler des Leipziger Staatsrechtlers Richard Schmidt,163 auch Huber, später Spar160 Insgesamt haben zum „Gemeinschaftswerk“ ca. 730 Wissenschaftler, davon zu einem starken Anteil Juristen, beigetragen. Über die Hälfte der Teilnehmer hatte erst nach 1933 eine Professur erhalten und gehörte somit auch 1940 noch der jüngeren Wissenschaftlergeneration an. Dazu insgesamt Hausmann (Anm. 71), S. 20 ff., 43. Da der „Kriegseinsatz der Deutschen Geisteswissenschaften“ von Kiel ausging, nahmen Mitglieder der (ehemaligen) Kieler Schule in wichtigen Funktionen an ihm teil; dazu Hausmann, S. 56 ff. Vgl. weiter Stolleis (Anm. 21), S. 409 f. 161 Darauf wird noch zurückzukommen sein; hier seien folgende Arbeiten erwähnt: Im Rahmen des Projektes „Deutsche Philosophie, Philosophische Gemeinschaftsarbeit deutscher Geisteswissenschaften“ steuerten Karl August Eckhardt und Hermann Conrad den Beitrag „Der Krieg im germanischen und deutschen Rechtsdenken“ zu dem von August Faust herausgegebenen Sammelband „Das Bild des Krieges im deutschen Denken“ bei. Für den zweiten, nicht mehr erschienenen Teilband war ein Beitrag von Reinhard Höhn „Das Kriegsbild des liberalen Bürgertums“ angekündigt. Larenz gab in dieser Reihe 1943 einen eigenen Sammelband mit dem Titel „Reich und Recht in der deutschen Philosophie“ heraus; darin enthalten ist von ihm der Beitrag „Sittlichkeit und Recht. Untersuchungen zur Geschichte des deutschen Rechtsdenkens und zur Sittenlehre“, S. 169 – 412. Dazu Hausmann (Anm. 71), S. 106 f., 232 ff. Wieacker brachte sich nicht nur in den Disziplinen Staatsrecht und Zivilrecht ein, vielmehr arbeitete er auch an den von dem Althistoriker Helmut Berve (1940 – 1943 Rektor der Universität Leipzig) als Spartenleiter für das Gebiet der Altertumswissenschaften betreuten Projekten mit. So beteiligte er sich an den von Berve 1943 herausgegebenen Bänden „Das neue Bild der Antike“ mit dem Beitrag „Entwicklungsstufen des römischen Eigentums“ (Bd. 2, S. 156 – 187). Dazu Hausmann, S. 99 (Fn. 14), 118 f. (Fn. 60). Auch Wolfgang Siebert arbeitete im „Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften“ anderen Disziplinen zu und steuerte den Beitrag „Englische Sozialpolitik im Arbeitszeitrecht“ zu dem von Karl Heinz Pfeffer 1941 herausgegebenen Band „Die sozialen Voraussetzungen des englischen Anspruchs in Europa“ in der von den Anglisten betreuten Reihe „England und Europa, Gemeinschaftsarbeit der deutschen Englandwissenschaften“ bei (vgl. auch die positive Würdigung von Reinhard Höhn in Reich, Volksordnung, Lebensraum, Zeitschrift für völkische Verfassung und Verwaltung 1942, S. 436 – 440). Dazu Hausmann, S. 103 f., 400. 162 Dazu Hausmann (Anm. 71), S. 23 f., 30 f., 74, 113.
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tenleiter der Disziplin Staatsrecht, und Michaelis als Spartenleiter des Zivilrechts teil.164 Huber nutzte die großzügigen Finanzierungsmöglichkeiten durch die DFG, um nach einer Unterbrechung von neun Jahren am 4. / 5. 10. 1940 erstmals wieder eine deutsche Staatsrechtslehrertagung in Leipzig auszurichten.165 Die Tagungsbeiträge wurden in einem zweibändigen Werk mit dem Titel „Idee und Ordnung des Reiches, Gemeinschaftsarbeit deutscher Staatsrechtslehrer“ 1941 / 43 von Huber herausgegeben.166 Beiträger der beiden Bände, die bei der HAVA erschienen, waren neben Huber u. a. noch Dahm, Siebert und Weber.167 Für das ursprünglich auf vier Bände angelegte Gemeinschaftswerk war außerdem ein Beitrag von Wieacker zum Thema „Verfassungsrecht und Gemeinrecht“ in dem geplanten Band „Die Verfassung und die völkische Lebensordnung“ vorgesehen.168 163 Zu ihm Thomas Duve, Normativität und Empirie im öffentlichen Recht und der Politikwissenschaft um 1900, Historisch-systematische Untersuchung des Lebens und Werks von Richard Schmidt (1862 – 1944) und der Methodenentwicklung seiner Zeit, 1998. 164 Hausmann (Anm. 71), S. 66 ff. Die ursprünglich aufgestellte Übersicht zur Gemeinschaftsarbeit deutscher Hochschullehrer im Kriegseinsatz sah als Leiter für die Gemeinschaftsarbeiten auf staatsrechtlichem Gebiet noch Reinhard Höhn vor, der jedoch durch Huber ersetzt wurde; Hausmann, S. 23 (Fn. 10), 25, 94, 249 f. Die Völkerrechtler brachten fünf Einzelschriften zwischen 1941 und 1944 unter dem von Hermann Jahrreiß bei der HAVA betreuten Reihentitel „Wandel der Weltordnung. Gemeinschaftsarbeit deutscher Völkerrechtsforscher“ heraus (Hausmann, S. 105 f., 259 ff.). Vgl. weiter Dietze, Bericht über die Arbeitstagung zum Kriegseinsatz der deutschen Geisteswissenschaften am 27. und 28. 4. 1940 in Kiel, Kieler Blätter 1940, S. 397 f. 165 Die ersten drei Vorträge am Freitag, den 4. 10. 1940 in der Aula des Collegium Juridicum, Petersstr. 36, Leipzig, hielten Ritterbusch, Huber und Weber. Dazu insgesamt Hausmann (Anm. 71), S. 250 ff. 166 Im Vorwort zum ersten Band, den Huber im November 1941 schon von Straßburg aus herausgab, heißt es: „Mitten im Krieg, in der Kampfpause zwischen den großen Schlachten im Westen und Osten, vereinten sich bei dieser Leipziger Tagung die Vertreter des deutschen Verfassungs- und Verwaltungsrechts, um den Grund einer neuen Gemeinschaftsarbeit zu legen. [ . . . ] Die Haltung, die für diesen neuen Beginn staatsrechtlicher Gemeinschaftsarbeit verpflichtend ist, ist dadurch gekennzeichnet, daß es gilt, rückhaltlose Entschiedenheit mit strengster Sachlichkeit zu verbinden und so die Stärke deutscher wissenschaftlicher Überlieferung mit der Intensität, die die großen Ziele der Gegenwart verleihen, zur Einheit zu verschmelzen.“ 167 Bd. 1 (1941): Huber, Bau und Gefüge des Reiches (eine kürzere Fassung erschien unter diesem Titel auch in DRW 1941, S. 22 – 32); Dahm, Untersuchungen zur Verfassungs- und Strafrechtsgeschichte der italienischen Stadt im Mittelalter; Bd. 2 (1943): Siebert, Die deutsche Arbeitsverfassung; Weber, Die Dienst- und Leistungspflichten der Deutschen. Im Vorwort des ersten Bandes hatte Huber entsprechend dem intradisziplinären Charakter des Werkes einen sehr weiten Begriff des Verfassungsrechts zugrunde gelegt („Verfassungsrecht bedeutet für uns die politische Grundordnung, die allen Lebensbereichen der Volksgemeinschaft die sie bestimmenden Prinzipien vermittelt [ . . . ]. Deshalb kommen in diesen und den weiter geplanten Beiträgen über den engeren Kreis der Staatsrechtslehrer hinaus deutsche Gelehrte zu Wort, die den verfassungsrechtlichen Gehalt oder die verwaltungsrechtliche Funktion, die in den besonderen Lebensbereichen des Strafrechts, des volksgenössischen Rechts, des Wirtschafts- und Arbeitsrechts hervortreten, zur Darstellung bringen.“). Dazu auch Hausmann (Anm. 71), S. 250 ff. (vgl. auch S. 255 f. zu den Beziehungen Hubers zur HAVA).
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In der von Michaelis herausgegebenen Reihe „Gegenwartsaufgaben der Zivilrechtswissenschaft. Gemeinschaftsarbeit deutscher Rechtslehrer“ erschienen als Ergebnis von zwei 1941 durchgeführten Tagungen drei Schriften: von Busse „Wirtschaftspolitische Praxis und Rechtsbildung“ (1941), von Weber „Die Verkündung von Rechtsvorschriften“ (1942)169 und von Wieacker „Vielfalt und Einheit der deutschen Bodenrechtswissenschaft der Gegenwart, Über die Umgestaltung des Grundstücksrechts durch die heutige Bodenpolitik“ (1942).170 Thieme hielt auf der von Historikern und Rechtshistorikern gemeinsam ausgerichteten Tagung „Germanische Raumerfassung und Staatenbildung“ am 4. / 5. 5. 1942 in Weimar einen Vortrag zum Thema „Germanisches Recht im Code Napoléon“; weiterer Tagungsteilnehmer aus Leipzig war Eberhard Schmidt. Zu der folgenden gemeinsamen Tagung zur historischen Kontinuität der germanischen Kultur vom 18. – 21. 11. 1942 in Magdeburg waren aus Leipzig wieder Thieme und Schmidt sowie Michaelis eingeladen; diesmal hielt Schmidt einen Vortrag über „Rezeption und Strafrechtspflege“.171 Auch de Boor sollte für ein Projekt der Historiker einen Beitrag über den angloamerikanischen Rechtskreis beisteuern.172 Kriegsbedingt konnten allerdings nicht mehr alle Projekte umgesetzt werden, vermutlich wurden aber einzelne Arbeiten des „Gemeinschaftswerks“ (unter neuem Titel) noch nach 1945 publiziert.173
Hausmann (Anm. 71), S. 251 f. (Fn. 417). Besprochen von Ernst Rudolf Huber, ZgStW 104 (1944), S. 336 – 340. 170 Dazu Hausmann (Anm. 71), S. 108, 268 ff. 171 Dazu insgesamt Hausmann (Anm. 71), S. 180 ff., 185 f. Der Vortrag von Schmidt wurde später unter dem Titel „Strafrechtspflege und Rezeption“ in der ZStW 62 (1944), S. 232 – 265 veröffentlicht; dazu v. Hardenberg (Anm. 3), S. 305 f. 172 Hausmann (Anm. 71), S. 155 (Fn. 166). Für den romanischen Rechtskreis (Italien) sollte Dahm (damals noch in Leipzig) einen Beitrag beisteuern. Vom 31.10 – 1. 11. 1941 fand zudem in Weimar eine gemeinsame Tagung von Wissenschaftlern aus der Mediävistik und der deutschen Rechtsgeschichte statt; die Beiträge wurden 1943 unter dem Titel „Adel und Bauern im deutschen Staat des Mittelalters“ (hrsg. von Theodor Mayer) veröffentlicht (unveränderte Nachdrucke stammen aus den Jahren 1967, 1976 und 1980). An der Tagung hatten auch die beiden Leipziger Michaelis und Thieme, Larenz (Kiel) und Ebel (Göttingen) teilgenommen (Hausmann, S. 175 ff.). 173 So sollte die für die völkerrechtliche Reihe konzipierte Arbeit des Mainzer Völkerrechtlers Walter Schätzel mit dem Titel „Kriegsbrauch“ nach einer zeitgemäßen Überarbeitung noch 1946 bei der HAVA erscheinen, wie sich aus einem Schreiben Schätzels an den ehemaligen Spartenleiter Jahrreiß vom 27. 7. 1946 ergibt: „Die Hanseatische Verlagsanstalt ist nach innerer Reinigung und Läuterung wieder auferstanden. Die neue Leitung schrieb mir, dass sie am alten Vertrage festhielte, nur müsste ich das Manuskript zeitgemäss umändern.“ Zit. nach Hausmann (Anm. 71), S. 266 f. (Fn. 451). 168 169
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V. Entnazifizierung und Wiedereinstellung in der Nachkriegszeit Im Juristischen Fachbereich der Göttinger Fakultät waren bei der Wiedereröffnung der Georgia Augusta im September 1945 mehr als die Hälfte der ordentlichen Professuren vakant.174 Eberhard Schmidt erhielt unmittelbar nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft im Oktober 1945 einen Vertretungsauftrag in Göttingen und wurde dort Anfang 1946 rückwirkend zum 1. 12. 1945 zum ordentlichen Professor ernannt.175 Zu diesem Zeitpunkt erhielt auch Wieacker einen Lehrauftrag für das Wintersemester 1945 / 46 und wohnte bei der Witwe seines ehemaligen Kieler Kollegen Martin Busse in der Dahlmannstr. 6. Nach einer Vertretung in Freiburg i.Br. erhielt Wieacker letztmals im Wintersemester 1948 / 49 einen Vertretungsauftrag in Göttingen und war dann zunächst Ordinarius in Freiburg, bevor er 1953 einen Ruf nach Göttingen annahm.176 Seit dem Wintersemester 1945 / 46 verhandelte die Göttinger Fakultät zudem mit Hans Thieme, der auch in Verhandlungen mit der Bonner Fakultät stand und schließlich 1947 rückwirkend zum 1. 11. 1946 ein Ordinariat in Göttingen erhielt.177 Unter den Dekanaten von Eberhard Schmidt (1948) und Thieme (1949 – 1950) wurden die Berufungen von Weber 1948 / 49 und de Boor 1949 / 50 vorbereitet und schließlich erfolgreich abgeschlossen. Die Berufung des Urheberrechtlers de Boor bereitete Schwierigkeiten, weil dazu der Lehrstuhl des entlassenen Rechtshistorikers Wilhelm Ebel umgewidmet werden musste.178 Hingegen standen der Berufung von Weber „politische Schwierigkeiten“ entgegen, da sich das Entnazifizierungsverfahren in Leipzig hinzog. Weber, der im April 1947 in Leipzig zur Lehre wieder zugelassen worden war (vor allem aufgrund des Einsatzes des damaligen Leipziger Dekans de Boor, der für Weber im Juli 1946 auch einen „Persilschein“ ausgestellt hatte),179 stand bereits im März 1947 auf einer Liste der Göttinger Fakultät für ein Ordinariat im Öffentlichen Recht (Weber war auf Platz 3, während auf Platz 1 der Leipziger Ordinarius Erwin Jacobi stand). Im Wintersemester 1947 / 48 wurde Weber ein Lehrauftrag in Göttingen angeboten, wobei die Kon174 Die Zivilrechtler Martin Busse und Hans Tägert waren Anfang 1945 gefallen, im Öffentlichen Recht war eine Stelle seit 1941 vakant und drei Professoren, der Rechtshistoriker Wilhelm Ebel, der Völkerrechtler Georg Erler und der Strafrechtler Karl Siegert, waren entlassen worden. Dazu Schumann (Anm. 1). 175 Dazu v. Hardenberg (Anm. 3), S. 342 ff. 176 Juristische Fakultät Göttingen PA Wieacker, Schriftverkehr 1945 – 1948. 177 Juristische Fakultät Göttingen PA Thieme, Schriftverkehr 1945 – 1947. 178 Dazu Schumann (Anm. 1), S. 118 f. mwN. Vgl. weiter UAG Göttingen, Rek PA de Boor, Schreiben des Dekans Thieme an den Niedersächsischen Kultusminister vom 22. 6. 1949; Juristische Fakultät Göttingen PA de Boor, Schriftverkehr 1950. 179 Bereits im Oktober 1945 hatte Dekan de Boor im Vorfeld der Wiedereröffnung der Juristenfakultät erklärt, dass er mit seiner Person dafür einstehe, dass die Parteigenossen Michaelis und Weber „Antifaschisten“ gewesen seien. Zit. nach Otto (Anm. 25), S. 265.
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takte zur Fakultät – wie sich aus dem Schriftverkehr ergibt – u. a. über Wieacker liefen. Seit Mitte 1948 wurde die Berufung Webers von Seiten der Fakultät, insbesondere von Hans Thieme, mit Nachdruck betrieben und zum 1. 4. 1949 konnte Weber ein Ordinariat für Öffentliches Recht in Göttingen antreten.180 Anfang 1953 bemühte sich die Fakultät erneut, Wieacker für Göttingen zu gewinnen. Seine Zusage machte Wieacker u. a. davon abhängig, dass Friedrich Schaffstein, der zu den sog. 131-Professoren gehörte und seit dem Wintersemester 1952 / 53 einen Lehrauftrag in Göttingen inne hatte, an Stelle von Karl Siegert, der sich ebenfalls um Wiedereinstellung bemühte, ein strafrechtliches Ordinariat erhielt. Diese Forderung Wieackers war ganz im Sinne der Fakultät, die die Rückkehr Siegerts verhindern wollte, während das niedersächsische Kultusministerium vor allem aus finanziellen Gründen auf Siegerts Wiedereinstellung drängte.181 An den damaligen Dekan Günther Beitzke schrieb Wieacker, der im Vorfeld seiner Berufung ein Semester in Göttingen vertrat, in dieser Angelegenheit am 25. 12. 1953: „Ein wenig bestürzt bin ich über die Nachrichten über die strafrechtliche Besetzung. [ . . . ] Wenn es daher nicht gelingt, in absehbarer Zeit zur strafrechtlichen Ernennung im Sinne der Fakultät zu gelangen, müßte ich, so sehr dies allen meinen Plänen und Erwartungen widerspricht, erwägen, ob nicht meine Göttinger Tätigkeit mit der Vertretung im Wintersemester beendet sein wird. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß ich selbst darunter am meisten leiden würde, und daß ich selbstverständlich im Augenblick der Regelung der Angelegenheit Sch. [gemeint ist Schaffstein, Anm. d. Verf.] die Ernennungsurkunde in Empfang nehmen werde. Vom Inhalt der letzten beiden Absätze dieses Briefs bitte ich Sie, auch den Herren Bockelmann, de Boor, Flume, Siebert, Schaffstein und Weber vertraulich Kenntnis geben zu wollen.“182
180 Dazu insgesamt Juristische Fakultät Göttingen PA Weber, Schriftverkehr 1947 – 1949; Otto (Anm. 25), S. 284, 286 f., 293 f., 313 f., 316 f. Insb. bemühte sich Thieme um eine Entnazifizierung Webers durch den – an sich nicht zuständigen – Göttinger Entnazifizierungsausschuss. Dazu Schreiben des Kurators der Universität Göttingen an den Niedersächsischen Kultusminister vom 1. 12. 1948: „Danach ist das Entnazifizierungsverfahren erst durchführbar, nachdem Professor Weber seinen Wohnsitz hierher verlegt haben wird. Da mir nun Professor Thieme, der vor kurzem in Leipzig gewesen ist und dort Prof. Weber gesprochen hat, mitgeteilt hat, daß Prof. Weber erklärt habe, Ende des laufenden Semesters auf jeden Fall Leipzig verlassen und seinen Wohnsitz in die Westzonen verlegen zu wollen, schlage ich vor, zunächst Prof. Weber mit einem Vertretungsauftrag zu versehen. [ . . . ] Die endgültige Ernennung müsste dann bis nach erfolgter Kategorisierung zurückgestellt werden. Nach der mir von Prof. Thieme übermittelten Einstellung von Prof. Weber dürfte er damit einverstanden sein.“ 181 Dazu Schumann (Anm. 1), S. 114 ff. Allerdings dürfte es auch aus anderen Gründen nicht ganz einfach gewesen sein, Schaffstein als einem der prominentesten Vertreter der nationalsozialistischen Strafrechtslehre wieder ein Ordinariat zu verschaffen. Schaffstein selbst hat an seinem Lebensende „das Überlaufen zum Nationalsozialismus“ als einen „Irrweg auf meinem Lebensweg“ bezeichnet; dazu Friedrich Schaffstein, Rechtshistorisches Journal 2000, S. 647, 654. 182 Juristische Fakultät PA Wieacker, Schreiben an Dekan Günther Beitzke vom 25. 12. 1953 (überschrieben: „Persönlich! – Vertraulich“). Der ehemalige Kieler Kollege Siebert war von 1953 – 1957 o. Prof. in Göttingen und danach bis zu seinem Tod am 25. 11. 1959 noch
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Schaffstein, für den sich auch Werner Weber während seines Dekanats 1952 eingesetzt hatte, erhielt 1954 ein Ordinariat in Göttingen. Nach der Emeritierung de Boors wurde schließlich noch Michaelis, der 1951 in Münster untergekommen war, 1956 nach Göttingen berufen. Nach dem Tod de Boors gaben Michaelis und Weber 1957 eine Gedächtnisschrift für ihn heraus, wobei Weber de Boor als Freund und Vorbild bezeichnete.183 Als letztes Mitglied aus der ehemaligen Kieler Schule kam Huber mit der Eingliederung der Hochschule für Sozialwissenschaften Wilhelmshaven 1962 an die Göttinger Fakultät. Auch bei der späten Rückkehr Hubers auf einen Lehrstuhl 1957 waren die ehemaligen Kollegen behilflich.184 „Persilscheine“ in der frühen Nachkriegszeit und Gutachten zugunsten Hubers im Vorfeld der Berufung nach Wilhelmshaven Ende der 1950er Jahre stellten u. a. Michaelis, Thieme, Weber und Wieacker aus (weitere „Persilscheine“ stammten von den ehemaligen Straßburger Kollegen Georg Dahm, Ludwig Raiser und dem Historiker Hermann Heimpel). Auch die Lehraufträge, die die Freiburger Fakultät Huber 1952 / 53 erteilt hatte, verdankte er dem Einsatz des damaligen Dekans Franz Wieacker;185 ihm widmete Huber 1963 den dritten Band der „Deutschen Verfassungsgeschichte seit 1789“. Wissenschaftlich blieben die fünf Göttinger (und ehemals Leipziger) Professoren noch lange verbunden.186 Die Festschrift für Michaelis (1972) wurde von einem Schüler und von Wieacker herausgegeben; Beiträger waren neben Wieacker u. a. Huber, Schaffstein und Weber sowie Larenz. An der Festschrift für Weber (1974) wirkten Huber, Michaelis, Schaffstein und Wieacker mit; die Festschrift für Huber (1973) gaben Weber und Wieacker zusammen mit Ernst Forsthoff herzwei Jahre in Heidelberg. Dazu Schumann (Anm. 1), S. 82. Insgesamt erhielten somit fünf ehemalige Mitglieder der Kieler Schule (Huber, Michaelis, Schaffstein, Siebert und Wieacker) nach 1945 eine Professur an der Göttinger Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät und wurden – mit Ausnahme von Siebert – dort auch emeritiert. Von den anderen fünf Mitgliedern überlebten Busse und Ritterbusch den Krieg nicht, Eckhardt kam an keiner Fakultät mehr unter, Larenz blieb zunächst in Kiel und Dahm kam nach Jahren im Ausland 1955 ebenfalls wieder in Kiel unter. 183 Weber (Anm. 2), S. 8 ff. 184 Zu Hubers Entnazifizierung und seiner späten Rückkehr auf einen Lehrstuhl vgl. Grothe (2005) (Anm. 4), S. 317 ff.; ders. (2008) (Anm. 4), S. 332 ff. 185 Dazu insgesamt Grothe (2008) (Anm. 4), S. 336, 340 f.; ders., Eine „lautlose“ Angelegenheit?, Zur Rückkehr des Verfassungshistorikers Ernst Rudolf Huber in die universitäre Wissenschaft nach 1945, ZfG 1999, S. 980, 984 f.; ders. (2005) (Anm. 4), S. 322, 328 f. (Wieacker stellte sich mit seinem Einsatz für Huber gegen seinen Lehrer Fritz Pringsheim, der einen Vertretungsauftrag für Huber 1953 verhindern wollte). Aus den Personalakten der Universität Göttingen ergibt sich (UAG Göttingen Rek PA Huber), dass sich vor allem Wieakker und Thieme im Zusammenhang mit der Berufung nach Wilhelmshaven für Huber stark gemacht haben. Vgl. weiter Nieders. Hauptstaatsarchiv Nds. 401 Acc. 2003 / 128 Nr. 335, Bl. 131, 138 (zur Bedeutung des Gutachtens von Wieacker). 186 Dies gilt auch für Wieacker und Thieme, die 1960 gemeinsam das Werk „Andreas B. Schwarz, Rechtsgeschichte und Gegenwart, Gesammelte Schriften zur neueren Privatrechtsgeschichte und Rechtsvergleichung“ herausgaben.
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aus und Huber wirkte wiederum an den Festschriften für Wieacker (1978) und für Schaffstein (1975) mit. Von den fünf Professoren wurde Huber als erster 1968 emeritiert, es folgten 1969 Michaelis und Schaffstein, 1972 Weber und 1973 Wieacker. Die vier letztgenannten lebten bis zu ihrem Tod in Göttingen. VI. Fazit Kommen wir zu der Frage nach den besonderen Beziehungen der acht Leipziger und Göttinger Ordinarien zurück, so bilden die in den 1930er Jahren zur „jungen nationalsozialistischen Rechtswissenschaft“ gehörenden Professoren Huber, Michaelis, Schaffstein, Thieme, Weber und Wieacker eine geschlossene Gruppe (mit gewissen Abstrichen im Hinblick auf Thieme, der an der nationalsozialistischen Rechtserneuerung weniger stark beteiligt war), die ungeachtet der Orts- und Systemwechsel bis ins hohe Alter wissenschaftlich und persönlich verbunden blieb. In deutlichem Abstand zu dieser Gruppe stehen die einer anderen Generation angehörenden Ordinarien de Boor und Eberhard Schmidt, wobei ersterer enge Kontakte zu Thieme (vermittelt über dessen Lehrer Franz Beyerle), aber auch zu Michaelis und Weber hatte und sich für beide nach ihrer Entlassung 1945 in Leipzig stark gemacht hatte. Schmidt hingegen verband mit den jüngeren Kollegen das gemeinsame Interesse an der Rechtsgeschichte.187 Die Sechsergruppe, die die nationalsozialistische Rechtserneuerung als intradisziplinär zu betreibende Gemeinschaftsaufgabe verstand (es sei nur an die Arbeit von Weber und Wieacker zu Eigentum und Enteignung erinnert), arbeitete bis 1945 in wechselnden Konstellationen eng und „kameradschaftlich“ zusammen. Hier sollen nur noch einmal die durchgängig positiven Rezensionen innerhalb der Gruppe,188 aber auch die wechselseitigen Zitationen erwähnt werden. Die Idee der 187 So stammt ein Nachruf auf Schmidt von Thieme (Hans Thieme, Ideengeschichte und Rechtsgeschichte, Gesammelte Schriften, Bd. 2, 1986, S. 1380 – 1383). In der NS-Zeit hatte Schmidt aber auch die strafrechtshistorischen Arbeiten von Schaffstein lobend besprochen, vgl. Schmidt, Literaturbericht Rechtsgeschichte, ZStrW 56 (1937), S. 424, 432 ff. („Die allgemeinen Lehren vom Verbrechen in ihrer Entwicklung durch die Wissenschaft des Gemeinen Rechts“ von 1930 wird als „kühne, erfolgreiche“ Arbeit „mit einem sehr lehrreichen und mancherlei Neues bringenden Überblick über Literatur und Rechtsquellen des gemeinen Rechts“ bezeichnet). Vgl. aber auch die Besprechung Hubers zu Schmidt, Rechtssprüche und Machtsprüche der preußischen Könige des 18. Jahrhunderts, ZgStW 104 (1944), S. 328 – 331. 188 Hier seien beispielhaft genannt: Besprechung Hubers zu Weber / Wieacker, „Eigentum und Enteignung“ von 1935, ZgStW 1936, S. 585 ff.; Besprechung Thiemes zu Michaelis „Wandlungen des deutschen Rechtsdenkens seit dem Eindringen des fremden Rechts“ von 1935, AcP 1937, S. 101 f.; Besprechung Hubers zu Weber „Die politische Klausel in den Konkordaten, Staat und Bischofsamt“ von 1939, DRW 1940, S. 162 ff.; Besprechung Wieackers zu Webers „Die Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts“
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Rechtserneuerung als Gemeinschaftsaufgabe zieht sich dabei vom Kitzeberger Lager über den anhaltenden Einsatz für die Studienreform von 1935, die Mitarbeit in mehreren Reihen und Zeitschriften (deren Einzelbeiträge als Teil einer geistigen Einheit verstanden wurden), die rechtsgestaltende Zusammenarbeit in der Akademie für Deutsches Recht bis hin zum Gemeinschaftswerk des Kriegseinsatzes der deutschen Geisteswissenschaften. Nach 1945 fanden die sechs Professoren nicht nur in Göttingen eine neue Wirkungsstätte (der sie mit Ausnahme von Thieme auch treu blieben), vielmehr gehörten sie auch weiterhin zu den führenden Rechtslehrern ihres Faches, wenngleich Huber zunächst Zurückhaltung übte.189 In der Göttinger Akademie der Wissenschaften trafen Huber, Michaelis, Schaffstein und Wieacker schließlich auch wieder – über die Fachgrenzen hinaus – mit alten Weggefährten wie Hermann Heimpel zusammen.
von 1940, AcP 1941, S. 304 ff.; Besprechung Hubers zu Weber, „Die Verkündung von Rechtsvorschriften“, ZgStW 104 (1944), S. 336 ff. 189 Vgl. in diesem Zusammenhang nur das Urteil von Ernst Forsthoff über Huber (Brief an Carl Schmitt vom 12. 1. 1964, Briefwechsel Ernst Forsthoff – Carl Schmitt (1926 – 1974), hrsg. von Dorothee Mußgnug / Reinhard Mußgnug / Angela Reinthal, 2007, S. 200): „Dazu kommt, seit 1945, eine nur zu begreifliche Timidität, über die seine Göttinger Kollegen gelegentlich klagen (so Werner Weber). Aber alles in allem würde ich doch sagen, dass er mit vielen anderen, wie Dahm, Larenz, Wieacker usw durch seine heutige Produktion beweist, wo der wissenschaftliche Geist 1933 und später seinen Ort hatte.“
Gustav Stresemann in Sachsen – Ein Symbol für den Weg zur westeuropäischen Einigung Von Georg Nolte
Die erste Vorlesung zum Europarecht an der Universität Leipzig wurde im Wintersemester 1990 / 91 von einem wissenschaftlichen Mitarbeiter aus Westdeutschland gehalten. Er stand dabei zunächst vor der Frage, wie er die Studierenden des dritten und vierten Studienjahres an das europäische Projekt heranführen könnte. Vermutlich fanden die meisten Studierenden seinen Versuch untauglich. Aber vielleicht ist er es dennoch wert, in diesem Band dokumentiert zu werden1: Guten Tag, meine Damen und Herren. Ich freue mich, dass Sie gekommen sind, um festzustellen, ob das Europarecht Sie interessiert. Ich werde mir Mühe geben, Sie von der Bedeutung und dem Reiz dieses Rechtsgebietes zu überzeugen. Gestatten Sie, dass ich mich zunächst einmal vorstelle. Ich heiße Georg Nolte und arbeite am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg. Die Max-Planck-Gesellschaft ist eine Einrichtung, die etwa sechzig Institute ganz unterschiedlicher Fachrichtung – vorwiegend naturwissenschaftliche – unterhält. Diese dienen nur der Forschung und nicht der Lehre. Für die Lehre sind die Universitäten da. Wenn Sie mich trotzdem hier stehen sehen, so liegt das daran, dass die juristischen Max-Planck-Institute auch zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses der Universitäten dienen. Dieser Nachwuchs muss auch lernen zu lehren. Das bedeutet, dass auch ich ein Lernender bin und hoffe, dass Sie dafür Verständnis haben, wenn ich mich gelegentlich nicht immer genügend klar und deutlich ausdrücke. Bitte melden Sie sich dann und fragen, wenn Sie etwas nicht verstanden haben. Heute möchte ich tatsächlich eine „Vorlesung“ halten. Bei einer geschichtlichen Einführung besteht sonst die Gefahr, dass man ins Schwafeln kommt. Ich nehme an, dass am Ende noch etwas Zeit für Fragen und Diskussion bleiben wird. In dieser Doppelstunde möchte ich über die Vorgeschichte der europäischen Integration vor dem Zweiten Weltkrieg und über die Gründungsphase der west1 Bislang unveröffentlichtes Originalmanuskript ohne Belege; näher zu Stresemann: Jonathan Wright, Gustav Stresemann 1878 – 1929 – Weimars größter Staatsmann, München (dva) 2006, (engl. Originalausgabe Oxford (Oxford University Press) 2004); Eberhard Kolb: Gustav Stresemann, München: C. H.Beck 2003; John P. Birkelund, Gustav Stresemann. Patriot und Staatsmann. Eine Biografie. Hamburg (Europa Verlag) 2003.
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europäischen Organisationen nach dem Zweiten Weltkrieg reden. Diese Vorgeschichte zu kennen, ist nicht nur wichtig für den Einstieg in das Europarecht, sondern auch eine Hilfe für das Verständnis, wohin sich die europäische Rechtsordnung entwickelt. Diese Rechtsordnung ist immer noch stark im Fluss und wer wissen will, in welche Richtung dieser fließt, kann einige Orientierung aus der Vergangenheit schöpfen. Damit eine geschichtliche Einführung in das Thema nicht zu sehr nach einer reinen Routineübung aussieht, versuchen Vortragende gelegentlich, die geschichtliche Entwicklung mit dem Ort des Vortrages zu verbinden. Die Sache, um die es geht, soll damit dem Hörer persönlich nähergerückt werden. Das habe auch ich mir vorgenommen. So habe ich mir die Frage gestellt, was Leipzig mit der Entwicklung hin zum heutigen Europarecht verbindet. Leipzig als Stadt des Handels und der Messen ist als Gedankenassoziation zu naheliegend. In dieser Eigenschaft steht die Stadt in einer Reihe mit den anderen großen europäischen Handelsmetropolen wie Amsterdam, Antwerpen, London, Lyon, Venedig, Genua, Nürnberg oder Hamburg. Als Handels- und Messestadt hat sie einen gleichwertigen, aber keinen ganz besonderen Beitrag für die europäische wirtschaftliche Verflechtung geleistet. Es gibt für meinen Zweck jedoch einen besseren Anknüpfungspunkt: Im Lebensweg und in der Vorstellungswelt eines berühmt gewordenen Absolventen der Leipziger Universität spiegeln sich die Gründe, welche zur westeuropäischen Einigung geführt haben, wie bei keinem anderen Deutschen wider. Er verkörpert den Weg, den das deutsche Bürgertum nach Europa gegangen ist. Die Arbeiterbewegung hat lange dazu geneigt, ihn zu unterschätzen. Können Sie sich denken, von wem die Rede ist? Ich spreche von Gustav Stresemann, dem kurzzeitigen Reichskanzler und langjährigen Außenminister der Weimarer Republik. Stresemann war der Sohn eines Bierverlegers im Berlin der Kaiserzeit. Der Beruf des Bierverlegers ist inzwischen ausgestorben. Der Bierverleger war ein Zwischenglied im Handel und füllte Bier von Fässern in Flaschen, um diese dann weiterzuverkaufen. Der Großhandel hat diesen Beruf im Laufe der Jahre ersetzt, noch bevor die Erfindung von Abfüllautomaten absehbar war. Stresemann hat diesen Vorgang der Ersetzung nicht nur im engeren Lebensbereich seiner Eltern erlebt. Er hat sich mit dem Grundcharakter dieses Prozesses auch theoretisch auseinandergesetzt. Seine Dissertation bei dem berühmten Leipziger Nationalökonomen Karl Bücher trug den Titel „Die Entwicklung des Berliner Flaschenbiergeschäfts“. Er sah darin völlig richtig den unausweichlichen Ruin des Bierverlegerberufs voraus. Sie werden hiervon nicht besonders beeindruckt sein und sich fragen, was daran so bemerkenswert sei. Was dies insbesondere mit der europäischen Einigung zu tun habe? Haben Sie Geduld! Bevor er sich endgültig aus dem akademischen Milieu verabschiedete, schrieb Stresemann noch einen Aufsatz über die Warenhäuser, der in der „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft“ erschien. Hier ging er das Thema des Handels umfassender an und stellte die volkswirtschaftliche Bedeutung des Aufstiegs der großen Warenhäuser einerseits und den damit verbundenen Abstieg des kleinen
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Einzelhandels dar. Seine Schlussfolgerung lautete und ich zitiere: „Es wäre ein vergebliches Bemühen, sich einer Erscheinung, welche in unserer ganzen wirtschaftlichen Entwicklung begründet liegt, aus Klasseninteressen entgegenstellen zu wollen“. Mit Klasseninteressen meinte er dabei nicht die Interessen der Arbeiterklasse im Gegensatz zu denen des Bürgertums, sondern die Interessen des Kleinbürgertums gegenüber denen des Großbürgertums. Mit seiner Bemerkung wandte er sich gegen kleinbürgerliche Bestrebungen, zum Schutz des Kleinhandels Gesetze gegen Warenhäuser zu erlassen. Zur Durchsetzung ihrer Forderungen schreckten die Befürworter auch nicht vor antisemitischer Propaganda gegen die häufig jüdischen Besitzer der großen Warenhäuser zurück. Stresemann zog aus seiner bis heute gültigen Einsicht über den Niedergang großer Teile des Kleinhandels aber nicht die marxistische Konsequenz, wonach dieser Prozess ein Ausdruck eines umfassenden und unausweichlichen Proletarisierungsprozesses des Kleinbürgertums sei. Er suchte vielmehr die konstruktive Alternative innerhalb des gegebenen Wirtschaftssystems. So schlug er das Zusammengehen der Bierverleger auf genossenschaftlicher Basis vor, damit die notwendige Umwandlung des Berufes nicht auf Kosten seiner ursprünglichen Träger ginge. In seiner ersten beruflichen Stellung als Syndikus des Verbandes deutscher Schokoladenfabrikanten in Dresden konnte er seine Grundhaltung zum ersten Mal praktisch und mit Erfolg verwirklichen. Die deutsche Schokoladenindustrie hatte es mit dem Problem zu tun, dass sie international nicht konkurrenzfähig war. Die deutsche Zucker- und Kakaoindustrie, von deren Lieferungen sie abhing, war nämlich durch hohe Zölle und untereinander bestehende Preisabsprachen – Kartelle – gegen ausländische Importe und inländische Konkurrenz geschützt. Sie konnte daher hohe Preise für ihre Grundstoffe verlangen. Stresemann veranlasste die Schokoladenproduzenten zum Bau einer Zuckerfabrik, deren Existenz zu einer deutlichen Senkung der Inlandspreise für Zucker und damit zu einer entscheidenden Verbesserung der Lage der Schokoladenindustrie führte. Die Schokoladenindustrie war jedoch nur ein Beispiel für diejenigen deutschen Industrien, die durch einen Inlandsmarkt ohne Preisabsprachen und einen freien Außenhandel profitierten. Stresemann vertrat noch einen weiteren Verband, der unter seiner Leitung geradezu zum Vorreiter für den Freihandel wurde, den Verband sächsischer Industrieller. Sachsen war, wie Sie wissen, schon früh stark industrialisiert und bildete neben dem Ruhrgebiet und Oberschlesien das damalige Zentrum der deutschen Industrie. Anders als diese beiden anderen Gebiete spielte die Schwerindustrie in Sachsen allerdings keine maßgebende Rolle. Diese Rolle nahm dort vielmehr das verarbeitende Gewerbe ein. Die damalige sächsische Industriestruktur entsprach somit eher der Struktur der heutigen Bundesrepublik, deren wirtschaftliches Rückgrat nach einhelliger Ansicht westlicher Wirtschaftswissenschaftler nicht die Produktionskapazität großer Konzerne wie Krupp, DaimlerBenz oder Siemens bildet, sondern die Masse der kleinen und mittleren Unternehmen. Deren Interesse war damals in Sachsen und ist heute in der Bundesrepublik nicht auf einen geschützten und abgeschotteten Markt gerichtet, sondern auf Ex-
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portmöglichkeiten, die billige Beschaffung von Rohstoffen und Rohprodukten aus anderen Ländern sowie auf einen offenen Inlandsmarkt. Die Schwerindustrie war zu Stresemanns Zeiten weniger importabhängig, weil sie den wichtigsten Rohstoff, die Kohle, im eigenen Land zur Verfügung hatte, andererseits aber die französische und die englische Konkurrenz auf anderen Gebieten zu fürchten hatte. Die Schwerindustrie trat somit für Schutzzölle und Aufteilung des Inlandsmarktes ein. Sie wurde darin unterstützt von den politisch einflussreichen ostelbischen Großgrundbesitzern, den berühmten Junkern, die mit der Produktion ihrer Güter auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähig waren und immer neue staatliche Unterstützung und Schutzzölle forderten. In dieser „innerkapitalistischen Auseinandersetzung“ vertrat Stresemann die – wie wir heute wissen – zukunftsträchtige, auf internationale Arbeitsteilung ausgerichtete Seite. Diesem Ziel diente auch sein Engagement im Deutsch-Amerikanischen Wirtschaftsverband. Dem progressiven Bürgertum konnte er auch insofern zugerechnet werden, als er gegenüber der Arbeiterbewegung eine offene Haltung einnahm. Ihm bereitete es keine Schwierigkeiten, für die Koalitionsfreiheit der Arbeiter und ihr Streikrecht einzutreten. Er war auch davon überzeugt, dass es das wohlverstandene Interesse der Arbeiter sei, mit ihren Forderungen die Unternehmer nicht wettbewerbsunfähig zu machen. Im Jahr 1907 wurde er im ErzgebirgsWahlkreis Annaberg-Schwarzenberg direkt in den Reichstag gewählt. Als Interessenvertreter der Industrie waren ihm dort keine großen Chancen eingeräumt worden, da in diesem Wahlkreis damals viele arme Heimarbeiter lebten. Seine offene Haltung gegenüber der Arbeiterbewegung ist auch auf seine Leipziger Zeit zurückzuführen. Damals war seine Verbindung zu Friedrich Naumann begründet worden, der mit seinem „National-Sozialen Verein“ versucht hatte, die Arbeiter für den Staat zu gewinnen – letztlich allerdings ohne großen Erfolg. Stresemann war nicht lediglich ein kluger Wirtschaftsliberaler, er war auch ein Nationalliberaler. Große Teile des Bürgertums hatten im Kaiserreich ihren ursprünglich demokratischen Nationalismus – denken Sie an die Ideale der Revolution von 1848 – in einen kulturellen und machtpolitisch motivierten Chauvinismus weiterentwickelt. Dieses Bewusstsein entsprach der tatsächlichen Machtlage nach Gründung des Kaiserreiches im Jahr 1871. Im Inneren schien die Entwicklung hin zu einer parlamentarischen Demokratie nach britischem oder französischem Muster durch die preußisch-adligen Kreise um Bismarck auf unabsehbare Zeit angehalten zu sein. Der schnelle Aufstieg der Arbeiterbewegung ließ auch viele Bürger sich die Frage stellen, ob eine weitere Demokratisierung in Richtung auf ein echtes parlamentarisches System wirklich so wünschenswert sei. Im Äußeren wurde das an Menschen und Produktionskapazität schnell wachsende Deutsche Reich von England und Frankreich als Bedrohung empfunden. In Deutschland führte dies wiederum zu dem Empfinden, das „perfide Albion“, wie Großbritannien genannt wurde, enthalte den Deutschen den berechtigten Platz an der Sonne vor. Stresemann war sogar in erster Linie deutscher Nationalist und sah die internationale Arbeitsteilung auch zunächst nur unter dem Gesichtspunkt, wie diese dem Wohl-
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ergehen der eigenen Wirtschaft nützlich sein könnte. Dies zeigte sich, als der erste Weltkrieg begann. In allen beteiligten Staaten war dies die große Zeit der Pläne, was man mit dem sicherlich bald besiegten Feind tun würde. Einverleibungsideen, die so genannten Annexionspläne, machten die Runde. Stresemann stand hierbei, in echt imperialistischer Manier, in vorderster Front. Er träumte von Calais, dem französischen Ort an der Kanalküste vor England, als einem deutschen Gibraltar. Er verlangte die deutsche Kontrolle über Belgien. Er tat dies allerdings nicht allein aus machtpolitischen Erwägungen, sondern wesentlich auch aus wirtschaftlichen Motiven. Er sah – durchaus realistisch – die Gefahr, dass Deutschland nach dem Krieg von seinen eifersüchtigen Konkurrenten wirtschaftlich abgeschnürt werden würde und dachte deshalb schon an gesicherte Zugänge zur See und eine Vergrößerung des Inlandsmarktes. Hier kommen seine progressive und seine reaktionäre Seite zusammen. Deutschland verlor den Krieg und Stresemann war als „Annexionist der ersten Stunde“ vorläufig kaltgestellt. Bei der Neugründung einer liberalen Partei im Jahre 1919, welche zu einer Fusion der eher rechten Nationalliberalen und des eher linken Freisinns führte, wurde er ausgeschlossen. Er gründete daraufhin die Deutsche Volkspartei, die DVP, welche sich bald als lebensfähig, später sogar als recht erfolgreich erweisen sollte. Mit ihr beteiligte er sich an verschiedenen Koalitionen, beendete als Reichskanzler im Jahre 1923 den Ruhrkampf, den passiven Widerstand der Bevölkerung gegen die Franzosen, und die Inflation. Von entscheidender Bedeutung für das, was ich hier zeigen will, war jedoch seine Zeit als Außenminister bis zu seinem Tod am 3. Oktober 1929. In dieser Zeit führte er Deutschland durch den Vertrag von Locarno im Jahr 1925 in den Völkerbund, den Vorläufer der heutigen UNO. Damit war ein wichtiger Schritt getan auf dem Weg der Umwandlung der Rolle Deutschlands vom Besiegten und zukünftigen Konkurrenten, der tunlichst niederzuhalten war, zu einem Deutschland, das sich auf die internationale Zusammenarbeit einlässt und eine wichtige Rolle bei der internationalen Friedenssicherung spielt. Bei seinen Bemühungen entwickelte er ein Vertrauensverhältnis zu dem französischen Außenminister Aristide Briand. Beide Politiker waren davon überzeugt, dass es zur Verhinderung künftiger Kriege notwendig sei, einen Zusammenschluss Europas herzustellen. Dabei dachte Briand wohl mehr an einen politisch-militärischen Zusammenschluss, während Stresemann mehr auf die friedenssichernde Kraft wirtschaftlicher Verflechtung setzte. Stresemann dachte also weiterhin auch an die Absatzmärkte für die deutsche Volkswirtschaft. Leider starb Stresemann zu früh, um sich an der Europainitiative Briands aus dem Jahr 1930 zu beteiligen, dem wichtigsten politischen Vorläufer der westeuropäischen Einigung nach dem zweiten Weltkrieg. Diese Europainitiative ging allerdings in der bald fühlbar werdenden Wirtschaftskrise unter und war nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland vorerst gegenstandslos. Erst nach dem Zusammenbruch des Faschismus konnte die Initiative wieder aufgegriffen werden. Es ist viel darüber diskutiert worden, ob Stresemann seine politischen Überzeugungen völlig gewandelt habe und nur so seine wichtige Rolle in der Weimarer
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Republik spielen konnte. Wenn man seinen wirtschaftlich beeinflussten Werdegang betrachtet, erscheint der Wechsel von der imperialistischen Annexionshaltung zur Öffnung gegenüber einer europäischen Zusammenarbeit allerdings durchaus konsequent. Wenn das Wohlergehen der Wirtschaft das grundlegende Ziel ist, dann ist es konsequent, in Zeiten einer Hochzollpolitik der Konkurrenz machtpolitisch zu reagieren und wenn sich dann die Möglichkeit zu freierem Export bietet, auf Zusammenarbeit und gegenseitige Abhängigkeit einzugehen. Sicherlich kann man Stresemann nicht nur als einen Wirtschaftspolitiker sehen. Er strebte bis zu seinem Ende die Revision des Versailler Vertrages und die Wiedergewinnung der durch diesen abgetrennten westpreußischen und oberschlesischen Ostgebiete an. Aber er war bereit, die politische Souveränität Deutschlands aus übergreifendem friedensund wirtschaftspolitischem Interesse einzuschränken. Damit hat er den ersten Schritt einer Entwicklung getan, die nach dem zweiten Weltkrieg zur westeuropäischen Einigung führen sollte. Stresemann war ein Kind seiner Zeit und ging einen Weg, den viele im deutschen wie auch im übrigen europäischen Bürgertum gingen, soweit sie nicht entweder zu Kommunisten oder Faschisten wurden. Diejenigen, die er vertrat, verloren zunächst und gewannen letztlich doch. In Stresemann spiegelt sich das Doppelgesicht des Bürgertums, seine guten und seine schlechten Seiten. Ohne den verlorenen Krieg wäre er vielleicht nicht so schnell zum Vorreiter der europäischen Einigung geworden, das gleiche kann man aber wohl auch für Aristide Briand und jeden anderen französischen Außenminister behaupten, dessen Land durch den ersten Weltkrieg langfristig gesehen wohl sogar stärker in Mitleidenschaft gezogen worden war als Deutschland. Europa insgesamt war nach dem Ersten Weltkrieg sehr geschwächt und hatte zum ersten Mal erleben müssen, dass eine außereuropäische Macht das entscheidende Wort gesprochen hatte, nämlich die Vereinigten Staaten durch ihren Kriegseintritt. Dies war insbesondere Frankreich bewusst geworden, welches anders als Großbritannien keine leicht auszubeutenden Kolonien besaß. In Frankreich wurde der führenden Schicht zunehmend klar, dass eine andauernde Konfrontation mit Deutschland zu einer unerträglichen Schwächung der eigenen Position in der übrigen Welt führen würde und so begann man, mit dem Gedanken der europäischen Einigung zu spielen. Die Schilderung des Lebens und der Auffassungen Stresemanns und seiner Periode lassen drei wichtige Motive für die westeuropäische Einigung, so wie sie nach dem zweiten Weltkrieg stattgefunden hat, anklingen: Da ist einmal der des gegenseitigen Nutzens von Freiheit des Handels und des Verkehrs für alle, dann ist da der Gedanke der Friedenssicherung und schließlich der Gedanke der Machterhaltung Europas. Die Beschreibung wäre jedoch unvollständig, wenn nicht noch ein vierter Gedanke erwähnt würde, der zwar für Stresemann keine zentrale Rolle gespielt hat, der aber gleichfalls schon in der Weimarer Republik angelegt war und der nach dem zweiten Weltkrieg stärker wirksam wurde. Dies ist der Gedanke der – politisch verstandenen – Supranationalität. Dieser Gedanke ist vielleicht das älteste Motiv aller europäischen Einigungsbestrebungen. Man
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kann ihn bis auf das römische Reich, auf die hierauf beruhende deutsche Reichsidee seit Karl dem Großen und auf den Anspruch der katholischen Kirche, die europäische Christenheit zu umspannen, zurückverfolgen. Der Gedanke der Supranationalität beruht auf der Vorstellung, dass die einzelnen Fürsten oder Staaten, die in Europa herrschen, einen entscheidenden Teil ihrer Macht zugunsten einer über ihnen stehenden Macht aufgeben sollen. Deren Aufgabe soll es sein, Frieden und Gerechtigkeit in Europa zu gewährleisten. Besonders in unruhigen Zeiten wurde dieser Ruf laut und ich möchte Sie nicht mit den Namen von Berühmtheiten aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit langweilen, die die Einrichtung solcher Institutionen verlangten. Hier genügt es, auf die Paneuropabewegung des belgischen Grafen Coudenhove-Kalergi hinzuweisen, die in der Zwischenkriegszeit dieses Jahrhunderts einen erheblichen Einfluss erlangt hat. Auf sie führt sich die Europabewegung der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zurück. Sie war eine Art Bürgerbewegung, die die Einrichtung europäischer Institutionen forderte. Der Ausgang des zweiten Weltkrieges mit seiner katastrophalen Niederlage Deutschlands und dem Vorrücken der Sowjetunion bis an die Elbe wird heute meistens als entscheidende Voraussetzung für die ab 1945 einsetzende westeuropäische Einigung angesehen. Tatsächlich hat die als bedrohlich empfundene sowjetische Haltung den unmittelbaren Anstoß für die verhältnismäßig raschen europäischen Organisationsbildungen gegeben. Man sollte jedoch nicht übersehen, dass alle Grundbedingungen und Motive für die europäische Einigung im Prinzip schon nach dem Ersten Weltkrieg vorhanden gewesen waren und begonnen hatten, Wirksamkeit zu entfalten. Der Graf Coudenhove-Kalergi hatte in einem Buch „Paneuropa“ aus dem Jahr 1923 die Notwendigkeit der europäischen Einigung bereits mit der erkennbar werdenden wirtschaftlichen Blockbildung in der Welt gerechtfertigt. Gegenüber den USA, der Sowjetunion, der ostasiatischen Zone und dem britischen Weltreich könnten sich die europäischen Nationen nur behaupten, so CoudenhoveKalergi, wenn sie zusammengingen. Diese Lage bestand auch noch nach 1945, hatte sich sogar verschärft. Frankreich hatte im Prinzip schon einige Zeit nach dem Ersten Weltkrieg eingesehen, dass es allein nicht die Kraft haben würde, ein wieder erstarkendes Deutschland im Zaum zu halten und deswegen Europapläne geschmiedet. Nach dem Zweiten Weltkrieg galt dieses Argument umso mehr, obwohl Deutschland diesmal noch stärker in Mitleidenschaft gezogen worden war. Die Angst und der Respekt vor der deutschen Schwerindustrie war erheblich und bekanntlich hat die Sowjetunion eine garantierte Mitsprache über die Verwaltung des Ruhrgebietes zur ernstgemeinten Bedingung für eine Einigung über ein ungeteiltes Deutschland gemacht. Selbst die ideologische Auseinandersetzung, der Kalte Krieg, hatte in gewisser Weise bereits nach dem Ersten Weltkrieg stattgefunden, als die Kommunisten als Kolonne Moskaus galten. Insofern ist es wohl fair zu sagen, dass der Ausgang des Zweiten Weltkrieges bestimmte Gegebenheiten, die seit dem Ende des Ersten Weltkrieges, teilweise sogar bereits seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts angelegt waren, verschärft hat hervortreten lassen. Damit war die Gelegenheit gegeben, frühere Pläne aufzugreifen und in einer Form zu
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verwirklichen, die an die neue Lage angepasst war. Symbolisch gesehen spiegeln sich wichtige Ansätze dazu in Gustav Stresemanns Leben, beginnend in Sachsen und dann darüber hinaus gehend. . . .
Jahre des Wiederaufbaus – Leipzig 1993 bis 19981 Von Walter Gropp I. Das Kolloquium „Recht – Technikfolgen – Verantwortlichkeit“ Meine Leipziger Jahre des Wiederaufbaus begannen – ohne dass ich mir dessen vollends bewusst gewesen wäre – im Grunde bereits mit der Einladung zu dem Kolloquium „Recht – Technikfolgen – Verantwortlichkeit“ vom 22. bis 25. Oktober 1990. Am 21. Oktober, einem Sonntag, 18 Tage nach der Wiedervereinigung, fuhr ich mit dem Zug von Freiburg nach Leipzig. In Bebra gab es einen längeren Aufenthalt, weil die Bahnstrecke nach Osten nicht elektrifiziert war und die Elektrolok durch eine Diesellok ersetzt werden musste – eine schwere sechsachsige russische Baureihe 130, im Volksmund „Ludmilla“ genannt, die sich durch ihre charakteristische Dieselfahne und ein laut pfeifendes Motorengeräusch auszeichnete. Die Weiterfahrt von Bebra in Richtung Osten gestaltete sich sehr langsam, weil der Zug auf den Schienen nicht nur vorwärts, sondern – wie mir andere „erfahrene“ Mitreisende bildhaft erklärten, indem sie die Arme nach vorne streckten und mit dem Oberkörper hin- und herwippten – wegen der schlechten Schienen auch „seitwärts“ fuhr. Jedenfalls wurden wir tüchtig „durchgeschaukelt“. In Leipzig angekommen schlug mir beim Aussteigen der rußige Geruch von Braunkohlerauch entgegen, dessen Entweichen aus unzähligen privaten und indus1 Dem Beitrag liegen im Wesentlichen die folgenden Materialien zu Grunde: Universität Leipzig (Hrsg.), Akademischer Festakt zu Wiedererrichtung der Juristenfakultät am 26. April 1993, Leipziger Universitätsreden, Neue Folge, Heft 75, 1994, zit. AFA; Gitter, Wolfgang, Bericht des Gründungsdekans der Juristenfakultät Leipzig, in: AFA, S. 9 ff.; Grußwort des Staatsministers für Wissenschaft und Kunst des Freistaates Sachsen, Prof. Dr. Hans Joachim Meyer, in: AFA, S. 15 ff.; Protokolle der Sitzungen der Gründungskommission, Sitzungen Nr. 1 (21. 6. 1991) bis 12 (26. 4. 1993), zit. „Protokoll“ mit Nr. und Datum; weitere Quellen werden in den betreffenden Fußnoten vollständig zitiert. Meinen ehemaligen Leipziger Mitarbeitern Dr. Stephanie Stadie, gesch. Petry, und Dr. Josef Bischof sowie meiner ehemaligen Leipziger Sekretärin Heidrun Helbig und Frau Dekanatssekretärin Silke Müller danke ich außerdem für zahlreiche wertvolle schriftliche und mündliche Hinweise. Herrn Professor Dr. Dr. h. c. Wolfgang Gitter danke ich für die Überlassung eines Satzes der Sitzungsprotokolle der Gründungskommission und unveröffentlichter Redemanuskripte. Die Tatsachen wurden nach bestem Wissen und Gewissen erforscht, dennoch lässt es sich nicht ausschließen, dass das Eine oder Andere übersehen oder unrichtig gesehen wurde. Dafür sei um Nachsicht gebeten.
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triellen Kaminen man schon während der Fahrt hatte beobachten können. In späterer Zeit sollte dieser Geruch zwar nach und nach aus dem öffentlichen Lebensraum verschwinden, er tauchte aber unversehens auf, wenn man z. B. einen alten Schrank aus DDR-Produktion öffnete, in dessen Pressspanporen sich die Luft der Vergangenheit festgesetzt hatte. Von den riesigen Dimensionen des Hauptbahnhofs war ich überwältigt: den zahlreichen großen Stahlgewölben der Gleishalle und der mächtigen, nahezu leeren, mit einem erstaunlich glatten und sauberen Steinboden ausgelegten Bahnhofshalle. Hinsichtlich der Farbgebung dominierte die Farbe Schwarz. Sie empfing mich zunächst im Inneren des Bahnhofs als Erinnerung an Generationen von Dampflokomotiven, die hier ihren Rauch ausgestoßen hatten, sie spielte aber auch im Stadtbild eine wichtige Rolle, weil dort die Rußpartikel der Braunkohlefeuerung ihre Spuren hinterlassen hatten. Jener düstere erste Eindruck sollte sich im Laufe der Jahre zusehends aufhellen, als nach und nach einzelne Häuser, dann aber ganze Straßenzüge renoviert und so von der Braunkohlepatina befreit wurden. Fielen zunächst die hellen Gebäude ins Auge, so waren es nach wenigen Jahren die schwarzen. Im völligen Gegensatz zum eher düsteren ersten optischen Eindruck stand die Herzlichkeit, mit der ich in Empfang genommen wurde: Mitarbeiter2 des Leipziger Strafrechtlers Dietmar Seidel, Dres. Stephanie Petry und Josef Bischof, waren eigens zum Bahnhof gekommen, um mich abzuholen. Auf dem kurzen Weg zum Tagungsbüro im Hotel „Stadt Leipzig“, gegenüber dem Hauptbahnhof, bemerkten wir bald, dass wir trotz unterschiedlicher gesellschaftlicher Prägung – als Spross einer kurpfälzisch-badischen Familie hatte ich bis dahin keinerlei Verbindungen zur Welt jenseits des „eisernen Vorhangs“ – über eine gemeinsame Sprache verfügten. Kurz gesagt: Wir verstanden uns gut, zumal uns unser Status als Assistenten an einer Professur verband, ungeachtet der Tatsache, dass Josef Bischof schon wegen seines Alters gut als akademischer Lehrer hätte gehen können. Das Hotel „Stadt Leipzig“, ein einfallsloser Nachkriegsbau, wie man ihn auch in Westdeutschland hundertfach als Hotelbau hätte finden können, leuchtete mit seiner enzianblauen Schrift zum Hauptausgang des Hauptbahnhofs herüber und war in wenigen Minuten zu Fuß erreicht. In der Eingangshalle – es war inzwischen vollends dunkel geworden – umflutete uns der gelbliche Ton des Lichts von Beleuchtungskörpern in der Eleganz des sozialistischen Luxus’. Sie waren mit viel getöntem Glas gearbeitet und verbreiteten ein warmes, aber leicht angestaubtes Licht. Überhaupt erweckten der gesamte Innenraum des Hotels und die bräunlich-gelben Farbtöne zusammen mit der streng kubischen Struktur aller Räume und Einrichtungsgegenstände einen recht nüchternen, statischen Eindruck, aber keineswegs kühl, sondern eher etwas muffig, an Sahnekaramellen erinnernd. 2 Soweit Personengruppen nur in der männlichen Form bezeichnet werden, gelten diese Bezeichnungen für weibliche Mitglieder entsprechend.
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Nach einem kurzen Kennenlernen im Foyer des Hotels begab man sich in das „Kleine Betriebsrestaurant“ der Universität, wo um 19 Uhr die offizielle Begrüßung der Gäste auf dem Programm stand. Am Rande der Veranstaltung lernte ich auch einige Professoren der „Sektion Rechtswissenschaft“ der Leipziger KarlMarx-Universität kennen: Walter Orschekowski, Walter Schönrath und Dietmar Seidel, der mir seine Sekretärin, Frau Heidrun Helbig, vorstellte. Aus Breslau war Professor Tomasz Kaczmarek angereist. Vom akademischen Mittelbau hatte ich Frau Petry und Herrn Bischof bereits kennen gelernt. Die Begrüßung im Kleinen Betriebsrestaurant bot Gelegenheit, die Inhalte der Tagung zu konkretisieren. Denn zunächst standen von der eigentlichen Konferenz nur die Eckpunkte fest. Es wurde mitgeteilt, dass sich bisher 18 Persönlichkeiten mit Diskussionsbeiträgen angemeldet hatten, darunter insbesondere Kolleginnen und Kollegen der Leipziger Partnerfakultät in Graz, aber auch weitere Kollegen aus Leipzig sowie aus den Neuen (Dresden, Berlin und Zittau) und den Alten Bundesländern (Bayreuth und Augsburg). Man sprach schließlich auch mich an, zu welchem Thema ich sprechen wollte, was mich in große Verlegenheit brachte. Ich hatte keinen Diskussionsbeitrag vorbereitet, sondern nur „für alle Fälle“ ein paar Materialien zum Embryonenschutzgesetz mitgebracht, dessen In-Kraft-Treten 1991 unmittelbar bevorstand. Spät in der Nacht, auf der Bettkante im Hotel „Stadt Leipzig“, erstellte ich die Gliederung für einen kurzen Vortrag über den „Schutz des Embryos – insbesondere im Zusammenhang mit In-vitro-Fertilisation und Embryotransfer“. Der wissenschaftliche Teil der Tagung fand am nächsten Tag ab neun Uhr im Konferenzsaal des „Kroch-Hochhauses“ in der Goethestraße statt, ein großer, langgestreckter, hoher Saal mit dunklem Mobiliar. Vor den Fenstern der östlichen Längsseite fuhren auf der Goethestraße in regelmäßigen Abständen die schweren T4D-Tatra-Straßenbahnen der Leipziger Verkehrsbetriebe vorbei und brachten den Raum etwas zum Erbeben. Das Rednerpult befand sich an einer der Stirnseiten, die Stühle und Tische waren auf beiden Längsseiten mit Blick zur Mitte hin aufgestellt. Auf diese Weise entstand eine sehr kommunikative Atmosphäre, weil sich die Diskutanten gegenüber saßen. Mein kurzer Vortrag zum Embryonenschutzgesetz wurde einerseits mit Wohlwollen aufgenommen, zum anderen aber auch mit einem gewissen Unverständnis, weil die sehr liberale Abtreibungsregelung in der ehemaligen DDR mit dem westdeutschen Rundumschutz des Embryos vor der Einnistung schlecht in Einklang zu bringen war. An einem der Abende, vermutlich am 23. Oktober, lud Dietmar Seidel die Damen und Herren aus Polen und Österreich sowie die Kollegen aus den Alten Bundesländern in die „Regina-Bar“ in der Fleischergasse ein. Es empfing uns eine angenehme Atmosphäre, gedämpftes farbiges Neonlicht und dezente Musik. Auf einer quadratischen, etwa 3 3 m großen, größtenteils aus farbigen beleuchteten Glassegmenten bestehenden Tanzfläche boten zwei Tänzerinnen in knappen Kostümen, wie man sie sonst etwas großzügiger geschnitten bei Eiskunstläuferinnen sieht, eine Art „Synchron-Ballett“ dar: anmutig und in keiner Weise anzüglich,
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Körperbeherrschung in Vollendung. Dietmar Seidel genoss es sichtlich, seinen Gästen eine Freude zu machen, ihnen etwas Schönes zu bieten. Der großzügig gereichte Sekt verfehlte seine auflockernde Wirkung nicht. Die Stimmung wurde immer gelöster, und Ost und West kamen sich näher. Gegen Ende des Abends kam Dietmar Seidel mit mir ins Gespräch und fragte, ob ich bereit wäre, die Sektion Rechtswissenschaft bei der Lehre des bundesdeutschen Strafrechts zu unterstützen. Er selbst traue sich zwar durchaus zu, Vorlesungen zum Allgemeinen Teil des westdeutschen StGB zu halten, die Vermögensdelikte wolle er aber doch lieber einem westdeutschen Dozenten – auch im Rahmen eines Lehrauftrages – anvertrauen. Ich sagte meine Hilfe gerne zu und wir verblieben so, dass Dietmar Seidel auf mich zukommen würde, sobald die Sache spruchreif war. Als ich Leipzig am 25. Oktober 1990 verließ, wusste ich nicht, dass ich in den vergangenen Tagen meine zukünftigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kennen gelernt hatte. Im Februar 1991 fand ich in meinem Postfach im Freiburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht einen Brief aus Leipzig vor. Ich erwartete die angekündigten Nachrichten von Dietmar über unsere zukünftige Zusammenarbeit. Es war jedoch der Brief eines wissenschaftlichen Mitarbeiters der Sektion Rechtswissenschaft. Er teilte mir in aller Kürze und mit dem Ausdruck des tiefsten Bedauerns mit, dass sich Dietmar Seidel das Leben genommen habe und dass man nicht wisse, wie es in Leipzig weitergehen würde. II. Der Ruf nach Leipzig Die nächste Information, die mich aus Leipzig erreichte, war die Ausschreibung einer C-4-Professur für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Leipziger Juristenfakultät „in Gründung“. Das sächsische Wissenschaftsministerium hatte die Leipziger Juristenfakultät am 22. Dezember 1990 für eine logische Sekunde geschlossen und eine Gründungskommission eingesetzt, die die Professorenstellen nach und nach neu ausschrieb. Die Stelle, auf die ich mich bewarb, war somit faktisch die Stelle von Dietmar Seidel. Zu meiner Freude wurde ich zum Vorstellungsgespräch am 9. Oktober 1991 in die 16. Etage des Universitätshochhauses am Augustusplatz eingeladen. Die Berufungskommission verabschiedete eine Liste, auf der ich als Privatdozent hinter zwei Ordinarien auf Platz 3 berücksichtigt wurde. Aufgrund einer für mich günstigen Entwicklung der Umstände erhielt ich mit Schreiben vom 23. Oktober 1992 einen Ruf des sächsischen Staatsministers für Wissenschaft und Kunst, Prof. Dr. Hans Joachim Meyer, auf die C-4-Professur. Es handele sich um eine Gründungsprofessur, war zu lesen, die zunächst aus Mitteln des Hochschulerneuerungsprogramms (HEP) finanziert und später in den Staatshaushalt des Freistaates Sachsen übernommen würde.
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Ende Oktober 1992 fuhr ich mit meiner Frau Eva im Nachtzug nach Dresden, um dort am nächsten Tag mit dem zuständigen Referatsleiter im sächsischen Staatsministerium zu verhandeln. Neben eher technischen Fragen wie insbesondere der Ausstattung des Lehrstuhls wurde über drei Probleme gesprochen: das Wohnen in Leipzig, die Beruftätigkeit Evas und die Einschulung der Kinder. Was das Wohnen anbelangte, so bot die Universität Leipzig bis auf weiteres eine sog. „EinRaum-Wohnung“3 in der Ritterstraße in Leipzig an, etwa 20 Meter Luftlinie östlich des Chores der Nikolai-Kirche gelegen. Die Übernahme Evas in den Schuldienst des Freistaates Sachsen als Sonderschullehrerin für Sprach- und Lernbehinderte machte hingegen Probleme. Man sagte mir jedoch zu, sich um eine Übernahme im Rahmen des Lehrertauschverfahrens zwischen den Bundesländern zu bemühen. Hinsichtlich unserer Kinder, die in Freiburg eine freie Waldorfschule besuchten, verwies man uns an das Leipziger Schulamt. Zu den folgenden Verhandlungen mit der Universitätsspitze in Leipzig fuhr ich ohne Begleitung. Ich war für diese Tage im „Haus der Wissenschaftler“, einer 1898 von dem Leipziger Kinderchirurgen Herbert Hermann Tillmanns erbauten Villa, untergebracht. Diese heute so genannte „Villa Tillmanns“, deren Äußeres Elemente der Renaissance, aber auch Zitate maurischer Architektur schmücken, hat eine quadratische Grundform, im Innern mit einem Lichthof, von dem aus man die Gästezimmer erreicht. Im Souterrain der Villa befand sich damals eine kleine Kantine, wo man ein preiswertes und sehr gutes Frühstück erhalten konnte. Als das polnische Konsulat 1947 die Villa übernahm, wurden sorgfältige Rekonstruktionsund Sanierungsarbeiten durchgeführt, die auch den Erwerb des Gebäudes durch die Stadt Leipzig 1955 überdauerten. Ich übernachtete während der Verhandlungen in einem der Eckzimmer, dessen Inneres mit wertvollen Möbeln ausgestattet war. Schwere, in der Mitte geteilte und seitlich geraffte Gardinen verbreiteten eine Stimmung wie in den Märchen aus 1001 Nacht. Zum Rektorat der Universität führte der Fußweg vom Haus der Wissenschaftler am Neuen Rathaus und der Thomas-Kirche vorbei zum Augustusplatz. Die Verhandlungen mit dem Kanzler verliefen erfolgreich, vor allem, was die der Professur zugeordneten Assistenten betraf. Laut Stellenplan standen jeder Professur zwei volle BAT II a-Stellen für Assistenten zu. Ich fragte den Kanzler nach dem Schicksal von Frau Dr. Petry und Herrn Dr. Bischof. Sie seien erfolgreich evaluiert worden, bekam ich zur Antwort, und könnten meinem Lehrstuhl zugeordnet werden – zusätzlich! Aber nur, wenn ich einverstanden sei, gab man mir zu verstehen. Natürlich war ich einverstanden. Für mich war dies ein großes Glück. Denn ganz abgesehen von den fachlichen Fähigkeiten – Josef Bischof z. B. hatte den Sommer 1992 eigens zu einem Weiterbildungs- und Forschungsaufenthalt am Freiburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht genutzt – eröffnete mir die Zusammenarbeit mit den ehemaligen Mitarbeitern von Dietmar Seidel die einmalige Chance, mich mit der Vergangenheit vertraut zu machen und gemeinsam mit ihnen die Brücke in die Zukunft zu schlagen. 3
Eine für westliche Ohren eher fremdartige Bezeichnung für „1-Zimmer-Appartement“.
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Die Verhandlungen sowohl in Dresden als auch in Leipzig wurden zügig zu Ende geführt. Die Vergütung war – gemessen an den damaligen Verhältnissen – fürstlich.4 So nahm ich den Ruf nach Leipzig an und wurde zusammen mit einer Reihe weiterer Kollegen aus Dresden und Leipzig am 19. März 1993 in Dresden mit Wirkung vom 01. April 1993 unter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit zum Universitätsprofessor ernannt. Die Ernennungsurkunden, an denen zum Teil noch letzte Korrekturen vorgenommen werden mussten, wurden in einem Nebenraum mit Hilfe eines Tintenstrahl-Druckers erstellt, vom anwesenden Staatsminister für Wissenschaft und Kunst in Vertretung des Ministerpräsidenten unterzeichnet und durch ihn persönlich an die neu ernannten Professoren ausgehändigt. III. Dienstantritt in Leipzig Mit dem Dienstantritt in Leipzig am 1. April 1993 konnte ich die letzten Tage vor der Wiedergründung der Juristenfakultät miterleben. Ich hatte zwar bereits kurz nach Annahme des Rufes am 16. Dezember 1992 an der 10. Sitzung der Gründungskommission teilgenommen, als Mitglied der Juristenfakultät „in Gründung“ kamen die Ereignisse nun aber „hautnah“ auf mich zu. 1. Vor der Wiedergründung Die Leipziger Juristenfakultät wurde nicht durch eine sog. „Betreuungsfakultät“5 unterstützt wie etwa die Schwesterfakultät in Dresden durch die Juristische Fakultät der Universität Heidelberg. Für Leipzig fanden sich – als Mitglieder der Gründungskommission (u. 2.) und darüber hinaus – Hochschullehrer zusammen, denen die Leipziger Juristenfakultät am Herzen lag: aus strafrechtlicher Perspektive organisierend, koordinierend und lehrend allen voran Wolfgang Schild (Bielefeld), Olaf Miehe (Heidelberg) und Werner Geisler (Mannheim). In der Lehre wirkten bis zum Ende des Wintersemesters 1992 / 93 (in alphabetsicher Reihenfolge) außerdem mit: Hans-Jörg Albrecht (Konstanz), Peter Cramer (Gießen), Thomas Fischer (Karlsruhe), Joachim Hruschka (Erlangen-Nürnberg), Volker Krey (Trier), Kristian Kühl (Gießen), Harro Otto (Bayreuth), Rainer Paulus (Würzburg), Dieter Rössner (Göttingen), Kurt Seelmann (Hamburg) und Wolfgang Schöne (Göttingen). Aus dem Zivilrecht und dem Öffentlichen Recht seien Kollegen aus Bayreuth (Rainer Schröder, Wolfgang Brehm), Bonn (Walter Gerhardt, Marcus Lutter), Konstanz (Karl-Heinz Fezer, Bertram Schulin), Mainz (Horst Konzen, Arndt Teichmann), München (Peter Landau, Götz Hueck), Regensburg (Reinhard Richardi) und Tübingen (Otto Bachhoff, Harm Peter Westermann) genannt. Auch Professo4 Zur C-4-Vergütung West kam bis 1995 eine steuerfreie Aufwandsentschädigung in Höhe von 1.500,00 DM – die so genannte „Buschzulage“ – hinzu. 5 Gitter (Anm. 1), AFA, S. 10.
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ren aus der früheren „Sektion Rechtswissenschaft“ haben hier wertvolle Beiträge erbracht: Klaus Gläß, Robert Heuse, Manfred Mühlmann, Walter Schönrath und Wolfgang Seifert. Durch dieses Zusammenwirken und -halten vieler helfender Hände gelang es in der Tat, den Lehrbetrieb aufrecht zu erhalten – allen Untergangsgerüchten zum Trotz, die besagten, dass die Sektion Rechtswissenschaft wegen ihrer marxistisch-leninistischen Vergangenheit6 geschlossen und durch die unbelastete Neugründung in Dresden ersetzt werden solle.7 Zum Überleben der Leipziger Juristenfakultät trug wohl auch die Entscheidung der Gründungskommission bei, im WS 1991 / 92 die Tore für Studienanfänger weit zu öffnen und keinen Numerus clausus einzuführen.8 So kam es, dass im Wintersemester 1991 / 92 fast 800 Studienanfänger den Weg an die Juristenfakultät wählten,9 unter ihnen viele talentierte junge Menschen, denen man zu Zeiten der DDR den Zugang zu einem Jurastudium verwehrt hatte. Im Wintersemester 1992 wurden nochmals 430 Studierende immatrikuliert.10 Die Leipziger Juristenfakultät hatte damit einen Trumpf in der Hand, den man ihr nicht so leicht wieder nehmen konnte: eine große Anzahl motivierter und intelligenter Studierender, die zudem zum überwiegenden Teil nicht nur nicht Begünstigte, sondern geradezu Opfer der DDR-Vergangenheit waren. Die Herausforderung bestand nun darin, eine funktionsfähige Fakultätsstruktur zu bilden, bestehend aus einem Lehrkörper, einem akademischen Mittelbau und einer kompetenten Administration. Diese verantwortungsvolle Aufgabe lag in den Händen der sog. „Gründungskommission“. 2. Die Gründungskommission Als Gründungsdekan war zunächst 1991 der Trierer Hochschullehrer für Staatsund Verwaltungsrecht Peter Krause nach Leipzig abgeordnet worden. Offenbar war es jedoch nicht gelungen, eine tragfähige Vertrauensbasis herzustellen. Denn im Mai 1991 hatte Krause sein Mandat enttäuscht zurückgegeben. Zu seinem Nachfolger wurde am 21. Mai 1991 der Bayreuther Hochschullehrer für Sozialrecht 6 Näher dazu Kern, Bernd-Rüdiger, Die Geschichte der Leipziger Juristenfakultät, in: Sächsisches Staatsministerium der Justiz, Leipzig. Stadt der Rechtsprechung, Sächsische Justizgeschichte, Schriftenreihe des Sächsischen Staatsministeriums der Justiz, Band 3, Dresden 1994, S. 53 ff., 79. 7 Vgl. Gitter, Wolfgang, Die Gründungsphase der Leipziger Juristenfakultät, unv. Redemanuskript, S. 6. 8 Die Entscheidung, keine Zugangsbeschränkungen aufzustellen, lässt sich den Protokollen der Gründungskommission deutlich entnehmen, vgl. Konzen in Protokoll Nr. 1 v. 22. 6. 1991, S. 6; Wartenberg in Protokoll Nr. 3 v. 17. 10. 1991, S. 1 sowie Gitter, Wolfgang, Bericht über meine Tätigkeit als Gründungsdekan der Juristenfakultät der Universität Leipzig, unv. Redemanuskript, S. 2. 9 Gitter (Anm. 1), AFA, S. 10. 10 Gitter (Anm. 1), AFA, S. 12.
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Wolfgang Gitter berufen.11 Die Gründungskommission wurde noch in demselben Monat eingesetzt und bestand neben Wolfgang Gitter als Vorsitzendem aus den Professoren Joachim Burmeister (Saarbrücken), Heiko Faber (Hannover), KarlHeinz Fezer (Konstanz), Horst Konzen (Mainz), Martin Oldiges (Bielefeld), Wolfgang Schild (Bielefeld) und Wolfgang Seifert (Leipzig). Den akademischen Mittelbau vertraten Dr. Georg Nolte (Heidelberg), Dr. Hans Gläser (Leipzig) und Gerlind Federhoff (Leipzig), wobei Nolte12 und Federhoff13 das Amt des Protokollführers übernahmen. Studentische Mitglieder der Gründungskommission waren Ines Altenkirch, Katrin Möller und Olaf Juterzenka.14 Dank exzellenter, konzentrierter Arbeit gelang es der Kommission, innerhalb von knapp zwei Jahren ohne Unterbrechung des Lehrbetriebs eine neue funktionstüchtige Fakultät zu formen. a) Besetzung der Lehrstühle Vornehmste Aufgabe der Gründungskommission war die Besetzung der Lehrstühle, um einen arbeitsfähigen Lehrkörper für die große Anzahl der neuen Studierenden zu schaffen. Um Zeit zu gewinnen, wurden aus Mitgliedern der Gründungskommission und weiteren Hochschullehrern Unterkommissionen gebildet, die als Berufungskommissionen für die ausgeschriebenen Lehrstühle wirkten.15 Ausschreibungen, Einladungen von Bewerbern und die Aufstellung von Berufungslisten ziehen sich wie ein roter Faden durch die Protokolle der Berufungskommission.16 Die reibungslose Zusammenarbeit mit dem sächsischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst und die tatkräftige Unterstützung durch den Senat der Universität machten es möglich, dass die neue Fakultät zum Zeitpunkt der Wiedergründung aus sieben ernannten Professoren bestand: Ekkehard Becker-Eberhard, Andreas Blaschczok, Christoph Degenhart, Helmut Goerlich, Walter Gropp, Bernd-Rüdiger Kern und Franz Häuser.17 Rudolf Geiger wirkte auf der Grundlage eines Vertretungsvertrages mit.18 Aus der Vorwendezeit gehörten der Juristenfakultät außerdem die Professoren Wolfgang Seifert und Klaus Gläß an.
Gitter (Anm. 1), AFA, S. 9. Protokolle (Datum des Protokolls in Klammern) der Sitzungen Nr. 1 v. 21.(22.)6.1991, Nr. 2 v. 16.(17.)7.1991, Nr. 3 v. 14. / 15.(17.)10.1991, Nr. 4 v. 13.(14.)12.1991, Nr. 8 v. 3.(4.)7.1992, Nr. 10 v. 16.(18.)12.1992, Nr. 11 v. 17.(18.)3.1992, Nr. 12 v. 26.(26.)3.1993. 13 Protokolle (Datum des Protokolls in Klammern) der Sitzungen Nr. 5 v. 1.(3.)2.1992, Nr. 6 v. 11. / 12.(13.)3.1992, Nr. 7 v. 22.(25.)5.1992, Nr. 9 v. 21.(22.)9.1992. 14 Meyer (Anm. 1), AFA S. 21. 15 Protokoll Nr. 2 v. 17. 7. 1991, S. 9 zu TOP 4. 16 Vgl. Protokolle Nr. 3 v. 17. 10. 1991 S. 3, Nr. 4 v. 14. 12. 1991 S. 1, Nr. 5 v. 3. 2. 1992 S. 10, Nr. 6 v. 13. 3. 1992 S. 1, Nr. 7 v. 25. 5. 1992 S. 4, Nr. 9 v. 22. 9. 1992 S. 8, Nr. 10 v. 18. 12. 1992 S. 2. 17 Vgl. Protokoll Nr. 12 v. 26. 4. 1993 S. 1. 18 Vgl. Protokoll Nr. 11 v. 18. 3. 1993 S. 2. 11 12
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b) Evaluation des Lehrkörpers Nach der Schließung der Sektion Rechtswissenschaft waren die Bediensteten in eine sog. „Warteschleife“ versetzt worden. Ihre Arbeitsverhältnisse ruhten zunächst für sechs Monate – bei über 50-jährigen Personen für neun Monate – bei einem Wartegeld in Höhe von 70% des bisherigen Gehalts. Nach Ablauf dieser Frist waren die Arbeitsverhältnisse beendet, wenn keine Übernahme erfolgte.19 Über die Übernahme entschied eine Personalkommission der Universität und eine von der Gründungskommission des Fachbereichs gestellte Fachkommission.20 Gegenstand der strafrechtlichen Fachprüfung waren Lehrinhalte aus Arbeitsgemeinschaften und Übungen im Strafrecht.21 Der Personalkommission kam demgegenüber nur eine politische Überprüfung der Bewerber zu. Das Zusammenwirken dieser Kommissionen bis hin zur Stellungnahme des Rektorats zu den Entscheidungen der Personalkommission lässt sich den Protokollen der Gründungskommission anschaulich entnehmen.22 Dort sind auch Maßstäbe für die fachliche Evaluation der Hochschullehrer zu finden.23 Man war sich einig, dass Bekenntnisse zum System der DDR grundsätzlich nicht schädlich sein dürften, solange sie die fachliche Qualität nicht beeinflussten. Grundvoraussetzung müsse jedenfalls die Erkennbarkeit eines eigenständigen wissenschaftlichen Ansatzes sein. Bei den Veröffentlichungen sollte berücksichtigt werden, dass spezifische juristische Beiträge nicht selten der Zensur zum Opfer gefallen waren, während allgemein gehaltene Erörterungen und Erläuterungen eher eine Chance auf Veröffentlichung hatten. Im Protokoll vom 4. 7. 1992 finden sich als positiv evaluierte Leipziger Hochschullehrer schließlich Wolfgang Seifert (Bürgerliches Recht), Robert Heuse (Arbeits- und Sozialrecht), Manfred Mühlmann (Bürgerliches Recht), Klaus Gläß (Verwaltungsrecht), Richard Hähnert (Landwirtschafts- und Bodenrecht) und Walter Schönrath (Gewerblicher Rechtsschutz).24 Die Evaluation des Lehrkörpers im Bereich des Mittelbaus verlief entsprechend und führte dazu, dass in der Sitzung vom 21. September 1992 die wissenschaftlichen Mitarbeiter Dres. Annemarie Klatt, Stephanie Petry, Josef Bischof, Otto Kawalle, Rüdiger Heinemann und Paul Friedrich positiv evaluiert wurden.25 19 Gitter, Wolfgang, Rückblick auf die Wiedererrichtung der Juristenfakultät in den Jahren 1990 – 1993, unv. Redemanuskript, S. 3. 20 Wartenberg Protokoll Nr. 3 v. 17. 10. 1991, S. 3. 21 Gitter (Anm. 1), AFA, S. 10. 22 Protokoll Nr. 2 v. 17. 7. 1991, S. 3 ff., Nr. 3 v. 17. 10. 1991, S. 6 ff., Nr. 9 v. 22. 9. 1992, S. 5 f. 23 Interessant ist in soweit der Gedankenaustausch zwischen den „West“-Professoren Horst Konzen, Martin Oldiges und Karl-Heinz Fezer einerseits sowie dem Leipziger Wolfgang Seifert andererseits, vgl. Protokoll Nr. 4 v. 14. 12. 1991, S. 4. 24 Vgl. Protokolle Nr. 8 v. 4. 7. 1992 S. 6, Nr. 9 v. 22. 9. 1992, S. 4 sowie Gitter (Anm. 19), S. 8. 25 Vgl. Protokolle Nr. 5 v. 3. 2. 1992 S. 2, Nr. 7 v. 25. 5. 1992, S. 2 und Nr. 9 v. 22. 9. 1992 S. 4.
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c) Die Wiedergründung Der eigentliche Akt der Wiedergründung der Juristenfakultät wurde in der letzten und 12. Sitzung der Gründungskommission am 26. April 1993 ab 11 Uhr in Raum 16 / 12 des Universitätshochhauses vollzogen.26 Neben den Mitgliedern der Gründungskommission nahmen u. a. die neu berufenen Professoren der Juristenfakultät teil. Unter Punkt 5 der Tagesordnung wählte die Gründungskommission den neuen Fakultätsrat, bestehend aus den Mitgliedern Ekkehard Becker-Eberhard, Andreas Blaschczok, Christoph Degenhart, Helmut Goerlich, Walter Gropp, Franz Häuser und Wolfgang Seifert sowie als Vertreterin des Mittelbaus Stephanie Petry, als nichtwissenschaftliche Mitglieder Ulrike Jakobasch und Andrea Höschel und als studentische Mitglieder Anja Peitz und Gunter Rudnik. Anschließend wurde Ekkehard Becker-Eberhard zum Dekan gewählt. Die Sitzung endete gegen 14 Uhr mit dem Dank von Joachim Burmeister an den Gründungsdekan Wolfgang Gitter im Namen aller Mitglieder der Gründungskommission „für seine allgemein anerkannte Leistung und sein vorbildliches Engagement bei der Leitung der Gründungskommission und seine sonstige Tätigkeit als Gründungsdekan“. Für die anschließende „Übergabefeier“ hatte die Gründungskommission in der 11. Sitzung vom 17. 3. 1993 bereits festgelegt, dass „ein zwangloser Einzug der Würdenträger einem Einzug mit Talar vorzuziehen sei“. Der akademische Festakt zur Wiedererrichtung der Juristenfakultät fand am 26. April im kleinen Saal des Leipziger Gewandhauses statt und ist in der Neuen Folge Heft 75 der Leipziger Universitätsreden27 sorgfältig dokumentiert. Auch in der Presse wurde ausführlich berichtet.28 3. Die Juristenfakultät Der Stellenplan der neu gegründeten Juristenfakultät sah 18 Professuren vor, davon acht im Bereich des Zivilrechts, sechs im Bereich des Öffentlichen Rechts und vier im Bereich des Strafrechts. Den 14 C4-Stellen waren jeweils eine GanztagsSekretärin sowie zwei volle Assistentenstellen C1 bzw. BAT II a zugeordnet. Aus der Zeit vor der „friedlichen Revolution“ gehörten dem Leipziger Lehrkörper zusätzlich die Professoren Klaus Gläß, Manfred Mühlmann, Walter Schönrath und Wolfgang Seifert sowie Dres. Bernd Frey, Paul Friedrich, Rüdiger Heinemann und Otto Kawalle an. Das Amt des Dekans, seit dem 26. 04. 1993 von Ekkehard Becker-Eberhard mit größter Umsicht begleitet, ging am 1. April 1994 auf den Verfasser dieses Beitrags über, um am 1. April 1995 von Helmut Goerlich übernommen zu werden. 26 Protokoll der 12. Sitzung der Gründungskommission der Juristenfakultät in Gründung am 26. 04. 1993, Protokollant: Georg Nolte. 27 S. Anm. 1. 28 Mechthild Küpper in Der Tagesspiegel Nr. 14 540 v. 28. April 1993: Juristen am Ende der Übergangszeit; Martin Huff in Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 98 v. 28. April 1993, S. 5: Juristen mit „Stallgeruch“.
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Die Lehrstühle der Juristenfakultät waren zunächst fast vollzählig im Universitätshochhaus – auch „Uni-Riese“ oder „Weisheitszahn“ genannt – untergebracht,29 was den Vorteil hatte, dass die Hörsäle leicht erreichbar waren. Wenn man erst das Nadelöhr der – klug programmierten, aber durch die Benutzer weniger klug bedienten – sechs Aufzüge im Universitätshochhaus überwunden hatte, war man auch schnell vor Ort. Nach und nach stellte sich aber heraus, dass die Räume im Hochhaus nicht ausreichen würden, weil die Berufungslisten der Gründungskommission Früchte trugen und nach und nach die Professuren besetzt wurden. Um alle Lehrstühle unter zu bringen, wurde das Gebäude Ecke Dittrich-Ring / Otto-Schill-Straße 2 gegen einen sechsstelligen monatlichen DM-Betrag angemietet, ein renoviertes großbürgerliches Wohnhaus aus der Gründerzeit, gegenüber der Thomaskirche gelegen. Im Laufe des Jahres 1994 fand der Umzug statt. Das Strafrecht – mittlerweile komplettiert durch die Gewinnung der Kollegen Manfred Seebode, Ulrich Stein und Heribert Schumann – konnte sich im Dachgeschoss entfalten. Obwohl das neue Domizil kaum Wünsche offen ließ, waren sich alle Beteiligten einig, dass dies – auch angesichts der finanziellen Belastung – nur eine Art Übergangslösung sein konnte. Das ursprüngliche Grundstück der Juristenfakultät an der Petersstraße / Schlossgasse, wo das Collegium Juridicum dem Bombenhagel des Zweiten Weltkrieges zum Opfer gefallen war, wurde daher nicht aus den Augen verloren. Insbesondere dem Mannheimer Strafrechtler Werner Geisler ist es zu verdanken, dass die Juristenfakultät ihr Grundstück zurückerhalten hat und heute wieder „ihren Platz“ in der Leipziger Innenstadt einnehmen kann.30 4. Die Bibliothek Der Aufbau einer hinreichend ausgestatteten Bibliothek bedeutete eine gewaltige Herausforderung, der sich insbesondere der Heidelberger Strafrechtler Olaf Miehe in bewundernswerter Weise gestellt hat. Nach dem Zweiten Weltkrieg war durch die Leipziger Universitätsbibliothek kaum juristische Literatur aus dem Westen erworben worden. Und die Bibliothek des Reichsgerichts war für wenig Geld in alle Winde verstreut worden. Auf Grund vieler Bettelbriefe, die an Universitätsbibliotheken und Privatpersonen verschickt wurden, trafen aus ganz Deutschland Spenden ein. Nach und nach gelang es so, wenigstens eine Art Grundstock zu bilden, um die Fakultät mit dem Nötigsten zu versorgen. Mit jenem Mangel an Büchern ging ein offenbar nicht sehr kooperatives Verhalten der Universitätsleitung im Vorgründungsstadium der Juristenfakultät einher. In einem Brief vom Februar 1997 berichtet Werner Geisler an den Dekan der Juristenfakultät, dass es ihm – offenbar mangels signalisierten Interesses – 1991 / 92 nicht 29 30
Weitere Lehrstühle befanden sich im Gebäude Schillerstraße 6. Vgl. Protokoll Nr. 9 v. 22. 9. 1992, S. 1 und Nr. 11 v. 18. 3. 1993, S. 4.
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möglich gewesen sei, zumindest verfügbare Teile der ehemaligen Reichsgerichtsbibliothek nach Leipzig umzuleiten. Die betreffenden Serien seien dann nach Dresden gegangen. Auch den Protokollen der Gründungskommission lässt sich entnehmen, dass die Universitätsleitung in Sachen Bibliothek immer wieder überzeugt werden musste.31 Zu den Streitpunkten gehörte insbesondere die Frage, ob die Bibliothek der Juristenfakultät einen eigenen Bibliothekar erhalten sollte.32 Trotz dieses Gegenwindes konnte zunächst im 15. Obergeschoss des Uni-Hochhauses nach und nach eine juristische Bibliothek eingerichtet werden.33 Und in der 7. Sitzung der Gründungskommission vom 22. Mai 1992 eröffnete sich eine Perspektive für die Einrichtung der juristischen Fachbibliothek im Erdgeschoß des zukünftigen provisorischen Juridicums Ecke Dittrichring / Otto-Schill-Straße. Gleichzeitig rang man darum, dass der Bibliotheksausschuss, der über von der Universitätsbibliotheksleitung für die juristische Fachbibliothek vorgesehene Sondermittel entscheiden sollte, „mit mindestens einem Hochschullehrer der Juristenfakultät zu besetzten“ sei. Am 03. 07. 1992 beschloss die Gründungskommission, eine Änderung der Satzung der Universitätsbibliothek von 1991 zu beantragen, wonach die Seminarbibliothek der Juristenfakultät selbstständige Außenstelle wird. Die Forderung, „nun endlich einen juristischen Bibliothekar einzustellen“, durchzieht die Protokolle der Gründungskommission wie ein Ostinato. Der Wunsch ging schließlich im März 1993 in Erfüllung. Und im Rahmen der Sitzung der Gründungskommission vom 17. 3. 1993 gab der Vorsitzende bekannt, dass die Juristenfakultät nunmehr mit einem Ordinarius in der Bibliothekskommission vertreten sein werde. Als Vertreter der Fakultät in der Bibliothekskommission wurde Franz Häuser gewählt. Einen weiteren entscheidenden Schritt nach vorne stellte schließlich die Einrichtung der „Zweigstelle Rechtswissenschaft“ im Erdgeschoß des Gebäudes in der Otto-Schill-Straße dar, in den Räumen eines ehemalige Cafehauses mit eleganten Rundbogenfenstern und grazilen Säulen, eine angenehme „Retro-Atmosphäre“ verbreitend. Das Ringen um ein selbstverwaltetes Juristisches Seminar ist symptomatisch für das Misstrauen der Universitätsleitung gegenüber der Juristenfakultät. Was in den Alten Bundesländern als Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips selbstverständlich war – die dezentrale Regelung dezentraler Fragen – wollte man nicht kampflos aus der Hand geben. Es erstaunt daher nicht, dass sich das Rektorat auch mit dem Gedanken einer eigenen Promotionsordnung und einer eigenen Habilitationsordnung der Juristenfakultät nur schwer anfreunden konnte.34 Es ist der Universitätsleitung daher hoch anzurechnen, dass sie sich den Argumenten der Fakultät nicht verschloss und schließlich doch zustimmte.
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Vgl. Protokoll Nr. 3 v. 17. 10. 1991, S. 2. Vgl. Protokoll Nr. 3 v. 17. 10. 1991, S. 8. Vgl. Protokoll Nr. 4 v. 14. 12. 1991, S. 6. Vgl. Protokoll Nr. 12 v. 26. 4. 1993, S. 1.
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5. Die Gründungsprofessur für Strafrecht, Strafprozessrecht und Strafrechtsvergleichung a) Im Universitätshochhaus, 16. Etage Der Grundriss des ehemaligen35 Universitätshochhauses hat die Form eines gleichschenkligen Dreiecks mit abgestupften Ecken, wobei alle Seiten konkav geschwungene Wände aufweisen. Die Basis des Dreiecks mit den Treppenhäusern und Aufzügen liegt im Norden. Die sechs Räume der Gründungsprofessur für Strafrecht befanden sich im südwestlichen Schenkel der 16. Etage. Neben einem größeren Raum für studentische Hilfskräfte konnte über ein Sekretariat und vier weitere Räume für den Lehrstuhlleiter, die Gastprofessoren aus den Alten Bundesländern, für die zukünftigen „neuen“ Assistenten und für die „Alt-Leipziger“ Josef Bischof und Stephanie Petry verfügt werden. Bedingt durch eine massive Bauweise hat das Hochhaus sehr dicke Wände. Die Fenster machten daher eher den Eindruck von Schießscharten. Die Räume waren somit nicht sehr von Tageslicht durchflutet. Und die leichte Tönung der Fenster – wobei man nicht genau wusste, ob es sich hier um Staub oder um Farbe handelte – trug ein Weiteres zur „Verdunkelung“ bei. Jedoch versuchte man die Räume freundlicher zu gestalten. So brachte ein Mitarbeiter des Dekanats eines Tages „Grün“ aus einer aufgelösten Abteilung des botanischen Gartens mit. Wir arbeiteten bald inmitten von eindruckvollen exotischen Gewächsen, denen die intensive Neonbeleuchtung offenbar durchaus gut tat. Heidrun Helbig, unsere Sekretärin, brachte nicht nur ihre überragenden organisatorischen und handwerklichen (Stenographie!) Fähigkeiten ein, es gelang ihr auch, eine ausgesprochen freundliche und motivierende Stimmung zu verbreiten. Hinzu kam, dass die Ausstattung der Professur aufgrund des Hochschulerneuerungsprogramms (HEP) auch in finanzieller Hinsicht keine Wünsche offen ließ. Neben den „neuen“ Assistenten und studentischen Mitarbeitern36 erwiesen sich insbesondere auch die „Alt-Leipziger“ als ausgezeichnete und loyale Kräfte. Es erstaunt nicht, dass solch eine „schlagkräftige Truppe“ auch wissenschaftlich etwas zuwege brachte. Wir hatten zwar das Handicap, dass ich als Lehrstuhlleiter zwischen Freiburg und Leipzig pendeln musste. Jedoch hatte dies andererseits den Vorteil, dass ich, wenn ich von Montagmorgen bis Donnerstag- oder Freitagabend in Leipzig war, wirklich „mit Haut und Haar“ vor Ort und präsent sein konnte. Die Arbeitsatmosphäre wurde durch die wöchentliche „Lehrstuhl-Besprechung“ gefördert, zu deren guter Stimmung der Käsekuchen einer nahen Konditorei maßgeblich beitrug. 35 Das Hochhaus wurde im Jahr 2001 umgebaut und wird heute u. a. vom Mitteldeutschen Rundfunk („MDR“) genutzt. 36 Im Laufe der Zeit die Assistenten Torsten Ihlau, Antje Dellwig und Michael Nagel sowie die Hilfskräfte Roman Dörfler, Jan Könnecke, Liane Möller, Jan Schlösser, Arndt Sinn und Matthias Wörner.
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Zu den Sitzungen mit den Mitarbeitern kamen „Sitzungen“ mit den Kollegen „aus dem Westen“ im koreanischen Restaurant von Frau Kim. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang gern an Abende mit Olaf Miehe und Wolfgang Schild, später auch mit Wolfgang Schöne oder Harro Otto, an denen wir bei „Kims doppelt gebratener Ente“ auch über strafrechtliche Fragen, wie etwa den Aufbau des Fahrlässigkeitsdelikts, diskutierten. Eine entsprechende Skizze, von Wolfgang Schöne auf eine Serviette hingeworfen, befindet sich unter meinen Leipziger „Reliquien“. b) Strafrechtswissenschaft an der Professur Die Abfassung des Lehrbuchs „Strafrecht. Allgemeiner Teil“ wurde durch das Zusammentreffen mehrerer glücklicher Umstände möglich. Der Verlagsvertrag mit dem Heidelberger Springer-Verlag war bereits Anfang der 90er Jahre geschlossen worden.37 Zwar ließen es das Bewerbungsgeschäft nach der Habilitation, eine Vertretung in Göttingen und die Anfangsjahre in Leipzig nicht zu, zügig zur Verwirklichung des Projekts zu schreiten. Auf der anderen Seite aber hatte dies den Vorteil, dass ich auf der Grundlage der Vorlesungsgliederungen meines Freiburger akademischen Lehrers Albin Eser und meiner Vorlesungen zum Allgemeinen Teil in Göttingen und Leipzig einen Überblick über die Probleme gewinnen konnte, der mir die Verfassung eines Lehrbuchs erleichterte. Den entscheidenden Anstoß zur Verwirklichung des Vorhabens gab aber die Gewährung eines Forschungsfreisemesters im Sommersemester 1997. Ich wohnte mittlerweile im Gebäude Hauptmannstraße 3 und hatte so die Möglichkeit, mit einem kleinen Klapp-Fahrrad zwischen den Diskussionsrunden an der Professur im Dittrichring und dem Schreibtisch in der Hauptmannstraße hin und her zu pendeln. Die schriftlichen Diskussionsgrundlagen bestanden aus den Diktaten, die die Sekretärin als Rohtext niederschrieb, den ich mit dem Laptop überarbeitet hatte. Zeit hatte ich dafür während der ca. 12 Stunden, die ich wöchentlich im Zug zwischen Leipzig und Freiburg verbrachte. Ich erinnere mich an zahlreiche Freitagmorgen, an denen ich von der Hauptmann- durch die Lasallestraße, die Gustav-Maler- und die Friedrich-Ebert-Straße überquerend, durch die Kollonaden- und die Otto-Schill-Straße, an der Thomaskirche vorbei und diagonal über den Marktplatz, durch Salzgässchen und Reichsstraße zum Hallischen Tor eilte, vorbei an den Brühl’schen Hochhäusern mit der blauen altdeutschen Schrift „Mein Leipzig lob ich mir“, immer darauf vertrauend, dass die beiden Rollen des Samsonite Oyster 29“ Cartwheel dem Leipziger Kopfsteinpflaster und dem schadhaften Asphalt trotzen würden. Nach einem kurzen Blick über den „Platz der Republik“ zum mächtigen Hauptbahnhofsgebäude hi37 Verschwiegen hatte man mir damals allerdings, dass man gleichzeitig auch die Kollegen Freund (Marburg) und Köhler (Hamburg) zur Verfassung von Lehrbüchern zum StGB-AT verpflichtet hatte.
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nunter in die Unterführung, die Stufen zur Bahnhofshalle hinauf, Gleis 9, gerade noch hinein in den startbereiten Intercity. Nachdem sich der Puls etwas beruhigt hatte, konnte man den Laptop aufklappen und sich dem Text hingeben, in der Gewissheit, dass der Gedankengang allenfalls in Frankfurt oder Mannheim durch das Umsteigen unterbrochen werden würde. Bis zum Jahresende 1997 entstand so nach und nach aus Rohtexten, Diskussionen, Gesprächen, doppelt gebratenen Enten, Käsekuchen und Kaffee – ein Lehrbuch. Über das Lehrbuch hinaus brachten das wissenschaftliche „Reizklima“ sowie die zahlreichen Kontakte, die am Freiburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht geknüpft worden waren, mit vereinten Kräften auch Tagungen und Tagungsbände zu „Wirtschaftsstrafrecht und Wirtschaftskriminalität“, zu „Benedikt Carpzov“ sowie zu „Rechtlichen Initiativen gegen organisierte Kriminalität“ zu Wege, außerdem Beiträge zum materiellen Strafrecht (Schwangerschaftsabbruch, Suizid, „Mauerschützen“, Arztstrafrecht, AT-Fragen) und zum Strafverfahrensrecht (Rolle des Vorverfahrens, Kronzeugenregelung, Besondere Ermittlungsmaßnahmen gegen organisierte Kriminalität). Erwähnt sei auch die Pflege wissenschaftlicher und freundschaftlicher Kontakte nach Halle,38 nach Szeged / Ungarn39 und Izmir / Türkei40. Mit der Staats- und Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Szeged wurde ein Kooperationsvertrag geschlossen, den wissenschaftliche und persönliche Kontakte sowie eine jährliche Gastvorlesung mit Abschlussprüfung mit Leben erfüllten. Auslandsreisen führten aber nicht nur nach Szeged (1995, 1996, 1998) und Izmir (1994, 1996, 1997, 1998), sondern auch nach Budapest (1993), Odessa (1993, 1994), Wien (1995, 1996), Tartu (1995), Warschau (1995) und San Sebastian (1997). Gäste kamen aus Italien, den Niederlanden, Polen, Spanien, Süd-Korea, Ungarn, der Türkei und den Vereinigten Staaten von Amerika. Sehr gerne erinnere ich mich an den Besuch meines Warschauer Kollegen Andrzej Gaberle. Er kam mit seinem kleinen Fiat 500 Polski zu einem Zeitpunkt in Leipzig an, als dort gerade der Film „Nikolai-Kirche“ gedreht wurde. Insbesondere die revolutionären Massenszenen vor der Nikolai-Kirche wurden naturgetreu nachgestellt und endlos wiederholt. Auf unserer Fahrt von der Otto-Schill-Straße zu meiner Wohnung in der Ritterstraße unmittelbar neben der Nikolai-Kirche gab es selbst für den kleinen Fiat letztlich kein Durchkommen mehr. Es wurde allmählich dunkel und die inszenierten Befehle der Staatssicherheit und der DDR-Volkspolizei drangen in das Wageninnere. Gaberle fragte, ob denn schon wieder eine Revolution ausgebrochen sei . . .
38 Sehr gerne erinnere ich mich an gemeinsame Seminare zum Medizinstrafrecht mit dem Kollegen Hans Lilie und seinem Lehrstuhlteam und an Exkursionen mit dem Rechtshistoriker Heiner Lück und mit dem Kollegen und Mitglied der Gründungskommission Wolfgang Schild aus Bielefeld zu historischen Gerichtsstätten in der Region und im Saaletal. 39 Professor Dr. Ferenc Nagy. 40 Professor Dr. Bahri Öztürk.
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6. Dekanat vom 1. April 1994 bis zum 31. März 1995 Als Ekkehard Becker-Eberhard, der erste Dekan der neugegründeten Juristenfakultät, im Frühjahr 1994 auf mich zukam und mich mit kaum zu widerlegenden Argumenten ermunterte, als sein Nachfolger zu kandidieren, entzog ich mich der Verantwortung nicht. Ich kann mich noch gut erinnern, wie mich Becker-Eberhard nach der Wahl im Universitätshochhaus in das kleine, verschachtelte und nach meiner Erinnerung auch kaum mit Tageslicht gesegnete Dekanatszimmer begleitete. Da ich keine Erfahrung im Amt eines Dekans hatte, galt die Devise „learning by doing“. Freilich stellte ich bald fest, dass der Mitarbeiterstab des Dekanats, allen voran die äußerst tüchtige und aufmunternde Dekanatssekretärin Silke Müller, beste Arbeit leistete. So war das Amt des Dekans trotz mancher Klippe letztlich eine fruchtbare Aufgabe. Zu den Höhepunkten meiner Amtszeit gehörte die Verleihung der Ehrendoktorwürde an Wolfgang Gitter in Anerkennung seiner Verdienste um die Fakultät als Gründungsdekan und Vorsitzender der Gründungskommission. Die Festveranstaltung fand am 18. Mai 1994 im barocken Senatssaal der Universität statt. Die Laudatio hielt Kollege Christoph Degenhart. Ein weiteres sehr feierliches Ereignis war die Exmatrikulationsfeier am 21. Dezember 1994. Nach meiner Erinnerung war dies die erste Exmatrikulationsfeier nach der Wiedergründung der Fakultät. Sie wurde nicht vom Dekanat veranstaltet, sondern von den Studierenden der Fakultät selbst. Für mich war dies völlig neu, weil ich weder mit der Tradition einer Exmatrikulationsfeier vertraut war (in den sog. Alten Bundesländern hatte die „Revolution“ von 1968 Exmatrikulationsfeiern u. ä. Feierlichkeiten den Todesstoß versetzt) noch es je erlebt hatte, dass Studierende selbst eine solche Veranstaltung organisiert hätten. Jedoch vertraute ich den Abgesandten der studentischen Delegation und ich ließ mich auf die Sache ein. Es kam eine sehr stilvoll gestaltete Feier zustande, die durch die Anwesenheit des Sächsischen Staatsministers der Justiz Steffen Heitmann und der Universitätsspitze eine besondere Note erhielt und in der Überreichung einer Rose an alle Damen und Herren Absolventen ihren Höhepunkt fand – ein schönes Beispiel dafür, wie eine akademische Tradition über die Zeit der DDR fortgedauert hatte, während sie in den Alten Bundesländern einem undifferenzierten „Abschneiden der alten Zöpfe“ zum Opfer gefallen war. Als weiteres Beispiel wäre hier das „Gaudeamus igitur, iuvenes dum sumus“. . . zu nennen, mit dem die Feier zur Eröffnung des Akademischen Jahres im Gewandhaus beendet wurde und wohl auch heute noch wird. Die Versuche des Gießener Fachbereichs Rechtswissenschaft, seine Absolventen zur Teilnahme an der Exmatrikulationsfeier zu ermuntern, beginnen hingegen erst nach und nach Erfolge zu zeitigen. Zu den eher kritischen Situationen während meines Dekanats gehörte der Umzug vom Universitätshochhaus in das Gebäude am Dittrichring, zählt die Zuteilung von Räumen doch bekanntlich mit zu den größten Herausforderungen, denen sich ein Dekan stellen muss. Immerhin gelang es, die Räume im Dittrichring nach Sparten zuzuweisen. So war es relativ schnell klar, dass das Strafrecht als kleinste
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Sparte mit drei C4- und einer C3-Professur das Dachgeschoss erhalten sollte. Zur Organisation des Umzuges erklärte sich Karl-Heinz Sontowski, ein Mitarbeiter der Studienabteilung, bereit. Ich nahm sein Angebot dankbar an, denn er kannte sich bestens aus und verfügte über die notwendigen Kontakte. Falls erforderlich, setzte er sich in seinen beigen Trabant, um dorthin zu fahren, wo die Weichen gestellt werden mussten. Es gelang ihm in der Tat, den Umzug der gesamten Fakultät innerhalb der vorlesungsfreien Zeit im Sommer 1994 durchzuführen und so die Arbeitsfähigkeit der Fakultät zu „sichern“ – ein in den Jahren des Übergangs sehr oft benutztes Wort. Wen Sontowski mochte, den nahm er mit auf die Aussichtsplattform des Universitätshochhauses. Gerade für die ausländischen Gäste war es ein unvergessliches Erlebnis, von der Plattform durch die windzerzausten Haare einen Blick auf die markantesten Punkte Leipzigs zu werfen: die Braunkohlegruben, den Messeturm, den Bahnhof, das Stadion. . . . Was die Position der Juristenfakultät innerhalb der Universität anbelangte, so war es die wichtigste Aufgabe, um Vertrauen zu werben. Dies war bitter nötig, weil nicht nur der Rektor der Universität, Prof. Dr. Cornelius Weiss, die Sektion Rechtswissenschaft wegen ihrer Systemnähe zur DDR nicht in bester Erinnerung hatte. Kein Wunder, dass Weiss jede Annäherung der Juristenfakultät an politische Verantwortungsträger mit größtem Misstrauen sah. Als die Fakultät Ende 1993 voller Begeisterung dem Sächsischen Staatsminister der Justiz für seine Verdienste um den Aufbau der Justiz im Freistaat Sachsen die Ehrendoktorwürde verleihen wollte, zog der Rektor die Notbremse: solange der Minister im Amt sei, gehe das nur über seine, Weiss’, „Leiche“.41 Die Situation stabilisierte sich unverhofft am Rande eines Treffens der „klassischen Universitäten im Drei-Länder-Eck“ Leipzig-Jena-Halle im klassizistischen Treppenhaus des Löwengebäudes zu Halle. Vielleicht half auch der dargereichte hervorragende Wein aus dem Saaletal ein wenig nach. Jedenfalls kamen Cornelius Weiss und ich zwischen zwei Säulen des illustren Treppenhauses ins Gespräch. Weiss, der meine Wertschätzung genoss und mir dieselbe auch entgegenbrachte, verstand, dass den Mitgliedern der Juristenfakultät manches selbstverständlich war, was die Kollegen mit DDR-Hintergrund äußerst skeptisch sehen mussten, wie etwa – in einer pluralistischen Gesellschaft – die Nähe zu Politikern. Auf der anderen Seite konnte ich erkennen, dass wir West-Professoren viele Dinge zu naiv sahen und zu wenig die psychische Befindlichkeit der „Rest-Universität“ mitbedachten. Nachdem es in Sachen Ehrenpromotion gelungen war, eine Art Burgfrieden zu schließen, hatte die Juristenfakultät wenigstens „ein Bein“ in der Universität. Diese relative Stabilität half darüber hinweg, auch sonstige Überraschungen besser zu verkraften. Eine dieser „Überraschungen“ war die Tagung des Konzils zum Zwecke der Wiederwahl von Cornelius Weiss zum Rektor am 1. November 1994 im großen 41 Es war damals wohl sogar schon vorher ein Beschluss der Universität als Lehre aus der Vergangenheit gefasst worden, keinem lebenden Politiker eine Ehrendoktorwürde zu verleihen.
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Hörsaal 19 des inzwischen umgebauten Hörsaalgebäudes am Augustusplatz. Ich befand mich gerade vom 29. Oktober bis zum 04. November auf einer Vortragsreise in Izmir. Die Tagesordnung sah – dem sachlogischen Ablauf eines Wahlgangs durchaus entsprechend – vor, dass der Rektor zunächst seinen Rechenschaftsbericht erstatten und anschließend die Wahl stattfinden sollte. Ein von mir sehr geschätzter Kollege aus der Theologischen Fakultät, vermutlich sogar ihr Dekan, kam auf eine Idee, die für einen Theologen zwar verständlich sein mag, einem Juristen, insbesondere einem Staatsrechtler, jedoch die Haare zu Berge stehen lässt: Man möge – um Zeit zu sparen – doch schon einmal wählen, während der Rektor seinen Rechenschaftsbericht abgebe. Dies rief die Kollegen der Juristenfakultät auf den Plan. Man protestierte, es half aber alles nichts. Als das Plenum den Antrag der Juristen ablehnte, die Wahl erst stattfinden zu lassen, nachdem der Rechenschaftsbericht erstattet und diskutiert sei, kam es zum Eklat: die Juristen zogen aus. Zu diesem Zeitpunkt genoss ich in Izmir die türkische Gastfreundschaft und ergötzte mich mit meinem Freund Bahri Öztürk am Sonnenuntergang auf der Ägäisinsel Kuschadase bei einem Glas Yeni Rake. Kurz nach meiner Rückkehr begegnete mir beim Durchqueren des betonreichen Innenhofes des Hörsaalgebäudes Prorektor Günther Wartenberg. In seiner herzlichen Art kam er auf mich zu, baute sich in seiner vollen Größe mit ausgebreiteten Armen vor mir auf und teilte mir nicht ohne ein gewisses Augenzwinkern mit: „Man hat wieder einmal gemerkt, dass wir eine Juristenfakultät haben . . .“. Denkt man an diese Zeit zurück, dann gewinnt die Tatsache, dass es mit Franz Häuser ein Gründungsprofessor der Juristenfakultät ist, der als Rektor der Universität Leipzig ihr 600jähriges Bestehen feiert, eine ganz besondere Bedeutung. IV. Und die Familie? Eva, die Kinder und ich, wir betrachteten es von vornherein als einen Kompromiss, dass ich den Ruf nach Leipzig annahm, ohne dass die Familie gleich nachfolgen konnte. Aus familiärer Sicht gab es nach meinem Dienstantritt in Leipzig somit drei „Baustellen“: die Kinder (I), die Suche nach Wohnraum für die Familie (II) und Evas Berufstätigkeit als Lehrerin (III). 1. Eine Schule für die Kinder In Freiburg besuchten unsere Kinder die Freie Waldorfschule, Friederike die fünfte, Margarete die vierte Klasse. Benedikt war gerade zweieinhalb Jahre alt. Das Leipziger Schulamt konnte die Waldorfschule als Schultyp damals nicht einordnen. Obwohl unsere Töchter mit zu den besten Schülern ihrer Klasse zählten, gab man uns zu verstehen, dass sie in Leipzig die Mittelschule würden besuchen müssen, das Gymnasium komme nicht in Frage. Diese Ansicht äußerte aber nicht etwa ein Amtsträger mit DDR-Vergangenheit, sondern ein beamteter Aufbauhelfer
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aus den Alten Bundesländern. Mit Beharrlichkeit erreichte ich es schließlich, dass man die beiden Mädchen zumindest zu einer Aufnahmeprüfung an eine Leipziger Schule mit gymnasialer Oberstufe einlud. Durch den Epochenunterricht der Waldorfschule wies der Kenntnisstand unserer Töchter nun Stärken, aber auch deutliche Schwächen auf. Letztere bezogen sich insbesondere auf das Fach Mathematik. Letztlich bestanden Friederike und Margarete die Aufnahmeprüfung, sie bestanden sie jedoch nicht mit der Note „Gut“, was Voraussetzung für eine Aufnahme gewesen wäre. Der Baustelle „Kinder“ und dem „Projekt Leipzig“ drohte damit die Schließung. Hier kam nun Karl-Heinz Sontowski eine rettende Idee: Wir fuhren in seinem Trabi zur wohl traditionsreichsten Schule in Leipzig. Dort strebte er zielsicher dem Büro der Schulleiterin zu. Als auf unser Anklopfen niemand antwortete, trat Sontowski dennoch ein – mich immer im Schlepptau. Mir war die Sache ziemlich peinlich. Es sollte aber alles ganz anders kommen, als ich dachte. Die Schulleiterin begrüßte „Karl-Heinz“ und mich ganz freundlich. Es entwickelte sich ein Gespräch unter den Leipzigern über dies und das. Schließlich bedeutete mir die Schulleiterin, dass man selbstverständlich gerne bereit sei, unsere Töchter zumindest probeweise am Unterricht teilnehmen zu lassen. Man werde dann schon sehen, ob sie den Anforderungen gewachsen seien. Beim Verlassen des Gebäudes begleitete uns die Schulleiterin bis zur Treppe am Eingang. Auf der obersten Stufe stehend und mit „Karl-Heinz“ in die Ferne blickend fragte sie ihn, wie denn die Situation an der Juristenfakultät sei. Sie habe einen sehr guten Schüler, der gerne Jura studieren wolle. . .. Dies sei gar kein Problem, meinte er, der Schüler müsse sich nur anmelden. . . Damit sagte er die Wahrheit, denn der Zugang zur Juristenfakultät war nicht durch einen Numerus clausus beschränkt. Auf der anderen Seite hatte er aber sein Ziel, unsere Kinder an eine gute Schule in Leipzig zu vermitteln, erreicht. 2. Wohnen Die Ein-Raum-Wohnung in der Ritterstraße war für eine Person eine bequeme Lösung. Jedoch war klar, dass dies keine Dauereinrichtung sein konnte. Ich suchte deshalb nach einem Grundstück, um darauf ein „Haus für die Familie“ zu bauen. Ich hatte erfahren, dass in Markkleeberg, im Süden von Leipzig, Baugrundstücke angeboten würden, man müsse sich nur an das Bürgermeisteramt wenden. Zufällig hatte ich beim wöchentlichen Warten auf den Nachtzug in Freiburg einen Öko-Architekten kennen gelernt. Er zeigte sich an meinen Hausbauplänen sehr interessiert und bot seine Dienste für die Planung an. Als dann in Markkleeberg über die Zuweisung der Grundstücke beraten wurde, stellte sich zu meiner großen Überraschung heraus, dass auch der Freiburger Architekt Interesse zeigte – und zwar gleich für mehrere Baugrundstücke. Man war daraufhin so verärgert, dass die Gemeinde Markkleeberg weder mir noch dem Freiburger Architekten auch nur ein Grundstück anbot. Natürlich war ich zunächst sehr enttäuscht und ärgerte mich über den Vertrauensbruch meiner „Reisebekanntschaft“.
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3. Perspektivenwechsel Erst später erkannte ich, dass mich das Scheitern jenes Grundstückserwerbs vermutlich vor großen Schwierigkeiten bewahrt hatte. Denn auf der Baustelle „Lehrertauschverfahren“ tat sich nicht viel. Gemäß einer so genannten „Bemühenszusage“ in meiner Berufungsvereinbarung vom Dezember 1992 versuchte das Wissenschaftsministerium zwar in der Tat darauf hinzuwirken, Eva im Rahmen des Lehrertauschverfahrens eine Stelle anzubieten. Aber nach und nach wurde klar, dass es die Staatsregierung den Bürgern nicht vermitteln konnte, wegen des „Überschusses“ an einheimischen Lehrern einerseits sächsische Lehrer auf reduzierten Stellen zu beschäftigen oder gar zu entlassen und andererseits Lehrer aus dem Westen im Rahmen der Familienzusammenführung nach Sachsen zu holen. Es hatte nur niemand den Mut, mir das offen zu sagen. Somit musste selbst entschieden werden. Ich setzte mir deshalb einen Termin, an dem ich das Ruder herumwerfen musste: Sollte sich nicht zwei Jahre nach meiner Berufung, d. h. am 1. April 1995, eine konkrete Perspektive für die Übernahme Evas in den sächsischen Schuldienst in Leipzig oder Umgebung ergeben, müssten jedenfalls die „großen Brötchen“ in Richtung Familiennachzug aufgegeben und bzgl. des Wohnens „kleine Brötchen“ gebacken werden. In diesem Sinne zog ich Ende 1995 in eine 2-Raum-Wohnung im Gebäude Hauptmannstraße 3, 3. OG links um. Die sehr schöne Wohnung mit einem großen Balkon lag nach Süden, Hofseite, und war dadurch sehr ruhig und sonnig. Eva und die Kinder kamen sehr gerne in die Hauptmannstraße zu Besuch. Letztlich war dies eine komfortable Lösung, denn es zeichnete sich ab, dass ich eine Chance für eine Berufung nach Gießen haben würde. Ende 1997 erhielt ich den Gießener Ruf. V. Abschied Dass die familiäre Situation eine Fortsetzung der Leipziger Jahre nicht zuließ, fand überall großes Verständnis. Der Abschied von Leipzig war deshalb weniger eine Trennung als ein Aufbruch zum Weiterwandern. In Leipzig blieben auch keine enttäuschten Erwartungen zurück, sondern Kollegen und Freunde, zu denen man gerne zurückkehrt. So besehen waren die Leipziger Gründungsjahre für mich eine wertvolle und prägende Lebens-Erfahrung. Wir haben uns herzlich voneinander verabschiedet: bei einer Vorlesung, die im „Haus der Wissenschaftler“, der heutigen „Villa Tillmanns“, ausklang, und bei einem „Familientreffen“ mit dem Lehrstuhl im Restaurant Kim, wobei Frau Kim im Foyer des Leipziger Opernhauses servierte. Die Kontakte zu den „Leipzigern“ sind nicht abgebrochen, zumal sich zwei Assistenten mit auf den Weg nach Gießen begeben haben.42 Als Eva 2005 starb, haben wir uns auf der Trauerfeier herzlich in 42 Arndt Sinn und Liane Wörner, geb. Möller. Arndt Sinn wurde 2006 an die Viadrina nach Frankfurt (Oder) berufen und ist heute Ordinarius in Osnabrück.
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die Arme genommen. Auch dieser Bericht konnte nur Dank der freundlichen und zugeneigten Unterstützung meiner „Leipziger Familie“ geschrieben werden. Insgesamt war die Leipziger Zeit rückblickend eine aufregende, begeisternde und glückliche. Wir haben als junge Professoren manche Fehler gemacht, wir haben aber manches auch richtig gemacht. Die Juristenfakultät hat 600 Jahre überstanden, und dank der Tüchtigkeit der hier immer wieder ankommenden erwartungsvollen Menschen – Studenten, Assistenten, Professoren, nicht zu vergessen aber auch die in der Verwaltung und Technik Angestellten – dürfen wir zuversichtlich sein, dass die Alma Mater Lipsiensis noch viele Jahre voller Dynamik vor sich hat: vivat, floreat, crescat – ad multos annos!
Autorenverzeichnis Prof. Dr. Ekkehard Becker-Eberhard, Juristenfakultät der Universität Leipzig, Burgstraße 27, 04109 Leipzig Prof. Dr. Christian Berger, Juristenfakultät der Universität Leipzig, Richter am Oberlandesgericht Dresden, Burgstraße 27, 04109 Leipzig Prof. Dr. Uwe Berlit, Richter am Bundesverwaltungsgericht, Honorarprofessor der Juristenfakultät der Universität Leipzig, Simsonplatz 1, 04107 Leipzig Prof. Dr. Burkhard Boemke, Juristenfakultät der Universität Leipzig, Burgstraße 27, 04109 Leipzig Privatdozent Dr. Ralf Brinktrine, Juristenfakultät der Universität Leipzig, Windmühlenweg 11, 04683 Naunhof Prof. Dr. Christoph Degenhart, Juristenfakultät der Universität Leipzig, st.v. Mitglied des Sächsischen Verfassungsgerichtshofs, Burgstraße 27, 04109 Leipzig Prof. Dr. Tim Drygala, Juristenfakultät der Universität Leipzig, Burgstraße 27, 04109 Leipzig Prof. Dr. Christoph Enders, Juristenfakultät der Universität Leipzig, Burgstraße 27, 04109 Leipzig Prof. Dr. Karl-Heinz Fezer, Universität Konstanz, Honorarprofessor der Juristenfakultät der Universität Leipzig, Universitätsstraße 10, 78457 Konstanz Prof. (em.) Dr. Rudolf Geiger, Juristenfakultät der Universität Leipzig, Waldstraße 38, 82110 Germering Prof. (em.) Dr. Dr. h.c. Wolfgang Gitter, Universität Bayreuth, Gontardstraße 32, 95445 Bayreuth Prof. (em.) Dr. Helmut Goerlich, Juristenfakultät der Universität Leipzig, Haldenegg 1, 72525 Münsingen Prof. Dr. Horst-Peter Götting LL.M. (London), Technische Universität Dresden, Honorarprofessor der Juristenfakultät der Universität Leipzig, Richter am Oberlandesgericht Dresden, TU Dresden, Juristische Fakultät, 01062 Dresden Prof. Dr. Walter Gropp, Justus-Liebig-Universität Gießen, Licher Straße 76, 35394 Gießen Prof. Dr. Stefan Haack, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Münzgasse 3, 04107 Leipzig Prof. Dr. Lutz Haertlein, Juristenfakultät der Universität Leipzig, Burgstraße 27, 04109 Leipzig Prof. Dr. Franz Häuser, Juristenfakultät der Universität Leipzig, Rektor der Universität Leipzig, Burgstraße 27, 04109 Leipzig Prof. Dr. Bettina Heiderhoff, Universität Hamburg, Schlüterstraße 28, 20146 Hamburg
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Autorenverzeichnis
Dr. h.c. Eckart Hien, Präsident des Bundesverwaltungsgerichts a.D., Baseler Straße 114, 12205 Berlin Prof. Dr. Michael Kahlo, Juristenfakultät der Universität Leipzig, Burgstraße 27, 04109 Leipzig Prof. Dr. Bernd-Rüdiger Kern, Juristenfakultät der Universität Leipzig, Burgstraße 27, 04109 Leipzig Prof. Dr. Diethelm Klesczewski, Juristenfakultät der Universität Leipzig, Burgstraße 27, 04109 Leipzig Prof. Dr. Wolfgang Köck, Juristenfakultät der Universität Leipzig, Burgstraße 27, 04109 Leipzig Prof. Dr. Markus Kotzur, Juristenfakultät der Universität Leipzig, Burgstraße 27, 04109 Leipzig Prof. Dr. Justus Meyer, Juristenfakultät der Universität Leipzig, Burgstraße 27, 04109 Leipzig Prof. Dr. Georg Nolte, Humboldt-Universität zu Berlin, Mitglied der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen, Unter den Linden 6, 10099 Berlin Prof. (em.) Dr. Martin Oldiges, Juristenfakultät der Universität Leipzig, Mitglied des Sächsischen Verfassungsgerichtshofs, August-Bebel-Straße 31, 04275 Leipzig Prof. Dr. Frank Rottmann, Rechtsanwalt, Leipzig, Honorarprofessor der Juristenfakultät der Universität Leipzig, Springerstraße 11, 04105 Leipzig Prof. Dr. Dr. h.c. Georg Sandberger, Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Universitätskanzler a. D., Hakenweg 35, 72070 Tübingen Prof. Dr. Wolfgang Schild, Universität Bielefeld, Postfach 100131, 33501 Bielefeld Prof. Dr. Harry Schmidt, Rechtsanwalt, Berlin, Honorarprofessor der Juristenfakultät der Universität Leipzig, Potsdamer Platz 1, 10785 Berlin Regierungsdirektor Privatdozent Dr. Roman Schmidt-Radefeldt, Fachhochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Mannheim, Schleiermacherstraße 5, 68165 Mannheim Privatdozent Dr. Adrian Schmidt-Recla, Juristenfakultät der Universität Leipzig, Juristenfakultät, Burgstraße 27, 04109 Leipzig Prof. Dr. Hendrik Schneider, Juristenfakultät der Universität Leipzig, Juristenfakultät, Burgstraße 27, 04109 Leipzig Prof. (em.) Dr. Walter Schönrath, Rechtsanwalt, Leipzig, Manetstraße 19, 04109 Leipzig Prof. Dr. Eva Schumann, Georg-August-Universität Göttingen, Weender Landstraße 2, 37073 Göttingen Prof. Dr. Holger Stadie, Juristenfakultät der Universität Leipzig, Burgstraße 27, 04109 Leipzig Prof. Dr. Reinhard Welter, Juristenfakultät der Universität Leipzig, Burgstraße 27, 04109 Leipzig