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German Pages 510 Year 1996
THOMAS KURZ
Feindliche Brüder im deutschen Südwesten
BERLINER HISTORISCHE STUDIEN Herausgegeben vom Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin und dem Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin
Band 23
Feindliche Brüder im deutschen Südwesten Sozialdemokraten und Kommunisten in Baden und Württemberg von 1928 bis 1933
Von
Thomas Kurz
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Kurz, Thomas:
Feindliche Brüder im deutschen Südwesten : Sozialdemokraten und Kommunisten in Baden und Württemberg von 1928 bis 1933 I von Thomas Kurz. - Berlin : Duncker und Humblot, 1996 (Berliner historische Studien; Bd. 23) Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1994 ISBN 3-428-08524-8 NE:GT
Alle Rechte vorbehalten
© 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6941 ISBN 3-428-08524-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
9
Vorwort Vorliegende Studie ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 1994 unter dem gleichen Titel von den Philosophischen Fakultäten der Albert-Ludwigs-Universtität Freiburg i. Br. angenommen wurde. Ein Vorwort ist nicht zuletzt der Ort des Dankes. Als erstes gebührt dieser meinem Lehrer und Doktorvater, Herrn Professor Dr. Heinrich August Winkler, bei dem ich das Handwerk des Historikers von der Pike auf erlernen durfte, und auf den die erste Anregung zu dieser Arbeit zurückgeht. Sodann danke ich ganz besonders der Friedrich-Ebert-Stiftung, die meinen akademischen Werdegang vom Grundstudium bis zur Promotion gefordert hat. Zuletzt wurde mir mit einem Herbert-Wehner-Stipendium auch noch ein Zuschuß zu den Druckkosten dieses Buches gewährt. Ohne diese wertvolle Unterstützung hätte ich mein gesamtes Studium nicht in der gleichen Weise absolvieren können. Ebenfalls danken möchte ich dem Deutschen Akademischen Austauschdienst für ein Forschungsstipendium im damaligen Ostberlin. Einbeziehen in meinen Dank möchte ich auch die Mitarbeiter der zahlreichen Archive, die mich bei der oft schwierigen Materialsuche unterstützt haben. Wichtig war der ständige Austausch mit den Freiburger Freunden, von denen ich vor allem Dr. Edgar Wolfrum nennen möchte, der auch das Manuskript gelesen und mich auf Ungenauigkeiten aufmerksam gemacht hat. Zu Dank verpflichtet bin ich schließlich der Humboldt-Universität zu Berlin. In großer Schuld stehe ich vor allem bei meiner Familie, die die mehrjährige Arbeit an meiner Dissertation ertragen mußte. Meiner Frau Andrea sowie meinen Töchtern Friederike und Elisabeth sei das Buch daher gewidmet.
Kampala, im Herbst 1995
Thomas Kurz
Inhaltsverzeichnis Einleitung ..... .. ....... ....... ... .. .... .. . .... . ............................................................... .
13
Konsolidierung und Erschütterung: Die südwestdeutsche Arbeiterbewegung im Jahre 1928 ..........................................................................
20
1. Ausgangsbedingungen ............................................................................
20
a) Die Wirtschatls- und Sozialstruktur Badens wld Württembergs .........
20
b) Die Arbeiterbewegung .... ... ... ................ .............. ......................... .....
26
2. Die KPD um die Jahreswende 1927/28 ...................................................
34
a) Noch einmal gegen die Linke: Die badischen Kommunisten ..............
34
b) Brüchige ,,Normalisierung": Die KPD in Württemberg .....................
45
3. Ein hoffoungsvoller Beginn: Die Sozialdemokraten im Zenit ...................
58
a) hn zehnten Regierwlgsjahr: Die badische SP]) ..................................
58
b) Gegen "Biirgerblock-' W1U "schwarz-blauen Reaktionsblock": Die württembergische SP!) .. ....... .... .... ............ .. ................................. ... ..
64
4. Zwischen Triumph und Ohnmacht: Die J""ahlen vom 20. Mai 1928 ..........
70
a) Diskussionen um die badische Koalition ...........................................
82
I.
b) Sozialdemokraten im Abseits: Die Regierungsbildung in Württem~ .................................................................................................
~
5. Eine lerreißprobe fur die SPD: Panzerkreuzer A und Wehtprogramm ....
91
II. Hindernisse auf dem Weg nach Links: Die Kämpfe unter den württembergischen Kommunisten von 1928 bis 1930 ...........................................
121
1. Gegen die verordnete Linie: Die Stuttgarter Metallarbeiter .....................
121
2. f)ie Spaltung nimmt ihren JB1{( ...............................................................
126
3. f)ie Wiirttemhergischell Gemeillderatswahlen im Dezember 1928 .............
132
8
Inhaltsverzeichnis 4. Der große Hinauswuif ............................................................................
138
5. "Durchbruch zum Vormarsch auch in Warttemberg": Der Bezirksparteitag .........................................................................................................
149
6. Ein nachgelieferter Beleg: Die Wirkung des Berliner "Blutmai" .............
152
7. Die warttembergischen Kommunisten nach der Spaltung ........................
163
8. Zum Vergleich: Die ultralinke Wende in Baden .......................................
179
III. Von der badischen Landtagswahl im Oktober 1929 bis zur Reichstagswahl vom September 1930 ........................................................................
193
1. Noch einmal" Weimar ": Badische Landtagswahl im Oktober 1929 ........
193
a) Der Wahlkampf ................................................................................
193
b) Das Ergebnis .. .. ................................ ....... .... ..................... ........ ... .....
200
c) Die Regierungsbildung .. .............................. ....................... ..............
209
2. Die sadwestdeutschen Sozialdemokraten vor Einbruch der Krise ............
218
a) Der Stand der Organisation ..............................................................
218
b) Reaktionen auf die "große Politik": Nationalsozialisten, Resignation der Regierung Müller und das Kabinett Brüning .............................. .
222
3. Die Reichstagswahl vom 14. September 1930 .........................................
239
a) Konununistischer Wahlkampf mit "gestohlenen Parolen" .................
239
b) Die "Vernunft" entschied nicht: Das Ergebnis der Reichstagswahl ....
244
c) Erste Situationsanalysen und Strategiediskussionen ...................... ....
261
IV. Strategien in der Dauerkrise: Die Zeit bis zur Jahreswende 1931/32 .....
271
1. Die Tolerierung der Regierung Brüning durch die SPD ..........................
271
2. Badische Gemeindewahlen vom November 1930 als Prüfstein ...... ........ ...
278
a) Keine Trendwende: Ein Erfolg für die NSDAP .... ...... ..... .... ......... .....
278
b) Ein neuerlicher Verweis für die badischen Konununisten .................
281
3. Gegen den Trend: Kurt Schumachers Mobilisierungskampagne ..... .........
287
4. Kritische Monate für die Sozialdemokratie
291
a) Die Tolerierungspolitik im Widerstreit
291
InhaltsveIZeichnis
9
b) Die Notverordnung vom 5. Juni 1931 ...............................................
294
c) Die badische Regierungsumbildung und die Notverordnung vom Sommer1931 ..........................................................................................
298
5. Die Regienmgspolitik der badischen Sozialdemokraten ............ ..............
306
6. Erosion an den Rändern der Sozialdemokratie ................................. .... ..
316
7. Erwin Eckert: Ein Prophet aufpolitischer Bühne ...................................
321
8. Parole "Einheit" ....................................................................................
334
9. Die württembergischen Gemeindewahlen vom 6. Dezember 1931 ............
338
10. Zur organisatorischen Lage der Arbeiterparteien in der Krise ...............
349
a) Die KPD in Baden und Württemberg ...... ... ........... ........... ........ .........
349
b) Die sozialdemokratischen Parteiorganisationen Badens und Württembergs ................................................................................................
367
V. Politik im Ausnahmezustand: Von der Wahl des Reichspräsidenten im Frühjahr 1932 bis zum Ende der Republik .. ....................... ................. .....
372
1. Die Reichspräsidentenwahl im März und April 1932 ..............................
372
2. Die württembergischen Landtagswahlen vom 24. April 1932 ..................
381
3. Keine Atempause bis zur Reichstagswahl am 31. Juli 1932 ..... ........ ........
389
a) ,,Antifaschistische Aktion" und ,,Burgfrieden" ..................................
389
b) Die Reichstagswahl vom 31. Juli 1932 ....... ............. ............ ....... ........
399
4. Wieder zu den Urnen: Die Reichstagswahl vom 6. November 1932 .........
410
a) Politische Auseinandersetzungen und der Wahlkampf .......................
410
b) Ein Wendepunkt? - Die Reichstagswahl vom 6. November 1932 ......
415
5. "Mehr als ein Konkordatsstreit": Das Ende der badischen Koalition .....
423
6. Die letzte Etappe des Untergangs ................................ .... .......................
438
a) Die Bilanz der Kommunisten ............................................................
438
b) Der 30. Januar 1933 und der Wahlkampf zur Reichstagswahl.............
443
c) Die Reichstagswahl vom 5. März 1933 .............................................
455
d) Das Ende ................................ .. .................................................. .. ....
461
10
Inhaltsverzeichnis
Schlußwort
472
Quellen- und Literaturverzeichnis
477
Archive ............................................................... ...................................... .
477
Statistiken, Protokolle, Jahrbücher ........................... ...................... ... .........
478
Quelleneditionen und zeitgenössische Schriften ................................. ..... .. ...
480
Erinnerungen ........................................................ .. ....................................
482
Tageszeitungen und Zeitschriften ............................ ........ .................... ........
483
Hektographierte kommunistische Zeitungen ........................... ................. ....
484
Sekundärliteratur ........................................................................................
485
Register ...... ......... ...................... ....... ........................................................... ....
502
Ortsregister ...... ..........................................................................................
502
Personenregister ...................................................................... ...................
505
Abkürzungsverzeichnis AD
= Das Andere Deutschland
ADGB
= Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund
AiS
= Archiv für Sozialgeschichte
AsD
= Archiv der sozialen Demokratie
AsL
= Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Lehrer
AT
= ArbeitertribÜlle
AZ
= Arbeiterzeitung
BA
Bundesarchiv
BL
Bezirksleitung
DFG
Deutsche Friedensgesellschaft
DMV
Deutscher Metallarbeiterverband
DNVP
Deutschnationale Volkspartei
DVP
Deutsche Volkspartei
DW
Donauwacht
EKKI
Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale
FP
Freie Presse (Pforzheim)
FP (R)
Freie Presse (Reutlingen)
FZ
Frankfurter Zeitung
GdS
Gegen den Strom
GG
Geschichte und Gesellschaft
GLA
Generallandesarchi v
HStA
Hauptstaatsarchiv
IAH
Internationale Arbeiterhilfe
IfGA
Institut für die Geschichte der Arbeiterbewegung
IWK
Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung
Komintern
= Kommunistische Internationale
12
AbkÜl"ZUngsvelZeichnis
KPD
Kommunistische Partei Deutschlands
KPO
Kommunistische Partei Deutschlands/Opposition
KV
Konstanzer Volksblatt
LK
Landeskommissariat
MdL
Mitglied des Landtags
MdR
Mitglied des Reichstags
NSDAP
= Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei
NL
= Nachlaß
RFB
Roter Frontkämpferbund
RGI
Rote Gewerkschaftsinternationale
ROO
Rote Gewerkschaftsopposition
SA
Stunnabteilung
SAB
Staatsarchiv Bremen
SAJ
Sozialistische Arbeiterjugend
SAP
Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands
SAV
Sonntagsblatt des arbeitenden Volkes
SAZ
Süddeutsche ArbeitelZeitung
SPD
Sozialdemokratische Partei Deutschlands
SS
Schutzstaffel
StA
Stadtarchiv
STW
Schwäbische Tagwacht
SVW
Schwarzwälder Volkswacht
USPD
Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands
VF
Volksfreund
VW
Volkswacht
VZ
Volkszeitung
VZfE
= VolkszeitungfEßlingen
ZOO
= Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins
ZGS
= Zeitschrift für Geschichte
ZK
= Zentralkomitee
ZPA
= Zentrales Parteiarchiv
Einleitung In die Entstehungszeit der vorliegenden Arbeit fielen Ereignisse von historischem Gewicht, von denen vor allem das Ende des SED-Regimes und des Kommunismus als Staatsdoktrin überhaupt nicht ohne Einfluß auf unsere Sicht der Geschichte der Arbeitetbewegung ist. Das bedeutet keineswegs, daß diese Geschichte umgeschrieben werden müßte; aber einige Akzente haben sich verlagert. Sicherlich war zuvor ein wichtiges Movens die Auseinandersetzung mit der Geschichtsschreibung der DDR. Dieser Widerpart existiert nicht mehr in dieser Form, wobei er auch zuletzt schon nicht mehr dasselbe Gewicht hatte wie in den Jahrzehnten zuvor. Diese neue Situation eröffnet der Forschung neue Chancen. Am handgreiflichsten sind diese beim Zugang zu ehemaligen DDR-Archiven, woraus auch die vorliegende Arbeit entscheidenden Nutzen ziehen konnte. Komplizierter ist die Definition dieser Chancen in inhaltlicher Hinsicht. Das Verschwinden der Rudimente der Schützengräben aus dem Kalten Krieges macht die Sicht auf die Geschichte freier - aber auch schwieriger. Zunächst sah es so aus, als könne der historische Konflikt zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten "unbefangener" angegangen, als könne er an seinem historischen Ort belassen, gewissermaßen "historisiert" werden. Inzwischen scheint indes das Bestreben an Boden zu gewinnen, mit dem historisch unterlegenen Gegner nun endgültig "aufzuräumen". Da gilt es in guter historistischer Tradition eine Warnung zur Vorsicht auszusprechen: Die Beschäftigung mit der Weimarer Republik lehrt auch, wie fremd uns deren politische Kultur und wie groß der historische Abstand mittlerweile ist. Zur Untermauerung dieses Befundes liefert die vorliegende Arbeit vielleicht einen kleinen Beitrag. Hier sei nur noch auf den einen Punkt hingewiesen, welche Bedeutung gerade auf seiten der Arbeiterbewegung der politische "Glaube" hatte. Auch die Weimarer Sozialdemokratie ist ohne ihren häufig und bis zuletzt beschworenen "sozialistischen Glauben" kaum zu· verstehen. Der Untersuchungszeitraum umfaßt mit den Jahren 1928 bis 1933 eine Zeitspanne, die vom Höhepunkt der relativen Stabilisierung der Republik, wie er sich besonders in den Reichstagswahlen vom Mai 1928 zeigte, bis zur Machtübertragung an die Regierung Hitler, die ja zunächst einmal vor allem fiir die Arbeiterparteien eine Katastrophe ohnegleichen bedeutete. Während
14
Einleitung
die SPD Anfang 1928 mit deutlich zur Schau getragenem Selbstbewußtsein die Regierungsverantwortung im Reich anstrebte und dann auch übernahm, läutete die Reichstagswahl vom September 1930 eine Phase des zermürbenden Abwehrkampfes aus der Defensive zur Erhaltung der Republik und zur Verhinderung einer Machtergreifung durch die Nationalsozialisten ein. Die Jahre seit 1928 brachten zudem einen neuen Kulminationspunkt der Feindschaft zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten mit sich. Ideologischen Ausdruck fand diese Kluft vor allem in der 1928 vollzogenen ultralinken Wende der kommunistischen Generallinie, deren letztliche Annahme jedoch erst ermöglicht wurde durch die zunehmende Radikalisierung der Arbeiterschaft während der Krise, die der KPD auch in Baden und Württemberg einen seit der Inflationszeit nicht mehr gekannten Aufschwung brachte. Augenfälligstes Ergebnis dieser Entwicklung war die erst in diesen Jahren erfolgte oder zumindest angestrebte Spaltung auch der Arbeitersport- und Kulturbewegung und der Gewerkschaften. Keine Untersuchung zur Geschichte der Arbeiterbewegung in diesem Zeitraum kann an der Frage vorbeigehen, die von den Zeitgenossen ohne Unterlaß erörtert und propagiert wurde und die auch in der retrospektiven Betrachtung und nicht zuletzt in der bisherigen Forschung häufig eine entscheidende Rolle gespielt hat, nämlich ob in den letzten Jahren der Weimarer Republik eine proletarische Einheitsfront zur Abwehr des Nationalsozialismus möglich gewesen wäre, und wenn ja, woran diese gescheitert ist. Eines kann hier vorweg genommen werden: Die vorliegende Arbeit geht auf das Thema ein, stellt es aber nicht in den Vordergrund; die Frage nach der Möglichkeit einer Einheitsfront zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten kann gerade in Kenntnis der regionalen und lokalen Quellen getrost schon zu Beginn verneint werden. Das methodische Vorgehen beruht auf einem doppelt komparatistischen Ansatz. Damit soll der Gefahr der Eindimensionalität, der gelegentlich Darstellungen zur Geschichte politischer Parteien erlegen sind, begegnet werden. Zum einen wird das Verhältnis der beiden Arbeiterparteien SPD und KPD zueinander, die wechselseitige Perzeption und die Reaktionen auf jeweilige Handlungen auf den unterschiedlichen Aktionsebenen, vom Parlament bis zu den Gewerkschaften, untersucht. Unumgänglich ist es dabei, auch die jeweils eigene Entwicklung der Parteien zu verfolgen, auch wenn diese nicht in erster Linie in Beziehung zur Auseinandersetzung mit dem politischen Konkurrenten innerhalb der Arbeiterschaft steht, wie Z.B. die Regierungspolitik der SPD. Weitere Tiefenschärfe bezieht das sich dabei ergebende Bild aus der vergleichenden Betrachtung der beiden südwestdeutschen Länder Baden und Württemberg. Bei aller sozialstrukturellen Ähnlichkeit verlief die politische und wirtschaftliche Entwicklung in beiden Ländern in der Weimarer Republik
Einleitung
15
doch so unterschiedlich, daß von einem Vergleich signifikante Aufschlüsse über die Arbeiterbewegung zu erwarten sind; hier sie nur darauf verwiesen, daß die SPD in Baden bis Ende 1932 Regierungsverantwortung trug, während die württembergischen Sozialdemokraten seit Anfang der zwanziger Jahre durchgehend in der Opposition standen. Die vergleichende Betrachtungsweise soll allerdings nicht überstrapaziert werden; soweit keine für die Thematik relevanten Unterschiede zu verzeichnen sind, werden beide Länder gemeinsam behandelt. Die spezifischen Vorteile einer regional geschichtlichen Untersuchung liegen auf der Hand: Auf einer "mittleren" Betrachtungsebene, zwischen überregionaler und lokaler Perspektive, lassen sich einmal die Ergebnisse der Forschung auf Reichsebene differenzieren und je nach Lage bestätigen oder widerlegen, und zum anderen wird die häufig doch enge Sichtweise lokalhistorischer Arbeiten vermieden. Zudem ist bei einem regional begrenzten Untersuchungsgegenstand, wie ihn die beiden südwestdeutschen Länder darstellen, der Versuch leichter, politische Entwicklungen aus sozialgeschichtlichen Gegebenheiten heraus zu erklären. Ein Vergleich der Wirtschafts- und Sozialstruktur Badens und Württembergs kann zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen: Im reichsweiten Maßstab ähnelten sich beide Länder weitgehend, was die vorherrschenden Industriebranchen, vor allem das Fehlen einer Schwerindustrie, die dezentrale Industrieansiedlung, die in weiten Gebieten noch starke Bindung an die Landwirtschaft auch bei Industriearbeitern und so weiter betrifft.! Auf der anderen Seite kann man gerade im Hinblick auf die hier interessierende Zeitspanne, und das ist für den Vergleich aufschlußreicher als die Gemeinsamkeiten, mit Thomas Schnabel zu dem Schluß kommen: "Ob es sich um die Regierungskoalition oder Regierungspolitik handelt, ob es um den Aufstieg der NSDAP ... geht, oder ob man sich mit der wirtschaftlichen Entwicklung beschäftigt: In Baden war fast alles anders als in Württemberg. ,,2 Diese Unterschiede kommen allerdings in bezug auf den Untersuchungsgegenstand Arbeiterbewegung nur bedingt zum Tragen; wie zu zeigen sein wird, wirkten sie sich hier vor allem auf die politische Ausrichtung der Kommunisten aus. Die Sozialdemokraten dagegen waren in beiden Ländern traditionell "reformistisch" gesonnen und zu Koalitionen mit bürgerlichen Parteien bereit; diesbezüglich abweichende Meinungen kamen während der Weimarer Repu1 So auch die Argumentation bei Rudi Allgeier, Grenzland in der Krise. Die badische Wirtschaft 1928 bis 1933, in: Thomas Schnabel (Hg.), Die Machtergreifung in Südwestdeutschland. Das Ende der Weimarer Republik in Baden und Württemberg 1928-1933, Stuttgart 1982, S. 150-183, 151 und 173.
2
Th. Schnabel (Hg.), Machtergreifung in Südwestdeut~chland, S. 11.
16
Einleitung
blik nicht über eine Minderheitenposition hinaus. Weitaus deutlicher dagegen wirkte sich die unterschiedliche Situation auf den Aufstieg des Nationalsozialismus aus, was hier jedoch nur am Rande interessieren wird. Die Literaturlage ist für den zu behandelnden Zeitraum sowohl für Baden als auch für Württemberg eher schlecht. So existieren zu beiden Ländern keine umfassenden Darstellungen zur politischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung während der Weimarer Republik, auf die die vorliegende Untersuchung aufbauen könnte. Mögen einzelne Beiträge beispielsweise in dem von der Landeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Band "Badische Geschichte" oder in dem schon zitierten Sammelband zur "Machtergreifung in Südwestdeutschland" noch so anregend sein, eine umfassende Darstellung ersetzen sie nicht. 3 Für die eigentliche Krisenzeit am Ende der Weimarer Republik liegen dagegen für Württemberg zwei Arbeiten vor: einmal Waldemar Bessons immer noch nützliche Studie über "Württemberg in der deutschen Staatskrise 1928-1933", die allerdings fast rein auf der Regierungsebene bleibt, und die Dissertation von Thomas Schnabel über "Württemberg zwischen Weimar und Bonn, 1928 bis 1945/46".4 Noch weitaus schlechter sieht es für Baden aus: Hier existiert überhaupt keine übergreifende Darstellung, auch nicht des Krisenzeitraums. Am besten ist hier noch in Spezialstudien der Aufstieg des Nationalsozialismus erforscht. 5 Die Arbeit von Horst Rehberger zur "Gleichschaltung" muß inzwischen als in weiten Teilen überholt gelten, und die Dissertation von Jutta Stehling über "Weimarer Koalition und SPD in Baden" basiert auf einer allzu schmalen Quellengrundlage. 6 Das einzige Buch, das bislang einen ausführlichen Vergleich Badens und Württembergs (hinsichtlich der politischen Kultur) unternimmt, ist die, in Methode und Stil eher "feuilletonistisch" gehaltene Studie von Klaus Koziol über "Badener und Württemberger". 7 Daneben gibt es eine ganze Reihe wichtiger Lokalstudien, häufig auch im Zusammenhang mit "Machtergreifung" und Widerstand, die meist auf des lokale Engagement von 3 JosefBeckeru.a., Badische Geschichte. Vom Großherzogtum bis zur Gegenwart, hg. v. der Landeszentrale fUr politische Bildung Baden-Würt!emberg, Stuttgart 1987'; Th. Schnabel, Machtergreifung in Südwestdeutschland. 4 Waldemar Besson, Würt!emberg und die deutsche Staatskrise 1928-1933. Eine Studie zur Auflösung der Weimarer Republik, Stuttgart 1959; Thomas Schnabel, Württemberg zwischen Weimar und Bonn 1928 bis 1945/46, Stuttgart 1986. S So in den Arbeiten von Johnpeter Horst Grill, The Nazi Movement in Baden, 1920-1945, Chapel Hili 1983, und Ernst 000 Bräunche, Die Entwicklung der NSDAP in Baden bis 1932/33, in: ZOO 125/NF 86 (1977), S. 331-375.
6 Horst Rehberger, Die Gleichschaltung des Landes Baden 1932/33, Heidelberg 1966; Jutta Stehling, Weimarer Koalition und SPD in Baden. Ein Beitrag zur Geschichte der Partei- und Kulturpolitik in der Weimarer Republik, Frankfurt a.M. 1976. 7
Klaus Koziol, Badener und Württemberger. Zwei ungleiche Brüder, Stuttgart 1987.
Einleitung
17
Universitätsangehörigen und Archivaren zurückgehen" wobei hier vor allem die Arbeiten zu Singen und dem Bodenseeraum und zu Mannheim zu erwähnen sind. 8 Insgesamt ist zum Forschungsstand festzuhalten, daß zahlreiche Grundlagen fiir die vorliegende Arbeit erst zu schaffen waren. Wie zu vielen Arbeiten zur politischen Sozialgeschichte der Weimarer Republik kann auch im vorliegenden Fall die Quellenlage nur als mäßig bezeichnet werden. Es fehlen zunächst einmaljegliche zentrale Aktenbestände, sowohl staatlicher Provenienz als auch von seiten der Parteien, wobei die relevanten staatlichen Akten in Baden und in Württemberg zu großen Teilen Kriegseinwirkungen zum Opfer fielen, während das Material der (Arbeiter-) Parteien in der Regel von diesen selbst 1933 aus Sicherheitsgründen vernichtet wurde. Ein weiteres großes Manko ist, daß von keinem einzigen der handelnden Personen nennenswerte Nachlässe erhalten sind, die zum Beispiel in Briefwechseln Aufschluß über Hintergründe von Entscheidungen geben könnten. (Dies ist wohl der Grund dafiir, daß es keine wissenschaftlichen Biographien zu ihnen gibt.) Die weitaus wichtigste Quelle stellen somit notgedrungen die zeitgenössischen Parteizeitungen dar. In beiden Ländern bestand am Ende der Weimarer Republik ein dichtes Netz von sozialdemokratischen Tageszeitungen: In Baden gab es deren sieben, wovon nur eine, das "Konstanzer Volksblatt" , ein Kopfblatt des Singener "Volkswille", also nicht selbständig war. Von der wichtigsten sozialdemokratischen Zeitung Badens, der Mannheimer "Volksstimme" sind leider nur noch Einzelexemplare erhalten, weshalb dieser bedeutende Parteibezirk auch in der Darstellung aufgmnd fehlender Quellen vergleichsweise unterbelichtet bleibt; einen gewissen Ersatz bietet die "Heidelberger Volkszeitung", die seit Ende der zwanziger Jahre zunehmend die regionale Berichterstattung und die Leitartikel der "Volksstimme" übernahm. Auch der in Singen erscheinende "Volkswille" ist nicht mehr vorhanden, der Verlust wird aber weitgehend durch sein erwähntes Kopfblatt, das "Konstanzer Volksblatt" ersetzt. Die übrigen erhaltenen, sozialdemokratischen Zeitungen in Baden sind: die "Freie Presse", Pforzheim, der "Volksfreund", Karlsruhe und die "Volkswacht", Freiburg. Noch dichter war das Netz der sozialdemokratischen Parteipresse in Württemberg: Hier erschienen täglich zwölf Tageszeitungen. Die mit Abstand be8 Unter den zahlreichen Büchern zur Geschichte Singens und des Bodenseeraums seien hier nur die beiden wichtigsten aufgefiihrt: Albert G. Frei (Hg.), Habermus und Suppenwürze. Singens Weg vom Bauerndorfzur Industriestadt, Konstanz 1987, und Gert Zang (Hg.), Arbeiterleben in einer Randregion: Die allmähliche Entstehung der Arbeiterbewegung in einer rasch wachsenden Industriestadt. Singen a.H. 1895-1933 (= Beiträge zur Singener Geschichte Bd. 10), Konstanz 1987; zu Mannheim vgl. vor allem: Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Mannheim. Im Auftrag der Stadt Mannheim hg. v. Erich Matthias und Herrnann Weber unter Mitwirkung von Günter Braun und Manfred Koch, Mannheim 1984.
2 Kurz
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Einleitung
deutendste darunter war die Stuttgarter "Schwäbische Tagwacht", die allein fünf Kopfblätter besaß, nämlich die "Neckarpost", Ludwigsburg, die "Volkszeitung", Eßlingen, die "Freie Volkszeitung", Göppingen, die "Schwarzwälder Volkswacht", Schramberg und die "Freie Presse", Reutlingen. Die recht großen Lücken in der Überlieferung der "Schwäbischen Tagwacht" konnten durch diese Kopfblätter gut ausgeglichen werden, wenngleich auch diese jeweils meist nicht vollständig erhalten sind. Das Heilbronner "Neckar-Echo" ist nicht überliefert. Da zu Heilbronn auch keinerlei archivalische Quellen zur Arbeiterbewegung mehr existieren, muß diese Hochburg der württembergischen Sozialdemokratie während der Weimarer Republik in der Darstellung weitgehend ausgeklammert bleiben. Desgleichen gibt es keine Exemplare mehr der Schwenninger "Volksstimme" und ihres Kopfblattes, der "Tuttlinger Volkszeitung" . Benutzt werden konnte dagegen die Ulmer "Donauwacht", die mit der "Heidenheimer Volkszeitung" und dem "Geislinger Allgemeinen Anzeiger" ebenfalls über zwei Kopfblätter verfügte. Die KPD gab in beiden Ländern jeweils eine Tageszeitung heraus: In Mannheim erschien die "Arbeiterzeitung" und in Stuttgart die "Süddeutsche Arbeiterzeitung" . Die "Arbeiterzeitung" ist nur noch für wenige Monate des Jahres 1932 und in Einzelexemplaren vorhanden, allerdings stellt ihr vollständig überliefertes Ludwigshafener Kopfblatt gleichen Namens einen ausreichenden Ersatz dar. Die Überlieferung der "Süddeutschen Arbeiterzeitung" weist für die Jahre 1930 bis 1933 erhebliche Lücken auf. Für Württemberg gab es außerdem mit der "Arbeitertribüne" eine Tageszeitung der rechten Abspaltung von der KPD, der KPO, von welcher der Jahrgang 1930 noch erhalten ist. Darüber hinaus konnte eine Anzahl hektographierter kommunistischer Orts-, Stadtteil- und Betriebszeitungen eingesehen werden, die besonders ab etwa 1930/31 in großem Umfang erschienen sind. Eine weitere wichtige Quelle, allerdings nur in bezug auf die Kommunisten, sind die regelmäßig angefertigten Lageberichte der politischen Abteilungen der Landespolizeiämter. Auch hier fehlt allerdings eine zentrale Überlieferung, und so mußten die einzelnen Berichte für Baden aus den Beständen der Landeskommissariate und der Bezirksämter zusammengesucht werden, während die Lageberichte für Württemberg fast vollständig im Staatsarchiv Bremen erhalten sind. (Die Landespolizeiämter tauschten diese Berichte untereinander aus.) Deutlich schlägt sich in dieser Quelle die politische Situation in beiden Ländern nieder: In Baden war das Innenministerium fast durchgehend sozialdemokratisch geführt, was besonders in einer relativ zurückhaltenden Beurteilung der KPD zum Ausdruck kommt, während die württembergischen Berichte unverkennbar eine deutschnationale Handschrift tragen, was sich wiederum vor allem in der ständigen Überbetonung der von den Kommunisten ausgehenden Gefahr niederschlägt.
Einleitung
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Als ein Glücksfall muß es wohl angesehen werden, daß für die Arbeit auch aus den Beständen des sogenannten "Historischen Archivs der KPD" im ehemaligen Zentralen Parteiarehiv der SED beim Institut für Marxismus-Leninismus, nachfolgend: Institut für die Geschichte der Arbeiterbewegung, die allerdings bei weitem nicht vollständigen Akten der KPD-Bezirksleitungen von Baden und Württemberg eingesehen werden konnten. Dadurch ergaben sich überaus wertvolle und in anderen Fällen schmerzlich vermißte Hintergrundeinsichten. Letztlich erscheint damit die Geschichte der KPD und vor allem der württembergischen als in Teilen besser dokumentiert als die Geschichte der SPD, für die keine vergleichbaren Quellen existieren. Insgesamt stellt sich die hier im wesentlichen aufgezeigte Quellenbasis bei allen Lücken, die sich notwendigerweise auch in der Darstellung niederschlagen, und in Anbetracht der besonderen Tücken von Parteizeitungen und Polizeiberichten als wichtigsten Quellengattungen als durchaus hinreichend für das Projekt dar.
I. Konsolidierung und Erschütterung: Die südwestdeutsche Arbeiterbewegung im Jahre 1928 1. Ausgangsbedingungen
a) Die Wirtschafts- und Sozialstruktur Badens und Württembergs
Zwei Kommentare zur Situation der größten (lndustrie-) Städte Badens und Württembergs, Mannheim und Stuttgart, beleuchten schlaglichtartig die unterschiedliche Lage in beiden Ländern auf dem Höhepunkt der Krise im Jahre 1932. Der amerikanische Journalist Hubert R. Knickerbocker erlebte Stuttgart als eine "in ihrem Lichterglanz strahlende Stadt", in der "ganz entschieden kein äußeres Zeichen der Depression zu erblicken" sei. "In den Straßen Stuttgarts sind mehr gut angezogene Leute zu sehen als in allen anderen mir bekannten Städten Deutschlands '" seine neuen öffentlichen und privaten Gebäude sprechen deutlicher von Wohlstand." In scharfen Kontrast dagegen konnte die Mannheimer kommunistische "Arbeiterzeitung" zur gleichen Zeit für ihren Kommentar zum Jahresbericht der Handelskammer den Titel wählen: "Mannheim, die sterbende Stadt", und sie stand mit dieser Einschätzung sicherlich nicht allein. l Wie es zu dieser Situation gekommen war, und wo die auch für die Geschichte der Arbeiterbewegung relevanten Ursachen zu suchen sind, soll im folgenden kurz dargelegt werden. Gemeinsam hatten Baden und Württemberg, daß die erste Phase der Industrialisierung weitgehend an ihnen vorbeigegangen war. Hauptsächlich aufgrund des beinahe vollständigen Mangels an Bodenschätzen - Württemberg war das einzige größere Land des Deutschen Reiches, welches über keinerlei Kohlevorkommen verfügte -, hatte sich hier keine Schwerindustrie herausbilden können. 2 Baden hatte aber gegenüber dem unzugänglichen und abgelege1 Hubert R. Knickerbocker, Deutschland so oder so?, Berlin 1932, S. 189 f; ArbeiteIZeitung (künftig zit.: AZ), (L), 100,29.4.1932 (durch den Zusatz "L" oder "M" wird im folgenden gekennzeichnet, ob es sich um die Mannheimer Ausgabe oder um das Ludwigshafener Kopfblatt der AZ handelt). 2 Vgl. Harald Winkel, Wirtschaftliche Entwicklung in Baden und Württemberg, in: Alfred E. Ott (Hg.), Die Wirtschaft des Landes Baden-Württemberg. Schriften zur politischen Landeskunde BadenWürttembergs, Bd. 7, hg. v. der LandeszentraJe fiir politische Bildung Baden-Württemberg, Stuttgart usw. 1983, S. 17-30, S. 18
1. Ausgangsbedingungen
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nen Nachbarland den Vorteil der verkehrsgünstigen Lage durch den NordSüd-Durchgangsverkehr, und so konnte sich zum Beispiel Mannheim zu einem bedeutenden Handels- und später Industriezentrum entwickeln. Durch diese Lage und infolge der vor allem nach dem Beitritt Badens zum Zollverein 1836 verstärkten Ansiedlung meist aus der Textilindustrie kommender schweizer und elsässer Unternehmer im Südschwarzwald und in Südbaden erlangte Baden einen erheblichen Vorsprung gegenüber Württemberg in fast allen relevanten Gewerbezweigen. 3 Zusammen mit dem vergleichsweise liberalen politischen Klima im Land führte dieser relative wirtschaftliche Wohlstanddazu, daß man sich als "Musterländle" fühlte, eine Bezeichnung, die Zeitgenossen der Weimarer Republik zwar auch noch gerne, aber nur noch in Anführungszeichen benutzten, um den Kontrast zur Gegenwart hervorzuheben. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts begann die württembergische Industrie sich aus ihren kleingewerblichen und handwerklichen Ursprüngen heraus zu modernisieren und bewältigte vor allem in den für sie wichtigsten Branchen der Metallindustrie, dem Maschinenbau, der Feinmechanik und der Elektrotechnik, und in der Textilindustrie, wo die Unternehmen verstärkt auf die neuen Ansprüchen und Kleidungsgewohnheiten entgegenkommende Strickerei und Wirkerei setzten, einen erstaunlichen Strukturwandel. Zur gleichen Zeit wurden in Baden noch einmal die sich später als sehr krisenanfällig erweisenden Tabak- und Schmuckindustrien ausgebaut und die bedeutende badische Textilindustrie versäumte in weiten Bereichen die strukturelle Anpassung an neue Produktions- und Absatzformen. Als pars pro toto mögen hier die Beschäftigungszahlen aus den angesprochenen Branchen der Textilindustrie dienen: Im Bereich Strickerei und Wirkerei stieg die Zahl der Beschäftigten in Württemberg von 9.402 im Jahre 1895 auf 15.149 im Jahre 1907, und bis 1925 noch einmal auf dann 32.625 Beschäftigte. Dagegen wuchs dieser Industriezweig in Baden zwischen 1907 und 1925 nur von 1.687 auf 1.843 Beschäftigte. Die Schere hinsichtlich der Gewerbestatistiken der beiden Nachbarländer begann sich also bereits vor dem Weltkrieg zu schließen. 4 1 Ebda., S. 18. Zur badischen Wirtschaftsgeschichte vor dem I. Weltkrieg vgl. vor allem Hugo Ott, Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, in: Josef Becker u.a. (Hg.), Badische Geschichte. Vom Großherzogtum bis zur Gegenwart. Hg. v. der Landeszentrale rur politische Bildung Baden-Württemberg, Stuttgart 19872, S. 103-142; zur Wirtschaftsgeschichte Württembergs besonders Klaus Megerle, Württemberg im Industrialisierungsprozeß Deutschlands. Ein Beitrag zur regionalen Differenzierung der Industrialisierung, Stuttgart 1982, zur angeruhrten geographischen Lage: S. 165 f. 4 Vgl. H. Winkel, Wirtschaftliche Entwicklung, in: A E. Ott, Wirtschaft, S. 25 f., und Josef Griesmeier, Die Entwicklung der Wirtschaft und der Bevölkerung von Baden und Württemberg im 19. und 20. Jahrhundert, in: JahrbÜcher rur Statistik und Landeskunde von Baden-Württemberg I (1954), S. 121-242, S. 156; Vgl. auch H. Ott, Wirtschaftliche und soziale Entwicklung, in: A E. Ott, Wirtschaft, S. 131.
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I. Konsolidierung und Erschütterung: SPD und KPD im Jahre 1928
Nach dem Krieg wurden die badische Regierung und die Industrieverbände nicht müde, die schwierige Situation als abermaliges Grenzland zu beklagen. Und tatsächlich war die badische Wirtschaft durch die Unterbrechung von gewachsenen Handelsbeziehungen mit dem Elsaß und durch die entmilitarisierte Zone, die einen Großteil des badischen Territoriums umfaßte, schwer geschädigt. Zusätzlich zogen eine Reihe von Konzernen ihre Verwaltungssitze oder auch ihre Produktionsstätten aus Baden ab. Mitte der zwanziger Jahre lag die Arbeitslosenquote des Landes durchgehend über dem Reichsdurchschnitt, und Mannheim stand am 1. März 1926 mit den Hauptunterstützungsempfangern an erster Stelle unter allen deutschen Großstädten. Ein gesonderter Blick auf alle elf an der Grenze gelegenen Arbeitsnachweisbezirke bestätigt diesen Grenznachteil; hier waren die Verhältnisse deutlich ungünstiger als im Landesdurchschnitt. 5 Allerdings sind diese Klagen über die "Grenzlandnot" zu Recht von der Forschung relativiert worden: Einen guten Teil der Verantwortung für den relativen Rückgang der badischen Industrie trug diese aufgrund mangelnder Flexibilität durchaus selbst. 6 Spätestens zu diesem Zeitpunkt, Mitte der zwanziger Jahre, war der Unterschied in der wirtschaftlichen Lage zwischen Baden und Württemberg offenkundig geworden. In allen relevanten Wirtschaftsdaten lag Württemberg von nun an und am offensichtlichsten während der Wirtschaftskrise vor Baden und noch weiter über dem Reichsdurchschnitt. Es wurde immer häufiger vom Vorbildcharakter des Landes gesprochen, und schon im Jahre 1928 kam ein ausführlicher Kommentar der Freiburger sozialdemokratischen Zeitung "Volkswacht" bei einem Vergleich der Wirtschaft beider Länder, in dem - wie in den meisten anderen Analysen - fiir den Erfolg der Württemberger schlicht die Mentalität der Bevölkerung verantwortlich gemacht wurde, zu dem Ergebnis, daß die badischen Probleme durch die Vereinigung der beiden Länder gelöst werden könnten. 7 Für die Tatsache, daß Württemberg um so viel besser durch die Krise kam und dabei sogar die Grundlage fiir seinen weiteren wirtschaftlichen Aufstieg in den dreißiger Jahren legte, führten schon die Zeitgenossen und, ihnen im wesentlichen folgend, auch die Forschung eine Reihe von Gründen an: Als erstes wird immer wieder die dezentrale Industrialisierung genannt, die allerdings durchaus deutliche Kerngebiete im mittleren S Vgl. Hennann Schäfer, Wirtschaftliche und soziale Probleme des Grenzlandes, in J. Becker u.a. (Hg.), Badische Geschichte, S. 168-183, hier besonders S. 168 It: und 181 t: (Dabei ist aber auch zu berücksichtigen, daß in diesen Bezirken eben die meisten Industriestandorte lagen.)
6 So schon 1. Griesmeier, Entwicklung der Wirtschaft, S. 156. Diesen Punkt betonen auch Fritz B1aich, Grenzlandpolitik im Westen, 1926-1936. Die "Westhilfe" zwischen Reichspolitik und Länderinteressen, Stuttgart 1978, S. 45 ff., und Rudi Allgeier, Grenzland in der Krise. Die badische Wirtschaft 1928-1933, in: Th. Schnabel (Hg.), Machtergreifung in Südwestdeut~chland, S. 150-183, S. 163 ff. 7
Volks:vacht (künftig zit.: VW), 295,19.12.28.
1. Ausgangsbedingungen
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Neckarraum und daneben zum Beispiel auch in Balingen, Heidenheim, Reutlingen und Tuttlingen hatte. 8 Entscheidend war dabei, daß es sich bei dieser Industrie um hochspezialisierte und arbeitsintensive Verarbeitungsindustrien handelte, mit einem hohen Prozentsatz von "Unternehmen des Maschinen-, Apparate- und Fahrzeugbaus sowie der optischen und feinmechanischen Industrie, deren hochspezialisierte Produkte - nicht zuletzt wegen einer günstigen Exportsituation - weniger konjunkturanfä1lig sind als jene des Groß anlagenbaus oder der Schwerindustrie. ,,9 Eng verbunden mit dieser Industriestruktur war eine hochqualifizierte Facharbeiterschaft. Württemberg konnte während der Krise u.a. deshalb eine vergleichsweise so geringe Arbeitslosigkeit aufweisen, weil die Unternehmen versuchten, ihren qualifizierten Facharbeiterstamm soweit möglich durch Kurzarbeit zu erhalten; das Land wies so die höchste Kurzarbeiterquote im ganzen Reich auf. lo Hinzu kam die immer wieder hervorgehobene starke Verankerung der württembergischen Arbeiterschaft in der Landwirtschaft, die sowohl in der Krise einen gewissen Rückhalt bot, als auch ein Hindernis für die "Radikalisierung" der Arbeiterschaft, oder auch einfach für ihre Gewinnung für die organisierte Arbeiterbewegung überhaupt darstellte. 11 In Württemberg lag 1925 nicht nur der Anteil der Erwerbstätigen im Handel und Gewerbe über dem Reichsdurchschnitt (23,28 zu 21,21 Prozent), sondern noch deutlicher der Anteil der in der Landwirtschaft Tätigen (24,83 zu 15,64 Prozent). Ein erheblicher Teil der Industriearbeiter übte einen landwirtschaftlichen Nebenberuf aus (im Jahre 1925 15,2 Prozent gegenüber 10,8 Prozent im Reich), und entsprechend hoch war die Zahl der Pendler, die in vielen Industriegebieten wie im Amt Stuttgart ein Drittel der Arbeiterschaft ausmachten. 12 8 Vgl. dazu: Th. Schnabel, "Warum geht es den Schwaben besser?" Württemberg in der Weltwirtschaftskrise, in: ders. (Hg.), Machtergreifung in Südwestdeutschland, S. 184-218, S. 186; zur württembergischen Wirtschaft während der Krise vgl. auch die zeitgenössische Dissertation von Adolf Hilligardt, Württemberg in der Krise. Ein Beitrag zur Regionalstatistik, Berlin 1935. 9 So Dietrnar Petzina, Zum Problem des Verlaufs und der Überwindung der Weltwirtschaftskrise im regionalen Vergleich - Materialien und Interpretationen, in: Friedrich Wilhelm Henning (Hg.), Probleme der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik, Berlin 1976 (= Schriften des Vereins fur Sozialpolitik, N.F. Bd. 89), S. 9-42, S. 16.
10 Genaue Zahlen fllr Württemberg liegen allerdings nur fur das gesamte Gebiet des Landesarbeitsamtsbezirks Südwestdeutschland vor, das auch Baden und die Pfalz umfaßte: danach gab es im I. Halbjahr 1932 im Bezirk 106,7 Kurzarbeiter auf 100 Erwerbslose, im Reichsdurchschnitt dagegen nur 50,6; Zahlen bei K. Megerle, Württemberg im Industrialisierungsprozeß, S. 185. Alles deutet aber daraufhin, daß diese hohe Kurzarbeiterquote vor allem auf das Konto Württembergs ging, vgl. ebda., S. 184, und ausfuhriich A Hilligardt, Württemberg in der Krise, S. 1411
11 So z.B. das ausdrückliche Fazit eines Überblicks über die württembergische Wirtschaft in: Württemberg in Wort und Zahl. Hg. v. Württ. Statist. Landesamt, Stuttgart 1930, S. 72. 12 Vgl. K. Megerle, Württemberg im Industrialisierungsprozeß, S. 1821:, Th. Schnabel, Warum ... , in: ders. (Hg.), Machtergreifung in Südwestdeutschland ... , S. 191, und sehr ausfuhriich Adolf Hilligardt, Württemberg in der Krise, S. 33 ff.
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I. Konsolidierung und Erschütterung: SPD und KPD im Jahre 1928
Die Sonderstellung Württembergs läßt sich auch in der Zahl der Beschäftigten im Gewerbe verdeutlichen: Von 1925 bis 1933 sank sie im Reich um 22,3 Prozent, in Baden um 20,5 Prozent und in Württemberg ging sie nur um 7,5 Prozent ZUlÜCk. 13 Am augenfaIligsten war der Unterschied bei den Arbeitslosenzahlen: Ende Januar 1933 - und diese Zahlen sind in der Relation kennzeichnend fiir die gesamte Spanne der Krise - kamen in Württemberg auf 1.000 Einwohner weniger als 50 Arbeitslose. Im Reich waren es dagegen etwa 92 und in Baden über 76. Noch eimnal sei die Textilindustrie, die mit dem Bekleidungsgewerbe und der Nahnmgs- und Genußmittelindustrie am wenigsten von der Krise tangiert wurde, als Beispiel angefiihrt: bei über 70.000 Beschäftigten :zählte diese Branche Ende Januar 1933 nur 4.328 Arbeitslose. Da aber die Zahl der Beschäftigten seit 1928 um fast zwanzig Prozent gesunken war, ist zu vermuten, daß gerade auch hier die Nähe zur Landwirtschaft krisenentschärfend gewirkt hat. In anderen Industriezweigen der Metallindustrie und vor allem des Baugewerbes war auch in Württemberg der Rückgang der Beschäftigtenzahlen wesentlich größer. I 4
An diesem Punkt wird aber noch einmal eines deutlich: Im reichsweiten Vergleich waren Baden und Württemberg in ihrem gesamten wirtschaftlichen Aufbau eng verwandt. 15 Beinahe alle Faktoren, die in der Regel zur Erklärung der Entwicklung in Württemberg herangezogen wurden, trafen - wenngleich meist in geringerem Umfang - auch fiir Baden zu, und zwar sowohl was die im Vergleich zum Reichsdurchschnitt günstigere Arbeitslosenquote, als auch was die Verteilung unter den führenden Branchen und deren dezentrale Ansiedlung betriffi. 16 Insgesamt trugen auch in Baden - vor allem Südbaden "besserte" die gesamtbadische Arbeitslosenquote auf - im Gegensatz zu anderen Regionen die Textilindustrie und die anderen Verbrauchsgüterindustrien zu einem relativ günstigeren Krisenverlauf bei. 17 Desgleichen war auch hier die Nebenerwerbstätigkeit der Industriearbeiter in der Landwirtschaft und somit das Pendeln zum Arbeitsplatz weit verbreitet. Es ist nicht einmal ausgemacht, ob dieses Phänomen in Baden seltener anzutreffen war als in Württemberg, wo es immer herausgestellt wurde. 18 13
Th. Schnabel, a.a.O, S. 197.
Statistisches Handbuch rur Württemberg. 25. Ausgabe, Jg. 1927 bis 1935. Hg. vom württ. Statist. Landesamt, Stuttgart 1937, S. 166 ff, und J. Griesmeier, Entwicklung der Wirtschaft, S. 157. Regelmäßig wurden die württembergischen Arbeitslosenzahlen mit den Vergleichsdaten rur Baden und das Reich veröffentlicht in den "Mitteilungen des Württemb. Statist. Landesamtes". 14
" Dies betonen fast alle Autoren, so z.B. H. Schäfer, Wirtschaftliche und soziale Probleme, in: 1. Becker u.a., Badische Geschichte, S. 182. 16 Auf diesen Punkt des relativ günstigen Abschneidens Badens in der Wirtschaftskrise und der Ähnlichkeit mit Württemberg verweist besonders nachdrücklich Rudi Allgeier, Grenzland (Anm. 6), S. 152.
17
A.a.O., S. 170.
18 A.a.O., S. 178. Genaue Vergleichszahlen zu Nebenerwerbslandwirt~chaft und Pendlern liegen nicht vor. Allerdings war der Anteil der landwirtschaftlichen Kleinbetriebe unter zwei Hektar, was in
1.i\usgangsbedingungen
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Dies drängt erneut die Schlußfolgerung auf, daß die offen zutage liegende Differenz in der wirtschaftlichen Entwicklung der beiden südwestdeutschen Länder nicht einfach aus einer unterschiedlichen Wirtschaftsstmktur abzuleiten ist. Wie schon dargelegt, war der relative Rückgang der badischen Wirtschaft auch bedingt durch mangelnde Innovationsfahigkeit in denselben Industriezweigen, die in Württemberg so erfolgreich waren, wie in der Metall- und Textil-, beziehungsweise der Bekleidungsindustrie. Hinzu kam ein subjektives Element auf badischer Seite: Durch die Fixierung auf den Vergleich mit dem exzeptionellen Württemberg sah man die eigene Misere noch weitaus schlimmer als sie war. Unterstützt wurde diese Sicht durch die gegenläufige langfristige wirtschaftliche Entwicklung: Während Baden relativ an Bedeutung verlor, stieg Württemberg seit der Vorkriegszeit unaufhaltsam auf. Alle Versuche, Erklärungen für die Unterschiede zwischen Baden und Württemberg zu finden, wurden meist über nicht sehr scharf definierte Begriffe wie Mentalität und politische Kultur unternommen, wobei das Thema die Baden-Württemberger durchaus sehr beschäftigte, spätestens nachdem sie seit 1952 in einem gemeinsamen Bundesland lebten. Insbesondere für die Eigenart Württembergs wurde immer wieder die Dominanz des alle Lebensbereiche umfassenden Pietismus in Altwürttemberg herangezogen, wofür in der Tat einiges spricht, was aber hier nicht weiter verfolgt werden kann. 19 Allerdings lassen sich solche Fragen der "Mentalität" durchaus auf konkrete historische Entwicklungen zurückführen, wie dies am Beispiel Badens und Württembergs vor allem Klaus Koziol versucht hat. Die relative Resistenz gegenüber Radikalismen von links und rechts, am deutlichsten zu sehen am lange Zeit schlechten Stand der Nationalsozialisten im Land, führt Koziol auf die weitgehende wirtschaftliche, politische und kulturelle Abgeschlossenheit Altwürttembergs zurück. Die Verwaltungseinheiten der Ämter wiesen eine große historische Kontinuität und somit ein hohes Maß an Identifikation ihrer Bewohner mit diesen Gebieten auf. Altwürttemberg war von der Konfession her einheitlich protestantisch, während die in der Rheinbundzeit neu hinzugekommenen Gebiete wie Oberschwaben fast ebenso einheitlich katholisch wader Regel nicht rur einen Vollerwerbsbetrieb ausreicht, in Baden noch größer als in Württemberg. (Vgl. Statistisches Handbuch rur Würtiernberg, 25. Ausgabe, Anhang, S. 5). Vgl. dazu besonders Wilhelm Kaiser, Die Industrialisierung und Proletarisierung der badischen Agrarbevölkerung, Phil. Diss. Heidelberg 1926 (MS). Bei der großen Zahl landwirtschaftlicher Kleinbetriebe ist aber evtl. zu berücksichtigen, daß Baden über fruchtbarere Gebiete verfUgte als Württemberg, und Kleinbetriebe deshalb ertragreicher gewesen sein könnten. Im übrigen lag auch in Baden der Prozentsatz der in der Landwirtschaft Beschäftigten deutlich über dem Reichsdurchschnitt, wenn auch mit 20,6 % nicht ganz so hoch wie in Württemberg (Vgl. K. Megerle, Württemberg im Industrialisierungsprozeß ... , S. 182). 19 So z.B. 000 Borst, Leitbilder und geistige Antriebskräfte, in: ders. ·(Hg.), Wege in die Welt. Die Industrie im deutschen Südwesten seit Ausgang des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1989, S. II ff., bes. S. 23; einen weiteren vergleichenden Überblick über die wirtschaftliche Entwicklung Badens und Württembergs in einem Beitrag dieses Bandes: H. Ott, Konjunkturen und Krisen, S. 195-214.
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ren. Der pietistische Protestantismus bildete nach Koziol einen regelrechten "Überwachungsstaat" aus, und besonders die Kirchenkonvente hätten über ein reichhaltiges "Überwachungsinstrumentarium" für Sitte und Moral verfügt. Unter anderem das sprichwörtliche schwäbische Arbeitsethos führt Koziol hierauf zurück. 20 Eine vergleichbare Funktion der Sozialkontrolle dürfte in den katholischen Gebieten die katholische Kirche ausgeübt haben. In Baden lagen die Dinge ganz anders: Zunächst einmal war hier die territoriale Kontinuität in weitaus geringerem Maße gegeben. Es gab hier keine eigentlichen Stammlande, die den Staat hätten prägen können, sondern das in der Rheinbundzeit geschaffene Baden war vielmehr ein Kunstprodukt, zusammengesetzt aus Territorien mit den unterschiedlichsten historischen Traditionen. Am augenfälligsten zeigt sich diese Heterogenität an der Konfessionsstruktur: Es gab in Baden keine größeren Gebiete mit einer einheitlichen Konfession, sondern das Land glich in dieser Hinsicht eher einem Flickenteppich. Diese Uneinheitlichkeit machte Baden, neben der Grenzlage, sehr viel empfänglicher für äußere, vor allem französische Einflüsse. Die badischen Amtsbezirke waren im Gegensatz zu den württembergischen Ämtern gänzlich ahistorisch und allein nach zweckrationalen Gesichtspunkten geschaffen worden. Sicherlich war es auch eine Folge dieser politischen und territorialen Gegebenheiten, daß Baden von den Revolutionen von 1830 und 1848 in einem viel größeren Maße erfaßt wurde als zum Beispiel Württemberg. 21 Ähnlich unterschiedlich waren dann auch die Reaktionen während der Revolution von 1918/19 und überhaupt während der ersten Jahre der Weimarer Republik, als Bestrebungen nach radikalen Veränderungen in Baden einen deutlich größeren Anklang fanden. b) Die Arbeiterbewegung
Die vorstehenden Erläuterungen führen nicht ganz so weit vom Thema weg, wie es vielleicht zunächst den Anschein hat. Man könnte aus der andeutungsweisen Schilderung der unterschiedlichen politischen Kultur in beiden Ländern zu dem Schluß kommen, daß in Württemberg während der Weimarer Republik überschaubarere Verhältnisse geherrscht hätten. Allein, das Gegenteil ist der Fall: Die politischen Verhältnisse in Baden wiesen eine geradezu erstaunliche Kontinuität auf, und die Parteien der "Weimarer Koalition", die 20 Klaus Koziol, Badener und Württemberger. Zwei ungleiche Brüder, Stuttgart 1987. bes. S. 23 ff., 28, 35 f., 41 ff., 53 und 67 ff.
21 Aa.O., bes. S. 98 ff. und 112 ff. Ganz ähnlich beschreibt Hans Fenske die frühen Ursachen der politischen Kultur Badens: Der liberale Südwesten. Freiheitliche und demokratische Traditionen in Baden und Württemberg 1790-1933, Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs, Bd. 5, hg. von der Landeszenttale filr politische Bildung Baden Württemberg, Stuttgart 1981, S. 16 ff.
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hier bei den Wahlen zur Nationalversammlung im Jahre 1919 nicht weniger als 91,5 Prozent der Stimmen erhalten hatten, blieben im Badischen Landtag bis 1933 mehrheitsfahig. Diese Stabilität war allerdings in erster Linie der starken Stellung der Badischen Zentrumspartei zu verdanken, die sich auf einen Katholikenanteil von 58,37 Prozent im Jahre 1933 stützen konnte, gegen 31,14 Prozent in Württemberg, ein Anteil, der im übrigen in etwa dem Reichsdurchschnitt entsprach. 22 Die geschilderten Unterschiede der politischen Kultur und Tradition machten sich im hier zu behandelnden Zeitraum ab 1928 vor allem im früheren und in der Folge weit größeren Erfolg der Nationalsozialisten in Baden bemerkbar. Dagegen lassen sich Auswirkungen auf den hier in erster Linie interessierenden Bereich der Arbeiterbewegung auf Anhieb überhaupt nicht feststellen. In beiden Ländern war die Sozialdemokratie traditionell und dezidiert reformistisch eingestellt, und während der Wahlen der Weimarer Republik erzielten sowohl SPD als auch KPD verblüffend ähnliche Ergebnisse. In dieser Zeit änderte sich auch an dem reformistischen Kredo der Sozialdemokraten beider Länder im wesentlichen nichts. Von einem eigentlich linken Parteiflügei, der zum Beispiel Koalitionen mit bürgerlichen Parteien prinzipiell abgelehnt hätte, kann während der Weimarer Republik weder in Baden noch in Württemberg gesprochen werden. Hingegen war die innere Entwicklung der KPD in beiden Ländern von Anfang an von einem fast diametralen Gegensatz geprägt. Wie im folgenden noch zu zeigen sein wird, herrschte in Baden durchgehend und mehr oder weniger unabhängig von den jeweils vorgegebenen Generallinien der Parteizentrale eine linke Unterströmung, während sich die kommunistische Parteiführung in Württemberg immer wieder mit "rechtem Opportunismus" auseinanderzusetzen hatte. Am nachhaltigsten erschüttert wurde die württembergische Parteiorganisation, als mit der Übernahme des Parteiapparats im Reich durch die Linken 1924 die württembergische Parteiführung unter Hans Stetter abgelöst und dieser schließlich aus der Partei ausgeschlossen wurde. 23 Die Wende gegen die Linke seit 1925 hinterließ wiederum in Baden tiefe Spuren, während in Württemberg davon kaum etwas zu spüren war. In Baden wurden unter anderem der Reichstagsabgeordnete Georg Kenzler und der Landtagsabgeordnete Jakob Ritter von ihren Funktionen in der Leitung des Parteibezirks abgelöst und 1927 aus der Partei ausgeschlossen. 24 22
Vgl. Statistisches Handbuch filr Württemberg, 25. Ausgabe, Anhang S. 2.
Vgl. dazu Hermann Weber, Die Wandlung des deutschen Kommunismus. Die Stalinisierung der KPD in der Weimarer Republik, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1969, Bd. 1, S. 53 ff., zur Biographie Hans Stetters (1885-1963), ebda., Bd. 2, S. 311 f.; vgl. dazu auch dessen Broschüre: Der kommunistische Sumpf. Mein Ausschluß aus der KPD, Stuttgart 0.1. (1926). 23
24 Vgl. H. Weber, Wandlung, Bd. 1, S. 120 ff., zu den Biographien Ritters (1886-1951) und Kenzlers (1884-1959), ebda., Bd. 2, S. 260 f. und 179 f
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1. Konsolidierung und Erschütterung: SPD und KPD im Jahre 1928
Die erneute Wende von 1928/29, dieses Mal gegen die Rechte, führte wiederum die württembergische KPD nahe an den organisatorischen Zusammenbruch, während sie an der badischen Partei fast spurlos vorüberging. Die im Zuge dieser Auseinandersetzungen erfolgte rechte Abspaltung von der KPD, die Kommunistische Partei-Opposition (KPO), hatte in der Folge in Württemberg einen ihrer organisatorischen Schwerpunkte, während sie in Baden fast nicht in Erscheinung trat. Hingegen war die linke Abspaltung, der Leninbund in Baden durchaus präsent, geführt von den erwähnten Kenzler und Ritter. Am augenfälligsten war der Unterschied zwischen den beiden kommunistischen Bezirksorganisationen vielleicht in der Gewerkschaftspolitik, die bei allen innerparteilichen Richtungskämpfen in der KPD einen Angelpunkt darstellte. In Baden gab es eine schon in die Vorkriegszeit zurückreichende, zumindest untergründige anarchistische und syndikalistische Tradition, die sich in einer latenten Gewerkschaftsfeindlichkeit äußerte, mit der die badische KPD durchgehend zu kämpfen hatte. 25 Die relative Stärke dieser Strömung zeigte sich zum Beispiel noch bei den Betriebsratswahlen von 1930 in der Mannheimer Metallindustrie, wo die Syndikalisten immerhin insgesamt zehn Sitze erreichten, gegen 234 der Freien Gewerkschaften, acht der Christlichen Gewerkschaften und vierzehn der kommunistischen RGO?6 Eine Folge hiervon war, daß die badischen Kommunisten in den Gewerkschaften, und vor allem in der wichtigsten, dem Deutschen Metallarbeiterverband (DMV), nach Anfangserfolgen beinahe ohne jede Bedeutung blieben. Gänzlich anders sah die Situation in Württemberg und vor allem in Stuttgart aus: Hier war schon die linksradikale Vorkriegsopposition in der Sozialdemokratie von gewerkschaftlich engagierten Facharbeitern insbesondere der Metallindustrie getragen worden. Diese Funktionärsbasis machte den entscheidenden Teil der von der KPD-Führung als "opportunistisch" denunzierten rechten Opposition aus, mit der sich die Partei während der ganzen Weimarer Republik auseinanderzusetzen hatte, und die nach der ultralinken Wende der Partei, die besonders in der Gewerkschaftspolitik greifbare Auswirkungen hatte, konsequent ihre Aufgabe als Gewerkschaftler über die Partei2S So wurden z.B. im Gewerkschaftsbericht innerhalb des Berichts der Bezirksleitung zum Bezirksparteitag der badischen KPD am 13./14.4.1929 die "vonjeher vorhandenen antigewerkschaftlichen Tendenzen bei einem Teil unserer Mitglieder" beklagt, IfGA ZPA 13125125; einen anarchistischen Einfluß innerhalb der Mannheimer Metallarbeiterschaft konstatiert Jörg Schadt bereits filr die Vorkriegszeit: Die Sozialdemokratische Partei in Baden. Von den Anfangen bis zur Jahrhundertwende (1868-1900), (Schriften des Forschungsinstituts der Friedrich-Ebert-Stiftung 88), Hannover 1971, S. 115 f; auch der Aufschwung der USPD 1917 in Mannheim ist nach Klaus-Peter Müller hauptsächlich von anarchosyndikalistischen Gruppen getragen worden, mit denen bislang unorganisierte Arbeiter filr die neue Partei gewonnen worden seien: Politik und Gesellschaft im Krieg. Der Legitimationsverlust des badischen Staates 1914-1918, (Veröffentlichungen der Kommission filr geschichtliche Landeskunde von Baden-Württemberg, Reihe B: Forschungen, 109. Bd.), Stuttgart 1988, S. 153.
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Ergebnis in der Volkszeitung (künftig zit.: VZ), 95, 24.4.1930.
1. Ausgangsbedingungen
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loyalitiät stellten und beinahe geschlossen zur KPO gingen. Bis zur Abspaltung der KPO war zum Beispiel die bedeutende Stuttgarter Ortsverwaltung des DMV fest in kommunistischer Hand gewesen und verblieb anschließend bei derKPO. 27 Solche offenkundigen Unterschiede in den politischen Ausrichtungen der Kommunisten in Baden und in Württemberg, welche zunächst nur latent vorhanden waren und erst dann offen zutage traten, wenn sie durch Kurswechsel herausgefordert wurden, sind nicht mit soziologischen Kriterien oder sozialstrukturellen Differenzen zu erklären. Hiergegen sprechen die geschilderten Gemeinsamkeiten in der Sozialstruktur beider Länder, die nicht zuletzt auch durch ein durchgehend vergleichbar großes und immer ein gutes Stück unter dem Reichsdurchschnitt liegendes Wählerpotential der Arbeiterparteien insgesamt und auch jeweils von KPD und SPD für sich bestätigt wurde. Zudem klagten beide Bezirksorganisationen der KPD beständig und unisono über den "kleinbürgerlichen" Charakter ihrer Bezirke, der ihnen die Agitationsarbeit so erschwere. Alles verweist die Analyse also darauf, die Ursachen für diese manifesten Unterschiede im Bereich der den Argumenten Koziols folgend beschriebenen verschiedenen Traditionen der politischen Kultur beider Länder zu suchen, das heißt verkürzt in einer eher zu radikalen Lösungen neigenden Tradition in Baden und in einer noch stärker in Strukturen der Sozialkontrolle und der "Bodenständigkeit" verhafteten politischen Grundströmung in Württemberg. Mit diesen Traditionen waren im wesentlichen nur die politisch bewußt handelnden "Funktionärseliten" verbunden, die auch aktiv an den parteiinternen Auseinandersetzungen t~ilnahmen, während der Großteil der Parteimitgliedschaft und erst recht der kommunistischen Wählerschaft daran keinen Anteil hatte. Dies zeigte sich am deutlichsten daran, daß auch die schärfsten Auseinandersetzungen mit gravierenden Folgen für die Organisation keinerlei erkennbaren Einfluß auf die Wahlergebnisse der KPD in Baden und Württemberg hatten. In der Politik und in der ideologischen Ausrichtung der SPD lassen sich keine auffallenden Unterschiede zwischen der badischen und der württembergischen Partei feststellen. Wie bereits erwähnt war der Reformismus für die südwestdeutschen Sozialdemokraten bis zur Weimarer Republik zum unumstößlichen Kredo geworden. Sie bekannten sich stolz zu dieser Tradition und fühlten sich dabei quasi als historische Sieger innerhalb der Sozialdemokratie. Allerdings war diese Politik auch in Baden, wo das Thema durch die andauernde Regierungsbeteiligung präsenter war, offenbar noch nicht so selbstver27 Zur Position der KPD in der Stuttgarter Metallindustrie und insbesondere bei der Firma Bosch vgl. Uta Stolle, Arbeiterpolitik im Betrieb. Frauen und Männer, Reformisten und Radikale, Facharbeiter und Massenarbeiter bei Bayer, BASF, Bosch und in Solingen (1900-1933), Frankfurt a.M./New York 1982, S. 168 ff.
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1. Konsolidierung und Erschütterung: SPD und KPD im Jahre 1928
ständlich geworden, als daß sie nicht vor allem in der Auseinandersetzung mit den Kommunisten in zahllosen Parlamentsreden und Zeitungsartikeln dauernd wieder hätte gerechtfertigt werden müssen. Deutlichstes Zeugnis hierfür sind vielleicht die zahlreichen Broschüren des als langjähriger badischer Minister an sehr exponierter Stelle stehenden Adam Remmele, die letztlich immer wieder auf eine Rechtfertigung "refonnistischer" Politik hinauslaufen. 28 In einer Rezension der 1931 erschienenen Remmele-Broschüre "Baden vom Absolutismus zum Volksstaat" belegte der politische Redakteur der Mannheimer "Volksstimme", Alexander Schifrin, daß sich die Zeitgenossen der historischen Wurzeln des badischen Refonnismus sehr bewußt waren. Schifrin leitete die Entwicklung der badischen Sozialdemokratie aus dem größeren taktischen Handlungsspielraum ab, den die Partei hier schon in der Vorkriegszeit zwischen Nationalliberalen und Zentrum hatte. "So war die badische Sozialdemokratie bereits in der Vorkriegszeit parlamentarisch und taktisch gewitzt, hat ihre Kräfte im freien und offenen Kampfe mit allen Gegnern und Verbündeten gemessen, hatte in diesem kleinen politischen Raum mehr strategische Elastizität und Beweglichkeit aufweisen können, als es in irgendeiner anderen Landespolitik möglich gewesen wäre. ,,29 Bezeichnend fiir die Lage in Baden und zum Teil auch in Württemberg war die Tatsache, daß die Reformismusdebatte in diesen Landesverbänden lange Zeit keine Rolle spielte. Der Reformismus der südwestdeutschen Sozialdemokraten war einer der Praxis und nicht der Theorie, welche im Gegenteil noch lange marxistisch blieb. Neben der bekannten badischen Großblockpolitik von Sozialdemokraten und Nationalliberalen gegen das Zentrum von 1905 bis 1914 und der mehrfachen Bugdetbewilligung durch die sozialdemokratischen Landtagsfraktionen in Baden und Württemberg seit 1907, beziehungsweise 1908, die auf heftigen Widerstand in der Reichspartei stießen, waren es vor allem die liberalen Kommunalverfassungen beider Länder, die den Sozialdemokraten frühzeitig politische Mitwirkung erlaubten. Für Baden spricht Jörg Schadt deshalb direkt von einem "Reformismus durch Kommunalpolitik" . Vor dem
28 Als bedeutendste dieser Broschüren sei an dieser Stelle verwiesen auf: Adam Remmele, Staatsumwälzung und Neuaufbau in Baden. Ein Beitrag zur politischen Geschichte Badens 1914/24, Karlsruhe 1925, und: Baden vom Absolutismus zum Volksstaat, Karlsruhe 1931. Mehr noch als eine Verteidigung gegenüber der Linken waren Remmeles Schriften aber eine Rechtfertigung gegenüber "Verrats-" und "Dolchstoß-"Vorwürfen der politischen Rechten. 29 VZ, 215,16.9.1931; Schifrin (1901-1050/51), menschewistischer Emigrant, war in der Sozialdemokratie vor allem als Mitarbeiter der "Gesellschaft" und der "Marxistischen Tribüne" bekannt. Redakteur der "Volksstimme" war er seit 1928. Zu seiner Biographie vgl. Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. I, Politik, Wirtschaft, öffentliches Leben. Leitung und Bearbeitung: Wemer Röder, München, und Herbert A Strauss, N ew York, unter Mitwirkung von Dieter Marc Schneider und Louise Forsyth, München usw. 1980. S. 646 f
1. Ausgangsbedingungen
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Krieg hatte kein Landesverband der SPD so viele Gemeindevertreter aufzuweisen wie der badische. 30 Vor allem in Stuttgart bildete sich eine Gruppe von scharfen Opponenten des refonnistischen Kurses der Landespartei, die zwar im Landesvorstand der Partei keinen Einfluß gewann, dafür aber den wichtigen Stuttgarter Bezirk und die Redaktion des Parteiorgans "Schwäbische Tagwacht" beherrschte. Diese Gruppe um den Stuttgarter Ortsvereinsvorsitzenden Friedrich Westmeyer, Clara Zetkin, Arthur Chrispien, Jakob Walcher, Edwin Hoernle, Hermann und Käthe Duncker und August Thalheimer in Göppingen widersetzte sich 1914 entschieden dem ebenso vehement verteidigten Kurs Wilhelm Keils in der Frage der Bewilligung der Kriegskredite, was schließlich im Jahre 1915 bereits zur ersten Parteispaltung in der Sozialdemokratie führte, also zwei Jahre vor Abspaltung der USPD im Reich. Alle genannten Führer des württembergischen linken Flügels der SPD gingen mit Ausnahme von Chrispien, der über die USPD wieder zur SPD kam, und Westmeyer, der 1917 an der Front umkam, später zur KPD, wo sie an prominenter Stelle tätig waren und mit Thalheimer und Walcher führende Vertreter der Parteirechten stellten. 31 Wie die Mehrheit der württembergischen Sozialdemokraten um Wilhelm Keil und den ersten Staatspräsidenten der Republik Württemberg, Wilhelm Blos, diesen Vorgang einschätzten, verdeutlicht treffend der Kommentar von Blos: "Die nun eintretende Spaltung der Sozialdemokratie war an sich gewiß sehr zu bedauern. Sie lähmte die Aktionskraft der Partei zum guten Teil. Aber sie brachte auch den unschätzbaren Gewinn, daß alle die Hyperradikalen und mit
30 V gl. J. Schadt, Sozialdemokratische Partei in Baden, S. 169 ff., S. 188 ff. (Refonnismusdebatte); außerdem ders., Einleitung, in: Im Dienst an der Republik. Die Tätigkeitsberichte des Landesvorstands der Sozialdemokratischen Partei Badens 1914-1932. Hg. und bearo. von Jörg Schadt unter Mitarbeit von Michael Caroli (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Mannheirn, Bd. 4), Stuttgart usw. 1977, S. 45.; am ausfilhrlichsten zur badischen SPD vor 1914 vgl. Hans-Joachim Franzen, Auf der Suche nach politischen Handlungsspielräumen. Die Diskussion um die Strategie der Partei in den regionalen und lokalen Organisationen der badischen Sozialdemokratie zwischen 1890 und 1914, 2 Bde., Frankfurt a.M. usw. 1987, S. 42 ff. (Revisionismusdebatte), 87 ff. (Großblockpolitik), 99 ff. (Budgetbewilligung); zur württembergischen SPD der Vorkriegszeit vgl. die insgesamt unbefriedigende Dissertation von Maja Christ-Grnelin, Die württembergische Sozialdemokratie 1890-1914. Ein Beitrag zur Geschichte des Refonnismus und Revisionismus in der deutschen Sozialdemokratie, Stuttgart 1976, hier bes. S. 165 ff. (Bedeutung der Konununalpolitik). - Daß umgekehrt ein restriktives Konununalwahlrecht zur Radikalisierung beitragen kann, zeigt Z.B. Wolfram Wette am Beispiel von Sachsen und insbesondere der Stadt Chemnitz: Gustav Noske. Eine politische Biographie, Düsseldorf 1987, S. 53. Bei diesem Vergleich ist allerdings auch zu berücksichtigen, daß die südwestdeutsche Arbeiterbewegung numerisch inuner viel zu schwach war, um ernsthaft mit einer alleinigen Machtausübung rechnen zu können. 31 Der Versuch Christ-Gernlins, die Radikalität der Stuttgarter Parteiorganisation lediglich als "das Werk einer kleinen Gruppe von (ortsfremden) Intellektuellen" an der Spitze zu erklären, ist nicht sehr überzeugend; vgl. dies., Württembergische Sozialdemokratie~ S. 190.
32
I. Konsolidierung und Erschütterung: SPD und KPD im Jahre 1928
ihnen die Krakeeler, die durch lange Jahre das innere Parteileben gestört und verwirrt, nun plötzlich draußen waren. ,,32 Die Zeit der Revolution ist für beide Länder gut erforscht, weshalb hier auf die entsprechenden Arbeiten verwiesen werden kann. 33 Gerade in Baden und Württemberg verstanden sich die führenden Sozialdemokraten in keiner Weise als Revolutionäre. Ihr erstes Ziel war die Verhinderung von Chaos und Zusammenbruch, sie wollten ihre Länder so schnell wie möglich wieder in politisch und wirtschaftlich geordnete Bahnen führen. Dies betonten sie im übrigen bis zuletzt ohne Unterlaß gegen Angriffe von Rechts. In beiden Ländern wurden folgerichtig schon in den Revolutionstagen Koalitionsregierungen mit bürgerlichen Parteien unter sozialdemokratischer Führung gebildet, die in den Wahlen zu den verfassungsgebenden Versammlungen von 1919 auch bestätigt wurden. 34 Doch während diese Koalition in Baden - mit zeitweiligen Unterbrechungen und Wechseln auf seiten der liberalen Parteien - bis Ende 1932 Bestand hatte, brach sie in Württemberg bereits im Sommer 1920 auseinander. Außer einem kurzen Zwischenspiel von Ende 1921 bis Anfang 1923, mit Wilhelm Keil als Arbeits- und Ernährungsminister, standen die Sozialdemokraten hier durchgehend in der Opposition. 32 Wilhelrn B1os, Von der Monarchie zum Volksstaat. Zur Geschichte der Revolution in Deutschland, insbesondere in Württemberg, 2 Bde., Stuttgart 1922, Bd. 1, S. 9. - Diese Vorgänge und die Geschichte der USPD und der Revolution sind vor allem rur Württemberg gut dokumentiert und erforscht; Vgl. Manfred Scheck, Zwischen Weltkrieg und Revolution. Zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Württemberg 1914-1920, Köln!Wien 1981; Sylvia NeuschI, Geschichte der USPD in Württemberg oder Die Unmöglichkeit einig zu bleiben, Eßlingen 1983; Sylvia Greiffenhagen, Die württembergische Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik (1914-1933), in: Die SPD in Baden-Württernberg und ihre Geschichte. Von den Anfängen der Arbeiterbewegung bis heute. Hg. von Jörg Schadt und Wolfgang Schmierer, Schriften zur politischen Landeskunde BadenWürttembergs, Bd. 3, hg. v. der Landeszentrale fiir politische Bildung Baden-Württemberg, Stuttgart usw. 1979, S. 160-191. (In diesem nicht zuletzt durch den ausruhrlichen Anhang nützlichen Band auch Zusammenfassungen der zitierten Arbeiten von Schadt, Franzen, Christ-Gmelin und Stehling). - Im übrigen vgl. auch die detaillierten Lebenserinnerungen von Wilhelm Keil, Erlebnisse eines Sozialdemokraten, 2 Bde., Stuttgart 1947/48.
33 Außer den bereits genannten vgl. auch die Quellendeditionen: Arbeiter- und Soldatenräte in Baden 1918/19, bearb. von Peter Brandt und Reinhard Rürup (= Quellen zur Geschichte der Rätebewegung in Deutschland 1918/19, Teil II, hg. v. der Kommission rur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien), Düsseldorf 1980, dazu neuerdings die erweiterte und auf den neu esten Forschungsstand gebrachte Einleitung dieses Bandes, der auch eine kurze Zusammenfassung der Geschichte der Arbeiterbewegung in Baden enthält: dies., Volksbewegung und demokratische Neuordnung in Baden 1918/19. Zur Vorgeschichte und Geschichte der Revolution. Hg. von den Stadtarchiven Karlsruhe und Mannheirn, Sigmaringen 1991; zu Württemberg: Regionale und lokale Räteorganisationen in Württemberg, bearb. von Eberhard Kolb und Klaus Schönhoven (= Quellen zur Geschichte der Rätebewegung in Deutschland 1918/19, Teil II, hg. von der Kommission rur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien), Düsseldorf 1976. 34 Vgl. dazu und zum Folgenden vor allem Jutta Stehling-Höfling, Die badische SPD im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik (1914-1933), in: SPD in Baden-Württemberg, S. 132-159, S. 136 f1:, und Sylvia Greiffenhagen, Württembergische Sozialdemokraten, ebda., S. 174 ff.
1.J\usgangsbedingungen
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Dabei waren die württembergischen Sozialdemokraten keineswegs in geringerem Maße bereit, Regierungsverantwortung zu tragen; der Schlüssel zu dieser Entwicklung ist vielmehr in der Haltung ihrer Koalitionspartner, und dabei vor allem des Zentrums, und in der sehr unterschiedlichen Parteienkonstellation in beiden Ländern zu suchen. Aufgrund des höheren Katholikenanteils war die badische Zentrumspartei die eindeutig dominierende Kraft, und die Sozialdemokratie konnte in der Koalition nie mehr als die Rolle eines Juniorpartners spielen. Daß die SPD sich mit dieser Position zufriedengab und ohne zwingende Not in der Koalition mit dem Zentrum verblieb - eine rein bürgerliche republikanische Mehrheit wäre jederzeit möglich gewesen -, spricht für den dezidiert "reformistischen" Charakter der badischen Partei. Hinzu kam ein entschieden republikanischer Kurs des badischen Zentrums, wie er vor allem in den führenden Persönlichkeiten, sei es der langjährige Parteiführer Joseph Schofer oder der dann in die Reichspolitik gehende Joseph Wirth, zum Ausdruck kam. Mit seiner starken Stellung, ohne eigentlichen Konkurrenten im bürgerlichen Lager, konnte sich das Zentrum eine konzessionsbereitere Politik allerdings auch leisten. Dagegen stellte das Zentrum in Württemberg nur eine unter mehreren Kräften auf seiten des Bürgertums und stand vor allem zu dem sehr starken Bauern- und Weingärtnerbund in scharfer Konkurrenz um ländliche Wähler. In dieser Konstellation, mit einem stärker zersplitterten bürgerlichen Lager, hatte die SPD - bei nominell etwa gleicher Stärke wie in Baden - in einer Koalition ein größeres Gewicht, was die bürgerlichen Parteien des strukturell konservativen und in großen Teilen landwirtschaftlich geprägten Württemberg nicht hinzunehmen bereit waren. Die Regierungstätigkeit der SPD in Baden war geprägt von der nur nach der Landtagswahl von 1929 zeitweilig unterbrochenen Besetzung des Innenministeriums, wodurch wie auch andernorts nicht zuletzt das Verhältnis zu den Kommunisten beeinflußt wurde. Schon gleich zu Beginn der Republik wurde dieses Verhältnis durch die Ausrufung und anschließende gewaltsame Niederschlagung der kurzlebigen Mannheimer Räterepublik im Februar 1919 schwer (und auch in den Augen vieler Sozialdemokraten unnötig) belastet. 35 Noch schwerere Nachwirkungen hatte die vom Innenminister veranlaßte militärische Niederschlagung des auf dem Höhepunkt der Nachkriegskrise ausgebrochenen oberbadischen Aufstandes vom Herbst 1923 und der einige Wochen später folgenden Unruhen in Mannheim und in anderen Städten. 36 Seit diesen Ereignissen war Lörrach endgültig zu der kommunistischen Hochburg unter den größeren Städten Badens geworden; die Stimmenzahl der KPD bei Wah35
Vgl. Arbeiter- und Soldatenräte in Baden, S. CVII ff.
Zu den Unruhen in Lörrach und Umgebung vgl. die zeitgenössische Dissertation von Karlheinz Mundhenke, Versuch einer sozialpsychologischen Analyse des Oberbadischen Aufstandes im September 1932, Heidelberg 1930. 36
3 Kurz
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1. Konsolidierung Wld Erschütterung: SPD Wld KPD im Jahre 1928
len konnten die Sozialdemokraten niemals mehr auch nur annähernd erreichen. 37 Sozialdemokratische Regierungs- und insbesondere Innenpolitik wurde durch niemand anderes so sehr personifiziert wie durch Adam Remmele, der das Innenressort zehn Jahre lang bekleidete, dabei zeitweilig auch Unterrichtsund Justizminister und zweimal, 1922123 und 1927128, badischer Staatspräsident war. Die außerordentliche Geschichte eines Bruderzwists - Adam Remmeles jüngerer Bruder Hermann war seit 1920 im Zentralkomitee der KPD und zusammen mit Heinz Neumann und Ernst Thälmann führender Vertreter des ultralinken Kurses ab 1928 - läßt sich aufgrund des kompletten Mangels jeglicher Quellen nicht mehr schreiben. Die Brüder Remmele entstammten einem kleinbürgerlich-handwerklichen Milieu, der Vater war Müller, und beide Söhne erlernten ebenfalls ein Handwerk; Adam Remmele wurde Müller wie der Vater, und sein Bruder ging in Ludwigshafen als Dreher in die Lehre. Eines lehrt diese Brudergeschichte aber sicherlich, nämlich eine weitgehende Vorsicht vor Versuchen, politische Ausrichtung und Radikalisierung zu einseitig aus sozialgeschichtlichen Gegebenheiten herzuleiten. 38 Sicher war es kein Zufall, daß Adam Remmele eine typische Karriere innerhalb der Gewerkschaften, dann als Leiter des städtischen Arbeitsamtes in Ludwigshafen und schließlich als Mannheimer Stadtrat machte, während Hermann Remmele sich in erster Linie parteipolitisch betätigte, als Mitbegründer der süddeutschen ArbeiteIjugendbewegung, als Journalist und als Organisator der zahlenmäßig schwachen Linken in Mannheim vor dem Krieg. Ähnlich, wenngleich meist nicht ebenso erfolgreich, sahen die Karrieren fast aller führenden Funktionäre, und zwar sowohl der Sozialdemokraten als auch der Kommunisten in den beiden hier betrachteten Ländern, aus.
2. Die KPD um die Jahreswende 1927/28 a) Noch einmal gegen die Linke: Die badischen Kommunisten Wie im ersten Kapitel bereits kurz angedeutet, hatte sich in Baden im Sommer 1927 eine "Nachgeburt" zu der Kampagne gegen die Linken in der KPD 37 Leider ist auch dieses aufraIlende und wichtige Phänomen durch keinerlei QueIlenbestände mehr genauer zu analysieren.
38 Zu Adam Rernmele (1877-1951) vgl. den Artikel von Gerhard KaIler, in: Badische Biographie. Im Auftrag der Kommission filr geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg hg. v. Bemd Ottnad, NF, Bd. 2, Stuttgart 1982, S. 225-228, und den autobiographischen Bericht: "Wie es einst war", abgedruckt in: "Wie wir den Weg zum Sozialismus fanden." Erinnerungen badischer Sozialdemokraten, hg. v. Jörg Schadt, Stuttgart 1981, S. 56-62; zu Hermann Rernmele (1880-1939?) vgl. H. Weber, Wandlung, Bd. 2, S. 255 ff.
2. Die KPD um die Jahreswende 1927/28
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um die ausgeschlossenen Führer Ruth Fischer und Arkadij Maslow ereignet. Bereits am 12. März 1927 hatte die erweiterte Bezirksleitung Baden den Landtagsabgeordneten Jakob Ritter als fiihrenden Repräsentanten der Linken von seiner Position als Orgleiter (Organisationssekretär) abgelöst. 39 Bis zum Herbst 1927 waren alle maßgeblichen Linken, darunter auch der Reichstagsabgeordnete und langjährige Führer der Mannheimer Partei und Polleiter (politischer Sekretär) des Bezirks Baden Georg Kenzler, aus der Partei ausgeschlossen worden, nachdem Kenzler und Ritter noch vergeblich versucht hatten, die Partei durch Rundschreiben fiir sich zu mobilisieren. Diese Ausschlüsse bislang fiihrender Funktionäre wirkten sich einmal mehr lähmend auf die Parteiorganisation aus, und der wichtigste Bezirk Mannheim mußte vollständig neu organisiert werden. 40 Einen Eindruck davon, wie die KPD mit dieser Opposition umging, gab der Verlauf einer Versammlung mit Ruth Fischer Mitte November in Mannheim. Nach Eröffnung der Versammlung verursachten die Vertreter von KPD und RFB, die die Mehrheit der etwa 300 Zuhörer ausmachten, unter Führung des Reichstagsabgeordneten Walter Stoecker einen solchen Tumult, daß die Referentin abbrechen und die Versammlung in ein kleineres Lokal verlegt werden mußte. Dies war nach Polizeiangaben die letzte öffentliche Veranstaltung der linken Opposition in Mannheim. 41 Der am 26. und 27. November 1927 in Karlsruhe tagende badische Bezirksparteitag setzte unter diese Auseinandersetzungen einen gewissen Schlußstrich. Der Bericht der Bezirksleitung an den Parteitag rollte den Konflikt der vergangenen Monate noch einmal auf. Bedauernd stellte er fest, daß die innerparteilichen Auseinandersetzungen eine "ungeheure Menge Arbeits- und Nervenkraft" gekostet hätten und daß "die Nachteile dieses Partei streites mehr ins Gewicht" fielen als die Vorteile. Zwar gebe es "nach außen hin keine organisierte Ruth-Fischer-Fraktion, doch hintenherum ... (würden) verlogene Rundschreiben und Zeitungen" verschickt, die ein starkes Mißtrauen gegen die Parteileitung und eine verbreitete Passivität der Mitglieder zur Folge gehabt hätten. Die Führer der Linken, Ritter und Kenzler, hätten in Mitgliederver39 Dazu der Lagebericht des Badischen Landespolizeiamtes vom 21.3.1927, GLA Karlsruhe 234/10131. 40 Lagebericht des Badischen Landespolizeiamtes vom 1.11.1927, SAB 4,65/1774; die neu konstituierte engere Bezirksleitung bestand nach diesem Bericht aus sieben Personen: Paul Schreck (18921948), Josef Hahn (1896-1965), Hermann Weber (1888-1937?), Paul Langner (1896-1935), Stefan Heymann (1896-1967), Georg Lechleiter (1885-1942) und Wilhelm Müller (1890-1957); zu den Biographien der genannten vgl.: H. Weber, Wandlung, Bd. 2, S. 287 (, 148 f., 338, 203, 163, 204 f, 228. - Nach Angaben von Rüdiger Zimmermann, Der Leninbund. Linke Kommunisten in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1978, S. 74, wurden Ende Juli 1927 zusammen mit Kenzler und Ritter drei weitere Mannheimer Funktionäre aus der KPD ausgeschlossen. Zimmermann nennt dabei fälschlicherweise auch Max Faulhaber, es war aber Martin Faulhaber. 41
3'
Lagebericht des Badischen Landespolizeiamtes vom 15.1.1928, StAF, LK Konstanz 1617.
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I. Konsolidierung Md Erschütterung: SPD Md KPD im Jahre 1928
sammlungen immer wieder zur Nichtanerkennung der Parteibeschlüsse aufgefordert und seien deshalb schließlich ausgeschlossen worden. 42 Mit dem Parteiausschluß mußte Jakob Ritter auch die KPD-Fraktion im Badischen Landtag verlassen, die damit nur noch drei Abgeordnete zählte. Am 23. November 1927 gab der Landtagspräsident Baumgartner bekannt, "daß der Abgeordnete Ritter mitteilen läßt, daß seine Bezeichnung hier im Hause nicht ,fraktionslos' sei, sondern in Zukunft ,Linker Kommunist"', was im Plenum für Heiterkeit sorgte und den Kommunisten einen hämischen Kommentar der Freiburger "Volkswacht" einbrachte. 43 Wo die wesentlichen ideologischen Unterschiede zwischen den "Linken Kommunisten" und der KPD lagen, machte Ritter in einer bemerkenswerten Landtagsrede zum Etat am 8. Juni 1928 deutlich: Er warf den "Rechtskommunisten" im allgemeinen und den drei badischen Landtagsabgeordneten im besonderen eine Tendenz zum Reformismus vor. In der KPD gebe es verschiedene Richtungen, wobei Baden aber eine Ausnahme bilde: "... das sind die drei Abgeordneten dieser Partei in Baden, die von einem einheitlichen Gedanken geleitet werden, von dem Gedanken des Reformismus. ... Dagegen gibt es in der Arbeitnehmerschaft dieser Partei heute eine sehr starke Richtung, die durchaus nicht mit diesem Kurs einverstanden ist, sondern verlangt, es solle zurückgekehrt werden auf den Boden des revolutionären Klassenkampfes - aber nicht zu Bebei, der auch nicht anders war als ausgesprochener Reformist, sondern vorwärts zu Lenin." Grundsätzlich bekannte er, daß er eine Arbeiter- und Bauernregierung ablehne, "wenn sie zusammenkommen soll auf der Grundlage eine parlamentarischen Kuhhandels", das heißt durch eine Zusammenarbeit mit der SPD. Nur "wenn sie herausgeboren wird aus dem lebendigen Kampfe der Arbeiterklasse gegen die Bourgeoisie" sei die "Diktatur des Proletariats" möglich. 44 Zum Zeitpunkt dieser Rede spielte die linke Opposition in Baden allerdings schon keine Rolle mehr. Angesichts des Programms, wie es aus Ritters Rede zu entnehmen war, entsprach die Vermutung der badischen politischen Polizei zu diesem Bedeutungsverlust der kommunistischen Linken sicherlich in etwa den Tatsachen: "Keinesfalls dürfte die Überzeugung in der kommunistischen Anhängerschaft von der Richtigkeit der einen oder anderen Parteianschauung für die Stellungnahme ausschlaggebend sein. Für diese Auffassung spricht der geringe Grad der politischen Schulung der organisatorisch nur in ganz bescheidenem Maße erfaßten kommunistischen Wählerschaft ... " Solche rein 42 Bericht der Bezirksleitung Baden an den Bezirksparteitag vom 26.127.11.1927, IfGA ZPA I 3/25/25. 43 Verhandlungen des Badischen Landtags, III. Landtagsperiode, 3. Sitzungsperiode, Heft 552a, Sp. 16; der sozialdemokratische Kommentar in VW, 274, 25. 11.1927. 44
LandtagspTotokoll, a.a.O, Sp. 1283 f.
2. Die KPD um die Jahreswende 1927/28
37
ideologischen Auseinandersetzungen gingen an der Parteibasis schlichtweg vorbei. 45 Da der Leninbund, wie sich die von den linken Konununisten gegründete Partei nannte, in der Folge keine besondere Bedeutung mehr erlangte, sei seine weitere Entwicklung in Baden bereits hier kurz skizziert. Im August 1928 fand eine Bezirkskonferenz der Partei für Südwestdeutschland in Mannheim statt, auf der drei Unterbezirke, nämlich Hessen-Frankfurt, Baden und Pfalz eingerichtet wurden. Sitz der Bezirksleitung war Mannheim, und der Leitung gehörte neben dem Orgleiter Ritter auch der ehemalige Chefredakteur der konununistischen Mannheimer "Arbeiterzeitung" Rudolf Seyfried an. Um die Jahreswende 1928/29 erlebte der Leninbund in Baden noch einmal einen zeitweiligen organisatorischen Aufschwung durch weitere Parteiausschlüsse in einigen Städten, zu einer Zeit, als im übrigen Reich längst die Kampagne gegen die Rechte lief. Auf lokaler Ebene erzielte die Partei durchaus auch relevante Wahlerfolge, was wohl in erster Linie auf die Loyalität der Mitgliedschaft zu einzelnen führenden Funktionären zurückzuführen war. Am meisten fiel hier die Stadt Bruchsal auf, wo die linken Konununisten bei der Reichstagswahl vom 20. Mai 1928630 gegen nur 81 Stinunen der KPD erreichten. Bei der badischen Landtagswahl im Oktober 1929 erhielt die Partei nur noch ein Drittel der Stinunen von 1928, wovon wiederum allein ein Drittel aus Mannheim kam. Das Landtagsmandat des Mitglieds der Reichsleitung des Leninbundes Jakob Ritter ging verloren. Ritter selbst trat im Juni 1932 mit einem Teil der Mannheimer Ortsgruppe zur SAP über, während der Mannheimer Leninbund bis 1933 von Seyfried weitergeführt wurde. 46 Eine parallele Entwicklung nahm im übrigen auch der Baden benachbarte Bezirk Pfalz der KPD. Hier hatte die Berliner Zentrale sogar noch größere Schwierigkeiten und setzte im Frühjahr 1928 die auf dem pfälzer Bezirksparteitag am 10. und 11. Dezember 1927 mit Zweidrittelmehrheit gewählte linke Bezirksleitung schlicht ab, um sie durch eine kommissarische Leitung zu ersetzen. Auch in der Pfalz gab es einige Hochburgen des Leninbundes, die ebenfalls meist auf die Loyalität zu lokalen Führern zurückzuführen waren, wie zum Beispiel in der Stadt Speyer. 47 Unter anderen spricht dieser Punkt für 4~ Lagebericht des Badischen Landespolizeiamtes vorn 18. März 1928, StAF LK Konstanz 1617; der Tenor dieses Polizeiberichts, mit der deutlichen Geringschätzung der organisatorischen und politischen Lage der Kommunisten, ist im übrigen durchaus typisch rur die einern sozialdemokratischen Innenrninister unterstehende politische Polizei Badens. 46 Vgl. dazu R Zimmermann, Leninbund, S. 74, 124, 178, 186 1:, 232; das Wahlergebnis in Bruchsal: Die Reichstagswahl arn 20. Mai 1933 in Baden. Bearb. und hg. vorn Bad. Statistischen Landesarntes, Karlsruhe 1928, S. 48 1:
47 Zur Absetzung der pflilzischen Bezirksleitung vgl. den Bericht der VW, 128, 4.6.1928; zum Beispiel Speyer: R Zimmermann, Leninbund, S. 190.
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I. Konsolidierung und Erschütterung: SPD und KPD im Jahre 1928
eine enge Verwandtschaft der beiden benachbarten Regionen in bezug auf politische Kultur und Traditionen, wie sie im ersten Kapitel beschrieben wurden, und darin unterschieden sich beide deutlich von Württemberg. Der Bericht der Bezirksleitung an den badischen Bezirksparteitag im November 1927 enthielt eine Analyse der vom Zentralkomitee der KPD angesetzten und im Bezirk Baden am 15. Juli 1927 abgeschlossenen Reichskontrolle, die detaillierte Aufschlüsse über die Organisationsstruktur des badischen Parteibezirks und damit eine Art Bestandsaufnalune zu Beginn des hier in erster Linie interessierenden Zeitraums gab. Von der Kontrolle waren etwa 86% der Parteimitglieder erfaßt worden. Nach dieser Aufstellung waren von den Wählern der KPD bei den badischen Landtagswahlen von 1925 6,3% Parteimitglieder und zwölf Prozent Leser der "Arbeiter-Zeitung", während immerhin 23% die von Willi Münzenberg herausgegebene "Arbeiter-Illustrierte-Zeitung" lasen. Besonders kritisch merkte die Bezirksleitung an, daß nur 68,4% der Parteimitglieder Bezieher des Parteiorgans seien. 97% der badischen KPDMitglieder hatten die Volksschule besucht, 1,2% die Mittelschule und 0,4% eine Hochschule. Der Altersaufbau sah in dieser Aufstellung folgendermaßen aus: 18 bis 25 Jahre ............................................................... 15,9% 26 bis 30 Jahre ............................................................... 21,7% 31 bis 40 Jahre ............................................................... 27,6% 41 bis 50 Jahre ............................................................... 21 % über 50 Jahre ................................................................. 13,8%
Zählt man die beiden ersten Altersgruppen zusammen, wird deutlich, daß das ,jugendliche Element" in der badischen Partei außerordentlich stark vertreten war. 8,5% der Mitglieder von 1927 waren schon vor dem Krieg in der SPD organisiert. Aufschlußreich ist auch die Aufstellung zur Dauer der Parteizugehörigkeit, die zeigt, daß das Eintrittsdatum ziemlich gleichmäßig über die einzelnen Jahre verteilt war, mit Ausnahme des Jahres 1920, als die Mehrheit der USPD zur KPD kam. Dies sah in den folgenden Jahren sehr anders aus. In der KPD waren organisiert seit dem Jahre: 1919 .................. .4,8% 1920 ................. 17,1% 1921 ................... 5,9% 1922 ................... 5,2% 1923 ................... 8,4%
1924 ................... 4,3% 1925 ................... 5,9% 1926 ................... 6,2% 1927 ................... 4,1%
Für ein Bild der kommunistischen Organisationsstruktur ist es ebenfalls von Inte~esse, wieviele Parteimitglieder in anderen proletarischen Organisa-
2. Die KPD um die Jahreswende 1927/28
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tionen vertreten waren. Mit weitem Abstand an der Spitze stand dabei die Rote Hilfe, bei der die Hälfte der badischen Kommunisten Mitglied war. Es folgten die Genossenschaften mit 34,1%, die Sportverbände (31%), der Rote Frontkämpferbund (RFB) und die Rote Jungfront (RJ) (31 %) und schon mit einigem Abstand die Freidenkerorganisation (16,2%). Schwächer vertreten waren die Mieterorganisationen, der Arbeitersamariterbund, die Kleingartenorganisationen und der Rote Frauen- und Mädchenbund (RFMB). Die Sozialstruktur, wie sie nach den parteieigenen Kategorien erstellt wurde, betonte den proletarischen Charakter der Partei, wobei allerdings nicht aus der Tabelle hervorgeht, wieviele der Parteimitglieder arbeitslos waren. Die badische Partei setzte sich zusammen aus: Industriearbeitern ............................................................ 77,6% Landwirtschaftlichen Arbeitern ......................................... 5,8% Selbständigen .................................................................... 2,9% Hausfrauen........................................................................ 5,5% Angestellten und Beamten ................................................. 2,8% Handwerklichen und gewerblichen Arbeitern .................... 3,2% Handlungsgehilfen ............................................................ 0.7% Unteren Beamten ......... ................... .......... ........................ 1,3% Mittelstand ........................................... ............................ 0,9% Bauern .............................................................................. 0,3%
Ganz besonders beklagte die badische Parteiführung, daß die große Mehrzahl der Parteimitglieder in kleinen bis mittleren Betrieben arbeitete; die Partei war somit weit entfernt von dem zentralen bolschewistischen Programmpunkt der Eroberung der Großbetriebe. Der Parteibezirk habe folglich das Hauptaugenmerk auf die Erschütterung der Stellung der SPD in den Großbetrieben zu richten. Ein neuralgischer Punkt war und blieb für die badischen Kommunisten die Gewerkschaftsarbeit. Gewerkschaftlich organisiert waren 1927 immerhin noch 63% der Parteimitglieder gegen 29% Unorganisierte, und nur 0,7% waren aus einer Gewerkschaft ausgeschlossen worden. Von den Organisierten gehörten was der Bedeutung dieser Gewerkschaft auch sonst entsprach - 23,1% dem Deutschen Metallarbeiterverband (DMV) an. Die übrigen verteilten sich auf die folgenden Verbände: Baugewerbsbund ............................................................... 8,9% Fabrikarbeiterverband ....................................................... 5,6% Holzarbeiterverband ................. ,.................... .......... .......... 4,2 % Textilarbeiterverband ........................................................ 4,2 % Eisenbahner ...................................... ................................ 1,9% Tansportarbeiter .......................................... ...................... 2,3%
40
I. Konsolidierung und Erschütterung: SPD und KPD im Jahre 1928
Graphischer Block............................................................. 1,5% Sonstige ............................................................................ 4,4%
Verglichen mit der Gesamtverteilung der Industrie und der Beschäftigten in Baden fällt die bemerkenswert weit unterdurchschnittliche Repräsentanz der Tabak- und der Textilindustrie und auch der Holz- und Papierindustrie unter den gewerkschaftlich organisierten Kommunisten auf. Bei allen genannten und für Baden recht bedeutenden Industriezweigen war allerdings allgemein der Organisationsgrad aufgrund der Nähe zum ländlichen Bereich und des hohen Frauenanteils gering. 48 Was in dieser Aufstellung nicht zum Ausdruck kam, beklagte der Gewerkschaftsbericht der badischen Bezirksleitung umso nachdrücklicher, nämlich den denkbar geringen Einfluß der badischen Kommunisten in den Gewerkschaften. Die Wahlen zu den verschiedenen Verbandstagen seien für die KPD ein "totaler Mißerfolg" gewesen, mit der einzigen Ausnahme der Verwaltungsstelle des Legerarbeiterverbandes in Weinheim, wo es unter der Führung des späteren Landtagsabgeordneten und Polleiters für Baden Robert Klausmann eine kommunistische Mehrheit gab. 49 Von den 26 größten Betrieben Badens existierte nur in zweien eine kommunistische Betriebsratsmehrheit. Eine weitere Tatsache war bezeichnend für den Kontrast zwischen kommunistischem Selbstverständnis und Propaganda und der (südwestdeutschen) Realität: Nur 21 % der Parteimitglieder waren aus der Kirche ausgetreten, was die Bezirksleitung zu der Einsicht brachte, daß auf diesem Gebiet zunächst einmal die eigene Mitgliedschaft aufzuklären sei. 50 All diese Parameter, die das Bild der badischen Partei im Jahre 1927 ausmachten, sollten sich in den folgenden Jahren der Krise erheblich verschlechtern (aus der Sicht der KPD), und dies bei stetig wachsenden Wahlerfolgen. Während der zwanziger Jahre hatte sich in dem für die Kommunisten insgesamt eher schwachen Bezirk Baden ein ausgeprägtes kommunistisches Milieu etablieren können, das auch während der Jahre nach 1924, die eher von einer Stagnation der KPD gekennzeichnet waren, Bestand hatte. Vor allem galt dies für Mannheim, als dem eindeutigen Zentrum der Parteiorganisation, aber auch für andere Städte und insbesondere für die südliche Region am Hochrhein von Lörrach bis zum Bodensee. 51 Von Beginn an war die rigorose 48 Zur Verteilung der Betriebe und Arbeiter nach Gewerbegruppen vgl.: Die Industrie in Baden auf Grund amtlichen Materials. Bearb. und hg. vom Badischen Statistischen Landesamt, KarIsruhe 1926, S.4.
49
Zur Biographie von Klausmann (1896-1972) vgl. H. Weber, Wandlung, Bd. 2, S. 182.
'0 Alle Angaben nach dem Bericht der badischen Bezirksleitung, a.a.O.
'1 Zu Mannheim vgl. die Erinnerungen der aus Mannheim stammenden beiden Kommunisten Max Faulhaber, "Aufgegeben haben wir nie ... " Erinnerungen aus einem Leben in der Arbeiterbewegung,
2. Die KPD wn die Jahreswende 1927/28
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Abgrenzung von den Sozialdemokraten die Raison d'etre der Kommunisten gewesen, was nicht selten zur tiefen Feindschaft geführt hatte und immer von einer erbitterten Bekämpfung des Gegners innerhalb der Arbeiterbewegung begleitet gewesen war. In der Erinnerung der Zeitgenossen und in der Forschung wurde in der Regel die Durchführung der ultralinken Generallinie der KPD ab 1928 als Ursache dafür gesehen, daß der Gegensatz zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten irreversibel geworden war. Dies soll hier auch nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden. Wohl aber scheint es angebracht, die Bedeutung dieses Bruchs innerhalb der kommunistischen Politik zu relativieren. Ein Ereignis in Mannheim vom Ende des Jahres 1927 und insbesondere die Auseinandersetzungen zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten um dieses Ereignis warfen ein deutliches Schlaglicht auf das Verhältnis zwischen beiden Parteien zu einem Zeitpunkt, bevor die durchaus folgenschwere ultralinke Wende der Kommunisten vollzogen wurde. Am Abend des 8. Dezember 1927 wurde in der Neckarstadt, einem Arbeiterviertel Mannheims, der 33jährige Arbeiter Fritz Luley im Verlauf einer Schlägerei zwischen vier Kommunisten und drei Nationalsozialisten von dem 17jährigen Nationalsozialisten Hermann Baumgart erstochen. Nach den Akten des Amtsgerichts Mannheim hatte sich der Vorfall so zugetragen, daß die Kommunisten (als solche wurden sie geführt, obwohl Luley selbst kein Parteimitglied war) Streit mit den Nationalsozialisten gesucht hatten. Während der Auseinandersetzung wurde Luley dann mit seinem eigenen Messer erstochen. Opfer wie Täter hatten in ihrem Stadtviertel den Ruf von Schlägern und Messerstechern. Die lange Vorstrafenliste Luleys beinhaltete Verurteilungen wegen Diebstahls, Hehlerei und Körperverletzung, weswegen er schon mehrere Haftstrafen verbüßt hatte. Der jugendliche Täter wurde fast unmittelbar nach der Entlassung aus eineinhalbjähriger Jugendstrafe erneut wegen einer Messerstecherei zu einem Jahr Gefangnis verurteilt. Soweit zu dem Fall und den Beteiligten. 52
Mit diesem Toten machten nun die Mannheimer Kommunisten, wie die sozialdemokratische "Volksstimme" ganz richtig feststellte, ein "politisches Geschäft". Am 13. Dezember riefen KPD und RFB in der "Arbeiterzeitung" zur Protestdemonstration gegen die "faschistischen Mordbandidten" auf, die den "klassenbewußten Arbeiter" Luley auf dem Gewissen hätten. Angeprangert hg. von Peter Fäßler, Heiko Haumann, Thomas Held, Hermann Schmid und Edgar Wolfrum, Marburg 1988, bes. S. 51-128, und des späteren Verteidigungsministers der DDR Heinz Hoffinann, Mannheim, Madrid, Moskau. Erlebtes aus drei Jahnehnten, Berlin (Ost) 1982, bes. S. 60-139; vgl. außerdem den Abschnitt "Die Kommunisten" in: Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Mannheim. Im Auftrag der Stadt Mannheim hg. v. Erich Matthias und Hermann Weber unter Mitwirkung von Günter Braun und Manfred Koch, Mannheim 1984, S. 245-347, bes. S. 249-257. S2
Diese Fakten sind entnommen den Prozeßakten des Amtsgerichts Mannheim, GLA 276/4-11.
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I. Konsolidierung und Erschütterung: SPD und KPD im Jahre 1928
wurden in dem Aufruf die Führer von ADGB, SPD und Reichsbanner, die eine gemeinsame Demonstration abgelehnt hätten, was bedeutete, "daß sie die faschistischen Mordbuben ungehindert morden lassen, daß sie es ablehnen, den Kampf gegen diese Mordbanditen und die hinter diesen stehenden kapitalistischen Mächte und ihre Regierungen zu führen." Deshalb rief die KPD die Arbeiter Mannheims auf, sich auch gegen den Willen der sozialdemokratischen Führer an der Kundgebung zu beteiligen. 53 In welchen Zusammenhang die badischen Kommunisten den Vorfall stellten, zeigte der Kommentar der "Arbeiterzeitung" zu der Beerdigung Luleys am 13. Dezember: "Still, ernst und entschlossen sahen die Arbeiter vor sich hin. Einer der ihren wurde zu Grabe getragen, ein Arbeiterleben, geopfert vom Moloch Kapital, einer der Zehntausende von Arbeitern, die als Opfer in dieser glorreichen Republik ermordet wurden." Der Führer des RFB, Gau BadenPfalz, Stefan Heymann, gelobte am Grab "Rache für den feigen Meuchelmord", und bei der anschließenden Kundgebung auf dem Marktplatz erklärten Josef Hahn und Karl Fischer als Orgleiter beziehungsweise Polleiter der Bezirke Baden und Pfalz: "Auge um Auge, Zahn um Zahn - das ist die Parole gegenüber den faschistischen Mordbuben." Es warf ein bezeichnendes Licht auf die politische Linie der badischen Partei, daß eine solche Losung hier fast zwei Jahre vor Heinz Neumanns berüchtigter Parole: "Schlagt die Faschisten, wo ihr sie trefft!" ausgegeben wurde. 54 Da die Sozialdemokraten die Beteiligung an der Veranstaltung abgelehnt hatten, warf ihnen die "Arbeiterzeitung" "reformistische Sabotage" vor; von den Führern habe man nur "das kleine Berichterstatterchen der Lügenstimme" gesehen, "sonst hielt es wohl jeder unter seiner Würde, einem von Faschisten ermordeten Arbeiter das letzte Geleit zu geben". Wegen der Berichterstattung der "Volksstimme" müsse ,jeder ehrliche Arbeiter ... die Konsequenzen ziehen und das Schandblatt der Bürgerblocklakaien abbestellen". 55 Die Sozialdemokraten ihrerseits prangerten den "Ton der Rache" an, der allein die Kundgebungen der Kommunisten beherrscht habe. "Maßlose Hetze, die nach neuem Blut, neuem Mord schreit, das ist das Ende vom Lied", schrieb die "Volksstimme", und fügte hinzu: "Nein, nicht so, nicht so ist eine neue sozialistische Gesellschaftsordnung aufzubauen" . Im übrigen sei die Veranstaltung nur dazu benutzt worden, "die bekannten Schimpfkannonaden gegen die Sozialdemokratie vom Stapel" zu lassen. 56 Bei Fortdauer der PresseS3
AZ(M),290, 13.12.1927,GLA276/1O.
AZ (M), 291,14.12.1927, GLA276/1O; zu Fischer (1893-1940) vgl. H. Weber, Wandlung, S. 117; zu Heinz Neumanns Parole vom Herbst 1929 vgl. Eve Rosenhaft, Beating the Fascists? Communists and Political Violence, 1929-1933, Carnbridge 1983, S. 64 f S4
ss AZvomI4.12.1927,a.a.O. S6
Volksstimme, 338, 14.12.1927, GLA 276/10.
2. Die KPD um die Jahreswende 1927/28
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fehde um die Ereignisse griff die Mannheimer SPD-Zeitung am 15. Dezember noch einmal die "Gewaltanbeter" in KPD und RFB an: "Was VOn dieser Seite an politischer Verhetzung, an künstlicher Aufpeitschung der Massenleidenschaften in den letzten Tagen geleistet worden ist, überschreitet alle Grenzen. Alle Aufmärsche des ,Roten Frontkämpferbundes' waren von einem so widerlichen Geruch nach Schminke, Theater und Unehrlichkeit begleitet, daß wir die Arbeiter, die sich zu solchem Komödiantenspiel auch heute noch mißbrauchen lassen, nur bedauern können." Symptomatisch und die Haltung der Sozialdemokraten in den kommenden Jahren bereits andeutend war die Stellungnahme zu der zunehmenden Gewalttätigkeit der Nationalsozialisten in Baden. Als erstes betonte die "Volksstimme" , es gebe "auch ein Recht des Staates auf Respektierung der verfassungsmäßigen Zustände", und sie sah damit die Polizei zunächst gefordert. Dem folgte jedoch eine Drohung auf dem Fuße: Bisher habe die Mannheimer Arbeiterschaft den "nationalsozialistischen Klimbim ... im Bewußtsein ihrer Stärke ... ruhig hingenommen. ... Doch das Maß ist nun voll. Die täglichen Provokationen der Nationalsozialisten müssen nun aufhören. Die Mehrheit der Mannheimer Arbeiterschaft, die den Gewaltanbetern von links und rechts gleich fernsteht, ist nicht gewillt, sich in sinnlose Abenteuer jagen zu lassen. Das sei nochmals in aller Öffentlichkeit betont, doch sie wird, wenn nicht andere Stellen sich berufen fühlen, die von Amts wegen dazu da sind, dem nationalsozialistischen Spuk hier ein Ende zu machen verstehen." Diese Stellungnahme erfolgte immerhin zwei Jahre vor dem ersten aufsehenerregenden Wahlerfolg der NSDAP bei den badischen Landtagswahlen von 1929. 57 Am gleichen Tag verschärfte die "Arbeiterzeitung" ihre Angriffe auf die SPD. Einen Bericht über eine nationalsozialistische Versammlung vom 14. Dezember überschrieb sie mit dem häufig wiederkehrenden Titel: "Remmele schützt die Faschisten". Das große Polizeiaufgebot habe lediglich der Provokation der Arbeiter gedient, um über ein Blutbad anschließend den RFB verbieten zu können. Der Aufmarsch habe "der Mannheimer Arbeiterschaft das wahre Gesicht der Demokratie enthüllt": "Die Bürgerblockmethoden der badischen Regierung zeigen sich immer offener.... Die Lehre für alle Mannheimer Arbeiter aus den letzten Tagen aber muß sein: Gegen die Arbeiterklasse steht eine Welt von Feinden. Die von der Trustbourgeoisie ausgehaltenen faschistischen Rowdies, die Machtorgane der Hindenburgrepublik, die sozialdemokratischen Führer, die Lakaien des Bürgerblocks. ,