Feindbild und Vorbild: Die athenische Demokratie und ihre intellektuellen Gegner 9783110608380, 9783110605075

Was Athenian democracy solely a product of daily practice, emerging without theoretical justification or even an ideolog

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German Pages 343 [344] Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Vom Feind lernen. Der Einfluss der demokratischen Ideologie auf das antidemokratische Denken im 5. und 4.Jahrhundert
Selbstbeschreibungen der Demokratie bei attischen Rednern
Innere Kritiker und welche Umwelt? Intellektuelle zwischen Dissidenz und Systemstabilisierung im Athen des 4.Jahrhunderts
Demokratisches Entscheiden und antidemokratische Ideologie im klassischen Athen
Die Erklärung eines Paradoxes. Pseudo-Xenophons Auseinandersetzung mit demokratischer Praxis und Ideologie
Platons Kritik des demokratischen Konzepts der Freiheit zu tun, was man will
Götterkult und Göttervorstellung in Platons „Nomoi“
(K)ein lupenreiner Demokrat? Überlegungen zur Erziehung des „guten Bürgers“ in Xenophons Kyrupädie
Demokratische Implikationen in der „Politik“ des Aristoteles
Totalitäre Demokratie. Eine Spurenlese zum Verhältnis von Freiheit und Gesetz
Demokratiekritik und antidemokratisches Denken in Deutschland vor und nach dem Ersten Weltkrieg
Die Autorinnen und Autoren
Abkürzungen und Siglen
Register
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Feindbild und Vorbild: Die athenische Demokratie und ihre intellektuellen Gegner
 9783110608380, 9783110605075

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Feindbild und Vorbild

Historische Zeitschrift // Beihefte (Neue Folge)

beiheft 74 herausgegeben von andreas fahrmeir und hartmut leppin

Ivan Jordović, Uwe Walter (Hrsg.)

Feindbild und Vorbild Die athenische Demokratie und ihre intellektuellen Gegner

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Library of Congress Control Number: 2018951308

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Dieses Papier ist alterungsbeständig nach din / iso 9706. Gestaltung: Katja v. Ruville, Frankfurt a. M. Satz: Roland Schmid, mediaventa, München Druck und Bindung: Franz X. Stückle Druck und Verlag e.K., Ettenheim isbn 978-3-11-060507-5 e-isbn (pdf) 978-3-11-060838-0 e-isbn (epub) 978-3-11-060561-7

Inhalt

Vorwort // Ivan Jordović und Uwe Walter

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Vom Feind lernen. Der Einfluss der demokratischen Ideologie auf das antidemokratische Denken im 5. und 4. Jahrhundert // Ivan Jordović und Uwe Walter Selbstbeschreibungen der Demokratie bei attischen Rednern // Claudia Tiersch Innere Kritiker und welche Umwelt? Intellektuelle zwischen Dissidenz und Systemstabilisierung im Athen des 4. Jahrhunderts // Thomas Blank Demokratisches Entscheiden und antidemokratische Ideologie im klassischen Athen // Marian Nebelin

_____ 109

Die Erklärung eines Paradoxes. Pseudo-Xenophons Auseinandersetzung mit demokratischer Praxis und Ideologie // Kurt A. Raaflaub

_____ 153

Platons Kritik des demokratischen Konzepts der Freiheit zu tun, was man will // Ivan Jordović

_____ 183

Götterkult und Göttervorstellung in Platons „Nomoi“ // Kai Trampedach

_____ 209

(K)ein lupenreiner Demokrat? Überlegungen zur Erziehung des „guten Bürgers“ in Xenophons Kyrupädie // Sven Günther

_____ 229

Demokratische Implikationen in der „Politik“ des Aristoteles // Karen Piepenbrink

_____ 249

Totalitäre Demokratie. Eine Spurenlese zum Verhältnis von Freiheit und Gesetz // Egon Flaig

_____ 269

Demokratiekritik und antidemokratisches Denken in Deutschland vor und nach dem Ersten Weltkrieg // Hans-Christof Kraus

_____ 311

Die Autorinnen und Autoren

_____ 329

Abkürzungen und Siglen

_____ 333

Register

_____ 335

1. Antike Personen und anonyme Texte

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2. Moderne Personen

_____ 336

3. Begriffe und Sachen

_____ 337

4. Stellen

_____ 340

Vorwort

Der hier vorgelegte Band geht auf ein Kolloquium zurück, das Ende August 2016 an der Universität Bielefeld stattfand. Die inhaltliche Kohärenz der Vorträge und die lebhaften Diskussionen haben uns ermutigt, die erweiterten und mit Dokumentationen versehenen Beiträge in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zur Debatte zu stellen. Da die zeitgenössische Demokratie zuletzt wieder stärker unter Druck gekommen ist, wobei der sogenannte Populismus nicht einfach als Angriff von außen abgetan werden kann, erscheint es uns plausibel, den Zusammenhang von demokratischer Praxis und Ideologie mit den intellektuellen Angriffen auf beide am Beispiel der griechischen Antike zu untersuchen, dabei aber auch einen Brückenschlag in die Neuzeit und das 20. Jahrhundert zu versuchen. Claudia Tiersch und Egon Flaig sind bereitwillig unserer Bitte nachgekommen, den Strauß der aus den Vorträgen erwachsenen Aufsätze nachträglich zu bereichern; für die Bereitschaft, sich auf unseren Denkanstoß produktiv einzulassen, sind wir ihnen und den am Kolloquium beteiligten Kolleginnen und Kollegen sehr verbunden. Andreas Fahrmeir und Hartmut Leppin haben als Herausgeber der HZ den Band in die Beihefte aufgenommen; Jürgen Müller und Eckhardt Treichel haben das Manuskript mit gewohnter Sorgfalt und zugleich zügig redaktionell bearbeitet, dabei viele Mängel ausgebügelt. Ihnen allen danken wir sehr herzlich. Ivan Jordović / Uwe Walter

https://doi.org/10.1515/9783110608380-001

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Vom Feind lernen Der Einfluss der demokratischen Ideologie auf das antidemokratische Denken im 5. und 4.Jahrhundert von Ivan Jordović und Uwe Walter

I. Nur wer sich ändert, kann sich gleichbleiben – die athenische Demokratie nach dem Peloponnesischen Krieg In der Geschichte gibt es immer wieder einmal Wunder, die kaum jemand bemerkt. Zu ihnen gehört das Überleben der athenischen Demokratie nach der Doppelkatastrophe der totalen militärischen Niederlage gegen Sparta im April 404 1 und der Spaltung der Polis, wie sie sich in der achtmonatigen, blutigen Herrschaft der Dreißig, sodann dem anschließenden kurzen Bürgerkrieg sowie der folgenden formalen Teilung der Bürgerschaft in zwei Gemeinden manifestierte. Der Sonderstaat der Oligarchen in Eleusis bestand immerhin von 403 bis 401. Wie tief die in dieser Zeit geschlagenen Wunden waren, zeigt paradoxerweise gerade die unter spartanischem Druck im Spätsommer 403 beschlossene und 401 erneuerte, bis dahin in einer solchen Stasiskonstellation einzigartige Amnestie. 2 Sie wirkte formal zweifellos befriedend, doch die aus dem Terror der Dreißig erwachsenen „Haßgefühle gegen Gegner oder vermeintliche Feinde der Demokratie ließen sich […] nicht problemlos

1 Als Teil des Wunders hat angesichts der gemeinsamen Grenze mit Boiotien auch die territoriale Integrität Attikas zu gelten. – Alle Jahres- und Jahrhundertzahlen in diesem Band verstehen sich „v.Chr.“; selbstverständlich sind mit „19.Jahrhundert“ usw. aber neuzeitliche Epochen gemeint. Die Abkürzungen der antiken Autoren folgen den Vorgaben in „Der Neue Pauly“, daher firmiert etwa die pseudo-xenophontische „Athenaion Politeia“ unter Xen., das in der Autorschaft strittige Gegenstück aus dem Peripatos unter Aristoteles. 2 Dazu etwa Wilfried Nippel, Bürgerkrieg und Amnestie 411–403, in: Gary Smith/Avishai Margalit (Hrsg.), Amnestie oder: Die Politik der Erinnerung in der Demokratie. Frankfurt am Main 1997, 103–119; ferner Egon Flaig, Amnestie und Amnesie in der griechischen Kultur. Das vergessene Selbstopfer für den Sieg im athenischen Bürgerkrieg 403, in: Saeculum 42, 129–149, und Antonio Natalicchio, „Μὴ μνησικακεῖν“: l’amnistia, in: Salvatore Settis (Ed.), I Greci. Storia, cultura, arte, società. Vol.2: Una storia greca: II Definizione (VI–IV secolo a. C.). Turin 1997, 1305–1322. – Weiter gespannt ist die Studie zu den Reaktionen der Athener auf 411 und 404/03 von Julia L. Shear, Polis and Revolution. Responding to Oligarchy in Classical Athens. Cambridge 2011.

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überdecken“. 3 Wie schwer es war, im Alltag der wiederhergestellten Demokratie die Vergangenheit ruhen zu lassen, spiegelt sich in den zahlreichen Prozessen, in denen immer wieder das Verhalten bestimmter Bürger während der Schreckenszeit eine Rolle spielte, sowie in der Handhabung der Dokimasie der Magistrate. Wie die Forschung längst herausgearbeitet hat, kann die Geschichte Athens und der athenischen Demokratie im 4.Jahrhundert 4 keineswegs als Prozess der Erstarrung, des Verfalls und der nachlassenden Dynamik gelesen werden 5; dagegen sprechen schon der weiterhin – mindestens bis zum Bundesgenossenkrieg in den 350erJahren – wirksame „ghost of empire“ (Ernst Badian) sowie die erhebliche institutionelle Phantasie, welche die Athener in den Bereichen politische Willensbildung, ‚Verfassungsschutz‘ und Finanzverwaltung an den Tag legten. Die demokratische Ordnung Athens erwies sich in der Folgezeit als so tief eingewurzelt, dass sie auch ohne die Geldzuflüsse aus dem hegemonialen Seebund und selbst nach erneuten einschneidenden militärisch-außenpolitischen Niederlagen (355, 338 und 322) von innen nicht mehr herausgefordert wurde. Ob angesichts der bekannten institutionellen Veränderungen 6 die demokratische Ordnung des 4.Jahrhunderts eine „neue“, eine qualitativ andere war als die des 5.Jahrhunderts, wie nicht zuletzt Mogens H. Hansen meinte, oder ob man mit Jochen Bleicken von einer „Einheit der atheni-

3 Karl-Wilhelm Welwei, Das Klassische Athen. Demokratie und Machtpolitik im 5. und 4.Jahrhundert. Darmstadt 1999, 256. Vgl. auch den Beitrag von Claudia Tiersch in diesem Band. 4 Eine eingehende Darstellung der Jahre 415 bis 395 bietet Mark Munn, The School of History. Athens in the Age of Socrates. Berkeley u.a. 2000. 5 Epochemachend wirkte der Tagungsband von Walter Eder (Hrsg.), Die athenische Demokratie im 4. Jahrhundert. Vollendung oder Verfall einer Verfassungsform? Stuttgart 1995; vgl. ferner den Überblick von Gustav-Adolf Lehmann, Oligarchische Herrschaft im klassischen Athen. (Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften: Geisteswissenschaften. Vorträge, G 346.) Opladen 1997, 86–121 („Die attische Demokratie des 4.Jahrhunderts – Krisen, Dekadenz oder Vollendung des politischen Systems?“), sowie jetzt den Band von Claudia Tiersch (Hrsg.), Die Athenische Demokratie im 4.Jahrhundert. Zwischen Modernisierung und Tradition. Stuttgart 2016, in dem mit Konzepten wie Modernisierung und Ausdifferenzierung operiert wird. 6 Gemeint sind damit in erster Linie die Revision des Gesetzesbestandes (bereits 410 in Angriff genommen), die Trennung zwischen höherrangigen nomoi und situativ geltenden psephismata sowie das darauf aufbauende Gesetzgebungsverfahren und der Mechanismus zur Anfechtung und Aufhebung von Volksbeschlüssen durch die graphê paranomôn. Einen guten Überblick geben Dorothea Haßkamp, Oligarchische Willkür – demokratische Ordnung. Zur athenischen Verfassung im 4.Jh. v.Chr. Darmstadt 2005, sowie jetzt Peter Rhodes, Forth-Century Appointments in Athens, in: Tiersch (Hrsg.), Athenische Demokratie (wie Anm.5); vgl. Jochen Bleicken, Die Athenische Demokratie. 4. überarb.Aufl. Paderborn u.a. 1995 (utb-Ausgabe), 65, 403f. u. passim, sowie anschaulich Munn, School (wie Anm.4), 247–272.

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schen Demokratie in klassischer Zeit“ sprechen kann, erscheint demgegenüber sekundär. 7 Zweifellos machten die beiden oligarchischen Regime 411 und 404/03, die gerichtlichen und politischen Nachwehen des zweiten von diesen sowie die bereits 410 einsetzenden institutionellen Modifikationen und rechtskodifikatorischen Revisionen den Athenern ihre Ordnung insofern ‚bewusster‘, als deren Gefährdungen nunmehr klar zutage lagen. Man hatte in den Abgrund geschaut. Mit Blick auf die Zukunft sollte eine ‚Alternative‘ zur Demokratie gerade deshalb institutionell unmöglich gemacht werden, weil sich die etablierte Ordnung in der Vergangenheit eben als keineswegs ‚alternativlos‘ erwiesen hatte. Expliziter Ausdruck dieses Bemühens war das bekannte Anti-Tyrannisgesetz von 336 (GHI Nr.79). Die neu justierten Verfahren und ihre tägliche Bewährung trugen andererseits offenbar so stark zur Stabilisierung der Ordnung und ihrer Habitualisierung durch die Bürger bei, dass auch die bekannten Kompetenzverlagerungen hin zu den großen ‚Finanzämtern‘ Mitte des 4.Jahrhunderts, die Repolitisierung und Aufwertung des Areopags sowie die Neuorganisation des Leiturgienwesens nicht als Gefahr im Sinne einer schleichenden Oligarchisierung der Demokratie betrachtet wurden – auch wenn eine solche wohl tatsächlich stattfand. 8 Denn das letzte Wort behielt formal stets der versammelte Demos, und diesem wurde nichts weggenommen, im Gegenteil: Er erhielt verbesserte ‚Sozialleistungen‘, und die Orte der demokratischen Verfahren (Pnyx, Theater, Dikasterien) wurden durch Monumentalisierung sichtbar aufgewertet.

7 Für die politische Kommunikation zwischen Rhetoren und Demos unterstreicht Karen Piepenbrink, Zwischen Kontinuität und Wandel. Die Kommunikation von Rhetoren und Demos im klassischen Athen, in: Ancient Society 45, 2016, 1–26, die Kontinuitäten. Für die zuvor erwähnte Debatte siehe Jochen Bleicken, Die Einheit der athenischen Demokratie in Klassischer Zeit (1987), in: ders., Gesammelte Schriften. Stuttgart 1998, 41–67; Mogens H.Hansen, Die Athenische Demokratie im Zeitalter des Demosthenes. Struktur, Prinzipien und Selbstverständnis. Berlin 1995, 311–315 u. passim. 8 Dazu grundlegend Dorothea Rohde, Die öffentlichen Finanzen Athens und die Ausbildung einer Honoratiorenschicht im 4.Jahrhundert. Ungedruckte Habilitationsschrift Bielefeld 2017, erscheint Stuttgart 2019. Vgl. ferner Wolfgang Blösel, Zensusgrenzen für die Ämterbekleidung im klassischen Griechenland. Wie groß war der verfassungsrechtliche Abstand gemäßigter Oligarchien von der athenischen Demokratie?, in: ders./Winfried Schmitz/Gunnar Seelentag/Jan Timmer, Grenzen politischer Partizipation im klassischen Griechenland. Stuttgart 2014, 71–93.

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II. Das Feld des Gegners betreten: Demokratiekritik im Schatten einer stabilen Ordnung Eine umfassende, systematische und theoretische Begründung der athenischen Demokratie ist nicht überliefert und wurde in der Antike wahrscheinlich auch niemals niedergeschrieben. 9 Angesichts der Tatsache, dass die volle Ausbildung dieser so spezifischen politischen Ordnung in der zweiten Hälfte des 5.Jahrhunderts mit der Glanzzeit der athenischen Kultur zusammenfällt, ist dies auffallend. Ein demokratischer Diskurs, verstanden als ein die Demokratie stabilisierendes Aussagesystem, das Denken und Wahrnehmung bestimmte sowie definierte, was in der Öffentlichkeit ‚sagbar‘ war und immer wieder gesagt werden musste, ist offenbar woanders aufzusuchen, nämlich in den Verfahren und Routinen der Institutionen des Demos von Athen (Demen, Rat, Volksversammlung, Gerichte), die als Verfahren und Routinen des Beratens und Entscheidens intensiv von Sprechakten gekennzeichnet waren und in diesem Sinne auch überlieferte Texte produziert haben (Reden; inschriftliche Zeugnisse). So dokumentierten die zahlreichen Beschlüsse der Volksversammlung in ganz verschiedenen Angelegenheiten neben dem Beschluss selbst auch immer die zentralen Elemente des Verfahrens (beteiligte Institutionen; Zusammenwirken von Rat und Volk, gegebenenfalls einen Änderungsantrag) sowie alle Bürger, die in einer amtlichen Funktion bzw. als der Antragsteller an dem Vorgang beteiligt waren. 10 Jede einzelne dieser Aufzeichnungen demonstrierte Vertrauen in die Einrichtungen der Bürgerschaft und in eine intensive Beteiligung der aktiven Bürger Athens. Jedoch generierte und stabilisierte sich dieser Diskurs nicht allein in den Institutionen und Verfahren der Polis; zu ihm gehörten auch die Meinungsbildung

9 Vgl. etwa A. H.M. Jones, Athenian Democracy. Oxford 1957, 41; Kurt A. Raaflaub, Contemporary Perceptions of Democracy in Fifth-Century Athens, in: CM 40, 1989, 33–70, hier: 34; Wilfried Nippel, Ancient and Modern Democracy. Two Principles of Liberty? Cambridge 2016, 74–78 („democracy without theory or mission“). Gegen die u.a. von Jones vertretene Ansicht, es habe eine solche Theorie gar nicht gegeben, wendet sich Paul Cartledge, Democracy. A Life. Oxford 2016, 92: „Actually there is ancient democratic theory out there, positively expressed and not just negatively inferable, although admittedly it either is to be found in unlikely looking contexts or has survived only in disjointed and hard to interprete ‚fragments‘ of ancient writings.“ Siehe auch weiter unten in dieser Einleitung sowie den Beitrag von Claudia Tiersch in diesem Band. 10

Dazu sehr sinnfällig Maria Lagogianni-Georgakarakos/Kostas Buraselis, Athenian Democracy Speaking

Through Its Inscriptions. Exhibition of Inscriptions from the Epigraphic Museum. Catalogue. Athens 2009.

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‚auf der Straße‘ 11, das Reden der Bürger übereinander, das ‚Gerede‘ (φήμη) und die Beurteilungskriterien für den Ruf eines jeden Bürgers, besonders aber der Demagogen. 12 Nicht vergessen werden darf schließlich die tragische wie die komische Bühne, in der immer wieder Meinungsbildungsprozesse, Konflikte und Entscheidungen durchgespielt und auf diese Weise auch durchdrungen wurden. Selbstverständlich unterlag der skizzierte implizite demokratische Diskurs auch einem Wandel, der als Verfestigung beschrieben werden kann. 13 Ein ‚offensiver‘ demokratischer Diskurs mag auch deshalb gefehlt haben, weil die Demokratie – anders als ihre modernen Nachfolger – keine in die Zukunft gerichtete Reformagenda verfolgte, die einer selbstreflexiven oder Grenzen verschiebenden Debatte bzw. Fixierung bedurft hätten. Die Demokratie in Athen, so formulierte es Jochen Bleicken, „bedeutet Bewegung, Geschäftigkeit, Aktivität, aber sie macht keinen Fortschritt in Richtung auf eine andere Gesellschaft. […] Als Gleiche die Freiheit des Daseins zu spüren, darum ging es, und dies ohne den Wandel der sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen: Die Bodenverteilung bleibt unberührt, das Schuldrecht ändert sich nicht, die Frau erhält keinen Anteil am politischen Leben usw.“ 14

Auf der anderen Seite wurden seit dem späten 5.Jahrhundert, vor allem aber im 4.Jahrhundert, also nach der Restabilisierung der demokratischen Ordnung, Schriften verfasst, die der Volksherrschaft in unterschiedlichen Graden ablehnend gegenüberstanden, sich aber nicht in einem oberflächlichen Faible für Sparta erschöpften. Dabei wurde nicht selten auf höchstem theoretischen Niveau argumentiert, und es gab Alternativentwürfe in Gestalt politischer Utopien. Das politische Denken von Xenophon und Isokrates ist gut greifbar und wird als Beitrag zum politischen Denken der Griechen 15 untersucht. Platon und Aristoteles werden allgemein sogar zu

11 Dazu Hans Beck, Im Schatten der Pnyx. Die athenische Demokratie und das Wissen der Straße (noch unpublizierter Vortrag auf dem 51. Deutschen Historikertag in Hamburg, 22. Sept. 2016, Sektion „Diskursräume der Aushandlung von Wissen und Meinungen im klassischen Athen“). 12 Vgl. Christian Mann, Der Ruf der Demagogen. Gerüchte als akkumuliertes Wissen und als politische Waffe (noch unpublizierter Vortrag, siehe Anm.11). 13 Claudia Tiersch (in diesem Band) unterscheidet drei Phasen: 1) Eine politische Ordnung gewinnt Selbstverständnis und Deutungsmacht; 2) Demokratie ist gut – aber nicht diese (z.B. Isokrates); 3) Demokratie ist, wenn keiner darüber spricht. 14 Jochen Bleicken, Zum Sinngehalt von Demokratie in der Antike. Unveröffentlichtes Vortragsmanuskript Januar 1999, 11f. 15 Insofern sind die hier verhandelten Autoren, Werke und Argumente selbstverständlich auch Gegen-

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den bedeutendsten Denkern der Menschheit überhaupt gezählt. Nun dominierten von der Antike bis ins 20.Jahrhundert hinein bekanntlich eindeutig demokratiekritische bis klar antidemokratische Aussagen und Argumente. 16 Diese Asymmetrie könnte zum Schluss führen, die Gegner der Volksherrschaft seien theoretisch wesentlich fundierter gewesen als ihre Befürworter. Ablehnung und (scheinbare) intellektuelle Überlegenheit mögen ferner die Annahme nahelegen, die Gegner hätten bei der Entwicklung ihrer Vorstellungen die reale politische Ordnung Athens ignoriert und nur in einem unbedeutenden Ausmaß Konzepte aus der ihnen nicht ‚satisfaktionsfähig‘ erscheinenden demokratischen Denkweise und Praxis übernommen. Entsprechend erscheint der Zeitkontext, in dem die antidemokratischen Schriften zustandekamen, nicht selten von zweitrangiger Bedeutung: Er helfe zwar zu verstehen, woher die Abneigung gegenüber der Demokratie gekommen sei, könne aber den ‚überschießenden‘ gedanklichen Gehalt und die innere Logik der Schriften nicht einmal ansatzweise erklären. Denn diese politischen Theorien seien ein Ergebnis monumentaler intellektueller Leistung; gerade deswegen gelten sie auch vielfach als zeitlos und werden zumal in der Philosophie und der Politikwissenschaft eher systematisch interpretiert als historisch kontextualisiert. Ziel des hier vorgelegten Bandes, der auf ein Ende August 2016 an der Universität Bielefeld unter dem Titel „Vom Feind lernen? Der Einfluss der demokratischen Ideologie auf das antidemokratische Denken im 5. und 4.Jahrhundert“ veranstaltetes Kolloquium zurückgeht 17, ist es unter anderem, die skizzierten Annahmen zu überprüfen und zu einem historisch vertieften Verständnis der einschlägigen Schriften beizutragen. Die Rede vom „antidemokratischen Denken“ enthält freilich bereits eine Generalisierung, die es zu reflektieren gilt. Die Forschung hat dies zuletzt mit der Unterscheidung von ‚interner‘ und ‚externer‘ Kritik getan; auch dieser Ansatz wird im vorliegenden Band diskutiert. stände in den orientierenden Werken zum politischen Denken der Griechen. Siehe knapp etwa Kurt Raaflaub, Politisches Denken und Handeln bei den Griechen, in: Erika Wischer (Hrsg.), Propyläen Geschichte der Literatur. Bd. 1: Die Welt der Antike 1200 v.Chr. – 600 n.Chr. Frankfurt am Main u.a. 1981, 36– 67; ausführlicher Ryan K. Balot, Greek Political Thought. Malden u.a. 2006, und die einschlägigen Beiträge in Christopher Rowe/Malcolm Schofield (Eds.), The Cambridge History of Greek and Roman Political Thought. Cambridge 2000. 16

Nachgezeichnet etwa von Jennifer Tolbert Roberts, Athens on Trial. The Antidemocratic Tradition in

Western Thought. Princeton 1994. 17

Dieses fand im Rahmen dreier von der Humboldt-Stiftung finanzierter Forschungsaufenthalte von

Ivan Jordović in Bielefeld zwischen 2015 und 2017 statt.

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Claudia Tiersch umreißt die Manifestationen des demokratischen Diskurses in den Reden des 4.Jahrhunderts und betont die Zäsur des Jahres 403 sowie die Prozessualität. Thomas Blank und Marian Nebelin erörtern Gesichtspunkte, die in antidemokratischen beziehungsweise demokratiekritischen Schriften übergreifend verhandelt werden und die es erlauben, in Grenzen von einem entsprechenden Denken im Singular zu sprechen, ausgehend von den gängigen Axiomen und Ansichten. 18 Fünf weitere Aufsätze behandeln einzelne Autoren beziehungsweise Schriften. In der Tat unterscheiden sich Entstehungskontexte, Voraussetzungen und Zielrichtungen durchaus erheblich voneinander. So kritisierte Pseudo-Xenophon eine offenbar stabile und zur Selbstbehauptung fähige Demokratie von dem aristokratisch-oligarchischen Axiom aus, dass es von Natur wie im sozialen Gefüge bessere und schlechtere Menschen gebe, wobei in der Demokratie Athens Letztere (durchaus effizient) regierten (siehe den Beitrag von Kurt Raaflaub). Demgegenüber nahm Platon – will man den Siebten Brief als authentisches Selbstzeugnis akzeptieren – die Ereignisse des Peloponnesischen Krieges und der Jahre bis zum Sokratesprozess als sichere Beweise für ein grundlegendes politisches wie ethisches Versagen dieses Systems (siehe den Beitrag von Thomas Blank in diesem Band). Aristoteles seinerseits weitete den Blick auf die lebensweltlichen und sozialen Voraussetzungen sehr verschiedener politischer Ordnungen erheblich; er konnte deshalb auch durchaus unterschiedliche Ausprägungen bürgerstaatlichen Regierens und Regiertwerdens untersuchen und sogar einen Eckstein demokratischen Denkens, die sogenannte Summierungstheorie, anerkennen (siehe den Beitrag von Karen Piepenbrink). 19 Autoren wie Xeno18 Etwa: Ignorieren natürlicher und sozialer Ungleichheit durch politische Gleichheit; Ausbeutung der Reichen durch die Armen; schädliche Umtriebigkeit des Demos durch Orientierung auf das Meer; Verführbarkeit der Masse durch Rhetorik; geringe ethische Qualität der Armen und Handwerker; generelle Neigung zu Desorientierung und chaotischem Handeln usw. 19 Aristot. pol. 1281a40–b9. Evidenz gewann diese Vorstellung zweifellos in den zahlreichen Entscheidungen des Demos in Seebundsangelegenheiten, bei denen man auf die Expertise einzelner Bürger für bestimmte Orte, politische Konstellationen und Sachverhalte angewiesen war und diese in den demokratischen Willensbildungsprozess einzuspeisen suchte. Darauf zielt vermutlich auch der thukydideische Perikles im „Epitaphios“ (Thuk. 2,37,1, Übers.: Michael Weißenberger): „Was aber das gesellschaftliche Ansehen betrifft, wie jeder sich auf irgendeinem Feld Respekt verschafft, so folgt hier die Bevorzugung im öffentlichen Leben nicht aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, sondern aus der Leistung, und andererseits ist keiner im Hinblick auf Begrenztheit seiner Mittel, wenn er nur etwas Gutes für die Stadt beizutragen hat, durch Mangel an Ansehen ausgeschlossen.“ (κατὰ δὲ τὴν ἀξίωσιν, ὡς ἕκαστος ἔν τῳ εὐδοκιμεῖ, οὐκ ἀπὸ μέρους τὸ πλέον ἐς τὰ κοινὰ ἢ ἀπ' ἀρετῆς προτιμᾶται, οὐδ’ αὖ κατὰ πενίαν, ἔχων γέ τι ἀγαθὸν δρᾶσαι τὴν πόλιν, ἀξιώματος ἀφανείᾳ κεκώλυται). Dass dieses

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phon und Isokrates hingegen suchten offenbar stärker auf verschiedene Akteure beziehungsweise Kollektive einzuwirken, weswegen ihre Argumentationen sich von den zuvor genannten Autoren unterscheiden. Zumal Isokrates kann im Sinne Josiah Obers in hohem Maß als ‚innerer Kritiker‘ 20 gelten, nicht zuletzt, weil er common sense und kommunikativ erzeugten Konsens als Grundlagen bürgerstaatlicher Politik akzeptierte. 21 Schon die wenigen hier genannten Unterschiede verbieten es, von einem ‚Lager‘ der Demokratiegegner zu sprechen. Bei der Konzeption des Kolloquiums wie des vorliegenden Bandes hat die Überzeugung Pate gestanden, dass sich das in niedergeschriebenen Werken manifestierte politische Denken gegenüber der nunmehr Einspeisen nicht immer gelang, liegt auf der Hand. So hatten, um ein bekanntes Beispiel zu nennen, gewiss nicht wenige Athener recht genaue Kenntnisse von der Größe Siziliens, den Machtmitteln der dortigen Akteure sowie den damals aktuellen Konstellationen – die Insel lag ja schon länger im Radius der politischen Aufmerksamkeit Athens. Wenn Thukydides dennoch feststellt, die meisten Bürger seien in Unkenntnis (ἄπειροι) über die Größe der Insel und die Zahl der dort wohnenden Hellenen und Barbaren gewesen (6,1,1), so dürfte die von der modernen demoskopischen Forschung diagnostizierte ‚Schweigespirale‘ am Werk gewesen sein: Gegen eine vorherrschende Stimmung wagen viele aus Angst vor Isolation nicht, Gegenrede zu führen, selbst wenn sie eine bessere Sachkenntnis als die meisten haben. – Zur Summierungstheorie siehe ferner den Beitrag von Marian Nebelin in diesem Band. 20 Zum Begriff externe und interne Kritiker sowie zu seiner Anwendung auf antidemokratische Denker im Athen des 5. und 4.Jahrhunderts vgl. Josiah Ober, Political Dissent in Democratic Athens. Intellectual Critics of Popular Rule. Princeton 1998, 48–50, und Thomas Blank im vorliegenden Band sowie in dieser Einleitung S. 30f. 21

Vgl. skizzenhaft Uwe Walter, Common Sense und Rhetorik: Isokrates’ Verteidigung der politischen

Kultur, in: GWU 47, 1996, 434–440; bündig ders., Isokrates, in: Kai Brodersen (Hrsg.), Große Gestalten der griechischen Antike. München 1999, 193–200, hier 197 und 198: „Isokrates war freilich noch in anderer Hinsicht ganz und gar Athener. Auch wenn er dem Gleichheitsgedanken und der täglichen Praxis der Demokratie in seiner Zeit kritisch gegenüberstand, war er doch von ihren politischen und kommunikativen Voraussetzungen geprägt. Den Pluralismus und Wettbewerb der Meinungen akzeptierte er, und es war in der Auseinandersetzung mit Platon geradezu einer seiner Leitgedanken, daß in der Polis das (angebliche) Wissen von einem oder wenigen Menschen nicht Grundlage von Entscheiden und Handeln sein kann. Stattdessen stellte für ihn die Rhetorik das der bürgerstaatlichen wie der gemeingriechischen Öffentlichkeit adäquate Medium von Verständigung und Entscheidungsvorbereitung dar.“ Dargelegt wird dies or. 3 (Nikokles), 5–9. „Aus dieser gewiß idealistischen Frühform einer Theorie des kommunikativen Handelns ergibt sich Isokrates’ Beitrag zum politischen Denken der Zeit, den man freilich nicht auf seine Bewertung der verschiedenen Staatsformen reduzieren sollte. Ohne Zweifel war es seine Überzeugung, daß es in der Polis eine Elite geben müsse, der die politische Führung zustehe. Aber diese Elite sollte sich weder durch Reichtum noch durch Geburt definieren und schon gar nicht hochmütig auf den Rest der Bürger herabsehen. Isokrates dachte an eine gebildete, Tüchtigkeit mit Augenmaß verbindende, ethisch verantwortungsbewußte und in ihrem Handeln selbstlose Leistungselite, die sich stets dem Urteil der einfachen Bürger zu stellen hatte, aber für ihre Tätigkeit auch Anerkennung erwarten konnte.“

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etablierten, aus Krise und zeitweiligem Versagen gestärkt hervorgegangenen Demokratie in Athen sehr differenziert präsentierte, es zugleich aber einen gemeinsamen Nenner darin fand, diese Demokratie intellektuell ernstzunehmen, ja, sie unter ihren eigenen Prämissen herauszufordern. Jede philosophische und literarische Demokratiekritik des 4.Jahrhunderts sah sich angesichts des in der alltäglichen Rhetorik in der Volksversammlung und vor Gericht ständig neu formierten demokratischen Diskurses mit der Aufgabe konfrontiert, eine anspruchsvolle Gegenrede zu führen – ein gedanklich eher flaches, weil die Überlegenheit aristokratischer Menschen und oligarchischer Herrschaft einfach voraussetzendes Geschimpfe wie die frühe pseudo-xenophontische „Athênaiôn Politeia“ bot wenige Perspektiven zur Weiterentwicklung, obwohl sich in dieser Schrift durchaus schon Ansichten und Argumente finden, die auch in späteren Schriften eine Rolle spielen. Indem die in der etablierten und eingewurzelten Demokratie Athens längst entschiedene Frage „Wer herrscht/soll herrschen?“ zugunsten einer gerade in dieser Ordnung beständig virulenten Frage – nämlich: „Was ist gute Regierung/Wie handelt ein guter Politiker?“ – in den Hintergrund trat, machte sich das antidemokratische Denken einen wesentlichen Teil der demokratischen ‚Geschäftsgrundlage‘ zu eigen. Zugleich wurde damit die Demokratie auf ihrem eigenem Feld ‚gestellt‘, zielten doch zentrale Institutionen wie die Dokimasie und die Rechenschaftslegung genau darauf, gute Regierung und gute Politiker zu generieren – die Athener waren keineswegs naiv, sondern sie institutionalisierten Misstrauen in den einzelnen Funktionsträger, um Vertrauen in die Effizienz und Stabilität des Systems haben zu können. 22 Zum ‚richtigen‘ Handeln kamen die Athener auf der Pnyx und der Agora, im Theater und im Rat der Fünfhundert traditionell durch Dialog und Debatte, durch das Erzählen anschaulich-überzeugender Geschichten, durch Vorbilder hochwertigen Handelns sowie durch die Kumulation und argumentative Durchdringung von vielfältigen Kenntnissen. Eben diese diskursiven Formen wurden nun – freilich in literarischer Gestalt – von den imitierenden Gegnern übernommen. Insofern hatten die so generierten Modelle guter Regierung nur mehr wenig mit den traditionellen Herleitungen und Begründungen monokratischer oder aristokratisch-oligarchischer Herrschaft zu tun. In diesem Punkt besteht eine Parallele zur radikalen Ablehnung der zeitgenössischen Demokratie in der „Konservativen Revolution“ nach dem Ers22 Vgl. Jan Timmer, Schritte auf dem Weg des Vertrauens – Überlegungen zu Chancen und Grenzen der Anpassung von Handlungsdispositionen, in: Tiersch (Hrsg.), Athenische Demokratie (wie Anm.5), 33–53.

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ten Weltkrieg in Deutschland: Auch deren Vertreter wollten keineswegs einfach zurück zur Monarchie und ihren traditionellen Legitimierungen (Gottesgnadentum, Legitimismus usw.); vielmehr kritisierten sie die Demokratie teilweise nach deren eigenen Maßstäben vehement und suchten nach neuen Legitimationen für andere Herrschaftsmodelle (die freilich eher vage blieben); diese Parallelität erhellt der Aufsatz von Hans-Christof Kraus über die Demokratiekritik vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Wesentliche gedankliche Muster der antiken griechischen Demokratiekritik, bis hin zum Postulat einer angeblich natürlichen Ungleichheit und eines Rechts des Stärkeren als Radikalisierung eines voluntaristischen Souveränitätskonzepts, verfolgt zuvor Egon Flaig in einem scharfsinnig begründeten Bogen bis in die Moderne. Bezeichnend für die in ihren Zielen und Stoßrichtungen sehr unterschiedlichen Äußerungen ist auch die Fülle literarischer Formen, in denen Kritik an der und Gegnerschaft zur Demokratie ausgedrückt wurden – man ist versucht, hier nachgerade von einem Experimentieren zu sprechen. Dieser Zug findet sich besonders stark bei Xenophon ausgeprägt. Über die Adressaten und Verbreitungswege der Schriften lassen sich plausible Vermutungen anstellen, mehr nicht (siehe dazu den Beitrag von Thomas Blank); selbst in den Fällen, in denen eine Kommunikationssituation ausdrücklich genannt wird (Pseudo-Xenophon; Platon; Xenophon), muss diese nicht mit der tatsächlichen übereinstimmen. Und schließlich – auch das hat die Diskussion in Bielefeld nochmals gezeigt – verführt eine ideengeschichtliche oder gar philosophische beziehungsweise politologische Lektüre dazu, den Texten mehr an Konsistenz abzuverlangen (oder diese in sie hineinzulesen), als es angebracht erscheint – so wertvoll klassische Exegesen wie die von Karl Popper („The Open Society and Its Enemies“, 1945), Eric Voegelin („Order and History“, 1956–1974) oder Hannah Arendt („The Human Condition“, 1958) auch bleiben. Das gilt evident für Aristoteles, dessen „Politik“ bekanntlich aus Materialien für den Vorlesungs- und Diskussionsbetrieb des Peripatos hervorgegangen ist und gerade hinsichtlich der Bewertung der Demokratie kein einheitliches Bild bietet; es gilt aber auch für Isokrates, dessen Schriften ebenfalls zumindest zum Teil Grundlage für eine Diskussion mit den Schülern bieten und zum Widerspruch herausfordern sollten. 23

23

Zu Isokrates siehe jetzt die umfassende Studie von Thomas Blank, Logos und Praxis. Sparta als politi-

sches Exemplum in den Schriften des Isokrates. Berlin 2014; zum Textexperiment im „Panathenaikos“, Iso-

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III. Der Begriff Ideologie Einer Erklärung bedarf die Verwendung des Begriffs Ideologie im Titel dieser Einleitung, wird er doch in der Alten Geschichte – nach einer Forschungsphase, die sich von der zeitweise intensiv betriebenen „Ideologiekritik“ inspirieren ließ – inzwischen nicht selten als anachronistisch verworfen, etwa für den römischen Prinzipat. 24 Der Ideologiebegriff ist in der Tat eine neuzeitliche Schöpfung. Eingeführt wurde er von Antoine Louis Claude Destutt de Tracy im Jahre 1796. Unter diesem Begriff wollte dieser eine „Wissenschaft von Ideen“ verstanden wissen, die sich auf der sinnlichen Wahrnehmung begründet. Die sensations vermittelten alles, was wir sind, was wir von der Außenwelt wahrnehmen und im Bewusstsein erfahren; alle Vorstellungen und Ideen ließen sich auf wissenschaftlich erfassbare Empfindungselemente wie Selbstliebe, Streben nach Reichtum oder Macht zurückführen. Dementsprechend ruhe jedes höhere Wissen auf den so verstandenen Ideen. 25 Deshalb sei die Ideologie nicht nur eine völlig strenge Wissenschaft, exakt wie die Naturwissenschaften, sondern sogar die erste und ‚einzige‘ Wissenschaft. 26 Anfangs war die so definierte Ideologie in ihren hauptsächlichen Lehrinhalten politisch unbedeutend. Indem sie aber alles Geistige auf physiologische Vorgänge reduzierte und die soziale Wirklichkeit nach den Grundsätzen der neuen Wissenschaft zu organisieren krates’ letzter Schrift, siehe Peter Roth, Der Panathenaikos des Isokrates. Übersetzung und Kommentar. München u.a. 2003 (dazu Uwe Walter, in: Historische Literatur 2005-1-001). 24 Zu verschiedenen Anwendungen des Ideologiebegriffs auf die athenische Demokratie siehe z.B. Moses I. Finley, Authority and Legitimacy in the Classical City-State. (Historisk-filosofiske meddelelser, 50/3.) Kopenhagen 1982, 17–22; ders., Politics in the Ancient World. Cambridge 1983, 122–141 (= ders., Das politische Leben in der antiken Welt. München 1986, 156–178); Josiah Ober, Mass and Elite in Democratic Athens. Rhetoric, Ideology, and the Power of the People. Princeton 1989, 38–40; Hansen, Athenische Demokratie (wie Anm.7), 73–86; Malcolm Schofield, Plato: Political Philosophy. Oxford 2006, 282. – Den Ideologiebegriff auf die Antike anzuwenden war in der Zeit des Kalten Krieges durchaus verbreitet; vgl. die in Hans Kloft (Hrsg.), Ideologie und Herrschaft in der Antike. Darmstadt 1979, versammelten Studien, wo allerdings das vorhellenistische Griechenland ausgeklammert ist. Für Rom hatte bereits zuvor Jean Béranger, Recherches sur l’aspect ideologique du Principate. Basel 1953, einige Wirkung entfaltet. 25 Siehe George Lichtheim, The Concept of Ideology, in: H & T 4, 1965, 164–195, hier: 165–167; Ulrich Dierse/Reinhard Romberg, Art.„Ideologie“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 4. Basel 1976, 158– 185, hier: 158; Ulrich Dierse, Art.„Ideologie“, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 3. Stuttgart 1982, 131–169, hier: 132–135. 26 Siehe E. Kennedy, „Ideology“ from Destutt De Tracy to Marx, in: JHIdeas 40, 1979, 353–368, hier: 354– 356.

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anstrebte, kam sie in Gegensatz zur traditionellen Theologie wie zur Metaphysik. 27 Ihre starke Verbindung zum Republikanismus und der große Einfluss der „Ideologen“ auf Unterricht und Erziehung im Frankreich der Revolution führten schließlich zum Konflikt mit Napoleon, als dieser im Zuge der Festigung seiner Macht der kirchlichen Lehre wieder mehr Gewicht im Staat zugestand. 28 Dieser Zusammenstoß führte dazu, dass Napoleon den Ideologiebegriff in ein pejoratives politisches Schlagwort umwandelte. Ideologie wurde nun als eine von der Wirklichkeit losgelöste, ‚bloße‘ Theorie gebrandmarkt. Sie bestand demnach aus praxisfernen abstrakten Spekulationen zur Vervollkommnung der Gesellschaft, die gutgemeint, aber vollkommen realitätsfremd seien. 29 Durch die Herabsetzung der Ideologie zu einer weltfernen Kopfgeburt sollte die Selbstermächtigung der Theorie und ihrer neuen Träger, der Ideologen und Intellektuellen, diskreditiert werden. Im Verlauf des 19.Jahrhunderts behielt der Ideologiebegriff größtenteils seine pejorative Konnotation 30, auch noch bei Marx und Engels, die Ideologie als „falsches Bewusstsein“ und Verschleierung realer Macht- und Besitzverhältnisse in affirmativer Absicht brandmarkten („gesellschaftlich notwendiger Schein“). 31 Damit war die bereits genannte „Ideologiekritik“ in der Welt, die zwar ebenfalls eine polemische politische Stoßrichtung haben kann, aber zumindest das Potential besitzt, zu einer distanzierenden wissenschaftlichen Operation zu werden. Die vielfältige Forschung hat Wege gefunden, Ideologie in ganz verschiedenen Systemen auf ihre Rolle und Bedeutung für das politisch-soziale Handeln und die Organisation soziopolitischer Gruppen kritisch abzuklopfen. 32 Zugleich erlangten Ideologien im 20.Jahrhundert in Gestalt der „Ideologiestaaten“ – vor allem der kommunistischen Sowjetunion und des nationalsozialistischen Deutschland – eine mörderische Wirksamkeit. In ihnen verbanden sich die Strukturen des Ideologischen – absoluter Wahrheitsanspruch, Anspruch auf umfassende Welterklärung, Sinnstiftung durch Zugehörig-

27

Siehe Dierse, Ideologie 1982 (wie Anm.25), 133.

28

Siehe Lichtheim, Concept (wie Anm.25), 165; Dierse/Romberg, Ideologie (wie Anm.25), 159; Kennedy,

Ideology (wie Anm.26), 353–361; Dierse, Ideologie 1982 (wie Anm.25), 135f. 29

Siehe Dierse/Romberg, Ideologie (wie Anm.25), 159–161; Kennedy, Ideology (wie Anm.26), 362–365;

Dierse, Ideologie 1982 (wie Anm.25), 137–139. 30

Siehe Dierse/Romberg, Ideologie (wie Anm.25), 161; Dierse, Ideologie 1982 (wie Anm.25), 140–157.

31

Siehe Lichtheim, Concept (wie Anm.25), 173–177, 183f., 194f.

32

Siehe Dierse/Romberg, Ideologie (wie Anm.25), 167–181; Dierse, Ideologie 1982 (wie Anm.25), 157–

168.

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keit, Reinhaltung der Lehre sowie Personen-/Heldenkult – mit dem Versuch einer konsequenten Umsetzung in eine formierte Wirklichkeit. 33 Die Kampfsituation des Kalten Krieges und darin zumal die antikapitalistische Kritik von links haben überdies die These inspiriert, dass auch die liberale Demokratie ideologische Züge aufweise (Max Horkheimer / Theodor W. Adorno). Als analytisch fruchtbar erwies sich der Versuch von Karl Mannheim (1893– 1947), den Ideologiebegriff aus der Verklammerung mit der Gesellschaftstheorie zu lösen und wissenssoziologisch zu präzisieren. 34 Mannheim zufolge haben alle Aussagen über Mensch, Gesellschaft und Geschichte ihren historischen und sozialen Ort und müssen daher in ihrer „Aspektstruktur“ gleichermaßen als relativ zu einer Wahrheit bezeichnet werden, die sich ihrerseits freilich nur aus der Gesamtheit der in der menschlichen Geschichte möglichen Standorte gewinnen ließe. Alles Denken sei sozial determiniert und könne darum keinen ernstzunehmenden Anspruch auf objektive Erkenntnis der Wahrheit über die Welt erheben („standortgebundene Aspektstruktur eines Denkens“). Es repräsentiere in seiner „Seinsgebundenheit“ als Weltanschauungswissen stets eine Teilwahrheit, die es fälschlich für absolut halte. Während Ideologie eher bei den Herrschenden sei, werde utopisches Denken nicht selten von den Unterdrückten gepflegt. Objektive Erkenntnis sowohl von empirischer Wirklichkeit als auch von bestimmten Werten sei freilich nur durch eine wissenssoziologische Selbstkontrolle des Erkennenden möglich. Politikwissenschaftliche Bestimmungen von Ideologie nehmen die wissenssoziologische Dimension auf. 35 Die (hier extrem verkürzte) Skizze der Geschichte des Ideologiebegriffs zeigt, dass

33 Zusammenfassend Karl-Dietrich Bracher, Zeit der Ideologien. Eine Geschichte politischen Denkens im 20.Jahrhundert. Stuttgart 1982. 34 Karl Mannheim, Ideologie und Utopie. Bonn 1929, 5.Aufl. 1969. 35 So etwa Kurt Salamun, Ideologie und Aufklärung. Weltanschauungstheorie und Politik. Wien 1988, 53, zit. nach Walter Euchner, Art.„Ideologie“, in: Dieter Nohlen/Rainer-Olaf Schultze (Hrsg.), Lexikon der Politik. Bd. 1: Politische Theorien. München 1995, 192–195, hier: 192: „Unter Ideologien werden Gedankengebilde verstanden, die gesellschaftlichen Gruppen als allgemeine Orientierungsraster bei der Interpretation der sozialen Wirklichkeit dienen, Machtansprüche dieser Gruppen im politischen Leben legitimieren und neben echten wissenschaftlichen Einsichten, offenen Wertungen, Normen und Handlungsappellen auch krypto-normative und falsche Vorstellungen enthalten und deren ungerechtfertigte Wahrheitsansprüche und Unwahrheiten auf eine interessenbedingte Befangenheit ihrer Produzenten und Verfechter zurückzuführen sind.“ Zu Mannheims Unterscheidung von Mythos, Utopie und Ideologie siehe auch Ben Halpern, „Myth“ and „Ideology“ in Modern Usage, in: H & T 1, 1962, 129–149, hier: 141–144.

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– ohne Platon und andere antidemokratische Denker herabzusetzen – deren Form von politischem Denken Elemente einer Ideologie aufweist, gleichgültig ob im pejorativen oder deskriptiven Sinne, denn in beiden Fällen laufen die theoretische Reflexion und das daraus resultierende Ideengebäude auf den Anspruch hinaus, die politisch-soziale Welt umfassend und wesensmäßig zu bestimmen. 36 Als Ideologe im älteren Wortsinn kann zumal Platon auch deshalb angesprochen werden, weil sein Anspruch, eine bessere Ordnung vorzustellen, sich nicht auf eine materielle oder soziale Überlegenheit ihrer Träger stützt, wie dies unter Oligarchen wohl üblich war, sondern auf ein überlegenes Wissen. Freilich gibt es auch Gründe gegen eine solche Zuweisung, denn weder repräsentierte Platon eine gesellschaftliche Gruppe noch handelte es sich bei seinen politischen Überlegungen um „auf Aktion bedachte Ermahnung“ (Hans Kloft) noch ging es in ihnen um eine grundlegende Umgestaltung des politischen Entscheidungsprozesses in einer real existierenden Polis. 37 Schon die skizzierte Unsicherheit rät dazu, für unsere Zwecke den Ideologiebegriff noch etwas präziser zu fassen. Eine offensichtliche Eigenschaft von Ideologie ist, dass sie einen Gesamtkomplex von Ideen und Argumenten darstellt, welcher der positiven Darstellung und Rechtfertigung einer politischen Ordnung dient und die ‚eigene‘ Gruppe zu formieren und anzutreiben vermag. Dabei definiert die Ideologie ein Wertesystem und scheidet strikt wünschenswertes von unerwünschtem politisch-sozialem Handeln, ohne einen Freiraum offenzulassen. Auf diese Weise erfüllt die Ideologie zwei ihrer wichtigsten Funktionen: Identitätsstiftung, sowohl im Sinne der Ausformung einer kollektiven Identität als auch der (Selbst-)Identifizierung des Individuums mit dieser, sowie Handlungsorientierung. Folglich handeln die Mitglieder einer politischen Ordnung beziehungsweise Anhänger einer Ideologie aufgrund dieser Matrix an Grundhaltungen und Grundüberzeugungen, ohne (in der Regel) im politischen Entscheidungsprozess die Ursprünge und Berechtigung dieser Grundwerte (z.B. Freiheit, Gleichheit, Exklusivität der Bürgerschaft; die Volksversammlung ist die höchste politische Instanz usw.) kritisch zu hinterfragen. Dieser Wertekanon muss nicht zwingenderweise theoretisch begründet sein oder als eine abstrakte Theorie formuliert werden. Es reicht aus, wenn er bis zu einem gewissen

36

Vgl. Kloft, Ideologie und Herrschaft (wie Anm.24), 9: „Die politische Philosophie der Antike deckt in

ihrer Verschränkung von grundsätzlichen Überlegungen und auf Aktion bedachter Ermahnung einen Großteil von Inhalten ab, die dem heutigen Wortverständnis nach der Ideologie zuzurechnen sind.“ 37

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Die Einwände machte Kai Trampedach (brieflich) namhaft.

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Grad umfassend, konsistent und strukturiert ist, um als Referenzpunkt den politischen Entscheidungsprozess maßgeblich zu gestalten oder individuelles Handeln auch gegen Bedenken zu steuern. 38 Jede Ideologie erhebt den Anspruch, entweder mit der bereits existierenden politisch-sozialen Realität im Einklang zu stehen und diese zu rechtfertigen oder eine nicht bestehende, aber erstrebenswerte und durch benennbare Maßnahmen erzielbare politisch-soziale Realität zu antizipieren. Die erfolgreichste Methode der Legitimation einer politischen Ordnung ist das Argument, sie stehe im vollkommenen Einklang mit der ‚Realität‘, z.B. den sozialen Verhältnissen, der Natur des Menschen, dem Willen Gottes etc., beziehungsweise spiegele diese am besten wider. Dadurch vermag sie sich als alternativlos und universal zu präsentieren. 39 Dieser Mechanismus bringt aber die Gefahr mit sich, (Selbst-)Täuschungen zu produzieren. Denn keine Ideologie, wie differenziert sie auch immer sein mag, kann der Komplexität und stetigen Wandelbarkeit des politisch-sozialen Lebens vollkommen gerecht werden: Zu ihren Propria gehört es, normativ zu sein und ein möglichst geschlossenes System zu bilden, während das Politische als „eine letztlich offene Bewegung“ gefasst werden kann. 40 Diese Feststellung ist nicht mit der Ansicht gleichzusetzen, Ideologien stimmten grundsätzlich nicht und in keiner Weise mit der existierenden / ersehnten Realität überein – in diesem Fall würde keine Ideologie jemals Anhänger finden können. Es bedeutet lediglich, dass in jeder Ideologie eine Lücke zwischen dem Anspruch, die Realität vollkommen oder am besten zu reflektieren, und den tatsächlichen Verhältnissen besteht. Das Ausmaß dieser Diskrepanz steht in direkter Relation zum Grad, mit dem eine politische Ordnung die inneren und äußeren Herausforderungen erfolgreich bewältigt. Die Ideologie erfüllt dabei eine doppelte Funktion: Erstens soll sie die Anhänger einer bestimmten politischen Ordnung zu einer erfolgreichen Auseinandersetzung mit diesen Herausforderungen motivieren. Dies kann auf zwei Weisen erfolgen: zum einen, indem sich die Ideologie und die

38 Vgl. Finley, Authority (wie Anm.24), 17; Ober, Mass and Elite (wie Anm.24), 38f. 39 In Herodots Verfassungsdebatte stellen die Vertreter der verschiedenen Staatsformen ihre politische Ordnung als alternativlos vor, indem sie behaupten, dass die anderen Verfassungen entweder in eine Willkürherrschaft (welche per se keine Verfassung ist) oder in die von ihnen befürwortete Staatsordnung münden werden; Hdt. 3,80,2–6, 81,2–3, 82,1–4. 40 Siehe Oliver Flügel-Martinsen, Grundfragen politischer Philosophie. Eine Untersuchung der Diskurse über das Politische. Baden-Baden 2008, 261–264, bes. 263. Wir danken Claudia Tiersch für diesen nützlichen Hinweis.

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politische Ordnung an bestimmte politisch-soziale Herausforderungen und Erfahrungen anpassen (z.B. die Beibehaltung des Auswahlverfahrens für das Strategenamt sowie die Einführung der Nomothesie und die damit verbundene Einschränkung der Macht des Demos, unmittelbar und frei über alles zu entscheiden) 41; zum anderen durch das Bestreben, gewisse Aspekte der bestehenden Realität den ideologischen Vorstellungen anzugleichen (z.B. im Sinne der demokratischen Gleichheit: Losverfahren für Geschworenengerichte und zahlreiche Ämter; Besoldung der funktionstragenden Bürger). 42 Die zweite Rolle der Ideologie ist es, die nie ganz zu schließende Diskrepanz zwischen dem Anspruch, die Realität zu reflektieren, und der tatsächlichen Realität möglichst zu kaschieren. 43 Dementsprechend ist einer der wichtigsten Erfolgsmaßstäbe einer Ideologie, wie lange und in welchem Ausmaß der Schein der größtmöglichen Übereinstimmung mit den realen Verhältnissen aufrechterhalten werden kann. Dies ist allerdings eine Sisyphusaufgabe. Einerseits werden die tatsächlichen Verhältnisse nicht einzig und allein von der Ideologie und der politisch-sozialen Ordnung bestimmt, weshalb jene der immerwährenden Wandelbarkeit der Realität auch keinen Einhalt gebieten können. Andererseits verändert die Ideologie ihrerseits ständig die Realität durch das Bestreben, die Lücke zu ihr zu schließen. Hierbei verursacht die Ideologie nicht nur erstrebte, sondern auch unbeabsichtigte Veränderungen (Nebenfolgen). Aus diesen Gründen ähnelt sie, wie es Josiah Ober bemerkt, einem Fluss: Oberflächlich betrachtet erscheint er statisch, in Wirklichkeit befindet er sich ununterbrochen in Bewegung. 44 Als markantes Beispiel für demokratische Ideologie gilt mit Recht die bekannte Gefallenenrede des Perikles bei Thukydides (Thuk. 2,35–46). Der dort formulierte Lobpreis der Ideale der athenischen Demokratie erfüllt beide Funktionen der Ideologie: Indem den Rückschlägen und Verlusten ein höherer Sinn zugeschrieben wird, werden die Bürger zu weiteren Kriegsanstrengungen motiviert. 45 Zweitens soll die

41

Xen. Ath. pol. 1,3; Aristot. Ath. pol. 43,1, 44,4; vgl. Bleicken, Demokratie (wie Anm.6), 219–224, 312–320;

Hansen, Athenische Demokratie (wie Anm.7), 167–183, 242–244, 311–315. 42

Aristot. Ath. pol. 27,4; 43,1f., 44,1–3; pol. 1274a 8–9; Plat. Gorg. 515e; Hansen, Athenische Demokratie

(wie Anm.7), 85, 239–242, 244f. 43

Siehe Kurt Raaflaub, Die Entdeckung der Freiheit. Zur historischen Semantik und Gesellschaftsge-

schichte eines politischen Grundbegriffes der Griechen. München 1985, 214–248. 44

Siehe Josiah Ober, Quasi Rights. Participatory Citizenship and Negative Liberties, in: Social Philosophy

and Policy 17, 2000, 27–61, hier: 35. 45

24

Thuk. 2,42,1–45,2.

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Verherrlichung von Athens einzigartiger Ordnung und Lebensführung sowie seiner Macht, die ein wesentliches Element der athenischen Ideologie bildet, die Bürger überzeugen, dass ihre Polis trotz aller Rückschläge letztendlich siegen werde. Dadurch soll die Lücke zwischen der Vorstellung von der Unaufhaltbarkeit von Athens Macht und der unangenehmen Realität des offenen Kriegsausgangs überbrückt werden. 46 Diesen selbsttäuschenden Charakter von Perikles’ Gefallenenrede verdeutlicht Thukydides, indem er bekanntlich gleich im Anschluss den Pestexkurs folgen lässt. 47

IV. Demokratischer Diskurs und demokratische Ideologie Zweifelsohne besitzt jede Ideologie spezifische Merkmale, die auf ihre besondere politische und gesellschaftliche Grundlage zurückzuführen sind. Die athenische Demokratie war gegenüber modernen Ideologien durch zwei weitere Besonderheiten gekennzeichnet. Da es in der Antike noch keinen Begriff von oder eine Reflexion über Ideologie gab, war dabei die Sensibilität gegenüber dem Phänomen selbst – anders als im Falle des modernen politischen Denkens – nicht selbstverständlich. Noch wichtiger ist aber, dass die Entwicklung der athenischen Demokratie und somit auch ihrer Ideologie mit der Entdeckung des Politischen zusammenfiel. 48 Die Entwicklung von grundsätzlichen politischen Wertvorstellungen und Begriffen ging Hand in Hand mit der Ausbildung spezifisch demokratischer Werte und Konzepte; zu nennen sind ein spezifisches Verständnis von Freiheit, die Überlegenheit deliberativer Entscheidungsfindung, ferner die Gleichheit oder die Abkoppelung der politischen von der gesellschaftlichen Ebene. 49 Dieses Zusammenfallen der Entdeckung des Politischen mit der Entwicklung der Demokratie war daher einer der

46 Thuk. 2,37,1, 38,2–39,4, 40,3, 41,1–42,1, 43,1. 47 Thuk. 2,46,3–54,5, bes. 51,4–53,4. 48 Siehe Christian Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen. 3.Aufl. Frankfurt am Main 1995. Die Koinzidenz wird auch deutlich bei Roger Brock, The Emergence of Democratic Ideology, in: Historia 40, 1991, 160–169, der vor allem die Tragödie sowie Herodot und Thukydides befragt. 49 Siehe Meier, Entstehung (wie Anm.48), 92, 247–272, 289–292; Sally C. Humphreys, Public and Private Interests in Classical Athens, in: CJ 73, 1977/78, 97–104, hier: 99, 103; Cynthia Farrar, The Origins of Democratic Thinking. The Invention of Politics in Classical Athens. Cambridge 1988, 101.

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treibenden Faktoren hinter der Tendenz der demokratischen Ideologie, die politische Terminologie zu monopolisieren. 50 Einige wichtige bereits bestehende Begriffe erhielten eine demokratische Konnotation, etwa die isonomia. 51 Paul Cartledge hat überdies die These formuliert, es sei Proponenten wie Hippodamos von Milet und Perikles gelungen, den Begriff politeia als Verfassungs- und Lebensordnung Athens zu ‚besetzen‘; Autoren wie PseudoXenophon und später Platon hätten darauf reagiert. 52 Viele zentrale antidemokratische Begriffe, z.B. aristokratia, apragmosynê und scholê, haben erst aus einer direkten Auseinandersetzung mit der Demokratie ihr Profil gewonnen. 53 Folglich ist die Grenze zwischen den allgemeinen und spezifisch demokratischen politischen Wertvorstellungen weitaus verschwommener als bei den meisten neueren Ideologien: Der Demos von Athen hat Werte, Ziele und Ausdrucksformen der Aristokratie übernommen. 54 Darüber hinaus ist die Demokratie nicht aus einem Konflikt zwischen verschiedenen politisch-sozialen Gruppierungen entstanden; ganz im Gegenteil: Die athenischen Aristokraten spielten eine wesentliche Rolle bei der Ausbildung der Volksherrschaft 55 – was ihnen ein Kritiker wie Pseudo-Xenophon aus50

Vgl. Josiah Ober, How to Criticize Democracy in Late Fifth- and Fourth-Century Athens, in: ders. (Ed.),

The Athenian Revolution. Essays on Ancient Greek Democracy and Political Theory. Princeton 1996, 140– 160, hier: 140, 155. 51

Hdt. 3,80,6; Isokr. or. 7,20; vgl. Bleicken, Demokratie (wie Anm.6), 66f.; Hansen, Athenische Demokratie

(wie Anm.7), 83f. 52

Paul Cartledge, Eine Trilogie über die Demokratie. Stuttgart 2008, 46–50.

53

Siehe Martin Ostwald, Oligarchia: The Development of a Constitutional Form in Ancient Greece. Stutt-

gart 2000, 21–23; L. B. Carter, The Quiet Athenian. Oxford 1986; Thomas Morawetz, Der Demos als Tyrann und Banause. Aspekte antidemokratischer Polemik im Athen des 5. und 4.Jahrhunderts v.Chr. Frankfurt am Main 2000, 22–33. 54

Vgl. Bleicken, Sinngehalt (wie Anm.14), 9: „Als Gleicher unter Gleichen wurde der Athener kein Mann

des politischen Aufbruchs, geschweige denn ein Revolutionär. Im Gegenteil, abgesehen vom radikalen Gleichheitsgedanken war er ein ausgesprochen konservativer Mann. Er orientierte sich an den Vornehmen, denen er gerade ihren politischen Einfluß geraubt hatte; der in der Regel nicht sehr vermögende Durchschnittsbürger war nicht etwa an die Stelle des Vornehmen gerückt, sondern umgekehrt mühte sich der einfache Mann, in die Rolle der Vornehmen zu schlüpfen. Er pochte auf die Einhaltung der väterlichen Gesetze, die das private Leben regelten; er war gesetzesfromm. Er war zwar Herr geworden, aber dies nicht im sozialen Bereich, sondern auf der politischen Bühne.“ – Vgl. jetzt auch Ryan K. Balot, Courage in the Democratic Polis. Ideology and Critique in Classical Athens. Oxford/New York 2014, mit der These, die zuvor rein heroisch-kriegerisch definierte Tapferkeit (andreia) sei von den Athenern in eine demokratische Tugend transformiert und mit Werten wie Gleichheit und Freiheit verknüpft worden. 55

Siehe Walter Eder, Aristocrats and the Coming of Democracy, in: Ian Morris/Kurt Raaflaub (Eds.),

Democracy 2500? Questions and Challenges. Dubuque 1998, 105–137; Elke Stein-Hölkeskamp, Adelskultur

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drücklich zum Vorwurf machte (2,20). Zudem war die athenische Demokratie eine direkte Demokratie, in der die Mehrheit der Bürger in allen Aspekten des politischen Lebens (= der politischen Realität) aktiv teilnahm. Soweit es eine Ideologie gab, erwuchs diese aus der täglichen Praxis, war engstens mit ihr verbunden und insofern kaum als solche und losgelöst zu kommunizieren. 56 Diese Verflechtung zwischen politischer Praxis und Ideologie begünstigte die Entwicklungs- und Anpassungsfähigkeit der demokratischen Ideologie 57, ohne dabei das Gefühl der Kontinuität zu gefährden, denn Quelle und zugleich Hauptnutznießer des Wandels war stets der Demos. Dies wirkte sich positiv aus auf den Eindruck der Stabilität der demokratischen Ordnung, die insbesondere von Aristoteles betont wird. 58 Kontinuität und Stabilität sind wiederum leicht als Zeichen einer Übereinstimmung der Ideologie mit der soziopolitischen Realität zu deuten. Egon Flaig verbindet den Begriff Ideologie treffend mit einem besonderen Modus des Diskursgebrauchs: Diskurse, die simplifizieren sowie ihre konzeptuelle Trennschärfe und analytische Leistungskraft reduzieren, um politisch zu mobilisieren, sind ideologisch. 59 Da die demokratische Ideologie in Athen aus der täglichen Praxis erwuchs und beide eine kontinuierliche politische Mobilisierung der gesamten Bürgerschaft zum Ziel hatten, konnte im demokratischen politischen Diskurs eine Simplifizierung nicht ausbleiben. Dies bedeutet nicht, dass die Demokraten keine komplexen politischen Konzepte entwickelt hätten, sondern nur, dass innerhalb ihrer Kreise keine Notwendigkeit einer umfassenden theoretischen Begründung ihrer politischen Ordnung bestand. 60 und Polisgesellschaft. Studien zum griechischen Adel in archaischer und klassischer Zeit. Stuttgart 1989, 177, 205–230, 234. 56 Siehe Ober, How to Criticize Democracy (wie Anm.50), 141, 150–154; ders., Quasi Rights (wie Anm.44), 32f., 35f. 57 Siehe Ober, How to Criticize Democracy (wie Anm.50), 151. 58 Aristot. pol. 1286b20–22, 1296a13–17, 1302a8–15; Eckart Schütrumpf/Hans-Joachim Gehrke, Aristoteles, Politik Buch IV–VI. (Aristoteles Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 9/3.) Berlin 1996, 167, 285f., 436; Bleicken, Demokratie (wie Anm.6), 410; Ober, Political Dissent (wie Anm.20), 294, 307f. 59 Siehe Egon Flaig, Die Niederlage der politischen Vernunft. Wie wir die Errungenschaften der Aufklärung verspielen. Springe 2017, 36: Als mobilisierende Diskurse „simplifizieren sie; sie reduzieren ihre konzeptuelle Dimension und ihre analytische Leistungskraft, folglich ihre Tauglichkeit, Wirkliches zu begreifen“. 60 Brock, Emergence of Democratic Ideology (wie Anm.48), 169, konstatiert, dass „the daily evidence of a system actually in use minimised the need for theoretical justifications“. Doch zeige eine nähere Analyse, dass „the Athenians were perfectly capable of justifying democracy in theoretical terms. Indeed, in their

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Diese Tendenz zur Simplifizierung im alltäglichen politischen Diskurs führt auch dazu, dass manche Gelehrte zum Schluss gekommen sind, die demokratische Ideologie habe auf thin coherence basiert. Zweifelsohne war die demokratische Ordnung in vielerlei Hinsicht ein offenes System, dessen Normen und Wertvorstellungen es verschiedenen Gruppen und Einzelpersonen ermöglichten, sich zugehörig zu fühlen. 61 Daraus aber zu schließen, der demokratische Diskurs sei nicht hegemonial gewesen, erscheint dennoch verfehlt. Denn je mehr ein politischer Diskurs Anhänger findet – aus Überzeugung, Nutzenerwägungen oder beidem –, desto kleiner wird der Raum für seine externen Kritiker. Somit kann gerade eine thin coherence im Inhaltlichen maßgebend dazu beitragen, dass ein Diskurs eine hegemoniale Stellung gewinnt. Isokrates und Kallikles könnten hierfür kennzeichnend sein. Im „Areopagitikos“ definiert Isokrates den Begriff der Demokratie um, indem er diese mit Solon, Kleisthenes und der patrios politeia verbindet. 62 Eine derartige Vorgehensweise kann als Zeichen einer Schwäche der thin coherence gedeutet werden, da hier sogar eindeutig demokratische Traditionselemente argumentativ gegen die aktuelle Demokratie gerichtet wurden. Doch kann diese Umdeutung auch als ein Indiz dafür gelten, dass sich Isokrates gezwungen sah, den internen Diskursraum zu betreten, da er für einen Angriff ‚von außen‘ keine Erfolgsaussichten sah. Platon zeigt anhand von Kallikles’ Beispiel, dass just die thin coherence auch Kritiker an die demokratische Ideologie und ihren Diskurs gleichsam band: Der junge Athener weist alle Merkmale eines unversöhnlichen Gegners der Volksherrschaft auf; er verabscheut die Massen und befürwortet das Recht des Stärkeren (siehe im Beitrag von Egon Flaig in diesem Band). Dennoch möchte er in der Demokratie politisch aktiv sein, und die Bindung an den athenischen Demos hindert ihn daran, den Worten des Sokrates, dem wahren externen Kritiker, Glauben zu schenken. 63 Bekanntlich kannte die direkte Demokratie Athens keine Gewaltenteilung; der

concentration of abstract nouns to the exclusion of personalities they may be said to have arrived at the beginning of abstract political theory.“ 61

Siehe Josiah Ober, Culture, Thin Coherence, and the Persistence of Politics, in: Carol Dougherty/Leslie

Kurke (Eds.), The Cultures Within Ancient Greek Culture. Contact, Conflict, Collaboration. Cambridge 2003, 237–255, hier: 245–253, sowie den Beitrag von Thomas Blank in diesem Band. 62

Isok. or. 7,15–28; siehe Ober, Political Dissent (wie Anm.20), 277–282.

63

Siehe Ober, Political Dissent (wie Anm.20), 203, 205–209; Ivan Jordović, Bios praktikos and bios theōrêtikos

in Plato’s Gorgias, in: Alessandro Stavru/Christopher Moore (Eds.), Socrates and the Socratic Dialogue. Leiden/Boston 2018, 369–385, hier 372–379.

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Demos war in allen wesentlichen Institutionen – Volksversammlung, Rat der Fünfhundert, Geschworenengerichte, die meisten Beamten, Nomothesie usw. – der Träger der staatlichen Aktion. 64 Der Umstand, dass der athenische Demos zugleich Subjekt und Objekt der politischen Praxis war 65, erschwerte die Trennung zwischen objektiver und subjektiver Wahrheit im politischen Leben, denn in Athen „the general understanding held by the citizenry regarding the nature of society was the same understanding employed by decision-making bodies in formulating policy for deployment in the real world“ 66. Diese Tendenz hatte zur Folge, dass jedes Wissen im demokratischen politischen Leben auch unausweichlich demokratisch gefärbt war. 67 Dies musste den Eindruck bestärken, die demokratische Ideologie stehe im Einklang mit der existierenden politisch-sozialen Realität. Folglich kamen die durchschnittlichen Athener auch niemals auf die Idee eines nicht-politischen und nichtpraxisgenerierten Wissens über die Gesellschaft und ihre Mitglieder. Dieses entwickelten erst Kritiker der Demokratie. 68 Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb in der athenischen Demokratie kein Werk verfasst wurde, welches sie umfassend, systematisch und theoretisch begründet hätte. Ihre leitenden Ideen wurden vielmehr, wie schon eingangs erwähnt, in Medien verhandelt und bekräftigt, die einen ‚Sitz im Leben‘ jedes einzelnen Bürgers hatten und den Alltag buchstäblich rahmten sowie überhöhten: Tragödie, Komödie, Bildende Kunst und Reden vor Gericht bzw. vor dem Volk. Außerdem ist der Schritt von einer ‚gelebten‘ Ideologie zu ihrer umfassenden theoretischen Begründung größer, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Nicht zu64 Siehe Bleicken, Demokratie (wie Anm.6), 396–400; Ober, Quasi Rights (wie Anm.44), 48. Bleicken spitzt in seinem nachgelassenen Vortrag (wie Anm.14, 12) zu: „Die Demokratie der Athener ordnet sich in eine allgemeine Staatslehre schwer ein, es sei denn, man geht von der reinen Zahl der Herrschenden aus, macht es also wie die Philosophen, aber damit hat man wenig erkannt. Fast unmöglich erscheint es, eine Institutionenkunde der Demokratie zu schreiben. Die einzelne Institution schmilzt einem sozusagen unter den Händen, weil überall, in der Volksversammlung, den Gerichten, im Rat und den Magistraturen, die Idee verherrscht, daß alle alles machen und die tausend Regeln eben diesem Ziel dienen. Man kann ja noch nicht einmal in der Volksversammlung den Souverän sehen, weil sie nicht über die anderen Institutionen gesetzt ist, sie nur bestimmte Zuständigkeiten einer Gesamtkompetenz wahrnimmt, von der andere Körperschaften anderes übernommen haben.“ 65 Vgl. Aristot. pol. 1317a40–b3: „Ein Aspekt von Freiheit ist, dass man sich im Wechsel beherrschen lässt und herrscht“; Hdt. 3,80,6: „[…] und geben den Vielen die Macht; denn in den Vielen ist das Ganze“. 66 Ober, How to Criticize (wie Anm.50), 149, 155. 67 Ebd. 149–153. 68 Ebd. 149, 155f.; Cartledge, Democracy (wie Anm.10), 91f.

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fällig gab es nicht nur keine offensive und konsistente Rechtfertigung der Demokratie, sondern auch keine der Oligarchie. 69 Keine der antidemokratischen Schriften der klassischen Zeit versuchte, ein idealisiertes oligarchisches Gegenmodell zu konstituieren. Ungeachtet dessen ergibt sich aus den bisherigen Ausführungen, dass eine tiefschürfende Kritik der Herrschaft des Demos nicht denkbar war, ohne deren ideologische Natur aufzudecken. Eine Ideologie kann man zwar kaum widerlegen, wenn man ihrer inneren Logik folgt und sich ausschließlich ihrer Argumentationsweise bedient. Genauso aber kann man sie nicht anfechten, ohne auf ihre Konzepte einzugehen. 70 Die Tatsache, dass im Falle der athenischen Demokratie zwischen den genuin demokratischen Werten und den weiter verbreiteten politischen Vorstellungen in der Regel keine eindeutigen Grenzen zu ziehen waren, deutet darauf hin, dass die Kritiker der Volksherrschaft auf die demokratischen Wertvorstellungen rekurrieren mussten, um ihr eigenes theoretisches Instrumentarium zu schaffen. Anders gewendet: Indem sich die antidemokratischen Denker mit der demokratischen Ideologie auseinandersetzten, betrachteten sie diese grundsätzlich als satisfaktionsfähig. Keiner Ideologie, wie erfolgreich und dominant sie auch immer ist, gelingt es, alle Mitglieder einer Gesellschaft für sich gewinnen. Dafür kollidieren die soziopolitischen Vorstellungen, Werte und Interessen der einzelnen Menschen und verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen allzu oft und leicht. Selbst unter den Anhängern einer Ideologie gibt es immer Unterschiede im Grad ihrer Befürwortung. Folglich ist Kritik eine Begleiterscheinung jeder Ideologie und nimmt unterschiedliche Formen an. Nach Michael Walzer ist es möglich, zwischen interner (Pfad der Interpretation von innen) und externer (Pfad der Erfindung/Pfad der Erkenntnis) Kritik zu unterscheiden. Die interne (immanente) Kritik glaubt an eine Verbesserungsfähigkeit der Ordnung im Rahmen der bereits bestehenden Verhältnisse; des-

69

Die Studie von Matthew Simonton, Classical Greek Oligarchy. A Political History. Princeton 2017, wid-

met sich überwiegend der politischen Praxis in Oligarchien; vgl. demnächst die Rezension von Ivan Jordović in der HZ. – In einer höchst anregenden Skizze stellt Hartmut Leppin Demokratie und Oligarchie als aufeinander bezogene, viele Gemeinsamkeiten aufweisende politische Konzepte vor, in denen zugleich vielfältige Verhältnisse auf eine artifizielle Polarität reduziert werden: Unlike(ly) Twins? Democracy and Oligarchiy in Context, in: Hans Beck (Ed.), A Companion to Ancient Greek Government. Chichester u.a. 2013, 146–158. 70

Vgl. Brock, Emergence of Democratic Ideology (wie Anm.48), 168: „Faced with such firmly established

principles of argument, opponents of democracy were forced to meet its supporters on their own terms.“

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halb arbeitet diese Form von Gesellschaftskritik mit den bereits vorherrschenden soziopolitischen Konzepten und Wertvorstellungen. Die externe (ablehnende) Kritik ist durch grundsätzliche Dissidenz gekennzeichnet; sie zielt nicht auf die Verbesserung, sondern auf die Ablösung der bestehenden gesellschaftlichen Normen und somit auf den Umsturz der mit ihnen verbundenen politischen Ordnung. 71 Diese Unterscheidung leistet zweifelsfrei einen Beitrag zur Klärung; gleichzeitig wird sie aber wie jeder andere nachträgliche Systematisierungsansatz der Komplexität ihres Gegenstandes nicht vollkommen gerecht. So ist es möglich, im Denken ein und desselben Autors gleichzeitig ‚immanente‘ und fundamental ablehnende Aspekte aufzufinden. 72 Ein Autor kann sich auch der Form der internen Kritik bedienen, um in Wahrheit systemfeindliche Kritik auszuüben. Ferner erfolgt, bevor überhaupt Kommunikation stattfindet, bereits ein Austausch zwischen Autor und Publikum. Deshalb ist es sinnvoll, zwischen zwei Adressatenebenen zu differenzieren. Die erste Ebene ist das primäre Publikum, an das der Text gerichtet ist, weshalb anzunehmende Einstellungen und Rezeptionshaltungen vom Autor bei der Abfassung der Schrift zu berücksichtigen waren. Die zweite Ebene ist das sekundäre Publikum, welches denselben Text ganz unabhängig von der Frage rezipiert, auf welche Wirkung hin der Verfasser seine Aussagen konstruiert hat. 73 Vereinfacht ausgedrückt: Die Argumente eines externen Kritikers können auch von den Befürwortern der kritisierten politischen Ordnung rezipiert werden. Auf diese Weise speist sich der externe Kritiker womöglich in den internen kritischen Diskurs ein und kann so vielleicht auch zu Veränderungen des abgelehnten politischen Systems beitragen. Schließlich wäre zu berücksichtigen, dass die grundsätzliche Ablehnung einer soziopolitischen Ordnung nicht zwingend bedeutet, dass nicht umgekehrt auch der externe Kritiker selbst „vom Feind lernen“ kann. Paul Cartledge hat mit Recht darauf hingewiesen, dass die binäre Polarisation eine wesentliche (freilich auch mit hohen Kosten verbundene) Leistung der griechischen Kultur darstellt. 74 Die tiefe Verwurzelung der Logik des Gegensatzes manifes-

71 Siehe Michael Walzer, Interpretation and Social Criticism. Cambridge, Mass./London 1987; Ober, Political Dissent (wie Anm.20), 48f.; Thomas Blank in diesem Band. 72 Siehe Ober, Political Dissent (wie Anm.20), 49. 73 Siehe auch dazu Thomas Blank in diesem Band, in Anlehnung an Judith Butler, Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Frankfurt am Main 2006, 9–71, und Ober, Political Dissent (wie Anm.20), 27–41; ders., Democracy and Knowledge. Innovation and Learning in Classical Athens. Princeton 2008, 9. 74 Paul Cartledge, Die Griechen und wir. Stuttgart/Weimar 1998, 13–16.

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tiert sich etwa im bekannten Leitgedanken der griechischen Volksethik, Gerechtigkeit bedeute Freunden Gutes anzutun und Feinden Schlechtes. 75 Auch die für eine Ideologie konstitutive Freund-Feind-Unterscheidung wurde in Athen – auf der Grundlage breit akzeptierter Grundvorstellungen – immer wieder in Verfahren ausgehandelt. 76 Es mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, aber die Tendenz zur Polarisierung konnte der Bereitschaft, vom Feind zu „lernen“, förderlich sein, denn sie ermöglichte es, verbreitete, aber unzureichend reflektierte Wertvorstellungen, Denkgewohnheiten und Überzeugungen zu vergegenwärtigen, zu definieren und zu klassifizieren. So haben auch die Kritiker der Demokratie auf drei Weisen von ihrem Feind „gelernt“, wobei es geboten ist zu unterstreichen, dass diese drei Weisen sehr nahe beieinander liegen. Die erste, einfachste und oberflächlichste Weise ist die negative Differenzierung, welche sich auf die Hervorhebung der Andersartigkeit begrenzt. Herodots Bericht, wie sich die Argeier nach der Schlacht um Thyrea (um 540) die Köpfe schoren und ein Gesetz erließen, welches das Tragen von langem Haar untersagte, bis Thyrea befreit sei, während die Spartaner gleichzeitig ein Gesetz erließen, welches langes Haar vorschrieb, erhellt ihre innere Logik. 77 Diese negative Differenzierung war z.B. die treibende Kraft hinter dem Aufkommen des demonstrativen Philolakonismus in Athen als einer Art Gegenkultur zum demokratischen Mainstream. 78 Im zweiten Modus hat die demokratische Praxis erfolgreiche Konzepte hervorgebracht, die dann ihre Kritiker anregten, ihrerseits vollkommen neue Vorstellungen zu entwickeln. Ein Exempel hierfür wäre die Besoldung der funktionstragenden Bürger (misthos). Diese Neuregelung führte dazu, dass ausreichende Zeit für politische Aktivität keine selbstverständliche Voraussetzung mehr darstellte, sondern

75

Plat. rep. 331c–332c; Men. 71e; Hes. erg. 342, 349–56; fr. 174 Rz.; Archil. 177 W (94 D); Pind. Pyth. 2,83–

5; Aischyl. Choeph. 309–14; Soph. Ant. 643–644; Aristoph. Av. 420–421; Thuk. 3,40,4, 6–7, 47,5; Xen. Symp. 4,2–3; Aristot. eth. Nic. 1132b21–27; rhet. 1367a19–20; siehe Gregory Vlastos, Socrates. Ironist and Moral Philosopher. Cambridge 1991, 182–189; Mary Whitlock Blundell, Helping Friends and Harming Enemies. A Study in Sophocles and Greek Ethics. Cambridge 1991, 26–59. 76

Hierzu zuletzt Dorothea Rohde, Der politische Verrat als Gesinnungsdelikt. Der Vorzug des Glaubens

vor dem Wissen (noch unpublizierter Vortrag). 77

Hdt. 1,82.

78

Siehe Ivan Jordović, The Origins of Philolaconism. Democracy and Aristocratic Identity in Fifth-Cen-

tury BC Athens, in: CM 65, 2014, 127–154.

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zum Politikum wurde. Dies förderte die Entwicklung des antidemokratischen Konzepts der Muße (scholê). 79 Der dritte Modus des „Lernens“ vom Feind baut auf den beiden ersten auf und ist zugleich der am meisten ‚heimtückische‘: Die Wertvorstellungen und Konzepte der Gegenseite werden übernommen, um dann ganz oder zum größten Teil in ihr Gegenteil umgewandelt zu werden. Die demokratische Gleichsetzung individueller Freiheit mit dem Bürgerstatus führte zur Konstruktion des oligarchisch-aristokratischen Konzepts des wirklich freien Bürgers; dabei ging es aber in Wirklichkeit darum zu zeigen, dass nicht alle Bürger wirklich frei seien. 80 Ein weiteres Beispiel ist, wie Platon mit dem Konzept des Demagogen-Tyrannen Herodots prodemokratisches Modell vom Patronen-Tyrannen in sein Gegenteil umformte. 81

V. Entgegengesetzt, verbunden, verpflichtet: das antidemokratische Denken Die bis hierher skizzierten Überlegungen könnten zum Teil auch das auf den ersten Blick widersprüchliche Bild der Entwicklung des antidemokratischen Denkens erklären. Es wäre zu erwarten, dass die Kritik eines politischen Systems in einer direkten Relation zu seinen Krisenerscheinungen steht. In Athen ist dies jedoch nur teilweise der Fall. Die Misserfolge und Katastrophen des Peloponnesischen Krieges legten Schwachstellen der Demokratie offen. Dennoch begann das für uns greifbare antidemokratische Denken bereits in der perikleischen Zeit und erreichte seinen Höhepunkt während der restaurierten und gefestigten Volksherrschaft des 4.Jahrhunderts. Zwar boten die Fehlschläge und Fehlleistungen des späten 5.Jahrhunderts Munition für Kritik, doch es scheint die gewissermaßen erdrückende Dominanz der demokratischen Ideologie und Praxis gewesen zu sein, welche das antidemokratische Denken vorantrieb. Dieses war insofern auch eine Konsequenz aus dem letztlichen Scheitern der Versuche, die Ordnung Athens handfest durch Umsturz und 79 Siehe Ivan Jordović, Aristotle on Extreme Tyranny and Extreme Democracy, in: Historia 60, 2011, 36– 64, hier: 53–55. 80 Siehe Kurt Raaflaub, Democracy, Oligarchy and the Concept of the Free Citizen in Late Fifth-Century Athens, in: Political Theory 11, 1983, 517–544. 81 Siehe Ivan Jordović, Herodotus and the Emergence of the Demagogue Tyrant Concept, in: GFA 13, 2010, 1–15; ders. im vorliegenden Band.

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Verfassungsänderung zu beseitigen – wie dies anderswo im Rahmen von Staseis ja durchaus gelang. Ob in diesem Wechsel des Feldes der Auseinandersetzung auch die unausgesprochene Einsicht steckte, dass die Demokratie in Athen faktisch nicht zu beseitigen, sondern nur theoretisch als völlig unfundiert zu erweisen sei, wäre eine erwägenswerte Frage. Ein Indiz dafür stellen die im 4.Jahrhundert erkennbaren Bemühungen dar, ein besseres System nicht als ein fundamental anderes vorzustellen, sondern als bessere Variante der Demokratie. In welchem Ausmaß die demokratische Ideologie den politischen Diskurs insgesamt zu dominieren begann, wird z.B. daran erkennbar, dass gemäßigte antidemokratische Gegenmodelle wie das Patrios politeiaKonzept des Isokrates oder Aristoteles’ erste drei Arten von Demokratie eben als solche Varianten auftraten. 82 Hier lag eine Wurzel für die weitere Entwicklung im Hellenismus, als verschiedene Formen von Honoratiorenherrschaften, die man im späten 5.Jahrhundert zweifellos als Oligarchien angesprochen hätte, nunmehr als Demokratien figurierten. 83 Die Kritik konnte auch in diesem Fall an eine kulturelle Leistung der Demokratie selbst anknüpfen: ihre Selbsthistorisierung im Kontext der attischen Lokalgeschichte 84 – diese stellte in der Figur der Sukzession von Verfassungsänderungen, wie sie in der aristotelischen „Athênaiôn Politeia“ (Kap. 41) greifbar ist, ein handliches Hilfsmittel zur Verfügung, um eine bestimmte ältere Entwicklungsstufe als die beste zu identifizieren – und damit zugleich die aktuelle zu diskreditieren. Nicht zufällig kam das Schlagwort der patrios politeia bzw. der patrioi nomoi in der Endphase des Peloponnesischen Krieges auf. 85 Ein anderes Indiz für eine ‚Selbstbeschränkung‘ des antidemokratischen Denkens findet sich in der bei Theophrast (Char. 26) greifbaren demonstrativen und habituellen Selbstinszenie-

82

Aristot. Athen. pol. 29,3; pol. 1292b22–41; Isokr. or. 12,114; vgl. Hansen, Athenische Demokratie (wie

Anm.7), 307f.; Ober, Political Dissent (wie Anm.20), 278–286. 83

Siehe Christian Mann/Peter Scholz (Hrsg.), „Demokratie“ im Hellenismus. Von der Herrschaft des Volkes

zur Herrschaft der Honoratioren. Mainz 2012, sowie die oben Anm.8 genannte Studie von Dorothea Rohde. 84

Zum Forschungsstand siehe etwa Philip Harding, The Story of Athens. The Fragments of the Local

Chronicles of Attika. London/New York 2008; Peter J. Rhodes, Atthis. The Ancient Historians of Athens. Heidelberg 2014. – Ebenfalls nur erwähnt sei hier die panegyrische Variante der Selbsthistorisierung in Gestalt der Epitaphioi Logoi, die in klassischer Zeit fest zu den Institutionen des demokratischen Diskurses zählten; siehe dazu Nicole Loraux, The Invention of Athens. The Funeral Oration in the Classical City. Cambridge, Mass./London 1986. 85

Knapp zusammenfassend Cinzia Bearzot, Patrios politeia, in: Encyclopedia of Ancient History. Vol.9.

Malden u.a. 2013, 5095f. mit Literatur.

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rung einzelner Bürger als Oligarchen, ohne dass daraus ein auf die Abschaffung der bestehenden Ordnung zielendes Handeln erwachsen wäre. Die erdrückende Dominanz des demokratischen Diskurses vermag auch ein weiteres Phänomen zu erklären: Die Radikalität vieler antidemokratischer Schriften ist nicht auf ein von oberflächlichen Vorurteilen geprägtes Ressentiment zurückzuführen, sondern eher auf ein Denken, welches der Logik des hippokratischen Rezeptes extremis malis extrema remedia folgt. Manche antidemokratische Denker erkannten klar, dass es der demokratischen Ideologie gelungen war, die Diskurshegemonie zu gewinnen und sich so als universal und alternativlos zu präsentieren. Nur vor diesem Hintergrund – das Politische en général erschien vom demokratischen Diskurs vollständig ‚infiziert‘ – kann man verstehen, weshalb sich Platon gezwungen fühlte, die herkömmliche Auffassung des Politischen vollkommen abzuwerfen, um dann mit Hilfe eines philosophisches Systems ein fundamental neues Verständnis des Politischen (bzw. dessen Abschaffung) zu entwerfen. 86 Medial blieb dem antidemokratischen Denken im 4.Jahrhundert auch nur eine Literatur, die (mit der gewissen Ausnahme des Isokrates) keine große performative Breitenwirkung erzielen konnte, anders als sie etwa den öffentlichen Reden oder der Tragödie zuteil wurde. Zwischen den einzelnen antidemokratischen Denkern bestehen, wie schon angedeutet, beträchtliche Unterschiede. Dennoch gehörten Pseudo-Xenophon, Platon, Isokrates, Xenophon und Aristoteles zu einer intellektuellen Tradition, welche die Demokratie kritisierte. Einige Forscher prägten für diese Autoren sogar homogenisierende Bezeichnungen wie „competitive community of interpretation“ oder „critical community“. 87 Denn die ethischen und politischen Ansichten dieser Kritiker der Volksherrschaft wurden nicht nur von der athenischen demokratischen Ideologie und Praxis intensiv geprägt. Sie ‚debattierten‘ auch untereinander, und durch diesen kompetitiven Austausch von Ideen beeinflussten sie einander gegenseitig. 88

86 Siehe Kai Trampedach, Platon, die Akademie und die zeitgenössische Politik. Stuttgart 1994; ders. in diesem Band. 87 Vgl. Ober, Political Dissent (wie Anm.20), 7–12, 15, 28, 33, 43–51, 154f., 250, 258, 286–288, 350. 88 Ebd.290–351.

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VI. Ziel dieses Bandes Wie die Skizze einiger der wichtigsten Merkmale der demokratische Ideologie und des antidemokratischen Denkens zeigt, ist nicht die Kritik an der Demokratie bzw. ihren Schwächen Gegenstand des vorliegenden Bandes. Es soll kein Katalog der antidemokratischen Kritik erstellt oder gar die sinnlose Frage beantwortet werden, ob die Argumente der Gegner der Volksherrschaft berechtigt sind und mit der historischen Realität übereinstimmen oder nicht. Auch die Varianten und Vertreter antidemokratischer (‚oligarchischer‘) Politik im 5.Jahrhundert sind bereits vielfach behandelt. 89 Die Fragen lauten vielmehr: Welche Konzepte, Vorstellungen und Ideen haben die Kritiker des Demos von der demokratischen Ideologie übernommen? Weshalb haben sie einige Konzepte übernommen und andere nicht? Wie hat sich diese Übernahme auf ihr Denken und Argumentieren ausgewirkt? Wären ihre Theorien ohne das demokratische Gedankengut vorstellbar? Welchen Einfluss hatte die spezifische Diskursivität demokratischen ‚Wissens‘ auf die Argumentation der Kritiker und Gegner? 90 Gibt es zwischen dieser Übernahme von demokratischen Wertvorstellungen und Denkmustern und der Position eines Denkers als externer bzw.

89

Siehe oben Anm.69; vgl. ferner zusammenfassend etwa Peter J. Rhodes, Oligarchs in Athens, in: Roger

Brock/Stephen Hodkinson (Eds.), Alternatives to Athens. Varieties of Political Organization and Community in Ancient Greece. Oxford 2000, 119–136; Herbert Heftner, Oligarchen, Mesoi, Autokraten: Bemerkungen zur antidemokratischen Bewegung des späten 5.Jh. v.Chr. in Athen, in: Chiron 33, 2003, 1–41. Rhodes hält fest, dass nach den oligarchischen Umstürzen „oligarchy and ,better forms of democracy‘ could be discussed in an academic way, but they could not be contemplated openly as options for Athens, though by the middle of the forth century changes in constitutional detail could be made which were not democratic as democracy was understood in the late fifth century“ (Rhodes, Oligarchs, 135). Heftner sieht die historische Leistung des Ausgleichs nach 404/03 darin, dass die Athener von dem auf ausgeprägte Homogenität der Bürgerschaft ausgerichteten Politikmodell der (alten) Demokratie wie der Oligarchie Abstand nahmen; er bilanziert (Heftner, Oligarchen, 40): „Man strebte nicht mehr nach einer durch Eliminierung oder Unterdrückung nichtkonformer Elemente zu erreichenden Einheitlichkeit, sondern nach einer stabilen Balance zwischen den divergierenden, aber in ihrer Eigenart als legitim anerkannten Kräften im Staat.“ Verwiesen wird auf [And.] 4,6: Καίτοι ταῦτα διέγνωσται ἄριστα τῶν δογμάτων, ἃ καὶ τοῖς πολλοῖς καὶ τοῖς ὀλίγοις ἁρμόττοντα μάλιστα τυγχάνει καὶ πλείστους ἐπιθυμητὰς ἔχει. 90

Jonas Grethlein, Die Antike – das „nächste Fremde“?, in: Merkur 72, 2018 (H.824), 22–35, hier: 34, erin-

nert an den dialogischen Charakter der Werke Platons; in ihrer diskursiven Anlage vermutet er „einen Ausdruck der attischen Demokratie“. Die Rhetorik werde von Platon und anderen Autoren bekanntlich kritisiert. Man könne also zwar „behaupten, die Demokratiekritik der Autoren untergrabe die Diskursivität ihrer Werke, aber umgekehrt zeichnet sich zugleich der tiefe Einfluss der Demokratie ab, die mit ihrer diskursiven Form auch ihre Kritik durchdringt“.

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interner Kritiker der Demokratie eine Beziehung? Sind manche Widersprüche auf die Übernahme von gegnerischen Konzepten zurückzuführen? Es soll gezeigt werden, wie die Erfahrungen der athenischen 91 Demokratie ihren Kritikern neue Perspektiven und Sichtweisen eröffnet haben, anders ausgedrückt, was die antidemokratische Theorie dem demokratischen System schuldete. Umfassend sind diese Fragen im Rahmen eines schmalen Kolloquiumsbandes nicht zu beantworten. Ziel ist vielmehr, anhand einiger Autoren und Phänomene Impulse für einen neuen Blick auf das griechische antidemokratische Denken zu setzen. 92 Für die Fruchtbarkeit der Fragestellung spricht auch, dass bereits im Verlauf der Tagung, vollends aber in den hier zusammengetragenen Beiträgen bestimmte Aspekte mehrfach in verschiedenen Kontexten erscheinen, so die Unterscheidung zwischen ‚externer‘ und ‚interner‘ Kritik, die Diskussion um die sogenannte Summierungstheorie oder die vielbesprochene kategoriale Verschiedenheit von antiker und moderner Freiheit.

VII. Die Beiträge Claudia Tiersch betont im Sinne der zu Beginn dieser Einleitung skizzierten Überlegungen, dass die athenische Demokratie sich durch Deliberation reproduzierte, insbesondere in der Ekklesia und vor den Dikasterien; daher müssten die Debatten dort Reflexe auf politische Leitlinien und normative Grundsatzideen geboten haben. Auch die Gegner der Demokratie seien nicht zuletzt wegen der offenen Debatte in Athen zu einer rationalen Begründung ihrer Ansichten gezwungen gewesen. Mit Recht betont Tiersch die Prozessualität: War die Phase unmittelbar nach der Wie91 Wilfried Nippel hat in der Bielefelder Diskussion die Frage aufgeworfen, ob immer Athen gemeint sein musste, wenn von Demokratie die Rede war; vgl. schon ders., Antike oder moderne Freiheit? Die Begründung der Demokratie in Athen und in der Neuzeit. Frankfurt am Main 2008, 86. In der Tat war der Horizont einiger der einschlägigen Autoren weiter: Platon reiste nach Sizilien, Isokrates unterrichtete Führungspersonen aus mehreren Teilen der griechischen Welt, und Aristoteles unterschied mehrere Typen von Demokratien. Zu den real existierenden Demokratien der klassischen Zeit siehe Eric W. Robinson, Democracy Beyond Athens. Popular Government in the Greek Classical Age. Cambridge 2011 (dazu die Rezension von Uwe Walter, in: HZ 296, 2013, 465–467). 92 Einen Kontext des Kolloquiums bilden die einschlägigen Studien von Ivan Jordović seit 2016: Plato and the Democratic Roots of Tyrannical Man. Antidemocratic Thought, Democratic Ideology, Typology of Tyrants and Mirror of Tyrants in Classical Greece (Ms., 177 S., in Druckvorbereitung); Xenophon: Der aufgeklärte Tyrann und der aristokratische Weg (in serbischer und englischer Sprache, in Druckvorbereitung).

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dererrichtung der Demokratie 403 noch durch die tiefe Feindschaft der bisherigen Konfliktparteien mit höchst unterschiedlichen Vorstellungen über die Ausgestaltung der künftigen Ordnung gekennzeichnet, sorgten die institutionellen Veränderungen, vor allem der Erlass und die konsequente Durchsetzung des Amnestiegesetzes, sowie die gelebte Praxis für die Festigung der Demokratie als personenunabhängige Rechtsordnung, welche dem bisherigen Verständnis der athenischen Demokratie als archê schrittweise neue Akzente hinzufügte und für zunehmende Akzeptanz sorgte. Die von Michael Walzer, Ron Kroeker und Josiah Ober etablierte Unterscheidung von externen und internen Kritikern der Demokratie nimmt Thomas Blank zum Anlass, mit Hilfe kommunikations- und systemtheoretischer Erwägungen die Frage nach dem angezielten (primären) wie dem nicht-intendierten (sekundären) Publikum der einschlägigen Schriften neu aufzuwerfen. Das primäre Publikum der ‚antidemokratischen‘ Kritik sei nicht die demokratische Kommunikationsgemeinschaft insgesamt gewesen – vor einer Öffnung dieses Diskurses warnten Platon und Isokrates vielmehr ausdrücklich –, sondern die athenische Oberschicht als Hauptadressat philosophischer Konversionsbestrebungen. Daher erscheint es nicht sinnvoll, jede greifbare Kritik als interne zu qualifizieren: Zwar ist es richtig, dass innerhalb des Kommunikationssystems der athenischen Demokratie auch den Kritik übenden Außenseitern eine systemrelevante Funktion zukam, insofern sie erstens den politischen Praktikern beziehungsweise der Gesamtgesellschaft zeigten, wo eine Grenze zwischen ‚Demokratie‘ und ‚Nicht-Demokratie‘ verlief (= ‚externe‘ Kritik nach Walzer), und sie zweitens auf die Differenz zwischen den demokratischen Ideen und Idealen sowie der alltäglichen Praxis der demokratischen Politik aufmerksam machten (= ‚interne‘ Kritik) – jenes trug zur Selbstvergewisserung und Identitätsbildung der Demokratie bei, dieses zur Selbstoptimierung des demokratischen Systems. Aber eine solche Wirkung dieser Kritik konnte sich allenfalls auf der Ebene sekundärer Kommunikation entfalten, in Bereichen mithin, auf die einzuwirken die betreffenden Autoren gerade aktiv zu vermeiden suchten. Die Ausbildung eines intellektuellen Feldes jenseits der alten Besitz- und Bildungselite förderte die Scheidung von politischer Bühne und philosophischem Diskursfeld. Primärer Adressat der Demokratiekritik war die neue intellektuelle Elite jenseits des alten Adels und der praktischen Politiker. Marian Nebelin befragt zentrale Texte ‚externer‘ Demokratiekritik (Herodots Verfassungsdebatte; Pseudo-Xenophon; Platon; Aristoteles pol. B. III), was sie über die

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Praxis und Qualität demokratischen Entscheidens sagen. Das Ergebnis ist – auf den ersten Blick überraschend – negativ: Antidemokratische Autoren vermieden es überwiegend, das demokratische Entscheiden zu thematisieren; sie vermochten hierzu weder überzeugende Kritikpunkte vorzubringen noch zum demokratischen Entscheiden selbst eine attraktive Alternative zu formulieren. Diese auffällige Blindstelle dürfte wesentlich zur weitgehenden realpolitischen Bedeutungslosigkeit dieser Art von Demokratiekritik beigetragen haben. Überhaupt erst Aristoteles erörterte systematisch, welche Relevanz politische Partizipation für jeden einzelnen Bürger hatte, und allein Aristoteles deutete zumindest an, dass eine nähere Betrachtung der Entscheidungsprozesse der athenischen Demokratie deren grundsätzliche Funktionsfähigkeit bestätigt und damit dem Ensemble der Vorurteile, auf denen die Gegner aufbauten, den Boden entzogen habe. Die Demokratie traf überwiegend sachgerechte Entscheidungen; evidente Fehlentscheidungen blieben vereinzelt und wurden zum Teil rasch korrigiert. Zudem ergab sich nach den Verfassungsänderungen 411/10 und 404/03 gerade nicht der Eindruck, Oligarchen träfen bessere Entscheidungen. Ergänzen ließe sich Nebelins Argumentation durch den Hinweis, dass die Athener überdies für Impulse ‚interner‘ Kritik augenscheinlich offen waren, wie sich an den das System durchaus stabilisierenden Modifikationen der Verfahren am Ende des Peloponnesischen Krieges und danach ablesen lässt. Die Gruppe von Beiträgen zu einzelnen Autoren beziehungsweise Werken eröffnet Kurt Raaflaub zu Pseudo-Xenophon. Ausgehend von der Beobachtung, dass Krieg und unverblümt ausgeübte Herrschaft in dieser Schrift prominent hervortreten, wird der unbekannte Autor im Umfeld ehrgeiziger, skrupelloser, kriegsbegeisterter und mit der Demokratie zutiefst unzufriedener junger Aristokraten verortet, die später führend an oligarchischen Umstürzen beteiligt waren. Sie betrachteten die Demokratie als Instrument des Profits und dachten in einer militärischen und machtpolitischen Perspektive, die einzig die Leistung der Unterschichten in der Flotte in Rechnung stellte und die dadurch ermöglichte Herrschaft im Seebund als Rechtfertigung der Demokratie anerkannte. Ivan Jordović erörtert Platons Kritik am demokratischen Konzept der Freiheit zu tun, was man wolle, indem er zunächst den windungsreichen Weg dieser Parole rekonstruiert. Im demokratischen Verständnis hatte sie zwei Facetten: Sie war Ausdruck von Freiheit, freilich im Rahmen der gesetzlichen Ordnung, sie konnte aber auch die Zügellosigkeit von Tyrannen und Oligarchen charakterisieren. Eben dieser Vorwurf ließ sich freilich auch gegen die Demokratie selbst wenden. Im „Gorgias“

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erscheint die Freiheit des Rhetors vor der Volksversammlung tyrannisch, wobei der Arginusenprozess und die Sizilische Expedition eine wichtige Rolle spielen. In der Parole sah Platon die Idee der absoluten Freiheit im Kontext der athenischen demokratischen Ideologie verkörpert. Das theoretische Fundament der platonischen Kritik des demokratischen Freiheitskonzepts bildet das Axiom, dass keine einzige Tugend, die diesen Namen verdiene, für sich allein existieren oder gültig sein könne. Jede Tugend müsse immer relationiert, das heißt an andere Werte gekoppelt sein. Just diese Rahmung entfalle aber in der schrankenlosen Freiheitsparole. In der „Politeia“ konstruiert Platon einen kausalen Zusammenhang zwischen dem angeblich höchsten demokratischen Ideal, der absoluten Freiheit, und der Umwertung aller Werte als der destruktivsten Auswirkung der Demokratie. Kai Trampedach skizziert zunächst den athenischen Diskurs zu den zahlreichen religiösen Festen in Athen, in dem sich Kritik vor allem am dafür getriebenen öffentlichen Aufwand entzündete. Den sozialen Sinn dieser Veranstaltungen hat Platon in den „Nomoi“ scharf herausgearbeitet. Bei der Konstruktion des Festwesens der „zweitbesten“ Polis Magnesia in den „Nomoi“ orientiert er sich an vertrauten Einrichtungen und Verfahren der athenischen Demokratie, nicht zuletzt, weil die athenische Demokratie auf der intensivsten Mobilisierung der Bürger und der ausgeprägtesten Festkultur beruhte. Diese Einrichtungen und Verfahren werden im Werk freilich – auf der Grundlage einer genauen Funktionsanalyse – systematisiert und sakralisiert. Den wesentlichen Zusatz aber bildet eine Theologisierung, durch die neben die übliche Orthopraxie auch eine Orthodoxie (einschließlich Bekämpfung von Heterodoxien) treten sollte. Dieser Schritt zur Theokratie – verstanden als Herrschaft von Männern, die den göttlichen Gesetzen bedingungslos gehorchen – sei als Versuch zu verstehen, Staseis und Bürgerkrieg auszurotten. Die äußeren Formen des Kultes sollten sich gegenüber dem athenischen Muster kaum ändern, wohl aber ihr geistiger Gehalt, der sich weit von der „kultischen Demokratie“ Athens entfernt. Insofern hat Platon tatsächlich „vom Feind gelernt“, gleichzeitig aber die demokratische Ideologie mit einer denkbar engen Kopplung der politischen an die göttliche Ordnung ausgehebelt. Im Nachgang der weitgehend erschöpften Forschungsdebatte, ob und in welchem Ausmaß Xenophon als ‚Antidemokrat‘ anzusprechen sei, fragt Sven Günther, inwieweit der athenische Autor seine eigene Erfahrungs- und Gedankenwelt, aber auch die seiner potentiellen Leserschaft hinsichtlich politischer Institutionen und Ordnungen aufgegriffen, in sein Werk eingebunden und damit neue, innovative

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und zumindest diskursanregende Ordnungsrahmen geschaffen habe, welche geeignet gewesen seien, traditionelle Zuordnungen wie „demokratisch“ oder „aristokratisch“ respektive „Masse“ oder „Elite“ aufzuheben und zu einem neuen, besser funktionierenden System zu gelangen. Anhand der „Kyrupädie“ wird aufgezeigt, dass Xenophon an einigen Stellen in der Tat direkt oder indirekt auf Gegebenheiten der (demokratischen) Poleis rekurriert und die Institutionen, Verfahren und Strukturen sowohl sprachlich wie auch inhaltlich in seine didaktisierende Darstellung aufgenommen hat. Verbunden mit der Exegese weiterer Stellen ergibt sich, dass Xenophon zwar grundlegende Begriffe und Rahmenbedingungen der demokratischen und der Polis-Ideologie sowie zeitgenössischer philosophischer Diskurse aufnahm, diese in seinem Werk jedoch in ein neuartiges Staatsmodell überführte. Die demokratischen Implikationen bei Aristoteles arbeitet Karen Piepenbrink anhand von „Politik“ Buch 1 bis 6 heraus. Dabei sind einige für die Demokratie sprechende Argumente, so der Hinweis auf ihre vergleichsweise hohe Stabilität und auf den günstigen Einfluss der mesoi, nicht von einem demokratischen Diskurs inspiriert. Dies erklärt sich aus seiner Überzeugung, dass Demokratien, die eine Selbstoptimierung versuchten, tendenziell das Gegenteil von dem praktizieren, was ihnen zuträglich sei: Sie verabsolutierten bzw. fehldeuteten den Wert der Freiheit wie der Gleichheit, beschränkten infolgedessen den Einfluss der sozialen Eliten gegenüber der Macht der Menge, forcierten so den Radikalisierungsprozess und erhöhten am Ende noch die Stasisneigung. Kongruenter mit demokratischen Prämissen erscheint hingegen Aristoteles’ Bürgerbegriff. Einzigartig im Panorama des griechischen politischen Denkens steht ferner seine Summationstheorie, auch wenn die Anfänge der deliberativen Demokratietheorie nicht bei Aristoteles zu suchen sind. Die vergleichsweise hohe Ausdifferenzierung eines spezifisch politischen Feldes schließlich wurde von Aristoteles eher als polis- denn demokratiespezifisch betrachtet; sie ergibt sich aus dem Umstand, dass der Autor die Polis als einen zusammengesetzten Gegenstand begriff, bei dem aber das Ganze gleichwohl über die Summe der Teile hinausgeht. Dem demokratischen Diskurs steht er hingegen nahe, wenn er die ‚Politie‘ als Nomokratie und somit eine institutionalisierte Herrschaft begreift, in Abgrenzung zu einer personalisierten, wie sie in oligarchischen Diskursen präferiert wurde. Allerdings scheint Aristoteles die Kongruenzen, die sich im Bereich des Gesetzesdenkens zwischen seinen und den in der Demokratie prominenten Vorstellungen ergeben, nicht wahrzunehmen. Der Hauptgrund für die bewusste Rezeption demokratischer Elemente ist in der Überzeugung des Aristoteles zu su-

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chen, dass politische Ordnungen der Akzeptanz der Mehrheit der Bürger bedürfen und daher deren Erwartungen gerecht zu werden haben. In Anbetracht des Demokratisierungsprozesses, den er in der Poliswelt seit dem 5.Jahrhundert konstatiert, rechnet er dazu den Wunsch nach breiter politischer Partizipation. Egon Flaig rekonstruiert zunächst die maßgeblich von Rousseau und Constant geprägte Debatte um die „totalitäre Demokratie“, in der nicht Gewaltenteilung (wie in der Neuzeit) oder Verhinderungsmittel (wie in der römischen Republik) die potentiellen Auswirkungen der Identität von Volkssouveränität und Volksherrschaft einzuhegen vermögen. Mit Blick auf die Französische Revolution beschrieb Constant eine Despotie, die im Namen des Volkes ausgeübt werde, indem die Repräsentanten der volonté générale jene Gewalt, die eigentlich dem Souverän zukomme, in dessen Namen ausübe. Benjamin Constant, Numa Denis Fustel de Coulanges und Jacob Burckhardt projizierten dieses Schreckbild einer Volksherrschaft ohne individuelle Freiheit und ohne Bindung an Traditionen auf die griechische Demokratie der Antike zurück, ohne jedoch existierende Demokratien ihrer eigenen Zeit (etwa in der Schweiz) auf derartige Gefahren hin zu untersuchen – tatsächlich zielte die Warnung vor der totalitären Demokratie auf revolutionäre Diktaturen, die sich auf den Volkswillen beriefen. Doch bereits die antiken Kritiker hatten die Demokratie auf die verfahrenstechnisch gesicherte, ungemilderte Durchsetzung einer (augenblicklichen) Mehrheit reduziert und sie auf diese Weise zu delegitimieren versucht. Zentraler Angriffspunkt wurden in dieser Perspektive die angeblich jederzeit revidierbaren Gesetze. Die antinomistischen Gegenentwürfe waren dementsprechend radikal: Platon schaffte in der „Politeia“ den homogenen Bürgerverband und jedes Entscheidungsverfahren unter Verweis auf den vorgängigen Konsens der allein ‚Wissenden‘ ab. Und auch die Nomokratie in den „Nomoi“ entfernte sich weit von der Rolle der Gesetze in den existierenden Ordnungen. Insgesamt war Platons politische Philosophie „der radikalste und grandioseste Versuch, das politische Verfügen asymptotisch auf die Nulllinie zu drücken“. Der platonische Kallikles im „Gorgias“ spielt Natur (als Recht des Stärkeren) und Gesetz (als Schutz des Schwächeren) gegeneinander aus und verlegt durch radikale Individualisierung die Linien zwischen Freund und Feind, Innen und Außen mitten in die Bürgerschaft, die keine auf bürgerlicher Gleichheit beruhende Gemeinschaft mehr sein sollte. Die Revolte der Starken gegen die Ketten der Gleichheit sollte bei Nietzsche und im Anarchismus eines Max Stirner im 19.Jahrhundert wirkmächtige Weiterdenker finden.

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Aber auch ein auf individuelle Zustimmung pochender oder sich auf das Modell des freien, aber nicht partizipierenden Untertanen zurückziehender Liberalismus höhlt die republikanische Trias aus Gemeinwohlorientierung, Debatte und Mehrheitsentscheidung aus. Dabei ist die Warnung vor zu viel republikanischer Homogenität durchaus ernstzunehmen. In der griechischen Polis spielte diese Gefahr freilich – abgesehen von einigen markanten Vorstößen in der Gerichtsrhetorik – keine Rolle. Hans-Christof Kraus greift als Neuzeithistoriker die in der Einleitung und im Beitrag von Thomas Blank unter den Stichworten ‚intern‘ / ‚extern‘ erörterte Unterscheidung von Demokratiekritik und antidemokratischem Denken auf. Mit Blick auf die Diskussion in Deutschland vor und nach dem Ersten Weltkrieg unterscheidet er freilich die Einschätzung der Demokratie als einer nicht für alle Staaten gleichermaßen geeigneten Regierungsform (von ihm „externe Kritik“ genannt) von einer sogenannten internen Kritik, welche die Schwächen und Defizite der politischen Praxis real bestehender Demokratien in den Blick nahm und sich dabei unter anderem auf eine von Tocqueville begründete Warnung vor einer demokratischen Tyrannei der Mehrheit über die Minderheit berief (siehe den Beitrag von Egon Flaig). Gewichtige Analysen der Probleme moderner Demokratien publizierten in diesem Sinn vor 1914 Moissei Ostrogorski und Wilhelm Hasbach. In beiden Arten von Kritik erschien die nach außen starke, nach innen durch Gewaltenteilung gemäßigte konstitutionelle Monarchie, wie sie in Deutschland bestand, als überlegenes Modell. Von diesen beiden Modi zu unterscheidende, offen antidemokratische Positionen gewannen erst mit dem Ersten Weltkrieg an Boden, als sie gegen die nunmehr herrschende Ordnung in scharfer Opposition standen; sie waren gekennzeichnet durch eine Simplifizierung und Radikalisierung der kritischen Argumente aus der Vorkriegsdebatte, wobei die Parteien und Apparate sowie generell der Liberalismus besondere Zielscheiben bildeten. Diese Positionen waren aber nicht einfach ‚traditionell‘; die Verfassung des Bismarckreiches oder gar noch ältere Zuschnitte einer Monarchie wurden kategorisch abgelehnt. Als Alternative wurde, wenn auch eher vage, eine organisch-berufsständisch aufgebaute politische Gemeinschaft postuliert, die an einen alten deutschen Gedanken der freien Genossenschaft anknüpfen und die bestehenden Parlamente durch berufsständisch-korporativ gegliederte Interessenvertretungen ersetzen sollte. Eine antike Parallele dazu bietet die patrios politeia, die ab dem späten 5.Jahrhundert bekanntlich gegen die jeweils aktuelle Form der Demokratie in Stellung gebracht wurde und ebenfalls den Vorteil für sich zu haben

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schien, nicht ‚fremde‘ Ordnungen an die Stelle der eigenen, athenischen setzen zu wollen. Begrifflich und methodologisch erweist sich die kategoriale Unterscheidung von verschiedenen Arten der Demokratiekritik nach Stoßrichtung und Radikalität also als sinnvoll, auch wenn es in jedem einzelnen Fall, bei jedem Autor und jeder einschlägigen Schrift einer genauen Analyse bedarf, die Amalgamierungen und Transformationen der Kritikmodi genau herausarbeitet. Dass die Fronten nicht immer so klar sind, wie es scheint oder uns lieb wäre, dürfte ein Ergebnis sein, das nicht nur für die rückblickende Analyse politischer Systeme und Systemkritik gilt.

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Selbstbeschreibungen der Demokratie bei attischen Rednern von Claudia Tiersch

I. Einleitung: Kein demokratischer Diskurs in Athen? Ein Paradoxon der athenischen Demokratie des 5. und 4.Jahrhunderts ist ihr erkennbares Defizit an Demokratietheorie. Die Ursache dafür war durchaus nicht eine generelle Theorieferne griechischer Denker; freilich stammen die überlieferten politikphilosophischen Theorieangebote dieser Zeit von Männern, die der athenischen Demokratie differenziert kritisch bis vollkommen ablehnend gegenüberstanden. 1 Diese haben bis in die Gegenwart das Bild von den angeblichen Dysfunktionalitäten der athenischen Demokratie (vor allem des 4.Jahrhunderts) nicht unmaßgeblich mit beeinflusst. Zudem, so Jennifer T.Roberts, speiste sich das demokratische Gemeinschaftsgefühl der Athener eher aus praktischen Foren wie dem Miteinander in den Demen, den Diskursen auf öffentlichen Plätzen sowie gemeinsamen Festen und der bürgerlichen Gemeinschaft im Theater. 2 In den Augen von Josiah Ober war die demokratische Ideologie in Athen allmählich so selbstverständlich geworden, dass es keinen Bedarf für eine erklärende demokratische Theoriebildung gegeben habe. 3 Meine Untersuchung möchte eine gegenteilige Position beziehen, und zwar mit drei Argumenten. Erstens: Die athenische Demokratie funktionierte essentiell

1 Hierauf verwiesen bereits Moses I. Finley, Democracy, Ancient and Modern. London 1973, 28; Martin Ostwald, La démocratie athénienne: réalité ou illusion?, in: Métis 7, 1992, 7–24, hier: 8. Vgl. hierzu jetzt vor allem Thanassis Samaras, Plato on Democracy. (Major Concepts in Politics and Political Theory, 26.) New York 2002, 62f.; John K. Davies, Democracy without Theory, in: Peter Derow/Robert Parker (Eds.), Herodotus and His World. Oxford 2003, 313–336. 2 Jennifer T.Roberts, The Creation of a Legacy. A Manufactured Crisis in Eighteenth-Century Thought, in: J. Peter Euben/John R. Wallach/Josiah Ober (Eds.), Athenian Political Thought and the Reconstruction of American Democracy. Ithaca, N.Y. 1994, 81–102, hier: 85. Siehe auch oben die Einleitung zu diesem Band. 3 Josiah Ober, How to Criticize Democracy in Late Fifth- and Fourth-Century Athens, in: Euben u.a. (Eds.), Athenian Political Thought (wie Anm.2), 149–171, hier: 156.

https://doi.org/10.1515/9783110608380-003

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durch Deliberation, insbesondere in der Ekklesia und vor den Dikasterien. 4 Also müssen die Debatten dort Reflexe auf politische Leitlinien und normative Grundsatzideen geboten haben. 5 Zweitens haben wiederum Josiah Ober sowie die Tagung, auf die der vorliegende Band zurückgeht, deutlich gezeigt, dass die Gegner der Demokratie nicht zuletzt wegen der offenen Debatte in Athen zu einer rationalen Begründung ihrer antidemokratischen Ansichten gezwungen waren. 6 Ein soeben erst von Josiah Ober, Federica Carugati und Barry R. Weingast publizierter Beitrag verweist zudem mit Recht darauf, dass eine Zuschreibung der Dynamiken allein an die demokratischen Institutionen Athens deutlich zu kurz greife: Man könne die Neuartigkeit des in Athen entstehenden politischen Denkens nur fassen, wenn man als Hintergrund den tiefen Transformationsprozess Athens von einer mannigfachen Beschränkungen unterworfenen Gesellschaft zu einer Gesellschaft mit deutlich größeren Partizipationschancen für breitere Bevölkerungskreise in wirtschaftlicher, sozialer sowie rechtlicher Sicht zwischen dem 6. und dem 4.Jahrhundert v.Chr. in den Blick nehme. Deshalb postulieren die drei Autoren: „We reinterpret critical aspects of Greek political thought as a response to a specific phenomenon – that is, development (economic, social, and political) – in the absence of a widely shared normative standard.“ 7

Drittens folgt mein Ansatz aktuellen demokratietheoretischen Debatten, die durchaus, um einen Artikel von Hubertus Buchstein und Dirk Jörke zu zitieren, vom „Unbehagen an der Demokratietheorie“ sprechen. Als Erklärung für dieses keineswegs vereinzelte Unbehagen wird angeführt, dass allzu normative Ansätze die Gefahr intellektueller Abschottung bergen, Diskursansätze ausblenden sowie defizitäre Kategorisierungen und deutende Interpretationen politischer Entwicklungen produzieren. Der Politiktheoretiker Oliver Flügel-Martinsen hat den – im Grunde

4 Vgl zu diesem Ansatz Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates. Frankfurt am Main 1992. 5 Zu derartigen Stimuli in der Herausbildung der athenischen Demokratie vgl. Davies, Democracy without Theory (wie Anm. 1), 313–336, der solche Verfahren bereits für die Zeit Herodots diskutiert. 6 Vgl. Josiah Ober, Political Dissent in Classical Athens. Intellectual Critics of Popular Rule. Princeton/Oxford 2002, 7. 7 Federica Carugati/Josiah Ober/Barry R. Weingast, Development and Political Theory in Classical Athens, in: Ryan K. Balot (Ed.), Approaches and Methods in Greek Political Thought. (Polis, The Journal for Ancient Greek Political Thought, 33 [Special Issue].) Leiden 2016, 71–91, vor allem 71–73, Zitat 75.

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schon von Hannah Arendt gewiesenen – Ausweg daraus auf eine plausible Formel gebracht, die ich leitmotivisch nutzen möchte: „Das Politische und seine Normativität lassen sich nicht vorgängig bestimmen und mit Haltepflöcken fest treiben. Gerade deshalb aber kann es Politisches bleiben. […] Wäre es vorab geklärt, würde seine Normativität schon feststehen, dann würde es aufhören, Politisches zu sein – eine letztlich offene Bewegung, die in der Offenheit selbst ihren stärksten normativen Zug hat, […]. Folgt man den Pfaden, die das befragende Denken des Politischen beschreitet, dann besteht darin die oberste Aufgabe politischer Theorie und Philosophie: durch insistentes Fragen der Geschlossenheit entgegenzuwirken.“ 8

Genau deshalb erscheint es ertragreich, normativ weniger aufgeladene politische Diskurse der attischen Redner auf Spuren des in ihnen artikulierten Demokratieverständnisses anhand der Verwendung des Demokratiebegriffs in ihnen zu untersuchen. 9 Meine Untersuchung folgt der These, dass der hier erkennbare Diskurs gerade in seiner Prozessualität und Historizität erhellt, welche Probleme und Kategorien das Denken sowohl von Demokratiebefürwortern wie von Gegnern unter den Athe-

8 Oliver Flügel-Martinsen, Grundfragen politischer Philosophie. Eine Untersuchung der Diskurse über das Politische. Baden-Baden 2008, 263f.; Hubertus Buchstein/Dirk Jörke, Das Unbehagen an der Demokratietheorie, in: Leviathan 31, 2003, 470–495. Vgl. Hannah Arendt, Was ist Politik? Aus dem Nachlaß hrsg. v. Ursula Ludz. München 1993. 9 Zur Bedeutung von Begriffen wie isêgoria oder isonomia für die demokratische Ideologie Athens vgl. Mogens H.Hansen, Die Athenische Demokratie im Zeitalter des Demosthenes. Struktur, Prinzipien und Selbstverständnis. Berlin 1995, 83f., der allerdings auch darauf hinweist, dass z.B. isonomia als natürliche Gleichheit sowohl hinsichtlich der Belegstellen bei den attischen Rednern als auch in der offiziellen Bildwelt, etwa bei Kulten oder der Benennung von Kriegsschiffen, ein Schattendasein gegenüber den anderen Begriffen führte und eher die isêgoria, d.h. das gleiche Rederecht als Form der Chancengleichheit, hohe Wertigkeit besaß. Vgl. auch Vincent Farenga, Liberty, Equality, and Authority. A Political Discourse in Greek Participatory Communities, in: Dean Hammer (Ed.), A Companion to Greek Democracy and the Roman Republic. Chichester 2015, 101–112; Edmont Levy, Isonomia, in: Umberto Bultrighini (Ed.), Democrazia e antidemocrazia nell’ mondo Greco. Bari 2005, 118–137; Mogens H.Hansen, Ancient Democratic Eleutheria and Modern Liberal Democrat’s Conception of Freedom, in: Démocratie Athénienne – Démocratie Moderne: Tradition et Influences. Entretiens préparés par Mogens H.Hansen, présidés par Pierre Ducrey et édités par Alain-Christian Hernández. (Entretiens sur l’Antiquité Classique, 55.) Genf 2010, 307–339; Daniel Lewis, Isegoria at Athens. When Did it Begin? in: Historia 20, 1971, 129–140; Kurt A. Raaflaub, Des freien Bürgers Recht der freien Rede. Ein Beitrag zur Begriffs- und Sozialgeschichte der athenischen Demokratie, in: Werner Eck/Hartmut Galsterer/Hartmut Wolff (Hrsg.), Studien zur antiken Sozialgeschichte. Festschrift Friedrich Vittinghoff. Köln/Wien 1980, 7–57; ders., Die Entdeckung der Freiheit. Zur historischen Semantik und Gesellschaftsgeschichte eines politischen Grundbegriffs der Griechen. München 1985.

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nern im 4.Jahrhundert umkreiste bzw. wie sich dieses Denken veränderte. 10 Genau diese notwendige Historizität für das Verständnis politischer wie philosophischer Ideen hat bereits die Cambridge School, vor allem Quentin Skinner und John Pocock, unterstrichen. 11 Bezeichnend für Neuansätze erscheint in diesem Kontext auch die Beobachtung von Roger Brock, dass eine Überfülle von Symbolen und Sprachbildern für die Demokratie im 4.Jahrhundert in Kontrast zur auffallenden Dürftigkeit derartiger Bilder im 5.Jahrhundert steht. 12 Selbstverständlich gibt es für dieses Interesse an historischen Prozessen gewisse Quellengrenzen, da aus den achtziger bis sechziger Jahren des vierten Jahrhunderts vor allem die ‚Reden‘ des Isokrates mit ihrer spezifischen Tendenz überliefert sind, doch sind diese Grenzen keineswegs unüberwindbar, da auch seine Texte vielfache Hinweise auf die wachsende Akzeptanz der Demokratie und deren Ursachen bieten. Gezeigt werden soll deshalb für den gesamten zu untersuchenden Zeitraum, dass der öffentliche Diskurs nicht nur erheblich zur Ausdifferenzierung der Vorstellungen beitrug, welche die Athener von ihrer Demokratie entwickelten, sondern politische Theorie wesentlich erst ermöglichte und diese selbst nur als permanente Reaktion auf den öffentlichen Diskurs Athens zu verstehen ist; das gilt sowohl für Platon wie für Aristoteles.

II. Was überhaupt ist Demokratie? Die konfliktive Debatte nach der Wiederbegründung 403 Grundsatzdebatten über das Selbstverständnis der attischen Demokratie erst für die Wende vom 5. zum 4.Jahrhundert anzunehmen erscheint als deutlich verspätet. Immerhin waren entscheidende institutionelle Maßnahmen, welche zu einer Politisierung der Bürger geführt hatten, deutlich früher erfolgt. Allerdings hatten die oligarchischen Putsche von 411 und 404 auch deshalb Erfolg gehabt, weil unter den Athenern unverkennbar keine Einigkeit in Form eines geteilten Wissens darüber 10

Vgl. zur Bedeutung der Rhetorik als Triebkraft politischer Theoriebildung in Athen auch Harvey Yu-

nis, The Rhetoric of Law in Fourth-Century Athens, in: Michael Gagarin/David Cohen (Eds.), The Cambridge Companion to Ancient Greek Law. Cambridge 2005, 191–208, hier: 192. 11

Vor allem Quentin Skinner, Meaning and Understanding in the History of Ideas, in: H & T 8, 1969, 3–

53. Für diesen Hinweis danke ich Benjamin Gray. 12

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Roger Brock, Political Imagery from Homer to Aristotle. London 2013, 125.

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bestand, was essentiell und unverzichtbar zur athenischen Demokratie gehörte. Diese Divergenzen werden auch nach der Wiederherstellung der Demokratie 403 erkennbar. 13 Die Reden dieser Phase geben, gerade weil sie von politisch höchst unterschiedlich aufgestellten Autoren wie Antiphon, Andokides, Lysias oder Isokrates, zudem noch für Auftraggeber mit zuweilen konträren politischen Positionen geschrieben wurden, höchst aufschlussreiche Hinweise darauf, dass sich offenkundig in der innenpolitisch angespannten Phase nach 403 erst allmählich präzisere und vor allem allgemein geteilte Vorstellungen darüber herausbildeten, was das Wesen der athenischen Demokratie ausmache und vor allem, worin ihre Vorzüge bestünden. 14 Anhänger und Gegner der gestürzten oligarchischen Putschisten nach 403 standen sich hierbei nicht nur in tiefer persönlicher Feindschaft gegenüber, sondern wiesen einen normativen Dissens auf, welcher eher auf Stasisgruppierungen als auf Angehörige einer gemeinsamen politischen Ordnung verweist. 15 In einigen der Reden präsentieren sich Männer mit tiefer Distanz zur athenischen Demokratie, was verdeutlicht, wie kritisch manche Oberschichtangehörige auch 13 Offenbar vermochte Peisandros, der Wortführer der oligarchischen Verschwörung von 411, die Athener gegeneinander auszuspielen, indem er den Ruderern vorspiegelte, dass durch die geplanten Veränderungen persisches Gold und damit ihr Sold gesichert sei. Den Hopliten innerhalb Athens suggerierte er, dass künftig nur noch die Leistungsfähigsten zur Hoplitenpoliteia der 5000 gehören sollten (Thuk. 8,65,3). Hierdurch vermochte er anfänglich beide Bevölkerungsgruppen zu manipulieren. Zudem suggerierte er beiden Gruppen, die Rettung Athens hänge von ihrer Zustimmung zu den geplanten Änderungen ab (8,53,1–3). Wie der anfängliche Erfolg seines Unternehmens zeigt, gab es keinen Konsens darüber, welche institutionellen Wandlungen auf jeden Fall als Sturz der Demokratie zu bewerten und damit unter allen Umständen abzulehnen seien. 14 Vgl. Kurt A. Raaflaub, Democracy, Oligarchy and the Concept of the Free Citizen in Late Fifth-Century Athens, in: Political Theory 11, 1983, 517–544. 15 Ausschlaggebend hierfür waren sowohl die Morde und Besitzkonfiskationen der Dreißig als auch der vorhergehende Prozesskrieg der Demokraten; zu diesen Ereignissen Gustav A. Lehmann, Die revolutionäre Machtergreifung der „Dreißig“ und die staatliche Teilung Attikas, in: Ruth Stier/Gustav A. Lehmann (Hrsg.), Antike und Universalgeschichte. Festschrift Hans Erich Stier. Münster 1972, 201–233, hier: 221– 224; Peter Funke, Homónoia und Arché. Athen und die Peloponnesische Staatenwelt vom Ende des Peloponnesischen Krieges bis zum Königsfrieden (404/3 v.Chr.–387/6 v.Chr.) (Historia Einzelschriften, 37.) Wiesbaden 1980, 5. Vgl. zum Problem der Stasis Mogens H.Hansen, Stasis as an Essential Aspect of the Polis. in: ders./Thomas Heine Nielsen (Eds.), An Inventory of Archaic and Classical Poleis. Oxford u.a. 2004, 124–129; Nicolas Fisher, Hybris, Revenge and Stasis in the Greek City-States, in: Hans van Wees (Ed.), War and Violence in Ancient Greece. London 2000, 83–123. Fisher verweist darauf, dass traditionell allgegenwärtige Ehrkonflikte innerhalb der Polis mit gewissem Erfolg auf die Ebene des Wettstreits öffentlicher Reden bzw. auf den juristischen Bereich transferiert wurden.

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nach Jahrzehnten demokratischer Realitäten der neuen Ordnung gegenüberstanden. Antiphon etwa suchte sich gegenüber dem Vorwurf, er habe die Demokratie stürzen wollen, nicht etwa mit einem Rekurs auf demokratische Werte zu verteidigen, sondern mit dem geradezu machiavellistisch wirkenden Argument, dazu habe er gar keinen Grund und kein Motiv gehabt: Schließlich sei er in keiner prekären Situation gewesen und habe auch seitens der Demokratie kein Unrecht erlitten. Insofern habe er also innerhalb der Demokratie genauso gut seinen Vorteil realisieren können wie in jeder anderen Ordnung. Zudem habe er nur innerhalb der Demokratie als Redner wirken können. Deshalb sei die Anklage wegen Umsturzes gegen ihn, weil er Reden für die 400 geschrieben habe, widersinnig. 16 Der Protagonist einer Rede gegen Eratosthenes betonte, dass man unter der Demokratie versucht habe, keinen Anstoß zu erregen. 17 Manche, wie die von Konfiskation bedrohten Verwandten des Nikias, verwiesen auf die von ihren Vorfahren unter der Demokratie erbrachten finanziellen oder militärischen Leistungen bzw. sogar die Nähe ihrer Familie zum angeblich proathenischen Spartanerkönig Pausanias als Ausweis einer demokratieaffinen Gesinnung. 18 Andere machten geltend, bereits der Umstand, dass man während der oligarchischen Umstürze die Chancen auf Unterdrückung der Demokraten bei weitem nicht in vollem Umfang genutzt habe, müsse als Entlastungsargument gelten, selbst wenn man den 400 angehört habe. 19 Noch weiter trieb der Sprecher einer Lysianischen Dokimasierede nach 403 dieses Argumentationsmuster. 20 Es liege, so der Sprecher offensiv, an den Demokraten selbst, ihn durch Wiederzulassung zu politischen Ämtern zu gewinnen, da letztlich jeder im Staat nur seinen Vorteil suche. Würden sie ihn jedoch durch Nichtzulassung kujonieren, so wie es vor 404 auf Betreiben der Sykophanten wiederholt mit Oberschichtangehörigen geschehen sei, berge dies die Gefahr, dass die Demokratie erneut scheitere. Die Untaten der Sykophanten seien für die Demokratie verheeren-

16

Antiph. Apol. fr. 1–2.

17

Lysias 12,4f.; Edwin Carawan, The Athenian Amnesty and Reconstructing the Law. Oxford 2013, 139–

170, deutet diese Rede vor allem als Kriminalisierung von Mittäterschaft und damit als Erweiterung der Schulddebatte sowohl hinsichtlich der Täter als auch hinsichtlich der Opfer. 18

Lys. 18,5, 8f., 12.

19

So z.B. Lys. 20,13–17. Hier wird als Entlastungsargument angeführt, man habe zwar den 400 angehört,

die Listen über die Angehörigen der Hoplitenpoliteia aber von geplanten 5000 eigenmächtig auf 9000 Bürger erweitert. Ähnlich Lys. 25,17. 20

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Lys. 25.

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der gewesen als alle oligarchischen Magistrate. Den Demokraten obliege es nun, aus den vergangenen Fehlern zu lernen, denn der Verlust von Eigentum und Bürgerrechten treibe die Beraubten überhaupt erst zur Gegenseite. 21 Ein verpflichtender Bindungsgedanke an die Demokratie ist aus diesen Reden nicht erkennbar. Sie erscheint im Blick ihrer Gegner weiterhin eher als Willkürherrschaft einer Gruppe, mit der man sich bestenfalls widerstrebend zu Kompromissen bereitfinden wollte, um im Gemeinwesen weiterhin eine politische Rolle spielen zu können. 22 Die Flucht ins Private wurde offenbar für viele von ihnen trotz der Erneuerung der Demokratie nicht zur Alternative. Auffallend ist zudem, dass die Vertreter dieser Sichtweise nicht nur die Demokratie als politische Ordnung ablehnten, sondern sie die Regelungsstrukturen im Gemeinwesen generell anders konzipierten: Herrschaft verlief in dieser Perspektive nicht über juristische Normen, Regeln und Verfahren, die für alle gleichermaßen galten, sondern über soziale Beziehungen, welche das Verhältnis zwischen Eliteangehörigen und Polis als das eines sozial hierarchisch strukturierten Macht- und Leistungsaustauschs verstanden. Bemerkenswert sind allerdings auch die Einlassungen von Anhängern der Demokratie. Dass in einigen Fällen ein starkes Bedürfnis nach Rache für das erlittene Unheil erkennbar wird, ist angesichts der zahlreichen Morde und Besitzkonfiskationen der Jahre zuvor wenig überraschend und entspricht auch dem gattungstypischen Duktus der Gerichtsreden. 23 Auffallend hierbei ist jedoch, dass auch Vertreter dieser politischen Gruppe wenig differenzierte Vorstellungen artikulierten, worin die Spezifik der Demokratie bestehen solle und worin diese den politischen Vorstellungen ihrer Gegner überlegen sei. Eine zentrale Leitidee war auf jeden Fall die Freiheit. So rühmt der Redner einer Lysiasrede über die Gefallenen des Korinthischen Krieges, dass die Wiedererrichtung der Demokratie 403 nicht nur zu Freiheit und zu einem Ende der Knechtschaft geführt hätte; jene hätten ferner auch den gleichen Lohn für bestandene Gefahren erhalten. Gepriesen werden auch die Vorfahren als diejenigen, welche die Demokratie errichtet und damit die Freiheit für alle ermöglicht hätten. Allein die Athener, so das stolze Diktum des Redners, herrschten als Bürger über freie Seelen. 24

21 Lys. 25,3, 8, 11f., 23, 27. 22 Z.B. Lys. 18,1f., 21. 23 Lys. 13,1–4, 48, 92, 26,3ff., 28,9–13, 30,7–10. 24 Lys. 2,18, 61.

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Darüber hinausgehende Vorstellungen, etwa über die Bedeutung von Institutionen und Verfahren oder Gesetzen, bieten die Reden der ersten Jahre nach 403 jedoch selten, obwohl diese Themen in den Jahren vor 404 nachweislich bereits Gegenstand öffentlicher Debatten waren. 25 Vielmehr belegen gerade die häufig artikulierten Vorstellungen, man müsse die ehemaligen Oligarchen und deren Anhänger auf jeden Fall an einer erneuten Machtausübung hindern, dass sich offenbar nicht wenige Demokraten gleichsam als Stasisgruppierung verstanden: Da man die Macht erneut erfolgreich errungen hatte, sollte es nun zumindest für manche von ihnen primär darum gehen, diese gegen die früheren Konkurrenten zu behaupten, egal zu welchem Preis. 26 Besonders erhellend ist die Warnung aus der Rede für die Überprüfung des Euandros, man müsse unbedingt verhindern, dass die ehemaligen Demokratievernichter jetzt erneut die Kontrolle über Stadt und Gesetze erlangten. 27 Gesetze waren in dieser Perspektive also nichts, was personenunabhängig galt, sondern sie wurden als machtpolitisches Instrument im Interesse der tonangebenden Gruppierung gedeutet. 28 Möglicherweise kann hier eine Ursache dafür gesehen werden, warum die Demokratie von zahlreichen Oberschichtangehörigen trotz zunehmender Verrechtlichungstendenzen vor 404 kaum akzeptiert wurde. Angesichts dieser erkennbar tiefen stasisartigen Spaltungen wird die Relevanz

25

Erkennbar z.B. an der von Xenophon geschilderten Debatte über den Konflikt zwischen der Option

des direkten einzelfallbezogenen Volksbeschlusses und der Existenz fallunabhängiger Verfahren und Regelungen im Arginusenprozess anhand der Rede des Euryptolemos; Xen. Hell. 1,7,16–33. – Bekanntlich erscheint auch im thukydideischen Epitaphios die Demokratie nicht als ein Institutionengefüge, sondern als ein allgemein geteiltes und keiner besonderen Diskussion bedürftiges Lebensgefühl. 26

Henning Börm, Mordende Mitbürger. Stasis und Bürgerkrieg in griechischen Poleis des Hellenismus

(unveröff. Habilitationsschrift Konstanz 2017), 14, verbindet die häufigen Staseis in griechischen Städten plausibel mit der zum Teil geringen Bindung von Eliten an ihre jeweiligen Heimatpoleis bei starkem Machtstreben und mangelnder Fähigkeit zur Binnenhierarchisierung. Allerdings macht er auch deutlich, dass die Stasishäufigkeit in verschiedenen Poleis durchaus unterschiedlich gewesen sei. 27

Z.B. Lys. 26,9, 15.

28

Vgl. Bruno Bleckmann, Athens Weg in die Niederlage. Die letzten Jahre des Peloponnesischen Krieges.

(Beiträge zur Altertumskunde, 99.) Stuttgart/Leipzig 1998, 425f.; ebd.441 zur Parteilichkeit der Gesetzeskodifizierungen nach 410. Bleckmann verwies zu Recht darauf, dass Staatsschutzgesetze wie das Demophantos-Psephisma bzw. das Kannonos-Psephisma, welche vage Straftatbestände mit hohen Strafen verbanden, keineswegs als interessenunabhängige Kodifikationen zu verstehen sind, sondern als Demonstration der siegreichen Demokratie, selbst im Besitz der identitätsstiftenden patrioi nomoi zu sein; zum Demophantos-Psephisma vgl. And. 1,95f.; Lykurg. 1,124–127; Demosth. or. 20,159; zum Kannonos-Psephisma Xen. Hell. 1,7,20f.

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des Amnestiegesetzes von 403 sowie der folgenden Rechtssetzungsakte deutlich. 29 Seine Bedeutung lag wahrscheinlich weniger darin, dass man sich der furchtbaren Ereignisse des Kritiasputsches nicht mehr erinnern sollte, wurde doch die Erinnerung daran in zahlreichen späteren Reden – im Sinne eines negativen Erinnerns – geradezu leitmotivisch beschworen. Entscheidend war vielmehr, dass das Amnestiegebot die Verfolgung auf den kleinen Kreis der ‚wirklich‘ Schuldigen beschränkte und weiteren Racheforderungen enge Schranken auferlegte. Diese Selbstbindung der siegreichen Demokratie wurde bereits von Platon rühmend hervorgehoben und dürfte langfristig erheblich zur Vertrauensbildung beigetragen haben. 30 Insofern überrascht es nicht, dass die ausführlichsten Erwähnungen der gesetzlichen Innovationen von anfänglich eher demokratiefernen Vertretern wie Andokides stammten, welche den gesetzlich fixierten Zugewinn an Sicherheit als enormen Gewinn verbuchten. 31 Auch der Sprecher einer ca. 399 gehaltenen Verteidigungsrede gegenüber einer Anklage wegen Sturzes der Demokratie bezeichnete die Eide und Vereinbarungen als entscheidende Basis für die künftige Ordnung. 32 Hier können Gründe dafür liegen, dass Gesetzesgerechtigkeit als spezifischer Grundbestandteil der Demokratie schichtenübergreifend in zunehmendem Maße als deren Wesensmerkmal gewürdigt oder wie durch Andokides in seiner Mysterienrede 400/399 beschworen wurde. Auch der offenbar keineswegs demokratieaffine Sprecher einer nach 397 vor dem Areopag gehaltenen Verteidigungsrede gegen eine Anklage wegen der Beseitigung eines Ölbaumstumpfs verwies darauf, dass es unter der Oligarchie leichter gewesen sei, die Gesetze zu brechen als unter der Demokratie. 33 Tatsächlich führte

29 Aristot. Ath. pol. 39. Vgl. vor allem Thomas C. Loening, The Reconciliation Agreement of 403/402 B.C. in Athens. (Hermes Einzelschriften, 53.) Stuttgart 1987; Egon Flaig, Amnestie und Amnesie in der griechischen Kultur. Das vergessene Selbstopfer für den Sieg im athenischen Bürgerkrieg 403, in: Saeculum 42, 1991, 129–149; Carawan, Amnesty (wie Anm.17), 67–89. Von einer weitgehenden Amnestie sogar unter Einschluss von Mord und Körperverletzung während der Putschzeit durch das 401/400 nochmals erweiterte Amnestiegesetz geht auf Basis von Aristot. Ath. pol. 39 auch Benjamin Gray, Stasis and Stability. Oxford 2015, 87, aus. 30 Platon epist. 7 325ab; Men. 243e; Isokr. or. 7,67f. Vgl. zur Bedeutung dieser Abmachung auch Carawan, Amnesty (wie Anm.17), 277: „It did not rely upon ,forgiveness‘ in any meaningful sense. It required a virtue of accuracy and integrity: both parties must be true to the claims and obligations they had made and not be seduced by forsworn allegiances or wishful thinking.“ 31 Vgl. And. 1,88f., 97. 32 Lys. 25,28. 33 Lys. 7,27f., vgl. 41 zur politischen Haltung: Er bezeichnet sich hier als ordentlichen Bürger, sowohl un-

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in den folgenden Jahrzehnten die aktive Rolle der Geschworenengerichte bei der Rechtsfindung dann sogar zur Formung bzw. Neuformung von gesellschaftlichen Normen im Zuge von Gerichtsverfahren sowie zu deren Abgleich mit politischen Grundideen. 34

III. Staatsmann vs. Gesetze? Die Demokratie in den Reden des Isokrates in der ersten Hälfte des 4.Jahrhunderts Wie nachhaltig sich die zunehmend wirksame Rechtsordnung als Proprium der athenischen Demokratie gegenüber früheren Semantisierungen der Demokratie etwa als archê oder als polis tyrannos etablierte 35, verdeutlichen die von verschiedenen Logographen für unterschiedliche Protagonisten verfassten Reden wie die für den Ankläger des Lochites, die Rede für Alkibiades d. J. 36 oder für die Neffen des athenischen Generals Nikias 37. Alle Redner, höchst unterschiedlich hinsichtlich ihres sozialen Status bzw. ihrer politischen Haltung, betonten übereinstimmend, dass die Demokratie transparentere personenunabhängige Mechanismen zur Herstellung von Gerechtigkeit böte als andere Ordnungen. 38 Diese Plädoyers verweisen darauf, dass die athenische Demokratie allmählich verstärkt als spezifische institutionelle Ordnung wahrgenommen wurde und insbesondere ihre Rechtsverfahren ein gewisses Institutionenvertrauen erzeugt hatten 39, wie jüngst Jan Timmer und Marian Nebelin herausgearbeitet haben 40. Insbesondere die in einem Prozess um Körperverletzung als Anklage gehaltene ter der Demokratie als auch unter der Oligarchie; Carawan, Amnesty (wie Anm.17), 172, vermutet in den direkten Gesetzeszitaten jedoch spätere Einfügungen eines alexandrinischen Herausgebers. 34 Adriaan Lanni, Law and Order in Ancient Athens. Cambridge 2016, 150–156; in diesem Sinne auch Victoria Wohl, Law’s Cosmos. Juridical Discourse in Athenian Forensic Oratory. Cambridge 2010, 21–50. 35

Kurt A. Raaflaub, Polis Tyrannos. Zur Entstehung einer politischen Metapher, in: Glen W. Bowersock

(Ed.), Arktouros. Hellenic Studies Presented to B. M. W. Knox. Berlin/New York 1979, 237–252. 36

Isokr. or. 16,50.

37

Lys. 18,22.

38

Isokr. or. 20,4; Lys. 7,27.

39

Vgl. Mark J. Sundahl, The Rule of Law and the Nature of the Fourth-Century Athenian Democracy, in:

CM 54, 2003, 127–156.

40

Jan Timmer, Schritte auf dem Weg des Vertrauens. Überlegungen zu Chancen und Grenzen der Steu-

erung von Handlungsdispositionen, in: Claudia Tiersch (Hrsg.), Die Athenische Demokratie im 4.Jahrhundert. Zwischen Modernisierung und Tradition. Stuttgart 2016, 33–53; ferner Marian Nebelin in diesem Band.

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Rede gegen Lochites, in der der Sprecher seinen sozial unterlegenen Status zum Argument dafür macht, wie sehr die Demokratie die Befreiung von aristokratischer Willkür auch bei der Ahndung physischer Übergriffe und der Sicherung der physischen Integrität gebracht habe, lässt den wachsenden Stolz einfacher Bürger auf ihre Gleichheit vor dem Gesetz erahnen. Genau hier offenbarten die Reden übereinstimmend ein Leistungsmerkmal der athenischen Demokratie: Diese hatte sich trotz ihrer Defizite offenbar bereits einen positiven Ruf als Rechtsordnung erworben, die zumindest der Gerechtigkeitswahrung anderer Ordnungen überlegen war und gerade deshalb von Vertretern durchaus unterschiedlicher sozialer Schichten und politischer Standpunkte beschworen, ja sogar eingefordert werden konnte. Wie nachhaltig die offenkundig verbreitete Überzeugung von der überlegenen Gesetzesgerechtigkeit der athenischen Demokratie ungeachtet des sozialen Status der Angeklagten sogar in unzweifelhaft nichtdemokratische Diskurse einwirkte, belegen selbst die nicht gehaltenen Gerichts- bzw. Schulreden eines ausgewiesenen Demokratiekritikers wie Isokrates. 41 Obwohl zahlreiche dieser Schulschriften das Demokratieverständnis eines Mannes spiegeln, welcher sich nur so weit wie unbedingt nötig auf diese Ordnung und ihre Diskurse einließ 42, räumte er z.B. im „Panathenaikos“, in der erwähnten Anklagerede gegen Lochites und in seiner Antidosisrede durchaus die Qualitäten der athenischen Demokratie als Rechtsstaat ein, indem er sie als unparteiisch charakterisierte und die Gefahr ihrer Niederwerfung mit einer Niederwerfung der Freiheit gleichsetzte. 43 Ähnliches bezeugen die Dialoge Platons aus seiner mittleren Schaffensperiode

41 Vgl. Christian Bouchet/Pascale Giovannelli-Jouanna (Eds.), Isocrate: entre jeu rhétorique et enjeux politiques. Colloque de Lyon, 5–7 juin 2013. Lyon 2015; Carl Joachim Classen, Herrscher, Bürger und Erzieher. Beobachtungen zu den Reden des Isokrates. (Spudasmata, 133.) Hildesheim u.a. 2010; Wolfgang Orth (Hrsg.), Isokrates. Neue Ansätze zur Bewertung eines politischen Schriftstellers. Trier 2003. 42 Isokr. or. 7,20. – Eine andere Seite der Tätigkeit des Isokrates, nämlich sein Plädoyer für die öffentliche Vermittelbarkeit von politischem Wissen an die Bürgerschaft, deren Rezeptionsfähigkeit er betonte, unterstreichen Uwe Walter, Common Sense und Rhetorik: Isokrates’ Verteidigung der politischen Kultur, in: GWU 47, 1996, 434–440; ders., Isokrates, in: Kai Brodersen (Hrsg.), Große Gestalten Griechenlands. Mün-

chen 1999, 193–200; sowie Takis Poulakos, Isocrates’ Civic Education and the Question of Doxa, in: ders./David Depew (Eds.), Isocrates and Civic Education. Austin 2004, 44–65. 43 Isokr. 15,232, 12,130f., 20,1; vgl. Christian Bouchet, Les lois chez Isocrate, in: ders./Giovannelli-Jouanna (Eds.), Isocrate (wie Anm.41), 149–162, zur Ambivalenz der Gesetzeseinstellung bei Isokrates. So betont dieser einerseits, dass Demokratien hinsichtlich ihrer Gesetzestreue Oligarchien grundsätzlich überlegen seien, doch schätzt er zum Teil Erziehung und Bildung als höherrangig gegenüber Gesetzen ein.

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wie die „Nomoi“, der „Politikos“ oder „Kriton“. Hatte er noch in der „Politeia“ staatliche Funktionsfähigkeit primär auf die überlegene Weisheit der Philosophenherrscher gegründet und schriftlich kodierte Gesetze als situationsinadäquat, als zu starr und damit als dysfunktional zurückgewiesen 44, sind seine späteren, zum Teil höchst komplexen und nuancierten Überlegungen zu Chancen und Grenzen kodifizierter Gesetze sowie zum Problem des Gesetzesgehorsams, auch seine Propagierung absoluten Gesetzesgehorsams im „Kriton“, nicht ohne die zeitgenössischen Debatten demokratischer Diskurse zu verstehen. Gewiss versuchte er in den „Nomoi“, den Begriff des Gesetzes in seinem Sinn soweit umzudeuten, dass dieses die sittliche Normierung der Bürger durch engmaschige Kontrolle bewirken sollte. 45 Die Gesetze hätten somit nicht der Gewährung von Grundrechten, sondern der Normierung sittlicher Pflichten gegolten und damit dem von ihm favorisierten Letztziel einer Harmonisierung und Hierarchisierung der gesamten Bürgerschaft. Sein „Politikos“ propagiert jedoch erneut die Bedeutung von Gesetzesgehorsam, zumindest dann, wenn die Gesetze bewährtem Erfahrungswissen entsprängen, sie sich also in der Praxis bewährt hätten. Hiergegen wird zwar das Bedrohungspotential konstruiert, dass starre Gesetze im Gegensatz zu flexibleren Handlungsmöglichkeiten des kompetenten Staatsmannes jegliche Form der Innovation sowie des situationsadäquaten Reagierens verhindern könnten, die gute Absicht, Willkürherrschaft zu vermeiden, somit neues Unrecht schaffe. Dennoch wird hier zumindest eine Debatte darüber präsentiert, dass der ideale Staatsmann möglicherweise nicht vorhanden sei und kodifizierte Gesetze dann eine essentielle Lücke füllten. 46 Selbstverständlich bedeutete dies keineswegs, dass demokratiekritische Denker ihren generellen Frieden mit der neu justierten Demokratie gemacht hätten. Verbreitete Aversionen brachte wiederum Isokrates in seiner um 374 verfassten Rede auf Nikokles geradezu leitmotivisch auf den anklagenden Nenner, in der Demokratie würden das Höchste und das Niedrigste gleich wertgeschätzt. Doch es gehe nicht

44

Zur Kritik Platons an der athenischen Demokratie vgl. Samaras, Plato (wie Anm.1), 62–72. Allerdings

weisen Carugati/Ober/Weingast, Development and Political Theory (wie Anm.7), 85, zu Recht darauf hin, dass Platon auch in diesem Werk bereits den Schutz von Eigentumsrechten, die erzieherische Bändigung der Wächterschaft sowie ökonomische Spezialisierung zum Thema machte. 45

Plat. leg. 3 693ff.; vgl. jetzt Myrthe L. Bartels, Plato’s Pragmatic Project. A Reading of Plato’s „Laws“. (Her-

mes Einzelschriften, 111.) Stuttgart 2017. 46

Vgl. hierzu Xavier Márquez, A Stranger’s Knowledge. Statesmanship, Philosophy, & Law in Plato’s

„Statesman“. Las Vegas 2012.

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an, dass Ungleiches gleich bewertet werde, vielmehr seien Unterschiede hinsichtlich Wert und Tugend eines Mannes unbedingt zu gewährleisten. 47 Bereits in den siebziger und sechziger Jahren kleidete er seine Systemkritik an der Demokratie in Lobschriften auf historische oder mythische Könige wie Theseus, Archidamos oder Euagoras, wobei er hier nach dem Muster von Fürstenspiegeln nicht nur die persönlichen Vorzüge der Monarchen, sondern der dahinterstehenden Regierungsform generell pries. 48 Isokrates begründete seine Hochschätzung der Monarchie unter anderem damit, dass Magistrate in Oligarchien oder Demokratien sich gegenseitig durch Rivalitäten blockierten und überdies in ihrer einjährigen Amtszeit keine hinreichende Expertise erwerben könnten. 49 Voraussetzung dafür sei jedoch, wie bei Euagoras, vollkommene Selbstbeherrschung sowie ein zugewandter Umgang mit der Bevölkerung. Dann sei es erklärlich, dass die Athener, wie unter Theseus, die Monarchie der Demokratie sogar vorzögen, habe dieser doch eine politische Mischform entwickelt, die den Interessen aller gerecht geworden sei. 50 Walter Eder hat den Sinn dieser als ‚verhüllte Rede‘ charakterisierten Traktate plausibel darin gesehen, dass Isokrates hier ein typologisches Gegenbild entwerfen wollte, welches nicht konkret genug war, um seitens der Demokratie als wirklich gefährlich wahrgenommen zu werden; zugleich habe er den Aristokraten seiner Zeit ein Verhaltensmodell an die Hand geben wollen. 51 In der Krisenphase des Bundesgenossenkriegs 357–355, in der Athen endgültig den Seebund verlor, ging Isokrates dann in seiner „Friedensrede“ sowie dem „Areopagitikos“ sogar soweit, die Athener zu einer Reform ihrer politischen Ordnung zu drängen, welche wesentliche Züge der Demokratie eliminiert hätte. Als leuchtendes Vorbild schildert er hier die Demokratie der Vorväter z.B. in solonischer Zeit. Er skizziert deren Genese als Abfolge des Wirkens großer Einzelpersönlichkeiten, Redner

47 Isokr. or. 3,14. 48 Vgl. Evangelos Alexiou, The Rhetoric of Isocrates’ Evagoras. History, Ethics and Politics, in: Bouchet/ Giovanelli-Jouanna (Eds.), Isocrate (wie Anm.41), 47–57, sowie Nikos Birgalias, L’idée de la monarchie dans la pensée d’Isocrate, in: ebd.217–224. 49 Isokr. or. 3,17ff. 50 Isokr. or 9,44ff., 10,36. 51 Walter Eder, Monarchie und Demokratie im 4.Jahrhundert. Die Rolle des Fürstenspiegels in der athenischen Demokratie, in: ders. (Hrsg.), Die athenische Demokratie im 4.Jahrhundert. Vollendung oder Verfall einer Verfassungsform? Stuttgart 1995, 153–173, hier: 171f.

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und Politiker von Solon bis Perikles. Diese Schilderung dient ihm jedoch nicht primär als historischer Abriss, sondern vor allem als Argument dafür, dass damals wie heute die herausragende Rolle von Einzelpolitikern entscheidende Impulse für die Demokratieentwicklung gebe und diese deshalb in der Öffentlichkeit besser gewürdigt werden müssten. 52 Der Grund dafür, so der Redner, seien deren bessere Bildung und damit auch bessere Fähigkeiten, welche bei der Vergabe von Ämtern berücksichtigt werden müssten, alles andere sei ungerecht. Wenn Athen wieder an frühere Größe anknüpfen wolle, müsse es wieder zu einer Herrschaft der Besten werden, welche durchaus die Rechte der einfachen Bürger wahre, sie jedoch von der Bürde der Ämter befreie. 53 Mit der wachsenden Machtverschiebung hin zum Demos sah Isokrates jedoch eine Depravierung der Demokratie 54: Diese sei gegenwärtig völlig aus den Fugen, Trägheit bezeichne man als Demokratie, völlige Gesetzlosigkeit als Freiheit, Schamlosigkeit in der Sprache als Gleichheit. 55 Die Athener beschnitten die Meinungsfreiheit, zumindest bei denen, die es wie er wahrhaft gut mit ihnen meinten, während sie sie besonders dreisten Politikern und Komödiendichtern zugeständen. 56 Sie suchten sich permanent die falschen Ratgeber und seien trotz ihrer Unzufriedenheit mit aktuellen Missständen weder willens noch in der Lage, seine (Isokrates’) tiefergehende Analyse über die wahre Natur dieser politischen Dauerkrise zu akzeptieren und ihre politische Ordnung wieder in Richtung zu der der Väter zu reformieren. 57 Die wahre, weil wohlgeordnete und gerechtere Demokratie sah er demzufolge zu seiner Zeit bei den Spartanern realisiert. 58 In noch deutlich elaborierterer Form be-

52

Isokr. or. 15,232, 306ff. Eine ähnliche Tendenz der Notwendigkeit einer starken politischen Führung

bei Missbehagen gegenüber völliger demokratischer Gleichheit arbeitet für die „Ekklesiazusen“ des Aristophanes jetzt Alan Sheppard heraus: Aristophanes’ Ecclesiazusae and the Remaking of the Patrios Politeia, in: CQ 66, 2016, 463–483. 53

Isokr. or. 12,130f., 147.

54

Isokr. or. 15,317; vgl. Alexandra Bartzoka, L’Aréopage et le dèmos dans la vision politique et morale

d’Isocrate, in: Bouchet/Giovanelli-Jouanna (Eds.), Isocrate (wie Anm.41), 175–183, zum Bild des Isokrates von einem durch Macht und Freiheit zunehmend korrumpierten Demos, vor allem als Konsequenz des Seebundes. 55

Isokr. or. 7,20.

56

Isokr. or. 8,14.

57

Isokr. or. 7,15, 20.

58

Isokr. or. 7,60; vgl. jetzt umfassend Thomas Blank, Logos und Praxis. Sparta als politisches Exemplum

in den Schriften des Isokrates. (Klio Beih. NF., 23.) Berlin 2014.

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herrschte das Thema des Demos als Tyrann, welcher durch seine Gier die Wohlhabenden schädige, mehrere Schriften Platons. 59 Dennoch sind gerade diese Vorwürfe des Isokrates ein sprechendes Zeugnis für die breite Akzeptanz der Demokratie in jenen Jahren. Denn der Redner sah sich zur Platzierung seiner Kritik nicht nur gezwungen, seine Reformvariante als verbesserte Demokratie der Väter zu deklarieren, sondern dies mit einem generellen Lob der Demokratie als Verfassungsform sowie einem persönlichen Bekenntnis zu dieser Ordnung zu verbinden. So bezeichnete er nicht nur die Demokratie als vorteilhafteste Ordnung im historischen Vergleich, sondern pries auch konkrete Leistungen wie das Bauprogramm oder die erfolgreiche Bewältigung der Krise nach dem Putsch der Dreißig. Zudem beteuerte Isokrates inständig seine demokratische Gesinnung: Er sehe zwar die Gefahr, dass sein Ansatz als Oligarchie wahrgenommen werde, doch dies geschehe zu Unrecht, denn in seinen Vorschlägen präsentiere er ein transparentes Modell. Dennoch gab sich der Autor hinsichtlich der öffentlichen Wirksamkeit seiner Mahnungen keinen Illusionen hin, wenn er einwandte, ungeachtet all seiner Beschwörungen würden dies die Athener aus mangelndem Interesse anders sehen. 60 Seine Schriften sind aufschlussreich, weil sie nicht nur zeigen, dass die Ausbildung in den Philosophenschulen für junge Athener ein erhebliches Maß an sozialem Kapital bedeuten konnte, welches zu einer etwaigen politischen Tätigkeit durchaus nicht im Widerspruch stand, wie Matthias Haake deutlich gemacht hat. 61 Sie verdeutlichen vor allem, dass die politische Debatte zwischen verschiedenen Orten wie Dikasterien, Ekklesia und Rhetorikschulen den demokratischen Diskurs nachhaltig befruchtete und dass dieser Diskurs auch jegliche Vorrangansprüche begründungspflichtig machte. Die wachsende Literarisierung der Rhetorik schuf somit die Voraussetzung für die Erarbeitung komplexerer Konzepte und Denkfiguren, für welche die Debatten vor Dikasterien und Ekklesia entscheidende Impulse gaben. 62 Josiah Ober hat zu Recht betont, dass gerade der oftmals konventionelle Duk-

59 Z.B. Plat. rep. 291e–292a; Gorg. 492ab; vgl. Brock, Political Imagery (wie Anm.12), 158f. 60 Isokr. or. 12,130f. 61 Matthias Haake, ‚Doing philosophy‘ – Soziales Kapital versus politischer Misskredit? Zur Funktionalität und Dysfunktionalität von Philosophie für die Elite im sozialen und politischen Raum des klassischen Athen, in: Christian Mann/Matthias Haake/Ralf von den Hoff (Hrsg.), Rollenbilder in der athenischen Demokratie. Medien, Gruppen, Räume im politischen und sozialen System. Wiesbaden 2009, 113–145, vor allem 132–135. 62 In diesem Sinne zu Recht Harvey Yunis, Political Uses of Rhetoric in Democratic Athens, in: Johann P.

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tus der Reden des Isokrates diese besonders interessant mache. Isokrates setzte hier einerseits eine intellektuelle Demokratiekritik fort, wie sie sich bereits bei PseudoXenophon fand, doch verband er damit Ansätze von Thukydides und Platon, die in Rechnung stellten, wie die öffentliche Rede in Athen auf das Bildungsniveau der Bürgerschaft einwirkte. 63 Wie sehr öffentliche Debatten politische Führungsansprüche rational begründungspflichtig gemacht hatten, zeigt der „Politikos“ Platons, welcher Politik als Kunstfertigkeit, als technê qualifizierte. 64 Das hier gezeichnete Bild des idealen Staatsmannes wies dem personalen Anführer durchaus eine Priorität im Gemeinwesen zu, schriftlich fixierte Gesetzesbestimmungen seien dann überflüssig. Voraussetzung dafür war laut Platon jedoch, dass dieser Staatsmann sich nach wissenschaftlichen Grundsätzen und Erkenntnissen richte, denn nur so sei er in der Lage, seiner erzieherischen Aufgabe für die Bürger nachzukommen, das heißt deren gegensätzliche Eigenschaften zu einem kunstvoll funktionierenden Gesamtgewebe im Sinne einer angemessenen Ordnung zu vernetzen. 65 Stehe ein solcher Staatsmann jedoch nicht zur Verfügung, so führe an Gesetzen, eingeführt von umsichtigen Gesetzgebern, kein Weg vorbei, so wie er auch die Demokratie als die Ordnung kennzeichnete, welche in Ermangelung qualitativ guter Politiker am besten funktioniere. 66 Thanassis Samaras verwies sogar auf den auffallenden Sachverhalt, wonach Platon in seinem Spätwerk („Timaios“ und „Kriton“) von seinem Philosophenherrscher zugunsten von Gesetzen Abschied nahm, offenkundig deshalb, weil er

Arnason/Kurt A. Raaflaub/Peter Wagner (Eds.), The Greek Polis and the Invention of Democracy. A Politico-Cultural Transformation and Its Interpretations. Chichester 2013, 144–162, vor allem 155–158. Vgl. auch die Analyse von Jonas Grethlein im gleichen Band, welcher auf die Ambivalenz verweist, dass Platon in seinen Dialogen vielfältige Kritik an der Demokratie übte, er das aber in literarischen wie intellektuellen Formen tat, die sich erst innerhalb der Demokratie herausgebildet hatten: Jonas Grethlein, Democracy, Oratory, and the Rise of Historiography, in: ebd.126–143, vor allem 136f. 63 Ober, Dissent (wie Anm.6), 286. 64

Vgl. Plat. polit. 274e–277a, 287b; vgl. Brock, Political Imagery (wie Anm.12), 148; Friedo Ricken, Platon:

Politikos. Übersetzung und Kommentar. Göttingen 2008, 165–167. 65

Plat. polit. 292a–303d; vgl. zu Wechselwirkungen zwischen Platonischem Denken und athenischer

Politik auch Danielle S. Allen, Why Plato Wrote. (Blackwell Bristol Lectures on Greece, Rome and the Classical Tradition.) Malden 2010. Allen sieht Platon jedoch eher als Urheber von Konzepten und Denkfiguren, welche dann später von Rednern wie Aischines, Hypereides oder Lykurg verwendet werden. Plausibler erscheint jedoch, Platon selbst als Teil eines athenischen Diskurses zu sehen, innerhalb dessen auch er auf aktuelle Debatten seines Umfeldes reagieren musste. 66

60

Plat. polit. 302e–303a; Ober, Dissent (wie Anm.6), 324.

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selbst an der Existenz eines derart weisen Einzelpolitikers zunehmend zweifelte. 67 Samaras führt dies auf Platons zunehmende Einbeziehung der historischen Dimension zurück. Genauso plausibel erscheint es jedoch, den Einfluss zeitgenössischer politischer und intellektueller Debatten anzunehmen. Auffallend ist vor allem das Bemühen Platons um eine rational begründete, auf Professionalität und Wissen basierende Legitimation seines führenden Staatsmannes, welche die philosophischen Qualitäten der Idealherrscher seiner „Politeia“ in pragmatischere Wissenskategorien überführte. Folgerichtig konzentriert sich die Forschungsdebatte auf die Frage, ob Platon im Spätwerk gegenüber früheren Schriften seine Meinung zu staatstheoretischen Fragen verändert habe. 68 Es erscheint zumindest plausibel, dass er, ohne seine Ansichten grundsätzlich aufzugeben, sich in Reaktion auf athenische Diskurse gezwungen sah, die Kernpunkte seines Konzepts innovativer zu plausibilisieren, im Sinne einer stärkeren Vernunftbegründung herausgehobener Herrschaft. Zu prüfen wäre weiterhin, ob er die Methode des Analogieschlusses, das heißt der behaupteten Ähnlichkeit in der Funktionsweise unterschiedlicher Sphären (z.B. der Polis nach dem Muster eines Haushalts), nicht nur zur Plausibilisierung nutzte, sondern auch, um die wachsende Autonomisierung und Ausdifferenzierung der politischen Sphäre zu bestreiten und für sie wiederum vertrautere, traditionalere Funktionsmuster mit entsprechenden Hierarchien zu konstruieren. 69

IV. Die Demokratie als Rechtsordnung und ihre Träger. Demokratische Themen in politischen Reden der zweiten Hälfte des 4.Jahrhunderts In den Reden seit der Mitte des 4.Jahrhunderts stand die Demokratie nicht mehr zur Disposition, auch nicht mehr auf dem Umweg über fiktive Reformvorschläge. Vielmehr lassen die überlieferten Texte keinen Zweifel daran, dass sie als politische

67 Samaras, Plato (wie Anm.1), 199–215. 68 Michael Erler, Platon. Basel 2007, 248f.; George Klosko, The Development of Plato’s Political Theory. 2nd Ed. Oxford 2006, 210–216. 69 Zur Parallelisierung von Sphären wie Körper, Polis und Kosmos in Analogieschlüssen Platons vgl. Brock, Political Imagery (wie Anm.12), 152.

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Ordnung in Athen mittlerweile selbstverständlich etabliert und als politische Grundausrichtung weitgehend unbestritten war. Allerdings bedeutete dies keineswegs, dass man innerhalb Athens ausschließlich zu einer kleinteiligen Sachpolitik übergegangen war. Erkennbar wird das hohe Integrationspotential der demokratischen Ordnung vielmehr gerade daran, dass sich die Redner in ihren Ausführungen immer wieder auf die Grundlagen der politischen Ordnung Athens bezogen, man sich also wiederholt darüber verständigte, welche politische Maßnahme für die Erhaltung der Demokratie am besten geeignet sei bzw. ob das gezeigte Verhalten eines Bürgers oder Politikers als demokratiekonform bezeichnet werden könne. Auch andere Institutionen der athenischen Demokratie erwiesen sich als sprachbildprägend und bedeutungstragend, so z.B. wenn Demosthenes die Institution der Symmorien als Symbol auf die athenische Politik generell anwendete: Die Politik Athens sei mittlerweile genauso in Konsortien organisiert wie diejenigen, welche man zur Steuereinziehung verwende. Offenbar hatte sich die Finanzverwaltung zu einer der zentralen Institutionen und damit zur bedeutungstragenden Erfahrung für die athenischen Bürger entwickelt. 70 Auf die Demokratie bezog man sich in mehrfacher Hinsicht. So bot im außenpolitischen Bereich vor allem die aufgeheizte Situation der wachsenden Bedrohung durch Philipp von Makedonien Raum für die Frage, welche Vorgehensweise für die Rettung Athens und die Bewahrung der demokratischen Ordnung am besten geeignet sei. Führte mangelndes militärisches Engagement der Athener unmittelbar zur Gefährdung der demokratischen Ordnung, wie Demosthenes insinuierte, oder konnten diplomatische Aktivitäten die Lücke füllen? War es auch erforderlich, andere demokratische Poleis militärisch zu unterstützen, einfach deshalb, weil nur die Gemeinschaft der Demokraten Griechenlands einen wirksamen Schutz vor den räuberischen Aktivitäten Philipps bot und dies zugleich die Mission der demokratischen Leitmacht Athens wäre, wie wiederum Demosthenes suggerierte? Ein Indiz dafür bieten seine „Philippischen Reden“, in denen er die durchaus kriegsmüden Athener zum Kampf gegen Philipp von Makedonien mit dem Argument zu mobilisieren versuchte, hier gehe es um nichts weniger als um die Demokratie. Wer wenn nicht der Autokrat Philipp sei der natürliche Feind der Demokratie? Wer diese erhalten wolle, müsse jenen energisch bekämpfen. 71 Auch seine Rede

62

70

Demosth. or. 2,29; [Demosth.] or. 13,20; Brock, Political Imagery (wie Anm.12), 165.

71

Demosth. or. 8,41, 10,4f., 11–13, 15.

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für die Freiheit der Rhodier bot ein starkes Plädoyer für die militärische Unterstützung von Demokratien, welche er als wichtiges Signal an alle Demokraten bezeichnete. 72 Die Athener hätten bei der Zerstörung der Demokratie von Rhodos und Mytilene untätig zugesehen, obwohl man gegenüber Oligarchien mehr Distanz zeigen müsse als gegenüber Demokratien, da es wegen der systemischen Gegensätze unterschiedliche Kriegsgründe für Kämpfe gegen Demokratie und Oligarchien gebe. Das habe nicht nur zu negativen inneren Konsequenzen für die rhodische Demokratie geführt, sondern sei auch aus historischen Gründen nicht zu rechtfertigen: Ebenso wie sich einstmals zahlreiche Verbündete für die Wiederherstellung des Demos in Athen eingesetzt hätten, müsse nun auch der Demos der Rhodier wiederhergestellt werden. Eine militärische Unterstützung von Demokratien entspreche somit nicht nur der Mission Athens als demokratischer Leitmacht, sondern liege auch in dessen ureigenem Interesse, da bei einem Sieg Makedoniens der Sturz der athenischen Demokratie drohe. 73 Doch obwohl der öffentliche Diskurs von einer intensiven Verbindung aller Athener mit ihrer Vaterstadt und ihren Institutionen ausging und die Athener durchaus bereit zur Verteidigung ihrer Vaterstadt waren, führte der von Demosthenes behauptete Systemgegensatz nicht dazu, eine bestimmte außenpolitische Strategie als genuin demokratisch zu apostrophieren. 74 Deutlich stärkere Kohärenz bestand hingegen bei rhetorischen Bezugnahmen auf die Demokratie in innenpolitischer Perspektive, in der die athenische Ordnung vor allem als Inbegriff von Recht und Gesetz durchdekliniert wurde. Eine funktionierende Rechtswirklichkeit wird als entscheidender Unterschied zwischen Demokratie und Oligarchie gesehen 75 sowie als Inbegriff von Ordnung (taxis), als absoluter Wert, als Basis von allem anderen, als Garant all dessen, was schutzwürdig und verteidigenswert sei. Allein dieses biete Schutz vor allem vor Betrügereien, weshalb es auch wenig überrascht, dass Demosthenes die Rechtsordnung unter Rückgriff auf Währungssemantiken als wertvollste Währung Athens qualifiziert und vor Fälschungen eindringlich warnt. 76 Auch andere Redner wie Deinarchos oder Aischines priesen die Gesetzestreue der

72 Demosth. or. 15,4, 14, 22, 28. 73 Demosth. or. 17,10, 14. 74 Vgl. Plat. Menex. 237e; Lyk. Leokr. 47, 85; Brock, Political Imagery (wie Anm.12), 32f., 155. 75 Demosth. or. 15,32f.; Aischin. Tim. 4f., 14. 76 Demosth. or. 24,156, 216; [Demosth.] or. 25,20f.; 26,5, 59,115.

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athenischen Demokratie, setzten diese als Gesetzesstaat geradezu emphatisch von Tyrannis und Oligarchie ab 77, bezeichneten die adäquate gerichtliche Aburteilung von Angeklagten als urdemokratisches Recht und beschworen die Athener, die Gesetze der Demokratie auf jeden Fall einzuhalten. 78 Wer hiergegen frevle, sei seines Bürgerrechts nicht wert. 79 Man könne den Gesetzen vertrauen, entscheidend sei jedoch deren wirksame Kontrolle, denn eine Täuschung der Geschworenen sei durchaus möglich. Interessanterweise wurde das ältere, eher militärisch getönte Bild des Wächters jetzt durch allgemeinere Semantiken von Sicherheit sowie von allgemeineren Implikationen von Prüfung und Kontrolle ersetzt. 80 Eine Mitwirkung der Bürger bei der Aufsicht über die Gesetze, so der Tenor der Redner, sei unerlässlich. 81 Die Treue zu Eiden und Verträgen sei die wesentliche Basis für Teilhabe und bürgerliches Engagement. 82 Folgerichtig bezogen sich die Sprachbilder keineswegs nur auf die Gesetze selbst, sondern auch auf Geschworene, Magistrate, Politiker, ja sogar auf einfache Bürger. Roger Brock brachte diese Rekurse auf die treffende Formel: „For Athenian Democrats, the concept of law naturally extended to include the constitution and those who made it work.“ 83 Pseudo-Demosthenes warf sogar die Frage auf, was gefährlicher für die Demokratie sei: ein Einbruch in den Staatsschatz des Parthenon oder das mangelnde Engagement der athenischen Bürger. 84 Die athenischen Reden bieten jedoch noch weitere Hinweise auf Kernbestandteile des athenischen Demokratieverständnisses. Ein wesentlicher Punkt hierbei war neben der Freiheit von Reden und Tun der rechtliche Schutz von Eigentum sowie der Respekt vor den Gesetzen. 85 So stützte Demosthenes in seiner Rede gegen Timarchos seine Vorwürfe gegen den Angeklagten auf dessen angeblich illegale Form der Schuldeneintreibung: Timarchos habe die Demokratie verletzt, weil er nicht einmal die Sicherheit der Häuser seiner Gegner respektiert habe. Doch die Vorzüge des Lebens in einer Demokratie lägen gegenüber einer Oligarchie ja gerade darin, dass

64

77

Deinarch. 1,86; Aischin. Tim. 4–6.

78

Deinarch. 3,15, 21f., fr. 15.

79

Aischin. Tim. 16f.

80

Aischin. Tim. 7; Ctes. 7; Deinarch. 3,16; [Demosth.] or. 25,6.

81

Aischin. Tim. 172, 178

82

Demosth. or. 17,1.

83

Brock, Political Imagery (wie Anm.12), 164.

84

[Demosth.] or. 13,14.

85

Demosth. or. 25,20, 25.

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die Gesetze in bürgerfreundlichem demokratischem Geist erlassen worden seien, der Schutz des Eigentums gewährleistet sei und die Dinge hier generell bedachtsamer unternommen würden. 86 Ein ähnliches Verdikt traf Androtion: Dieser habe unrechtmäßig Steuern von Bürgern eingezogen, was undemokratisch sei. Deshalb habe er nicht nur wegen seiner unlauteren Sitten das Recht verwirkt, eine Rolle innerhalb der Demokratie zu spielen, sondern eine Geldstrafe gegen ihn sei auch zum Nutzen derselben Demokratie. 87 Ein weiterer zentraler Punkt bestand in der Forderung nach einem gleichberechtigten respektvollen Umgang der Bürger miteinander, allen sozialen Unterschieden zum Trotz. Wie geschickt man eine Gerichtsrede nutzen konnte, um nicht nur dem Kontrahenten zu schaden, sondern den Zuhörern auch seine Sicht der Demokratie als essentiell richtige nahezulegen, belegt die Demosthenesrede gegen Meidias (Or. 21). 88 Beide Kontrahenten waren anlässlich des Dionysosfestes 348 in Streitigkeiten geraten, doch trennten sie auch politische Konkurrenz bzw. unterschiedliche Strategien zum Umgang mit Makedonien. 89 Demosthenes nutzte die Rede (die dann wegen eines außergerichtlichen Vergleichs zwischen beiden Kontrahenten wohl nicht mehr gehalten wurde) zur normativen Abrechnung mit seinem Gegner, dem er demokratieschädliches Verhalten unterstellte. 90 Meidias wurde in dieser Schilderung nicht nur zum Gewalttäter, sondern zum Mann, der durch sein Verhalten geradezu prototypisch die Rechte einfacher Bürger auf physische Unverletzlichkeit mit Füßen trat. Dieser sei, so Demosthenes, eine Bedrohung für das in Athen geltende System der Freiheit und Gerechtigkeit, die politische Gleichheit und die persönliche Si-

86 Demosth. or. 24,24, 162, 164. 87 Demosth. or. 22, 47, 50ff. 88 Zum Charakter dieser Rede als Aushandlungsprozess zwischen persönlicher Macht und sozialen Regeln vgl. Josiah Ober, Power and Oratory in Democratic Athens. Demosthenes 21, against Meidias, in: Ian Worthington (Ed.), Persuasion. Greek Rhetoric in Action. London/New York 1994, 85–108. Ober zeigt, dass hier durchaus auch Demosthenes seine Position als Elitenangehöriger postulieren konnte, allerdings immer darauf verwies, das entscheidende Kriterium für alle sei die Regeltreue. 89 Zur Person des Meidias vgl. Gustav A. Lehmann, Demosthenes. Ein Leben für die Freiheit. München 2004, 47, 120, 122ff., 126, 169; zum Verhältnis zwischen Demosthenes und Meidias Douglas M. Mac Dowell (Ed.), Demosthenes. Against Meidias (Oration 21). Oxford 1990, 1–13. 90 Zu politischen Ideen des Demosthenes innerhalb der Meidias-Rede vgl. Josiah Ober, The Orators, in: Christopher Rowe/Malcolm Schofield (Eds.), The Cambridge History of Greek and Roman Political Thought. Cambridge 2005, 130–141, 138f., sowie ders. The Athenian Revolution. Essays on Greek Democracy and Political Theory. Cambridge 1996, 86–106.

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cherheit eines jeden. Denn Meidias sei ein reicher Mann, der glaube, seine wirtschaftliche Überlegenheit in Verbindung mit seinen rhetorischen Fähigkeiten verliehen ihm Überlegenheit gegenüber weniger begüterten Bürgern im privaten wie öffentlichen Leben. Meidias und andere Reiche hätten einsehen müssen, dass Gesetze und Gerichte der Demokratie den einfachen Bürgern gleiche Rechte verliehen, ihnen also ein Schicksal wie das des homerischen Thersites ersparten. Meidias’ Aktion gegen ihn jetzt sei somit nicht nur als einfache Körperverletzung zu bewerten, sondern vom Gedanken getragen gewesen, hierdurch seine Überlegenheit öffentlich zu inszenieren. Gerade deshalb sei es jetzt an den Geschworenen, solche Insinuationen ebenso rasch wie konsequent zu unterbinden und hart zu strafen, um derartige Arroganzanmutungen im Keim zu ersticken. 91 Konkreter Fall und prinzipielle normative Erörterungen, deren manipulative Absichten nicht zu übersehen sind, verbanden sich aufs engste. Geradezu konträr, nämlich zugunsten der Akzeptanz und Beibehaltung von sozialen Differenzen bzw. von Privilegien zur Förderung von politischem Engagement als Bestandteil einer funktionsfähigen Demokratie, argumentierte Demosthenes im sogenannten Kranzprozess von 330, in dem von seinem Gegner Aischines die Frage aufgeworfen worden war, ob Demosthenes bei den Dionysien 336 den Ehrenkranz für seine Leistungen zu Recht erhalten habe. Jetzt war es Demosthenes, der das Recht auf soziale Distinktion innerhalb der athenischen Demokratie verteidigte und damit durchaus Gedanken von Isokrates aufgriff. Aischines hingegen inszenierte sich etwa in seiner Rede gegen Timarchos als Mann des Volkes, als maßvoll und bürgerlich (metrios), und beanspruchte deshalb, in seiner Rede die Stimme des Volkes zu vertreten. 92 Mit einem ähnlich inszenierten Selbstverständnis rief er in seiner Rede gegen Ktesiphon zu einer eingehenderen Prüfung von Privatleben und öffentlichen Leistungen des Demosthenes auf und plädierte nach heftigen Attacken für eine Rechtswidrigkeit des Antrags auf Kranzverleihung. 93 Demosthenes führte seine Plädoyers interessanterweise als Differenzierung demokratischer Verhaltensnormen. Auch er beanspruchte durchaus, demotikos bzw. metrios zu sein, doch stellte er diesen bürgerlichen Tugenden die Eigenschaften eines Eliteangehörigen gegenüber. Er verwies auf seine gegenüber Aischines deutlich bes-

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91

Demosth. or. 21,219f.

92

Aischin. Tim. 1–3.

93

Aischin. Ctes. 51f., 171.

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sere Herkunft und seine grundlegendere Bildung 94 und leitete daraus seine seltene Fähigkeit ab, komplexe Faktoren und Maßnahmen in ihrer Bedeutung gegeneinander abwägen zu können, und vor allem habe er die nötige Freizeit, die Politik zu entwickeln, die nützlich für das Gemeinwesen sei. Insofern, so Demosthenes, stelle es durchaus keinen Widerspruch dar, die Stimme des Volkes zu verkörpern und zugleich auch ein Anführer zu sein. Demokratie sei keineswegs mit der Existenz einer Elite inkompatibel: Entscheidend sei die absolute Loyalität gegenüber den Idealen der Demokratie, ein Bemühen um Leistung für die Allgemeinheit sowie ein Lebensstil des betreffenden Politikers, welcher von den Bürgern als akzeptabel angesehen werde. 95 Trotz dieser keineswegs egalitären Attitüde gewann Demosthenes die Zustimmung der athenischen Bürger und den Prozess. Auch in seiner Rede gegen die Initiative des Leptines auf Abschaffung von Steuerprivilegien als Anerkennung von erbrachten Leistungen verwies Demosthenes darauf, dass man dadurch nicht nur Vertrauen in die Demokratie zerstöre, sondern sich mittelfristig als Bürgerschaft essentiell schade: Schließlich werde die Freiheit der Demokratie gerade durch die Rivalität ihrer Bürger geschützt, welche in stetigem Wettstreit nach politischen Ehren strebten. 96 Die komplementären Ansätze zwischen demokratischer Egalität und sozialen Hierarchien deuten darauf hin, dass den Prätentionen der jeweiligen Politiker und ihren Konkurrenzen im 4.Jahrhundert offenkundig eine selbstverständlichere Resonanz im öffentlichen Raum eingeräumt wurde als früher, weil man ihrer Expertise bedurfte. Diese Professionalisierungstendenzen werden auch von Symbolen wie dem Politiker als Wettkämpfer, als Steuermann oder Arzt gespiegelt. 97 Politik gewann den Ruf einer spezialisierten technê, für welche Politiker Training benötigten. 98 Hatte bereits Platon in seinem „Alkibiades I“ die Vorstellungen seines Protagonisten zurückgewiesen, dass seine überlegene Natur ihn jeder Trainingsnotwen94 Demosth. or. 18, 129–131, 258f. 95 Hierzu auch Ober, Orators (wie Anm.90), 139; Wolfgang Schuller, Der Kranzprozess des Jahres 330, in: Leonhard Burckhardt/Jürgen von Ungern-Sternberg (Hrsg.), Große Prozesse im antiken Athen. München 2000, 190–200. 96 Demosth. or. 20,15, 108, 111, 159. Thema dieser Rede war aber gerade auch die Verfahrenshoheit der Athener über die Gesetze und den Gesetzgebungsprozess, vgl. hierzu Mirko Canevaro, The Procedure of Demosthenes’ Against Leptines: How to Repeal and Replace an Existing Law, in: JHS 136, 2016, 39–58. 97 Demosth. or. 18,194, 19,250; [Demosth. or.] 25,40; 26,22; Aischin. Ctes. 158; Demad. fr. 64; Brock, Political Imagery (wie Anm.12), 156. 98 Brock, Political Imagery (wie Anm.12), 151, mit zahlreichen Belegen.

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digkeit enthebe 99, und Xenophon in den „Memorabilien“ Kritik an Charmides geäußert, weil dieser sich weigerte, in den politischen Wettbewerb einzutreten, erhöhten sich die Anforderungen insbesondere nach dem gescheiterten Bundesgenossenkrieg und der folgenden Finanzkrise Athens weiter. 100 Die verstärkte öffentliche Anerkennung dieser Professionalität war deren Konsequenz. 101 Zahlreiche explizite Aussagen verschiedener Reden, aber auch manche Sprachbilder verdeutlichen jedoch, dass die Basis dieser Akzeptanz die Orientierung an demokratischen Normen sowie den Interessen der Bürger darstellte. Eine zentrale Vorstellung war, dass Politiker als Diener und Beschützer des Volkes agierten und ihre politische Tätigkeit als Dienst ausübten. 102 Hier werden durchaus Rekurse auf die Rhetorik der politischen Ära Kleons erkennbar, wie sie Aristophanes in seinen „Rittern“ persifliert hatte. Eine negative Verzeichnung dieser Erwartungshaltung bot bereits Platon in seiner Charakteristik des Politikers als versklavter Liebhaber eines tyrannischen Demos im „Gorgias“. 103 Unverkennbar war hierbei permanent ein starker Akzent auf das Verhalten von Politikern und die Bedingungen ihres Agierens gesetzt. Beschwerte sich etwa Demosthenes darüber, dass die Athener ihren Politikern zu viel Raum für Tricks böten, charakterisierte Aischines die Bürger Athens als Organisatoren eines politischen Wettstreits, in dem sie durch ihre Preisvergabe Aktivitäten beeinflussten. 104 In diesem Wettstreit besaß kein Politiker ein Monopol auf demokratiekonformes Verhalten. Vielmehr wurde dieses selbst im Verhalten eines Spitzenpolitikers wie Demosthenes öffentlich hart debattiert, vor allem von seinen Konkurrenten. 105 Die

99

Plat. Alk. I 119b, 132b.

100 Xen. mem. 3,7. 101 Dazu jetzt ausführlicher Dorothea Rohde, Die öffentlichen Finanzen Athens und die Ausbildung einer Honoratiorenschicht im 4.Jahrhundert v.Chr. Habilitationsschrift Bielefeld 2017, Kap. 4 und 5. 102 Demosth. or. 18,311; [Demosth.] or. 50,2; Aischin. Ctes. 13, 15. Sogar Isokrates erwies dieser Erwartung ein Lippenbekenntnis, um sein Reformprojekt im Areopagitikos zu platzieren: Isokr. or. 7,26; vgl. Ober, Dissent (wie Anm.6), 278–280; Brock, Political Imagery (wie Anm.12), 154. 103 Der Protagonist Kallikles wird hier zugleich als demosunterworfener Politiker und als Liebhaber eines ebenso launisch agierenden jungen Mannes namens Demos vorgestellt; Plat. Gorg. 481d1–5; Ober, Dissent (wie Anm.6), 190–213; Brock, Political Imagery (wie Anm.12), 155. Siehe ferner den Beitrag von Ivan Jordović in diesem Band. 104 Demosth. or. 18, 138; Aischin. Ctes. 179–180; Brock, Political Imagery (wie Anm.12), 157. 105 Z.B. Aischin. Ctes. 172, 178: Demosthenes wird als Feind des Volkes beschuldigt: Er beschädige die Redefreiheit durch seine Racheklagen und unterminiere dadurch die Demokratie.

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Anerkennung dieses Verhaltens bot die Grundlage für eine herausgehobene politische Position, weshalb im Konkurrenzkampf dem Gegner oft die demokratische Konformität bestritten wurde. Hieran wird erkennbar, wie essentiell die Demokratiekategorie als zentrale Basis für öffentliche Selbstverständigungsdiskurse war. Klassische Vorwürfe an Konkurrenten bestanden darin, diese versuchten sich als Herren zu inszenieren und den Demos zu versklaven, wodurch sie mangelnden Gemeinsinn sowie fehlenden Sinn für gerechten Ausgleich bewiesen. 106 Man scheute auch keineswegs vor der Behauptung zurück, der Beschuldigte wolle mit seinem Vorschlag die Demokratie als solche stürzen. Streit um die Bewertung des Verhaltens von Politikern entstand z.B. im Kontext des gescheiterten Philokratesfriedens von 346, in dem sowohl Demosthenes als auch Aischines und ihre Anhänger einander vorwarfen, sie hätten gegenüber Philipp zu Lasten der athenischen Demokratie unnötige Kompromisse gemacht. Demosthenes beschwerte sich vor allem darüber, Aischines habe ihn beschuldigt, Philipp die Auflösung der Demokratie versprochen zu haben, nur weil er einige diplomatische Ansätze des Aischines missbilligt habe. Tatsächlich jedoch sei es Aischines gewesen, welcher zu Philipps Freunden gehört habe – und damit zu der Politikergruppe, die die Demokratie stürzen wollte, weil für sie die etablierte Ordnung lediglich Unfug (mania) bzw. ein momentanes Schwanken gewesen sei. Deshalb sollten die Athener nicht demokratische Politiker wegen bloßer Meinung oder Manipulation verurteilen, sondern allein auf Basis von Fakten, denn nur dies sei demokratisch. 107 Ähnlich erbitterte Streitigkeiten entstanden aber auch im Zuge der sogenannten Harpalosaffäre, in der Demosthenes den von Alexander dem Großen nach Athen geflohenen Schatzmeister unterstützt hatte. Hier wurde er unter anderem von Deinarchos beschuldigt, er geriere sich zwar als Mann des Volkes, entspreche diesem Selbstverständnis jedoch nicht. So habe er sich schon nach Chaironeia undemokratisch verhalten, das Volk nicht gegen seine Feinde wie Demades verteidigt und zudem untaugliche Männer für die Verleihung des Bürgerrechts empfohlen. Jetzt opponiere er gegen den Areopag, obwohl diesem die Demokratie das Leben der Bürger anvertraut habe. 108

106 Demosth. or. 3,30–31, 22,54; [Demost.] or. 13,31; Aischin. Ctes. 3; Brock, Political Imagery (wie Anm. 12), 154. 107 Demosth. or. 19,175, 280, 296f. 108 Deinarch. or. 1,9, 44, 70, 79, 100ff.

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Die genannten Beispiele können als Indiz dafür dienen, dass es auch da, wo nicht die Demokratie als Ganze zur Debatte stand, trotz aller Topoi immer in zuweilen erstaunlich nuancierter Argumentation um Konsequenzen ging, welche diese politische Ordnung für das Leben der Bürger bedeutete. In diesen Diskursen, welche die Basis für gemeinsame Entscheidungen der athenischen Bürgerschaft bildeten, können Gründe dafür gesehen werden, warum die ursprünglich so verfemte Vokabel ,Demokratie‘ allmählich zum Qualitätsmerkmal wurde. Diese literarischen Zeugnisse verweisen ferner darauf, warum eine politische Tätigkeit innerhalb der athenischen Demokratie selbst für Männer attraktiv war, welche nicht mit jeder ihrer Ausprägungen übereinstimmten. Sie sind zugleich ein Indikator dafür, in welchem Maße der öffentliche Diskurs die Wahrnehmung und Bewertung der demokratischen Ordnung geprägt und versachlicht hatte. Auch hier sind Reflexe darauf in den Zeugnissen der Politiktheorie erkennbar. Zwar hat Josiah Ober in seiner nuancierten Analyse der aristotelischen „Politik“ auf die von mehrfachen Einwänden und Bedenken getragene Haltung verwiesen, welche Aristoteles bei der Beurteilung der Demokratie als Chance auf eine erfolgreiche politische Ordnung, basierend auf der Weisheit der Menge, an den Tag legt. Ober hat dies plausibel auf das Schwanken des Philosophen zwischen der alltäglichen Funktionalität der athenischen Demokratie und einer gewissen Sympathie für die aristokratieaffine politische Metaphysik Platons zurückgeführt. 109 Obwohl Aristoteles somit ein politisches Modell favorisierte, welches die höchsten Ämter als Wahlämter nicht für alle vorsah, sei es im Zuge einer nötigen Professionalisierung oder als soziale Exklusivität 110, wies er allen Bürgern dennoch selbstverständlich die Rolle der gemeinsamen Beratung über politische Angelegenheiten sowie der Beurteilung der politischen Amtsträger zu. Basis für jedes dieser Gemeinwesen war zudem eine auf stabilen Gesetzen begründete Ordnung. 111 Monarchien konnten unter idealen Bedingungen, unter der Ägide eines übermenschlich quali-

109 Ober, Dissent (wie Anm.6), 319–324. 110 Vgl. Aristot. pol. 3,6 1281b25–34; vgl. Melissa Lane, Claims to Rule: the Case of the Multitude, in: Marguerite Deslauriers/Pierre Destrée (Eds.), The Cambridge Companion to Aristotle’s Politics. Cambridge 2013, 247–274. 111 Zur ersten Staatsformenreihe Aristot. pol. 4,4 1291b30–1292a38; zur zweiten Reihe 4,6 1292b22– 1293a10; vgl. zur Kritik am pejorativ verzeichneten Demokratiebild des Aristoteles Christoph Eucken, Der aristotelische Demokratiebegriff und sein historisches Umfeld, in: Günther Patzig (Hrsg.), Aristoteles’ „Politik“. Göttingen 1990, 278–291, vor allem 289f.

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tätsvollen Amtsträgers funktionieren, im Normalfall der alltäglichen Politik jedoch wies Aristoteles der gesetzlich geregelten, deliberativ organisierten Bürgerpolis die Priorität zu. 112 Auch seine differenzierten Überlegungen zu unterschiedlichen Ausprägungen der Demokratie machen deutlich, dass er hier durchaus nicht mit einem monistischen Modell operierte. 113 Denn obwohl Aristoteles die Fähigkeit zur politischen Teilhabe mit sozioökonomischen Kategorien verband, plädierte er dennoch dafür, dass im Ernstfall die Weisheit der Menge selbst die Weisheit einer gut informierten Elite übersteige und jene schwerer täuschbar sei. 114 Zu prüfen ist deshalb auch, ob es nicht die stetigen athenischen Debatten über die Verantwortlichkeit von Bürgern und Politikern für ihre Demokratie waren, welche Überlegungen des Aristoteles zum Gemeinwohl als primärer Aufgabe einer Verfassung befruchteten, weil sie die Vorstellung einer politischen Ordnung bargen, welche durch all ihre Bürger geprägt wurde. In eine ähnliche Richtung deuten die möglicherweise von einem Schüler des Aristoteles bald nach 330 verfasste Schrift „Staat der Athener“, welche eine durchaus entspannte Charakteristik der demokratischen Institutionen ihrer Zeit bot, und sogar die von einem konservativen Autor wie Theophrast verfassten Charakterbilder. 115 Diese zeichneten wohl in den 320er Jahren das ironische Zerrbild eines Oligarchen, welchen die Überzeugung, zur Alleinherrschaft ausersehen zu sein, zum randständigen Sonderling machte. Man konnte ihn, so die Botschaft Theophrasts,

112 Vgl. Aristot. pol. 2,8, 1269a8–27 zur Stabilität der Gesetze als unabdingbarem Prinzip, bzw. generell zur politischen Stabilität Pol. 5,9 1310a12–19; vgl. Christopher Horn, Law, Governance, and Political Obligation, in: Deslauriers/Destrée (Eds.), Companion (wie Anm.110), 223–246. – Aristot. pol. 3,16 1287a18–20, 7,14 1332b16–29; vgl. auch seine kritischen Bemerkungen zur Monarchie, welche er nur unter Bedingungen vorzöge, welche letztlich nicht realisierbar seien; Aristot. pol. 7,4 1325b39, 2,6 1265a17–18; Fred D. Miller Jr., The Rule of Reason, in: Deslauriers/Destrée (Eds.), Companion (wie Anm.110), 38–66, hier: 62. 113 Pierre Carlier, Démocratie et oligarchie dans la Politique d’Aristote, in: Bultrighini (Ed.), Democrazia e antidemocrazia (wie Anm.9), 263–273; Christian Schwaabe, Demokratie und Oligarchie, in: Barbara Zehnpfennig (Hrsg.), Die Politik des Aristoteles. 2.Aufl. Baden-Baden 2014, 158–176. 114 Miller, Rule of Reason (wie Anm.112), vor allem 53–63. 115 Theophr. char. 26; vgl. James Diggle, Theophrastus: Characters. (Cambridge Classical Texts and Commentaries, 43.) Cambridge 2004, 463–476, sowie generell Robin Lane Fox, Theophrastus’ Characters and the Historian, in: Proceedings of the Cambridge Philological Society 42, 1996, 127–170; Hartmut Leppin, Theophrasts „Charaktere“ und die Bürgermentalität in Athen im Übergang zum Hellenismus, in: Klio 84, 2002, 37–56.

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getrost im Inneren Athens gewähren lassen, eben weil er mit seiner selektiven Sicht auf die politische Wirklichkeit isoliert war. 116

V. Zusammenfassung Die hier skizzierte attische Rhetorik (und Philosophie) zeichnet ein höchst dynamisches Bild der athenischen Demokratie im 4.Jahrhundert. Auch unter Einbeziehung der quellenbedingten Aussagegrenzen bzw. unterschiedlichen Sprecherintentionen ist erkennbar, dass die Phase nach der Wiedererrichtung der Demokratie 403 durch die tiefe Feindschaft der bisherigen Konfliktparteien mit höchst unterschiedlichen Vorstellungen über die Ausgestaltung der künftigen Ordnung gekennzeichnet war. Erst die institutionellen Veränderungen, vor allem der Erlass und die konsequente Durchsetzung des Amnestiegesetzes, sorgten für die Institutionalisierung der Demokratie als personenunabhängige Rechtsordnung, welche dem bisherigen Verständnis der athenischen Demokratie als archê schrittweise neue Akzente hinzufügte und für zunehmende Akzeptanz sorgte. Dieser Akzeptanz mussten auch antidemokratische Denker wie z.B. Platon, Isokrates oder Xenophon ihren Tribut zollen. Einige Bereiche der Wechselwirkungen zwischen athenischem Diskurs und demokratiekritischen Schriften wurden herausgearbeitet, doch sind hierzu weitere Überlegungen erforderlich. Insgesamt wurde erkennbar, dass sich neben durchlaufenden Themen (z.B. der Bedeutung von Elitepolitikern für die Funktionsfähigkeit der Demokratie) durchaus auch Akzentverschiebungen hinsichtlich des in den Reden präsentierten Demokratiebildes ergaben. Dieses deutet darauf hin, dass sich die Bürger Athens im Verlauf des 4.Jahrhunderts deutlich klarer darüber wurden, was sie von ihrer politischen Ordnung erwarteten und was diese für sie bedeutete. Erkennbar wurde auch, dass die attischen Redner durchaus in der Lage, ja vielleicht sogar dazu gezwungen waren, anhand konkreter Problemlagen komplexere Ideen über die Natur der athenischen Demokratie und deren Funktionsweise zu entwickeln. Deshalb bieten sich diese Reden für eine vertiefte Analyse politischer Vorstellungen im Athen des 4.Jahrhunderts an.

116 Ober, Dissent (wie Anm.6), 352–369.

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Innere Kritiker und welche Umwelt? Intellektuelle zwischen Dissidenz und Systemstabilisierung im Athen des 4.Jahrhunderts von Thomas Blank

I. Einleitung „Vielleicht mag es euch abwegig erscheinen, dass ich umhergehe und im Privaten solche Ratschläge gebe und mich einmische, es in der Öffentlichkeit aber nicht wage, vor euch in der Masse aufzutreten, um der Polis Rat zu geben. Der Grund dafür aber ist, was ihr mich schon oft vielerorts sagen hörtet, dass mir etwas Göttliches und eine geistige Stimme begegnet – eben das, was Meletos in der Anklageschrift voller Spott geschrieben hat. Es ist dies aber etwas, das bei mir schon seit der Kindheit angefangen hat: eine Stimme, die mir begegnet, die mich, wenn sie begegnet, stets von dem abwendet, was ich im Begriff bin zu tun, niemals aber mich bestärkt. Das ist es, was sich bei mir der politischen Tätigkeit widersetzt, und mir scheint, es widersetzt sich ganz und gar zum Guten. Denn ihr wisst ja wohl, Männer Athens: Hätte ich mich schon vor langem darangemacht, eine politische Tätigkeit aufzunehmen, dann wäre ich schon vor langem zugrunde gegangen und hätte weder euch noch mir selbst irgendeinen Nutzen gebracht. Und ärgert euch nicht, wenn ich die Wahrheit sage: Den Menschen gibt es nicht, der zu retten wäre, wenn er entweder euch oder irgendeiner anderen Masse an Menschen auf vornehme Weise entgegentritt und verhindert, dass viel Ungerechtes und Widerrechtliches in der Polis geschieht; sondern es ist unausweichlich, dass jemand, der wirklich für das Gerechte kämpft, wenn er auch nur für kurze Zeit sein Leben bewahren will, im Privaten und nicht in der Öffentlichkeit leben muss.“ 1

1 Plat. apol. 31c4–32a3: ἴσως ἂν οὖν δόξειεν ἄτοπον εἶναι, ὅτι δὴ ἐγὼ ἰδíᾳ μὲν ταῦτα συμβουλεύω περιϊὼν καὶ πολυπραγμονῶ, δημοσíᾳ δὲ οὐ τολμῶ ἀναβαíνων εἰς τὸ πλῆθος τὸ ὑμέτερον συμβουλεύειν τῇ πόλει. Τούτου δὲ αἴτιόν ἐστιν ὃ ὑμεῖς ἐμοῦ πολλάκις ἀκηκόατε πολλαχοῦ λέγοντος, ὅτι μοι θεῖόν τι καὶ δαιμόνιον γíγνεται φωνή, ὃ δὴ καὶ ἐν τῇ γραφῇ ἐπικωμῳδῶν Μέλητος ἐγρἀψατο. ἐμοὶ δὲ τοῦτ’ ἔστιν ἐκ παιδὸς ἀρξάμενον, φωνή τις γιγνομένη, ἣ ὅταν γένηται, ἀεὶ ἀποτρέπει με τοῦτο ὃ ἂν μέλλω πράττειν, πρότρεπει δὲ οὔποτε. τοῦτ’ ἔστιν ὅ μοι ἐναντιοῦται τὰ πολιτικὰ πράττειν, καὶ παγκάλως γέ μοι δοκεῖ ἐναντιοῦσθαι· εὖ γὰρ ἴστε, ὦ

https://doi.org/10.1515/9783110608380-004

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In diesem berühmten Passus der „Apologie“ erläutert der platonische Sokrates vor dem athenischen Bürgergericht, was es mit jener ‚neuen Gottheit‘ auf sich habe, die er der Anklage zufolge in Athen habe einführen wollen und die der wesentliche Grund für die Wahl der Verfahrensform als Asebieklage sei. 2 Das ‚göttliche Vorkommnis‘ (θεῖόν τι), von dem er spricht und dessen Existenz er – gewissermaßen im Sinne der Anklage – einräumt, besteht in einer inneren Stimme, seinem Genius (δαιμόνιον), der ihn seit frühester Kindheit in apotropäischer Weise von bestimmten Tätigkeiten abhalte, weil diese schädlich seien. Das δαιμόνιον sei insbesondere dafür verantwortlich, dass sich Sokrates nie als öffentlicher Redner oder Politiker betätigt, sondern seine Ratschläge stets nur im Privaten vermittelt habe. 3 Bemerkenswerterweise aber beansprucht ‚Sokrates‘ zugleich, gerade dieser Rückzug in die Privatheit habe es ihm ermöglicht, als Ratgeber auch öffentlich, auch politisch, wirksam sein zu können, insofern er den Bürgern als den einzelnen Bestandteilen der Polis Nutzen gebracht habe. Platons „Apologie“, und insbesondere der zitierte Passus, kann als einer der Urtexte zur Begründung philosophischen Außenseitertums bzw. genauer: der apragmosynê gelten, also eines Quietismus im Sinne habitueller Abkehr vom politischen Betrieb und der politischen Kultur, insbesondere eines Rückzugs aus der politischen

ἄνδρες Ἀθηναῖοι, εἰ ἐγὼ πάλαι ἐπεχεíρησα πράττειν τὰ πολιτικὰ πράγματα, πάλαι ἂν ἀπολώλη καὶ οὔτ’ ἂν ὑμᾶς ὠφελήκη οὐδὲν οὔτ’ ἂν ἐμαυτόν. Καí μοι μὴ ἄχθεσθε λέγοντι τἀληθῆ· οὐ γὰρ ἔστιν ὅστις ἀνθρώπων σωθήσεται οὔτε ὑμῖν οὔτε ἄλλῳ πλήθει οὐδενὶ γνησíως ἐναντιούμενος καὶ διακωλύων πολλὰ ἄδικα καὶ παράνομα ἐν τῇ πόλει γíγνεσθαι, ἀλλ’ ἀναγκαῖόν ἐστι τὸν τῷ ὄντι μαχούμενον ὑπὲρ τοῦ δικαíου, καὶ εἰ μέλλει ὀλíγον χρόνον σωθήσεσθαι, ἰδιωτεύειν ἀλλὰ μὴ δημοσιεύειν. (Text nach der Edition von: John Burnet [Ed.], Platonis Opera. 5 Vols. Oxford 1904; Übersetzungen griechischer Texte: Verfasser). 2 Zur Klageform und ihrer politischen Instrumentalisierbarkeit siehe Kai Trampedach, „Gefährliche Frauen“. Zu athenischen Asebie-Prozessen im 4.Jahrhundert v.Chr., in: Jens Schröter/Antje Eddelbüttel (Hrsg.), Konstruktionen von Wirklichkeit. Beiträge aus geschichtstheoretischer, philosophischer und theologischer Perspektive. Berlin 2001, 137–155; Meret Strothmann, Asebie und die Athener Jugend im 5.Jh. v.Chr., in: Tyche 18, 2003, 167–187; vgl. auch Mogens H.Hansen, The Trial of Socrates – from the Athenian Point of View. Kopenhagen 1995. 3 Damit kann eine völlige Abstinenz aus den politischen Institutionen allerdings schon deshalb nicht gemeint sein, weil in der „Apologie“ auch Sokrates’ durch den Arginusenprozess berühmte Amtstätigkeit in der Boulê des Jahres 406 angesprochen wird (Plat. apol. 32b; Gorg. 473e–474a; Xen. mem. 1,1,18; hell. 1,7,15); vgl. dazu Harvey Yunis, Taming Democracy. Models of Political Rhetoric in Classical Athens. Ithaca/London 1996, 159; Charles Griswold, Socrates’ Political Philosophy, in: Donald R. Morrison (Ed.), The Cambridge Companion to Socrates. Cambridge 2011, 333–354, hier: 335–338.

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Kommunikation, der mit einem gleichzeitig erhobenen Anspruch auf autonomen Expertenstatus, und damit Nützlichkeit, in politischen Fragen einhergeht. 4 Das Problem der auf den ersten Blick nur schwer zu bestimmenden gesellschaftlichen Position und Funktion von ‚Experten‘ im Wortsinne, die für die Sache, für die sie als Ratgeber auftreten, gerade deshalb kompetent zu sein beanspruchen, weil sie daran keinen persönlichen Anteil haben, ist in Athen seit dem ausgehenden 5.Jahrhundert wiederholt literarisch behandelt worden. Im „Corpus Platonicum“ wird das Thema, abgesehen von der kondensierten Stellungnahme in der „Apologie“, besonders ausführlich im „Siebten Brief“ behandelt, in dem Platon – oder sein Imitator – ausführlich zu den Konsequenzen Stellung nimmt, die er infolge des Sokratesprozesses für seine eigene Tätigkeit als politischer Philosoph gezogen habe. 5 Dabei

4 Zur apragmosyne siehe Laurence B. Carter, The Quiet Athenian. Oxford 1986; vgl. Josiah Ober, Mass and Elite in Democratic Athens. Rhetoric, Ideology, and the Power of the People. Princeton, N. J. 1989, 232–240; Yun Lee Too, The Rhetoric of Identity in Isocrates. Text, Power, Pedagogy. Cambridge 1995, 74–112; Peter Scholz, Der Philosoph und die Politik. Die Ausbildung der philosophischen Lebensform und die Entwicklung des Verhältnisses von Philosophie und Politik im 4. und 3.Jh. v.Chr. Stuttgart 1998, 14–37, 68–71; Eric Brown, False Idles. The Politics of the ,Quiet Life‘, in: Ryan K. Balot (Ed.), A Companion to Greek and Roman Political Thought. Malden u.a. 2009, 485–500. Zur Autonomisierung der Philosophie jetzt Katarina Nebelin, Philosophie und Aristokratie. Die Autonomisierung der Philosophie von den Vorsokratikern bis Platon. Stuttgart 2016 (u.a. 67–71, 142–190 zu archaischen Vordenkern der apragmosynê). 5 Plat. epist. 7, bes. 324–326b; siehe dazu Josiah Ober, Political Dissent in Democratic Athens. Intellectual Critics of Popular Rule. Princeton, N. J. 1998, 162–165, 186; Scholz, Der Philosoph (wie Anm.4), 75–79; Katarina Barthel, Platon als politischer Verlierer. Flucht in die Theorie?, in: Marian Nebelin/Sabine Graul (Hrsg.), Verlierer der Geschichte. Von der Antike bis zur Moderne. Berlin 2008, 103–134; Nebelin, Philosophie und Aristokratie (wie Anm.4), 324–328. Die Echtheit des Briefes ist seit jeher umstritten und wurde jüngst besonders ausführlich und apodiktisch von Myles Burnyeat/Michael Frede, The Pseudo-Platonic Seventh Letter. Ed. by D. Scott. Oxford 2015, abgelehnt; vgl. die Kritik in der Rezension von Kai Trampedach, in: sehepunkte 2016 Nr.2, URL: http://www.sehepunkte.de/2016/02/27326.html, und vor allem Thomas Szlezák, Rezension, in: Gnomon 89, 2017, 311–323. Allerdings überzeugt die Studie von Burnyeat/Frede ausschließlich in den Teilen der Argumentation, die darauf hinauslaufen, dass sich die Echtheit nicht stringent verifizieren lasse, namentlich vor allem aufgrund der grundsätzlichen Fragwürdigkeit der gesamten (vor-)hellenistischen Brieftradition (kurioserweise wird den Briefen des Isokrates und des Demosthenes dann aber doch partielle Echtheit zugesprochen; so Frede, ebd.11; vgl. dazu den Kommentar von Scott, ebd. 93 sowie Trampedach, Rezension). Argumente, die den Brief positiv als Fälschung erweisen sollen, stützen sich einerseits auf die Prämisse, dass im Falle der Echtheit des Briefes auch die darin verhandelten Ereignisse ausnahmslos historisch und authentisch sein müssten (so etwa bei Frede, ebd.43–46, 67–84; vor allem Burnyeat, ebd.135–192, der Abhängigkeiten des Briefes von Gedanken platonischer Dialoge als Indizien gegen die Echtheit begreift) – das darf man aber getrost als documentary fallacy bezeichnen, insofern es keinen Grund gibt, auszuschließen, dass ein solcher Brief authentisch und zugleich literarisch sein könnte –; anderseits basieren eine Reihe von Argumenten auf a priori gefassten Annahmen über die Ausrichtung der

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kommentiert er zugleich am Beispiel des eigenen Lebens das spannungsreiche Verhältnis zwischen philosophischem Erkenntnisstreben auf der einen Seite, dem Anspruch der dadurch erzielten Erkenntnis auf politische Relevanz und Wirkung auf der anderen sowie drittens den diesem Anspruch andererseits widerstreitenden Bedingungen der Kommunikation, die die Politik der athenischen – und jeder anderen demokratischen – Polis bestimmen. In Szene gesetzt ist diese Rolle des Experten in der Gesprächssituation der „Nomoi“, also jenes platonischen Dialogs, der die konkreteste Auseinandersetzung mit staatlichen Institutionen wagt: Hier tritt im Gespräch über die möglichst vollkommene Durchsetzung der Gerechtigkeit in einem neu zu gründenden Staat die Stimme eines ‚Atheners‘ auf, der innerhalb des Dialogs die der platonischen Lehre am nächsten stehende Position vertritt und die wesentliche Identifikationsfigur für athenische Leser darstellt. Dieser ‚Athener‘ erscheint im Dialog aber ausdrücklich als xenos, als Fremder auf einer Pilgerreise (theôria), der innerhalb des literarischen Dramas die am wenigsten an dem Unternehmen der Polisgründung beteiligte Figur, mithin den interessenlosen philosophischen Ratgeber repräsentiert. 6 platonischen Philosophie, namentlich auf der Ablehnung einer ‚ungeschriebenen Lehre‘ (Frede, ebd.20; vgl. den Kommentar von Scott, ebd.90; Burnyeat, ebd.127–133). Gerade dieses a priori ist aber für die Bewertung des Briefes besonders problematisch, da diese Frage durchaus nach wie vor umstritten ist; dazu Szlezák, Rezension [wie eben]; ders., Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Interpretationen zu den frühen Dialogen. Berlin/New York 1985, 386–405). Wer die Möglichkeit einer ungeschriebenen oder etwa in Hypomnemata-Form nur notizenhaft verschriftlichten höheren platonischen Lehre anders bewertet als Frede, wird so auch die Möglichkeit der Echtheit des Briefes – oder jedenfalls die gute Kenntnis platonischer Auffassungen durch seinen Verfasser – eher ins Auge fassen. Zur Frage der Echtheit ist letztlich ein non liquet festzustellen, das je nach allgemeiner Lesart der platonischen Philosophie verschiedene Urteile nahelegen kann. Immerhin aber scheint die Benutzung des Briefes durch Neanthes von Kyzikos noch im 4.Jahrhundert v.Chr. (so Walter Burkert, Neanthes von Kyzikos über Platon, in: Museum Helveticum 57, 2000, 76–80) nicht ausgeschlossen. Vgl. zur politischen grand tour im Siebten Brief unten Abschnitt IV. 6 Eine Interpretation der Szenerie in diesem Sinne hat Susan Sara Monoson, Plato’s Democratic Entanglements. Athenian Politics and the Practice of Philosophy. Princeton, N. J. 2000, 232–237, vorgeschlagen. Vgl. etwa auch das bei Isokrates nahezu omnipräsente Ideal des politischen Ratgebers als einer Rolle, für die es eines Verantwortungsgefühls bedürfe, das die Verpflichtung zum Dienst an der Gemeinschaft (als handele es sich um den eigenen Haushalt) mit der Scheu vor persönlicher Bereicherung (als handele es sich um etwas Fremdes) verbinde; vgl. dazu Marie-Pierre Noël, Isocrate (437/6–338), in: Arnaud Macé (Éd.), Choses privées et chose publique en Grèce ancienne. Genèse et structure d’un système de classification. Grenoble 2012, 381–400; Thomas Blank, Logos und Praxis. Sparta als politisches Exemplum in den Schriften des Isokrates. Berlin 2014, 621f.; ders., Counsellor, Teacher, Friend. The apragmôn as a Political Figure in Isocrates, in: Anne Queyrel Bottineau/Marie-Rose Guelfucci (Éds.), Conseillers et ambassadeurs dans l’Antiquité. (Dialogues d’Histoire Ancienne, supplément 17.) Besançon 2017, 263–290.

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Den prominentesten Gegenpol zu Platons Rechtfertigung der apragmosynê bildet eine Bemerkung im berühmten ‚Epitaphios des Perikles‘ bei Thukydides, die gemeinhin zu Recht als (aus der Warte des Autors konstruierter) Ausdruck einer ‚Ideologie‘ 7 der Demokratie gelesen wird, die die politische Partizipation zum Kriterium der Nützlichkeit des Bürgers erhob. Der thukydideische Perikles skizziert dort einen wesentlichen Vorteil der demokratischen Politik wie folgt: „Denn bei ihnen [sc. den Politikern] ist die Sorge um die häuslichen zugleich Sorge um die politischen Angelegenheiten, und auch bei den anderen [Bürgern], die ihrem Gewerk zugewandt sind, ist das Urteil über politische Angelegenheiten nicht mangelhaft. Denn einzig wir halten den, der daran nicht partizipiert, nicht für ‚ungeschäftig‘ [apragmona], sondern für unbrauchbar, und beurteilen oder bedenken die politischen Geschäfte selbst auf die richtige Weise, insofern wir nicht Worte für schädlich für die Tat halten, sondern, sich nicht zuerst durch das Wort belehren zu lassen, bevor es zur Tat zu schreiten gilt.“ 8

Dieser Anspruch, demzufolge die Kommunikation im Rahmen einer von vielen Bürgern getragenen Entscheidungsfindung in Ekklesia und Bürgergericht sowohl dem einzelnen Bürger als auch der Polis als Kollektiv eine überlegene Urteilskompetenz in politischen Fragen verschaffe, lässt sich in der Tat als zentrales Element einer tagtäglich auf den Bühnen der politischen Kommunikation performierten und dadurch bekräftigten demokratischen ‚Ideologie‘ bzw. als Dogma des demokratischen Diskurses verstehen, wie Josiah Ober in den vergangenen Jahrzehnten herausgearbeitet hat. 9 Wenn sich die philosophische Demokratiekritik im 4.Jahrhun-

7 Vgl. zu dieser Verwendung des Begriffs Ober, Mass and Elite (wie Anm.4), 38–40. Ober wendet sich gegen die Vorstellung einer homogenen und geschlossenen Ideologie als Grundlage demokratischer Kultur, sondern betont im Sinne einer thin coherence – dazu ders., Culture, Thin Coherence and the Persistence of Politics, in: Carol Dougherty/Leslie Kurke (Eds.), The Cultures Within Ancient Greek Culture. Contact, Conflict, Collaboration. Cambridge 2003, 237–255 – das Nebeneinander verschiedener Vorstellungen und ‚Ideale‘ vom athenischen Staatswesen, die hinreichende Schnittmengen aufwiesen, um eher als Nuancierungen derselben demokratischen Prägung denn als oppositionelle Konzepte zu erscheinen. 8 Thuk. 2,40,2: ἔνι τε τοῖς αὐτοῖς οἰκεíων ἅμα καὶ πολιτικῶν ἐπιμέλεια, καὶ ἑτέροις πρὸς ἔργα τετραμμένοις τὰ πολιτικὰ μὴ ἐνδεῶς γνῶναι· μόνοι γὰρ τόν τε μηδὲν τῶνδε μετέχοντα οὐκ ἀπράγμονα, ἀλλ’ ἀχρεῖον νομíζομεν, καὶ οἱ αὐτοὶ ἤτοι κρíνομέν γε ἢ ἐνθυμούμεθα ὀρθῶς τὰ πράγματα, οὐ τοὺς λόγους τοῖς ἔργοις βλάβην ἡγούμενοι, ἀλλὰ μὴ προδιδαχθῆναι μᾶλλον λόγῳ πρότερον ἢ ἐπὶ ἃ δεῖ ἔργῳ ἐλθεῖν. (Text nach: Thucydidis Historiae. Ed. by Henry Stuart Jones/John Enoch Powell. Oxford 1942). Vgl. Brown, False Idles (wie Anm.4), 485f. 9 Grundlegend in Ober, Mass and Elite (wie Anm.4). Eine bedeutende Erweiterung bildet Josiah Ober,

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dert v.Chr. folglich als politisch nützliche apragmosynê positioniert, so bezieht sie damit gezielt Stellung gegen eine zwar nicht in theoretischem Schrifttum erfasste, aber doch politisch virulente Gleichsetzung des politischen Denkers mit dem politischen Praktiker. 10 Gerade wegen dieser Positionierung gegen den demokratischen Mainstream scheint es indes wenig hilfreich, die philosophische apragmosynê als schlicht ‚antidemokratisch‘ oder gar ‚oligarchisch‘ zu beschreiben, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Denn im politischen Denken der philosophischen Außenseiter bleibt die polis samt ihrer demokratischen Ordnung doch stets die maßgebliche Bezugsgröße, und zwar auch dann, wenn sich dieses Denken auf die Auseinandersetzung mit erklärtermaßen utopischen Entwürfen oder mit kulturell oder historisch fernliegenden Regimetypen zurückzieht (siehe Abschnitt II): Stets bleibt es dabei, dass das Wohlergehen der Polis im Allgemeinen und des dêmos im Besonderen das entscheidende Kritierium für politisches Handeln darstellen. 11 Dies gilt für die in vielerlei Hinsicht mit der demokratischen Ideologie und Mentalität Athens unvereinbaren Staatsentwürfe Platons ebenso wie für seine Kritik an konkreten demokratischen Institutionen (z.B. dem Epitaphios), Kommunikationsmodi (Rhetorik) und Bildungsprozessen (Sophistik) in Athen. Es gilt indes ebenso für das Denken anderer

Democracy and Knowledge. Innovation and Learning in Classical Athens. Princeton, N. J. 2008, wo die tatsächlichen Auswirkungen demokratischer Partizipation auf die politische Bildung des Durchschnittsbürgers herausgearbeitet sind. Dies ist insofern von besonderem Interesse, als die Frage der politischen Kompetenz der Bürger hier erstmals ganz isoliert von den abwertenden Urteilen der Demokratiekritiker – hierzu Ober, Political Dissent (wie Anm.5) – analysiert wird. 10

Yunis, Taming Democracy (wie Anm 3), 153f.; Peter Scholz, Bios philosophikos. Soziale Bedingungen

und institutionelle Voraussetzungen des Philosophierens in klassischer und hellenistischer Zeit, in: Christof Rapp/Tim Wagner (Hrsg.), Wissen und Bildung in der antiken Philosophie. Stuttgart 2006, 37–58, hier: 45–48. 11

Benjamin Gray, Stasis and Stability. Exile, the Polis, and Political Thought 404–146 B. C. Oxford 2015,

versucht neuerdings, auf Grundlage ähnlicher Überlegungen, die Prominenz einer schon in der Antike artifiziellen Gegenüberstellung konkurrierender Staatskonzepte (‚demokratisch‘ vs. ‚anti-demokratisch‘) in der modernen Forschung durch die Analyse einer kulturellen Prägung des politischen Diskurses zu überwinden, die in einem beständigen Oszillieren politischer Ideale zwischen verschiedenen Gemeinwohlorientierungen bestanden habe. Konflikte brächen in diesem Sinne weniger entlang vermeintlich fest etablierter politischer Konzeptionen aus, und ihre Akteure hätten folglich auch nicht die Überwindung eines klar umrissenen ‚Feindes‘ zum Ziel; vielmehr seien es Momente, in denen die Polis von außen genötigt werde, unausgesprochene und unscharfe Grenzlinien zwischen diesen verschiedenen Orientierungen schärfer zu definieren, an denen Konflikte sich entzündeten.

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Vertreter einer apragmonen Haltung im Athen des 4.Jahrhunderts, wie namentlich Antisthenes, Isokrates 12 oder Xenophon. Im folgenden Beitrag soll der Blick auf die komplexe Kommunikation gerichtet werden, die in Athen nach 399 zwischen dem von der Politik zurückgezogenen politischen Denker einerseits, den Praktikern der Politik andererseits und drittens der Polis insgesamt als politischem Kollektiv stattfindet. Ziel der Analyse kann dabei nicht die erschöpfende Betrachtung dieser Kommunikation insgesamt sein. Vielmehr sollen auf der Grundlage einer allgemeinen Beschreibung der Kommunikationsbedingungen und -zusammenhänge 13 die Grundzüge möglicher gesellschaftlicher Funktionen der Demokratiekritik im 4.Jahrhundert v.Chr. ermittelt werden, wobei unter ‚Funktionen‘ sowohl die Intentionen kritischer Kommunikation zu verstehen sind als auch ihre Effekte (beabsichtigte wie unbeabsichtigte). Den Ausgang nehmen meine Überlegungen mit dem Begriff des ‚Inneren Kritikers‘ (internal critic), den Ron Kroeker in Anlehnung an Michael Walzers Theorie der ‚immanenten Kritik‘ zur Beschreibung der Absichten und Strategien von Xeno-

12 Vgl. dazu Too, Rhetoric of Identity (wie Anm.4), 74–112; Blank, Logos und Praxis (wie Anm.6), 12f., 35– 38; ders., Counsellor (wie Anm.6). Eine andere Auffassung vertritt Andrea Wilson Nightingale, Genres in Dialogue. Plato and the Construct of Philosophy. Cambridge 1995, 26–40, 55–59, die in der Haltung zur apragmosynê eine der großen Differenzen zwischen Platon und Isokrates sieht. 13 Dies wird notwendigerweise an vielen Stellen nur skizzenhaft möglich sein. Vgl. ergänzend insbesondere die einschlägigen Arbeiten von Ober, Mass and Elite (wie Anm 4); ders., How to Criticize Democracy in Late Fifth- and Fourth-Century Athens, in: J. Peter Euben/John R. Wallach/Josiah Ober (Eds.), Athenian Political Thought and the Reconstruction of American Democracy. Ithaca, N. Y. 1994, 149–171; ders., Political Dissent (wie Anm.5); ders., Quasi Rights. Participatory Citizenship and Negative Liberties (2000), in: ders., Athenian Legacies. Essays on the Politics of Going on Together. Princeton, N. J./Oxford 2005, 92–127; ders., Thin Coherence (wie Anm.7); ders., Democracy and Knowledge (wie Anm.9); ders., Can We Learn From Ancient Athenian Democracy? Historical and Modern Perspectives, in: Angelos Chaniotis/Annika Kuhn/Christina Kuhn (Eds.), Applied Classics. Comparisons, Constructs, Controversies. Stuttgart 2009, 207–230. Ferner wichtig: Vincent Azoulay, Isocrate, Xenophon ou le politique transfiguré, in: Revue des études anciennes 198, 2006, 133–153; ders., Champ intellectuel athénien et stratégies de distinction dans la première moitié du IVe siècle. De Socrate à Isocrate, in: Jean-Christophe Couvenhes/Silvia Milanezi (Éds.), Individus, groupes et politique à Athènes de Solon à Mithridate. Tours 2007, 171–199, mit abweichender Paginierung verfügbar unter URL: https://halshs.archives–ouvertes.fr/halshs–00682355/document (Zugriff 28.2.2016); ders., Isocrate et les élites. Cultiver la distinction, in: Laurent Capdetrey/Yves Lafond (Éds.), La cité et ses élites. Pratiques et répresentation de formes de domination et de contrôl social dans les cités grecques. Bordeaux 2010, 19–48; ders./Paulin Ismard, Les lieux du politique dans l’Athènes classique. Entre structures institutionelles, idéologies civiques et pratiques sociales, in: Pauline Schmitt Pantel/François de Polignac (Éds.), Athènes et le politique. Dans le sillage de Claude Mossé. Paris 2007, 271–309.

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phons Demokratiekritik vorgeschlagen hat (Abschnitt II). 14 Zu kurz kommt in dieser und verwandten Klassifizierungen intellektueller Kritik an der Demokratie die Identifizierung der am kritischen Diskurs beteiligten (oder wenigstens adressierten) Akteure der literarischen Kommunikation, weshalb in einem zweiten Schritt die Relevanz dieses Problems für die Einschätzung der Intentionen und Effekte der Demokratiekritik erörtert werden soll (Abschnitt III). Als gesellschaftlich relevanter Prozess, in den die philosophische Konzeption des philosophischen Außenseitertums einzuordnen ist, wird dabei die Herausbildung eines ‚intellektuellen Feldes‘ identifiziert, wie sie vor allem von Vincent Azoulay (in Analogie zu Bourdieus Beschreibung der Ausdifferenzierung des literarischen Feldes im Frankreich des 19.Jahrhunderts) für das 4.Jahrhundert postuliert und jüngst von Katharina Nebelin für die voraristotelische Philosophie untersucht worden ist. 15 Abschließend (Abschnitt IV) werden Interpretationen zweier Textabschnitte aus dem „Siebten Brief“ und der „Antidosis“ angedeutet, die sich vor dem Hintergrund dieser Überlegungen als Exemplifizierung der Folgen lesen lassen, die ein Überschreiten der Grenze des intellektuellen Raumes aus der Warte des ‚apragmonen‘ Philosophen zeitigen kann.

II. Interne und externe Kritik im demokratischen Athen? Alternativen zu einer stereotypen Plakatierung athenischer Politiker und Denker als ‚Demokraten‘ oder ‚Antidemokraten‘ wurden bislang vor allem von Seiten der nordamerikanischen Forschung vorgeschlagen, wobei prominente Vertreter dieser Strömung wie J. Peter Euben und Josiah Ober sich stark an sozialphilosophischen und politikwissenschaftlichen Theorien orientieren. Besondere Beachtung hat dabei Michael Walzers Theorie der ‚immanenten Kritik‘ gefunden, die im Folgenden kurz skizziert werden soll, um die darauf gestützten Interpretationen verständlich zu machen. Walzer zufolge lässt sich Gesellschaftskritik, im Sinne der Formulierung von Mo14

Ron Kroeker, Xenophon as a Critic of the Athenian Democracy, in: History of Political Thought 30,

2009, 197–228, bes. 200–202; vgl. Michael Walzer, Kritik und Gemeinsinn. Frankfurt am Main 1993, ursprünglich: Interpretation and Social Criticism. Cambridge, MA/London 1987. 15

Azoulay, Isocrate et Xenophon (wie Anm.13); ders., Champ intellectuel (wie Anm.13); ders., Isocrate et

les élites (wie Anm.13); Nebelin, Philosophie und Aristokratie (wie Anm.4); Pierre Bourdieu, Le champ littéraire, in: Actes de la recherche en science sociales 89, 1991, 3–46.

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ralvorstellungen, denen der Kritiker eine gegenwärtig nicht erfüllte Normativität zuschreibt, auf drei ‚Pfaden‘ betreiben. 16 Diese Pfade unterscheiden sich in den Quellen, aus denen der Kritiker die Moral schöpft, die er der wahrgenommenen Realität entgegenhält. Kritik könne sich zum einen (‚Pfad der Erkenntnis‘) auf eine (quasi) transzendent gesetzte und dem Kritiker geoffenbarte Moralität berufen; das (mehr oder weniger exklusive) Wissen als Folge dieser Offenbarung begründet in diesem Fall den Anspruch des Kritikers auf Autorität. Insofern die auf diesem Pfade propagierte Moral meist mit weit verbreiteten moralischen Grundvorstellungen koinzidiert (die in einer komplexen Welt indes nie ganz realisierbar sind), kann der Kritiker auf dem ‚Pfad der Erkenntnis‘ seine Aussagen als Vermittlung einer eigentlich längst bekannten universalen ‚Wahrheit‘ präsentieren, die es lediglich wiederzuentdecken gelte. 17 Als zweiten ‚Pfad‘ beschreibt Walzer die erklärte Neuschöpfung eines Normenkatalogs in Anbetracht eines (angeblichen) Fehlens relevanter moralischer Konzepte in der gesellschaftlichen Realität. Dieser ‚Pfad der Erfindung‘ orientiere sich gleichwohl (bewusst oder unbewusst) an bestehenden Moral- und Normengerüsten, trage diese aber von außen an die kritisierte Gesellschaft heran. Anders als beim ‚Pfad der Erkenntnis‘ gehe der erfindende Kritiker jedoch nicht von der universalen Gültigkeit der von ihm vertretenen moralischen Normen aus, sondern passe seine extern inspirierten Konzepte an die Gegebenheiten der kritisierten Gesellschaft an. 18 Diesen beiden Pfaden, die sich als ‚externe Kritik‘ beschreiben lassen, stellt Walzer als dritten und wirksamsten Weg der Kritik den Pfad der ‚Interpretation von Innen‘ (oder: ‚immanente Kritik‘) gegenüber. Dieser Weg basiere auf einer grundsätzlichen Akzeptanz der von einer Gesellschaft vertretenen Moralvorstellungen, mithin in einer Zustimmung zum moralischen Diskurs. Die Gesellschaftskritik erfolgt hier vielmehr in Form einer Konfrontation dieser gesellschaftlichen Werte mit damit unvereinbaren sozialen und politischen Realitäten, mithin in der Sichtbarmachung der Differenz zwischen moralischem Anspruch der Gesellschaft und ihrer praktizierten Realität. 19

16 Walzer, Kritik und Gemeinsinn (wie Anm.14), 11–31. 17 Ebd.11–17; aus altertumswissenschaftlicher Warte ist es nachgerade erstaunlich, dass Walzer dieses Konzept ohne jeden Hinweis auf Platons Anamnêsis-Lehre entwickelt. 18 Ebd.17–24. 19 Ebd.24–31.

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Wichtig ist im Zusammenhang dieser Theorie der Gesellschaftskritik, dass der Kritiker unabhängig vom ‚Pfad‘, den er beschreitet, aus einer randständigen gesellschaftlichen Position heraus operiere: Er gehöre dem Kommunikationssystem der Gesellschaft zwar an (ansonsten könnte er am moralischen Diskurs der Gesellschaft nicht teilhaben), sei aber in aller Regel zugleich im Hinblick auf die kritisierten politischen Praktiken marginalisiert. 20 So wie also die Kritik selbst erzeugt wird durch eine Spannung zwischen (intern oder extern hergeleiteter) Moral und gesellschaftlicher Realität, so befindet sich nach Walzer auch der Kritiker selbst in einer Spannung zwischen gesellschaftlich-politischer Integration und Marginalisierung (oder gar partieller Exklusion). Diese Spannung zwischen Erfahrungswelt und abstrakter Anschauung, zwischen Praxis (Macht) und Idee (Moraldiskurs) bedinge einen grundsätzlich „subversiven Charakter“ der Moral, insofern diese stets der Praxis zu einem gewissen Grad widerspreche. 21 Im Anschluss an Obers umfangreiche Arbeiten zur Krise und Neuetablierung der Äußerung politischen Dissenses in Athen im Übergang vom 5. zum 4.Jahrhundert hat Ron Kroeker versucht, Walzers Konzeption, vor allem die Unterscheidung zwischen ‚extern‘ und ‚immanent‘, als Schlüssel zur Einordnung der Demokratiekritik athenischer Philosophen und Literaten zu verwenden. 22 Zwei Kritierien für die Bewertung philosophischer Kritik als ‚intern‘ oder ‚extern‘ stehen dabei im Mittelpunkt: zum einen die Frage, ob die Paradigmata, an denen die normativen Standpunkte der jeweiligen Kritiker entwickelt werden, aus der athenischen Politik oder Erinnerkungskultur genommen werden oder nicht; zum anderen die Entwicklungsperspektiven, die dabei jeweils für die athenische Demokratie aufgezeigt würden. Als „internal critic“ bezeichnet Kroeker folglich solche Demokratiekritiker, die nicht explizit einen fundamentalen Regimewandel erhoffen, sondern sowohl den institutionellen Rahmen als auch den ideologischen Grundkonsens der athenischen Demokratie teilen. Ihre Vorbilder schöpften solche Kritiker vor allem aus der idea-

20

Ebd.46–79; vgl. Kroeker, Xenophon as a Critic (wie Anm.14), 200. Zur Kritik an dieser Annahme siehe

Titus Stahl, Immanente Kritik. Elemente einer Theorie sozialer Praktiken. Frankfurt am Main/New York 2013, 54–73; José Manuel Romero, Zur Aktualität immanenter Kritik in der Sozialphilosophie, in: ders. (Hrsg.), Immanente Kritik heute. Grundlagen und Aktualität eines sozialphilosophischen Begriffs. Bielefeld 2014, 7–29, hier: 17–25. 21

Walzer, Kritik und Gemeinsinn (wie Anm.14), 24–31.

22

Kroeker, Xenophon as a Critic (wie Anm.14); vgl. Ober, Political Dissent (wie Anm.5), vor allem 48–51

(„Immanent versus Rejectionist Critics“).

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lisierten Vergangenheit einer (angeblichen) athenischen Urdemokratie, wie sie etwa Isokrates für die Zeit bis Kleisthenes annehme. 23 Der ‚externe‘ Kritiker ist demgegenüber bei Kroeker durch grundsätzliche Dissidenz gekennzeichnet: Er zielt zur Durchsetzung seiner Moralvorstellungen entweder auf Ablösung der Demokratie oder ist – wie etwa der ‚Alte Oligarch‘ 24 – im Hinblick auf eine Reformperspektive für die demokratische Ordnung hoffnungslos. Während der innere Kritiker der Demokratie am Beispiel ihrer intern akzeptierten Werte vorhalte, dass sie vom rechten Wege abgekommen sei und sie wieder auf die rechte Bahn zu führen beansprucht, verneint der externe Kritiker, dass der Weg der Demokratie als solcher jemals der richtige sein könnte und konfrontiert die demokratischen Werte daher mit radikalen Gegenpositionen. Ober und Kroeker betrachten Platon als einen in diesem Sinne externen Kritiker, wobei sie sich vor allem auf den utopischen Charakter seiner Staatsentwürfe sowie auf seine Verwendung exotischer, erfundener oder offen antidemokratischer Paradigmata beziehen. 25 Xenophon wiederum erweise sich nach diesen Kriterien keineswegs als der philolakonische Antidemokrat, als der er bis in die jüngste Zeit mit Blick auf seine Biographie häufig beschrieben wurde. 26 Vielmehr ließen sich in dessen Werk beide Strategien der Kritik finden: Insbesondere der Xenophon der „Memorabilia“ trete als optimistischer Kritiker auf, der sich schon dadurch als ‚innerer‘ Kritiker erweise, dass er der Ansicht sei, durch seine privaten Gespräche mit (potentiellen) Praktikern der Politik mittelbar politisch wirksam sein zu können. 27

23 Isokr. or. 7,20–55; 12,119–155; Kroeker, Xenophon as a Critic (wie Anm.14), 201f.; vgl. dazu Blank, Logos und Praxis (wie Anm.6), 394–401, 550–556. 24 Xen. Ath. pol. 12–13; Ober, Quasi Rights (wie Anm.13), 107–113. 25 Ober, Political Dissent (wie Anm.5), bes. 49, vgl. 156–247 (inkl. Überblick 156–162 über ‚politische‘ Platon-Lektüren in Auseinandersetzung mit Karl Popper, The Open Society and Its Enemies. Vol.1: The Spell of Plato. London 1945, und Leo Strauss, Natural Right and History. Chicago 1953, 352–373); vgl. Kroeker, Xenophon as a Critic (wie Anm.14), 201f. Das Richtige trifft Yunis, Taming Democracy (wie Anm.3), 25f., in der Feststellung, dass Platons theoretischer Standpunkt ihn von allen politischen Regimetypen gleichermaßen entferne. 26 Kroeker, Xenophon as a Critic (wie Anm.14), 198f., 217–220. Zur Differenzierung der einzelnen xenophontischen Schriften ebd.202–208. 27 So etwa in Xen. mem. 1,6,15; vgl. 3,3 (im Bild des Hipparchen); 3,5 (Gespräch mit Perikles); 3,7 (politische Wirksamkeit als Pflicht des Philosophen); Kroeker, Xenophon as a Critic (wie Anm.14), 209–212; vgl. auch Vivienne J. Gray, Le Socrate des Xénophon et la démocratie, in: Les Etudes Philosophiques 69, 2004, 141–176; dies., Xenophon’s Socrates and Democracy, in: Polis 28, 2011, 1–32; Griswold, Socrates’ Political Philosophy (wie Anm.3), 336. Vgl. ferner den Beitrag von Sven Günther in diesem Band.

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Dass ein in vielerlei Hinsicht politisch und sozial marginalisierter, über lange Jahre aus der Polisgesellschaft ausgeschlossener Mann wie Xenophon seine Kritik an der Demokratie formuliere, ohne die Demokratie als solche in Frage zu stellen, belegt nach Kroeker die Dominanz und prägende Kraft der demokratischen ‚Ideologie‘ innerhalb der gesamten athenischen Gesellschaft einschließlich ihrer elitären und randständigen Elemente. Die Feststellung, dass Denker wie Isokrates und Xenophon ihre Kritik an der athenischen Demokratie auf eine mehr oder weniger weitgehende Zustimmung zu zentralen demokratischen Werten aufbauen, stellt mithin einerseits einen begrüßenswerten Fortschritt gegenüber einer simplifizierenden Dichotomie von ‚demokratischem‘ und ‚antidemokratischem‘ Denken dar; sie lässt sich einordnen in eine breitere Strömung einer der ‚Neuen Politikgeschichte‘ vergleichbaren nordamerikanischen Forschungsrichtung, die das Anliegen verfolgt, den ‚Erfolg‘ der athenischen Demokratie einerseits auf Grundlage ihrer kulturellen Praxis und damit unabhängig von ihrer Darstellung durch ihre Kritiker zu erklären und andererseits auch die Demokratiekritiker als Vordenker der Demokratie zu interpretieren. 28 Dennoch lassen sich Einwände gegen die schematische Anwendung von Walzers Kategorien auf diese Kritiker vorbringen. So besteht erstens bei der Einschätzung des ‚Optimismus‘ oder ‚Pessimismus‘ kritischer Äußerungen gegenüber der Demokratie ein erheblicher Interpretationsspielraum, der die Zuordnung des einzelnen Autors als ‚intern‘ oder ‚extern‘ orientiert maßgeblich beeinflusst. Ob man etwa wirklich mit Kroeker annehmen soll, dass Isokrates als Autor grundsätzlich an die Belehrbarkeit des dêmos und an die didaktische Wirksamkeit seiner οἰκεῖα παραδíγματα geglaubt habe, darf man in Anbetracht seines expliziten Pessimismus in eben dieser Frage durchaus in Frage stellen. 29 Vielmehr scheint auch die (nicht zwangsläufig mit dem Autor gleichzusetzende) persona ‚Isokrates‘ in ihrer Einschätzung der Kom-

28

Siehe dazu exemplarisch Ober, Quasi Rights (wie Anm.13); ders., Thin Coherence (wie Anm.7); ders.,

Democracy and Knowledge (wie Anm.9), sowie Euben/Wallach/Ober (Eds.), Athenian Political Thought (wie Anm.13), und Josiah Ober/Charles Hedrick (Eds.), Dêmokratia. A Conversation on Democracies Ancient and Modern. Princeton, N. J. 1996. 29

Z.B. Isokr. or. 7,1–6, 8,3–14 und passim; vgl. Ann N. Michelini, Isocrates’ Civic Invective. Acharnians and

On the Peace, in: TAPhA 128, 1998, 115–133; Kathryn A. Morgan, The Tyranny of the Audience in Plato and Isocrates, in: dies. (Ed.), Popular Tyranny. Sovereignty and Its Discontents in Ancient Greece. Austin, TX 2003, 181–213, hier: 203–207; Dirk M. Schenkeveld, Theory and Practice in Fourth Century Eloquence. The Case of the Speaker as a Teacher of the Demos, in: D. C. Mirhady/W. W. Fortenbaugh (Eds.), Influences on Peripatetic Rhetoric. (Philosophia antiqua, 105.) Leiden u.a. 2007, 25–35; Blank, Logos und Praxis (wie Anm. 6), 390–392, 413–416.

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munikationsbedingungen in der athenischen Politik dem platonischen Sokrates nahezustehen, dessen Rückzug ins Private Kroeker als „‚rejectionist‘ stance to the Athenian democracy“ bewertet. 30 Der Umstand, dass sich Xenophons Sokrates mit seinen Ratschlägen direkt an potentielle zukünftige, ja teils sogar an bereits aktive Politiker wende, zeige dagegen, dass dieser so mittelbar auf die Demokratie einwirken zu können glaube. 31 Dagegen lässt sich jedoch leicht einwenden, dass auch bei Xenophon Sokrates seine Gespräche als private Gespräche führt, ganz gleich, welche Stellung seine Gesprächspartner in der Polis innehaben. Dazu kommt, dass auch die platonischen Dialoge, wie eingangs gesehen, den Philosophen/Sokrates als einen zwar politisch inaktiven, aber eben doch politisch nützlichen Denker erscheinen lassen. Die eigentliche Relevanz des Rückzugs ins Privatgespräch besteht mithin nicht in der Auswahl der Gesprächspartner (das ist allenfalls mittelbar von Belang), sondern in der nichtöffentlichen, nicht an ein Kollektiv gerichteten und insbesondere nicht auf kompetitive Entscheidungs-, sondern auf konsensuale Erkenntnisfindung gerichteten Form der Kommunikation 32 – hierin sind sich Platon, Xenophon und Isokrates einig, und in dieser Auffassung dürfte ein wesentlicher Grund dafür zu suchen sein, dass alle drei – unter jeweils verschiedenen persönlichen Umständen – sich dafür entschieden, sich selbst als Literaten zu betätigen, mithin sich der Kommunikation auf den Bühnen der Politik zu entziehen. Zweitens lässt der spezielle Typus der dialogischen Kommunikation es fraglich erscheinen, ob sich aus vielstimmigen Dialogen wie jenen Platons überhaupt eindeutige normative Aussagen im Sinne der Autorenmeinung herausarbeiten lassen, 30 Kroeker, Xenophon as a Critic (wie Anm.14), 208f.; vgl. dagegen die wichtige Deutung des isokratischen Quietismus bei Too, Rhetoric of Identity (wie Anm.4), 74–112 („politics of the ‚small voice‘“). Isokrates steht, gerade in der Bewertung des Staatswesens in Areopagitikos und Peri Eirenes, ganz allgemein sokratischem Gedankengut nahe, ohne identische Standpunkte wie Platon einzunehmen; vgl. etwa Verwandtschaft und Differenz zwischen der Beschreibung des sokratischen δαιμόνιον (das stets nur apotreptisch wirkt) in Plat. apol. 31c4–32a3 (siehe oben S. 73f.) und der isokratischen ψυχὴ πόλεως in Isokr. or. 7,14– 16 (die protreptisch und apotreptisch wirkt, aber deswegen als dysfunktional beschrieben wird, weil es um eben diese ‚Seele der Polis‘ in Athen schlecht bestellt sei). 31 Kroeker, Xenophon as a Critic (wie Anm.14), 209–215; vgl. z.B. das Gespräch mit einem hipparchos in Xen. mem. 3,3. 32 Dazu etwa J. Peter Euben, Democracy and Political Theory. A Reading of Plato’s Gorgias, in: ders./ Wallach/Ober (Eds.), Athenian Political Thought (wie Anm.13), 198–226, hier: 201f.; Yunis, Taming Democracy (wie Anm.3), 153–161; am Beispiel der Kontrastierung des Sokrates mit den Sophisten im Euthydemos: James Henderson Collins, Exhortations to Philosophy. The Protreptics of Plato, Isocrates, and Aristotle. New York 2015, 89–99.

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ja ob eine solche hegemoniale Position des Autors überhaupt vom Verfasser intendiert gewesen ist. 33 Die Problematik der Vielstimmigkeit, die den Leser zur unabhängigen Urteilsfindung anregt, betrifft dabei nicht nur den platonischen Dialog, sondern den sokratischen Dialog als Gattung insgesamt (darunter auch Xenophons Memorabilien). 34 Sie gilt außerdem auch für das Werk des Isokrates, in das sich der Autor zwar als Protagonist eingeschrieben hat, das aber nichtsdestoweniger ebenfalls ausnahmslos literarische personae präsentiert, die in einem vielstimmigen Chor auftreten, wobei nicht einmal der Autor selbst als in jeder Hinsicht überlegener Redner auftritt. 35 Zielführender als eine Suche nach eindeutig identifizierbaren auktorialen Positionen der ‚Kritiker‘ scheint daher die Annahme, dass diese ihre Kritik vor allem dadurch betreiben, dass sie auf Widersprüchlichkeiten und nur scheinbare Gewissheiten im politischen Diskurs aufmerksam machen, sei es in der typisch platonischen Form, den common sense durch rigorose Begriffsdefinitionen ad absurdum zu führen, oder durch die literarische Inszenierung typischer politischer Rhetorik und Handlungen sowie ihrer Kritik durch den Philosophen und seine Schüler bei Isokrates. 36 Die Autoren und ihre Schriften treten so mit ihren Lesern selbst in jenen erkenntnisorientierten (statt konfrontativen) Dialog, den sie auch auf der Bühne ihrer Werke inszenieren.

33

Plat. epist. 7,341a–b; Monoson, Plato’s Democratic Entanglements (wie Anm.6), 133–137.

34

Vgl. Simon Goldhill, The Invention of Prose. (G & R New Surveys in the Classics, 32.) Oxford 2000, 80–

110; Michael Erler, „Nur das Gründliche ist wahrhaft unterhaltend“ (Thomas Mann). Zum Verhältnis lebensweltlicher und philosophischer Wirklichkeit in Platons Dialogen, in: Sabine Föllinger/Gernot Michael Müller (Hrsg.), Der Dialog in der Antike. Formen und Funktion einer literarischen Gattung zwischen Philosophie, Wissensvermittlung und dramatischer Inszenierung. Berlin 2013, 367–382; Peter von Möllendorff, Auctor und Actor. Formen auktorialer Präsenz in antiken Dialogen, in: ebd.383–419; vgl. auch Sitta von Reden, Die Dialogisierung historischer Darstellung. Der Melierdialog in einer Wissenskultur im Umbruch, in: ebd.201–220 (zur dialogischen Form in der thukydideischen Geschichtsschreibung). 35

Zur Literarizität der persona Isokrates: Too, Rhetoric of Identity (wie Anm.4); zur Vielstimmigkeit:

Blank, Logos und Praxis (wie Anm.6), 57–67 und vor allem 615–618. Zu ähnlich uneigentlicher Argumentation in den Dissoi Logoi siehe auch Peter Scholz, Philosophieren vor Platon. Zu den sozialen und politischen Entstehungsbedingungen der Dissoi Logoi, in: Alexander Becker/Peter Scholz (Hrsg.), Dissoi Logoi. Zweierlei Ansichten. Ein sophistischer Traktat. (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel, 9.) Berlin 2004, 13– 43, 16–19. 36

Z.B. in Isokr. or. 8,3–14 oder in den – wohl vom platonischen Dialog inspirierten – Gesprächsszenen

Isokr. or. 5,17–23 (hier warnen die Schüler den Lehrer davor, sich mit seinen in der Sache richtigen Ideen an Vertreter der praktischen Politik zu wenden) und 12,199–264 (hier wird ein Überarbeitungsprozess einer typischen Rede inszeniert, in dessen Zuge der Text jeweils aus der Warte der Leser und Hörer und ihrer Vorurteile über den Redegegenstand interpretiert wird).

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Mit dieser Beobachtung verwandt ist drittens die Feststellung, dass in bisherigen Studien zur Zielsetzung literarischer Demokratiekritik die Frage nach den unmittelbaren Adressaten der entsprechenden Werke zu wenig Berücksichtigung gefunden hat. Erst wenn diese Frage in den Blick genommen wird, lässt sich aber eine Einschätzung darüber vornehmen, auf welche Wirkung eine in einem Text enthaltene Aussage abzielt. Fraglos stellt dies eine erhebliche methodische Schwierigkeit dar, da schon die materiellen Grundlagen für die Verbreitung literarischer Texte nicht ganz leicht einzuschätzen sind, geschweige denn die für die Rezeption und Wirkung eines Textes erforderliche Bildung und vor allem entsprechendes Interesse auf Seiten der Adressaten. Dennoch sollte der Umstand nicht vernachlässigt werden, dass ein und dieselbe Aussage bei Publika mit unterschiedlichen Einstellungen ganz verschiedene Reaktionen hervorrufen kann, so dass ohne den Blick auf den ‚idealen Leser‘ bestimmte beabsichtigte Effekte wie Provokation, Ironie oder Zynismus leicht unbemerkt bleiben können. Können wir, um ein Beispiel zu nennen, wirklich davon ausgehen, dass sich Isokrates mit seinem Schrifttum an ein Publikum wendet, das mehrheitlich von der Demokratie überzeugt ist, und dass er aus Rücksicht auf dieses Publikum eine immanente Strategie wähle? 37 Die Frage nach den jeweiligen Adressaten schriftlicher Kommunikation nicht zu stellen, heißt in diesem Falle, sich der Gefahr auszusetzen, dass die falsche Dichotomie von ‚demokratisch‘ und ‚antidemokratisch‘, die Kroeker ja gerade bekämpfen will, auf dem Wege der Annahme, bestimmte Werte würden vom Publikum pauschal geteilt oder abgelehnt, implizit wieder in die Analyse eingeschrieben wird. 38 Wenn Isokrates etwa seine Vorstellungen von der idealen politeia im „Areopagitikos“ und im „Panathenaikos“ als eine Rückkehr zur Urform der Demokratie beschreibt, und wenn er als deren Musterbild schließlich die Lakedaimonier bezeichnet, die im Hinblick auf die Gleichheit (ἰσότης) „ganz besonders demokratisch“ (οἱ μάλιστα δημοκρατούμενοι) verführen, so macht es durchaus einen Unterschied, ob eine solche Aussage an ein Publikum adressiert ist, das Sparta als Feindbild, oder

37 Kroeker, Xenophon as a Critic (wie Anm.14), 202 Anm.24. 38 Die einzige detailliertere Studie zu dieser Frage ist Silvia Usener, Isokrates, Platon und ihr Publikum. Hörer und Leser von Literatur im 4.Jahrhundert v.Chr. (ScriptOralia, 63.) Tübingen 1994; die Untersuchung erfolgt jedoch ohne Bezug auf Fragen der politischen Positionierung und zielt vor allem auf die Differenzierung von hörenden und lesenden Rezipienten, weniger auf Fragen der sozialen Zielgruppen.

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an ein solches, das es als Vorbild betrachtet 39, zumal Isokrates hier – ähnlich wie später im „Panathenaikos“ – seine Ideen lediglich als ‚demokratisch‘ bezeichnet, was vor allem heißt, dass er sich um eine inhaltliche Neubewertung demokratischer Schlagworte in seinem Sinne bemüht und diese neue inhaltliche Aufladung als Wiederherstellung einer Urbedeutung der Begriffe darstellt. 40 Die bloße Verwendung von Termini des demokratischen Diskurses ist mithin wenig geeignet, um den Standpunkt eines Kritikers zu bestimmen. Im Gegenteil: Dem Kritiker an der eigenen Gesellschaft stehen zur Formulierung seiner Kritik in aller Regel überhaupt nur die sprachlichen Mittel des gesellschaftlichen Diskurses zur Verfügung; es ist daher zu erwarten, dass sich die Kritiker der athenischen Demokratie, ungeachtet ihrer etwaigen Orientierung auf Reform oder Revolution hin, der Begriffe der politischen Praxis Athens bedienen. Die Verwendung eines ganz und gar außerpolitischen Begriffsarsenals (das bei rigoroser Auslegung der von Kroeker auf Isokrates angewendeten Kriterien notwendig wäre, um einen streng externen Standpunkt einzunehmen) führte in sprachliche Idiosynkrasie und in die Verunmöglichung von Kommunikation. Der ‚externe‘ Kritiker wäre, so verstanden, ein Kritiker, der überhaupt nicht mit der kritisierten Gesellschaft kommuniziert (siehe dazu unten Abschnitt III). Dass die kritisierten Schwachpunkte einer zu schematischen Anwendung der Kategorien von ‚intern‘ und ‚extern‘ als Positionen des Kritikers gegenüber der Gesellschaft in toto im Falle der philosophischen Demokratiekritik tatsächlich Auswirkungen auf die jeweiligen Interpretationsergebnisse haben können, zeigt nicht zuletzt der Vergleich verschiedener hierfür einschlägiger Studien untereinander. So wurde Platon auf Grundlage ähnlicher Unterscheidungen von demokratiefeindlicher und -freundlicher Kritik in den Untersuchungen von J. Peter Euben und S. Sara Monoson als reformorientierter (und damit in Walzers Kategorien immanent-interner) Kritiker eingeordnet. 41 Die Differenz in der Beurteilung einzelner Kritiker auf 39

Isokr. or. 7,23, 60–61; vgl. auch 8,142–144; Kroeker, Xenophon as a Critic (wie Anm.14), 202 Anm.24,

212; anders Blank, Logos und Praxis (wie Anm.6), 405–412, 430–434. 40

Vgl. dazu Yun Lee Too, Rehistoricizing Classicism. Isocrates and the Politics of Metaphor in Fourth-

Century Athens, in: James Porter (Ed.), Classical Pasts. The Classical Traditions of Greece and Rome. Princeton, N. J. 2006, 106–124; Blank, Logos und Praxis (wie Anm.6), 392–401. 41

J. Peter Euben, Democracy and Political Theory (wie Anm.32); ders., Reading Democracy. ,Socratic‘ Di-

alogues and the Political Education of Democratic Citizens, in: Ober/Hedrick (Eds.), Dêmokratia (wie Anm.28), 328–359; S. Sara Monoson, Frank Speech, Democracy, and Philosophy. Plato’s Debt to a Democratic Strategy of Civic Discourse, in: Euben/Wallach/Ober (Eds.), Athenian Political Thought (wie Anm.13), 172–197; dies., Plato’s Democratic Entanglements (wie Anm.6); vgl. auch Yunis, Taming Democ-

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Grundlage ähnlicher, teils identischer Kriterien, zeigt nicht zuletzt, wie groß hier die Gefahr der Wiedereinschreibung vorgefasster Interpretationsmuster in die Analyse ist – entscheidend ist dann jeweils die Frage, welcher Textstelle man jeweils das größere Gewicht beimisst und welche man etwa als ironisch oder hintersinnig betrachtet. Es ist zwar nicht fruchtlos, auf Grundlage der einer Untersuchung zugrunde gelegten Prämissen einen Standpunkt durchzuexerzieren 42 – eben diese Prämissen geben dem Unterfangen aber einen experimentellen und durch Änderung der Versuchsanordnung potentiell umkehrbaren Charakter. Auf dieser Basis wird man über den gegenwärtigen Stand der Diskursanalyse, in dem ein und dieselben Schriftsteller als Zeugen aller möglichen Positionen herangezogen werden (Demokraten/ Antidemokraten, Reformorientierte/Radikale, aber auch – auf die Funktion der Literatur bezogen – Publizisten/Philosophen etc.) nicht hinauskommen.

III. Kommunikation als Handeln im System Wenn bis hierhin vor allem die Einzelstudie Kroekers stellvertretend für eine bestimmte Forschungsrichtung im Mittelpunkt stand, so ist allerdings festzustellen, dass deren Verdienst zweifelsohne darin liegt, die Frage der gesellschaftlichen Stellung des Kritikers von der einseitigen Betrachtung der Institutionenkritik gelöst und stattdessen die politische Kultur des demokratischen Athen als entscheidende Referenzebene stark gemacht zu haben. Auf diese Weise lässt sich, wie im Folgenden zu zeigen ist, auch innerelitäre ‚demokratiekritische‘ Kommunikation als Bestandteil der demokratischen Kultur beschreiben. Dies erfordert allerdings eine schärfere Bestimmung der am kritischen Diskurs aktiv und passiv beteiligten Akteure. Josiah Ober hat sich mit guten Gründen für ein Verständnis der demokratischen Mehrheitskultur als einer auf thin coherence basierenden Ideologie eingesetzt, das heißt für ein Modell, das die ‚demokratischen Werte‘ nicht als hegemonialen, dominanten Einheitsdiskurs begreift, sondern als ein offenes System zahlreicher Einzelnormen und Wertvorstellungen, das es sehr heterogenen Gruppen und Einzel-

racy (wie Anm.3), 117–236; Arlene W. Saxonhouse, Democracy, Equality, and Eidê. A Radical View from Book 8 of Plato’s Republic, in: American Political Science Review 92, 1998, 273–284. 42 Eben das unternimmt nicht zuletzt auch Blank, Logos und Praxis (wie Anm.6).

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personen erlaube, sich dem System zugehörig zu fühlen. 43 Innerhalb einer solchen thin coherence teilen niemals alle Teilnehmer an der Kommunikation alle betreffenden Werte, jedoch stets alle einen hinreichenden Teil derselben, um sich als zugehörig empfinden zu können. 44 Dieses Modell geht also von kommunikativen Subsystemen mit gruppenspezifischen Kommunikationsmodi und Wertemodellen geradezu als konstitutiv aus. Wenn dem aber so ist, so gilt es also bei der Analyse kritischer Kommunikation zu berücksichtigen, auf welches kommunikative System sich die jeweilige Kritik bezieht, um einordnen zu können, mit welchen Intentionen und mit welchen Effekten gegenüber welchen Publika 45 sie erfolgt. Obers Modell der politischen Kultur Athens geht von einem System von Werten aus, das sich auf den verschiedensten Bühnen öffentlicher Kommunikation – darunter neben anderen die Institutionen politischer Entscheidungsfindung – performativ realisiere. Auf keiner dieser Bühnen werden indes ‚demokratische‘ Werte als kohärentes geschlossenes Gesamtsystem aktualisiert; vielmehr bleibt die an keiner Stelle positiv definierte Gesamtheit der potentiell als ‚demokratisch‘ aufzufassenden Werte stets diffus. 46 Was konstitutiv sei für die dêmokratia, ergibt sich unter sol43

Ober, Thin Coherence (wie Anm.7).

44

Ober, Quasi Rights (wie Anm.13), 101f.: „A highly robust ideology will be eagerly embraced and more

or less accurately performed by a lot of people, frequently, and in various contexts, but never by all of the people, all the time, everywhere: the performance of culture is not limited to ‚authorized personnel‘. Performances by different-minded or inappropriate persons, or under peculiar circumstances, may result in challenges to the dominant ideology, and as a consequence, culture changes. The dissonance between official performances and ‚alternative‘ performances will necessarily affect attitudes and force questioning of established norms, and so may lead […] to substantive revisions of the ideological context itself and of those social identities that depend upon it.“ Vgl. Ober, Thin Coherence (wie Anm.7) zum Konzept als solchem (mit Bezug auf die griechische Kultur insgesamt). 45

Im Folgenden wird zwischen primärem Publikum als dem unmittelbar adressierten Personenkreis

und sekundärem als solchen Rezipienten unterschieden, die vom Autor eines Textes nicht als eigentliches Publikum intendiert sind und die unter Umständen die in einem Text enthaltenen Aussagen aus zweiter Hand rezipieren. 46

Ober, Quasi Rights (wie Anm.13). Einen ganz ähnlichen, sozialwissenschaftlich geprägten Ansatz ver-

folgt in der französischen Forschung Vincent Azoulay (zur Intellektualität). Aus begriffsgeschichtlicher Perspektive hat Arnaud Macé (zur Konstituierung des Öffentlichen) zuletzt die Unterscheidung einer konzeptualen Öffentlichkeit (etwa auch: institutionell-politischen) von einer Öffentlichkeit der Erfahrungswelt vorgeschlagen, die sich ausschließlich performativ realisiere; vgl. Azoulay, Isocrate (wie Anm.13); ders./Ismard, Les lieux du politique (wie Anm.13), sowie die Sammelwerke Arnaud Macé (Ed.), Choses privées et chose publique en Grèce ancienne. Genèse et structure d’un système de classification. Grenoble 2012 (publicité epistémique vs. publicité sensible); ders. (Ed.), Le Savoir publique. La vocation politique du savoir en Grèce ancienne. Besançon 2013 (Wissenskulturen im öffentlichen Raum). Ähnlich auch die Grund-

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chen Bedingungen in der täglichen Praxis politischer Kommunikation. Um im Rahmen der athenischen Politik eine Rolle spielen zu können, mussten Angehörige der athenischen Aristokratie sich folglich stets an eben diesen nach Institutionentypus und Anlass jeweils leicht verschiedenen konsensualen Werten ausrichten, wodurch sie durch die eigenen Performanzen der Affirmation einzelner Werte das Gesamte des demokratischen Diskurses stabilisierten. Das Konzept der Performanz ist dabei der Sprechakttheorie nach Austin (in der Anwendung durch Judith Butlers Analyse von Beleidigungen [hate speech], die als politische Handlungen fungieren) entlehnt, der zufolge eine Signifikation (Appellation) ihrem Signifikat (Person/Sache) einen bestimmten (hier: sozialen) Ort zuweist. 47 Dies lässt sich auch auf gesellschaftskritische Kommunikationen übertragen: Kritik weist dem durch sie beschriebenen gesellschaftlichen Phänomen oder der sozialen Gruppe einen bestimmten Ort beziehungsweise eine bestimmte Qualität, zu, die deren vorgeprägte Identität bestätigen, irritieren oder negieren kann, in jedem Fall aber beeinflusst. 48 Gesellschaftlich wirksam ist Kritik nach diesem Verständnis, insofern sie sich in die Vielzahl von teilweise widersprüchlichen Signifikanten einschreibt, die das Subjekt herausfordern, sich mit den Konstituenten seiner Identität auseinanderzusetzen, also letztlich die Identitätsfrage zu stellen. Angesichts des Fehlens expliziter positiver Definitionen dessen, was die dêmokratia ausmache, wäre es demnach – unabhängig von ihrer Intention – die Kritik an der dêmokratia, die dieser erst aufzeige, was sie eigentlich ausmache und wo, systemtheoretisch gesprochen, ihr Innen und Außen, wo die Grenze zwischen System und Umwelt liege. In diesem Sinne versteht Ober deshalb den gesamten kritischen Diskurs des klassischen Athen auf eine Weise, die mit Walzer eigentlich als immanente Kritik aufzufassen wäre: „[…] political criticism is essential for a healthy democracy and traces the emergence, in the late fifth and fourth centuries, of a self-conscious ‚critical community‘ of Athenian intellectuals […]. These critical intellectuals engaged

lagen bei Gray, Stasis and Stability (wie Anm.11), der die stasis als jenen Moment begreift, in dem die diffuse Grundlage der Identität durch scharfe und deshalb exkludierende Definitionen ersetzt wird. 47 John Langschaw Austin, How to Do Things With Words. 2nd Ed. Cambridge, MA 1975; Judith Butler, Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Frankfurt am Main 2006, 1–67 (engl.: Excitable Speech. A Politics of the Performative. New York 1997); Ober, Political Dissent (wie Anm.5), 27–41; ders., Democracy and Knowledge (wie Anm.9), 9. 48 Butler, Haß spricht (wie Anm.47), 15f., 45–51.

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in what amounted to a collaborative project to expose inherent contradictions in the speeches of Athens’ pro-democracy orators and in governmental reforms.“ 49

Walzers Theorie der immanenten Kritik ist in den letzten Jahren dafür kritisiert worden, dass sie die Möglichkeit einer Kritik negiere, die ganz von außen, von Fremden, an die Gesellschaft herangetragen würde. 50 Diese Kritik wäre im Falle der Demokratiekritik dann gerechtfertigt, wenn ‚Demokratie‘ als institutionelle Form zu verstehen wäre, die durch Mitgliedschaft oder Ausgrenzung von Individuen klar umrissen und definiert wäre: In der Tat sollte Kritik an der Demokratie durch Nichtbürger ja wenigstens theoretisch möglich sein; und auch wenn die überwältigende Mehrheit der als demokratiekritisch bekannten Intellektuellen des 5. und 4.Jahrhunderts das athenische Bürgerrecht besaß, so stehen daneben doch auch Nichtbürger wie Aristoteles und schon früh Herodot, die bei einem Kriterium der persönlichen Mitgliedschaft nicht als ‚interne Kritiker‘ zu bezeichnen wären. Allerdings ist demokratische Kultur im oben skizzierten Sinne ja gerade nicht als derart formal bestimmte Institution zu verstehen, sondern als Gesellschaftssystem, an dem auch Nichtbürger performativ, nämlich kommunizierend, beteiligt waren, so dass etwa auch Metöken als Träger der demokratischen Kultur aufzufassen sind; zudem wird der Rahmen dessen, was als demokratisch zu gelten hat, nicht zuletzt auch von den Rändern bestimmt, von jenen Mitgliedern der Gesellschaft, die die demokratischen Werte hinterfragen oder gar negieren. 51 Teilnahme an der Kommunikation ist das entscheidende Kriterium für die Zugehörigkeit zur Gesellschaft. Für die Systemtheorie liegt eben hierin der entscheidende Grund für die Annahme der operativen Geschlossenheit des Systems ‚Gesellschaft‘: Wenn Kommunikation das System definiert, dann konstituiert erfolgende Kommunikation auch nicht nur die Zugehörigkeit zum System, sondern ist bereits wirksames Handeln im System, und zwar selbst dann, wenn die Kommunikation ihre eigentlichen Ziele als willentliche Handlung (sei es etwa die Reform oder Revolution der Gesellschaft) nicht erfüllt; zudem erfolgt die Kommunikation auch dann systemimmanent, wenn ihre Absicht (oder gar Funktion) in der differenzierenden

49

Ober, Can We Learn (wie Anm.13), 218f.

50

Stahl, Immanente Kritik (wie Anm.20), 54–73.

51

Ober, Quasi Rights (wie Anm.13); Butler, Haß spricht (wie Anm.47), 245f. gegen Bourdieus Habitusbe-

griff.

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(Selbst)Ausgrenzung bestimmter Gruppen liegt. 52 In diesem Sinne erfolgt Gesellschaftskritik, sofern sie ‚erfolgt‘, tatsächlich stets ‚von innen‘. Nur ist dies eine Beschreibung der ‚Kritik‘, die nichts mehr über die Intentionen aussagt, mit denen Kritik erfolgt. Wenn die Teilnahme an der Kommunikation die Integration ins System bedingt, so ist auch der radikal-ablehnende Kritiker ‚intern‘, eben insofern seine Kritik als wirksame Handlung aufzufassen ist. Aus dieser Warte scheint die Unterscheidung von ‚intern‘ und ‚extern‘ nach Walzer wenig geeignet, um die gesellschaftliche Position des Demokratiekritikers zu bestimmen, da sie auf der Ebene der (nur schwer und hypothetisch zu rekonstruierenden) Absicht der Autoren verharrt, ohne die Wirksamkeit der Kritik als Handlung in den Blick zu nehmen; zieht man diese Ebene der Wirkung in Betracht, so verlieren die Kategorien ihren Wert als Unterscheidungskriterium. Die Beschreibung der kritischen Kommunikation als Handlung und damit als wirksam eröffnet den Weg zu einer näheren Betrachtung der bereits oben aufgeworfenen Frage nach den Publika der Kritik, die letztlich eine andere Formulierung der Frage ist, auf welcher gesellschaftlichen Bühne die Demokratiekritik erfolgt, mithin gegenüber wem sie wirksam werden soll, kann und gegenüber wem sie es wird (was verschiedene Publika sein können). Butler betont, dass für den Charakter einer Äußerung als Handlung vorauszusetzen ist, dass überhaupt Kommunikation stattfindet, dass mithin ein Austausch zwischen Autor und Publikum erfolgt. 53 Dies wirft im Falle der athenischen Demokratiekritik eine Reihe von nicht leicht zu klärenden Fragen auf: Naheliegenderweise ist zum einen zu unterscheiden zwischen dem vom Autor unmittelbar adressierten Publikum 54, mit dem auf einer primären Ebene Kommunikation stattfinden kann, und davon unabhängigen Rezipienten, mit denen eine nur abgeleitete (sekundäre) Kommunikation möglich ist. Nur das primäre Publikum beeinflusst dabei die Abfassung der Texte, insofern der Autor dieses als ‚ideale Leserschaft‘ konstruiert und dessen angenommene Einstellungen und Rezeptionshaltungen bei der Abfassung der Texte berücksichtigt. Das sekundäre Publikum dagegen rezipiert dieselben Tex-

52 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1997, 60–120, 618–634. 53 Butler, Haß spricht (wie Anm.47), 32–34. 54 Dieses ist nicht automatisch mit den auf der dramatischen Ebene des Textes (z.B. eines publizierten Briefes) angesprochenen Adressaten identisch, sondern mit jenen (davon möglicherweise zu unterscheidenden) Rezipienten, die der Autor durch den Text beeinflussen möchte.

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te ganz unabhängig von der Frage, auf welche Rezeption hin der Verfasser seine Aussagen konstruiert hat. Schon aufgrund dieser Unterscheidung kann die angenommene Intention eines Textes dessen gesellschaftliche Funktion nur zu einem Teil erhellen; umgekehrt sind Zeugnisse für die Rezeption der Kritik dahingehend zu befragen, auf welcher Ebene die jeweilige Rezeption erfolgt. Zum anderen setzt das Stattfinden von Kommunikation sowohl (1) einen gewissen Grad einer gemeinsamen Sprache (Begriffe, Konzepte) voraus als auch (2) konkrete Realien der Kommunikation wie etwa ein geeignetes Medium. Dadurch werden hochumstrittene Fragen wie jene nach der Zugänglichkeit schriftlicher ‚Publikationen‘ im Athen des 5. und 4.Jahrhunderts relevant; dazu gehört insbesondere auch das Problem der Verbreitung funktionaler Lesefähigkeit in unterschiedlichen Gesellschaftsschichten oder die Frage nach den Kanälen, auf denen Literatur vom Autor auf einen etwaigen ‚Markt‘ gelangen konnte. Bedenkt man diese Voraussetzungen für die literarische Kommunikation, so liegt es nahe, nicht die Polis insgesamt als ‚idealen‘ Adressatenkreis demokratiekritischer, zumal philosophischer Literatur zu betrachten, mithin die Mehrheitsgesellschaft allenfalls als sekundären Kommunikationspartner von Kritikern wie Platon oder auch Xenophon aufzufassen. Schon die Zugänglichkeit der Texte für einen weiteren Personenkreis dürfte nämlich eingeschränkt gewesen sein. Für diese Einschätzung muss man nicht einmal auf die hochumstrittene Frage nach der Lese- oder Literaturfähigkeit der breiten Bevölkerung im klassischen Athen verweisen, die – jedenfalls für anspruchsvolle philosophische Texte – als eher gering einzustufen sein wird. 55 Auch die Frage nach der materiellen Zugänglichkeit von Literatur, nach dem Vorhandensein und dem Cha-

55

Siehe hierzu William V. Harris, Ancient Literacy. Cambridge, MA 1989; ders., Notes on Literacy and Il-

literacy in Fifth-Century Athens, in: Index 17, 1989, 39–45; Rosalind Thomas, Oral Tradition and Written Record in Classical Athens. Cambridge 1989; dies., Literacy and Orality in Ancient Greece. Cambridge 1992; dies., Literacy in Ancient Greece. Functional Literacy, Oral Education, and the Development of a Literate Environment, in: David R. Olson/Nancy Torrance (Eds.), The Making of Literate Societies. Oxford 2001, 68– 81; dies., Writing, Reading, Public and Private ,Literacies‘. Functional Literacy and Demotic Literacy in Greece, in: William A. Johnson/Holt N. Parker (Eds.), Ancient Literacies. The Culture of Reading in Greece and Rome. Oxford 2009, 13–45; Scholz, Bios philosophikos (wie Anm.10), 52f.; optimistischer Anna Missiou, Literacy and Democracy in Fifth-Century Athens. Cambridge 2008, und vor allem Carl Werner Müller, Griechische Büchersammlungen und Bibliotheken vom sechsten Jahrhundert v.Chr. bis in hellenistische Zeit, in: Elke Blumenthal/Wolfgang Schmitz (Hrsg.), Bibliotheken im Altertum. (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens, 45.) Wiesbaden 2011, 101–122.

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rakter eines ‚Buchmarktes‘ im klassischen Athen, ist erst in zweiter Linie von Belang. Immerhin gibt es eine ganze Reihe von Belegen dafür, dass schriftlich verbreitete literarische Texte – jedenfalls sofern sie als Übungsmaterial für die rhetorische Ausbildung dienen konnten – zu vergleichsweise niedrigen Preisen in Athen gehandelt wurden. 56 Entscheidend an diesen Belegen ist vielmehr, dass sie, wo immer es um demokratiekritische Texte geht, durchweg darauf hindeuten, dass eine allgemeine Publizität der Absicht philosophischer Autoren entschieden zuwiderlief; mithin gehört ein unkontrollierter Zugang zu den Texten durch jedermann offenbar ganz in den Bereich der sekundären, nicht beabsichtigten Kommunikation. Dies gilt sowohl für den eigentlichen Buchhandel als auch für die ‚Aufführung‘ der betreffenden Texte vor einem öffentlichen Publikum durch Dritte, wie sie mit Isokrates ausgerechnet jener Demokratiekritiker beklagt, den man gemeinhin für am engsten in den demokratischen Diskurs eingebunden, ja den man gar für einen ‚Publizisten‘ im Wortsinne hält: 57 „Welche noch nichtswürdigeren Leute könnte man denn finden als diese (sollte ich bei jemandem den Anschein erwecken, ich redete radikaler und heftiger als meinem Alter angemessen, so sage er es nur), als diese Leute also, die vor ihren Schülern nicht einmal einen Bruchteil des von mir Gesprochenen selbst formulieren könnten, die sich aber meiner Reden als Vorbilder bedienen und die, obwohl sie davon ihr Leben bestreiten, so weit davon entfernt sind, sich dafür dankbar zu zeigen, dass sie nicht willens sind, uns in Ruhe zu lassen, sondern stets etwas Gemeines über mich sagen? (17) Solange sie nun aber meine Reden misshandelten, indem sie sie im Vergleich zu ihren eigenen so schlecht wie möglich vorlasen und sie auf unrichtige Weise unterteilten und zerstückelten und auf jede erdenkliche Weise verzerrten, machte ich mir

56 Die frühesten literarischen Belege dafür, dass es im hier interessierenden Zeitraum bereits einen etablierten Buchhandel gab, stammen aus dem späten 5./frühen 4.Jahrhundert von den Komödiendichtern Eupolis (fr. 327 PCG), Aristomenes (fr. 9 PCG) und Nikophon (fr. 10 PCG); vgl. zu den erschwinglichen Buchpreisen (die Übertreibung in) Plat. apol. 26d. Allgemein zum Buchhandel überblicksartig Horst Blanck, Das Buch in der Antike. München 1992, 113–120; Julia Wilker, Frühe Büchersammlungen der Griechen, in: Wolfram Hoepfner (Hrsg.), Antike Bibliotheken. Mainz 2002, 19–23, und (zu optimistisch) Müller, Griechische Büchersammlungen (wie Anm.55); vgl. zur Zugänglichkeit literarischer Texte als Voraussetzung vergleichbarer Anspielungen bei Aristophanes Carl Anderson/Keith T. Dix, Λαβὲ τὸ βυβλíον. Orality and Literacy in Aristophanes, in: Ruth Scodel (Ed.), Between Orality and Literacy. Communication and Adaptation in Antiquity. Leiden 2014, 77–86. 57 Vgl. die Kritik an dieser Deutung des isokratischen Werks in Blank, Logos und Praxis (wie Anm.6), 35– 39.

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keine Gedanken über das, was davon berichtet wurde, sondern nahm es auf die leichte Schulter. Kurz vor den Großen Panathenäen aber hatte ich dann doch unter ihnen zu leiden: (18) Denn als mir einige aus meinem Umfeld begegneten, erwähnten sie, dass drei oder vier aus der Sophistenmeute, die sowohl behaupten alles zu wissen als auch schnell überall auftauchen, als sie im Lykeion zusammensaßen, von den Dichtern im Allgemeinen und besonders von der Dichtung Hesiods und Homers handelten – wobei sie nichts von sich selbst aus sagten, aus den Werken jener aber rezitierten und das Gefälligste von dem in Erinnerung riefen, was früher von Anderen gesagt worden war –; (19) als aber die Umsitzenden ihre Abhandlung positiv aufgenommen hätten, da habe einer, der dreisteste, sich daran versucht, mich zu verunglimpfen, indem er sagte, ich verachtete alles dergleichen, ich beseitigte die Philosophien der Anderen und jegliche Bildung, und ich behauptete, alle redeten sinnloses Zeug außer denen, die an meiner Betätigung partizipiert hätten; und angesichts dieser Aussagen hätten einige der Anwesenden eine unfreundliche Einstellung gegenüber uns entwickelt.“ 58

Was Isokrates hier beschreibt, ist innerhalb der Rede ein konkreter Vorfall, steht aber auf der literarischen Ebene für eine typische Situation: Die Weiterverbreitung schriftlich publizierter Texte durch Dritte und in Abwesenheit des Autors 59 führt zu

58

Isokr. or. 12,5–34; vor allem 16–24; Zitat: ebd.16–19: ὧν τíνας ἄν τις εὕροι πονηροτέρους, εἰρή-

σεται γὰρ, εἰ καí τισι δόξω νεώτερα καὶ βαρύτερα λέγειν τῆς ἡλικíας, οἵτινες οὔτε φράζειν οὐδὲν μέρος ἔχοντες τοῖς μαθηταῖς τῶν εἰρημένων ὑπ’ ἐμοῦ, τοῖς τε λόγοις παραδεíγμασι χρώμενοι τοῖς ἐμοῖς καὶ ζῶντες ἐντεῦτεν τοσούτου δέουσι χάριν ἔχειν τούτων, ὥστ’ οὐδ’ ἀμελεῖν ἡμῶν ἐθέλουσιν, ἀλλ’ ἀεí τι φλαῦρον περὶ ἐμοῦ λέγουσιν; (17) ἕως μὲν οὖν τοὺς λόγους μου ἐλυμαíνοντο, παραναγιγνώσκοντες ὡς δύνατον κάκιστα τοῖς ἑαυτῶν καὶ διαιροῦντες οὐκ ὀρθῶς καὶ κατακνíζοντες καὶ πάντα τρόπον διαφθεíροντες, οὐδὲν ἐφρόντιζον τῶν ἀπαγγελλομένων, ἀλλὰ ῥᾳθύμως εἶχον. Μικρὸν δὲ πρὸ τῶν Παναθηναíων τῶν μεγάλων ἠχθέσθην δι’ αὐτοὺς. (18) ἀπαντήσαντες γάρ τινές μοι τῶν ἐπιτηδεíων ἔλεγον ὡς ἐν τῷ Λυκεíῳ συγκαθεζόμενοι τρεῖς ἢ τέτ ταρες τῶν ἀγελαíων σοφιστῶν καὶ πάντα φασκόντων εἰδέναι καὶ ταχέως πανταχοῦ γιγνομένων διαλέγοιντο περὶ τε τῶν ἄλλων ποιητῶν καὶ τῆς Ἡσιόδου καὶ τῆς Ὁμήρου ποιήσεως, οὐδὲν μὲν παρ’ αὑτῶν λέγοντες, τὰ δ’ ἐκεíνων ῥαψῳδοῦντες καὶ τῶν πρότερον ἄλλοις τισὶν εἰρημένων τὰ χαριέστατα μνημονεύοντες· (19) ἀποδεξαμένων δὲ τῶν περιεστώτων τὴν διατρíβην αὐτῶν ἕνα τὸν τολμηρότατον ἐπιχειρῆσαí με διαβάλλειν, λέγονθ’ ὡς ἐγὼ πάντων καταφρονῶ τῶν τοιούτων, καὶ τάς τε φιλοσοφíας τὰς τῶν ἄλλων καὶ τὰς παιδεíας ἁπάσας ἀναιρῶ, καí φημι πάντας ληρεῖν πλὴν τοὺς μετεσχηκότας τῆς ἐμῆς διατριβῆς· τούτων δὲ ῥηθέντων ἀηδῶς τινας τῶν παρόντων διετεθῆναι πρὸς ἡμᾶς. (Text nach der Edition: Basileios G. Mandilaras [Ed.], Isocrates. Opera omnia. Vol. 3. München 2003). Siehe dazu Blank, Logos und Praxis (wie Anm.6), 511–515. 59

Berühmt ist die Bemerkung des Aristoteles (fr. 140 Rose = Dion. Hal. Isoc. 18), wonach isokratische

Schriften bei Buchhändlern (βιβλιοπῶλαι) in ganzen Bündeln erhältlich gewesen seien.

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(potentiell bewusster und bösartiger) Lösung einzelner Aussagen aus dem sinngebenden Kontext, zur falschen Prononcierung und ganz allgemein zur Verzerrung der eigentlichen Aussagen des Ausgangstextes. Mehr noch: Isokrates betrachtet die öffentliche Weitergabe einzelner Texte und Aussagen seiner Literatur an ein sekundäres Publikum, das sich mit einem unkritischen Bild von Isokrates aus zweiter Hand begnüge, als den eigentlichen Grund für seinen schlechten Ruf in der Polis, den er mit einer Rufschädigung der ganzen Philosophie als solcher gleichsetzt. 60 Noch prominenter als die einschlägigen Stellen bei Isokrates sind die über das gesamte Werk Platons verstreuten, besonders deutlich im „Phaidros“ formulierten Abschnitte zur Kritik der Schrift als Medium philosophischer Kommunikation. 61 Platon präferiert das mündliche Gespräch gegenüber der Schriftlichkeit nicht nur aufgrund der dialogischen, das Gegenüber zum Denken herausfordernden Form, sondern insbesondere auch aufgrund der geringeren Reichweite und raumzeitlichen Gebundenheit mündlicher Kommunikation, die dem Urheber eine bessere Kontrolle über die Rezeption philosophischer Texte ermöglicht. Die bis heute weithin vorausgesetzte schleiermachersche Dialogtheorie, die die literarische Form des platonischen Dialogs als für die Philosophie geeigneten Kompromiss zwischen

60 Vgl. dazu die Strategie in Isokr. or. 15,53–83, Verleumdungen nach dem (in Isokr. or. 12,16–19) erwähnten Muster dadurch entgegenzuwirken, dass ‚Isokrates‘ nun Exzerpte aus seinen eigenen Schriften selbst – im Sinne gerichtlicher Zeugenaussagen – zitieren lässt und interpretiert. Es soll hier nicht bestritten werden, dass Isokrates der Schriftlichkeit vergleichsweise positiver gegenübersteht als Platon; während man bei Isokrates mithin einen Versuch erkennen mag, die Schrift trotz ihrer Schwächen zu nutzen, so benennt er diese Schwächen durchaus und gibt zu erkennen, dass die bösartige Auslegung und sekundäre Verbreitung von Texten und Einzelaussagen ihm einen schlechten Ruf einbringen werde (vgl. z.B. Isokr. or. 15,1–8). Vgl. allgemein zu Isokrates’ Schriftkritik Szlezák, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie (wie Anm.5), 360 mit Anm.362; Michael Erler, Hilfe und Hintersinn. Isokrates’ Panathenaikos und die Schriftkritik im Phaidros, in: Livio Rossetti/Gerado Ramirez Vidal (Eds.), Understanding the Phaedrus. Sankt Augustin 1992, 122–137; Blank, Logos und Praxis (wie Anm.6), 499–505, 617f. 61 Plat. Phaidr. 274b3–278b6; vgl. auch epist. 7,341b–e, 342a–345a (philosophische Literaturversuche inklusive Plagiarismus als Beleg für Dionysios’ II. fehlende Eignung zum Philosophen; vgl. Thomas Szlezák, Platon lesen. Stuttgart 1993, 152–155); allgemein zur platonischen Schriftkritik ders., Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie (wie Anm.5); ders., Was heißt „Dem Logos zu Hilfe kommen“? Zu Struktur und Zielsetzung der platonischen Dialoge, in: Rossetti/Vidal (Eds.), Understanding the Phaedrus (wie Anm.60), 93–107; ders., Gilt Platons Schriftkritik auch für die eigenen Dialoge? Zu einer neuen Deutung von Phaidros 278b8–e4, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung 53, 1999, 259–267; Wolfgang Kullmann, Hintergründe und Motive der platonischen Schriftkritik, in: ders./Michael Reichel (Hrsg.), Der Übergang von der Mündlichkeit zur Literatur bei den Griechen. Tübingen 1990, 317–334; ders., Platons Schriftkritik, in: Hermes 119, 1991, 1–12; Erler, Hilfe und Hintersinn (wie Anm.60).

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Schriftlichkeit und Mündlichkeit interpretiert, vermag diesen Aspekt nicht hinreichend zu erklären 62, nicht zuletzt da sie – vereinfacht gesprochen – von der Annahme ausgehen muss, Platon halte seine Leser für naiv genug, um nicht zu bemerken, dass es das Medium der Schrift sei, in dem sie Platons Kritik aller schriftlichen Kommunikation als im besten Falle ‚Spielerei‘ (das heißt bei Platon: Propädeutik oder Protreptik zum eigentlichen Philosophieren) rezipierten. 63 Ebensowenig kann Leo Strauss’ Annahme einer hermetischen Verschlüsselung philosophischer Literatur, die nur den philosophisch Eingeweihten Zugang zu den eigentlichen Aussagen verschaffe, das Problem hinreichend lösen. 64 Denn wenn es (wie Strauss glaubte) die radikale Opposition des philosophischen Denkens zum Gesellschaftsdiskurs (und insbesondere zum Machtdiskurs) sein soll, die den Philosophen zwingt, sich zur Rettung seiner physischen Existenz (vor der Rache der Mächtigen) texthermetischer Verfahren zu bedienen, um seine Ansichten zu verheimlichen, so fragt es sich doch, weshalb gerade dieses Problem – ebenso wie die bei Platon recht radikale Kritik an der Demokratie – auf der Oberfläche dieser Texte explizit zutage liegt und eben nicht verschleiert wird. Platons Sokrates wird trotz seiner apragmosynê, ja sogar gerade wegen ihrer speziellen Form verurteilt: Er agiert zwar als Privatmann, trägt diese private Form des Gesprächs aber auf die Bühnen der politischen Öffentlichkeit und setzt sie damit dem Missverstehen durch die demokratische Öffentlichkeit aus; demgegenüber können bei Platon sowohl die Philosophen als auch die Sophisten und ihre Anhänger in Gesprächen im kleinen Kreis unbehelligt auch radikal von jedem demokratischen Gedanken abweichende Thesen verbreiten, eben ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. 65 Gerade weil also die Kritik an der Demokratie bei Platon und Isokrates ganz ausdrücklich mit der Forderung nach Begrenzung der kritischen Kommunikation einhergeht, liegt es nahe, darin eine ernstgemeinte Warnung an die Leserschaft zu se62

Vgl. dazu Thomas Szlezák, Dialogform und Esoterik, in: Museum Helveticum 35, 1978, 13–31; ders., Pla-

ton und die Schriftlichkeit der Philosophie (wie Anm.5), 331–375; ders., Platon lesen (wie Anm.61), 42–48, 148–152. 63

Vgl. zur philosophischen Protreptik Platons jüngst Collins, Exhortations to Philosophy (wie Anm.32),

45–181. 64

Leo Strauss, Persecution and the Art of Writing, in: Social Research 8, 1941, 488–504; ders., Natural

Right (wie Anm.25). 65

Nebelin, Philosophie und Aristokratie (wie Anm.4), 254–304, weist darauf hin, dass man die Sophisten

selbst ebenfalls als politikfern bezeichnen kann, dass diese indes als Lehrer der politisch aktiven Eliten galten, mithin mittelbaren politischen Einfluss auszuüben schienen.

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hen, das betreffende Gedankengut nicht an eine unkontrollierbare Öffentlichkeit weiterzugeben und schon gar nicht in die politische Praxis zu tragen. Im Sinne der Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Kommunikation adressieren diese Bemerkungen das primäre Publikum mit der Warnung vor einer Öffnung der Kommunikation für die sekundäre Ebene. Diese sekundäre Leserschaft wird jedoch implizit ebenfalls adressiert, insofern die verschriftlichte Schriftkritik nach außen hin signalisiert, dass die platonische Philosophie keinen Anspruch auf Verwicklung ins politische Leben erhebt. 66 Diese Unterscheidung richtet den Blick mithin auf eine Hierarchisierung der philosophischen Kommunikation, die für die Frage der Wirksamkeit und damit für die Funktion der Kritik von erheblicher Bedeutung ist. Bekanntlich attestiert Aristoteles (der sich selbst derselben Unterscheidung bedient haben soll) 67 der platonischen Dialogliteratur in toto den Charakter einer exoterischen – an ein (wohlgemerkt nicht unbeschränktes, aber doch vergleichsweise) weiteres Publikum adressierten – Kommunikation, die durch eine esoterische mündliche Lehre ergänzt worden sei, wobei nur Letztere die höchsten Stufen der Philosophie enthalten habe. Die Differenzierung esoterischer und exoterischer Kommunikation beschreibt eben jene in der platonischen Schulpraxis (nach Maßgabe des individuellen philosophischen Fortschritts) geübte Kontrolle über den Zugang potentieller Rezipienten zu verschiedenen Diskursräumen sowie über die innerhalb dieser Räume jeweils zulässigen Themen und Kommunikationsformen.

66 Scholz, Bios philosophikos (wie Anm.10), 43–45, misst dieser sekundären Ebene stärkeres Gewicht bei – die Sichtbarkeit sollte gerade eine Wirkung in die Öffentlichkeit begründen. Auch hier aber gilt: Diese Wirkung besteht gerade in der Erzeugung eines geschützten Raumes, in dem die eigentliche philosophische Kommunikation stattfinden kann. 67 Allerdings liegen von Aristoteles gerade nicht die exoterischen Dialoge, sondern esoterische, nicht für die externe Kommunikation gedachte Texte vor (vgl. Rainer Marten, Esoterik und Exoterik bei Platon und Aristoteles, in: Walther Christoph Zimmerli/Helmut Holzhey [Hrsg.], Esoterik und Exoterik der Philosophie. Basel 1977, 13–31; Carol Poster, Aristotle’s Rhetoric Against Rhetoric. Unitarian Reading and Esoteric Hermeneutics, in: AJPh 118, 1997, 219–249, hier: 220–236), und die Belege für seine Unterscheidung dieser beiden Textqualitäten sind unmissverständlich (Aristot. eth. Eud. 1217b22–23, 1218b32–34; eth. Nic. 1102a25–26, 1140a1–4; metaph. 1076a26–31; phys. 217b29–32; pol. 1278b30–33, 1323a19–23; vgl. Eudem. fr. 36,1–5, 36,17, 36,24–27 Wehrli; Cic. Att. 4,16; fin. 5,5; Plut. Colot. 14; Basil. epist. 135). Diesem Umstand wurde m.E. für die Betrachtung der intellektuellen Kultur des 4.Jahrhunderts zu geringe Beachtung geschenkt. Könnte die strengere Systematik des aristotelischen Denkens im Vergleich zu Platon, ebenso seine (vermeintlich?) versöhnlichere Haltung gegenüber der Demokratie nicht auf eben diese Differenz zurückzuführen sein?

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Platons Dialoge stellen nach dieser Aussage eines seiner Schüler – bei allen Schwierigkeiten ihrer materiellen und ideellen Zugänglichkeit – jenen Teil seiner (auch politischen) Philosophie dar, der weiteren Kreisen zugänglicher gemacht wurde als andere Teile; und eine der zentralen Aussagen dieser Kommunikation an ein (vergleichsweise) breiteres Publikum scheint nun eben in der Kritik an der Dysfunktionalität jeder philosophischen Kommunikation mit anonymen Publika zu liegen. 68 Es ist bislang nur selten beachtet worden, dass ein wesentlicher Effekt dieses Aspekts der Kritik an der Demokratie eben in der Definition verschiedener Diskursräume liegt. Die Kritik an der Demokratie liefert in wesentlichen Teilen auch die Begründung für den Rückzug des Philosophen aus der politischen Kommunikation. Einerseits ist daher die Beobachtung zwar richtig, dass innerhalb des Kommunikationssystems der athenischen Demokratie auch den Kritik übenden Außenseitern eine systemrelevante Funktion zukommt, insofern sie den politischen Praktikern beziehungsweise der Gesamtgesellschaft zeigen, wo zum einen die Grenze zwischen ‚Demokratie‘ und ‚Nicht-Demokratie‘ (= ‚externe‘ Kritik nach Walzer) verläuft und welche Differenz zum anderen zwischen den Ideen, die den demokratischen Diskurs bestimmen, und der alltäglichen Praxis der demokratischen Politik besteht (= ‚interne‘ Kritik) – in ersterem Fall tragen sie so zur Selbstvergewisserung und Identitätsbildung der Demokratie bei, im letzteren zur Selbstoptimierung des demokratischen Systems. Aber andererseits ist es ebenso wichtig festzustellen, dass eine solche Wirkung dieser Kritik allenfalls auf der Ebene sekundärer Kommunikation erfolgen konnte, auf einer Ebene mithin, auf die unmittelbar einzuwirken die betreffenden Autoren aktiv zu vermeiden suchten. Das primäre Publikum der ‚antidemokratischen‘ Kritik ist folglich nicht in der demokratischen Gesellschaft insgesamt zu suchen, sondern in jener Zielgruppe, an die sich die Warnung vor kommunikativer Öffnung unmittelbar richtet: die athenische Oberschicht als Hauptadressat philosophischer Konversionsbestrebungen. 69 In einer Reihe von Aufsätzen hat Vincent Azoulay diese Zielgruppe als ein sich zu Beginn des 4.Jahrhunderts formierendes soziales Feld von ‚Intellektuellen‘ im Sinne Bourdieus beschrieben, dessen neu entstehende Identität durch gruppenspezifische Kommunikationsmodi stabilisiert worden sei; die soziale Distinktion dieser

68

Vgl. dazu Erler, „Nur das Gründliche ist wahrhaft unterhaltend“ (wie Anm.34).

69

Vgl. die allgemeine Einschätzung bei Nebelin, Philosophie und Aristokratie (wie Anm.4), 357–364, die

den Diskursraum philosophischer Äußerungen schon seit der archaischen Zeit als innerelitär beschreibt.

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Intellektualität sei durch Abgrenzung einerseits von der demokratischen Mehrheitsgesellschaft (οἱ πολλοí) erfolgt, andererseits aber auch durch Abgrenzung von traditionellen Merkmalen eines aristokratischen Elitenverständnisses (Besitz und Lebenskultur, aber auch Verdienst und Leistungsfähigkeit). 70 Die kulturellen Wurzeln dieser Strategie der doppelten Distinktion lassen sich mit Ian Morris auf ein in die archaische Zeit zurückreichendes Ringen aristokratischer Kreise darum zurückführen, wie mit der Herausforderung tradierter aristokratischer Repräsentationsformen durch eine – später für die demokratische Kultur zentralen – Ideologie der Mäßigung und Mitte (μετριότης) umzugehen sei: entweder durch Wortführerschaft innerhalb der Gesellschaft der (in diesem Sinne durch ihre Mäßigung) ‚Gleichen‘ oder aber durch radikale soziokulturelle Distinktion und Abkehr vom Feld des Politischen. 71 Wie in den soeben skizzierten Bahnen handelt es sich auch hier um die Sichtbarmachung von Grenzen, in diesem Falle um solche, die den aristokratischen Vertreter der Ideologie der μετριότης vom distinguierten Aristokraten unterschied. Folge der oligarchischen Intermezzi von 411 und 404 v.Chr. war nun bekanntlich eine veritable Diskreditierung der alten athenischen Führungsschicht (dies betraf sowohl die ‚gemäßigten‘ als auch die distinguierten Aristokraten) und insbesondere ihrer Weisheitskultur der σοφíα. 72 Der Umstand, dass die Legitimitätskrise der aris-

70 Azoulay, Isocrate (wie Anm.13); ders., Champ intellectuel athénien (wie Anm.13); Bourdieu, Le champ littéraire (wie Anm.15); vgl. etwas anders Nebelin, Philosophie und Aristokratie (wie Anm.4) (Existenz eines ‚intellektuellen‘ Feldes in archaischer Zeit (vgl. aber die einschränkenden Bemerkungen ebd.139); Ausdifferenzierung und Institutionalisierung eines speziell ‚philosophischen‘ – durch den βíος θεωρητικός gekennzeichneten – Feldes ab dem späten 5.Jahrhundert, 311–355). Azoulay wendet sich damit besonders gegen die Vorstellung (vgl. z.B. die Beiträge in Nicole Loraux/Carles Miralles [Éds.], Figure de l’intellectuel en Grèce ancienne. Paris 1998), die (vermeintlich früh anzusetzende) Etablierung literarischer Genera habe schon im 6. und 5.Jahrhundert eine distinguierte Stellung von ‚Intellektuellen‘ bewirkt; vgl. in ähnlichem Sinne auch Nebelin (wie eben). Zur Strukturierung der Eliten auf Grundlage des Gedankens der Leistungsfähigkeit siehe Elke Stein-Hölkeskamp, Adelskultur und Polisgesellschaft. Studien zum griechischen Adel in archaischer und klassischer Zeit. Stuttgart 1989, vor allem 231–237 (Zusammenfassung); Alain Duplouy, Le prestige des élites. Recherches sur les modes de reconnaissance sociale en Grèce entre le Xe et Ve siècle avant J.-C. Paris 2006, 251–292; ders., La cité et ces élites. Modes de reconnaissance sociale et mentalité agonistique en grèce archaïque et classique, in: Henry Louis Fernoux/Christian Stein (Éds.), Aristocratie antique. Modèles et exemplarité sociale. Dijon 2007, 57–77; Nebelin, Philosophie und Aristokratie (wie Anm.4), 28–36. 71 Ian Morris, The Strong Principle of Equality and the Archaic Origins of Greek Democracy, in: Ober/ Hedrick (Eds.), Dêmokratia (wie Anm.28), 19–48; vgl. Kurt Raaflaub, Equalities and Inequalities in Athenian Democracy, in: ebd.139–174. 72 Azoulay, Champ intellectuel athénien (wie Anm.13), 4–6, betont zu Recht mit Edward Schiappa, The

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tokratischen Bildungskultur zugleich auch die Rolle der demokratisch integrierten ‚Aristoi‘ infragestellte, die ihre Meinungsführerschaft eben mit ihrer überlegenen Bildung legitimierten, löste nach Azoulay ab dem Ende des 5.Jahrhunderts die Entstehung eines im eigentlichen Sinne ‚intellektuellen‘ Feldes wesentlich aus. Die neue intellektuelle Identität positionierte sich nun in Abgrenzung sowohl von den πολλοí und ihren Meinungsführern (Demagogen) als auch von den traditionellen Eliten. Der Intellektuelle definierte sich in diesem Sinne als politisch nicht integriert, aber ebensowenig kulturell distinguiert im traditionellen Sinne. 73 Innerhalb der kulturellen Elite distinguierten sich diese neuen ‚Intellektuellen‘ entlang neuer Kriterien – unter anderem jenem des politisch-materiellen desintéressement. 74 Erst im Zuge dieses Schrittes gesellschaftlicher Ausdifferenzierung sei es zur Distinktion

Beginning of Rhetorical Theory in Greece. New Haven, CT 1999 (vgl. auch Nightingale, Genres in Dialogue [wie Anm.12], 10–59; Scholz, Bios philosophikos [wie Anm.10]; Håkan Tell, Plato’s Counterfeit Sophists. Cambridge, MA 2011; Ryan K. Balot, Democracy and Political Philosophy. Influences, Tensions, Rapprochement, in: Jóhann P. Árnason/Kurt A. Raaflaub/Peter Wagner [Eds.], The Greek Polis and the Invention of Democracy. A Politico-Cultural Transformation and its Interactions. Malden, MA 2013, 181–204, hier: 183– 188; Nebelin, Philosophie und Aristokratie [wie Anm.4], 209–224), dass darunter keine einheitliche Gruppierung eines neuen Typs von Weisen im Sinne des Konzepts der ‚Sophistik‘ zu verstehen ist, sondern dass die Definition des ‚Sophisten‘ in der alle späteren Auffassungen prägenden Form erst auf Platon zurückgehe, in dessen Denken die abwertende Beschreibung der ‚Sophisten‘ eben der Abgrenzung von älteren Weisheitsformen im Zuge der Neubestimmung des Begriffs der ‚Philosophie‘ diene. Anderer Auffassung ist in jüngerer Zeit etwa Martin Hose, Die Erfindung des Experten. Über Sophisten und ihr Auftreten, in: Therese Fuhrer/Almut-Barbara Renger (Hrsg.), Performanz von Wissen. Strategien der Wissensvermittlung in der Vormoderne. Heidelberg 2012, 29–47, der sich indes nicht mit den Argumenten bei Schiappa (Distinktion Philosophie-Rhetorik) oder Tell (Distinktion Philosophie-Sophistik) auseinandersetzt. 73

Azoulay, Champ intellectuel athénien (wie Anm.13), 4–13; vgl. Scholz, Philosophieren vor Platon (wie

Anm.35), 37–40. Einen anderen Ansatz verfolgt Ober, Political Dissent (wie Anm.5), 3–8, 41–51, bei dem die Krise von 404/03 als Moment interpretiert wird, in dem die demokratische Mehrheitsideologie ihr antidemokratisches ‚other‘ und damit ihre erkennbare Außengrenze verloren habe. Die Stabilisierung der so diffus werdenden demokratischen Identität sei durch die Formierung eines demokratiekritischen Diskurses erfolgt, der die Legitimität der politischen Dissidenz wiederherzustellen versucht (und vermocht) habe. Diese Deutung ist der Azoulays in Manchem verwandt; es leuchtet indes nicht wirklich ein, weshalb die Außengrenze des demokratischen Konzepts nach dem Bürgerkrieg von 403 derart verwischt worden sein sollte. Die reale Oligarchie selbst dürfte eben diese Grenze in kaum zu übertreffender Weise verdeutlicht haben, und der Bürgerkrieg konnte trotz der Amnestie als demokratischer Erinnerungsort mit der Vertreibung der Tyrannen von 508/07 konkurrieren. Die von Ober angenommene Entwicklung wäre also allenfalls mit einiger zeitlicher Verzögerung zu erwarten. 74

Zur Kategorie des desintéressement siehe Bourdieu, Le champ littéraire (wie Anm.15), 5f., 12–29; zur ‚pla-

tonischen Grenzziehung‘: Nightingale, Genres in Dialogue (wie Anm.12), 22–26; Nebelin, Philosophie und Aristokratie (wie Anm.4), 209–224, 311–355.

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von politischer (philosophischer) Anschauung und politischer Praxis gekommen 75: Die neue Idee vom politischen Expertentum habe die Einbindung des Trägers politischer Urteilskompetenz in die politische Praxis ausgeschlossen. Die Figur des Sokrates in der sokratischen Literatur zeige in ihrem Janusgesicht zwischen Präsenz im öffentlichen Raum und Abstinenz von öffentlich-politischer Kommunikation eben jenen Übergang zwischen politischer Integration und Expertenstatus der Bildungselite und symbolisiere zugleich das Scheitern des Versuchs der aristokratischen Integration durch Teilnahme an der politischen Praxis. 76 In dieser (meines Erachtens überzeugenden) Sichtweise ist als primäre Adressatenebene der Demokratiekritik des frühen 4.Jahrhunderts die intellektuelle Elite selbst zu sehen, innerhalb derer um die Abgrenzung der eigenen Position von radikalen Außenseitern ebenso wie um jene von Vertretern einer Integration in die politische Praxis gerungen wird. 77 Hinzufügen könnte man mit guten Gründen einen erweiterten Personenkreis von dieser neuen Elite nahestehenden, wohl vor allem der Oberschicht entstammenden, Bürgern, die für eine Rekrutierung für die Philosophie in Frage kommen mochten. An eben diese richteten sich möglicherweise exoterische Publikationen wie die (sogenannten) platonischen Frühdialoge, die isokratische Literatur oder der „Protreptikos“ des Aristoteles. 78 Wiederum geht es um die

75 Dass die σοφοí früherer Tage politisch aktiv gewesen seien, ist in der Tat ein Topos der philosophischen Literatur des 4.Jahrhunderts; siehe dazu Tell, Plato’s Counterfeit Sophists (wie Anm.72), 93–112; Thomas Blank, Philosophy as leitourgia. Sophists, Fees, and Civic Role of paideia, in: Filipo Carlà/Maja Gori (Eds.), Gift-giving and the ‚Embedded‘ Economy in the Ancient World. Heidelberg 2014, 377–402; Nebelin, Philosophie und Aristokratie (wie Anm.4), 58f.; 190–195. 76 Azoulay, Champ intellectuel athénien (wie Anm.13), 9: „[Il] présente également un visage bifrons, oscillant entre engagement civique et repli philosophique: les Socratiques aiment à le dépeindre en bouleute incorruptible ou en hoplite courageux, passant la plus grande partie de son temps dans des endroits politiques, toujours prêt à engager la conversation avec le premier venu; mais le même Socrate refuse de s’engager directement dans la vie politique, et il est souvent présenté par ses adversaires comme un chef de secte coupé du monde, selon un modèle nettement pythagoricien.“ 77 Ebd.17–19. 78 Vgl. Nebelin, Philosophie und Aristokratie (wie Anm.4), 325f. In diesem Sinne weist Collins, Exhortations to Philosophy (wie Anm.32), jüngst zahlreichen platonischen Dialogen und den isokratischen Schriften in toto eine primär protreptische Konversionsabsicht zu. Vgl. Nebelin, Philosophie und Aristokratie (wie Anm.4), 15f., die zu Recht betont, dass die neue Distinktionskategorie des philosophischen Denkens nominell auch den materiell Nicht-Privilegierten Zugang zur intellektuellen Elite ermöglichte. Dass dieser externe Zugang sich tatsächlich allzu häufig realisierte, darf aber aufgrund der Voraussetzungen materiellen Wohlstands für philosophische Studien bezweifelt werden; siehe Monoson, Plato’s Democratic Entanglements (wie Anm.6), 138f.

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Sichtbarmachung von Grenzen, um die Definition und Stabilisierung eines Kommunikationssystems. Dieses System, das – in primärer Instanz – durch Abgrenzung sowohl von der Kommunikation der demokratischen Politik als auch von traditionellen Distinktionsmerkmalen der Aristokratie definiert ist, lässt sich als geschützter Diskursraum begreifen, in dem ein politischer Diskurs frei von den Einschränkungen der politischen Kommunikation möglich ist. Wenn die apragmosynê dem Philosophen daher die notwendige Unabhängigkeit und Distanz verschafft, um aus kritischer Warte über politische Fragen urteilen zu können, so erfordert eben dies, dass der primäre Diskurs dieser Kritik innerhalb des intellektuellen Systems selbst stattfindet. Nur dadurch ist überhaupt von einem spezifisch intellektuellen Diskurs zu sprechen, der sich vom politischen unterscheiden lässt. Eine solche Beschreibung der Intentionen antidemokratischer Kritik bietet nicht nur den Vorteil, Intention, Wirkung und gesellschaftliche Funktion nicht ungeprüft miteinander gleichzusetzen, sie könnte zudem auch die Besonderheit der in den betreffenden Schriften (vor allem Platons und des Isokrates) enthaltenen Kritik an unkontrollierter Öffnung der Kommunikation erklären und ihr – fernab ihrer gut erforschten epistemologischen Begründungen – eine gesellschaftliche Funktion zuweisen.

IV. Grenzüberschreitungen und ihre Folgen Auf Grundlage der in diesem Aufsatz vorgestellten Hypothese scheint es reizvoll, zwei Texte einer neuen Betrachtung zu unterziehen, die sich mit dem vehementen Anspruch auf apragmosynê bei Platon und Isokrates scheinbar nur schlecht vereinbaren lassen, wobei hier einige Andeutungen genügen müssen. Als ein besonders markantes Plädoyer für den βíος θεωρητικός gilt der bereits eingangs erwähnte „Siebte Brief“ im „Corpus Platonicum“, der entweder von Platon selbst oder aber in seinem unmittelbaren Umfeld verfasst worden sein dürfte 79, sodass man ihn als Ausdruck des intellektuellen Denkens spätestens der zweiten Hälf79

Ober, Political Dissent (wie Anm.5), 164f.; Monoson, Plato’s Democratic Entanglements (wie Anm.6),

145–150; Nebelin, Philosophie und Aristokratie (wie Anm.4), 325f. Zur Echtheitsfrage, insbesondere der jüngsten Kritik an diesem Standpunkt durch Burnyeat/Frede, The Pseudo-Platonic Seventh Letter, siehe oben Anm.5. Auch Frede (ebd.45–50) und Burnyeat (ebd.135–192) bezweifeln indes nicht, dass der Brief hinsichtlich der Skepsis gegenüber jeglicher politischen Aktivität des Philosophen authentisch platonisches Gedankengut widerspiegelt (vgl. auch Plat. rep. 496c5–e2, 592a5–b6).

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te des 4.Jahrhunderts auffassen kann. Der Brief enthält nun bekanntlich einen biographischen Bericht aus der Ich-Perspektive Platons, demzufolge der Philosoph als junger Mann zunächst ein aktives politisches Engagement in der athenischen Polis angestrebt habe 80; nach dem Sokratesprozess und der Abwendung von der athenischen Politik habe sich Platon zweimal überreden lassen, einer Einladung an den Hof des syrakusanischen Tyrannen Dionysios II. zu folgen, um zu versuchen, als Lehrer des jungen Monarchen positiven Einfluss auf die Politik zu nehmen. 81 In beiden Fällen folgt der Ankunft des Philosophen die baldige Ernüchterung über die Erfolgsaussichten dieses Vorhabens: Dionysios verfügt beim ersten Besuch zwar über Schmeichler, nicht aber über kritische Ratgeber und zeigt sich zudem als von Misstrauen geprägt 82; dennoch ist er auf die positive Außenwirkung bedacht, die eine Freundschaft zu Platon mit sich bringen könnte 83. Beim zweiten Besuch hält sich der Tyrann bereits für einen kompetenten Philosophen (obwohl er nur Bruchstücke fremden Denkens aufgeschnappt hat) und erweist sich deshalb als beratungsresistent. 84 So gerät Platon jeweils in die Lage des Vogels im Goldenen Käfig, der, vom Herrscher gezwungen, als dessen freundschaftlicher Ratgeber erscheint, ohne den Tyrannen jedoch tatsächlich beeinflussen zu können: eine Situation, die im Zuge des Berichts als Lage jedes ernsthaften Ratgebers unter einem schlechten politischen Regime bezeichnet wird – eine Lage, in die sich der kluge Ratgeber daher gar nicht erst manövrieren dürfe. 85 Versteht man den hier nur sehr summarisch wiedergegebenen Bericht als dokumentarisches oder biographisch authentisches Zeugnis für Platons Sizilienreisen, so würde dies belegen, dass Platon auch nach Beginn seiner Publikationstätigkeit noch für lange Zeit auf eine unmittelbare und aktive politische Wirkung hoffte. Freilich ist die Gefahr, hier einem ‚dokumentaristischen Trugschluss‘ aufzusitzen, sehr groß. Vorsicht gebietet insbesondere der Umstand, dass die Berichte über die Sizilienreisen in eine übergeordnete Thematik des ‚Scheiterns an der Politik‘ in diesem Brief

80 Plat. epist. 7,324b9–10, 325a5–8; Ober, Political Dissent (wie Anm.5), 162–164. 81 Plat. epist. 7,327b8–329b7, 338b1–340a4. 82 Plat. epist. 7,333b4–c7. 83 Plat. epist. 7,329d1–7. 84 Plat. epist. 7,338c5–e5, 341a8–b7, 344d4–345c4. 85 Plat. epist. 7,329d1–330b8, 330d1–331d6, 345e4–348a3 (mit dem Bild des gefangenen Vogels in 348a1– 2); vgl. Yunis, Taming Democracy (wie Anm 3), 161f.

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einzuordnen sind 86 und in diesem Rahmen den Höhepunkt einer Entwicklung darstellen. Die verbindende Aussage dieses narrativen Strangs ist dabei von der Historizität des Erzählten ganz unabhängig: Der Platon des „Siebten Briefes“ bringt namentlich seine durch persönliche Erfahrungen begründete Enttäuschung mit sämtlichen realen Ausprägungen der im griechischen Denken konzeptualisierten Regimetypen zum Ausdruck: Der Enttäuschung über die Oligarchie folgt die Ernüchterung über die Demokratie 87; beide im griechischen Sinne politischen Regime versuchen, Sokrates gegen dessen Willen auf die politische Bühne zu zerren; und eben diese erzwungene Teilnahme an der politischen Kommunikation führt letztlich zu seinem Tod. 88 In Syrakus wiederum, wo die Kommunikation gegenüber einem einzelnen Politiker, mithin unter den Bedingungen des Dialogs, möglich scheint, scheitert der Philosoph (nun in Person Platons) ebenfalls, und zwar daran, dass es ihm auch hier nicht möglich ist, dem Konflikt mit dem Regime aus dem Weg zu gehen: denn die Form des persönlichen Gesprächs mag an private Kommunikation erinnern; in einem Regime, das den Staat als Privatbesitz des Einzelnen betrachtet, ist indes auch die private Kommunikation des Tyrannen politisch. Eben deshalb ist Dionysios II. auf Dauer nicht in der Lage, die privat geäußerte politische Beratung nicht als Affront gegen seine politische Stellung aufzufassen. Platon gibt im Brief an, eben dies geahnt zu haben 89 – sein Fehler besteht mithin darin, den Versuch wider besseres Wissen dennoch unternommen zu haben. Der Realität politischer Regime wird insofern im „Siebten Brief“ insgesamt eine Absage erteilt, und namentlich erscheint ‚Platon‘ in der Rückschau die Demokratie noch als vergleichsweise beste dieser politischen Realitäten. Im Kontrast zu seiner grand tour durch die politische Erfahrungswelt steht die Beschränkung auf die philosophische Tätigkeit in der Akademie, also der Rückzug in einen institutionalisierten Schutzraum des philosophischen Diskurses. 90 86

Vgl. dazu Barthel, Platon als politischer Verlierer (wie Anm.5); Nebelin, Philosophie und Aristokratie

(wie Anm.4), 325 („politischer Entwicklungsroman“). 87

Plat. epist. 7,324b9–326b4.

88

Plat. epist. 7,324d9–325a3; 325b6–c5.

89

Plat. epist. 7,328b1–4; 340a1–4; Monoson, Plato’s Democratic Entanglements (wie Anm.6), 146f.

90

Barthel, Platon als politischer Verlierer (wie Anm.5), 128–134; Nebelin, Philosophie und Aristokratie

(wie Anm.4), 325–327. Monoson, Plato’s Democratic Entanglements (wie Anm.6), 165–172, kommt auf Grundlage des 8. Buchs der Politeia gar zu dem Schluss, dass Platon die Demokratie als den einzigen real existierenden Regimetypus auffasse, an dem philosophische Reflexion möglich sei – eben weil hier der Freiraum zum Rückzug ins Private bestehe. Vgl. allgemein zur Institutionalisierung des philosophischen

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Isokrates’ „Antidosis“ wiederum ist nicht nur in ihrem autobiographischen Anstrich – und der methodischen Fragwürdigkeit dokumentaristischer Interpretationen – mit dem „Siebten Brief“ vergleichbar. Vielmehr exemplifiziert auch diese Schrift die fatalen Folgen eines Überschreitens der Grenze des intellektuellen Diskursraums hin zur Politik. In einem berühmten Passus dieser ‚Apologie‘ der isokratischen Philosophie 91 wird der ‚ideale‘ Schüler Timotheos als eine Figur geschildert, die in allen Fragen über kaum zu übertreffende politische Urteilskraft verfügt habe, eine Urteilskraft, die nicht nur als Ursache seiner großen politischen Erfolge, sondern offenkundig auch als Merkmal der isokratischen Philosophie erscheinen soll. 92 Nichtsdestoweniger endet Timotheos’ politische Karriere mit Verurteilung, Exil, Tod. Ursache dieses paradoxen Scheiterns ist, dass der idealtypische Philosoph in der öffentlichen Kommunikation gegenüber der Bürgerschaft keine Kompromisse einzugehen bereit ist. 93 Man hat den im Anschluss in Dialogform geschilderten Versuch des Lehrers, seinen Schüler vor den Kommunikationsbedingungen der politischen Praxis zu warnen, und seine Empfehlung, auf der politischen Bühne müsse er sich dem dêmos anpassen, wenn er nicht scheitern wolle, üblicherweise als Beleg dafür gelesen, dass Isokrates’ Lehre eine pragmatisch-rhetorische Haltung vermittle, die einen Kompromiss zwischen philosophischer Wahrheitsorientierung und politischer Opportunität zu vermitteln suche und als Mittlerin eine auch zum Zweck der Täuschung bzw. der Erzeugung rein äußerlichen Wohlwollens einzusetzende Rhetorik etablieren wolle. 94 Offen blieb bei allen solchen Interpretationen die Frage, wieso der Schüler gerade diese Lehre seines Meisters nicht habe umsetzen können,

Diskursraums Scholz, Der Philosoph (wie Anm.4), 9–71, 359–375; ders., Philosophieren vor Platon (wie Anm.35), 19–29; Nebelin, Philosophie und Aristokratie (wie Anm.4), 318–328. 91 Isokr. or. 15,101–139; zu den Parallelen zur platonischen „Apologie“ vgl. Josiah Ober, I, Socrates … The Performative Audacity of Isocrates’ Antidosis, in: Takis Poulakos/David Depew (Eds.), Isocrates and Civic Education. Austin, TX 2004, 21–43. 92 Erfolge: Isokr. or. 15,107–113, 127–128; Urteilskraft: Isokr. or. 15,111, 115–126, 131; vgl. Ober, Political Dissent (wie Anm.5), 269f. 93 Isokr. or. 15, 129–139, vor allem 138. 94 Isokr. or. 15,133–137; vgl. dazu Jacqueline de Romilly, Eunoia in Isocrates, Or, the Political Importance of Creating Goodwill, in: JHS 78, 1958, 92–101, hier: 96f.; Gunther Heilbrunn, An Examination of Isocrates’ Rhetoric. PhD Thesis Austin, TX 1967, 204–206; Ober, Mass and Elite (wie Anm.4), 322f.; ders., Political Dissent (wie Anm.5), 268–277; Yun Lee Too, A Commentary on Isocrates’ Antidosis. Oxford 2008, 159f.; Evangelos Alexiou, Der Euagoras des Isokrates. Ein Kommentar. Berlin/New York 2010, 18f.

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weshalb Isokrates’ Lehre in diesem Punkte also nicht weniger scheitere als Timotheos selbst. Eine mögliche Lösung dieses Problems liegt darin, die Notwendigkeit dieses Scheiterns als die eigentliche Aussage (gegenüber der primären Leserschaft) des Passus anzusehen. Timotheos hat die Philosophie des Isokrates ganz und gar verinnerlicht – eine Philosophie, die nach Auskunft von „Gegen die Sophisten“ und „Antidosis“ eher zu moralischer als zu rhetorischer Überlegenheit führe 95; und die namentlich ebenfalls in einer privaten Schule vermittelt wurde 96. Dies erlaubt es ihm einerseits, die richtigen Entscheidungen zu treffen und politische wie militärische Erfolge zu erzielen. Es erlaubt ihm jedoch gerade aufgrund seiner Moralität nicht, sich als Demagoge bei der Mehrheit der Bürger anzubiedern. In dem Moment, da Timotheos den geschützten Raum des apragmonen Diskurses verlässt, setzt er sich den Bedingungen der öffentlichen Kommunikation und damit ebenso unweigerlich dem Verderben aus wie der platonische Sokrates, der ja erst dann in den tödlichen Konflikt mit dem politischen Feld gerät, als ihn die Klage des Meletos nötigt, sich auf eine Kommunikation gegenüber dem Kollektiv athenischer Richter einzulassen, mithin jenseits der Grenze des Theoretischen ins Feld der Politik überzutreten.

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95

Isokr. or. 13,19–21, 15,193–198, 274–285.

96

Zu dieser Analogie zu Platon zuletzt Nebelin, Philosophie und Aristokratie (wie Anm.4), 326f.

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Demokratisches Entscheiden und antidemokratische Ideologie im klassischen Athen von Marian Nebelin

I. Einleitung Man könnte meinen, die athenische Demokratie wäre niemals in ihrer Geschichte umstritten gewesen, wenn man sich den positiven Grundtenor vergegenwärtigt, der spätestens nach 1945 dieser antiken Staatsform entgegengebracht wurde. Seither wurde auch jenseits des angelsächsischen Raumes der ursprünglich vorrangig ästhetische Philhellenismus durch einen stärker politisch und zugleich demokratisch motivierten abgelöst. 1 Vor diesem Hintergrund konnte beispielsweise 1950

1 Dies ist eine verkürzende Verdichtung komplexerer Entwicklungen, welche die – bis heute ungeschriebene – Geschichte des Philhellenismus aus internationaler Perspektive auszeichnen. Dazu vgl. beispielsweise Anthony Andurand, Le Myth grec allemand. Histoire d’une affinité élective. Rennes 2013; Karl Christ, Hellas. Griechische Geschichte und deutsche Geschichtswissenschaft. München 1996, 13, 435 Anm.30 (mit weiterführender Literatur) und passim; Suzanne L. Marchand, Down from Olympus. Archeology and Philhellenism in Germany, 1750–1970. 2nd Ed. Princeton 2003, bes. 355 und passim; Dino Piovan, Criticism Ancient and Modern. Observations on the Critical Tradition of Athenian Democracy, in: Polis 25, 2008, 305– 329, hier besonders 316f. (zum grundsätzlichen Wandel nach 1945); David Roessel, Philhellenism, in: Anthony Grafton/Glenn W. Most/Salvatore Settis (Eds.), The Classical Tradition. Cambridge 2010, 710–712; pathetisch Wolf Seidl, Bayern in Griechenland. Die Geburt des griechischen Nationalstaats und die Regierung König Ottos. München 1981, 67–69 und passim; Jennifer Tolbert Roberts, Athens on Trial. The Antidemocratic Tradition in Western Thought. 2nd Ed. Princeton 1996, 224–262, bes. 224–226; Michael W. Weithmann, Griechenland. Vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart. Regensburg 1994, 161–163 und passim. Insbesondere die philhellenische Begeisterung während des griechischen ‚Unabhängigkeitskrieges‘ (nur dazu Wilhelm Barth/Max Kehring-Korn, Die Philhellenenzeit. Von der Mitte des 18.Jahrhunderts bis zur Ermordung Kapodistrias’ am 9.Oktober 1831. München 1960) erwies sich zwar als politisch, doch ging es dabei (noch) nicht um eine Fokussierung auf die (athenische) Demokratie; diese setzte vor allem im deutschsprachigen Raum nachhaltig erst nach 1945 ein (anders: Weithmann, Griechenland, 161). Im Englischen wird die vorrangig ästhetische Deutung als hellenism und die eher politische als philhellenism bezeichnet; vgl. Roessel, Philhellenism, 710. Auffällig ist zudem, dass in der Geschichte des deutschen Philhellenismus immer schon – bereits seit Winckelmann – Schönheit als Konsequenz der Freiheit gedacht wurde, allerdings ohne dass dies notwendig auch als demokratisch fundierte Freiheit konzeptualisiert wurde. So konstatiert Andurand, Le Myth grec allemand, 230, mit Blick auf Winckelmanns „Geschichte der Kunst des Alterthums“ (1764), die wahrscheinlich als Gründungsdokument des deutschen Philhellenismus angesehen

https://doi.org/10.1515/9783110608380-005

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Victor Ehrenberg proklamieren, dass „the rule of majority, or indeed of the whole, of the free population, was the final goal of Greek constitutional history“. 2 Es ist die direktdemokratische Praxis Athens mit ihrem Angebot unmittelbarer politischer Partizipation, von welcher bis heute eine Faszination ausgeht – eine Faszination, die jedoch bereits im 19.Jahrhundert den gegenüber der athenischen Demokratie durchaus kritisch eingestellten Schriftsteller und Politiker Benjamin Constant eine vermeintliche normative Nähe seiner Gegenwart zur athenischen Demokratie hatte hervorheben lassen. 3 Constants Feststellung, die „Freiheit“ der Athener habe „in der aktiven, ständigen Teilhabe an der kollektiven Gewalt bestand[en]“, ja in einem ungebrochenen „Anteil“ eines „jede[n] an der Souveränität“, könnte sich auch – nunmehr positiv aufgefasst – als Leitnarrativ mancher moderner Darstellung ausmachen lassen. 4 Angesichts solch moderner Begeisterung für die athenische Demokratie verwundert das weitgehende Fehlen positiver zeitgenössischer Charakterisierungen der Demokratie als Verfassungsform. 5 Die Verwunderung reduziert sich jedoch, wenn man sich zum einen vergegenwärtigt, dass auch die moderne Demokratie immer

werden kann: „[L]e culte de la beauté grecque demeure indissociable de l’éloge de la liberté hellénique. […] Mixte de nature, de culture et de politique, la Freiheit apparaissait alors comme la condition nécessaire de cette ‚idée‘ de la beauté que les Grecs avaient révélée à l’humanité.“ Vgl. Weithmann, Griechenland, 161. 2 Victor Ehrenberg, Origins of Democracy (1950), in: ders., Polis und Imperium. Beiträge zur Alten Geschichte. Zürich 1965, 264–297, hier: 264. 3 Benjamin Constant, Über die Freiheit der Alten im Vergleich zu der der Heutigen. Rede vor dem Athénée Royale in Paris (1819), in: ders., Werke in vier Bänden. Bd. 4: Politische Schriften. Ausgew., eingel., erg., übertr. u. komm. v. Lothar Gall. Berlin 1972, 363–396, hier: 370: „Wir werden dann sehen, weshalb von allen Staaten des Altertums Athen derjenige ist, der am meisten den modernen gleicht.“ 4 Ebd.376. Zu Constants Diskurs über die Freiheit der antiken und der modernen Menschen vgl. beispielsweise Piovan, Criticism (wie Anm.1), 317f.; Roberts, Athens on Trial (wie Anm.1), 222–226; Pierre Vidal-Naquet, La démocratie Greque vue d’ailleurs. Essais d’historiographie ancienne et moderne. Paris 1990, 233–234, sowie den Beitrag von Egon Flaig in diesem Band. 5 Vgl. exemplarisch die Eröffnungsworte in der Epochendarstellung von Josiah Ober, The Rise and Fall of Classical Greece. Princeton 2015, XIII: „I live in exceptional times. […] The conjunction of democratic politics and a strong economy is, in practice, available only to affluent citizens of highly developed countries. But many people who do not yet enjoy those conditions aspire to them. Democracy and growth define the normal, although not yet the usual, conditions of modernity […]. Those conditions were not normal, or even imaginable, for most people through most of human history. But, for several centuries in the first millennium BCE, democracy and growth were normal for citizens in ancient Greece. How that happened, and why it matters, is what this book is about.“

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von einer starken, kritischen Gegenströmung begleitet wird. 6 Macht man sich mit Jürgen Habermas bewusst, dass Dinge überhaupt erst thematisierbar werden, wenn sie aus der Selbstverständlichkeit des „lebensweltlichen Hintergrundwissens“ hinausfallen 7, so lässt sich überlegen, ob das Fehlen eines positiven Normentwurfs der athenischen Demokratie nicht weniger Ausdruck eines Sympathie- oder Reflexionsdefizits, denn vielmehr Folge des praktischen Funktionierens und der mehrheitlich unhinterfragten Akzeptanz der athenischen Demokratie war. Dass ihre Kritiker zudem, sofern sie nicht praktisch auf die Umsetzung etwaiger Alternativentwürfe hinwirkten, ihre Kritik zumeist unbehelligt artikulieren konnten, weist ebenfalls in diese Richtung. 8 Demnach ist wahrscheinlich, dass die demokratische Lebenswelt Athens nicht nur die Bedingungen mitbestimmte, unter denen ihre Kritiker über sie herzogen, sondern auch ihrerseits die Inhalte beeinflusste, mit denen sich die Demokratiekritiker auseinandersetzten. Doch wie jede andere Form der Kritik braucht auch die Demokratiekritik Anlässe und Objekte. Zur Topik gegenwärtiger Demokratieanalyse wie Demokratiekritik gehört die Frage nach Effizienz wie Qualität politischer Entscheidungen und Ent-

6 Zur modernen Demokratiekritik vgl. beispielsweise den Überblick bei Manfred G. Schmidt, Demokratietheorien. Eine Einführung. 5.Aufl. Wiesbaden 2010, 453–458 und passim; zeithistorisch veraltet, aber gleichwohl in Teilen noch von grundsätzlichem Interesse ist die Textsammlung in: Ulrich Matz (Hrsg.), Grundprobleme der Demokratie. (Wege der Forschung, 141.) Darmstadt 1973. Gerade die Formen und Gegenstände demokratieinterner Kritik sind äußerst unterschiedlich; siehe exemplarisch den gegenwärtigen Diskurs um Demokratiefeindlichkeit oder -affinität des neuen Populismus; vgl. dazu beispielsweise JanWerner Müller, Was ist Populismus? Ein Essay. Berlin 2016, sowie die Beiträge in Frank Decker (Hrsg.), Populismus. Gefahr für die Demokratie oder nützliches Korrektiv? Wiesbaden 2006, ferner die Überlegungen zu ‚postdemokratischen‘ Phasen (so Colin Crouch, Postdemokratie. Frankfurt am Main 2008), zur Entpolitisierung (vgl. Danny Michelsen/Franz Walter [Hrsg.], Unpolitische Demokratie. Zur Krise der Repräsentation. Berlin 2013) oder zur Repolitisierung (Chantal Mouffe, Agonistik. Die Welt politisch denken. Berlin 2014) der Demokratie. 7 Dazu siehe Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns (1981). 2 Bde. 5.Aufl. Frankfurt am Main 2004, Bd. 1, 449–452; Bd. 2, 182–228; ders., Handlungen, Sprechakte, sprachlich vermittelte Interaktionen und Lebenswelt (1988), in: ders., Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze. 3.Aufl. Frankfurt am Main 2001, 63–104, hier: 85–95; vgl. Marian Nebelin, Aristokratische Konkurrenz in der römischen Republik. Möglichkeitsraum – Soziale Schließung – Transformation, in: Ralph Jessen (Hrsg.), Konkurrenz in der Geschichte. Praktiken – Werte – Institutionalisierungen. Frankfurt am Main 2014, 141–174, hier: 158f. und passim. 8 Vgl. Josiah Ober, Political Dissent in Democratic Athens. Intellectual Critics of Popular Rule. Princeton 1998, 39f.

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scheidungsfindungen 9, wobei man unter Entscheiden im Anschluss an Barbara Stollberg-Rilinger einen Prozess der Selektion unterschiedlicher Handlungsalternativen sowie die Wahl und Umsetzung einer dieser Möglichkeiten verstehen kann. 10 Dass die Neigung zur Fokussierung auf das Entscheiden selbst eine epochen- und kulturspezifisch verengte Perspektive ist, betont Stollberg-Rilinger ebenfalls: „[D]ecision-making is a cultural technique that is shaped and managed differently over time.“ 11 Zwar wird man Entscheiden und Entscheidungsfindungen als ein Element jeder Politik auffassen müssen, sofern Politik „das Fassen kollektiv verbindlicher Entscheidungen“ 12 meint und sich dadurch als der Kern des Politischen erweist, das seinerseits im jeweiligen „Intensitätsgrad einer Assoziation oder Dissoziation von Menschen“ 13 manifest wird. 14 Doch ist eine solcherart hergeleitete Annahme epo-

9 Vgl. noch allgemeiner Barbara Stollberg-Rilinger, Cultures of Decision-Making. (German Historical Institute London. The 2015 Annual Lecture.) London 2016, 5: „It is our everyday conviction that all social action is normally based on decisions (and that they are made on the basis of rational consideration).“ 10

So Stollberg-Rilingers überzeugende Definition von ‚decision-making‘, ebd.6f. Natürlich kann nur

dort, wo es Alternativen gibt (und seien sie auch nur scheinbare), überhaupt entschieden werden. 11

Vgl. ebd.5f., 34f.; Zitat: 5.

12

Vgl. zu diesem Politikbegriff Barbara Stollberg-Rilinger, Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?,

in: dies. (Hrsg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? (ZHF, Beih. 35.) Berlin 2005, 9–24, hier: 13f. 13

Die Definition stammt von Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort

und drei Corollarien. 2.Aufl. Berlin 1963, 38; ihre Übernahme zur Beschreibung antiker Phänomene haben Christian Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen. Frankfurt am Main 1980, bes. 15–17 und 30–39, sowie Jochen Martin, Aspekte antiker Staatlichkeit (1990), in: ders., Bedingungen menschlichen Handelns in der Antike. Gesammelte Beiträge zur Historischen Anthropologie. Stuttgart 2009, 277–289, hier: 283f., angeregt. Ihre Verwendung erfolgt im Bewusstsein der mit ihr verbundenen Probleme, die vor allem einerseits aus der verbreiteten Reduktion auf Schmitts personalisierte Extrembestimmung des oben genannten Politischen als Gegensatz von ‚Freund und Feind‘ (Schmitt, Begriff, 26–40) und andererseits aus der von Schmitt vorgenommenen Vereinseitigung der Symmetrie, die seine Definition auszeichnet, auf die negative und destruktive Seite – die Dissoziation und das Extrem der Feindschaft beziehungsweise des Feindes – resultiert. Während das erstgenannte Problem durch die Berücksichtigung der definitorischen Hierarchie umgangen werden kann, ist der Feindfokussierung durch die von Reinhart Koselleck, Zur historischpolitischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe (1975), in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. 5.Aufl. Frankfurt am Main 2003, 211–259, hier: 258, vorgeschlagene Wahrung der in der Definition angelegten Gleichwertigkeit beider Pole zu begegnen. Vgl. auch die Kritik an Schmitts Konzept durch Christian Meier, Zu Carl Schmitts Begriffsbildung – Das Politische und der Nomos, in: Helmut Quaritsch (Hrsg.), ‚Complexio Oppositorum‘. Über Carl Schmitt. (Schriftenreihe der Hochschule Speyer, 102.) Berlin 1988, 537–556. 14

Differenzierungen zwischen dem Politischen und der Politik können aufgrund der Geschichte des Be-

griffspaares als wertende Differenzierung missverstanden werden; zur Diskursgeschichte vgl. Tobias Weidner, Die Geschichte des Politischen in der Diskussion. (Das Politische als Kommunikation, 11.) Göttingen

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chen- oder kulturübergreifenden Vorhandenseins politischen Entscheidens das Ergebnis eines Gebrauchs dieser Konzepte als analytische Kategorien beziehungsweise als ‚Schlüsselbegriffe‘ im Sinne Dorothee und Karl Dietrich Brachers, die vorgeschlagen haben, als ‚Schlüsselbegriffe‘ solche Begriffe zu bezeichnen, die zum Verstehen der Quellen und zum Erklären struktureller Zusammenhänge von Historikerinnen und Historikern bewusst an die Quellen herangetragen werden, ohne notwendig in den Quellen selbst vorhanden sein zu müssen. 15 Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden untersucht, ob und inwieweit das Zustandekommen politisch ‚guter‘ und ‚schlechter‘ Entscheidungen als ein relevantes Problem innerhalb des antidemokratischen Diskurses und hierbei insbesondere innerhalb der Historiographie, der politischen Theorie und der politischen Philosophie des antiken Griechenlands reflektiert wird. 16 Da insbesondere die in diesem Zusammenhang besonders gewichtige politische Philosophie als Disziplin überhaupt erst aus antidemokratischen Aversionen heraus entstanden ist 17, stellt sich die Frage, ob und inwieweit sich die Erfahrung der unliebsamen, aber erfolgreichen demokratischen Entscheidungsprozesse im antidemokratischen Denken und in seiner Beschreibung politischen Entscheidens in der (athenischen) Demokratie niederge-

2012, zur Kritik des Gebrauchs der Kombination Willibald Steinmetz, Neue Wege einer historischen Semantik des Politischen, in: ders. (Hrsg.), „Politik“. Stationen eines Wortgebrauchs im Europa der Neuzeit. (Historische Politikforschung, 14.) Frankfurt am Main 2007, 9–40, hier: 11. Kritiker des Begriffspaares lassen allerdings häufig außer Acht, dass die normative Polarisierung der Begriffe keinesfalls notwendig ist. Verzichtet man darauf, wie dies hier vorgeschlagen wird (vgl. auch Nebelin, Aristokratische Konkurrenz [wie Anm.7], 145 mit Anm.19), so bezeichnen beide Begriffe unterschiedliche Felder, die sich durch ihre Konstitution, ihre Ebenen- und Gegenstandsbezüge sowie die ihnen zugrundeliegenden Zeitstrukturen unterscheiden. 15 Vgl. Karl Dietrich Bracher (in Zusammenarbeit mit Dorothee Bracher), Schlüsselwörter in der Geschichte. Mit einer Betrachtung zum Totalitarismusproblem. Düsseldorf 1978, bes. 23–30, 88, 99f. 16 Zum Begriff des (spezifisch griechischen) politischen Denkens vgl. Kurt A. Raaflaub, Politisches Denken und Krise der Polis. Athen im Verfassungskonflikt des späten 5.Jahrhunderts v.Chr., in: HZ 255, 1992, 1–60, hier: 15. 17 Zur Ausbildung der Philosophie als Disziplin vgl. nun umfassend Katarina Nebelin, Philosophie und Aristokratie. Die Autonomisierung der Philosophie von den Vorsokratikern bis Platon. (Hermes-Einzelschriften, 109.) Stuttgart 2016; zur disziplin- wie institutionengeschichtlich zentralen Rolle der ‚platonischen Grenzziehung‘ dabei siehe ebd.346–355 und zur symbolischen Bedeutung Sokrates’ als (antidemokratisch konnotiertem) ‚Gründungsheros‘ der Philosophie in diesem Kontext vgl. ebd.328–333, sowie dies., Sokrates und seine Erben: Philosophenviten als aitiologische Texte, in: Christiane Reitz/Anke Walter (Hrsg.), Von Ursachen sprechen. Eine aitiologische Spurensuche. (Spudasmata, 162.) Hildesheim 2014, 244–270.

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schlagen hat. In diesem Zusammenhang erbringt das Nachverfolgen der Semantik keine wesentlichen Befunde; gesucht werden muss eher nach konzeptuellen statt begrifflichen Vorstellungen. Dabei fällt auf, dass – so die diesem Beitrag zugrundeliegende These – das demokratische Entscheiden eine beständige Leer- wie Problemstelle antidemokratischen Denkens ist. Eigentlich ging es den Kritikern der Demokratie nicht um das Entscheiden, wenn sie über die Funktionsweise von Politik nachdachten; wo dies jedoch der Fall war, zeigt sich ein großes Maß an ideologischer Verstocktheit, die eine nähere Auseinandersetzung verhinderte und die Kritik lediglich Kritik sein ließ. Dabei finden sich im Kontext etwa des thukydideischen Geschichtswerks, das ungeachtet aller Kritik und Ambivalenz wohl als eher demokratiefreundlich einzuschätzen ist, bereits eine anthropologisch fundierte Theorie des Entscheidens, die darauf abzielte, individuelle wie kollektive Entscheidungen verständlich zu machen, selbst wenn sie institutionelle Dynamiken dabei nur eingeschränkt in diese Beschreibung integrieren konnte oder wollte. 18 Zwar ist Thukydides auch für die demokratische Selbstbeschreibung und Ideologie – soweit diese aufgrund des signifikanten „paradox of a democratic practice without theory“ 19 überhaupt greifbar sind – infolge seiner starken anthropologischen und narratologischen Vorannahmen wohl eher eine Ausnahme 20, doch wurde demgegenüber auf Seiten der Kritiker der 18

Vgl. zu Thukydides’ politischer Anthropologie, seiner Demokratiewahrnehmung und -kritik sowie

insbesondere den Überlegungen zu den Entscheidungen herbeiführenden rednerischen Dynamiken in den Volksversammlungen: Ober, Political Dissent (wie Anm.8), 52–121; Raaflaub, Politisches Denken (wie Anm.16), 42; Roberts, Athens on Trial (wie Anm.1), 54–58. Insofern wird im vorliegenden Beitrag nicht die vorherrschende Auffassung geteilt, Thukydides sei grundsätzlich und zuvorderst „hostile“ gegenüber der (athenischen) Demokratie eingestellt gewesen – so aber A. H.M. Jones, The Athenian Democracy and Its Critics, in: The Cambridge Historical Journal 11, 1953, 1–26, vor allem 1 und 18–25. Vielmehr scheint er überzeugender charakterisiert als ein internalisierter Kritiker der athenischen Demokratie aus historischer Perspektive – und zwar vor dem Hintergrund einschneidender intergenerationell wie primär wirksamer zeitgeschichtlicher Erfahrungen. 19

Piovan, Criticism Ancient and Modern (wie Anm.1), 306.

20

Vgl. zur demokratischen Ideologie und den Mechanismen ihrer Reproduktion und Evolution bei-

spielsweise Jones, Athenian Democracy and Its Critics (wie Anm.18); Josiah Ober, Mass and Elite in Democratic Athens. Rhetoric, Ideology, and the Power of the People. Princeton 1989; Piovan, Criticism Ancient and Modern (wie Anm.1), 306–312. Thukydides’ demokratisches und demokratiekritisches Narrativ wird ausgehend von seiner Differenzierung zwischen Taten und Worten rekonstruiert durch Ober, Political Dissent (wie Anm.8), 52–121. Vgl. auch Raaflaub, Politisches Denken (wie Anm.16), 42. Die von Thukydides implizit vorausgesetzte Theorie des Entscheidens ist zudem durch seine anthropologischen Vorannahmen als Faktoren der Entscheidungsmotivation geprägt.

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Demokratie der für einen Diskurs über das Entscheiden notwendige Grad an Abstraktion erst von Aristoteles erreicht, der verkrampft und doch redlich nach einer Erklärung für das Funktionieren der Demokratie suchte. Die Gründe für diese Ignoranz gegenüber dem demokratischen Entscheiden mögen in der Evolutionsgeschichte des antidemokratischen Denkens begründet liegen, die ihrerseits ein Negativ der Demokratisierungsgeschichte (insbesondere Athens) ist. 21 Infolge jenes politischen Entwicklungsvorgangs, den zuletzt Sebastian SchmidtHofner als den einer „Demokratisierung der politischen Kultur“ Athens charakterisiert hat 22, war einerseits, wie Katarina Nebelin jüngst im Anschluss an Jochen Bleicken unterstrichen hat, „eine umfassende und damit demokratische ‚Aristokratisierung‘ der gesamten Bürgerschaft“ eingetreten 23, die auf einer strikten Differenzierung zwischen der Sphäre des Sozialen auf der einen und der des Politischen und der Politik auf der anderen Seite beruhte, wie bereits Hans Schaefer betont hat: „Politische Ordnung und Gesellschaft traten auseinander.“ 24 Das Volk, das über die politischen Institutionen „all important decisions and many comparatively unimportant“ traf 25, wurde, wie Uwe Walter betont hat, zum „Superaristokrat[en]“ 26, während 21 Vgl. dazu etwa Jochen Bleicken, Wann begann die athenische Demokratie? (1995), in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. 1. Stuttgart 1998, 13–40, hier: 38: „Dieses Operieren mit einzelnen Institutionen und Regelsätzen der demokratischen Ordnung, das vor allem den Gegnern der Gleichheitsidee eine der Sache nach oligarchische Ordnung die demokratische Fassade erhalten und durch die Tradition legitimieren wollte, aber auch den Verfechtern der Demokratie es ermöglichte, dieser durch den Bezug etwa auf Solon eine zusätzliche Legitimation aus der Tradition zu verschaffen, hat das institutionelle Denken zu einem Spekulieren in verschiedenen politischen Ordnungen (‚Verfassungen‘) weiterentwickelt, das dann in der ‚Politik‘ des Aristoteles seinen absoluten Höhe- und zugleich Endpunkt erhalten sollte.“ Zum Athenfokus der Quellen vgl. Wilfried Nippel, Antike oder moderne Freiheit? Die Begründung der Demokratie in Athen und in der Neuzeit. Frankfurt am Main 2008, 86: „Nicht immer ist klar, ob generalisierende Aussagen über die Demokratie speziell auf Athen gemünzt sind oder auch auf Daten aus anderen Stadtstaaten beruhen; für die Rezeption ist dies aber angesichts der geringen Kenntnisse über außerathenische Ausprägungen der Demokratie unerheblich gewesen.“ 22 Sebastian Schmidt-Hofner, Das klassische Griechenland. Der Krieg und die Freiheit. München 2016, 142. 23 Katarina Nebelin, Elite ohne Macht? Überlegungen zur Konzeptualisierung elitären Machtverlusts von der Antike bis zur Moderne, in: Michael Meißner/Katarina Nebelin/Marian Nebelin (Hrsg.), Eliten nach dem Machtverlust? Fallstudien zur Transformation von Eliten in Krisenzeiten. Berlin 2012, 19–48, hier: 38. 24 Hans Schaefer, Politische Ordnung und individuelle Freiheit im Griechentum (1957), in: ders., Probleme der Alten Geschichte. Göttingen 1963, 307–322, hier: 320f.; vgl. dazu auch Martin, Aspekte antiker Staatlichkeit (wie Anm.13), 280–288. 25 Peter J. Rhodes, Who Ran Democratic Athens?, in: Pernille Flensted-Jensen/Thomas Heine Nielsen/Lene Rubinstein (Eds.), Polis & Politics. Studies in Ancient Greek History. Kopenhagen 2000, 465–477, hier: 467.

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andererseits die Aristokraten sich entweder mit der Demokratie arrangierten oder 27, wie Wilfried Nippel zugespitzt festgehalten hat, „tendenziell die Mentalität einer unpolitischen Großbourgeoisie entwickel[te]n“ 28. Eine dritte Gruppe innerhalb der Aristokratie hingegen bildete eine demokratiekritische Haltung aus, die sich unter anderem in antidemokratischen Schriften Bahn brach: „Die Gescheiterten […], die in der demokratischen Politik nicht reüssieren konnten oder wollten und die Gleichberechtigung von ‚Guten‘ und ‚Schlechten‘ als inakzeptabel betrachteten, begannen rasch einen dezidiert antidemokratischen Diskurs zu entfalten.“ 29 Angesichts der Dominanz der demokratischen Ideologie stand die Gruppe der Demokratiekritiker vor einem fundamentalen sprachpolitischen Problem: „[T]he democratic tendency to monopolize the terminology of politics“ 30 führte Josiah Ober zufolge für „the prospective Athenian author of a text systematically critical of democratic culture“ zu dem „more basic problem of finding a vocabulary and a liter-

26

Uwe Walter, An der Polis teilhaben. Bürgerstaat und Zugehörigkeit im archaischen Griechenland.

(Historia Einzelschriften, 82.) Stuttgart 1993, 181. 27

Vgl. Elke Stein-Hölkeskamp, „Immer der Beste sein“ – Konkurrenz in der athenischen Demokratie, in:

Jessen (Hrsg.), Konkurrenz in der Geschichte (wie Anm.7), 119–140, hier: 138, die davon spricht, dass die politischen Institutionen Athens der aristokratischen „Konkurrenz um politischen Einfluss […] einen neuen Rahmen“ gaben und „damit dazu bei[trugen], der Demokratie eine ungewöhnlich stabile Führung durch eine loyale Elite zu bescheren, deren Wettbewerbsverhalten ausschließlich um die Gunst des versammelten Volkes kreiste und damit für lange Zeit keine desintegrative Wirkung entfalten konnte“. Mit der eigentümlichen Konsequenz, dass, wie José Miguel Alonso-Núñez, Die Verfassungsdebatte bei Herodot, in: Wolfgang Schuller (Hrsg.), Politische Theorie und Praxis im Altertum. Darmstadt 1998, 19–29, hier: 25, hervorgehoben hat, „auch die Aristokraten Athens […] teilweise Demokraten“ gewesen (beziehungsweise geworden) seien. 28

Wilfried Nippel, Mischverfassungstheorie und Verfassungsrealität in Antike und früher Neuzeit. Stutt-

gart 1980, 112. Vgl. zu dieser Entwicklung auch Winfried Schmitz, Verpaßte Chancen. Adel und Aristokratie im archaischen und klassischen Griechenland, in: Hans Beck/Peter Scholz/Uwe Walter (Hrsg.), Die Macht der Wenigen. Aristokratische Herrschaftspraxis, Kommunikation und ‚edler‘ Lebensstil in Antike und Früher Neuzeit. (HZ, Beihefte, NF., Bd. 47.) München 2008, 35–70. 29

Nebelin, Elite ohne Macht? (wie Anm.23), 38.

30

Josiah Ober, How to Criticize Democracy in Late Fifth- and Fourth-Century Athens, in: ders., The Athe-

nian Revolution. Essays on Ancient Greek Democracy and Political Theory. Princeton 1998, 140–160, hier: 155. Das wird besonders deutlich in Aristoteles’ „Politik“, wo die Polis als eigentliche und zugleich ideale Form menschlichen Lebens de facto gar nichts anderes sein kann als eine demokratische Polis, in der man abwechselnd herrscht und beherrscht wird, ohne dass Aristoteles das freilich selbst explizit zu machen vermag. Vgl. Malcolm Schofield, Aristotle and the Democratization of Politics, in: Ben Morison/Katerina Ierodiakonou (Eds.), Episteme etc. Essays in Honour of Jonathan Barnes. New York 2011, 285–301, hier: 286: „[D]emocratic citizenship is what Aristotle quite explicitly takes to be the standard model“.

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ary genre capable of being adapted to the expression of his criticism“. 31 Das erfolgreiche Funktionieren der Demokratie war ein theoretisches Problem für die Demokratiekritiker, dessen sie nicht anders als durch Verdrängung und Verleumdung Herr wurden. Diese Einschätzung wird durch die konzeptuelle Alternativlosigkeit des demokratischen Entscheidens exemplarisch unterstrichen. Dadurch wurde das demokratische Entscheiden gewissermaßen als ein intellektueller Stachel im Fleisch auch zu einem unsichtbaren, jedoch gleichsam subkutan präsenten Faktor innerhalb der antidemokratischen Ideologie. Um dies zu demonstrieren, werden im Folgenden Schriftquellen in den Blick genommen, die als Ausdruck einer antidemokratischen Ideologie aufgefasst werden können. 32 Allerdings existierte in Athen Demokratiekritik in zwei Fassungen, die sich in Anlehnung an einen Differenzierungsvorschlag Josiah Obers wie folgt unterscheiden lassen 33: Einmal gibt es Kritik institutionalisiert und damit gewissermaßen internalisiert im Rahmen des demokratischen Institutionengefüges – zu denken wäre hier etwa an das Theater als Bildungs- und Reflexionsmedium der athenischen Demokratie, an die Schriften demokratieaffiner Historiker wie Thukydides oder die selbstverständlich demokratieaffinen Referenzen von Rednern. 34 Diese in-

31 Ober, How to Criticize Democracy (wie Anm.30), 155. 32 Der Ideologiebegriff wird in diesem Beitrag ebenfalls als Schlüsselbegriff verwendet. Selbstverständlich sind moderne Ideologien gerade aufgrund ihrer multi- und massenmedialen Verankerung von antiken zu unterscheiden. Doch gibt es zweifellos auch in der Antike medial vermittelte und von größeren Personengruppen geteilte Auffassungen, die zum einen der politischen Binnenintegration wie der Außenabgrenzung dienten und bei denen zudem aus rückblickender Perspektive festzustellen ist, dass im Hinblick auf ihre Weltbeschreibungen Weltwahrnehmung und Weltwirklichkeit auseinanderklafften, wobei die entstandene Lücke durch persistente Vorannahmen und Auffassungen – sogenannte Ideologeme – überbrückt wurde. Vgl. mit den notwendigen Belegen und Literaturhinweisen die überzeugenden Darlegungen zu Geschichte und Variantenreichtum moderner Ideologiebegriffe sowie zur Möglichkeit ihrer Nutzung als analytische Konzepte für und in altertumswissenschaftlichen Forschungen in der Einleitung von Ivan Jordović und Uwe Walter zum vorliegenden Band. 33 Josiah Ober unterscheidet (Political Dissent [wie Anm.8], 48f.) zwischen ‚immanent critics‘ und ‚rejectionist critics‘. Selbstverständlich trifft es nicht notwendig zu, dass sich alle Quellen immer vollständig und absolut eindeutig in eine der beiden Gruppen einordnen lassen. 34 Vgl. zur Rolle der Tragödie grundlegend Christian Meier, Die politische Kunst der griechischen Tragödie. München 1988, sowie zur aristophanischen Komödie Ober, Political Dissent (wie Anm.8), 122–155. Meier (ebd.9) ging von folgender Überlegung aus: „In der Tragödie traf sich herkömmliches, mythisches Denken mit neuer Rationalität, Volkskultur mit Hochkultur. Könnte sie nicht dazu gedient haben, immer wieder am Mythos durchzuspielen, was die Bürger als Bürger beschäftigte?“ Vgl. zum Ensemble möglicher prodemokratischer Positionen die Sammlung bei Roberts, Athens on Trial (wie Anm.1), 25–47. Zu demo-

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ternalisierte Kritik ist eine Form normativ bewahrender oder gar rettender, sachlich konstruktiver Kritik, die Fehlfunktionen und -entwicklungen sowie Missstände innerhalb der Demokratie aufzuzeigen bemüht ist. Sie wird im Folgenden nicht behandelt, da sie zwar Demokratiekritik ist, nicht jedoch Teil der antidemokratischen Ideologie – selbst, wenn sie mit dieser Ideologeme teilen mag. Der Schwerpunkt der Erörterungen bezieht sich demgegenüber auf Texte, in denen die antidemokratische Ideologie in Reinformen zutage tritt; dort wird zumindest die prinzipielle Schlechtheit oder gar Schädlichkeit der Demokratie behauptet, es werden politische Alternativen durchgespielt und manchmal sogar die Abschaffung der Demokratie unverhohlen gefordert. Diese Kritiker schlossen sich mit ihrer Systemkritik selbst aus dem Kreis der Demokraten aus; ihre antidemokratische Kritik an der Demokratie ist mithin eine externalisierende Kritik. Die Frage, wie demokratisches Entscheiden aus der Perspektive der antidemokratischen Ideologie und der ihr zuzuweisenden externalisierenden Form der Demokratiekritik erschien, wird im Nachfolgenden in fünf Schritten untersucht, wobei jeweils eine paradigmatische Quelle im Zentrum der Darlegungen eines jeden dieser Schritte stehen wird. Die Auswahl der Quellen erfolgte einerseits aufgrund ihrer Wirkungsmächtigkeit und paradigmatischen Bedeutung und andererseits aufgrund einer problemorientierten Selektion: Jeder der Texte verdeutlicht bestimmte Probleme, mit denen das aristokratische Denken im Hinblick auf die Konzeptualisierung demokratischen Entscheidens konfrontiert wurde. Um dies herauszuarbeiten, liegen den Quellenerörterungen grundsätzlich immer dieselben drei Leitfragen zugrunde: erstens die Frage nach dem Hauptnarrativ der Quelle und der dabei vorherrschenden Auffassung von der athenischen Demokratie und ihrem Funktionieren; zweitens die Frage nach der Funktion und Funktionsweise des demokratischen Entscheidens innerhalb des demokratischen Institutionengefüges aus der Perspektive der Quelle sowie drittens die Frage nach der Bedeutung des demokratischen Entscheidens für die jeweilige antidemokratische Ideologie. In einer Schlussbetrachtung wird abschließend komparativ nach Eigenheiten und Gemeinsamkeiten, nach Kontinuität und Diskontinuität des demokratischen Entscheidens in der antidemokratischen Ideologie gefragt.

kratieaffinen und prodemokratischen Gehalten politischer Reden, mit denen auch auf demokratiekritische Positionen reagiert wurde, vgl. beispielsweise Piovan, Criticism Ancient and Modern (wie Anm.1), 307–312.

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II. Herodot: Das unsichtbare Entscheiden Bereits in der sogenannten Verfassungsdebatte im dritten Buch des herodotschen Geschichtswerks (3,80–87) finden sich Überlegungen über das demokratische Entscheiden – allerdings bezeichnenderweise keine Darlegungen zum guten, sondern zum schlechten Entscheiden in einer demokratisch verfassten Polis. Das hängt mit der Struktur der dort vorgetragenen Argumentation zusammen: Das Rahmennarrativ spielt bekanntlich nach der Ermordung der Mager und behandelt ein Gespräch der erfolgreichen Verschwörer über die zukünftige ‚Verfassungsform‘ der Perser. In der Runde der Sieben treten Otanes, Megabyzos und Dareios jeweils für eine ‚Verfassungsform‘ unter Zurückweisung der anderen ein: für die Demokratie Otanes, für die Oligarchie Megabyzos und der am Ende überzeugende Dareios für die Monarchie – die er dann später bekanntlich auch für sich selbst erlangte. Natürlich ist die gesamte Szenerie artifiziell und aller Wahrscheinlichkeit nach ahistorisch; sie vermittelt, wie Jochen Bleicken unterstrichen hat 35, weniger eine Vorstellung davon, wie Dareios die Macht im Perserreich erlangte, als vielmehr davon, wie sich innerhalb eines transzendierten zeitgeschichtlichen Erfahrungsraums Herodots grundsätzliche Vorstellungen von politischer Machbarkeit, von Grundformen politischer Souveränitätslagerungen sowie vom Übergang eines normativen Verfassungsumschlags in einen institutionellen Verfassungswandel ausprägten 36; nicht zuletzt besteht die besondere Bedeutung dieses ‚Gesprächs‘ für die politische Ideengeschichte in dem dort als etwas „fundamental Neue[s]“ zutage tretenden „Gedanken der Wählbarkeit und Austauschbarkeit der Ordnungen“ 37. Die Demokratie wird in diesem Zusammenhang nun von ihrem Verfechter zunächst aufgrund der Isonomie, der Gleichheit vor dem Gesetz, gelobt; es folgen die Losung der Beamten, die Verantwortlichkeit der Beamten und die Gemeinsamkeit der Beschlüsse als weitere positive Eigenschaften der Demokratie. 38 Begründet wird

35 Siehe Jochen Bleicken, Zur Entstehung der Verfassungstypologie im 5.Jahrhundert v.Chr. (Monarchie, Aristokratie, Demokratie) (1979), in: ders., Gesammelte Schriften. Stuttgart 1998, Bd. 1, 68–92; vgl. ferner Alonso-Núñez, Die Verfassungsdebatte bei Herodot (wie Anm.27); Thomas Morawetz, Der Demos als Tyrann und als Banause. Aspekte antidemokratischer Polemik im Athen des 5. und 4.Jahrhunderts v.Chr. Frankfurt am Main 2000, 71–76; Roberts, Athens on Trial (wie Anm.1), 35f. 36 Vgl. dazu Dareios’ Modell des Verfassungswandels in Hdt. 3,82,2–4. 37 Bleicken, Zur Entstehung (wie Anm.35), 81. 38 Hdt. 3,80,6.

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dies mit der Abhängigkeit aller Dinge – insbesondere aller Beschlüsse („alle Beschlüsse werden der Gesamtheit vorgelegt“ 39) – von der ‚Menge‘ (πλῆθος), „denn auf der Vielheit [der Menge; M. N.] beruht das Ganze“ 40. Der Vertreter der oligarchischen Position wiederum mobilisiert das Gegenargument der Unvernunft der Masse; die in verschiedenen semantischen Detailausformungen innerhalb des antidemokratischen Diskurses vorzufindende Differenzierung zwischen kompetenten ‚Besten‘ (ἀρíστοι) und inkompetentem, moralisch schlechtem ‚Volk‘ (δῆμος), die kompetenzbezogen sein will und normativ aufgeladen ist, sich zumeist jedoch auf die soziale Stellung der Bezeichneten bezieht, wird bereits hier bemüht. 41 Sie stellt den diesen Abschnitt des herodotschen Geschichtswerks dominierenden Spezialfall jenes fundamentalen Gegensatzes von ‚Besten‘ und ‚Schlechtesten‘ (κάκιστοι) dar, auf den in einer vorrangig normativen Fassung bereits der demokratische Vorredner verwiesen hatte. 42 Dareios, der Vertreter der Monarchie, wiederum kritisiert sowohl die demokratische wie die oligarchische Position und fügt diese Kritik in eine Theorie von Verfassungsdeformation und Verfassungswandel ein, die allerdings insofern unvollständig ist, als der Ausweg aus einer ins Schlechte gekippten Verfassung immer die positive Monarchie ist: Die Oligarchie sei durch einen Leistungswettkampf der ‚Guten‘ bestimmt, die sich schließlich vom individuellen Wunsch des einzelnen Guten, seine Meinung zur kollektiv verbindlichen Entscheidung werden zu lassen, zum Monarchiebestreben jedes dieser einzelnen Oligarchen auswüchse und damit zwangsläufig zunächst zu Feindbeziehungen innerhalb der herrschenden Gruppe und 39

Ebd.: βουλεύματα δὲ πάντα ἐς τὸ κοινὸν ἀναφέρει. (Text und Übersetzung: Herodot, Historien. 2

Bde. Griechisch – Deutsch. Hrsg. v. Josef Feix. Berlin 2014). 40

Ebd.: ἐν γὰρ τῷ πολλῷ ἔνι τὰ πάντα. (Übersetzung nur hier: M. N.).

41

Hdt. 3,81.

42

Hdt. 3,80,4; vgl. zur Formengeschichte des Gegensatzmotives von ‚Besten‘ (beziehungsweise allgemei-

ner: ‚Guten‘) und ‚Schlechten‘ sowie zum entsprechenden Begriffs- und Bildspektrum insbesondere der aristokratischen Ideologie beispielsweise Kurt A. Raaflaub, Democracy, Oligarchy, and the Concept of the „Free Citizen“ in Late Fifth-Century Athens, in: Political Theory 11, 1983, 517–544, bes. 526f., 533f.; Elke Stein-Hölkeskamp, Adelskultur und Polisgesellschaft. Studien zum griechischen Adel in archaischer und klassischer Zeit. Stuttgart 1989, 123–133; Nebelin, Philosophie und Aristokratie (wie Anm.17), 267–269; Ober, How to Criticize Democracy (wie Anm.30), 144 – verdichtet in Obers Übernahme der semantischen Oppositionsstrukturen: „I view dêmokratia rather as a dynamic system through which the mass of ordinary citizens (hoi polloi, to plêthos, hoi penêtes) (1) maintained personal dignity and political equality, (2) restrained the privileges and power of elites (hoi oligoi, hoi chrêstoi, hoi plousioi), and (3) thereby protected themselves from certain forms of socioeconomic exploitation and political dependency.“

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schließlich zu Mord und Totschlag führen müsse 43; am Ende würde der Sieger Monarch. In der Demokratie hingegen würde sich aufgrund einer nicht näher begründeten Systemdynamik eine Masse an ‚Schlechtigkeiten‘ (κακότητα) ansammeln, die schließlich dazu führten, dass die ‚Schlechten‘ innerhalb der Gemeinschaft – dem dêmos – sich erfolgreich verbündeten und versuchten, Entscheidungen in ihrem Sinne zu erwirken. 44 Irgendwann würde ein ‚Volksführer‘ dies beenden und dafür vom dêmos zum Monarchen erhoben. 45 Zerstört die Oligarchie die Feindschaft der Besten, wird die Demokratie durch die Freundschaft der Schlechten zu Grunde gerichtet. Eine negative Transformationsgeschichte der Monarchie wiederum liefert Dareios nicht; das muss er auch nicht, weil sie bereits der Demokrat Otanes skizziert hat: Man sei in einer Alleinherrschaft völlig von den individuellen Qualitäten des Monarchen abhängig, da dieser niemandem Rechenschaft ablegen müsse 46; seine Macht und sein Reichtum verstärkten jene negativen Eigenschaften (Hochmut und Neid), die ihn am Ende dazu brächten, zuungunsten seiner Mitbürger zu handeln. 47 Die Entscheidungen, die er dann aufgrund dieser Motivlage fällt, veranlassen schließlich – wie Otanes zufolge die eigene zeitgeschichtliche Erfahrung lehrt 48 – die anderen, gegen ihn vorzugehen und ihn zu stürzen. Der Sturz wird dadurch motiviert, dass sich der negative Alleinherrscher nicht nur sozial inadäquat verhält 49, sondern vor allem illegitim handelt: „Das Schlimmste aber sage ich jetzt erst: Er [d.h. der Monarch; M. N.] rührt an den altüberlieferten Ordnungen, er vergewaltigt Frauen und tötet ohne Richterspruch“, erklärt Otanes. 50 Seine solitären und untragbaren Entscheidungen stürzen also den schlechten Alleinherrscher, wobei die beispielhaft angeführten negativen Entscheidungen einem Katalog der Monarchiekritik entstammen 51, der sich durch die gesamte Antike zieht und sich beispielsweise in ver-

43 Hdt. 3,82,3. 44 Ebd. 3,82,3–4 45 Ebd. 3,82,4. 46 Ebd. 3,80,3. 47 Ebd. 3,80,3. 48 Ebd. 3,80,2. 49 Ebd. 3,80,4–5. 50 Ebd. 3,80,5: τὰ δὲ δὴ μέγιστα ἔρχομαι ἐρέων· νόμαιά τε κινέει πάτρια καὶ βιᾶται γυναῖκας κτεíνει τε ἀκρíτους. 51 Vgl. zur Topik der antiken Monarchiekritik Kai Trampedach, Die Tyrannis als Wunsch- und Schreckbild. Zur Grammatik der Rede über Gewaltherrschaft im Griechenland des 5.Jahrhunderts v.Chr., in: Bernd

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gleichbarer Form auch in der Warnung Samuels vor der Einrichtung der Monarchie in Israel wiederfinden lässt. 52 Es ist nun für das herodotsche Narrativ bezeichnend, dass einzig die negativen politischen Entscheidungen, welche die schlechte Alleinherrschaft charakterisieren, konkret benannt werden. Abstrakt bleiben hingegen die Nachteile von Oligarchie und Demokratie. Klar ist jedoch in beiden Fällen, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt schlechte Entscheidungen getroffen werden: Bei der Oligarchie werden immerhin institutionell hervorgetriebene subjektive Dispositionen als Motive für das oligarchische Fehlverhalten plausibel gemacht; bei der Demokratie hingegen bleibt unklar, woher die ‚Schlechtigkeiten‘ kommen 53 und welche Entscheidungen konkret zu einer Ausbeuterallianz der ‚Schlechten‘ innerhalb der Demokratie führen können – wobei man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass im Hintergrund die Vorstellung steht, dass in der Demokratie ‚Gute‘ und ‚Schlechte‘ um die Herrschaft ringen, wobei in diesem Modell die ‚Schlechten‘ scheinbar tendenziell die Oberhand behalten haben. Allein, explizit ausgeführt wird das nirgends, und auch das Argument des Oligarchen Megabyzos gegen die Demokratie geht nicht ganz in diese Richtung: Bei ihm erscheint das Volk vielmehr als getriebene, ziel- und vernunftlose Mas-

Seidensticker/Martin Vöhler (Hrsg.), Gewalt und Ästhetik. Zur Gewalt und ihrer Darstellung in der griechischen Klassik. Berlin 2006, 3–27, bes. 11–20. 52 Vgl. 1. Sam. 8,10–18; eine Besonderheit dieser Passagen stellt allerdings die umrahmende „Frage“ dar, „ob die monarchische Staatsform des Reiches mit dem ausschließlichen Anspruch Jahwes auf die Herrschaft über sein Volk überhaupt verträglich sei“; Albrecht Alt, Gedanken über das Königtum Jahwes (1945), in: ders., Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel. Bd. 1. 3.Aufl. München 1963, 344–357, hier: 356. Vgl. zu dieser Erzählung beispielsweise Rainer Albertz, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit. 2 Bde. (Grundrisse zum Alten Testament, 8.) 2.Aufl. Göttingen 1996/97, Bd. 1, 171f., 186f.; Albrecht Alt, Der Anteil des Königtums an der sozialen Entwicklung in den Reichen Israel und Juda (1955), in: ders., Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel. Bd. 3. München 1959, 348–372, hier: 355f.; Manfred Clauss, Geschichte des Alten Israel. (Oldenbourg Grundriss der Geschichte, Bd. 37.) München 2009, 130f.; Hans W. Herzberg, Die Samuelbücher. (Das Alte Testament Deutsch, 10.) 6.Aufl. Göttingen 1982, 56; Herbert Niehr, Die Samuelbücher, in: Erich Zenger/Christian Frevel/Heinz-Josef Fabry u.a., Einleitung in das Alte Testament. (Kohlhammer Studienbücher Theologie, 1/1.) 4.Aufl. Stuttgart 2001, 210–216, hier: 214–216. Die noch von Niehr, Samuelbücher, 214, referierte, redaktionsgeschichtlich fundierte Vorstellung, dass im Samuelbuch „[d]er königsfreundliche Bericht über die Entstehung des saulidischen Königtums […] kollidiert mit der Existenz eines königsfeindlichen Berichtes“, ist zumindest in Hinblick auf diesen Aspekt zu hinterfragen, sofern man konzediert, dass über Königtum nicht nur positiv oder negativ, sondern auch in seiner ganzen Ambivalenz nachgedacht werden kann. 53

Siehe dazu Ivan Jordović, Herodotus and the Emergence of the Demagogue Tyrant Concept, in: GFA 13,

2010, 1–15.

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se, die keine Ahnung vom ‚Guten‘ (καλόν) – ergo dem Gemeinwohl – habe (und von der gedanklich nur die ‚Besten‘ zu differenzieren seien). 54 Die große Frage, die mithin spätestens mit Herodot im Raum stand, war, wieso eigentlich das Volk irgendwann (oder gar grundsätzlich) falsch und schlecht entscheide. Um eine Antwort auf diese Frage zu erhalten, muss Einblick in andere antidemokratische Texte genommen werden – wie etwa die pseudo-xenophontische „Athenaion Politeia“.

III. Die pseudo-xenophontische „Athenaion Politeia“: Das Nicht-Entscheiden Dem Autor der pseudo-xenophontischen Schrift über die „Verfassung der Athener“ zufolge ist die Demokratie erstens gekennzeichnet durch die Herrschaft der ‚Armen‘ (πένητες), des ‚Volkes‘ (δῆμος) und der ‚Schlechten‘ (πονηροί); sie weist zweitens die Eigenheit auf, die durch die Seemacht Athens verfügbaren Mittel zuungunsten der ‚Vornehmen‘ (γενναῖοι), ‚Reichen‘ (πλούσιοι) und ‚Guten‘ (χρηστοí) zu verteilen 55, wenngleich der Autor nach Einschätzung von Jennifer Tolbert Roberts 54 Hdt. 3,81,2–3. 55 Vgl. bes. Xen. Ath. pol. 1,1, 1,2, 1,4–5, 1,9, 1,13–14, 3,10; dazu vgl. Hans-Joachim Gehrke, Der historische Hintergrund der pseudo-xenophontischen ATHENAION POLITEIA. Ein Versuch über griechische Politik, in: Marcelo Gigante/Gianfranco Maddoli (Eds.), L’ATHENAION POLITEIA dello Pseudo-Senofonte. Napoli 1997, 25–45, hier: 30; Christian Mann, Politische Gleichheit und gesellschaftliche Stratifikation. Die athenische Demokratie aus der Perspektive der Systemtheorie, in: HZ 286, 2008, 1–35, hier: 9f.; Roberts, Athens on Trial (wie Anm.1), 55f.; zur Trias von Volk, Armen und Schlechten siehe Xen. Ath. pol. 1,4; zur Auflistung von Vornehmen, Reichen und Guten siehe 1,2, 1,4; vgl. die dualistische Gegenüberstellung von ‚Armen‘ und ‚Volk‘ (sowie Ruderern und den übrigen Angehörigen der Seestreitkräfte) auf der einen sowie ‚Vornehmen‘ und ‚Guten‘ (sowie Hopliten) auf der anderen Seite 1,2. Die Unterscheidung der Bürger entlang dieser Differenzierungen ist, wie der Autor mit Blick auf die Unterscheidung von chrêstoi und ponêroi in 2,19 betont, den Athenern angeblich genau möglich. Die Gegensätze sind, wie aus 3,10 ersichtlich ist, grundsätzlicher Art; Bürgerkriege entfalten sich entlang dieser Linie. Die Probleme der moralischen Kategorienbildung des Autors der Verfassungsschrift werden 2,20 (Text und Übersetzung: Pseudo-Xenophon, Die Verfassung der Athener. Griechisch und deutsch. Hrsg., eingel. u. übers. v. Gregor Weber. Darmstadt 2010) ersichtlich: Dort wird betont, dass die Demokratie „dem Volk selbst“ zu ‚vergeben‘ sei; „denn die eigenen Interessen zu wahren, ist jedem zu verzeihen“ (δημοκρατíαν δ’ ἐγὼ μὲν αὐτῷ τῷ δήμῳ συγγιγνώσκω· αὑτὸν μὲν γὰρ εὖ ποιεῖν παντὶ συγγνώμη ἐστíν). Anders verhalte es sich hingegen mit jemandem, der „ohne dem Volk anzugehören, es vorgezogen hat, in einer demokratisch verfassten Stadt politisch aktiv zu sein, eher als in einer oligarchischen“; diese Person habe „sich bereit gemacht Unrecht zu tun“ (ὅστις δὲ μὴ ὢν τοῦ δήμου εἳλετο ἐν δημοκρατουμένῃ πόλει οἰκεῖν μᾶλλον ἢ ἐν ὀλιγαρχουμένῃ, ἀδικεῖν παρεσκευάσατο) und wolle als „Übeltäter“ (κακός) wirken, weil dies in einer demokratischen Gemein-

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„offers no explanation of how this is accomplished“. 56 Soziologisch werden dabei nicht nur allgemein Arme und Reiche 57, sondern konkret die Angehörigen der Seestreitkräfte – vor allem die Ruderer, aber beispielsweise auch die Steuerleute – auf der einen und die Angehörigen der Landstreitkräfte – vor allem die Hopliten – auf der anderen Seite einander gegenübergestellt. 58 Die besondere Stellung der Angehörigen der Seestreitkräfte wird dabei mit der vorgeblich größeren Bedeutung dieser Streitkräftegattung für Athens Machtstellung und seinen Reichtum begründet. 59 Diese wiederum sind erforderlich, um jene materiellen Ressourcen zu generieren, deren Verteilung vom Autor als Merkmal der Demokratie ausgemacht wird. 60 Die Merkmale der Verfassung Athens wiederum werden im ersten Absatz der Schrift explizit als Produkt einer bewussten politischen Grundsatzentscheidung charakterisiert, wobei mit ἔδοξεν bzw. δοκεῖν ein Begriff verwendet wird, der regelmäßig in den Präskripten der veröffentlichten Beschlüsse der Athener Volksversammlung verwendet wird. 61

schaft einfacher möglich sei als in einer oligarchischen. Dazu vgl. Mann, Politische Gleichheit, 16f. Die Möglichkeit der Kollaboration von Angehörigen der Elite, durch welche diese zu ‚Schlechten‘ werden, trennt jedoch die immer wieder vom Autor vorgenommene Gleichsetzung von Reichen und Vornehmen einerseits und Guten andererseits – zumindest erscheint diese nicht mehr als dergestalt notwendig, wie ansonsten suggeriert wird. Generell neigt der Autor dazu, wie Gregor Weber (Pseudo-Xenophon, Die Verfassung der Athener, 134) im Anschluss an John L. Marr/Peter J. Rhodes, The ‚Old Oligarch‘. The ‚Constitution of the Athenians‘, Warminster 2008, 137, festhält, „gerne Begriffe [zu] wiederhol[en], auch wenn sie anders zu verstehen sind“. 56 Roberts, Athens on Trial (wie Anm.1), 53. 57

Vgl. etwa Xen. Ath. pol. 1,2.

58

Siehe ebd.1,2.

59

Ebd.

60

Vgl. beispielsweise ebd.1,2–3, 1,16–17, 2,9–13.

61

Siehe ebd.1,1: „Was aber die Verfassung der Athener angeht, dass sie sich für diese Art der Verfassung

entschieden haben, lobe ich nicht, deswegen, weil sie sich damit zugleich dafür entschieden haben, dass es den schlechten Leuten bessergeht als den guten: Deswegen also lobe ich das nicht. Da sie dies aber nun einmal so beschlossen haben und auch die anderen Dinge ausführen, die sie den anderen Griechen falsch zu machen scheinen, das will ich jetzt beweisen.“ (Περὶ δὲ τῆς Ἀθηναíων πολιτεíας, ὅτι μὲν εἵλοντο τοῦτον τὸν τρόπον τῆς πολιτεíας, οὐκ ἐπαινῶ διὰ τόδε, ὅτι ταυθ᾽ ἑλόμενοι εἵλοντο τοὺς πονηροὺς ἄμεινον πράττειν ἢ τοὺς χρηστούς· διὰ μὲν οὖν τοῦτο οὐκ ἐπαινῶ. ἐπεὶ δὲ ταῦτα ἔδοξεν οὕτως αὐτοῖς, ὡς εὖ διασῴζονται τὴν πολιτεíαν καὶ τἆλλα διαπράττονται ἃ δοκοῦσιν ἁμαρτάνειν τοῖς ἄλλοις Ἕλλησι, τοῦτ᾽ ἀποδεíξω); vgl. dazu Weber, in: Pseudo-Xenophon, Die Verfassung der Athener (wie Anm.55), 67. Erneut betont wird die Gemachtheit der Verfassung Xen. Ath. pol. 2,20; ihre Stabilität und Absicherung durch die demokratisch gesonnenen Bürger ebd.3,1; der geringe Spielraum zu ihrer Umgestaltung ohne Preisgabe des demokratischen Kerns wird wiederholt 3,8–9 benannt.

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Institutionell werden die Los- und Wählbarkeit sowie das Recht auf die öffentliche Rede als Grundelemente der Demokratie vorgestellt. 62 Die Diätenregelung – die für Arme notwendig, für Reiche hingegen wenig relevant ist – wird als wesentlicher und im Kern unpolitischer, weil auf den jeweiligen ‚Haushalt‘ (οἶκος) bezogener Anreiz für Funktionsübernahmen in der Demokratie dargestellt 63; bei politisch signifikant wirksamen Ämtern hingegen entscheide des Volk allein nach Kompetenz: Die „Ämter, die Rettung bringen, wenn sie gut ausgeübt werden, und wenn nicht gut, Gefahr für das Volk insgesamt: an diesen Ämtern verlangt das Volk keine Teilhabe (weder an den Strategenstellen glauben sie durch Los Anteil haben zu müssen noch an den Hipparchenstellen). Denn das Volk erkennt, dass es größeren Nutzen davon hat, diese Ämter nicht selbst innezuhaben, sondern es den Fähigsten zu überlassen sie auszuüben.“ 64

Vorausgesetzt ist dabei die Annahme, dass der dêmos im Unterschied zu den ‚Besten‘ (βέλτιστοι) letzten Endes fachpolitisch inkompetent sei. 65 Dabei wird eine Differenz im Entscheidungsbereich aufgemacht zwischen den Magistraturen und ihrer Vergabe einerseits und dem Fällen politischer Entscheidungen in der Volksversammlung und vor Gericht andererseits, wobei bei diesem letzten Punkt eine innenund eine außenpolitische Dimension zu unterscheiden sind. Verzichte das Volk nämlich bei den Magistraturen gegebenenfalls – und nach Meinung Pseudo-Xenophons: sachadäquat – auf die Besetzung eines Amtes durch das Zufallsprinzip (also das Los) zugunsten eines Wahlaktes 66, so könne das allgemeine Rederecht in der 62 Siehe ebd.1,2, 1,6. 63 Vgl. etwa ebd.1,3. Den vom Autor angenommenen Vorrang der Sphäre des Politischen vor der des Hauses verdeutlicht auch ebd.2,18, wo behauptet wird, dass der dêmos nicht in der Komödie karikiert werden dürfe, eine Privatperson hingegen schon; zu dieser Passage vgl. Weber, in: Pseudo-Xenophon, Die Verfassung der Athener (wie Anm.55), 130–133. 64 Ebd.1,3: ἔπειτα ὁπόσαι μὲν σωτηρíαν φέρουσι τῶν ἀρχῶν χρησταὶ οὖσαι καὶ μὴ χρησταὶ κíνδυνον τῷ δήμῳ ἅπαντι, τούτων μὲν τῶν ἀρχῶν οὐδὲν δεῖται ὁ δῆμος μετεῖναι· (οὔτε τῶν στρατηγιῶν κλήρῳ οἴονταí σφισι χρῆναι μετεῖναι οὔτε τῶν ἱππαρχιῶν)· γιγνώσκει γὰρ ὁ δῆμος ὅτι πλεíω ὠφελεῖται ἐν τῷ μὴ αὐτὸς ἄρχειν ταύτας τὰς ἀρχάς, ἀλλ᾽ ἐᾶν τοὺς δυνατωτάτους ἄρχειν. 65 Siehe ebd.1,5: „Bei den Besten gibt es nämlich die geringste Zügellosigkeit und Ungerechtigkeit, aber das meiste gewissenhafte Bemühen um das Gute, hingegen beim Volk die meiste Ignoranz, mangelnde Disziplin und Schlechtigkeit; denn die Armut führt sie eher zu schimpflichem Verhalten, und der Mangel an Erziehung und Bildung ist zumindest bei einigen von den Menschen das Ergebnis des Mangels an Geld“ (ἐν γὰρ τοῖς βελτíστοις ἔνι ἀκολασíα τε ὀλιγíστη καὶ ἀδικíα, ἀκρíβεια δὲ πλεíστη εἰς τὰ χρηστά, ἐν δὲ τῷ δήμῳ ἀμαθíα τε πλεíστη καὶ ἀταξíα καὶ πονηρíα· ἥ τε γὰρ πενíα αὐτοὺς μᾶλλον ἄγει ἐπὶ τὰ αἰσχρὰ, καὶ ἡ ἀπαιδευσíα καὶ ἡ ἀμαθíα ˂ἡ˃ δι᾽ ἔνδειαν χρημάτων ἔνιοις τῶν ἀνθρώπων). 66 Siehe oben.

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Volksversammlung weiterhin die Herrschaft garantieren helfen, da es dabei unterstütze, dass ‚Schlechte‘ für andere ‚Schlechte‘ Gesetze erließen, die ihnen dazu dienten, ihre ‚schlechte‘ Lebensweise zu befördern und die Demokratie als die ihnen entsprechende Herrschaftsform zu sichern 67: „Eine Stadt wäre also nicht mit einer solchen Lebensweise wohl die beste, aber die Demokratie würde so am ehesten erhalten. Denn das Volk will nicht in einer Stadt mit guten Gesetzen selbst Sklave sein, sondern frei sein und herrschen, der Zustand mit schlechten Gesetzen kümmert dagegen wenig. Was nämlich du für einen Zustand mit keinen guten Gesetzen ansiehst, daraus ist das Volk selbst stark und frei.“ 68

Gute und schlechte Gesetze scheinen demnach nicht entlang von politischen Sachfragen differenziert zu werden, sondern vielmehr sehr viel grundsätzlicher auf unterschiedliche Weisen des Gemeinschaftslebens abzuzielen. Die schlechte Ordnung, die der Autor der Schrift in der athenischen Demokratie verwirklicht sah, schien ihm nämlich vor allem durch eine Form der egalitären Vergemeinschaftung charakterisiert, der er das Idealbild einer zugleich sozial, rechtlich und habituell strikt ausdifferenzierten Gemeinschaft entgegenstellte. 69 Auch die Gerichte werden von Pseudo-Xenophon in diesem Zusammenhang zunächst vor allem als Ort der innenpolitischen Umverteilung charakterisiert. Um diese innenpolitische Pointe setzen zu können, rückt der Autor jedoch nicht die innerathenischen Gerichtsfragen in den Vordergrund, sondern die schiedsgerichtliche Funktion Athens gegenüber den Bundesgenossen: Man sorge nämlich dafür, dass das Geld der Bundesgenossen nach Athen komme, wo es dann de facto an das Volk weitergereicht werde. 70 Später kommt der Autor dann erneut auf die Themenbereiche Gerichte und 67

Hier und zum Folgenden siehe Xen. Ath. pol. 1,6–8.

68

Ebd.1,8: εἴη μὲν οὖν ἂν πόλις οὐκ ἀπὸ τοιούτων διαιτημάτων ἡ βελτíστη, ἀλλ᾽ ἡ δημοκρατíα

μάλιστ᾽ ἂν σῴζοιτο οὕτως. ὁ γὰρ δῆμος βούλεται οὐκ εὐνομουμένης τῆς πόλεως αὐτὸς δουλεύ ειν, ἀλλ᾽ ἐλεύθερος εἶναι καὶ ἄρχειν, τῆς δὲ κακονομíας αὐτῷ ὀλíγον μέλει· ὃ γὰρ σὺ νομíζεις οὐκ εὐνομεῖσθαι, αὐτὸς ἀπὸ τούτου ἰσχύει ὁ δῆμος καὶ ἐλεύθερός ἐστιν. 69

Vgl. dazu ebd.1,10–11.

70

Vgl. dazu ebd.1,14–18; vgl. dazu Roberts, Athens on Trial (wie Anm.1), 53. Direkt profitierten die Athe-

ner zudem durch die Diätenzahlungen für die Richter (ebd.1,16); vgl. grundsätzlich zu den Diätenzahlungen beispielsweise Mann, Politische Gleichheit (wie Anm.55), 23, sowie für diesen Punkt auch Ernst Kluwe, Die soziale Zusammensetzung der athenischen Ekklesia und ihr Einfluß auf politische Entscheidungen, in: Klio 58, 1976, 295–333; ders., Nochmals zum Problem: Die soziale Zusammensetzung der athenischen Ekklesia und ihr Einfluß auf politische Entscheidungen, in: Klio 59, 1977, 45–81, hier: 45f.; symbolisch müssten sich die Bundesgenossen zudem vor dem Volk Athens zu dessen Selbsterhöhung erniedrigen – ein Akt,

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Volksversammlung zurück, wobei allerdings in seiner Darstellung beide auf bezeichnende Weise fließend ineinander übergehen. 71 Die Auflistung der Kompetenzen und Funktionen der wichtigsten Organe der Demokratie – also eben der Volksversammlung und der Gerichte – wird dann zum Ausgangspunkt der weiteren Kritik. 72 Die Entscheidungsinstitutionen seien beständig überlastet; dadurch würden Entscheidungen unangemessen verzögert oder sogar gänzlich verunmöglicht. 73 Im Hintergrund wirkt das explizit ausgedrückte Ideal, dass Entscheidungen zeitnah und grundsätzlich getroffen werden müssten: „Wohlan denn, muss man nicht glauben, dass diese Fälle sämtlich entschieden werden müssen? Es soll nämlich einer nur sagen, was hier nicht entschieden zu werden bräuchte. Wenn es aber doch notwendig ist zuzugestehen, dass man alles entscheiden muss, ist es auch das ganze Jahr hindurch notwendig, wie sie es ja nicht einmal jetzt schaffen, obwohl sie während des ganzen Jahres zu Gericht sitzen, diejenigen, die Unrecht tun, zum Aufhören zu bringen aufgrund der Menge an Menschen.“ 74

Demokratie erscheint in der pseudo-xenophontischen Schrift als eine Herrschaft, die durch Verzögerungen bis nahe an ein Nicht-Entscheiden gekennzeichnet ist. Als äußere Gründe für diese zeitlichen Streckungen werden die Vielzahl der Feste 75 und der Gerichtsverhandlungen 76 sowie die Vielfältigkeit der Aufgaben des Rates 77 genannt. Als innerer Grund dieser zeitlichen Streckungen wird ein grundsätzlicher Effizienzverlust beim politischen Entscheiden ausgemacht 78, für den die Demokratie als Herrschaft der Vielen verantwortlich sei, schließlich würde nicht einmal Korruption eine Beschleunigung des Entscheidungsverfahrens bewirken können:

bei dem zudem die realitäre Stellung der Bundesgenossen als ‚Sklaven‘ der Athener sichtbar würde (Xen. Ath. pol. 1,18). 71 Dies scheint mir ebd.3,2 der Fall zu sein; dort werden Belange der Gerichte, der Volksversammlung und des Rates nicht immer hinreichend klar geschieden. 72 Siehe ebd.3,2, 3,4–5. 73 So ebd.3,1–2, 3,6–7. 74 Ebd.3,6: φέρε δὴ τοíνυν, ταῦτα οὐκ οἴεσθαι χρὴ χρῆναι διαδικάζειν ἅπαντα; εἰπάτω γάρ τις ὅ τι οὐ χρῆν αὐτόθι διαδικάζεσθαι. εἰ δ᾽ αὖ ὁμολογεῖν δεῖ ἅπαντα χρῆναι διαδικάζειν, ἀνάγκη δι᾽ ἐνιαυτοῦ, ὡς οὐδὲ νῦν δι᾽ ἐνιαυτοῦ δικάζοντες ὑπάρχουσιν ὥστε παύειν τοὺς ἀδικοῦντας ὑπὸ τοῦ πλήθους τῶν ἀνθρώπων. 75 Siehe ebd.3,2, 3,8. 76 Siehe ebd.3,4–8. 77 Siehe ebd.3,2. 78 Dazu vgl. ebd.3,1, 3,3.

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„Dies freilich weiß ich nicht genau, dass die Stadt nicht die Kapazität hat, die Angelegenheiten aller Bittsteller zu Ende zu bringen, auch nicht, wenn einer ihnen noch soviel Gold und Silber gäbe.“ 79

An politischen Beschlüssen wiederum werden nicht innenpolitische Entscheidungen der Volksversammlung in den Blick genommen, sondern der Bereich außenpolitischen Entscheidens. Der Autor der Schrift sucht diesen Bereich, wie Gregor Weber unterstrichen hat, „für den ihm zentralen Gegensatz zwischen Oligarchie und Demokratie zu nutzen, indem nach der Verantwortlichkeit für Entscheidungen innerhalb der Polis gefragt wird“. 80 Die Chance, die Verantwortung für Entscheidungen einzelnen ‚Sündenböcken‘ zuzuschieben, wird somit als eindeutiges Merkmal demokratischen Entscheidens ausgemacht: „Ferner, was Bündnisse und die Eide angeht, ist es für oligarchisch verfasste Städte notwendig, sie einzuhalten; wenn sie aber die Vereinbarungen nicht einhalten oder wenn du von irgend jemandem Unrecht erleidest, sind die Namen der wenigen bekannt, welche die Vereinbarung getroffen haben. Was aber das Volk vereinbart hat, ist es ihm möglich, einem einzelnen dafür die Schuld zuzuschieben, dem Antragsteller und dem Abstimmungsleiter, die anderen aber können die Verantwortlichkeit abstreiten, dass er nicht dabei gewesen sei und es ihm nicht gefallen habe, wenn sie die Dinge in Erfahrung bringen, die in der Vollversammlung des Gesamtvolkes vereinbart worden sind; und wenn diese (Beschlüsse) ihm nicht zusagen, so hat es tausenderlei Vorwände gefunden, nicht zu tun, was sie nicht wollen. Und wenn etwas Negatives aus dem erwächst, was das Volk beschlossen hat, erhebt das Volk die Beschuldigung, dass wenige Menschen ihm zuwidergehandelt und den Beschluss verdorben hätten; wenn aber etwas Positives daraus erwächst, beanspruchen sie das Verdienst für sich selbst.“ 81

Demnach soll demokratisches Entscheiden nicht allein durch die Chance bestimmt sein, einzelne Funktionäre oder Antragsteller, deren Beitrag ja auf den veröf79

Ebd.3,3: τοῦτο μέντοι εὖ οἶδα, διότι πᾶσι διαπρᾶξαι ἡ πόλις τῶν δεομένων οὐχ ἱκανή, οὐδ᾽

εἰ ὁποσονοῦν χρυσíον καὶ ἀργύριον διδοíη τις αὐτοῖς. 80

Weber, in: Pseudo-Xenophon, Die Verfassung der Athener (wie Anm.55), 127.

81

Xen. Ath. pol. 2,17: ἔτι δὲ συμμαχíας καὶ τοὺς ὅρκους ταῖς μὲν ὀλιγαρχουμέναις πόλεσιν ἀνάγ-

κη ἐμπεδοῦν· ἢν δὲ μὴ ἐμμένωσι ταῖς συνθήκαις, ἢ ὑπό του ἀδικῇ, ὀνόματα ἀπὸ τῶν ὀλíγων οἳ συνέθεντο. ἅσσα δ᾽ ἂν ὁ δῆμος σύνθηται, ἔξεστιν αὐτῷ, ἑνὶ ἀνατιθέντι τὴν αἰτíαν τῷ λέγοντι καὶ τῷ ἐπιψηφíσαντι, ἀρνεῖσθαι τοῖς ἄλλοις ὅτι οὐ παρῆν οὐδὲ ἀρέσκει οἱ, εἴ γε μὴν τὰ συγκεíμενα πυνθάνονται ἐν πλήρει τῷ δήμῳ· καὶ εἰ μὴ δόξαι εἶναι ταῦτα, προφάσεις μυρíας ἐξηύρηκε τοῦ μὴ ποιεῖν ὅσα ἂν μὴ βούλωνται. καὶ ἂν μέν τι κακὸν ἀναβαíνῃ ἀπὸ ὧν ὁ δῆμος

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fentlichten Volksbeschlüssen vermerkt wird, für negative oder unliebsame Entscheidungen verantwortlich zu machen; vielmehr ermöglicht die gleichzeitige Präsenz- und Anonymitätsstruktur demokratischen Entscheidens dem einzelnen Bürger, seine Mitverantwortung für die gemeinsamen Beschlüsse durch die Behauptung der physischen Nichtteilnahme abzustreiten. Und umgekehrt können alle Bürger positiv wirkende Beschlüsse unabhängig von ihrer realen Teilnahme am konkreten Beschlussverfahren für sich beanspruchen. Gefährdet wird diese demokratische Ordnung dem Autor zufolge von Seiten der Reichen und Guten: Diese streben nach der Überwindung der demokratischen Ordnung. 82 Wären die Reichen erfolgreich, würden sie institutionell den Zugang zu den Magistraturen ebenso verschließen wie das Recht auf freie Rede im politischen Raum beschränken. De facto liefe dies auf eine Oligarchie hinaus, die vom Autor der Schrift als Versklavung bzw. – verstetigt – als ‚Sklaverei‘ des Volkes bezeichnet wird. 83 Allerdings baut der Autor selbst gerade im einzigen Fall, an dem er die Sache konkret macht, eine Realisierungshürde auf: Die oligarchische Reduktion der Richterzahl oder der Zahl der Gerichtshöfe würde seines Erachtens nur die Gefahr der Korruption erhöhen 84 – ganz unabhängig davon, dass die benannten Maßnahmen (Streichung der Teilnahme- und Redemöglichkeiten) ohnehin weder am kritisierten Präsenz- noch am Anonymitätsprinzip etwas Grundsätzliches ändern würden: Es verringerte sich lediglich die Zahl der Verfahrensbeteiligten. Unverkennbar ist, dass der Autor der pseudo-xenophontischen „Athenaion Politeia“ „bitterly hostile to democracy“ eingestellt ist. 85 Zwar konkretisiert er dabei gegenüber Herodot die Kritik am demokratischen Entscheiden, doch kann seine Kritik nur als überzeugend akzeptieren, wer auch die Annahme teilt, dass politische Entscheidungen grundsätzlich schnell (und gut) getroffen werden müssten. Vor allem aber bleibt in der Schrift unklar, wie genau eine (oligarchische) Alternative zur De-

ἐβούλευσεν, αἰτιᾶται ὁ δῆμος ὡς ὀλíγοι ἄνθρωποι αὐτῷ ἀντιπράττοντες διέφθειραν· ἐὰν δέ τι ἀγαθόν, σφíσιν αὐτοῖς τὴν αἰτíαν ἀνατιθέασι. 82 Vgl. ebd.1,4, 1,9. 83 Siehe ebd.1,9. Ebd.wird auch unbestimmt von einer ‚Bestrafung‘ des Volkes nach der Machtübernahme durch die Oligarchen gesprochen. 84 Siehe ebd.3,7. 3,3 wird eigentlich suggeriert, dass die athenische Demokratie als institutioneller Gesamtzusammenhang im Grunde genommen nicht korrumpierbar sei – unabhängig von einem dennoch zu konstatierenden grundsätzlich hohen Korruptionsgrad. 85 Jones, Athenian Democracy and Its Critics (wie Anm.18), 1.

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mokratie aussehen könnte. Das ist in der wahrscheinlich pseudo-aristotelischen „Athenaion Politeia“ anders – und doch wieder ähnlich.

IV. Die pseudo-aristotelische „Athenaion Politeia“: Die Abstraktheit konkreter Alternativen Auffällig ist, dass der Autor der „Athenaion Politeia“ in der hier vorrangig relevanten ersten, historisch-systematischen Hälfte des Werkes (Aristot. Ath. pol. 1–40/41) zwar deutlich machen kann, welche realhistorisch existierenden oligarchischen Regime ihm rückblickend als Alternative zur Demokratie adäquat erscheinen, er dies aber weder systematisiert noch seine Wertungen näher begründet. Für beides gibt es jedoch ersichtliche Gründe: Ziel dieser ersten Hälfte der „Athenaion Politeia“ ist eine historisch darstellend ausgerichtete Verfassungsgeschichte Athens, die zu der darauffolgenden Darstellung des Ist-Standes führen und dessen historische Genese darlegen soll. 86 Für eine mögliche Systematisierung sollte dies zwar Material bereitstellen, sie jedoch selbst wohl nicht vornehmen. Das Hauptnarrativ ist auch hier antagonistisch konzipiert. Dabei dominieren die innenpolitische Dimension der athenischen Geschichte konkrete politische Grup86

Vgl. Mortimer Chambers, The Athenaion Politeia after a Century, in: Edward M. Harris/Robert W. Wal-

lace (Eds.), Transitions to Empire. Essays in Greco-Roman History, 360–146 B. C. Norman 1996, 211–225, hier: 220; John J. Keaney, The Structure of Aristotle’s Athenaion Politeia, in: Harvard Studies in Classical Philology 67, 1963, 115–146, hier: 117; Ober, Political Dissent (wie Anm.8), 352, 362; Roberts, Athens on Trial (wie Anm.1), 60, 65. Zum Leitnarrativ vgl. Keaney, Structure, 137f., wenngleich Keaneys Überzeugung von der Verfasserschaft des Aristoteles an dieser Stelle nicht als gesichert übernommen wird: „He had to deal with a series of constitutional changes, each of which, while it necessarily had some connection with that constitution which preceded it and that which followed it, might nevertheless seem to be unrelated to others in the series and to the constitution of the fourth century. Aristotle, however, perceived that there was one way in which this series, with its manifold varieties of constitutions, could largely be unified and tied together. This was to look at the whole series against the background of the democracy of the fourth century and to attempt to ascertain what relation the series and its components had to the final constitutional change in the series. In effect, this meant that his task was to explain how the radical democracy came into being. He chose to do this by emphasizing the beginning and growth of democratic elements in the state. To express this growth accurately, he employed a stylistic pattern which he had found useful in others of his writings, and which, wherever he used it, carried with it the notions of beginning, development, and maturity. […] A […] ramification of Aristotle’s main conception was that, for the power of the demos to grow, this growth must have been at the expense of other elements in the state“ – nämlich unter anderem auf Kosten der aristokratisch-oligarchischen.

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penkonstellationen, die wiederum von einzelnen Personen angeführt (und dominiert) worden sein sollen 87; diese Gruppen wiederum werden – einmal mehr – vorrangig entlang soziologischer Unterscheidungen, die hintergründig allerdings auch moralisch aufgeladen werden, entfaltet. Konkret handelt es sich dabei um die Leitgegensätze von ‚Vornehmen‘ (γνώρıμοι) auf der einen und ‚Menge‘ (πλῆθος) oder – positiver – Volk (δῆμος) auf der anderen Seite, von ‚Reichen‘ (πλούσιοι) und ‚Armen‘ (πένητες), von ‚Wenigen‘ (ὀλíγοι) und ‚Vielen‘ (πολλοí). 88 Eindeutig moralisch konnotiert ist dann die Gegenüberstellung von ‚Edlen‘ (ἐσθλοí) und ‚Schlechten‘ (κακοí). 89 Was konkrete Herrschaftsverhältnisse anbelangt, finden sich eindeutige Wer-

87 Vgl. exemplarisch die resümierende antagonistische Aufzählung der Gruppenkonstellationen und ihrer Anführer Aristot. Ath. pol. 28,2–5; vgl. die abweichende Liste der Staatsformen 41,2. Komplexer ist jedoch die Konstellation, die der Herrschaft der Dreißig Tyrannen vorausgegangen sein soll; hier erscheint in der „Athenaion Politeia“ die Gruppe der ‚Vornehmen‘ gespalten: vgl. 34,3. 88 Vgl. beispielsweise zu den Gegensätzen: Vornehme – Menge: Aristot. Ath. pol. 2,1; Reiche – Arme: 2,2; Wenige – Viele: 5,1, 41,2; Volk – Vornehme: 5,1, 11,2, 28,2 (hier rückprojiziert als grundsätzliches gruppenbezogenes Differenzierungsmodell), 34,3. Vgl. dazu Ober, Political Dissent (wie Anm.8), 354; Peter J. Rhodes, A Commentary on the Aristotelian Athenaion Politeia. 2nd Ed. Oxford 1993, 88, 345, 427 und passim. Zur Ähnlichkeit von Volks- und Mengenbegriff vgl. Aristot. Ath. pol. 12,1–2, 20,1, 20,3; zur Differenz im griechischen und insbesondere im demokratiekritischen Sprachgebrauch vgl. Raaflaub, Democracy, Oligarchy (wie Anm.42), 525; Piovan, Criticism Ancient and Modern (wie Anm.1), 309. Aristot. Ath. pol. 28,3–4, 34,1 wird einerseits hervorgehoben, dass ‚die Menge‘ beziehungsweise ‚das Volk‘ (insbesondere wohl durch Demagogen wie Perikles [siehe 27,1] und gefallsüchtige Anführer) getäuscht werden könne; andererseits aber bestrafe ‚die Menge‘, diejenigen, die sie getäuscht hätten – womit auch eingestanden wird, dass sie (ihre) Irrtümer einsehen und Verantwortliche dafür identifizieren kann (vgl. 28,3; 34,2). Wichtige und aufschlussreiche Sonderfälle bilden in der „Athenaion Politeia“ a) die Differenzierung zwischen den Gruppen der Bewohner der ‚Küste‘, denen der ‚Ebene‘ und denen des ‚Hügellandes‘ aus der Vorgeschichte der Tyrannis des Peisistratos (vgl. 13,4); b) der Gegensatz von (oligarchischen) Hetairien auf der einen und Volk beziehungsweise Menge auf der anderen Seite, den sich angeblich Kleisthenes zunutze machte (20,1; vgl. auch 34,3); c) der Gegensatz zwischen den Gruppen der ‚Volksfreunde‘ und der ‚Tyrannenfreunde‘ (ebd. 23,4). 89 Dieses Oppositionsmodell findet sich in einem Solon zugeschriebenen Zitat ebd.12,1. Unter den Solon zugeschriebenen Passagen finden sich weitere Oppositionsmodelle: 12,4 etwa wird ein Modell skizziert, dass die Oppositionskonzepte von Sklaven und Freien, Befreiten und ehemaligen Herren, Freien und Herren beinhaltet; es spielt für die weitere Binnendifferenzierung der „Athenaion Politeia“ allerdings keine signifikante Rolle. Ebd. findet sich zudem der Gegensatz von ‚Tugendhaften‘ und ‚Schlechten‘. Besonders deutlich tritt die moralische Aufladung der sozialen Semantik in der Gegenüberstellung 26,1 zutage – einer Passage, aus der allerdings auch hervorgeht, dass es dem Verfasser zufolge sowohl im Volk wie auch bei den Reichen ‚anständige‘ Menschen gab.

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tungen selten, sie sind dann jedoch unmissverständlich. 90 Generell scheinen bei den Bewertungen der einzelnen Verfassungsformen keine konkreten Entscheidungen, sondern eher zwei abstrakte Messkriterien im Vordergrund zu stehen: Zum einen wird – ohne nähere Erläuterung oder gar Exemplifizierung – suggeriert, dass in bestimmten ‚Verfassungszuständen‘ der athenischen Geschichte eine ‚gute‘ Herrschaft mit ‚guten‘ Gesetzen vorlag 91; zum anderen geht eine solche Herrschaft oft mit einer klaren Machthierarchie einher, die zumeist die soziale Ordnung ungebrochen in die politische Sphäre überträgt. 92 Konkrete Entscheidungen oder der Modus ihres Zustandekommens spielen hin90

Bezeichnenderweise sind eindeutig lobende Formulierungen beispielsweise allein beim Bezug auf die

Tyrannis des Peisistratos (vgl. 14,3; 16,2) oder mit Hinblick auf die Rolle des Areopags nach Salamis (23,1– 2) zu finden; das Lob demokratischer Systemphasen findet sich zwar auch, es wird jedoch direkt durch einen positiven Vergleich mit einer anderen – beispielsweise oligarchischen – Institution oder gar durch ein entsprechendes System relativiert: Vgl. zum Beispiel ebd.23,1–2, wo zunächst betont wird, dass „damals die Polis, und zugleich ihre demokratische Verfassung, in der Entwicklung fortgeschritten [sei] und […] dabei nach und nach an Stärke gewonnen“ habe (τότε μὲν οὖν μέχρι τούτου προῆλθεν ἡ πόλις, ἅμα τῇ δημοκρατíᾳ κατὰ μικρὸν αὐξανομένη), jedoch nach der Seeschlacht bei Salamis wird die danach (angeblich) angebrochene Herrschaft des Areopags, der für den erfolgreichen Ausgang des Kampfes wesentlich verantwortlich gemacht wird, in besonderem Maße gelobt: „Aus diesem Grund fügten sich die Athener seiner Autorität und wurden auch in dieser Zeit gut regiert“ (23,2: διὰ ταύτην δὴ τὴν αἰτíαν παρεχώρουν αὐτῆς τῷ ἀξιώματι καὶ ἐπολιτεύθησαν Ἀθηναῖοι καλῶς καὶ κατὰ τούτους τοὺς καιρούς). 91

Neben dem gelegentlich auftauchenden Hinweis auf die Kopplung von guter Regierung und guten

Gesetzen (vgl. etwa ebd.16,8; 26,2 [anschaulich durch ein argumentum ex negativo]; vgl. auch die Belege unten Anm.95) findet sich eine Konkretisierung dessen, was nach Auffassung des Verfassers eine gute Herrschaft auszeichnen soll, allenfalls in Aristot. Ath. pol. 23,2: „Es war nämlich zu der Zeit so, daß sie für den Krieg übten, bei den Griechen in hohem Ansehen standen und gegen den Willen der Spartaner die Vorherrschaft zur See gewannen.“ (συνέβη γὰρ αὐτοῖς κατὰ τὸν χρόνον τοῦτον τά τε εἰς τὸν πόλεμον ἀσκῆσαι καὶ παρὰ τοῖς Ἕλλησιν εὐδοκιμῆσαι καὶ τὴν τῆς θαλάττης ἡγεμονíαν λαβεῖν ἀκόντων τῶν Λακεδαιμονíων). Umgekehrt wird dann an der vorrangig innenpolitisch ausgerichteten Gesetzgebung Solons kritisiert, dass sie uneindeutig – und mithin wohl auch: ‚schlecht‘ – gewesen sei, so dass es eine hohe Zahl an Klagen zur Klärung von darüber entbrannten Streitigkeiten gegeben habe; vgl. 9,2; 35,2. 22,1, wird betont, „daß die Tyrannis die Gesetze Solons, weil sie nicht angewandt wurden, außer Kraft setzte, und daß Kleisthenes andere, neue Gesetze erließ, mit denen er auf die Gunst der Menge abzielte“ (καὶ γὰρ συνέβη τοὺς μὲν Σόλωνος νόμους ἀφανíσαι τὴν τυραννíδα διὰ τὸ μὴ χρῆσθαι, καινοὺς δ᾽ ἄλλους θεῖναι τὸν Κλεισθένη στοχαζόμενον τοῦ πλήθους) – insbesondere habe Kleisthenes den Ostrakismos etabliert (dazu vgl. auch 23,3). 92

Besonders deutlich wird dies 28,1: „Dann [= nach dem Tod des Perikles; M. N.] nämlich nahm sich das

Volk erstmals einen Führer, der bei den besseren Leuten nicht gut angesehen war; in den früheren Zeiten hingegen hatten die Besseren immer das Volk geführt.“ (πρῶτον γὰρ τότε προστάτην ἔλαβεν ὁ δῆμος οὐκ εὐδοκιμοῦντα παρὰ τοῖς ἐπιεικέσιν, ἐν δὲ τοῖς πρότερον χρόνοις ἀεὶ διετέλουν οἱ ἐπιεικεῖς δημαγωγοῦντες). Exemplarisch deutlich wird dies zudem an dem tendenziell von Kompetenzen, sozialer

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gegen keine Rolle bei der Bewertung der einzelnen politischen Ordnungen – wenn man eben einmal davon absieht, dass kurzfristige Entscheidungsfindungsprozesse mit wenigen Beteiligten, deren Teilhabe zudem an die soziale Hierarchie gekoppelt ist, tendenziell präferiert werden. Gute Entscheidungen sind hier Entscheidungen von kleinen Gremien oder gar von Einzelpersonen 93, ohne dass abstrakte, über den

Zusammensetzung und Verantwortlichkeit her positiv geschilderten Areopag: So wird etwa 3,6 betont, in der vordrakonischen Verfassung Athens sei diesem Gremium die entscheidende ordnungsstiftende und -sichernde Funktion innerhalb des Institutionengefüges zugekommen, wobei die Rekrutierung des Gremiums aufgrund sozioökonomischer Kriterien (Herkunft und Vermögen) erfolgte. Die detaillierte Schilderung der Funktionen des Areopags legt dies auch in der Folge nahe: in der Drakon zugeschriebenen Ordnung (vgl. 4,4); unter Solon (8,4). 23,1 wird sogar suggeriert, dass der Areopag verantwortlich sei für den Sieg in der Seeschlacht von Salamis – und zwar ausdrücklich weder die Strategen (siehe ebd.) noch die Theten. Zu deren politischem Legitimationsmythos (kritisch dazu Jennifer Tolbert Roberts, Aristocratic Democracy: The Preservance of Timocratic Principles in Athenian Government, in: Athenaeum 64, 1986, 355– 369, hier: 359f.; Schmidt-Hofner, Das klassische Griechenland (wie Anm.22), 128; Hans van Wees, Politics and the Battlefield. Ideology in Greek Warfare, in: Anthony Powell (Ed.), The Greek World. New York 1997, 153–178) bietet dies gewissermaßen ein Gegenmodell – ähnlich wie dies auch Ps.-Xenophon unternahm (siehe oben Anm.61). Ephialtes und Themistokles hätten die Areopag-Herrschaft schließlich beendet, indem sie den Rat auflösten (vgl. Aristot. Ath. pol. 25,3–5, 26,1, 41,2). An dieser Stelle ist der Wendepunkt der verfassungsgeschichtlichen Erzählung der „Athenaion Politeia“: Fortan ging es mit der Ordnung nur noch abwärts, weil einseitig das Volk dominierte, während die ‚Vornehmen‘ führerlos waren; dies führte letztlich zu einer Herrschaft der – negativ konnotierten – ‚Demagogen‘: „Der Rat der Areopagiten wurde also auf diese Weise seiner Aufsichtsfunktion beraubt. In der Folgezeit löste sich die Staatsordnung durch eifrig tätige Demagogen weiter auf. Denn in dieser Periode ergab es sich, daß die oberen Schichten keinen Führer hatten.“ (26,1: Ἡ μὲν οὖν τῶν Ἀρεοπαγιτῶν βουλὴ τοῦτον τὸν τρόπον ἀπεστερήθη τῆς ἐπιμελεíας. μετὰ δὲ ταῦτα συνέβαινεν ἀνíεσθαι μᾶλλον τὴν πολιτεíαν διὰ τοὺς προθύμως δημαγωγοῦντας. κατὰ γὰρ τοὺς καιροὺς τούτους συνέπεσε μηδ᾽ ἡγεμόνα ἔχειν τοὺς ἐπιεικεστέρους). Die Demagogie sieht der Verfasser einerseits bestimmt durch eine Änderung der sozialen Rekrutierung der Anführer des Volkes; vgl. 28,1: „Dann nämlich nahm sich das Volk erstmals einen Führer, der bei den besseren Leuten nicht gut angesehen war; in den früheren Zeiten hingegen hatten immer die Besseren das Volk geführt.“ (πρῶτον γὰρ τότε προστάτην ἔλαβεν ὁ δῆμος οὐκ εὐδοκιμοῦντα παρὰ τοῖς ἐπιεικέσιν, ἐν δὲ τοῖς πρότερον χρόνοις ἀεὶ διετέλουν οἱ ἐπιεικεῖς δημαγωγοῦντες). Zum anderen sei ein rhetorischer und habitueller Stilwandel (28,3–4 und passim) zu konstatieren. 8,2 wird der Eindruck erweckt, der unter Solon erfolgte Verlust der Kompetenz zur Bestimmung der Archonten sei deshalb bedauerlich, weil die Wahl der Magistrate hier kompetenzorientiert erfolgt sei. Vgl. auch die Betonung des grundständig patriarchalen Zuges der Herrschaft des Peisistratos über Athen 16,2–3, 16,7–9. Kleisthenes’ ‚demokratische‘ Herrschaft wird hingegen kritisch dargestellt; vgl. 22,1. 93 Vgl. das zweifach vorzufindende Lob des Peisistratos in 14,3 und 16,2; dazu vgl. unten (mit Anm.94). In Aristot. Ath. pol. 18,1 wird Hippias aufgrund seiner ‚guten‘ Regierungstätigkeit gelobt, während Hipparchos getadelt wird; 19,1 wird dann allerdings auch – den Regeln der Tyrannentopik folgend – die Wende der Herrschaft des Hippias zum Gewaltregime nachvollzogen. Vgl. zudem 16,7 zum grundsätzlichen Qua-

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Einzelfall hinausweisende Kriterien dafür erörtert werden, was deren Entscheidungen gut macht. Die Qualität der Entscheidungen wird vorausgesetzt, jedoch kaum empirisch begründet 94 – einzig ‚gute‘ Gesetze und Gesetzeskonformität 95 oder aber

litätsverlust der Herrschaft unter den Söhnen des Peisistratos im Vergleich zu der Herrschaft ihres Vaters. Vgl. zudem die ausführliche Darstellung des Areopags im Unterschied zum Rat – der βουλή ebd.8,4. Die Geschichte des späten 5.Jahrhunderts wiederum wird als eine Geschichte geschrieben, in der einerseits Kombinationen guter und weiser Anführer beider dominierender Gruppen gut zusammengearbeitet hätten (vgl. 23,3–5), andererseits aber wird dann behauptet, dass die danach erfolgte direktere Herrschaftsübernahme des Volkes die Folge gehabt habe, dass a) die Mehrzahl der Bundesgenossen zunehmend ungerechter behandelt würde (24,2) und b) über die durch den Seebund generierten Einnahmen große Teile des Volkes als Teil einer ständig unterhaltenen Militärmacht subventioniert worden seien (ebd., 24,3, 25,1). Ephialtes wird als Person lobend hervorgehoben (25,1). Die perikleische Ära erscheint dann zugleich als Phase der absoluten Herrschaft des Volkes und des Perikles (vgl. 27), bei der sich die Qualität der Gerichtsurteile infolge der Richterbesoldung verschlechtert (27,4) und die Bestechung ausgeweitet (27,5) habe. Perikles wird dabei einerseits als Verursacher vermeintlich fataler Fehlentwicklungen wie der Richterbesoldung identifiziert (vgl. 27,3–5), zugleich jedoch als mäßigender Faktor bestimmt, mit dessen Tod sich das Volk doch noch weiter radikalisiert habe (28,1). Vgl. zum Perikles-Bild Roberts, Athens on Trial (wie Anm. 1), 65f. In der Überleitung Aristot. Ath. pol. 41,2 hingegen wird generell erklärt, dass die Übernahme der Gerichtsbarkeit durch das Volk sinnvoll gewesen sei, „denn die Wenigen sind durch Geld und Gefälligkeiten leichter zu bestechen als die Vielen“ (εὐδιαφθορώτεροι γὰρ ὀλíγοι τῶν πολλῶν εἰσιν καὶ κέρδει καὶ χάρισιν); zur erzählerischen Scharnier- und inhaltlichen Sonderstellung von Kap. 41 vgl. Keaney, Structure (wie Anm.86), 119 und passim. Rhinon, der im Jahr 403 als Angehöriger des von der oligarchischen Volksversammlung, welche die Dreißig Tyrannen und ihre Anhänger aus der Stadt vertrieben hatte, eingesetzten (zweiten) Zehnmännerkollegiums bei Versöhnungsgesprächen eine entscheidende Rolle spielte, wird ausgesprochen positiv dargestellt (vgl. Aristot. Ath. pol. 38,3–4); er und seine Kollegen wurden „wegen ihrer volksfreundlichen Haltung (in einem Volksbeschluß) belobigt; obwohl sie ihre Aufgabe in der Oligarchie übernommen hatten, legten sie in der Demokratie darüber Rechenschaft ab, und niemand erhob gegen sie Klage, weder jemand von denen, die in der Stadt geblieben, noch jemand von denen, die aus Piräus zurückgekehrt waren; im Gegenteil wurde Rhinon eben deswegen sofort zum Strategen gewählt.“ (38,4: οἱ δὲ περὶ τὸν Ῥíνωνα διά τε τὴν εὔνοιαν τὴν εἰς τὸν δῆμον ἐπῃνέθησαν, καὶ λαβόντες τὴν ἐπιμέλειαν ἐν ὀλιγαρχíᾳ τὰς εὐθύνας ἔδοσαν ἐν δημοκρατíᾳ, καὶ οὐδεὶς οὐδὲν ἐνεκάλεσεν αὐτοῖς οὔτε τῶν ἐν ἄστει μεινάντων οὔτε τῶν ἐκ Πειραιέως κατελθόντων, ἀλλὰ διὰ ταῦτα καὶ στρατηγὸς εὐθὺς ᾑρέθη Ῥíνων). 94

Vgl. das Lob der Entscheidungen des Peisistratos ebd.14,3 und 16,2. Eine Ausnahme bildet 27,4: Dort

wird argumentiert, dass die Richterbesoldung die Qualität der Gerichtsurteile verschlechtert habe, „weil sich zunehmend mehr die durchschnittlichen als die besseren Menschen um die Auslosung zu Richtern bemühten“ (κληρουμένων ἐπιμελῶς ἀεὶ μᾶλλον τῶν τυχόντων ἢ τῶν ἐπιεικῶν ἀνθρώπων). 95

Vgl. etwa 16,8 (Peisistratos); 26,2 (anschaulich durch ein argumentum ex negativo); 28,5 (Theramenes

wandte sich gegen keine Ordnung, solange sich deren Vertreter an die Gesetze hielten, wie es Bürgerpflicht sei); 31,2 (über das Gesetzesverständnis in der Verfassung der 100); 35,1 (Verfassungs- und Gesetzesmissachtung sowie tyrannische Gewaltherrschaft durch die Dreißig Tyrannen, nachdem diese laut ebd.35,2 suggeriert hatten, die Gesetze optimieren zu wollen).

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machtpolitischer Erfolg 96 erscheinen ausgesprochen positiv. Bezeichnend ist, dass konkrete innenpolitische Leistungen hingegen keine signifikante Rolle spielen. 97 Die vorgeblichen Alternativen zur Demokratie bleiben diffus, ihr Vorhandensein ist jedoch messbar; ihr einziges verbindendes Merkmal ist, dass es relativ kleine Herrschaftsgruppen sind. So wird etwa die Einrichtung der ominösen Areopag-Herrschaft im Zusammenhang mit der Seeschlacht von Salamis zwar auf ein Ereignis zurückgeführt 98, das daran anschließend behauptete Gutsein dieser Herrschaft jedoch lediglich konstatiert und ausschließlich außenpolitisch begründet. 99 Die Hintermänner der Herrschaft der 400 und dann der 5000 Hopliten im Jahr 411 werden vom Verfasser der „Athenaion Politeia“ ausgesprochen positiv charakterisiert 100, während von ihrer Herrschaft selbst nahezu nur ihre Verfassungsskizzen referiert werden. 101 Ähnlich positiv werden Einzelherrscher charakterisiert: Peisistratos wird zugeschrieben, er „verwaltete das Gemeinwesen mehr zum Nutzen der Polis als auf tyrannische Art und Weise“. 102 Der zunächst zu den Kollektivtyrannen gehörende Theramenes wiederum wird als zentraler Akteur einer ominösen Zwischenphase zwischen dem Ende der Herrschaft der 400 und vor der Wiedereinrichtung der Demokratie 410 charakterisiert; der Verfasser der „Athenaion Politeia“ erklärt dazu ohne weitere Begründung: „Nach allgemeiner Ansicht wurden die Athener gut re-

96 So im Fall der angeblichen Areopag-Herrschaft nach den Perserkriegen; vgl. 23,2–3. 97 Einige Hinweise auf positive Leistungsanerkennungen finden sich an bezeichnenden Stellen: Schwach tritt dies bei Solon zutage, doch werden dessen Integrationsleistungen eher negativ beschrieben; vgl. 5,2–13,1. Zu den Leistungen des Peisistratos wird hingegen – anerkennend und zugleich mit Elementen der Tyrannentopik vermischt – die Beruhigung und Domestizierung der athenischen Gesellschaft gezählt; vgl. 16,7–8. Rhinon und die übrigen Angehörigen des (zweiten) Zehnmännerkollegiums hingegen werden für ihre Friedens- und Aussöhnungsleistung belobigt, wobei bezeichnend ist, dass hier innen- und außenpolitisches Verhandlungsgeschick ineinandergreifen; vgl. 38,4. 98 Vgl. ebd.23,1. 99 Vgl. ebd.23,2. 100 Vgl. ebd.32,2; 33,2. 101 Vgl. ebd.29–33. Dies steht im deutlichen Kontrast zu der Herrschaft der Dreißig Tyrannen, die trotz – vermeintlich positiver Anfänge – als vorrangig negative Tyrannis charakterisiert wird: vgl. ebd.35–38. 102 Nach ebd.14,3: „Peisistratos hingegen nahm die Herrschaft an sich und verwaltete das Gemeinwesen mehr zum Nutzen der Polis als auf tyrannische Art und Weise.“ (Πεισíστρατος δὲ λαβὼν τὴν ἀρχὴν διῴκει τὰ κοινά πολιτικῶς μᾶλλον ἢ τυραννικῶς); 16,2: „Peisistratos verwaltete, wie gesagt, das Gemeinwesen maßvoll und mehr zum Nutzen der Polis als auf tyrannische Art und Weise.“ (διῴκει δ᾽ ὁ Πεισíστρατος, ὥσπερ εἴρηται, τὰ περὶ τὴν πόλιν μετρíως καὶ μᾶλλον πολιτικῶς ἢ τυραννικῶς); gemeinsam ist diesen Sätzen – ungeachtet einer Wortumstellung – die Kernformulierung πολιτικῶς μᾶλλον ἢ τυραννικῶς.

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giert in dieser Zeit, in der Krieg herrschte und die Verfassung auf den Schwerbewaffneten ruhte.“ 103 Im Kern hat der Verfasser der „Athenaion Politeia“, wie Josiah Ober betont hat, wesentliche Probleme der Demokratiekritik dadurch umgangen, dass er einfach eine Verfassungsgeschichte der athenischen Demokratie schrieb; rückblickend lassen sich Urteile leichter fällen. 104 Bestimmte monarchische, vor allem aber oligarchisch-aristokratische Konstellationen innerhalb der athenischen Geschichte können dann gegenüber dem demokratischen Strang positiv betont werden – und zwar umso einfacher, je weiter diese Herrschaftskonstellationen in der Vergangenheit liegen. Doch bleiben bezeichnenderweise die Begründungen für die Qualität dieser Herrschaftsformen ebenso diffus wie die Kritik an der Demokratie stereotyp; ein abstrakterer Gegenentwurf wird durch diese historische Argumentation nicht ersichtlich. Doch lassen sich keine systematischen und empirischen Begründungen für eine antidemokratische Perspektive auf das Entscheiden und für eine Kritik an der Demokratie vorlegen, die zugleich den Entwurf einer grundsätzlichen und zugleich konkreten, utopischen Alternative beinhaltet? Solche Überlegungen finden sich in der Tat in philosophischen Schriften, von denen hier einerseits der normative Ansatz Platons und später dann auch der empirische Zugriff von Aristoteles vorgestellt und erörtert werden sollen.

V. Platons „Politeia“: Personalisiertes statt institutionelles Entscheiden Platons Umgang mit dem politischen Entscheiden ist originell, normativ und praxisfern. Der Begründer der Philosophie als von der Politik distinktem Praxisfeld reinen, wahrheitsorientierten Räsonierens umgeht letzten Endes das Problem 105, 103 Ebd.33,2: δοκοῦσι δὲ καλῶς πολιτευθῆναι κατὰ τούτους τοὺς καιρούς, πολέμου τε καθεστῶτος καὶ ἐκ τῶν ὅπλων τῆς πολιτεíας οὔσης. Ein ähnliches Urteil – ebenfalls ohne weitere Erklärung – fällt interessanterweise auch Thukydides in Thuk. 8,97 über die Verfassung der Fünftausend. Zum tendenziell positiven, die zeitgenössische Umstrittenheit allerdings betonenden Theramenes-Bild der „Athenaion Politeia“ siehe auch Aristot. Ath. pol. 36–37, 28,5. 104 So Ober, Political Dissent (wie Anm.8), 363. 105 Zu Platons Begründung und Konzeptualisierung der Philosophie als autonomer, praxisferner Disziplin vgl. Katarina Nebelin, Platon als politischer Verlierer: Flucht in die Theorie?, in: Sabine Graul/Marian Nebelin (Hrsg.), Verlierer der Geschichte. Von der Antike bis zur Moderne. (Chemnitzer Beiträge zur Poli-

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dem Adressaten mitzuteilen, wie gute politische Entscheidungen getroffen werden können, indem er darlegt, dass das Entscheiden selbst zwar institutionelle Voraussetzungen in Gestalt einer bestimmten, hierarchischen sozialen Ordnung benötige, aber selbst nicht eigentlich eine institutionelle Angelegenheit sei. Vielmehr seien gute Entscheidungen das Resultat guter Menschen 106: „[W]er vernünftig handeln will, es sei nun in eigenen oder öffentlichen Angelegenheiten“, muss Platons Sokrates zufolge die „Idee des Guten“ (τοῦ ἀγαθοῦ ἰδέα) erkannt und ‚geschaut‘ haben. 107 Die Qualität politischen Entscheidens wird so zum Resultat der persönlichen Qualität der Herrschenden – und das sind in der Konzeption der platonischen „Politeia“ bekanntlich die Philosophen. 108 Vor diesem Hintergrund ist die Annahme grundlegend, dass niemand per se gerne regiere, sondern dass man dies um der Schwächeren und Beherrschten willen tue, um dadurch entweder Geld oder Ehre oder aber die Abwendung einer Strafe zu erlangen. 109 Die moralisch Guten würden weder durch Geld noch durch Ehre zum Regieren gebracht werden, sondern sähen sich aufgrund der Angst vor der Inkompetenz und der moralischen Ungeeignetheit der anderen geradezu zur Herrschaft gezwungen, denn:

tik und Geschichte, 4.) Berlin 2008, 103–134; dies., Philosophie und Aristokratie (wie Anm.17), 346–355; vgl. zudem Kai Trampedach, Platon, die Akademie und die zeitgenössische Politik. (Hermes-Einzelschriften, 66.) Stuttgart 1994, 169, zu „Platons Fundamentalkritik sowohl der realen politischen Theorie als auch der realen politischen Praxis“, die „auf der konsequenten Ablehnung einer eigenständigen politischen Sphäre“ beruhe. Roberts, Athens on Trial (wie Anm.1), 84, führt „Plato’s opposition to democracy“ wenigstens „in part to his intellectual authoritarianism“ und seine „class prejudice“ zurück. Ober, Political Dissent (wie Anm.8), 217, macht zudem darauf aufmerksam, dass bereits das Setting des Dialogs im Privathaus des Kephalos unterstreicht, dass es in der „Politeia“ um die Überlegungen einer „hermetic, closed society, separated from the external world of Athens“ geht. 106 Vgl. beispielsweise Plat. rep. 443c–444a, 488d–489c, 517b–c. Grundlegend ist hierbei Platons „central polis/soul analogy“: Ober, Political Dissent (wie Anm.8), 232; vgl. Trampedach, Platon (wie Anm.105), 170. 107 Plat. rep. 517c, Zitat: καὶ ὅτι δεῖ ταύτην ἰδεῖν τὸν μέλλοντα ἐμφρόνως πράξειν ἢ ἰδíᾳ ἢ δημοσíᾳ; Text und Übersetzung nach: Platon, ΠΟΛΙΤΕΙΑ. Der Staat. Bearb. v. Dietrich Kurz. Griechischer Text v. Émile Chambry. Deutsche Übers. v. Friedrich Schleiermacher. (Werke in 8 Bänden, Griechisch und Deutsch, Bd. 4.) Darmstadt 1971. 108 Vgl. besonders die verschiedenen Fassungen des sogenannten Philosophenkönigssatzes; vgl. dazu mit allen Belegen in und jenseits der „Politeia“: Henning Ottmann, Geschichte des politischen Denkens. Bd. 1: Die Griechen. Teilbd. 2: Von Platon bis zum Hellenismus. Stuttgart 2001, 48f., hier bes. in Plat. rep. 473c– 474a und 487e; vgl. außerdem 519b–520d. Vgl. außerdem Nebelin, Philosophie und Aristokratie (wie Anm. 17), 346–355. 109 Siehe Plat. rep. 346e–347a.

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„Die größte Strafe aber ist es, von Schlechteren regiert zu werden, wenn einer nicht selbst regieren will; und aus Furcht vor dieser scheinen mir die Rechtschaffenen zu regieren, wenn sie regieren. Und dann gehen sie an die Regierung, nicht als stände ihnen etwas Gutes bevor oder dächten sie sich dabei sehr wohl zu befinden, sondern als etwas Notwendiges, weil sie weder Bessere, als sie selbst sind, haben, um denen die Regierung zu überlassen, noch auch ihnen gleiche. Denn es scheint, wenn es eine Stadt von rechtschaffenen Männern gäbe, würde man sich um das Nichtregieren ebenso streiten wie jetzt um das Regieren, und daraus würde dann offenbar sein, daß der in der Tat wahrhafte Herrscher nicht in der Art hat, das ihm selbst Zuträgliche zu bedenken, sondern das dem Regierten. Daher auch jeder Verständige vorziehen wird, sich von anderen Nutzen bringen zu lassen, als sich viel zu schaffen zu machen, um anderen zu nützen.“ 110

Platon verkehrt die Kritik Pseudo-Xenophons: Das Nicht-Regieren ist nicht mehr kritisierte Praxis, sondern persönliches Ideal. 111 Der Fokus wird von den Institutionen auf die Personen verschoben. Mochte in der oligarchischen Demokratiekritik die Auffassung vorherrschen, dass das Entscheiden als Abwägungsprozess unter einer ausgewählten Gruppe ‚Guter‘ anstelle von allen stattfinden sollte, so konnte Platon auf das Abwägen verzichten. Seine Idealherrscher, die Philosophen, waren fähig, aufgrund ihrer gemeinsamen Schau des Guten das Wahre und Richtige zu erkennen und dies im privaten wie öffentlichen Bereich durch vernunftbasiertes Handeln um- und in die Wirklichkeit zu übersetzen. 112 Doch ging es Platon nicht

110 Plat. rep. 347c/d: τῆς δὲ ζημíας μεγíστη τὸ ὑπὸ πονηροτέρου ἄρχεσθαι, ἐὰν μὴ αὐτὸς ἐθέλῃ ἄρχειν· ἣν δεíσαντές μοι φαíνονται ἄρχειν, ὅταν ἄρχωσιν, οἱ ἐπιεικεῖς, καὶ τότε ἔρχονται ἐπὶ τὸ ἄρχειν οὐχ ὡς ἐπ᾽ ἀγαθόν τι ἰόντες οὐδ᾽ ὡς εὐπαθήσοντες ἐν αὐτῷ, ἀλλ᾽ ὡς ἐπ᾽ ἀναγκαῖον καὶ οὐκ ἔχοντες ἑαυτῶν βελτíοσιν ἐπιτρέψαι οὐδὲ ὁμοíοις. ἐπεὶ κινδυνεύει πόλις ἀνδρῶν ἀγα θῶν εἰ γένοιτο, περιμάχητον ἂν εἶναι τὸ μὴ ἄρχειν ὥσπερ νυνὶ τὸ ἄρχειν, καὶ ἐνταῦθ᾽ ἂν κα ταφανὲς γενέσθαι ὅτι τῷ ὄντι ἀληθινὸς ἄρχων οὐ πέφυκε τὸ αὑτῷ συμφέρον σκοπεῖσθαι ἀλλὰ τὸ τῷ ἀρχομένῳ. 111 Vgl. Nebelin, Philosophie und Aristokratie (wie Anm.17), 354: „Wer herrscht, ist kein Politikum; nichts, woran das Selbstverständnis oder gar das Selbstbewusstsein eines Menschen hängen könnte – dass geherrscht werden muss, wird vielmehr als Notwendigkeit und als eine anstrengende, wenig einträgliche Aufgabe begriffen. Alle Menschen sollten ein interessenloses Interesse daran haben, dass die Polis gut verwaltet wird; aber nur die ‚Schlechten‘ streben danach, um jeden Preis selbst zu herrschen und schrecken dafür auch nicht vor Schmeichelei, Bestechung und Unrechttun zurück.“ 112 Siehe etwa Plat. rep. 517b–c; vgl. Nebelin, Philosophie und Aristokratie (wie Anm.17), 354; Ober, Political Dissent (wie Anm.8), 234f.; Kai Trampedach, Platons „Politeia“: die Alternative zum Bürgerstaat?, in: GWU 47, 1996, 427–433, hier: 431.

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eigentlich um eine Technik, sondern um das Wissen um eine Wahrheit. Weil folglich alle Philosophenherrscher dasselbe Wissen besitzen, müssen sie, wie Egon Flaig, Katarina Nebelin und Kai Trampedach herausgearbeitet haben, nichts abwägen und folglich auch nichts entscheiden: Es gibt für sie immer nur eine Handlungsoption – die richtige 113; denn „unter Weisen kann es a priori keinen Dissens geben, andernfalls wären einige nicht Weise“ 114. Dass in Platons Idealstaat auch demokratische Grundrechte wie die Redefreiheit nicht nur im politischen Raum, sondern bis in die Dichtung hinein eingeschränkt und kontrolliert werden 115 oder dass Platon ein äußerst starr gefügtes und hierarchisches Gesellschaftsmodell entwarf, das Partizipation ohnehin auf wenige beschränkt hätte 116, fällt da kaum mehr ins Gewicht. Stattdessen extrapoliert Platons Zugriff den Extrempunkt der antidemokratischen und oligarchischen Perspektive auf das Entscheiden: Wenn nämlich nicht meinende Menschen in Institutionen, 113 Egon Flaig, Weisheit und Befehl. Platons „Politeia“ und das Ende der Politik, in: Saeculum 45, 1994, 34–70, 40 und passim; Nebelin, Philosophie und Aristokratie (wie Anm.17), 349; Trampedach, Platon, die Akademie und die zeitgenössische Politik (wie Anm.105), 192. 114 Flaig, Weisheit und Befehl (wie Anm.113), 67. 115 Vgl. dazu Plat. rep. 376e–398b; zu Platons Dichterkritik vgl. etwa Ottmann, Geschichte des politischen Denkens (wie Anm.108), 41–45, sowie Morawetz, Der Demos als Tyrann (wie Anm.35), 171; zu ihren potentiellen gesellschaftlichen Auswirkungen vgl. Ober, Political Dissent (wie Anm.8), 223–228. Kurt A. Raaflaub, Democracy, in: Konrad H.Kinzl (Ed.), A Companion to the Classical Greek World. Oxford 2006, 387–415, hier: 399, hob hervor, dass Aristokraten in ihren Auseinandersetzungen mit demokratischen Freiheitskonzeptionen einzig die Redefreiheit nicht adaptieren konnten, so dass diese eine Eigenheit der demokratischen Perspektive blieb: „They trumped the undifferentiated democratic notion of freedom (eleutheria) with an aristocratic concept of ‚full freedom‘ (eleutheriotes) that took social status and economic independence into account […]. And they set against the democrats’ inclusive interpretation of demos (all citizens) their own exclusive understanding (only the lower classes): in their view, demokratia was rule by the masses, the rabble (ochlos, hence later ochlokratia, Polybios 6.4.6, 57.9). The only exception is ‚freedom of speech,‘ which did not fit into the aristocratic canon of political values and thus remained a specifically democratic achievement.“ 116 Vgl. beispielsweise Plat. rep. 520e–521a; vgl. dazu Nebelin, Philosophie und Aristokratie (wie Anm. 17), 351–355; Gerasimos Santas, Plato’s Criticisms of Democracy in the Republic, in: David Keyt/Fred D. Miller, Jr. (Eds.), Freedom, Reason, and the Polis. Essays in Ancient Greek Political Philosophy. Cambridge 2007, 70–89, hier: 82 („the ideal city is a meritocracy – merit being talent and education for the main social functions – and it is just for the city to enforce this, so that there is no free choice of occupation“); Trampedach, Platon (wie Anm.105), 191–196, 199–202 (ebd.199: „eine beispiellose Spaltung der Bürgerschaft“), sowie Ober, Political Dissent (wie Anm.8), 221, der vor allem das „hierarchy-supporting principle of ‚one person/ one function‘“ hervorhebt. Flaig, Weisheit und Befehl (wie Anm.113), Anm.32, führt dies auf eine Form des „Seelenrassismus“ zurück. Als Beispiel für die reduzierte persönliche wie soziale Dynamik der Wächter siehe Plat. rep. 520e–521a; dazu vgl. auch mit weiteren Belegen Ober, Political Dissent (wie Anm.8), 227f.

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sondern die allwissenden Allerbesten die Politik bestimmen, verschwindet mit jedweder Partizipationschance für die anderen auch das Entscheiden an sich, denn „[d]ie platonischen Wächter […] benötigen keinen Raum der Entscheidungsfindung, da sie aller Entscheidung enthoben sind.“ 117 Vor diesem Hintergrund erscheint Platons politische Philosophie in der „Politeia“ geradezu irreal aufgrund der ihr zugrundeliegenden „Priorität der Theorie: Platons paradigmatische Polis besitzt mehr Wahrheit als die Praxis jemals erreichen kann.“ 118 So wie Platon solcherart die praxisfernste Perspektive auf das demokratische Entscheiden wählte, um von dort aus die Unzulänglichkeit der zeitgenössischen Demokratie zu beklagen, ließ Aristoteles sich auf eine empirische Analyse des real existierenden demokratischen Entscheidens ein – und musste letztlich dessen Funktionieren eingestehen.

VI. Aristoteles’ „Politik“: Die Entdeckung der kollektiven Vernunft Besonderheit und Herausforderung der „Politik“ des Aristoteles bestehen bekanntlich darin, dass sie mehr als eine Theorie der Demokratie enthält. 119 Dabei machte Aristoteles zudem „no secret of his hostility to democracy“, wie Jill Frank festgehalten hat. 120 Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, das politische Entscheiden aus Sicht der antidemokratischen Ideologie in Aristoteles’ „Politik“ auf ein besonders prägnantes Beispiel zu beschränken: die sogenannte Summierungstheorie im dritten Buch. Die Besonderheit der dort entfalteten Theorie besteht darin, den Versuch eines deskriptiven Nachvollzugs des Funktionierens der Entscheidungsfindung in der athenischen Demokratie zu liefern – und dies, ohne vorauszusetzen, dass in der Demokratie grundsätzlich und ausschließlich schlecht geurteilt werde. Dass das Entscheiden nunmehr eine Rolle spielte, hängt damit zusammen, dass, wie Malcolm Schofield zu Recht betont hat, für Aristoteles grundsätzlich „[r]uling the city by his decision-making is what a citizen’s job is as a citizen.“ 121 Doch wie genau sieht Aristoteles’ Entwurf nun aus? 117 Trampedach, Platons „Politeia“ (wie Anm.112), 430. 118 Trampedach, Platon (wie Anm.105), 209. 119 Vgl. Ober, Political Dissent (wie Anm.8), 332–338; Peter Spahn, Aristoteles, in: Iring Fetscher/Herfried Münkler (Hrsg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen. Bd. 1. München 1988, 397–437, hier: 424f. 120 Jill Frank, A Democracy of Distinction. Aristotle and the Work of Politics. Chicago 2005, 8. 121 Schofield, Aristotle and the Democratization of Politics (wie Anm.30), 300.

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Anders als Platon anerkennt Aristoteles die Verschiedenheit der moralischen Konstitution der Bürger 122; für ihn folgt daraus auch – anders als für Platon – kein unterschiedliches Herrschaftsanrecht 123, obwohl Aristoteles normativ die Herrschaft von Männern bevorzugt, die zugleich ethisch ‚guter Mann‘ (ἀνὴρ ἀγαθός) und politisch ‚rechtschaffener Bürger‘ (πολíτης σπουδαῖος) wären, weil einzig dies eine stabile und wahrhaftige politische Einheit konstituiere. 124 Zentrales Element der Tugend der Bürger ist es nun, sowohl zu herrschen als auch beherrscht werden zu können; dies ist Aristoteles zufolge nicht allein für das Funktionieren politischer Gemeinschaft, sondern auch für das Verstehen politischer Herrschaftsverhältnisse notwendig. 125 In der Tendenz bevorzugen diese anthropologischen Setzungen oligarchische und vor allem demokratische Regime, da die Monarchie üblicherweise keine Ämterrotation kennt. Für den Aristoteles des dritten Buches der „Politik“ bezeichnet der Begriff Demokratie jedoch die entartete Verfassungsform der Politie 126; die Politie wiederum ist eine Herrschaft des Volkes, das vereint über den gemeinsamen Nutzen entscheidet. 127 Dabei sucht Aristoteles klarzustellen, dass nicht die Zahl der Herrschenden über die Beherrschten die Staatsform bestimme – also Demokratie als Herrschaft der Mehrheit und Oligarchie als Herrschaft der Minderheit aufzufassen wären. 128 Stattdessen sei die Demokratie die Herrschaft der ‚Armen‘ und die Oligarchie die Herrschaft der ‚Reichen‘; dass die eine als Herrschaft der Mehrheit und die andere als Herrschaft der Minderheit missdeutet würden, hänge damit zusammen, dass diese Gruppen sich empirisch entsprechend verteilten, es also de facto mehr Arme als Reiche gäbe. 129 Aristoteles unterstellt für die Politie zunächst, dass das Volk als Gesamtheit nur

122 Vgl. Aristot. pol. 3,4, 1277a1–4, 3,4, 1277a10–12. 123 So definiert Aristoteles den ‚Bürger‘ als jemanden, der Teil habe an Richterschaft und politischer Herrschaft; Aristot. pol. 3,1 1275a22–25. 124 Zur Differenzierung siehe Aristot. pol. 3,4, 1276b17–18; zum gesamten Diskurs vgl. 3,4, 1276b16– 1277b32; zur normativen Präferenzkonstellation siehe 3,9, 1280b5–9 sowie 3,18, 1288a37–39. 125 Vgl. Aristot. pol. 3,4, 1277a25–1277b32. Als Sondertugenden ist den Herrschenden die Einsicht (φρόνησις), den Beherrschten das Meinen (δόξα) zueigen (3,4, 1277b25 beziehungsweise 3,4, 1277b29). In eine ähnliche Richtung weist auch Aristoteles Lob der Herrschaft der Gesetze, die es möglich mache, die Unzulänglichkeiten der Einzelnen auszugleichen; vgl. 3,10, 1281a,34–36. 126 Dazu vgl. Aristot. pol. 1279b6 und ausführlicher passim. 127 So Aristot. pol. 3,7, 1279a37–39. 128 Hierzu und zum Folgenden vgl. Aristot. pol. 3,8, 1279b39–1280a5. 129 Vgl. Aristot. pol. 3,8 1279b35–1280a7.

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mit geringer Wahrscheinlichkeit über Tugenden verfügt, wobei er hier offensichtlich Tugenden und Sachkompetenzen miteinander identifiziert: „Wenn aber die Volksmasse mit Rücksicht auf das gemeinsam Nützliche den Staat verwaltet, dann heißt das mit dem gemeinsamen Namen aller Staatsverfassungen ‚Politie‘. Und das geschieht mit Recht: Daß nämlich Einer sich in einer Tugend auszeichnet oder wenige, ist möglich, doch ist es bereits schwierig, daß sich eine Mehrzahl auf jede Tugend genau versteht; am ehesten ist das noch bei der kriegerischen Tugend der Fall, denn diese kommt bei der Volksmasse vor. Daher ist auch in dieser Staatsverfassung das Kriegführen das Entscheidende, und Anteil haben an ihr die Waffenträger.“ 130

Es ist bezeichnend, dass Aristoteles keine Begründung dafür liefert, warum das Volk weder Tugend noch Sachkompetenz in den politischen Prozess einbringt, jedoch die militärische Kompetenz – wahrscheinlich aufgrund der Bürgerheere – ohne nähere Begründung vorausgesetzt wird. Offensichtlich werden hier Bereiche des für Aristoteles – zunächst! – Selbstevidenten berührt. Umso überraschender ist, dass Aristoteles dann Überlegungen darüber anstellt, ob nicht doch das Volk zu guten Entscheidungen kommen könne. Die sogenannte Summierungstheorie – die eigentlich eine Theorie der Mehrheitsentscheidung ist, weil Meinungen nicht einfach addiert werden, sondern die richtige Position aufgrund der Mehrheitslage in der Versammlung zustande kommt, wie Egon Flaig betont hat 131 – denkt die Menge als Einheit und umgeht damit das platonische Problem, dass Gemischtes ungeachtet vom Mischungsverhältnis per se schlecht sei. 132 Das Volk als Einheit könne vielmehr gut sein: Es sei doch möglich, meint Aristoteles, dass

130 Ebd., 3,7, 1279a37–1279b4: ὅταν δὲ τὸ πλῆθος πρὸς τὸ κοινὸν πολιτεύηται συμφέρον, καλεῖται τὸ κοινὸν ὄνομα πασῶν τῶν πολιτειῶν, πολιτεíα. συμβαíνει δ᾽ εὐλόγως· ἕνα μὲν γὰρ διαφέρειν κατ᾽ ἀρετὴν ἢ ὀλíγους ἐνδέχεται, πλεíους δ᾽ ἤδη χαλεπὸν ἠκριβῶσθαι πρὸς πᾶσαν ἀρετήν, ἀλλὰ μάλιστα τὴν πολεμικήν· αὕτη γὰρ ἐν πλήθει γíγνεται· διόπερ κατὰ ταύτην τὴν πολιτεíαν κυριώτατον τὸ προπολεμοῦν καὶ μετέχουσιν αὐτῆς οἱ κεκτημένοι τὰ ὅπλα. (Text nach: Aristoteles, Politica. Ed. by W. D. Ross. Oxford 1957; Übersetzung nach: Aristoteles, Politik. Übers.u. hrsg. v. Franz Schwarz. Stuttgart 1989). 131 Vgl. Egon Flaig, Die Mehrheitsentscheidung. Entstehung und kulturelle Dynamik. Paderborn 2013, 431–436, bes. 432. 132 Zur aristotelischen Summierungstheorie und ihren Vorläufern vgl. ebd.sowie Egon Braun, Die Summierungstheorie des Aristoteles, in: Jahreshefte des Österreichischen Archäologischen Instituts 44, 1959, 157–184; Katarina Nebelin, Vielfalt ohne Gleichheit? Das Problem der politischen und sozialen Vielfalt bei Aristoteles, in: Claudia Tiersch (Hrsg.), Die Athenische Demokratie im 4.Jahrhundert. Zwischen Modernisierung und Tradition. Stuttgart 2016, 293–333, hier: 303f.; Ober, Mass and Elite (wie Anm.20), 163–165;

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„nämlich die Vielen, von denen jeder durchaus nicht ein rechtschaffener Mann ist, wenn sie zusammengekommen sind, besser sind als jene Besten, nicht allerdings als einzelner, sondern als Gesamtheit genommen, wie ja auch Mähler, zu denen die Gäste beigetragen haben, besser sein können als diejenigen, die aufgrund eines Kostenaufwandes zustande gekommen sind. Denn da sie viele sind, kann jeder über einen Teil der Tugend und der Einsicht verfügen, und wenn sie zusammenkommen, kann die Menge werden wie ein einziger Mensch, der viele Füße, Hände und Sinneswerkzeuge hat und auch im Hinblick auf die Wesensart und die Denkweise. Deshalb beurteilen die Vielen auch besser die Werke der Musik und der Dichter; denn die einen beurteilen diesen, die anderen jenen Teil, alle aber alles.“ 133

Neben der Metapher des einen Körpers wird auch der Vergleich mit der Kritik von Musik und Dichtung bemüht, da sich in diesem Bereich dominierende Meinungen erst im Gefolge eines Selektionsprozesses der Meinungen ausbilden. Aristoteles rekurrierte damit letzten Endes auch auf einen Topos der (antiken) Rhetoriktheorie, demzufolge, wie auch Redner und Rhetoriktheoretiker betont haben, immer das Urteil der Zuhörer die Qualität einer Rede verbindlich beurteile, indem sie dem Redner entweder zustimmten oder nicht. 134 Auf diese Weise ließe sich auch das Treffen guter Entscheidungen in einem demokratischen Kontext erklären: In einer demokratischen Versammlung – Aristoteles betont ja den Versammlungscharakter! – setzt sich immer die beste Meinung durch. Folglich müssen auch die dort getroffenen Entscheidungen gut sein. Doch diese Überlegungen tragen bei Aristoteles immer hypothetischen Charakter. Denn beständig werden in seiner „Politik“ Elemente einer mehr oligarchisch-elitären denn im strikteren Sinne antidemokratischen Ideologie sichtbar – auch wenn das eine letzten Endes auf das andere hinausläuft: So wird beispielsweise die lohn-

ders., Political Dissent (wie Anm.8), 319f. Zu Platons Kritik des Gemischten und des Bunten in der Demokratie vgl. Plat. rep. 557a–558c. Für Aristoteles hingegen war die Polis selbst ein funktionsfähiges Ganzes aus vielen Teilen; so Aristot. pol. 3,1 1274b39–42. 133 Aristot. pol. 3,11, 1281a42–1281b10: τοὺς γὰρ πολλούς, ὧν ἕκαστός ἐστιν οὐ σπουδαῖος ἀνήρ, ὅμως ἐνδέχεται συνελθόντας εἶναι βελτíους ἐκεíνων, οὐχ ὡς ἕκαστον ἀλλ᾽ ὡς σύμπαντας, οἷον τὰ συμφορητὰ δεῖπνα τῶν ἐκ μιᾶς δαπάνης χορηγηθέντων· πολλῶν γὰρ ὄντων ἕκαστον μόριον ἔχειν ἀρετῆς καὶ φρονήσεως, καὶ γíνεσθαι συνελθόντας ὥσπερ ἕνα ἄνθρωπον τὸ πλῆθος, πολύποδα καὶ πολύχειρα καὶ πολλὰς ἔχοντ᾽ αἰσθήσεις, οὕτω καὶ περὶ τὰ ἤθη καὶ τὴν διάνοιαν. διὸ καὶ κρíνουσιν ἄμεινον οἱ πολλοὶ καὶ τὰ τῆς μουσικῆς ἔργα καὶ τὰ τῶν ποιητῶν· ἄλλοι γὰρ ἄλλο τι μόριον, πάντα δὲ πάντες. 134 Vgl. dazu mit Belegen für den innergriechischen Diskurs Ober, Mass and Elite (wie Anm.20), 164f.

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bezogene Erwerbsarbeit diskriminiert in der pauschalen Feststellung, man könne nämlich „gar nicht die Belange der Tugend verrichten, wenn man das Leben eines (niedrigen) Handwerkes oder das eines Lohnarbeiters lebt“. 135 Daraus leitet Aristoteles die Annahme ab, dass die Lohnarbeiter aufgrund ihres sklavenähnlichen Status letzten Endes auch nicht an den politischen Entscheidungen partizipieren dürften: Nur diejenigen Freien könnten in der ‚besten‘ Verfassung – was immer das in der Passage konkret sein soll – Bürger sein, die unabhängig von Erwerbsarbeit ihren Lebensunterhalt bestreiten könnten. 136 En passant werden damit Personengruppen schon grundsätzlich – und vor jeder ‚Summierung‘ – aus der Gruppe der Entscheider und Partizipienten ausgeschlossen. An dieses Motiv knüpft Aristoteles im Rahmen seiner Überlegungen zur Summierungstheorie an, indem er mögliche Einwände und Alternativmodelle prüft 137: Es gebe, behauptet er, Bürger, die weder reich noch tugendhaft seien; aufgrund ihrer 135 Aristot. pol. 3,5, 1278a20/21: οὐ γὰρ οἷόν τ᾽ ἐπιτηδεῦσαι τὰ τῆς ἀρετῆς ζῶντα βíον βάναυσον ἢ θητικόν. Zur topischen Kritik an der Lohnarbeit, die zum Standardrepetoire insbesondere der aristokratischen Demokratiekritik gehörte, vgl. Nebelin, Vielfalt ohne Gleichheit? (wie Anm.132), 325–328; Ober, Political Dissent (wie Anm.8), 306, 308–310, 314–316; zur aristotelischen Negativtendenz in der „Politik“ bezüglich der Demokratie als Verfassungsform vgl. Nebelin, Vielfalt ohne Gleichheit? (wie Anm.132), 307 f. Anm.75, 326–328. 136 Vgl. Aristot. pol. 3,5, 1278a6–13; 3,5, 1278a20/21. 137 Zum Folgenden siehe Aristot. pol. 3,11, 1281b21–38: „Daher kann man auch damit die vorhin gestellte Frage wohl lösen, und die, die sich daran anschließt, worüber nämlich die Freien und die Menge der Bürger zu entscheiden haben. Es sind doch solche, die weder reich sind noch über eine einzige Auszeichnung in der Tugend verfügen. Daß allerdings diese Leute an den höchsten Staatsämtern Anteil haben sollen, bedeutet eine Unsicherheit. Denn zufolge ihrer Ungerechtigkeit und ihrer Unvernunft müßten sie hier wohl Unrecht tun und dort Fehler begehen. Ihnen aber kein Recht zu überantworten und sie daran nicht Anteil haben zu lassen, ist furchteinflößend. Wenn es nämlich viele Ehrlose und Arme gibt, ist dieser Staat notwendig voll von Feinden. So verbleibt also, daß sie Anteil haben am Beraten und am Beurteilen. Deshalb übertragen ihnen Solon und noch andere Gesetzgeber die Beamtenwahlen und die Rechenschaftsabnahme der Beamten, doch einzeln herrschen lassen sie sie nicht. Denn wenn alle zusammen sind, verfügen sie über einen geeigneten Sinn, und wenn sie sich mit den Besseren mengen, nützen sie den Staaten, so wie eine nicht reine Speise zusammen mit einer reinen die ganze Speise nützlicher macht als eine nur geringe Speise. Getrennt aber ist jeder im Hinblick auf das Urteilen unvollkommen.“ (διὸ καὶ τὴν πρότερον εἰρημένην ἀπορíαν λύσειεν ἄν τις διὰ τούτων καὶ τὴν ἐχομένην αὐτῆς, τíνων δεῖ κυρíους εἶναι τοὺς ἐλευθέρους καὶ τὸ πλῆθος τῶν πολιτῶν. τοιοῦτοι δ᾽ εἰσὶν ὅσοι μήτε πλούσιοι μήτε ἀξíωμα ἔχουσιν ἀρετῆς μηδὲ ἕν. τὸ μὲν γὰρ μετέχειν αὐτοὺς τῶν ἀρχῶν τῶν μεγíστων οὐκ ἀσφαλές (διά τε γὰρ ἀδικíαν καὶ δι᾽ ἀφροσύνην τὰ μὲν ἀδικεῖν ἀνάγκη τὰ δ᾽ ἁμαρτάνειν αὐτούς), τὸ δὲ μὴ μεταδιδόναι μηδὲ μετέχειν φοβερόν (ὅταν γὰρ ἄτιμοι πολλοὶ καὶ πένητες ὑπάρχωσι, πολεμíων ἀναγκαῖον εἶναι πλήρη τὴν πόλιν ταύτην). λεíπεται δὴ τοῦ βουλεύεσθαι καὶ κρíνειν μετέχειν αὐτούς. διόπερ καὶ Σόλων καὶ τῶν ἄλλων τινὲς νομοθετῶν τάττουσιν ἐπí τε τὰς ἀρχαιρεσíας

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fehlenden moralischen und sachlichen Kompetenz sei es problematisch, wenn diese Personen Ämter übernähmen. Würde man sie jedoch von der Macht ausschließen, drohe ein Aufruhr; aus diesem Grund müsse man sie irgendwie an der Macht beteiligen. Bei der Lösung des Problems behalf Aristoteles sich mit einem institutionellen Schließungsvorschlag 138: Die Armen – denn um diese ging es ihm wieder einmal vorrangig – sollten einzig bei der Rechenschaftsabnahme tätig werden. Doch könne man auch den Sinn dieser Verhaltensweise infrage stellen, meinte der Autor weiter: Nicht nur die moralische Konstitution, auch die Sach- und Fachkompetenz des Volkes könnten grundsätzlich angezweifelt werden. 139 Hieraus könne man noch radikalere Konsequenzen ableiten: „Also dürfte man nach dieser Überlegung die Menge nicht zur Entscheidungsinstanz machen weder in den Beamtenwahlen noch in den Rechenschaftsabnahmen.“ 140 Doch blieben diese Argumente für Aristoteles hypothetisch. Er selbst gestand ein, dass möglicherweise die Summierung die Defizite des Volkes aufheben könne 141, „falls die Menge nicht allzu knechtisch ist“. 142 Eine Reduzierung der Kompetenzen des Volkes auf die Rechenschaftsannahme und die Entlastung sei zudem insofern problematisch, als es sich um zentrale Elemente im politischen Entscheidungsprozess handle. 143 Zudem spreche ein Praxisargument gegen eine Beschneidung der Entscheidungs- und Kontrollrechte der Armen:

καὶ τὰς εὐθύνας τῶν ἀρχόντων, ἄρχειν δὲ κατὰ μόνας οὐκ ἐῶσιν. πάντες μὲν γὰρ ἔχουσι συ νελθόντες ἱκανὴν αἴσθησιν, καὶ μιγνύμενοι τοῖς βελτíοσι τὰς πόλεις ὠφελοῦσιν, καθάπερ ἡ μὴ καθαρὰ τροφὴ μετὰ τῆς καθαρᾶς τὴν πᾶσαν ποιεῖ χρησιμωτέραν τῆς ὀλíγης· χωρὶς δ᾽ ἕκαστος ἀτελὴς περὶ τὸ κρíνειν ἐστíν). 138 Zum auf Max Weber (Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. 7.Aufl. der 5. rev.Aufl. Tübingen 2002, 205; siehe zudem 23–25 und 203) zurückgehenden Konzept sozialer Schließung (daran anschließend: Raymond Murphy, Social Closure. The Theory of Monopolization and Exclusion. Oxford 1988; Jürgen Mackert [Hrsg.], Die Theorie sozialer Schließung. Tradition, Analysen, Perspektiven. Wiesbaden 2004) vgl. Hristina Markova, Regeln sozialer Schließung im Zeitalter gesellschaftspolitischer Transformation. Eine empirische Untersuchung über die Zusammensetzung und Rekrutierung der politischen Elite in Bulgarien. Berlin 2013, 43–61, sowie Nebelin, Konkurrenz (wie Anm. 7), 155. 139 Zu diesem Argument vgl. Aristot. pol. 3,11, 1281b38–1282a14. 140 Aristot. pol. 3,11, 1282a13–15: ὥστε κατὰ μὲν τοῦτον τὸν λόγον οὐκ ἂν εἴη τὸ πλῆθος ποιη τέον κύριον οὔτε τῶν ἀρχαιρεσιῶν οὔτε τῶν εὐθυνῶν. 141 Vgl. Aristot. pol. 3,11, 1282a14–17. 142 Aristot. pol. 3,11, 1282a15–16. 143 Vgl. Aristot. pol. 3,11, 1282a26/27.

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„In einigen Staatsverfassungen aber hat man, wie gesagt, diese [= die Rechenschaftsabnahmen und die Ämterwahlen; M. N.] den Bürgern übergeben. Denn die Volksversammlung bedeutet da die Entscheidungsinstanz über alle derartigen Dinge. Und doch haben Leute aus den kleinen Vermögensklassen und Leute aus jeder Altersstufe Anteil an der Volksversammlung, sie beraten und sprechen Recht, Angehörige aber der hohen Vermögensklassen verwalten die Finanzen, sind Feldherrn und haben die höchsten Ämter inne.“ 144

Die institutionelle Aufteilung zwischen einer gemeinsamen Entscheidungs- und Kontrollinstitution von Armen und Reichen in Gestalt der Volksversammlungen einerseits und einer Vorbehaltung der Ämter für die Reichen andererseits ermöglicht Aristoteles zufolge in der politischen Realität Griechenlands einen akzeptablen Interessenausgleich. Dass dieses Institutionengefüge funktioniert, wird dann erneut mit der Körpermetapher begründet: Jede der Institutionen – Gericht, Volksversammlung, Amt – müsse als ein einheitlicher Körper angesehen werden; der Einzelne ist immer nur ein Teil von ihm. 145 Gute Sachentscheidungen ermöglicht das Mehrheitsprinzip.

144 Aristot. pol. 3,11, 1282a27–32: ἃς ἐν ἐνíαις πολιτεíαις, ὥσπερ εἴρηται, τοῖς δήμοις ἀποδιδόασιν: ἡ γὰρ ἐκκλησíα κυρíα πάντων τῶν τοιούτων ἐστíν. καíτοι τῆς μὲν ἐκκλησíας μετέχουσι καὶ βουλεύουσι καὶ δικάζουσιν ἀπὸ μικρῶν τιμημάτων καὶ τῆς τυχούσης ἡλικíας, ταμιεύουσι δὲ καὶ στρατηγοῦσι καὶ τὰς μεγíστας ἀρχὰς ἄρχουσιν ἀπὸ μεγάλων. 145 Siehe Aristot. pol. 3,11, 1282a34–41: „Denn nicht der Richter, nicht der Ratsherr, nicht das Mitglied der Volksversammlung sind jeweils ein Amt, sondern das Gericht, die Ratsversammlung und das Volk. Von den Genannten ist jeder nur ein Teil davon; mit ‚Teil‘ meine ich den Ratsherrn, das Mitglied der Volksversammlung und den Richter. Also kann mit Recht die Menge die Entscheidung über bedeutendere Dinge haben. Aus vielen nämlich besteht das Volk, die Ratsversammlung und das Gericht. Und größer ist die Vermögensklasse von all diesen, größer als die von den einzelnen und von denen, die nur als wenige über hohe Ämter verfügen.“ (οὐ γὰρ ὁ δικαστὴς οὐδ᾽ ὁ βουλευτὴς οὐδ᾽ ὁ ἐκκλησιαστὴς ἄρχων ἐστíν, ἀλλὰ τὸ δικαστήριον καὶ ἡ βουλὴ καὶ ὁ δῆμος: τῶν δὲ ῥηθέντων ἕκαστος μόριόν ἐστι τούτων (λέγω δὲ μόριον τὸν βουλευτὴν καὶ τὸν ἐκκλησιαστὴν καὶ τὸν δικαστήν): ὥστε δικαíως κύριον μειζόνων τὸ πλῆθος: ἐκ γὰρ πολλῶν ὁ δῆμος καὶ ἡ βουλὴ καὶ τὸ δικαστήριον. καὶ τὸ τíμημα δὲ πλεῖον τὸ πάντων τούτων ἢ τὸ τῶν καθ᾽ ἕνα καὶ κατ᾽ ὀλíγους μεγάλας ἀρχὰς ἀρχόντων).

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VII. Schlussbetrachtungen: Die Unhintergehbarkeit des demokratischen Entscheidens „From a historical perspective, formalized decision-making was therefore more the exception than the rule. Much more common were palaver and dilatory muddling-through“ 146, hat Stollberg-Rilinger konstatiert. Die athenische Demokratie gehört in den Bereich der besagten Ausnahmen: Das direktdemokratische System erzwang nicht nur kontinuierlich institutionelle Entscheidungen, sondern es band den einzelnen Bürger auch beständig in die Entscheidungsfindung ein; dass diese „bottom up“ 147 erfolgte, verstärkte diese Erfahrung noch: In den Akten von Antragstellung, Diskussion und – vor allem – der Abstimmung wurde Entscheiden erleb- und erfahrbar. Das Funktionieren der Institutionen setzte dabei weniger deren Beharrungskraft als vielmehr das Vorhandensein einer lebensweltlich verankerten demokratischen Kultur voraus, die sich ihrerseits in den institutionellen Erfahrungen der einzelnen Bürger und – lange Zeit – auch im wahrgenommenen Erfolg des Gemeinwesens insgesamt bestätigte. Jenseits der breiten Trägergruppe formierte sich jedoch der Widerstand derjenigen, die das System mehr oder weniger grundsätzlich ablehnten, mitsamt ihrer Kritik an demokratischen Institutionen und der Demokratie als Verfassungsform – eine ‚Verfassungskritik‘, die in ihrer Radikalität oftmals die systemimmanente Kritik bei weitem übertraf. Motiviert wurde diese Opposition nicht nur durch soziale Distinktionsbemühungen und unverwirklichte Herrschaftsansprüche 148, sondern auch durch den Eindruck einer Transformation oder gar Entwertung charakteristisch aristokratischer Leitargumente (wie etwa der Referenzen auf die eigene Familie) 149, die zu einem ‚Misstrauen‘ dieser politisch unzufriedenen Aristokraten gegen146 Stollberg-Rilinger, Cultures of Decision-Making (wie Anm.9), 34. 147 Ober, How to Criticize Democracy (wie Anm.30), 150. 148 Dazu vgl. oben. Walter Donlan, The Aristocratic Ideal and Selected Papers. 2nd Ed. Wauconda 1999, 224, hat allerdings auch betont, dass sich bereits in der archaischen Literatur Hinweise auf eine „dual tradition“ fänden, die nicht nur die herausragende Stellung der Aristokraten unterstrich, sondern auch „a conscious emphasis on the values of the common man“ legte, so dass die ideologische Anfechtung aristokratischen Vorrangs bereits dort grundgelegt worden sein mag. 149 Claudia Tiersch, Politische Vorteile durch adelige Vorfahren? Aristokraten in der athenischen Demokratie (5./4.Jh. v.Chr.), in: Vera V. Dement’eva/Tassilo Schmitt (Hrsg.),Volk und Demokratie im Altertum. (Bremer Beiträge zur Altertumswissenschaft, 1.) Göttingen 2010, 77–92, hat unterstrichen, dass in der athenischen Demokratie Familienverweise ein politisch relevantes Argument blieben; allerdings mussten die-

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über der Demokratie als ‚Verfassungsform‘ führte. 150 Doch die aristokratische Suche nach einer Alternative zur oder wenigstens „nach einer ‚anderen‘ Demokratie“ 151 blieb auf lange Sicht erfolglos. Auffällig ist dabei: „Die Radikalität der Opposition ist darum nur die Kehrseite ihrer Unwirklichkeit.“ 152 Auch diese von Jochen Bleicken betonte ‚Unwirklichkeit‘ der Systemkritik in der athenischen Demokratie ist eine Aussage über deren Entscheidungskultur: Diese gründete in einer lebensweltlichen Akzeptanz des politischen Systems, die gleichermaßen durch die partizipatorische Einbindung der männlichen erwachsenen Bürger 153 sowie durch den systemischen Erfolg der Demokratie, spätestens ab 403 aber auch infolge ihrer realpolitisch scheinbar evident gewordenen Alternativlosigkeit bestach 154 – und es deshalb vermochte, ihre Kritiker trotz deren elitärer Herkunft über mehrere Jahrhunderte hinweg zu marginalisieren.

se Verweise zunehmend mehr in der geschichtlichen als in der mythologischen Zeit eingebettet werden – so dass sich am Ende eine Entwertung oder Relativierung der eigenen ‚dynastischen‘ Leistung ergeben haben dürfte. Schmitz, Verpaßte Chancen (wie Anm.28), 66, hat sogar mit Blick auf die rhetorische Praxis vor der Volksversammlung geschlossen, dass „die Demagogen, die faktisch immer noch aus den alten adeligen Familien stammten, alle adeligen Vorrechte demonstrativ ablegen mussten, wollten sie in der Volksversammlung Erfolg haben“. 150 Jan Timmer, Schritte auf dem Weg des Vertrauens – Überlegungen zu Chancen und Grenzen der Anpassung von Handlungsdispositionen, in: Tiersch (Hrsg.), Die Athenische Demokratie (wie Anm.132), 33– 53, hat deshalb vorgeschlagen, die Geschichte der athenischen Demokratie auch als eine des wechselseitigen Misstrauens zwischen Volk und Aristokratie zu lesen. 151 Bleicken, Wann begann die athenische Demokratie (wie Anm.21), 36. 152 Jochen Bleicken, Die athenische Demokratie. 4.Aufl. (utb-Ausgabe.) Paderborn 1995, 447. 153 Vgl. Martin, Aspekte antiker Staatlichkeit (wie Anm.13), 288: „In Athen wird der Bürgerstatus wesentlich durch politische Teilnahme definiert.“ 154 Diese Alternativlosigkeit demokratischen Denkens in Athen war eigentlich die Konsequenz der Interpretation zweier kumulierter historischer Fundamentalerfahrungen des Politischen im 5.Jahrhundert: Zu der bereits in herodoteischer Zeit feststellbaren „Furcht vor der Tyrannis, die den Athenern seit der Vertreibung der Peisistratiden als die einzig realistische Gefahr für die Herrschaft des Demos galt“ (Bleicken, Zur Entstehung [wie Anm.35], 77), trat die Angst vor der oligarchischen Gewaltherrschaft, wie sie gegen Ende des Jahrhunderts erlebt worden war. Vgl. dazu auch die institutionengeschichtliche Beobachtung von Timmer, Schritte (wie Anm.150), 45, der betont, dass nach dem Scheitern des oligarchischen Umsturzes von 404/403 der Vertrauensverlust in die oligarchisch-aristokratischen Kreise zur Folge hatte, dass die athenische Demokratie stärkere institutionelle Sicherungsmechanismen erforderte, um das Misstrauen zu verwalten und neues Vertrauen zu gewinnen. Infolge dieser beiden Erfahrungen und ihrer negativen Integration in das kollektive Gedächtnis waren mit dem Ende des 5.Jahrhunderts die beiden Alternativen zur Demokratie, die im einfachen Dreier-Schema des politischen Denkens der Griechen verfügbar waren, diskreditiert.

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Die weitgehende realpolitische Bedeutungslosigkeit der externalisierenden Demokratiekritik hängt aber auch damit zusammen, dass diese Demokratiekritiker gerade für den Kernbereich dessen, was Politik ausmacht, nämlich das Entscheiden, weder überzeugende Kritikpunkte vorbrachten noch zum demokratischen Entscheiden selbst eine attraktive Alternative herauszubilden vermochten. 155 Dies wiederum hängt mit fünf grundsätzlichen Problemen zusammen, die den Umgang der Vertreter des antidemokratischen Denkens der griechischen Klassik mit dem demokratischen Entscheiden kennzeichnen und welche in den im vorliegenden Beitrag erörterten Positionen paradigmatisch zutage getreten sind: 1. Antidemokratische Autoren versuchten, eine Thematisierung des demokratischen Entscheidens zu umgehen. Ließen sie sich auf das Thema ein, blieb es zumeist bei topischen Behauptungen wie der von Herodots Oligarchen, ‚Schlechtigkeiten‘ würden in der Demokratie schlechte Entscheidungen zur Folge haben. 156 Problematisch blieb dabei vor allem, dass konkrete Verfahren eigentlich nie im Vordergrund standen, selbst wenn Orte und Institutionen des Entscheidens genannt werden. Vor allem wird die Frage der Kopplung von Partizipation, Integration und Befriedung bis Aristoteles niemals angemessen erörtert. So überträgt beispielsweise die von Herodot referierte oligarchische Position noch ungebrochen die oligarchisch-aristokratische Distinktionssemantik auf die politische Sphäre; Pseudo-Xenophon koppelt gar axiomatisch Schlechtigkeit und Armut der Menge. 157 Erst Aristoteles erörtert systematisch, welche Relevanz politische Partizipation für alle einzelnen Bürger – im Unterschied zu Teilgruppen wie den ‚Besten‘ – besitzen könnte. 2. Die antidemokratische Ideologie entwickelte sich zwar, doch dominierte lange Zeit jenes Doppelmodell, dessen Gehalte vor allem bei Pseudo-Xenophon klar zutage treten und dessen Grundannahmen dann Platon radikalisiert: Gutes Entscheiden

155 Allerdings hat Ober, How to Criticize Democracy (wie Anm.30), 159f., darauf verwiesen, dass möglicherweise die Bedeutung der externalisierenden Demokratiekritik darin bestanden haben könnte, die schiere Idee der Möglichkeit einer Alternative zur Demokratie innerhalb der demokratischen Polis präsent zu halten: „The actual effect on democratic practice of a given author’s criticism can seldom, if ever, be measured. But just as the Assembly brought into being a particular reality through the performative act of enunciating a psêphisma (decree), so the critic expanded the ground in which resistance to ideology was possible and fundamental change conceivable. And thus (perhaps unwittingly) the critic helped to guarantee the potential revisability of the democratic regime through the performative act of constructing an alternative political paradigm.“ 156 Vgl. Hdt. 3,82,3–4. 157 Vgl. Xen. Ath. pol. 1,5.

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liegt im Einzelnen; die Einzelnen sind (sozial und im Kern auch moralisch) ungleich und damit (politisch) ungleichwertig; die Demokratie entscheidet gar nicht (Pseudo-Xenophon) oder schlecht (Pseudo-Aristoteles), weil sie sich den sozialen Strukturen widersetzt. Problematisch an dieser Position ist, dass die vorgebrachte Kritik in einem unaufgelösten Spannungsverhältnis zum innenpolitischen Funktionieren und zum außenpolitischen Erfolg Athens steht. 3. Wie aus antidemokratischer – oder genauer: tendenziell eher aristokratischoligarchischer Perspektive – Alternativen zur Demokratie aussehen konnten, unterstrich aus historischer Perspektive Pseudo-Aristoteles: Monarchische Regime und solche kleinerer gesellschaftlicher Teilgruppen wurden tendenziell bevorzugt. Problematisch daran ist, dass die Bewertungskriterien für eine gute Alternative zur Demokratie grundsätzlich und insbesondere mit Blick auf die einzelnen historischen Herrschaftskonstellationen unklar bleiben; allenfalls ist erahnbar, dass eine solche gute Herrschaft außenpolitisch – das heißt: militär- und machtpolitisch – erfolgreich und innenpolitisch durch eine besondere Gesetzesorientierung gekennzeichnet sein soll. 4. Die utopische Alternative zur Demokratie präsentierte Platon: Er deinstitutionalisierte das Entscheiden, subjektivierte es und hob es dann auf; seine Philosophen müssen nicht abwägen und mithin nicht entscheiden, weil sie nicht meinen, sondern wissen. Problematisch an dieser Position sind nicht allein ihre irrealen politischen Voraussetzungen, sondern auch die disziplinäre Erfahrung, dass in der Praxis auch Philosophen sich nicht immer einig sind, obwohl sie es diesem Modell zufolge sein müssten – mit ihrer Einigkeit im Wissen fällt jedoch auch die daran gekoppelte These von der notwendig guten Qualität politischer Entscheidungen der Philosophen. 5. Aristoteles wiederum prüft hypothetisch und zugleich empirisch das Funktionieren des demokratischen Entscheidens, wobei er systematisch die Möglichkeit unterstellt, dass das demokratische Entscheiden positive Ergebnisse zeitigt. Die sogenannte Summierungstheorie ist das Produkt dieser Bemühungen. Problematisch an diesem Modell ist, dass sich aus der Perspektive der antidemokratischen Ideologie die Kritik an den vermeintlich schlechten Entscheidungen der athenischen Demokratie nicht aufrechterhalten lässt, wenn diese Entscheidungen eben als gut identifiziert werden. Vor Aristoteles gab es nur schwache Rückwirkungen des demokratischen Entscheidens auf die antidemokratische Ideologie, weil das Entscheiden eigentlich kein

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Thema ist. Erörtert wurde als konkreter institutioneller Kritikpunkt im Grunde genommen nur das Nicht-Entscheiden innerhalb der Demokratie; stattdessen herrschten soziale Vorbehalte vor, die in eine Generalkritik einmündeten, die realpolitisch oder historisch wenig gedeckt erscheint. Eine konkrete Alternative zu demokratischen Entscheidungsverfahren ließ sich auf diese Weise weder historisch identifizieren noch realpolitisch ausbilden, geschweige denn plausibilisieren. Die antidemokratische Ideologie verschloss sich demnach einem wesentlichen Praxiselement ihrer politischen Umwelt. Das ist charakteristisch für die antidemokratische Ideologie, die generell ein wenig praxisbezogener Diskurs ist. Über die Gründe dafür kann nur spekuliert werden; wahrscheinlich ist, was Aristoteles andeutet: Eine Betrachtung der Entscheidungsprozesse der athenischen Demokratie hätte deren Funktionieren bloß bestätigt und damit dem Ensemble der Vorurteile, auf denen die Aristokratie aufbaute, den Boden entzogen. Unbeabsichtigt verraten die antidemokratischen Kritiken demokratischen Entscheidens jedoch auch einiges über die demokratische Entscheidungskultur: Offensichtlich war der Vorrang des Verfahrens vor der Qualität möglicher Entscheidungen aus demokratischer Sicht zentral; dieser Umstand hat sich noch in den verfassungsgeschichtlichen Abrissen der frühen politischen Theorie niedergeschlagen. Zugleich bot diese Gewichtung antidemokratischen Denkern einen möglichen Ansatzpunkt für ihre Kritik: Die Besten nahmen für sich in Anspruch, auch die besten Entscheidungen im Politischen und der Politik hervorbringen zu können. Solche aristokratischen Überlegungen konnten durchaus das Potential bergen, die Demokratie als Herrschaft aller Bürger zu delegitimieren. Dass dies in Athen in klassischer Zeit nicht längerfristig gelang, hängt mit zwei Problemen zusammen: Zum einen verfing die Kritik an der Demokratie nicht, solange diese funktionierte, ja sogar nach antiken Maßstäben im inneren wie äußeren Vergleich erfolgreich war – einzelne Fehlentscheidungen fielen da entweder nicht hinreichend ins Gewicht oder wurden vom Volk zeitnah revidiert, wie Thukydides’ Mytilene-Episode verdeutlicht. 158 Zum anderen konnten die Vertreter einer aristokratischen oder oligarchischen Position 411/410 und 404/403, als sie die Chance zur Realisierung ihrer politischen Ideale hatten, nicht überzeugen: Die Besten trafen nach Ansicht der Meisten keine besonders guten, sondern vielmehr sogar äußerst schlechte Entscheidungen. Spätes158 Vgl. Thuk. 3,34–50; dazu Flaig, Mehrheitsentscheidung (wie Anm.131), 316–324; Ober, Political Dissent (wie Anm.8), 94–104.

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tens infolge dieses doppelten Scheiterns war die oligarchische Alternative zur Demokratie realpolitisch nachhaltig diskreditiert – nachdem zu Beginn des Jahrhunderts infolge des Endes der peisistratidischen Tyrannis Vergleichbares bereits mit der Alleinherrschaft als Herrschaftsform geschehen war 159: Spätestens seit dem Scheitern des zweiten oligarchischen Umsturzes waren die Aristokraten im Hinblick auf die Einbringung utopischer Gegenmodelle dauerhaft handlungsunfähig. 160 Der Bereich, der ihnen blieb, war der der politischen Kritik. Und ihre diesbezüglichen Erzeugnisse blieben, als die athenische Demokratie aus der Geschichte verschwand. Im Nachhinein und gänzlich kontrafaktisch gewann die Kritik Weniger an der Verfassungsform der Mehrheit die historische Deutungshoheit. Dabei waren es vor allem mangelnde Erfahrungen ihrer Leser, die der aristokratischen Kritik ihre rezeptionsgeschichtliche Durchschlagskraft sicherten. Schließlich ist Demokratie mehr noch eine Lebens- als eine Verfassungsform; das eine aber kann sie nicht ohne das andere sein. Vereint sie jedoch beides, so besitzt sie jene Stabilität, die es ihr ermöglicht, sogar die externalisierende Demokratiekritik innerhalb ihrer selbst zu ertragen und zu erdulden, denn „alles Politische, das den Namen verdient, folgt dem Partizipations-Postulat, zugleich aber atmet es den Geist der Duldsamkeit“. 161

159 Zur Diskreditierung dieser beiden Grundformen der seit Herodot im politischen Denken der Griechen geradezu klassischen Trias möglicher ‚Souveränitätslagerungen‘ siehe oben Anm.154; vgl. insbesondere zur Diskreditierung oligarchisch-aristokratischer Systeme zudem beispielsweise Morawetz, Der Demos als Tyrann (wie Anm.35), 136f.; zur ideologischen und machtpolitischen Vorgeschichte insbesondere des weniger gewaltsam verlaufenen politischen Systemwechsels von 411 vgl. Raaflaub, Politisches Denken und Krise der Polis (wie Anm.16), 32–34. 160 Vgl. zur Konzeptualisierung solcherart ‚absoluten Scheiterns‘, das im Unterschied zum ‚relativen Scheitern‘ den Akteuren keine ‚Handlungsfähigkeit‘ mehr lässt: Matthias Junge, Scheitern: Ein unausgearbeitetes Konzept soziologischer Theoriebildung und ein Vorschlag zu seiner Konzeptualisierung, in: ders./ Götz Lechner (Hrsg.), Scheitern. Aspekte eines sozialen Phänomens. Wiesbaden 2004, 15–32, hier: 16. Dazu vgl. Sabine Graul/Marian Nebelin, Umrisse einer allgemeinen Theorie des Verlierertums, in: dies. (Hrsg.), Verlierer der Geschichte. Von der Antike bis zur Moderne. (Chemnitzer Beiträge zur Politik und Geschichte, 4.) Berlin 2008, 63–100, hier: 86–89; Marian Nebelin, Sieger, Besiegte und Historiker, in: Meißner/Nebelin/Nebelin (Hrsg.), Eliten (wie Anm.23), 49–87, hier: 54f. 161 Heinz-Gerd Schmitz, Die dunkle Seite der Politik. Philosophische Theorien des Despotismus, der Diktatur und des Totalitarismus. Berlin 2005, 166.

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Die Erklärung eines Paradoxes Pseudo-Xenophons Auseinandersetzung mit demokratischer Praxis und Ideologie von Kurt A. Raaflaub

I. Vorbemerkung Was die Forschungsdiskussion zu einigen vieldiskutierten Grundfragen der pseudo-xenophontischen „Athênaiôn politeia“ angeht 1, so akzeptiere ich der Einfachheit halber die von John Marr und Peter Rhodes in ihrem Kommentar von 2008 skizzierten plausiblen Positionen. 2 Zu datieren ist die Schrift am ehesten in etwa die Mitte der 420er Jahre. Der Autor ist ein relativ junger Athener (aber trotz stilistischer und struktureller Analogien mit der „Lakedaimoniôn politeia“ kaum der junge Xenophon), ein dezidierter Gegner der Demokratie. 3 Ob die Adressaten, die er zu korrigieren und belehren sucht, auswärtige (vielleicht gar spartanische) oder einheimische Kritiker der in Athen fest etablierten Demokratie sind, bleibt umstritten; für beide Meinungen lassen sich starke Argumente anführen. 4 Ebenso lasse ich offen,

1 Quellenhinweise ohne Autorname oder Werktitel beziehen sich durchweg auf Pseudo-Xenophons „Athênaiôn politeia“. 2 John L. Marr/Peter J. Rhodes, The ,Old Oligarch‘: The Constitution of the Athenians Attributed to Xenophon. Edited with an Introduction, Translation and Commentary. Oxford 2008. Einen kurzen, aber instruktiven Überblick der unterschiedlichen Datierungstendenzen gibt Gregor Weber, in: Pseudo-Xenophon, Die Verfassung der Athener. Hrsg., eingel. u. übers. v. Gregor Weber. Darmstadt 2010, 20–25. 3 Dass es sich um einen Athener handelt, scheint angesichts von 1,12 und 2,12 (Gebrauch der ersten Person Plural) klar, ist aber wegen 2,20 und mehrerer Verweise auf Athen als „dort“ (autothi, z.B. 1,2) umstritten; vgl. Josiah Ober, Political Dissent in Democratic Athens. Intellectual Critics of Popular Rule. Princeton 1998, 14; Robin Osborne, The Old Oligarch. Pseudo-Xenophon’s Constitution of the Athenians. Introduction, Translation, and Commentary. (Lactor, 2.) London 2004, 1; Marr/Rhodes, The ,Old Oligarch‘ (wie Anm.2), 12–16; Weber, in: Pseudo-Xenophon, Die Verfassung der Athener (wie Anm.2), 27 (Athener); John M. Moore, Aristotle and Xenophon on Democracy and Oligarchy. Translations with Introductions and Commentary. Berkeley 1975, 19; Harold B. Mattingly, The Date and Purpose of the Pseudo-Xenophontic Constitution of the Athenians, in: CQ 47, 1997, 352–357 (Nicht-Athener). Zur Jugend des Autors: Marr/Rhodes, The ,Old Oligarch‘ (wie Anm.2), 15. Verhältnis zu Xenophon: ebd.6–12. Die dezidierte Ablehnung der Demokratie ist aufgrund von 1,1 und 1,9 sowie 3,1 nicht zu bezweifeln. 4 Zu einem implizierten Dialog mit auswärtigen Demokratiekritikern siehe Marr/Rhodes, The ,Old

https://doi.org/10.1515/9783110608380-006

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ob die Schrift als eine im Zusammenhang rhetorisch-sophistischer Unterweisung entstandene Übung zu erklären ist. Welchen Zufällen ihre Erhaltung zu verdanken ist, wissen wir nicht. Für meine Zwecke sind die Datierung und die relative Jugendlichkeit des Autors besonders wichtig.

II. Politisches Denken und Demokratie im 5.Jahrhundert Der Traktat hat als eine der frühesten erhaltenen Prosaschriften und ein frühes Dokument politischen Denkens besondere Bedeutung. In seiner programmatischen Kurzvorstellung des Bielefelder Kolloquiums betont Ivan Jordović, dass wir von keinem klassischen Werk in Athen wissen, das „als eine Erklärung der Grundprinzipien der demokratischen Ideologie verstanden werden könnte“, während die bedeutendsten politischen Denker „der Demokratie mehr oder minder kritisch“ gegenüberstanden (vgl. oben die Einleitung S. 13 f.). Daraus ergebe sich „ein Paradox: Einerseits war die Demokratie im politischen Leben die dominante Kraft, andererseits erwiesen sich ihre Kritiker auf dem Feld des ausbuchstabierten politischen Denkens als überlegen.“ Ob dies wirklich ein so großes Paradox ist, sei dahingestellt, aber als Phänomen verdient es gewiss unsere Aufmerksamkeit. Allerdings muss man den Rahmen vielleicht weiter stecken. Es gab ja offenbar auch keine „ausbuchstabierte“ oligarchische Theorie. 5

Oligarch‘ (wie Anm.2), 13–16. Ivan Jordović (Kommentar zur Vortragsfassung) denkt dagegen an eine Auseinandersetzung mit innerathenischen Demokratiekritikern: Wenn bei Thukydides die athenischen Gegner Athen kritisieren, ist immer nur die Rede von der athenischen Archê, wobei die Verknüpfung von Seeherrschaft und Demokratie vollkommen fehlt; für die auswärtigen Gegner Athens ist Athen insgesamt das Problem, nicht die Demokratie. Texte wie Perikles’ „Epitaphios“, Alkibiades’ Rede in Sparta und (wie sich hier herausstellen wird) Pseudo-Xenophon zeigen jedoch, dass die Verknüpfung von Seeherrschaft und Demokratie für die Athener selber (seien sie Befürworter oder Gegner der Volksherrschaft) eine Selbstverständlichkeit darstellte. Ich danke Ivan Jordović für seine nützlichen Bemerkungen. 5 Zur Oligarchie siehe Gustav Adolf Lehmann, Oligarchische Herrschaft im klassischen Athen. Zu den Krisen und Katastrophen der attischen Demokratie im 5. und 4.Jahrhundert v.Chr. (Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Geisteswissenschaften, Vorträge, G 346.) Opladen 1997; Martin Ostwald, From Popular Sovereignty to the Sovereignty of Law. Law, Society, and Politics in Fifth-Century Athens. Berkeley 1986; wichtige Beobachtungen auch bei Julia L. Shear, Polis and Revolution. Responding to Oligarchy in Classical Athens. Cambridge 2011.

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Zum Fehlen artikulierter demokratischer Theorien zumal im 5.Jahrhundert hat man sich oft geäußert. 6 Moses Finley ging noch weiter: „Ich glaube nicht, dass es in Athen je eine [solche Theorie] gab. Es gab Vorstellungen, Maximen, allgemeine Feststellungen […], aber aus diesen ergab sich keine systematische Theorie. Und weshalb sollte es? Es ist ein kurioser Fehler anzunehmen, dass jedes soziale oder politische System in der Geschichte notwendigerweise von einem ausgefeilten theoretischen System begleitet gewesen sein muss. […] Die engagierten Demokraten reagierten auf Angriffe, indem sie sie ignorierten; sie erledigten ihre politischen Aufgaben nach ihrem eigenen Verständnis, ohne Abhandlungen darüber zu schreiben, weshalb sie es so taten.“ 7

Ich glaube nicht, dass dies als Erklärung ausreicht. Was die Reaktion „engagierter Demokraten“ betrifft, ist es nachweislich falsch. Aber schauen wir zuerst auf das literarische Umfeld. Genau im späten fünften Jahrhundert begann man, Traktate zu schreiben: über medizinische Probleme und den Einfluss des Klimas auf die menschliche Gesundheit, wohl auch über geographische und ethnographische und ganz gewiss über politische Themen. Was an Politischem erhalten ist, sind jämmerliche Fragmente, oft kaum mehr als Titel, aber die sind aufschlussreich. 8 Sophisten befassten sich in mythologisierenden Erzählungen, Essays oder großen ‚Schau- oder Konzertreden‘ mit aktuellen politischen Themen. 9 Hier knüpfen die Musterreden des

6 Siehe etwa Arnold H.M. Jones, The Athenian Democracy. Oxford 1957 (Ndr. Baltimore 1986), 41; Nicole Loraux, The Invention of Athens. The Funeral Oration in the Classical City. Cambridge, MA/London 1986, 202, 204. 7 Moses I. Finley, Athenian Demagogues, in: Past & Present 21, 1960, 1–25, hier: 9 (Ndr. in: ders. [Ed.], Studies in Ancient Society. London 1974, 9); meine Übersetzung. 8 Große Teile des hippokratischen Korpus wurden im 5.Jh. verfasst. Die Schrift „Über die Umwelt“ enthält auch politische Elemente. Politische Schriften: z.B. Antiphon, „Peri homonoias“ (Fragmente bei Diels/ Kranz Nr.87 B44a–71; Gerard J. Pendrick, Antiphon the Sophist: The Fragments. Cambridge 2002, 39–46 und frr. 45–71; dazu Michael Gagarin, Antiphon the Athenian. Austin, TX 2002, 93–99); der Traktat des Anonymus Iamblichi (Diels/Kranz Nr.89); Pseudo-Herodes Atticus, „Peri politeias“ (Umberto Albini [Hrsg., Übers., Komm.], [Erode Attico], Peri politeias. Florenz 1968) oder die in einem Kapitel kurz das Losverfahren und damit einen wichtigen Teilaspekt der Demokratie behandelnden „Dissoi Logoi“ (Alexander Becker/Peter Scholz, Dissoi Logoi, Zweierlei Ansichten. Ein sophistischer Traktat. Text – Übersetzung – Kommentar. Berlin 2004, 84–85, 101, über das betreffende Kapitel). Siehe ebd.13ff. über die zeitgenössische Argumentationskultur; ferner Marr/Rhodes, The ,Old Oligarch‘ (wie Anm.2), 3, über weitere Traktate. 9 Beispiele sind einerseits das dem Kritias zugeschriebene und wohl einem Satyrspiel entstammende „Sisyphos“-Fragment (Diels/Kranz Nr.88 B25), der Prometheus-Mythos des Protagoras (Pl. Prot. 320c–322d) oder der mit Prodikos verbundene Mythos von Herakles am Scheideweg (Diels/Kranz Nr.84 B1; zu allen

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Isokrates oder Xenophons Traktate an. Ich denke auch an die systematischen Exkurse oder großen Schaustücke, die Historiker, Tragiker und Komiker in ihre Werke einbetteten. Thukydides’ Pathologie des Bürgerkriegs oder der Melierdialog, der Agon zwischen dem logos dikaios und logos adikos in Aristophanes’ „Wolken“ oder die Verfassungsdebatte in Euripides’ „Hiketiden“ oder Herodots „Historien“ hätten leicht zu unabhängigen Essays erweitert werden können. 10 Thukydides’ Analyse der Stasis ist theoretisch geprägt, Herodots Deiokes-Logos bietet eine theoretische Herleitung der Monarchie, und man sieht zu Recht in manchen Sophisten die Gründer der politischen Theorie. 11 Da die Schriften der Vorsokratiker verloren sind, können wir nicht wissen, wie intensiv, systematisch und theoretisch sich solche Denker mit politischen Themen befassten. Wir haben zum Beispiel keine Ahnung, was wir uns unter den ‚politischen Abhandlungen‘ („Politikoi“) des Empedokles vorzustellen haben. 12 Auf jeden Fall, und das ist entscheidend, fehlte es weder an intellektuellen noch an literarischen Voraussetzungen (damit meine ich die Existenz geeigneter literarischer Gattungen und das Aufkommen von Prosaschriften 13), die eine systematische und auch theoretisch untermauerte Auseinandersetzung mit der Demokratie möglich gemacht hätten. Wenn wir dennoch keinen Hinweis darauf haben, dass dies auch getan wurde, muss es dafür andere Gründe geben. Hier muss ich zunächst einige gut bekannte Tatsachen zusammenfassen. Die Tanja Itgenshorst, Denker und Gemeinschaft. Polis und politisches Denken im archaischen Griechenland. Paderborn 2014, 252–254), andererseits Thrasymachos’ Rede über die patrios politeia (Diels/Kranz Nr.85 B1) oder der „Olympikos logos“ des Gorgias über das im Zeitalter innergriechischer Selbstzerfleischung dringende Thema von Frieden und Einigkeit (Diels/Kranz Nr.82 B7–8a; Philostr. Soph. 1,9). – Politische Essays: oben Anm.8. 10 Wenn sie sich denn nicht, wie man es gelegentlich für die Verfassungsdebatten vermutet hat, ihrerseits auf einen unabhängigen Essay stützten. 11

Stasis-Exkurs: Thuk. 3,82–84; Deiokes-Logos: Hdt. 1,96–100 (dazu Mischa Meier/Barbara Patzek/Uwe

Walter/Josef Wiesehöfer, Deiokes, König der Meder. Eine Herodot-Episode in ihren Kontexten. [Oriens et Occidens, 7.] Stuttgart 2004); Sophisten und politische Theorie: Josiah Ober, Thucydides and the Invention of Political Science, in: Antonios Rengakos/Antonis Tsakmakis (Eds.), Brill’s Companion to Thucydides. Leiden 2006, 131–159; eine kurze Zusammenfassung bei Kurt A. Raaflaub, Archaic and Classical Greek Reflections on Politics and Government. From Description to Conceptualization, Analysis, and Theory, in: Hans Beck (Ed.), A Companion to Ancient Greek Government. Malden, MA/Oxford 2013, 73–92, hier: 86–88. 12

Die „Politikoi“ werden von Diog. Laert. 8,58 erwähnt.

13

Zum Aufkommen von Prosaschriften siehe Simon Goldhill, The Invention of Prose. Oxford 2002; Jonas

Grethlein, The Rise of Greek Historiography and the Invention of Prose, in: Andrew Feldherr (Ed.), Oxford History of Historical Writing. Vol.1. Oxford 2011, 148–170.

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athenische Demokratie trieb in ihrer ‚radikalen‘ Ausformung seit der Mitte des fünften Jahrhunderts die Idee der Beteiligung aller Bürger an der Macht und Regierungsausübung so weit voran, wie es unter antiken Bedingungen überhaupt möglich war. Sie war vorbildlos: ein sensationelles Experiment. Sie veränderte die Art, Politik zu betreiben, und hatte einen tiefen Einfluss auf das Leben aller Menschen in Athen und durch die von ihr geprägte Politik weit darüber hinaus. Nicht zuletzt durch die intellektuellen Veränderungen und kulturellen Leistungen, die sie erleichterte oder gar anregte, stellte sie vieles in Frage, was in Brauch und Normen sehr lange selbstverständlich gegolten hatte, während sie umgekehrt die Kultur (insbesondere die Tragödie) brauchte, um diese Herausforderungen und Veränderungen zu verarbeiten. Sie engagierte die Bürger in präzedenzloser Intensität und produzierte enorme Energie, Begeisterung, aber auch tiefe Unsicherheit. 14 Sie provozierte deshalb weite Zustimmung und starke Opposition, in Athen selbst und in weiten Teilen Griechenlands. Nach den heftigen Unruhen, die die Reformen des Ephialtes begleitet hatten, blieb solche Opposition freilich lange unwirksam. Solange Athen erfolgreich war und das Mitmachen Vorteile brachte, engagierten sich große Teile der Oberschicht in der demokratischen Politik, auch wenn sie dem System gegenüber Vorbehalte haben mochten. Dies änderte sich, als mit der sizilischen Katastrophe die Erfolgslegitimation der Demokratie zusammenbrach. Die Belastung der Oberschicht wuchs, die Zahl der Unzufriedenen nahm zu, und zwei Jahre danach kam es zum ersten oligarchischen Putsch. 15 All dies ist hier aus mehreren Gründen wichtig. Erstens zeigt uns Pseudo-Xenophons Schrift, wie man in den Kreisen ‚der Opposition‘ dachte, als die Welt Athens in den 420er Jahren noch in Ordnung war. Man wusste genau, welche Maßnahmen zum Umsturz der Demokratie nötig waren – die Ideen und Instrumente, die das reibungslose Funktionieren des Umsturzes von 411 garantierten, waren längst vorher 14 Zu der von der Demokratie verursachten Unsicherheit und dem Bedürfnis nach Orientierung siehe Christian Meier, Die politische Kunst der griechischen Tragödie. München 1988; ders., Athen. Ein Neubeginn in der Weltgeschichte. Berlin 1993, 350–353 und passim; ders., Kultur als Absicherung der Attischen Demokratie, in: Michael B. Sakellariou (Éd.), Démocratie athénienne et culture. Athen 1996, 199–222. 15 Zur Opposition gegen die Demokratie siehe z.B. Hartmut Wolff, Die Opposition gegen die radikale Demokratie in Athen bis zum Jahre 411 v.Chr., in: ZPE 36, 1979, 279–302; Jochen Bleicken, Die Athenische Demokratie. 2.Aufl. Paderborn 1994, 371–379; siehe auch Kurt A. Raaflaub, The Discovery of Freedom in Ancient Greece. First English Ed., Revised and Updated from the German. Chicago 2004, 208–221. Zum oligarchischen Putsch von 411 siehe Lehmann, Oligarchische Herrschaft (wie Anm.5), und Shear, Polis and Revolution (wie Anm.5).

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vorhanden. Aber man wusste auch, dass in der damaligen Situation ein solcher Versuch nicht die geringste Chance hatte. 16 Interessant ist in diesem Zusammenhang die abschließende Bemerkung des Autors, dass ein Umsturz auf die Unterstützung zahlreicher zu Unrecht ihres Aktivbürgerrechts beraubter Bürger angewiesen wäre. Er charakterisiert damit eine Situation, wie sie typischerweise im Lauf einer Stasis von der Art entstand, die Thukydides in seiner klassischen Analyse des Falles Kerkyra beschreibt: Aufgrund starker innerer Spannungen und Faktionsrivalitäten kam es zu einer gewaltsamen ‚Explosion‘, in der eine ‚Partei‘ die andere vertrieb, worauf die Vertriebenen von außen (und allenfalls mit auswärtiger Unterstützung) ihre Rückkehr und den Sturz ihrer Gegner betrieben. 17 Davon war Athen damals in der Tat noch weit entfernt: In Athen, schreibt der Autor, „erleidet man atimia (den Verlust bürgerlicher Rechte) wegen ungerechter Amtsführung (adikôs archein) oder weil man in Wort oder Tat gegen das Recht verstößt (legein, prattein ta adika)“; man wird also zu Recht, nicht zu Unrecht bestraft. „Wer das bedenkt, darf nicht meinen, die Entehrten in Athen stellten eine Gefahr dar.“ 18 Nach 410 und 404 war dies anders. Zweitens ließ eben die Demokratie kaum jemanden unberührt. Sie war trotz mancher Rückschläge lange sehr erfolgreich; dies reduzierte die Notwendigkeit, sie zu rechtfertigen. Aber gleichzeitig war sie ständig angefochten; ihre Legitimität und die Regimentsfähigkeit des Demos wurden durch harsche Kritik angezweifelt, was den Erfolgs- und Rechtfertigungsdruck steigerte. 19 Es verwundert deshalb nicht, dass die Auseinandersetzung mit diesem Phänomen häufig und in allen Literaturgattungen der Zeit zu finden ist: in Tragödien, Komödien, Geschichtswerken, den Fragmenten der Philosophen und Sophisten und den Reden (obschon diese erst vom Ende des 5.Jahrhunderts an erhalten sind). Andere Verfassungen spielen dabei eine nicht unwichtige Rolle, zumal in der bekannten ‚Verfassungsdebatte‘ bei Herodot und dann natürlich bei Thukydides (im Verfassungsvergleich in der Rede des Syrakusaners Athenagoras und in der Auseinandersetzung mit Stasis in Kerkyra und Athen) 20, aber es lässt sich zeigen, dass die Diskussion sich, direkt oder indirekt,

16

Dies ist die logische Konsequenz von 1,1 und 3,1; siehe auch 3,12.

17

Thuk. 3,70–81.

18

Ebd.3,12–13.

19

Kurt A. Raaflaub, Democracy, Power, and Imperialism in Fifth-Century Athens, in: J. Peter Euben/John

R. Wallach/Josiah Ober (Eds.), Athenian Political Thought and the Reconstruction of American Democracy. Ithaca, NY 1994, 103–146. 20

158

Hdt. 3,80–82 (das analoge Stück bei Eur. Suppl. 399–455 konzentriert sich ganz auf den Gegensatz zwi-

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meistens primär auf die Demokratie konzentrierte: auf ihre Charakteristika, ihre Stärken und Schwächen, ihren Missbrauch durch ehrgeizige Politiker und skrupellose Demagogen, die prinzipielle Frage der Regimentsfähigkeit des Demos usw. Aus vielen verstreuten Mosaiksteinen kann man eine detaillierte zeitgenössische ‚Demokratie-Debatte‘ rekonstruieren. Ich habe das vor längerer Zeit versucht; das Ergebnis war aufschlussreich. 21 Genauso könnte man die Elemente einer ‚demokratischen Ideologie‘ zusammenfügen. Dennoch – den Denkhorizont dieser Auseinandersetzung mit der Demokratie bildete immer ein weiterer Rahmen mehrerer Verfassungsmöglichkeiten. Drittens haben die Entstehung der Demokratie und erst recht das Aufkommen eines ausgeprägten Gegensatzes von Oligarchie und Demokratie dem Verfassungsdenken entscheidende Impulse verliehen und die Herausbildung von Verfassungstheorien provoziert. 22 Schon in der Generation nach den Perserkriegen entwarf der Städteplaner Hippodamos von Milet eine ideale Polis-Verfassung, auf dem Reißbrett, rein theoretisch. 23 Und viertens hat man auf Kritik und Anfechtung eben doch reagiert und so etwas wie eine ‚Ideologie der Demokratie‘ entwickelt. Auf beides werde ich zurückkommen. Stellt man all dies in Rechnung, so sollten wir vielleicht nicht nach systematischen und theoretischen Abhandlungen speziell und nur über die Demokratie suchen. Auch die großen Werke der politischen Philosophie im vierten Jahrhundert enthalten ja nur je Teile einer solchen Abhandlung. Sie nehmen sich nicht systematisch eine Verfassung nach der andern vor, sondern suchen letztlich nach der besten oder einer idealen Verfassung und tun dies durch Zusammenschau, Vergleich, Abwägung von Vor- und Nachteilen, Untersuchung von Prozessen, Kausalabläufen usw. Die Notwendigkeit, eine solide Grundlage für solche umfassenden Analysen zu schaffen, veranlasste in Aristoteles’ Schule das Sammeln und Studium zahlreicher Polis-Verfassungen verschiedenster Art. 24 Für das hier fassbare Bedürfnis nach Ein-

schen Demokratie und Tyrannis); Thuk. 6,38–39 (Athenagoras); 3,70–84 (Kerkyra); 8,45–54, 63–77, 86, 89– 97 (stasis in Athen). 21 Kurt A. Raaflaub, Contemporary Perceptions of Democracy in Fifth-Century Athens, in: CM 40, 1989, 33–70 (auch für die Konzentration auf die Demokratie). 22 Raaflaub, Greek Reflections on Politics and Government (wie Anm.11), 88f. 23 Zu Hippodamos’ idealer Verfassung siehe Aristot. pol. 1267b24–1268a16. 24 Siehe die Formulierung des Programms in Aristot. eth. Nic. 10,9,23. Von den 158 politeiai ist einzig die der Athener fast vollständig erhalten; siehe Peter J. Rhodes, A Commentary on the Aristotelian Athenaion po-

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bettung des Partikularen in eine breite und vergleichende Zusammenschau finden sich schon im fünften Jahrhundert zumal in den Verfassungsdebatten und Verfassungsvergleichen wichtige Zeugnisse. Dazu kommt ein Weiteres, das besonders auch für unsern Autor wesentlich ist. Die Demokratie war in untrennbarer Wechselwirkung mit Krieg (der Entwicklung von Seekriegsführung in großem Stil) und Herrschaft nach außen (Athens Seereich) entstanden 25, die erste voll entwickelte Demokratie war gleichzeitig militaristisch und imperial. 26 Es war deshalb von vornherein schwierig, eine Diskussion der Demokratie auf die verfassungstechnischen Aspekte und Institutionen zu beschränken. Die Demokratie wurde in einem viel breiteren Rahmen gesehen, als Herrschaftsform, die Herrschaft im Innern mit Herrschaft nach außen kombinierte. Debatten über grundlegende Probleme der Zeit, wie Freiheit gegenüber Imperialismus, Frieden gegenüber Krieg, waren kaum von der Debatte über die Demokratie zu trennen. Schließlich wurde seit alters die Frage „Wer herrscht?“ mit einer anderen verknüpft: „Wer darf herrschen?“ Die Antwort hatte man in sozial-ethischen Kriterien gefunden: Weil nur die Oberschichten „gut“ waren, waren nur sie zur Herrschaft in der Polis qualifiziert. Noch dem fortschrittlichen Solon war klar, dass das Volk mit seinem „ungeordneten Sinn“ nicht zu Führungsaufgaben fähig war. Wie man reagierte, wenn die kakoi (die „Gemeinen“) gleichberechtigt wurden, lässt sich bei Theognis nachlesen. Die für die Bezeichnung von sozialen Schichten verwendete Terminologie war seit je moralisch verfärbt. 27 Es war unvermeidlich, dass dies die Beurteilung der Demokratie beeinflusste. Für all dies bietet der pseudo-xenophontische Traktat wichtige Zeugnisse. Bevor wir diese weiterverfolgen, müssen wir nach der Bedeutung von politeia im Titel der Schrift fragen.

liteia. Oxford 1981 (Ndr. mit Zusätzen und Korrekturen ebd.1993); ders., The Athenian Constitution Written in the School of Aristotle. Liverpool 2017. 25

Kurt A. Raaflaub, The Breakthrough of Dêmokratia in Mid-Fifth-Century Athens, in: ders./Josiah Ober/

Robert W. Wallace, Origins of Democracy in Ancient Greece. Berkeley 2007, 105–154. 26

Für diesen Zusammenhang ist jetzt zu verweisen auf David M. Pritchard (Ed.), War, Democracy and

Culture in Classical Athens. Cambridge 2010; ders., The Athenian Democracy at War. Cambridge (im Erscheinen). 27

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Solon, fr. 5,1–2 und 6 West; Theognis, z.B. 53–58. Zur Terminologie unten im Text zu Anm.68.

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III. Pseudo-Xenophons Begriff der politeia Wie häufig in der Antike, ist der Titel der Schrift den ersten Wörtern entnommen: peri de tês Athênaiôn politeias. 28 Dies muss eine der frühesten Bezeugungen von politeia sein. Man ist natürlich versucht, das Wort hier im Sinn der aristotelischen „Athênaiôn politeia“ auf die Verfassung im engeren Sinn zu beziehen, und die übliche Übersetzung als „Verfassung der Athener“, „Constitution of the Athenians“ und dergleichen befördert diese Tendenz. Dass dies hier nicht zutrifft, ergibt sich aus dem Inhalt und bestätigt ein Blick auf Xenophons „Lakedaimoniôn politeia“. Dieser Titel ist wohl nicht dem Werk selber entnommen, in dem politeia nur einmal vorkommt (Xen. Lak. pol. 15,1), sondern vermutlich von alexandrinischen Gelehrten in Analogie zu anderen politeiai gewählt worden. 29 Xenophon verwendet viel öfter epitêdeumata, diaita, nomoi und ähnliche Termini, die Lebensweise, Sitten oder Organisation der Gemeinde bezeichnen. 30 Und in der Tat sagt der Autor kaum etwas über spezifisch verfassungstechnische Angelegenheiten (wie das Funktionieren und die Aufgaben von Ämtern, Rat und Versammlung oder den politischen Entscheidungsprozess). Die einzige Institution, die er im Detail behandelt, ist das Königtum, aber dies vor allem im Hinblick auf seine Rolle im Krieg und seine Ausnahmestellung im Rahmen griechischer Polis-Ordnungen. 31 Die gerousia wird kurz erwähnt (sie wird nur mit älteren, weisen und charakterlich bewährten Männern besetzt und ist für Prozesse verantwortlich, in denen es um die Todesstrafe geht), aber nicht aus Interesse an verfassungsrechtlichen Fragen, sondern weil diese hohe Bewertung des Alters sicherstellte, dass die Spartiaten ihre Tugend bis ins hohe Alter kultivieren. 32 Worum es Xenophon primär geht, sagt er klar am Anfang: Er will dem Leser verstehen helfen, weshalb Sparta als eine von extremem Mangel an wehrfähigen Bürgern (oliganthrôpia) geplagte Polis dennoch die mächtigste und angesehenste von allen sein kann. Den Grund sieht er in der Ordnung, die Lykurg seiner Gemeinde ver-

28 Dazu wie zum Zweck der Schrift: Osborne, The Old Oligarch (wie Anm.3), 1–4; Marr/Rhodes, The ,Old Oligarch‘ (wie Anm.2), 2. 29 Moore, Aristotle and Xenophon on Democracy and Oligarchy (wie Anm.3), 19; Marr/Rhodes, The ,Old Oligarch‘ (wie Anm.2), 2. 30 Z.B. Xen. Lak. pol. 1,1, 5,1. Siehe auch Xenophon, Die Verfassung der Spartaner. Hrsg., übers.u. erl. v. Stefan Rebenich. Darmstadt 1998, 15–18, bes. 16. 31 Xen. Lak. pol. 13 und 15. 32 Xen. Lak. pol. 10,1–3.

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schrieb und die deren Erfolg garantierte, solange sie strikt befolgt wurde. Da die Spartaner jedoch neuerdings weder den Göttern noch den Gesetzen Lykurgs gehorchten, sei auch ihre Führungsstellung in Frage gestellt. 33 Die Gesetze Lykurgs jedoch betreffen die gesamte wohlbekannte Lebensordnung der Gemeinde: das Erziehungssystem, die Maßnahmen, die allen Altersklassen Disziplin, Gehorsam und ständiges Training auferlegen, Geld, Gold und Reichtum uninteressant machen und Untertänigkeit allen Amtsinhabern gegenüber sicherstellen, die Syssitien und die Anordnungen, die Männer und Frauen befähigen sollen, besonders kräftige Kinder zu produzieren, die absolute Priorität des Dienstes und Todes für die Gemeinde usw. Insgesamt ist somit die „Lakedaimoniôn politeia“ eine Schrift nicht über die Verfassung im engeren Sinn, sondern über die gemeinschaftliche Ordnung und Lebensformen Spartas. Auch wenn Xenophon dafür meist nicht politeia verwendet, so steht es doch fest, dass politeia auch in diesem weiten Sinn den „way of life“, die gesamte Gemeinschafts- und Lebensordnung einer Polis bezeichnen kann. 34 Es liegt deshalb nahe zu vermuten, dass dies auch für den pseudo-xenophontischen Traktat über die politeia Athens gilt. Auch hier suche ich zunächst nach Aspekten, die die Verfassung im engeren Sinn betreffen, dann nach Lebensformen im weiteren Sinn und Aspekten, die thematisch mit diesen verbunden sind. Schon der Anfang der Schrift bezeugt, dass der Autor die demokratische Verfassung im engeren Sinne keineswegs ignoriert. Er definiert sie durch das Recht jedes Bürgers, der dies will (ho boulomenos), das Wort zu ergreifen und Ämter zu bekleiden, ob gelost oder gewählt. 35 Allerdings, sagt er, bemerkt der Demos, dass es zu seinem Vorteil gereicht, wenn diejenigen Ämter, die die Sicherheit des gesamten Volkes gewährleisten (die Strategie und Hipparchie), den Fähigsten überlassen und nicht durch Losung besetzt werden, während die anderen Ämter, die Sold und dem oikos Nutzen einbringen, vom Demos beansprucht werden. 36 Am Ende dieser Einleitung hebt der Autor das allgemeine Recht der Mitwirkung und Mitsprache in Versammlung und Rat nochmals ausdrücklich und kritisch hervor. 37

33

Xen. Lak. pol. 14; siehe auch Plut. Mor. 239f–240a.

34

Siehe auch Rebenich, in: Xenophon, Die Verfassung der Athener (wie Anm.30), 21. Zur Bedeutung von

politeia siehe Mogens H.Hansen, The Athenian Democracy in the Age of Demosthenes. Structures, Principles, and Ideology. Erw. Ausg. Norman, OK 1999, 64f.

162

35

1,2. Siehe das Zitat unten im Text zu Anm.90.

36

1,3.

37

1,6–9.

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Schon hier wird jedoch deutlich, dass verfassungstechnische Details dem Autor nicht als solche wichtig sind, sondern unter ganz anderen Gesichtspunkten abgehandelt und anderen Argumentationszwecken nutzbar gemacht werden. Hier geht es darum, dass der Demos die politische Mitwirkung dafür eigentlich nicht qualifizierter Bürger in Kauf nimmt, weil dies der Demokratie nützt und sie stützt, und bei der Ämterbekleidung auf persönlichen Nutzen schaut, somit auf die Ämter verzichtet, die militärische Kompetenz verlangen und nicht besoldet sind. 38 Anderweitig erwähnt der Verfasser verschiedene Aufgaben, die die Gerichte oder der Rat zu erledigen haben (Entscheidungen über Krieg, Finanzen, Gesetzgebung, Vorgänge in der Polis und unter den Bundesgenossen, das Einsammeln des Tributs, die Verwaltung der Schiffswerften und Heiligtümer usw.). Auch diese durchaus wichtigen Details interessieren nicht als solche, sondern weil sie der Erklärung eines aktuellen und vielkritisierten Problems dienen: der für die Demokratie typischen unerträglich schleppenden Erledigung von Geschäften. Bestechung hilft zwar, löst das Problem aber nicht, weil, abgesehen von einer Vielzahl von Festen, die Gerichte durch zahllose Untersuchungen, Rechtsfälle, Anfechtungen und Schlichtungen notorisch überlastet sind. 39 Auch die große Zahl der Richter in den Dikasterien führt der Verfasser nur an, um zu zeigen, dass eine an sich logische Möglichkeit der Abhilfe – die Zahl der Richter zu verkleinern und gleichzeitig, dies ist wohl impliziert, die Zahl der Dikasterien zu vergrößern – nicht praktikabel ist, weil dies die Bestechung der Richter erleichtern würde. 40 Dieser Fall dient dem Verfasser gleichzeitig als Beispiel für die These, dass selbst kleine Verbesserungen in der Praxis (pragmata), die das System verbessern könnten, sich aus anderen Gründen verbieten. 41 Seine Folgerung ist grundlegend und aufschlussreich: „So wie die Dinge nun also beschaffen sind, sage ich, dass es nicht möglich ist, die Dinge (ta pragmata) in Athen anders zu handhaben, als sie sich jetzt verhalten, außer dass es in kleinem Rahmen möglich ist, das eine wegzunehmen, das andere hinzuzufügen; viel umzuwälzen ist nicht möglich, ohne etwas von der Demokratie wegzunehmen.

38 1,3 und 6–7. 39 3,2–6. Feste: siehe auch 3,8. 40 3,7. 41 3,8.

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Dafür, die politeia insgesamt zu verbessern, kann man vieles herausfinden, aber etwas zur Verfügung zu stellen, das die Demokratie erhält und es gleichzeitig möglich macht, eine bessere Polisordnung zu schaffen (beltion politeuein), das hinreichend herauszufinden ist nicht leicht, außer, was ich eben gesagt habe, indem man in kleinem Rahmen etwas hinzutut oder wegnimmt.“ 42

Der Verfasser, der ja das System grundsätzlich ablehnt 43, ist freilich nicht daran interessiert, die Möglichkeit solch kleiner Verbesserungen weiterzuverfolgen. Insgesamt geht es dem Autor also weder um eine Beschreibung oder Analyse der demokratischen Verfassung an sich noch überhaupt um eine Beschreibung oder eine grundsätzliche Analyse. Wie Xenophon in der „Lakedaimoniôn politeia“ argumentiert auch er für eine These, die er am Anfang klar formuliert: Die demokratische politeia ist darauf angelegt, die Herrschaft des Demos (im Sinn der Unterschichten) zum Nutzen des Demos zu sichern, und diesen Zweck erfüllt sie sehr gut. Viele Aspekte, die die Gegner kritisieren, ergeben Sinn, wenn man sie aus dieser Perspektive betrachtet. Um dies nachzuweisen, setzt sich der Autor mit einigen dieser Kritikpunkte auseinander. Dies bestimmt im Wesentlichen den Inhalt seines Traktats.

IV. Demokratie als Herrschaft des Volkes zum Nutzen des Volkes Zu diesen Kritikpunkten gehören natürlich auch die demokratischen Institutionen, zumal das allen Bürgern zustehende Recht der freien Rede. Denn dieses gewährleistet, dass die Vertreter der Unterschichten das für ihresgleichen Vorteilhafte vorbringen können, während sonst nur das für die Oberschichten Nützliche zur Sprache käme. 44 „Aufgrund solcher Einrichtungen (diaitêmata) nun ist eine Polis wohl nicht die beste, aber die Demokratie wird so am besten aufrechterhalten. Denn das Volk will nicht, dass es in einer gut verfassten (eunomoumenê) Polis Knechtschaft leistet (douleuein), sondern es will frei sein und herrschen, wogegen die schlechte Verfassung (kakonomia) es wenig bekümmert; denn was du für eine

164

42

3,8–9; Übers. W. Schuller (stark modifiziert).

43

1,1; 1,9; 3,1.

44

1,6–7.

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keinesfalls gute Verfassung hältst (ouk eunomeisthai), dadurch ist das Volk stark und frei.“ 45

Eine eunomia dagegen würde ausschließlich dem Interesse der Oberschichten dienen. „Durch diese guten Maßnahmen jedoch dürfte das Volk sehr schnell der Sklaverei verfallen.“ 46 Am Ende des zweiten Kapitels behauptet der Autor sogar, das Volk hasse die Edeln, weil sie nicht die Interessen des Volkes verträten. 47 Die Methoden nun, mit denen die Demokratie den Vorteil des Volkes sichert, sind weit gespannt: „In jeder Hinsicht (pantachou) wird den demokratisch gesinnten Unterschichten [wörtlich: den Schlechten, Armen und demokratisch Gesinnten] mehr zugeteilt als den Mitgliedern der Oberschicht [den Nützlichen].“ 48

Dies betrifft zunächst die in Athen herrschenden Sitten und Lebensformen, die der Autor ganz unsystematisch einstreut und gelegentlich polemisch verzerrt. Hierzu gehören die Popularisierung von Gymnasien, Palästren und Bädern 49, Rechtsprechung mehr nach Nutzen als Gerechtigkeit und die ‚Arbeitsteilung‘, dass die Reichen für Opfer, Feste, Agone und die Ausrüstung der Schiffe aufkommen, der Demos aber das Opferfleisch verzehrt, an den Festen tanzt, in den Agonen rennt, die Schiffe rudert und dabei Geld verdient. 50 Die Massen sind mangels Landbesitz gegen feindliche Invasionen gefeit, können also (so wird impliziert) ohne Risiko eine für sie vorteilhafte aggressive Außenpolitik betreiben, während Reiche und Bauern von solchen Angriffen betroffen und deshalb in der Außenpolitik kompromisswilliger sind. 51 Die Anonymität der Masse erlaubt es dem Demos, Einzelne für politische Entscheidungen haftbar zu machen, sich selber aber um die Verantwortung zu drücken. 52 Schließlich hat der Demos die Macht, jede kollektive Beleidigung oder Verspottung des Volkes zu unterbinden und gleichzeitig die von Individuen zu ermutigen, zumal wenn diese gegen die Interessen des Volkes handeln. 53

45 1,8. 46 1,9. 47 2,19. 48 1,4. Einzelne Aspekte sind in 1,13, 2,9–10, 2,14 und 2,16–18 angeführt. 49 2,9–10. 50 1,13. 51 2,14 und 2,16. 52 2,17. 53 2,18.

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Ein größerer Katalog der dem Demos aus der Demokratie erwachsenden Vorteile betrifft die Seemacht und die Herrschaft der Athener über ihre Bundesgenossen. Auch hier lassen die angeführten Punkte kein Organisationsprinzip erkennen; ich reihe sie in einen sinnvollen Zusammenhang ein. Der Verfasser erwähnt die Ausbeutung und Entmachtung der reichen Oberschichten in den Poleis, was direkt und indirekt der Macht des athenischen Demos zugute kommt 54, sowie den Gerichtszwang, der den Athenern individuell und kollektiv manche finanzielle Vorteile bringt, ihre Freunde in den Poleis schützt und die Bundesgenossen zwingt, ihr Recht in Athen zu suchen und dabei die Athener zu hofieren, wie wenn sie deren Sklaven wären. 55 Dem entspricht die Förderung der Unterschichten in den Poleis, was deren Loyalität gegenüber dem athenischen Demos sichert. 56 Ihr auswärtiger Landbesitz und die Ämter, die sie in den Poleis bekleiden, zwingen die Athener zu reisen; dadurch werden sie mit den für die Flotte wichtigen Fähigkeiten und Kenntnissen (Rudern, Steuern, Gebrauch der spezifischen Terminologie) vertraut. 57 Seeherrschaft bedingt Überlegenheit der Flotte, und damit sind weitere Vorteile verbunden. Die Athener sind gegen Missernten gefeit, da sie die benötigten Güter jederzeit aus nicht betroffenen Gegenden importieren können. Sie genießen Produkte aus aller Welt. 58 Im Unterschied zu den übrigen Griechen sind sie Kosmopoliten in Sprache, Kleidung und Lebensweise: Sie mischen alles, was von Griechen und Barbaren zu ihnen kommt. 59 Ebenso beziehen sie von überallher die Produkte, die für den Flottenbau benötigt werden und hindern die jeweiligen Produzenten daran, solche Produkte anderswo zu verkaufen. 60 Seemacht reduziert die Abhängigkeit der Athener von ihrer Hoplitenarmee, die im Vergleich zu der der Feinde schwächer, aber den Landstreitkräften der Bundesgenossen immer noch überlegen ist, und das reicht. 61 Zudem sind die Bundesgenossen auf ihren Inseln isoliert, was das Zusammenziehen großer Heere unmöglich macht, während Poleis auf dem Festland durch Furcht und Zwang (ihre Abhängigkeit von Importen und Exporten) unter Kontrolle

166

54

1,14–15.

55

1,16–18.

56

3,10–11.

57

1,19–20.

58

2,6–7. Siehe hier auch 1,19–20, 2,8.

59

2,8.

60

2,11–12.

61

2,1.

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gehalten werden. Die Flotte erlaubt Raubzüge gegen feindliche Küsten unter Vermeidung feindlicher Truppen, Kriegszüge über lange Distanzen und die Ausnützung von sicheren Landungsstellen in der Nähe der beabsichtigten Angriffsziele. 62 Athens einzige Schwäche besteht darin, dass es keine Insel ist. Die hier angeschlossene kurze Diskussion der militärischen Vorteile einer Insellage erinnert an Argumente des Perikles bei Thukydides. 63 Die dominierende Rolle der Flotte erklärt auch, weshalb die Sklaven in Athen frei und furchtlos leben und, wie die Metöken, Redegleichheit mit den Freien genießen 64: „Wo immer eine Seemacht existiert, besteht aus finanziellen Gründen eine Notwendigkeit, den Sklaven als Sklaven zu dienen (andrapodois douleuein), damit wir Abgaben von ihrem Verdienst bekommen, und sie frei leben zu lassen.“ 65

Die Bürger, heißt das, holen so bedeutend mehr aus ihren Sklaven heraus als in konventioneller ‚Sklavenhaltung‘; darin liegt der Vorteil des Systems. Obschon gerade in diesem Abschnitt manches sarkastisch klingt und übertrieben ist, zeigt sich hier doch nochmals besonders deutlich, worum es dem Autor geht. Er will die demokratische politeia Athens im Sinne einer gemeinschaftlichen Ordnung und Lebensform aus einer bestimmten Perspektive, nämlich der Reaktion auf von Kritikern vorgebrachte Einwände, erklären. Diese Einwände bestimmen großenteils die Auswahl der Aspekte, die er bespricht. 66 Damit wiederum will er nachweisen, dass diese Ordnung, wie berechtigt auch immer die Kritik sein mag, nach internen Kriterien logisch ist und das eine und einzige Ziel, dem sie dient, eindrucksvoll erfüllt: Sie bringt dem athenischen Demos Vorteile und Nutzen und gewährleistet seine Herrschaft und Freiheit. Dass nun die so weit interpretierte politeia immer noch als dêmokratia gilt, wirft die Frage nach dem Demokratiebegriff des Autors auf.

62 2,2–5; 2,13. 63 2,14–16. Mehr dazu unten im Text zu Anm.73 (mit Belegen für Thukydides). 64 1,10–12. 65 1,11. 66 1,1; 1,4–9; 3,1; siehe auch Ober, Political Dissent (wie Anm.3), 18.

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V. Pseudo-Xenophons Demokratiebegriff Dieser Demokratiebegriff ist komplex und umfasst drei Aspekte. Zunächst die Herrschaft des Demos im politischen Sinn: Aus dieser Perspektive versteht der Autor die Demokratie elementar als Herrschaft der Unterschichten über die Oberschichten, die eben dadurch sichergestellt wird, dass jeder Bürger das Recht hat, Ämter zu bekleiden und in Rat und Versammlung mitzuwirken und mitzusprechen. 67 Der Autor gewährt uns detaillierten Einblick in die in seinen Kreisen übliche Vermischung moralischer und sozialer Terminologie. 68 Der Demos in diesem exklusiven Sinn der Unterschichten, das sind die Schlechten (ponêroi), Schlechteren (cheirones), die schlimmsten Elemente (to kakiston), die Armen (penêtes), Verrückten (mainomenoi); diejenigen, die wegen ihrer Unwissenheit (amathia), mangelnden Disziplin in Denken und Verhalten (ataxia) und Schlechtigkeit (ponêria) zu üblen Handlungen (aischra) getrieben werden und wegen Mangels an Geld (endeia chrêmatôn) weder Bildung noch Wissen erwerben können (apaideusia kai amathia); der Demos, das sind die Massen (plêthos) und der Pöbel (ochlos). Die Oberschicht dagegen, das sind die Nützlichen (chrêstoi), Edeln (gennaioi), Vornehmen (esthloi), Besseren (beltiones), Besten (beltistoi, aristoi), Klügsten (dexiôtatoi), Kompetenten (dynatoi) und Kompetentesten (dynatôtatoi), Reichen (plousioi), denen es gutgeht (eudaimones) und unter denen man die geringste Zügellosigkeit (akolasia) und Ungerechtigkeit (adikia) und das größte Wissen (akribeia) über das Gute (chrêsta) findet. 69 Die Herrschaft dieser Unterschichten dient primär zwei Zwecken. Der eine ist die Sicherung der Freiheit des Demos, die untrennbar mit seiner Macht und Herrschaft in der Demokratie verbunden ist. 70 Der zweite (bereits behandelte) Zweck ist der so weit als möglich gefasste Nutzen des Demos. Dieser ist entscheidend für den zweiten

67

Dass der Autor nie Vollständigkeit anstrebt, zeigt sich hier darin, dass er als Ausnahmen nur die mili-

tärischen Führungsämter nennt, nicht aber die höchsten Ämter in der Finanzverwaltung. Da deren Inhaber mit ihrem Vermögen haften, müssen sie der höchsten Vermögensklasse angehören. Dadurch ist der Demos von vornherein disqualifiziert. 68

Siehe z.B. Walter Donlan, Changes and Shifts in the Meaning of Demos in the Literature of the Archaic

Period, in: La Parola del Passato 135, 1970, 381–395 (= ders., The Aristocratic Ideal and Selected Papers. Wauconda, IL 1999, 225–236). 69

Siehe z.B. 1,1–6. Vgl. auch die Zusammenstellung der Termini bei Osborne, The Old Oligarch (wie

Anm.3), 16; Marr/Rhodes, The ,Old Oligarch‘ (wie Anm.2), 170–172; Weber, in: Pseudo-Xenophon, Die Verfassung der Athener (wie Anm.2), 77. 70

168

1,8–9. Siehe dazu unten im Text zu Anm.101–103.

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Aspekt des pseudo-xenophontischen Demokratiebegriffs: die Herrschaft des Demos in seiner eigenen Polis. Die Kontrolle der Institutionen erlaubt es dem Demos, in jeder Hinsicht sich selber mehr zuzuteilen als den Guten, das heißt die Polisordnung so zu gestalten, dass die Massen immer bevorteilt werden. Beispiele wurden zuvor angeführt. 71 Vorteile des Demos und Sicherung der Demokratie bedingen sich gegenseitig: Je mehr Vorteile der Demos hat, desto größer sind seine Macht und Fähigkeit, die Demokratie zu verteidigen, und desto geringer die Möglichkeiten der Oberschicht, diese anzufechten. Der dritte Aspekt des Demokratiebegriffs betrifft die Herrschaft des athenischen Demos über die Bundesgenossen in der Archê. Auch hier bestehen direkte Interdependenzen: zwischen der Herrschaft des Demos in Athen und seiner Herrschaft in der Archê und zwischen dieser und der Ausbeutung der Oberschichten bzw. der Förderung der Unterschichten in den Poleis. 72 Nur diese direkte Verknüpfung von Demokratie und Archê rechtfertigt es, dass der Autor den Vorteilen von Seemacht und Seeherrschaft für den Demos so viel Raum gewährt. Die starke Betonung dieser machtpolitischen Dimension des Demokratiebegriffs ist nicht einzigartig, aber ungewöhnlich. Mehr dazu später. Damit sind die Voraussetzungen geklärt, und wir können uns jetzt der für das Thema des vorliegenden Bandes entscheidenden Frage zuwenden: Welche Rolle spielt die demokratische Ideologie in Pseudo-Xenophons Denken und Argumentation?

VI. Pseudo-Xenophon und demokratische Ideologie Ich definiere ‚Ideologie‘ hier absichtlich weit und nicht sehr präzise; verstanden sei darunter der Gesamtkomplex von Ideen und Argumenten, die der positiven Darstellung und Rechtfertigung der Demokratie und allenfalls der Widerlegung von Kritik an der Demokratie dienen. Wieweit können wir überhaupt hoffen, in diesem Traktat Aspekte demokratischer Ideologie zu fassen? Da der Autor lediglich nachweisen will, dass die athenische politeia nach internen Kriterien Sinn macht und ihren Zweck erfüllt, schaut er 71 1,4. Siehe oben im Text zu Anm.48ff. 72 1,14.

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primär auf die Lebenswirklichkeit, auf das, was die Athener tun, und nicht so sehr auf das, was sie sagen oder behaupten. Es ist deshalb zu erwarten, dass er nur flüchtige Einblicke in ideelle Zusammenhänge gibt, die er allenfalls gut kennt, auf die einzugehen er jedoch kaum Grund hat. Die Liste dessen, was er nicht erwähnt, müsste deshalb länger sein als die umgekehrte, und unsere Chancen, etwas über die oligarchische Gegenideologie zu erfahren, scheinen von vornherein größer. Wir sind über die ‚demokratische Ideologie‘ recht gut informiert, auch wenn uns dazu keine zeitgenössische systematische Behandlung vorliegt. Wohl aber können wir uns, wie zuvor ausgeführt, auf eine große Menge verstreuter zeitgenössischer Äußerungen zur ‚Demokratiedebatte‘ stützen, aus denen sich auch ideologische Aspekte ableiten lassen. Außerdem hatte die Entstehung einerseits der Demokratie als solcher und andererseits der intensiven und konfliktgeladenen Rivalität zwischen Oligarchie und Demokratie der Herausbildung von Verfassungsdenken und Verfassungstheorie entscheidende Impulse verliehen. Solche Theorien spielten auch in der ideologischen Auseinandersetzung mit der Demokratie eine wichtige Rolle, und ich rolle die Sache von dieser Seite her auf. Unser Autor ist zwar kein großer Theoretiker, aber er kennt offensichtlich manche der in seiner Zeit geläufigen Theorien. Dies gilt besonders für eine auf der Insularität der seebeherrschenden Polis basierende Theorie der Seemacht und Seekriegführung, die auch für den thukydideischen Perikles zentral ist. Dieser betont freilich, dass die Athener durch die Beherrschung der See und die Preisgabe Attikas – die, so ist zu ergänzen, durch die uneinnehmbare ,Festung Athen-Piraeus‘ möglich geworden ist – dem Ideal der Insularität so nahekommen, wie es überhaupt geht. 73 Demgegenüber besteht unser Autor auf dem Mangel, dass die Athener eben nicht eine Insel bewohnen; sonst wären sie vor feindlichen Invasionen sicher und müssten sich nicht vor Verrat und Revolten fürchten, die oft von außen unterstützt werden. 74 Dies spiegelt den Gesichtspunkt des Adels, für den die Güter in Attika und Beziehungen zu Gleichgesinnten in anderen Poleis grundlegend waren. In diesem Fall kennt der Autor also die Ideologie der Gegenseite, lehnt aber in seiner soziopolitischen Befangenheit die Anwendung der ihr zugrundeliegenden Theorie auf Athen ab.

73

Siehe bes. Thuk. 1,144,5 mit 142,4, 144,3–4 und 2,62,3. Hdt. 1,170 enthält ebenfalls einen Hinweis auf

die hohe Bedeutung von Insularität. Themistokles’ Befestigung des Piräus kurz nach den Perserkriegen (Thuk. 1,93) zeigt, dass man in Athen schon früh in diesen Kategorien dachte. 74

170

2,14–15.

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Eine zweite Theorie betrifft die utilitaristische Interpretation von Verfassungen, die als deren Hauptzweck den Vorteil der je Herrschenden postuliert. 75 PseudoXenophon akzeptiert dies als selbstverständlich. Es ist eine unabänderliche Tatsache, dass das Volk ihm wohlgesinnte Bürger bevorzugt, die seine Interessen fördern, auch wenn sie schlecht (ponêroi) sind, und dass es die Edeln hasst, weil sie ihre aretê nur zum Schaden des Volkes einsetzen. Er selber könne dem Volk seine Demokratie verzeihen, weil verständlich sei, dass jeder seinen Vorteil suche, wie ja auch eine Oligarchie nur den Nutzen der Oberschicht verfolgen würde. 76 Erstaunlicherweise taucht dieses Argument in der zeitgenössischen Literatur wenig auf. Es ist in Aristophanes’ „Wespen“ prominent, und in der Verfassungsdebatte mag Herodot mit dem Hinweis auf die Verschwörung der Schlechten zur Schädigung des Gemeinwesens darauf anspielen. 77 Wohl aber ist das Argument offenbar von demokratischen Kritikern des Adels verwendet worden. So kritisiert Euripides die Verantwortungslosigkeit und Selbstsucht der Oberschicht: Die Reichen sind (für die Gemeinde) von geringem Nutzen und streben nur nach Vermehrung ihres Wohlstandes. 78 Wenn man dies verallgemeinern dürfte, hätte der Autor wiederum ein Element demokratischer Ideologie aufgegriffen, aber umgekehrt auch gegen das Volk gewendet. Dass er als Mitglied der Oberschicht von diesem Argument intensiven Gebrauch macht, ist gut verständlich, aber dass er zugeben würde, dass gerade die Mitglieder dieser Oberschicht von den Konsequenzen des Systems am meisten profitierten, wäre kaum zu erwarten. Aristophanes’ kritische Komödien, besonders die „Ritter“, und zumal die inschriftliche Aufzeichnung konfiszierter Vermögen der 415 wegen ihrer Beteiligung an religiösen Freveln Verurteilten erlauben ja daran nicht den geringsten Zweifel. 79 Ein dritter Bereich, in dem Theorien entwickelt wurden, betrifft direkt die Verfassung und die Demokratie. Es ist gewiss kein Zufall, dass es in der Generation nach

75 Zum Aufkommen utilitaristischer Theorien siehe Peter Spahn, Das Aufkommen eines politischen Utilitarismus bei den Griechen, in: Saeculum 37, 1986, 8–21. Diese Idee durchzieht den ganzen Traktat, ist aber an den hier genannten Stellen besonders prominent. 76 1,6–9; 2,19–20. 77 Hdt. 3,82,4. 78 Eur. Suppl. 238–243. 79 Russell Meiggs/David M. Lewis (Eds.), A Selection of Greek Historical Inscriptions to the End of the Fifth Century B. C. Oxford 1988, Nr.79; siehe auch Arnold Wycombe Gomme/Anthony Andrewes/Kenneth Dover, A Historical Commentary on Thucydides. Vol.4. Oxford 1970, 276–288.

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den Perserkriegen, in der die Demokratie ihre entscheidenden Entwicklungsphasen durchlief, der Städteplaner und Architekt des Piräus, Hippodamos von Milet, war, der nach Aristoteles als erster eine ideale Polis-Verfassung entwarf. 80 Die in Aristoteles’ Schule entstandene „Athênaiôn politeia“ bezeugt, dass theoretische Verfassungskonstruktionen in oligarchischen Debatten im Umfeld des Umsturzes von 411 eine Rolle spielten. 81 Versuche, die Demokratie zu ‚zähmen‘, etwa durch die Einführung der graphê paranomôn, begannen wohl schon früher. 82 Spezifisch auf die Demokratie bezogene Theorien betrafen ihre Rechtfertigung, die Mischverfassung und den Verfassungsumsturz. Die Idee einer gemischten Verfassung taucht erstmals in Thukydides’ persönlichem Kommentar zur Verfassung der 5000 von 411/10 auf. 83 Für all dies liegt Pseudo-Xenophon zu früh. Ansätze zu der später von Platon und Polybius ausgebauten Theorie des Verfassungswandels (metabolê politeiôn) finden wir jedoch schon in Herodots Verfassungsdebatte, wo postuliert wird, dass sowohl die Oligarchie wie die Demokratie, wenngleich aus verschiedenen Gründen, notwendigerweise in eine Monarchie umschlagen müssen. 84 Dies ist nun freilich gerade nicht Pseudo-Xenophons Meinung, im Gegenteil: Seines Erachtens ist die in seiner Zeit herrschende Demokratie so solide etabliert, wie es nur geht. Er kennt die Bedingungen und Methoden, die einen Umsturz der Demokratie möglich machen könnten, aber die Idee der Zwangsläufigkeit eines solchen Umsturzes liegt außerhalb seines Denkhorizonts. Wichtiger ist die Rechtfertigung der Demokratie. Praktisch alle theoretischen Argumente, die wir im 4.Jahrhundert zu diesem Thema finden, waren bereits früher mindestens ansatzweise bekannt. Dazu gehört die Theorie der ‚kumulativen Qualifikation‘ (Summierungstheorie), die bei Herodot und Thukydides anklingt. 85 Sie

80

Siehe oben Anm.23.

81

Aristot. Ath. pol. 30.

82

Zur graphê paranomôn siehe Bleicken, Die Athenische Demokratie (wie Anm.15), 352 („wohl schon in

perikleischer Zeit eingerichtet“); Hansen, The Athenian Democracy (wie Anm.34), 205–212 (205: kaum vor dem Peloponnesischen Krieg, erstmals sicher datiert auf 415). 83

Die Idee einer gemischten Verfassung: Thuk. 8,97,2; dazu Wilfried Nippel, Mischverfassungstheorie

und Verfassungsrealität in Antike und früher Neuzeit. Stuttgart 1980, 52–63; Ostwald, From Popular Sovereignty (wie Anm.6), 395–411; Bruno Bleckmann, Athens Weg in die Niederlage. Die letzten Jahre des Peloponnesischen Kriegs. Leipzig 1999, 358–386. 84

Hdt. 3,82,3–4. Zur Theorie der metabolê politeiôn siehe Heinrich Ryffel, Metabole Politeion. Der Wandel

der Staatsverfassungen. Bern 1949. 85

172

Hdt. 3,80,6; Thuk. 6,39,1; Aristot. pol. 3,11,1281a40ff.

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setzt das Prinzip voraus, dass jeder Bürger fähig (und auch verpflichtet) ist, etwas zum Gemeinwohl beizusteuern. Ein passiver Bürger ist deshalb wertlos (achreios). 86 Dieses Prinzip wird vom platonischen Protagoras in Form eines Mythos theoretisch hergeleitet: Eine Polis kann als Gemeinschaft nur funktionieren, wenn jeder Bürger den Keim der Staatskunst (politikê technê) und die Fähigkeit zu Rechtlichkeit und Respekt für andere (dikê und aidôs) in sich trägt und durch entsprechende Erziehung aktiviert. 87 Die prinzipielle Anerkennung, dass alle Bürger zu politischer Mitwirkung fähig sind, ist einer der Grundpfeiler demokratischer Ideologie. Davon ist unser Autor weit entfernt. Er gibt zwar zu, dass die athenischen Demokraten ihre Sache gut machen 88, aber die demokratisch gesinnten Bürger, die dieses System tragen, bezeichnet er voller Verachtung nur mit diffamierenden, von moralischer Verachtung geprägten Schlagwörtern. 89 Das hier sichtbare grelle Paradox, dass eine solche Masse von verrückten und kriminellen Chaoten fähig sein soll, ein so gut funktionierendes System einzurichten und zu bewahren, scheint er nicht zu sehen. Hier also setzt der Autor der demokratischen Ideologie, die er zweifellos kennt, auch wenn er sie nicht erwähnt, eine diametral entgegengesetzte oligarchische Ideologie entgegen. Da es ihm ideologisch unmöglich ist, den Mitgliedern der Unterschichten wenigstens eine Spur von intellektueller, ethischer oder politischer Qualität zuzugestehen, muss er sich auf ein anderes Argument konzentrieren, um den Erfolg der Demokratie zu erklären: den militärischen Einsatz des Demos für die Polis. „Zuerst will ich nun sagen, dass gerechterweise dort die Armen und der Demos mehr haben als die Adligen und Reichen. Denn es ist der Demos, der die Schiffe rudert und der Polis ihre Macht verleiht. In der Tat sind es die Steuerleute, Taktgeber, Abteilungskommandanten, Ausgucke und Schiffbauer, die der Polis ihre Macht verleihen – viel mehr als die Hopliten und Edlen und Vornehmen. Da dies sich nun so verhält, scheint es gerecht, dass alle an den Ämtern teilhaben – ob gelost oder gewählt – und dass es jedem Bürger, der will, möglich ist zu sprechen.“ 90

86 Thuk. 2,40,2. Jeder Bürger fähig und ermutigt zur Mitsprache: Thuk. 2,37,1; Eur. Suppl. 438–441. 87 Plat. Prot. 320cff. 88 1,1: „Da sie sich nun in dieser Angelegenheit (d.h. der politeia) so entschieden haben, will ich zeigen, wie gut sie ihre politeia bewahren und auch all die andern Angelegenheiten durchführen, in denen sie den andern Griechen zu fehlen scheinen.“ 89 Siehe oben im Text zu Anm.68. 90 1,2.

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Die militärische Leistung war in der Tat der einzige Rechtfertigungsgrund, den ein radikaler Demokratiegegner anerkennen konnte; an der Muskelleistung der Ruderer war nun wirklich kein Zweifel möglich. Auch dazu gleich mehr. Des Weiteren hatten Spannungen zwischen Demokraten und Oligarchen die konträre Interpretation politischer Grundbegriffe wie Demos/Demokratie, Gleichheit und Freiheit bewirkt. Der Demos ist König und Herrscher, und die Macht ist ‚vervolklicht‘ (dedêmeutai), lesen wir bei Euripides. 91 Die Demokraten interpretierten dêmos und entsprechend auch dêmokratia inklusiv: Alle Bürger waren eingeschlossen, ohne Rücksicht auf Abkunft, Reichtum, soziale Stellung, Bildung usw. Sie bestanden darauf, dass alle Bürger (pasa polis) an politischen Entscheidungen beteiligt sein mussten, da alle die Konsequenzen dieser Entscheidungen zu tragen hatten. 92 Der oligarchische Demos-Begriff war exklusiv und bezeichnete nur die, die nicht zur Oberschicht (und allenfalls zur Hoplitenklasse) gehörten. Das hier für die Oberschicht bestehende Paradox lässt Thukydides den Brasidas vor Akanthos formulieren: „Ich glaube nicht, dass ich Euch wirkliche Freiheit brächte, wenn ich […] entweder die Mehrzahl den Wenigen (to pleon tois oligois) oder die kleinere Zahl allen (to elasson tois pasi) unterwürfe (versklavte, doulôsaimi).“ 93

In der Demokratie waren ‚die Wenigen‘ in der Gesamtheit mit eingeschlossen, ohne je die Möglichkeit zu haben, sich durchzusetzen. Es mag scheinen, dass Pseudo-Xenophon gelegentlich dieses inklusive Verständnis von Demos impliziert, wenn er etwa von „den Athenern“ spricht, die die demokratische politeia gewählt haben, oder die Mitsprache aller Bürger kritisiert 94, aber generell scheint mir klar, dass er mit „den Athenern“ wie mit dem „Demos in Athen“ nur exklusiv die wertlosen, aber dominierenden Unterschichten meint. Daraus entsteht eben der Widerspruch zwischen der postulierten Inferiorität der Massen und ihrer anerkannten Leistung in der Bewahrung der Demokratie. Der Oligarch in Herodots Verfassungsdebatte ist da konsequenter, wenn er dem Demos jede Fähigkeit zu einer guten Leistung abspricht. 95 Die oligarchische Ideologie bemühte sich, 91

Eur. Suppl. 352 (monarchia), 406 (anassei); Cycl. 119 (kratos dedêmeutai).

92

Zum inklusiven/exklusiven Demos-Begriff: Donlan, Changes and Shifts (wie Anm.68). Pasa polis:

Aischyl. Suppl. 365–369, 398–401; vgl. auch Eur. Suppl. 349–351.

174

93

Thuk. 4,86,4.

94

1,1–2; 1,6–9.

95

Hdt. 3,81,1–2: „Es gibt nichts Unverständigeres und Überheblicheres als die nutzlose Masse. Es ist un-

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die exklusive Qualifikation der Oberschicht und die völlig mangelnde Qualifikation der Unterschichten für die Staatsführung argumentativ zu stützen, während die demokratische Ideologie im Gegenzug alles tat, die Qualifikation aller Bürger nicht nur zu postulieren, sondern auch mit Gründen zu rechtfertigen. 96 Davon ist bei Pseudo-Xenophon nichts zu sehen, wie er auch gut bezeugte zeitgenössische Versuche ignoriert, den scharfen Gegensatz zwischen exklusiven Verfassungskonzeptionen zu überwinden. 97 Von Gleichheit spricht unser Autor überhaupt nicht – oder wenigstens nicht explizit. Dies war einer der Grundpfeiler demokratischer Ideologie, der in der ‚Demokratie-Debatte‘ besonders hervorgehoben wurde. Man denke nur an die hochwichtige Rolle von isonomia und isêgoria im demokratischen Selbstverständnis. Gleichheit bestand in der Wertgleichheit jeder Stimme (isopsêphia), in der Gleichheit vor dem Recht, in der Teilnahme- und Redegleichheit aller Bürger. Was die Oligarchen als „immer kriegen die Unteren mehr“ interpretierten, sahen die Demokraten als „endlich kriegen die Armen gleich viel“. Dieses Verständnis von Gleichheit griffen

erträglich, aus der Hybris eines Tyrannen in die Hybris des zügellosen Demos zu geraten. Jener weiß doch wenigstens, was er tut; die breite Masse aber handelt ohne Einsicht. Woher auch sollte dem Volke Vernunft kommen? Es hat das Gute weder gelernt noch weiß es davon oder hat es in sich. Vielmehr wirft es sich ohne Verständnis auf die Geschäfte und stößt sie vor sich hin, einem im Winter reißenden Fluß gleichend.“ Vgl. 3,82,4: „Wo der Demos herrscht, ist es unmöglich zu vermeiden, dass Schlechtheit sich einnistet.“ (Übersetzung nach: Herodot, Historien. Bücher I–IX. Zweisprachige Ausgabe Griechisch–Deutsch in zwei Bänden. Hrsg. u. übers. v. Josef Feix. Düsseldorf 2001). 96 Ein Beispiel: Das oligarchische Argument, Mangel an Bildung oder Zeit disqualifiziere einen Bürger für die Mitbestimmung in der Polis (Eur. Suppl. 417–422), hätten die Demokraten auf verschiedene Weise beantwortet: Die Demokratie erlaubt es den Bürgern, ihre eigenen Fähigkeiten zu entwickeln (Thuk. 2,41,1); die Bürger kombinieren Kompetenz in privaten Dingen mit politischer Kompetenz (Thuk. 2,40,2); sie sind durch langjährige Beobachtung und Erfahrung fähig, rhetorische Argumente und Techniken zu beurteilen (Thuk. 3,38,4–5; Aristoph. Eccl. 241–244); selbst wenn der einfache Bauer selten teilnehmen kann, so ist, was er zu sagen hat, doch solide und vernünftig (Eur. Or. 917–930); gesunder Menschenverstand zählt mehr als Spezialwissen und überhebliche Klugheit (Thuk. 3,37,3; Plat. Prot. 319b–d, 322d–323a) etc. 97 Zur Betonung von Mittelpositionen oder der ‚Mittleren‘ (mesoi) als Mittel zur Überwindung des Verfassungskonflikts siehe Eur. Suppl. 244–245; Or. 917–922; dazu Nippel, Mischverfassungstheorie (wie Anm. 83), 43f. Zu erwähnen ist hier auch die Berufung auf eine patrios politeia oder auf patrioi nomoi, die angeblich vor der Radikalisierung der Demokratie bestanden und in denen beide Seiten Gemeinsamkeit finden konnten: Thrasymachos, Diels/Kranz Nr.85 B1; Aristot. Ath. Pol. 29,3 (patrioi nomoi); dazu Alexander Fuks, The Ancestral Constitution. Four Studies in Athenian Party Politics at the End of the 5th Century B. C. Cambridge 1953; Edmond Lévy, Athènes devant la défaite de 404. Histoire d’une crise idéologique. Paris 1976, 191–197; Ostwald, From Popular Sovereignty (wie Anm.6), 367–372. Siehe auch unten Anm.102.

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die Oligarchen auch direkt an. 98 Sie antworteten auf das demokratische numerische oder absolute Gleichheitskonzept mit einem eigenen, auf proportionaler oder relativer Gleichheit basierenden und damit den Sozialstatus berücksichtigenden Konzept. 99 Darüber hinaus stellten sie der demokratischen isonomia die aristokratische eunomia entgegen, und dieses Argument vertritt der Autor mit Nachdruck: Die demokratische Ideologie allgemeiner Bürgerbeteiligung fördert die kakonomia, weil sie das Kriterium der persönlichen Qualifikation ignoriert; die eunomia dagegen beschränkt die Mitsprache auf die ‚Guten‘, das heißt auf die aufgrund ihres Sozialstatus ‚wirklich Gleichen‘. 100 Hier also finden wir die (implizite) Antwort des Autors auf die demokratische Gleichheitsideologie: Er kennt sie, setzt sich jedoch nicht direkt mit ihr auseinander, sondern stellt ihr die aus oligarchischer Sicht allein akzeptable Alternative entgegen. Anders steht es mit einem weiteren Grundpfeiler demokratischer Ideologie: der Gleichsetzung von Demokratie und Freiheit. In ideologischer Konfrontation stellen Demokratie und Oligarchie als je exklusive Verfassungen die Herrschaft je eines Teiles der Bürgerschaft über den andern dar. In polemischer Akzentuierung bedeutet das die Untertanenschaft, ja Versklavung der Beherrschten. Dass die Freiheit des Demos deshalb seine Herrschaft in der Demokratie voraussetzt, akzeptiert PseudoXenophon als selbstverständlich. 101 Ernsthafte Versuche, diese ideologische Fixierung zu überwinden, wurden erst unternommen, als zwischen 413 und 410 beide Systeme entscheidende Niederlagen erlitten hatten. 102 Andere Elemente des demokratischen Freiheitsbegriffs – dass in der Demokratie das ‚aktive Bürgerrecht‘ nur 98

Betonung von Gleichheit durch die Demokraten: Eur. Suppl. 353, 407–408, 430–441. Mehr (Ps.-Xen.

1,4) gegen gleich viel (Eur. Suppl. 407–408). Für die Verteidigung des demokratischen Gleichheitskonzepts gegen oligarchische Angriffe siehe bes. die Athenagoras-Rede (Thuk. 6,38,5–39,2). 99

Gegensatz von demokratischen und oligarchischen Gleichheitskonzeptionen: F. David Harvey, Two

Kinds of Equality, in: CM 26, 1965, 101–146. 100 Aristokratische Eunomie gegen demokratische Isonomie (auch isotês gegen homoiotês): Kurt A. Raaflaub, Athenian and Spartan Eunomia, or: What to Do with Solon’s Timocracy?, in: Josine Blok/André P. M. H.Lardinois (Eds.), Solon of Athens. New Historical and Philological Approaches. Leiden 2006, 390– 428, hier: 392f. Zur Gleichheit als Schutz gegen absolute Machtansprüche (welcher Art auch immer) siehe auch die große Debatte in Eur. Phoen. 355ff. 101 1,8–9. Freiheit durch Herrschaft: stark betont auch bei Eur. Suppl. 352–353, 403–407, vgl. auch 438– 441. Die gleiche polemische Akzentuierung findet sich in der Terminologie für die athenischen Untertanen in der Archê: Raaflaub, The Discovery of Freedom (wie Anm.15), 128–146. 102 Siehe oben Anm.97 (patrios politeia) und im Text zu Anm.83 (Mischverfassung). – Versuche zur Überwindung des ideologischen Gegensatzes zwischen Demokratie und Oligarchie: Kurt A. Raaflaub, Politi-

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den freien Personenstand voraussetzt, während für die Oligarchen ,wirkliche Freiheit‘ nur durch höheren Sozialstatus gewährleistet ist, und dass die Demokratie es dem Bürger erlaubt zu leben, wie er will – ignoriert der Autor. 103 Schließlich das Problem der Gerechtigkeit. Perikles behauptet emphatisch, dass die Athener sich an das Recht halten, den Amtsträgern gehorchen und die Gesetze, ob geschrieben oder ungeschrieben, respektieren. 104 Dies klingt defensiv, und das Verhältnis der Demokratie zur Gerechtigkeit wurde später, infolge der Arginusenund Sokratesprozesse, zu einem wirklich heißen Eisen. 105 Aber die demokratische Ideologie bestand darauf, dass nur die Demokratie die Rechtsgleichheit aller Bürger garantierte und den Armen eine Chance gab, sich gegen die Reichen zu behaupten. 106 Pseudo-Xenophon konzediert zwar, dass die Athener sich bei der Verhängung der atimia ans Recht halten, aber sonst ist demokratische Justiz für ihn Klassenjustiz: „In den Gerichten stellen sie das Ihnen Nützliche über das Gerechte.“ 107 Wo Leute vom Charakterzuschnitt des athenischen Demos das Sagen haben, kann Gerechtigkeit ja wohl ohnehin keine Chance haben. 108 Auch hier steht Anspruch gegen Anspruch, aber die demokratische Ideologie kann wenigstens auf Institutionen verweisen, die Rechtsgleichheit und Rechtlichkeit in der Amtsausübung sichern und die Machtakkumulation Einzelner, das Überwiegen von Spezialinteressen, die Bestechung der Richter und ähnliche Missbräuche verhindern sollen: die öffentliche Besches Denken und Krise der Polis. Athen im Verfassungskonflikt des späten 5.Jahrhunderts v.Chr., in: HZ 255, 1992, 1–60. 103 Es sei denn, der Vorwurf der Gleichsetzung oder Verwechslung von dêmokratia und akolasia spiele darauf an. Dieser Vorwurf ist voll ausgestaltet bei Isokr. or. 7,20, erscheint aber schon bei Lys. 2,19. Eine indirekte Erwähnung von akolasia als demokratischer Untugend bei Ps.-Xen. 1,5. Direkt betont ist das demokratische Ideal des ‚Lebens, wie man will‘ (dazu der Beitrag von Ivan Jordović in diesem Band) bei Thuk. 7,69,2; siehe auch 2,37,2; die klassische Formulierung ist Aristot. pol. 1317b11–13. Zum Kontrast zwischen dem demokratischen und oligarchischen Freiheitskonzept siehe Kurt A. Raaflaub, Democracy, Oligarchy, and the Concept of the ,Free Citizen‘ in Late Fifth-Century Athens, in: Political Theory 11, 1983, 517–544. Insgesamt siehe auch Raaflaub, The Discovery of Freedom (wie Anm.15), Kap. 6. 104 Thuk. 2,37,3. 105 Zum Arginusenprozess siehe Leonhard A. Burckhardt, Eine Demokratie wohl, aber kein Rechtsstaat? Der Arginusenprozess des Jahres 406 v.Chr., in: ders./Jürgen von Ungern-Sternberg (Hrsg.), Große Prozesse im antiken Athen. München 2000, 128–143, 273f.; zum Sokratesprozess Peter Scholz, Der Prozess gegen Sokrates. Ein ‚Sündenfall‘ der athenischen Demokratie?, in: ebd.157–173, 276–279 (beide mit weiterer Literatur). 106 Eur. Suppl. 429–437. 107 1,13. Verhängung der atimia: 3,13. 108 Adikia etc. in der Charakterisierung des Demos: siehe oben im Text zu Anm.68.

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schlussfassung durch die Gesamtheit, die schriftliche Fixierung von Gesetzen, die Annuität, die Besetzung der Ämter durchs Los, die Rechenschaftspflicht der Amtsinhaber und (das einzige vom Autor erwähnte Argument) die Größe der Richtergremien. 109

VII. Zusammenfassung Pseudo-Xenophons Ziel ist nicht eine politische Beschreibung oder Analyse der athenischen Demokratie, sondern die Erklärung eines Phänomens, das aus demokratiefeindlicher Sicht tatsächlich einer Erklärung bedurfte: weshalb trotz aller offenkundigen Schwächen und berechtigten Kritik diese Demokratie solide etabliert war und nach logischen Prinzipien erfolgreich funktionierte. Damit ist untrennbar eine Frage verbunden, die der Autor nicht klar erkennt und deshalb auch nicht zu beantworten vermag: weshalb nämlich ein so komplexes System logisch sein und erfolgreich aufgebaut, betrieben und bewahrt werden kann, obschon es von einer Masse von Männern getragen wird, die jeder vernünftige Mensch nur als unqualifizierte und charakterlose Hohlköpfe zu verachten vermag. Der Autor sieht nur einen Teil dieses Problems, auf das er im Detail eingeht: weshalb dieses System die Massen zu intensivem und dauerndem Engagement zu motivieren vermag. Das hier sichtbare pseudo-xenophontische Paradox liegt auf einer ähnlichen Ebene wie das der Bielefelder Tagung zugrundeliegende Paradox 110, auch wenn der Autor es mehr von der Praxis als von der Theorie oder Ideologie her angeht. Auch bleibt er eben zu sehr in seinen Vorurteilen befangen, um es rational auflösen zu können. Dennoch steht die Vertrautheit des Autors mit den Schwerpunkten der demokratischen Ideologie außer Zweifel. Ob er sie anerkennt oder gar akzeptiert oder ignoriert, dagegen polemisiert oder sie strikt ablehnt, sie uminterpretiert oder umkehrt und gegen den Demos wendet, hängt vom Gegenstand ab. Übereinstimmung zwischen den beiden Lagern besteht in der Frage der Bedeutung der Demokratie für die

109 Verweis auf rechtssichernde Institutionen (öffentliche Beschlussfassung durch die Gesamtheit, Los, Rechenschaftspflicht): Hdt. 3,80,6. Annuität im Sinn von Wechsel zwischen Herrschen und Beherrschtwerden: Eur. Suppl. 406–408. Schriftliche Fixierung der Gesetze: ebd.429–437. Größe der Richtergremien: Ps.-Xen. 3,7. 110 Siehe oben den Beginn von Abschnitt II.

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Freiheit des Demos, während in der Charakterisierung des Demos und der Frage seiner politischen Qualifikation unvereinbar gegensätzliche Standpunkte eingenommen werden. Der demokratischen Gleichheit (Isonomie) stellt der Autor die aristokratische Eunomie entgegen. Demokratische Versuche, die Regimentsfähigkeit des Demos argumentativ zu stützen, ignoriert er. Den gegen den Adel gerichteten Vorwurf des eigensüchtigen Profitierens von der Macht dreht er um und macht ihn zum Kernpunkt seiner Erklärung des Erfolgs und zugleich seiner Kritik der Demokratie. Das für die demokratische Machtpolitik zentrale Konzept der Insularität der seebeherrschenden Polis betrachtet er als unerreichbares Ideal. Als einzige Rechtfertigung der Demokratie lässt er den entscheidenden militärischen Beitrag der Unterschichten zur Macht Athens gelten; anzuerkennen, dass die vom Demos unterstützte Seemachtpolitik der ganzen Polis, nicht nur dem Demos, enorme Vorteile einbringt, ist ihm unmöglich. Die Art, wie der Autor mit der demokratischen Ideologie umgeht, liefert meines Erachtens weitere starke Argumente dafür, ihn vor die durch die Sizilien-Katastrophe ausgelöste Krise zu datieren. Außerdem erlaubt es vielleicht die bei ihm fassbare ausgeprägte Verknüpfung von Demokratie und Seemacht oder Seeherrschaft, ihn etwas genauer in seine soziale, intellektuelle und politische Umwelt einzuordnen. Dazu einige Schlussbemerkungen.

VIII. Schluss: Pseudo-Xenophon und die Rebellion junger Aristokraten gegen die Demokratie Die Verknüpfung zwischen Demokratie und Macht der Polis ist etwa auch bei Herodot zu fassen, der den Machtaufstieg der Athener nach dem Tyrannensturz mit ihrer neugewonnenen Freiheit und Redegleichheit erklärt. Auch Thukydides lässt Perikles und Alkibiades betonen, die Demokratie habe Athen zur größten Polis gemacht. 111 Man denkt hier ferner an Aristophanes’ „Vögel“. Dennoch fällt auf, dass Pseudo-Xenophon die militärische Rechtfertigung der Demokratie so stark hervorhebt und die den Athenern aus der Demokratie erwachsenden Vorteile großenteils aus einer militärischen und machtpolitischen Perspektive beurteilt. Ich ziehe hier

111 Hdt. 5,78; Thuk. 6,89,6 (megistê kai eleutherôtatê); 2,36,3 (autarkestatê).

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Euripides’ „Hiketiden“ hinzu, ein grob zeitgleiches Drama, das sich besonders intensiv mit der Demokratie auseinandersetzt. Theseus kritisiert darin Adrast von Argos, der in seiner kurzsichtigen Entscheidung zugunsten eines Krieges gegen Theben jugendlichen Hitzköpfen nachgegeben hat: Er ließ sich von jungen Männern in die Irre führen, „die aus Lust auf Ehre immer neu und ohne Recht zum Kriege treiben, den Bürgern zum Unheil: der eine, weil er gerne Feldherr sein möchte, der andere, um, wenn er die Macht in seine Hand gebracht hat, seinem Frevelmut den Lauf zu lassen, ein dritter aus Gewinnsucht, und keiner achtet drauf, ob das Volk dabei nicht Schaden nimmt.“ 112

Als bewussten Kontrast zu diesem negativen Bild kriegsfanatischer junger Anführer gestaltet Euripides in der Gefallenenrede Adrasts das Lob der toten Anführer zu idealen Portraits guter Bürger aus, die – in eklatantem Gegensatz zu ihrer sonst üblichen Reputation – je wichtige bürgerliche Tugenden verkörpern. Dieser Katalog mündet in die Aufforderung, solche Tugenden ins Zentrum der Jugenderziehung zu stellen. 113 Protagoras hätte zugestimmt! Die „Hiketiden“ wurden wahrscheinlich nicht lange vor dem Nikiasfrieden, also in den späten 420er Jahren aufgeführt. Dies ist die Zeit, in der eine neue Generation junger Aristokraten, unter denen Alkibiades hervorragte, ihre Karriere begann und sich einen Namen zu machen versuchte. Diese Männer waren in der Demokratie aufgewachsen, im Krieg erwachsen geworden und von der wechselseitigen Dynamik von Krieg und Demokratie geprägt. Sie erkannten die im Krieg liegenden Möglichkeiten, Karriere und Wohlstand zu fördern, waren enorm ehrgeizig und zum Teil von sophistischen Theorien über den Gegensatz von nomos und physis und das Recht des Stärkeren beeinflusst. Sie fühlten sich durch den demokratischen Gleichheitszwang, gesetzliche Altersbegrenzungen und die Macht der Unterschichten eingeschränkt, die sie zutiefst verachteten. Dies sind die Jungen (neoi), deren Rolle gerade in Kriegsdiskussionen Thukydides um diese Zeit als neuen und wichtigen Faktor einführt: im Hinblick auf Alkibiades schon um 420, dann besonders in der Sizilien-

112 Eur. Suppl. 152–161, 214–218, 229–237 (Übersetzung nach: Euripides, Sämtliche Tragödien in zwei Bänden. Nach der Übersetzung v. J. J. Donner bearb. v. Richard Kannicht. Stuttgart 1958). Vgl. dazu Thukydides’ Charakterisierung des Alkibiades (6,15). 113 Gefallenenrede Adrasts: Eur. Suppl. 857–917. Aufforderung zur sorgfältigen Erziehung der Jungen: ebd.911–917.

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debatte und in der syrakusischen Athenagoras-Rede. 114 Das Phänomen ist so auffällig, dass man in der Forschung gelegentlich nichts weniger als einen Generationenkonflikt oder zumindest eine ‚Spaltung der Generationen‘ in der Politik der Zeit postuliert hat. 115 Es scheint mir nicht zu weit hergeholt, wenn wir unseren Autor, der die Demokratie so ausgeprägt als Instrument des Profits betrachtet und maßgeblich in militärischen und machtpolitischen Perspektiven denkt, in dessen Demokratiebegriff die Herrschaft des Demos im Seebund eine zentrale Rolle spielt und der als einzige nennenswerte Rechtfertigung der Demokratie die militärische Leistung der Unterschichten anerkennt – wenn wir diesen Autor gerade in dieser Umwelt ehrgeiziger, skrupelloser, kriegsbegeisterter und mit der Demokratie zutiefst unzufriedener junger Aristokraten verorten, die dann nach 413 und wieder am Kriegsende führend an oligarchischen Umstürzen beteiligt waren.

Ich danke Ivan Jordović und Uwe Walter für die Einladung nach Bielefeld und, wie auch ihren Mitarbeitern und Gönnern, dafür, dass sie dieses so ertragreiche Kolloquium möglich gemacht haben. Was ich hier vorlege, ist work in progress. Besonders in der Verarbeitung der Forschungsliteratur wäre noch viel zu tun.

114 Alkibiades’ ‚Jugend‘ (neos, neotês) im Jahre 420: Thuk. 5,43,2. In der Siziliendebatte siehe Thuk. 6,12,2– 13 (Nikias: neôteroi gegen presbyteroi); 6,17,1 und 6,18,6 (Alkibiades: neotês kai anoia, neoi mit presbyteroi). In der Athenagorasrede siehe 6,38,5 (neôteroi) und 6,39,2 (neoi); ferner die Widerlegung von Demokratiekritik 6,38,5–39,2. Dazu künftig Kurt A. Raaflaub, War and the Young Citizens’ Rebellion against Democracy in Late Fifth-Century BCE Athens, in: Lawrence Tritle (Ed.), The Many Faces of War. Los Angeles 2018, 221– 239. 115 Generationenkonflikt: z.B. William George Forrest, An Athenian Generation Gap, in: Yale Classical Studies 24, 1975, 37–52; entschieden dagegen: Ivan Jordović, A Generation Gap in Late Fifth-Century-BC Athens, in: Balcanica. Annual of the Institute for Balkan Studies 38, 2007, 7–27.

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Platons Kritik des demokratischen Konzepts der Freiheit zu tun, was man will von Ivan Jordović

I. Einleitung Es wird oft gesagt, Platons Wahrnehmung des Wesens der Demokratie sei dermaßen von Vorurteilen und einem philosophischen Ansatz geprägt, dass seine Interpretation von historischen Fakten und politischer Realität weitgehend frei sei. 1 Zweifelsohne kümmerte sich Platon nicht besonders um die spezifischen Strukturen eines bestimmten politischen Systems. Seine Aufmerksamkeit richtete sich vor allem auf die Auswirkung einer politischen Ordnung und ihrer vorherrschenden Werte auf die moralischen und psychologischen Zustände im Staat. 2 Gleichwohl wurde Platon auch diesbezüglich wegen einer unzureichenden Berücksichtigung der Realität scharf kritisiert. 3 Derartige Einwände sind gewiss nicht vollkommen unberechtigt, dennoch soll diese Abhandlung zeigen, dass Platon bei der Konzipie-

1 Siehe z.B. Martin Ostwald, From Popular Sovereignty to the Sovereignty of Law. Law, Society, and Politics in Fifth-Century Athens. Berkeley/Los Angeles/London 1986, 244; Pierre Vidal-Naquet, Plato, History and Historians, in: ders., Politics Ancient and Modern. Oxford 1995, 21–37, hier: 33; Dorothea Frede, Die ungerechten Verfassungen und die ihnen entsprechenden Menschen (Buch VIII 543a – IX 576b), in: Otfried Höffe (Hrsg.), Platon: Politeia. Berlin 1997, 251–270, hier: 253, 258–265; Johannes Dalfen, Platon: Gorgias. (Platon Werke. Übersetzung und Kommentar, Bd. 6/3.) Göttingen 2004, 109; Wolfgang Kersting, Platons „Staat“. 2.Aufl. Darmstadt 2006, 266–268; Dominic Scott, The Republic, in: Gail Fine (Ed.), The Oxford Handbook of Plato. Oxford 2008, 360–382, hier: 375; vgl. auch Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. 1 (1945). 7.Aufl. Tübingen 1992, 52; Julia Annas, An Introduction to Plato’s Republic. Oxford 1981, 302–305, bes. 304; Harvey Yunis, Taming Democracy. Models of Political Rhetoric in Classical Athens. Ithaca/London 1996, 136–145; Kathryn A. Morgan, The Tyranny of the Audience in Plato and Isocrates, in: ders. (Ed.), Popular Tyranny: Sovereignty and its Discontents in Ancient Greece. Austin, TX 2003, 181–213, hier: 199f. 2 Plat. rep. 544d–e, 545b, 548d; siehe Frede, Verfassungen (wie Anm.1), 258f.; Kurt A. Raaflaub, Politisches Denken und Krise der Polis. Athen im Verfassungskonflikt des späten 5.Jahrhunderts v.Chr., in: HZ 255, 1992, 1–60, hier: 50–59, hat gezeigt, dass Denken in ethischen Kategorien ein integraler Bestandteil des politischen Denkens im späten 5.Jahrhundert war. 3 Siehe Frede, Verfassungen (wie Anm.1), 261ff.

https://doi.org/10.1515/9783110608380-007

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rung seiner Demokratiekritik über eine tiefere Kenntnis der athenischen demokratischen Ideologie verfügte, als es üblicherweise angenommen wird, und dass er sich in seiner Demokratiekritik stark an zentralen Vorstellungen dieser demokratischen Ideologie orientierte (zum Ideologiebegriff siehe die Einleitung zu diesem Band). Für Platon und andere Demokratiekritiker war insbesondere der demokratische Freiheitsbegriff ein Dorn im Auge. 4 Denn die Griechen verstanden die Freiheit und nicht etwa die Gleichheit als das Hauptmerkmal der Demokratie: „Und die Demokratie, löst nicht auch diese sich auf durch die Unersättlichkeit in dem, was sie sich als ihr Gut vorsetzt? – Was meinst du aber, dass sie sich vorsetze? – Die Freiheit, antwortete ich. Denn von dieser wirst du immer in einer demokratischen Stadt hören, dass sie das Vortrefflichste sei und dass deshalb auch nur in einer solchen leben dürfe, wer von Natur frei sei.“ 5

Das politische Freiheitskonzept bildete sich zum ersten Mal in der menschlichen Geschichte in Griechenland aus. 6 Drei Faktoren und deren gegenseitige Beeinflussung sind als Ursachen zu nennen: die Perserkriege, der Widerstand gegen die Tyrannis und der Aufstieg der Demokratie in Athen. 7 Dementsprechend entwickelte sich die Freiheit zu einem der grundlegenden Prinzipien und höchsten Ideale der Demokratie. Darüber hinaus blieb der Freiheitsbegriff ein Monopol der demokratischen Ideologie, denn im Gegensatz zur Gleichheit, die auch unter Aristokraten/Oligarchen gepflegt werden konnte, wurde die Freiheit von Gegnern der Volksherrschaft niemals als ein Ideal akzeptiert. 8

4 Plat. rep. 557b–d, 562b–563c, Aristot. pol. 1310a25–30, 1317b11–6, 1319b28–32. 5 ἆρ᾽ οὖν καὶ ὃ δημοκρατíα ὁρíζεται ἀγαθόν, ἡ τούτου ἀπληστíα καὶ ταύτην καταλύει; – λέγεις δ᾽ αὐτὴν τí ὁρíζεσθαι; – τὴν ἐλευθερíαν, εἶπον. τοῦτο γάρ που ἐν δημοκρατουμένῃ πόλει ἀκούσαις ἂν ὡς ἔχει τε κάλλιστον καὶ διὰ ταῦτα ἐν μόνῃ ταύτῃ ἄξιον οἰκεῖν ὅστις φύσει ἐλεύθερος; Plat. rep. 562b–c; Übersetzung nach: Platons Werke. Übers. von Friedrich Schleiermacher. Berlin 1985. 6 Siehe Kurt A. Raaflaub, The Discovery of Freedom in Ancient Greece. Chicago 2004, 4. 7 Ebd. 58–101. 8 Ebd. 241–247.

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II. Die Herrschaft des Demos und die Freiheit zu tun, was man will Der demokratische Freiheitsbegriff beruht auf drei Säulen: isêgoria, parrhêsia und der Freiheit zu tun, was man will. 9 Thomas Morawetz hat in seiner ausführlichen Studie zur Freiheit zu tun, was man will (exousia … poiein hoti tis bouletai), bzw. zu leben, wie man will (zên hôs bouletai tis) gezeigt, dass dieses Konzept als die Möglichkeit zu tun, was man will um die Mitte des 5.Jahrhunderts im Kontext der demokratiekritischen Polemik entstanden ist. 10 Bezeichnend ist, dass diese Parole aufgekommen ist, um die neue Macht des Demos nach innen und außen als tyrannisch zu denunzieren, wie es Aischylos’ „Der gefesselte Prometheus“ und Sophokles’ „Aias“ und „Antigone“ belegen. 11 In den Augen der Befürworter einer Verfassung, in der sich die Macht in den Händen der Oberschicht befindet, war eine Lebensweise mit genauen Regeln und strikter Hierarchie das Kennzeichen einer „guten“ Ordnung. 12 Folglich wurde die Möglichkeit zu tun, was man will als eine Ablehnung jeglicher Einschränkung wahrgenommen, was unvermeidbar nicht nur zur Auflösung der gesellschaftlichen Ordnung, sondern auch des gesamten politischen Systems führe. Die Demokraten reagierten auf diese antidemokratische Polemik, indem sie die Freiheit zu tun, was man will zum wesentlichen Bestandteil ihres Freiheitsverständnisses erhoben. 13 Die Tragweite dieser Entwicklung lässt sich anhand von Aristoteles’ „Politik“ verfolgen. In diesem Werk wird die Freiheit zu tun, was man will – zusammen mit der Gleichheit und dem Wechsel von Regieren und Regiertwerden – zur

9 Ebd.230ff.; Kurt A. Raaflaub, Democracy, in: Konrad H.Kinzl (Ed.), A Companion to the Classical World. Malden, MA/Oxford 2006, 387–415, hier: 398; siehe Josiah Ober, Mass and Elite in Democratic Athens. Rhetoric, Ideology, and the Power of the People. Princeton 1989, 296ff. 10 Plat. rep. 557b; Aristot. pol. 1317b12: siehe Thomas Morawetz, Der Demos als Tyrann und Banause. Aspekte antidemokratischer Polemik im Athen des 5. und 4.Jahrhunderts v.Chr. Frankfurt am Main 2000. 11 Aischyl. Prom. 938–942; Soph. Ai. 1081–1086; Ant. 499–508; siehe Morawetz, Demos als Tyrann und Banause (wie Anm.10), 49–101, bes. 56–69, 76–81. 12 Xen. Ath. pol. 1,5–9. 13 Thuk. 2,37,3; vgl. auch Xen. Ath. pol. 2,17; Eur. Iph. A. 330; Aristoph. Nub. 439–56; Lys. 491–492; Xen. hell. 1,7,12; siehe Mogens H.Hansen, The Ancient and the Modern Liberal View of Liberty as a Democratic Ideal, in: Josiah Ober/Charles Hedrick (Eds.), Dêmokratia. A Conversation on Democracies, Ancient and Modern. Princeton 1996, 91–104, hier: 92–95; Morawetz, Demos als Tyrann und Banause (wie Anm.10), 101–131, bes. 101–114.

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Grundlage der demokratischen Freiheit erklärt. 14 Perikles’ „Epitaphios“ ist nicht nur einer der bekanntesten Belege für diesen Wandel des demokratischen Freiheitsverständnisses, sondern auch für die freiwillige Einschränkung derselben Freiheit. In dieser Rede betont Perikles unmittelbar nach seiner Hervorhebung der Freiheit im alltäglichen Leben von Athen, dass diese Freiheit in keiner Weise die Achtung gegenüber den Beamten sowie den geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen mindere. 15 Diese Tendenz zur Selbsteinschränkung der Freiheit zu tun, was man will, um einem von Willkür geprägten Verhalten vorzubeugen, findet sich auch in den Gerichtsreden des 4.Jahrhunderts. 16 Komplementär dazu assoziierten die Demokraten die Tyrannis bzw. alles, was als ein Gegensatz zur Demokratie empfunden wurde, just mit dieser Parole. In Herodots Verfassungsdebatte bezeichnet der Befürworter der Demokratie tun, was man will als ein Merkmal des Alleinherrschers, der sich der Hybris, dem Neid und allen sinnlichen Begierden hingegeben habe. Diese Formel wird ferner mit dem Vorwurf, der Tyrann sei niemandem rechenschaftspflichtig, in Verbindung gebracht, womit ein schroffer Gegensatz zur demokratischen euthyna-Prozedur hervorgehoben wird. 17 Wenn der persische Großkönig generell in den Augen der Griechen schon ein Tyrann par excellence war 18, dann vereinigte Kambyses in sich die schlimmsten Züge

14

Aristot. pol. 1310a 31–4, 1317a 39–b14, 1319b 27–30, siehe Morawetz, Demos als Tyrann und Banause

(wie Anm.10), 49–56. 15

Thuk. 2,37,2–3; siehe Morawetz, Demos als Tyrann und Banause (wie Anm.10), 105f.; vgl. auch Nicole

Loraux, The Invention of Athens. The Funeral Oration in the Classical City. Cambridge, MA/London 1986, 183–185; Hans Diller, Freiheit bei Thukydides als Schlagwort und als Wirklichkeit, in: Hans Herter (Hrsg.), Thukydides. (Wege der Forschung, 98.) Darmstadt 1968, 639–660, hier: 654–656. 16

Demosth. or. 23,67, 21,170, 25,24–25, 51,15, 59,88, 26,9. Dies ist insofern wichtig als die Gerichtsreden,

wie es Morawetz, Demos als Tyrann und Banause (wie Anm.10), 144, unterstreicht, ein eigentlich ungeeigneter Ort waren, um diese Parole als ein Hauptmerkmal des demokratischen Freiheitsverständnisses vorzubringen. 17

Hdt. 3.80,3; siehe Morawetz, Demos als Tyrann und Banause (wie Anm.10), 71, 74. Zur euthyna-Proze-

dur siehe Ostwald, From Popular Sovereignty (wie Anm.1), 40–42; Dorothea Haßkamp, Oligarchische Willkür – demokratische Ordnung. Zur athenischen Verfassung im 4.Jahrhundert. Darmstadt 2005, 94f.; Mogens H.Hansen, The Athenian Democracy in the Age of Demosthenes. Structure, Principles and Ideology. Oxford/Cambridge, MA 1991, 222–224. 18

Vgl. Helmut Berve, Die Tyrannis bei den Griechen. 2 Bde. München 1967, 193, 625f.; Holger Sonnabend,

Geschichte der antiken Biographie. Von Isokrates bis zur Historia Augusta. Darmstadt 2003, 24; Reinhold Bichler, Die „Reichsträume“ bei Herodot. Eine Studie zu Herodots schöpferischer Leistung und ihre quellenkritische Konsequenz, in: Chiron 15, 1985, 125–147; ders., Herodots Welt. Der Aufbau der Historie am Bild der fremden Länder und Völker, ihrer Zivilisation und ihrer Geschichte. Berlin 2000, 275ff., 282ff.; Donald

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eines Gewaltherrschers. 19 Er wird mit der Parole tun, was man will im Zusammenhang mit der Darstellung einer seiner verruchtesten Untaten assoziiert. Laut Herodot war er schon geistig gestört, als er, unfähig seine Liebe zu seiner Schwester zu bändigen, die königlichen Richter fragte, ob es ein Gesetz gebe, welches die Geschwisterehe gutheiße. Die Richter antworteten, ein derartiges Gesetz sei ihnen nicht bekannt, jedoch ein anderes Gebot hätten sie gefunden: Dem Perserkönig sei erlaubt zu tun, was er wolle. 20 Die Tendenz, die Freiheit zu tun, was man will mit Willkür und antidemokratischem Verhalten gleichzusetzen, verstärkte sich nach der Schreckensherrschaft der Dreißig Tyrannen noch. Diese Verknüpfung erfreute sich insbesondere in den Gerichtsreden des 4.Jahrhunderts großer Beliebtheit. In einer Rede aus dem Jahre 399 nennt Lysias mehrmals die Freiheit zu tun, was man will in Verbindung mit dem Terrorregime der Dreißig. 21 In seiner Rede „Gegen Androtion“ vergleicht Demosthenes dessen Vergehen mit denen der Dreißig und verwendet den Begriff die Freiheit zu tun, was man will, um den Höhepunkt von Androtions Übertretungen und Anmaßung zu umschreiben. 22 Nach demselben Grundsatz verfährt Demosthenes in der Rede „Gegen Timotheus“. 23 Selbst Xenophon, der gewiss keinerlei Begeisterung für die Volksherrschaft zeigte, benutzte diesen demokratischen Topos, um die brutale Natur des Regimes der Dreißig zu unterstreichen. 24 Lateiner, The Historical Method of Herodotus. Toronto 1989, 163–186; Stefan Borzsák, Persertum und griechisch-römische Antike. Zur Ausgestaltung des klassischen Tyrannenbildes, in: Gymnasium 94, 1987, 289–297; Gerold Walser, Zum griechisch-persischen Verhältnis vor dem Hellenismus, in: HZ 220, 1975, 529–542, hier: 531ff., 536ff.; Kenneth H.Waters, The Purpose of Dramatisation in Herodotos, in: Historia 15, 1966, 151–171, hier: 168. 19 So ist Kambyses der einzige legitime persische Herrscher, der in Otanes’ Rede in der Verfassungsdebatte explizit als Tyrann bezeichnet wird (Hdt. 3,80,2); siehe Ivan Jordović, Anfänge der Jüngeren Tyrannis. Vorläufer und erste Repräsentanten von Gewaltherrschaft im späten 5.Jahrhundert v.Chr. Frankfurt am Main 2005, 145 Anm.80, 163 Anm.203; vgl. auch José Miguel Alonso-Núñez, Die Verfassungsdebatte bei Herodot, in: Wolfgang Schuller (Hrsg.), Politische Theorie und Praxis im Altertum. Darmstadt 1998, 19–29, hier: 23; Henry R. Immerwahr, Form and Thought in Herodotus. Chapel Hill 1966, 169. 20 Hdt. 3,31.3–6, bes. 4, Wahnsinn des Kambyses (Hdt. 3,30,1, 33); siehe auch Plat. rep. 359c–d, 360b–c. Dies folgt indirekt auch aus der Verfassungsdebatte. In dieser wird Kambyses, unmittelbar bevor tun, was man will als Zeichen des Tyrannen gebrandmarkt wird, als ein Herrscher dargestellt, der vollkommen von der Hybris überwältigt ist (Hdt. 3,80,2–4). 21 Lys. or. 25,1–3, 30–5, bes. 31–33; siehe Morawetz, Demos als Tyrann und Banause (wie Anm.10), 136f. 22 Demosth. or. 22,47–56; siehe Morawetz, Demos als Tyrann und Banause (wie Anm.10), 138f. 23 Demosth. or. 24,75–6; siehe Morawetz, Demos als Tyrann und Banause (wie Anm.10), 139f. 24 Xen. hell. 2,3,13, 21; vgl. auch 2,3.16, 4.1; siehe Morawetz, Demos als Tyrann und Banause (wie Anm.

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Das demokratische Verständnis des Konzeptes der Freiheit zu tun, was man will hat demnach zwei Gesichter: ein positives und demokratisches, welches mit dem Respekt vor den Gesetzen vereinbar ist, und ein negatives, dessen Assoziation mit Tyrannen oder Oligarchen darauf hindeutet, dass es für die Vertreter von repressiven Regimen reserviert ist.

III. Platon und die Wiederbelebung der Kritik der Freiheit zu tun, was man will Diese Umgestaltung der Parole der Möglichkeit zu tun, was man will haben die Gegner der Volksherrschaft freilich nicht stillschweigend hingenommen. Der Arginusenprozess 406 hauchte der Gleichsetzung dieses Schlagwortes mit der Willkür der Massen neues Leben ein. Dieser berüchtigte Prozess wurde von den Opponenten des Demos als das größte und bekannteste Debakel dieser Freiheitsparole dargestellt, denn jegliche Art von Unterordnung des Volkswillens unter das geltende Recht wurde im Verlauf des Verfahrens mit der Einschränkung der Souveränität des Demos gleichgestellt. Auf diese Weise wurde der Volkswille, verkörpert in der Freiheit zu tun, was man will, wieder mit der Willkür gleichgesetzt, nun aber einer der Demokratie. Dies ergibt sich eindeutig aus Xenophons Bericht über die Reaktion der Menge in der Volksversammlung, als mehrere Athener es wagten, sich dem Vorschlag zu widersetzen, mit einem einzigen Volksbeschluss alle Strategen kollektiv zu verurteilen: „Einige aus dem Volk billigten dies, die Menge jedoch schrie, es sei doch unerhört, wenn man das Volk hindern wolle, zu tun was ihm beliebe.“ 25

Platon hat in seiner Demokratiekritik nun nicht einfach auf die früheste antidemokratische Auslegung der Möglichkeit zu tun, was man will zurückgegriffen. Stattdessen hat er wesentliche Elemente der demokratischen Auffassung dieses Konzeptes – die Verknüpfung mit der Freiheit, insbesondere der Freiheit des täglichen Le10), 134–136. Zum tyrannischen Charakter der Schreckensherrschaft der Dreißig siehe Jordović, Anfänge der Jüngeren Tyrannis (wie Anm.19), 169–214. 25

τοῦ δὲ δήμου ἔνιοι ταῦτα ἐπῄνουν, τὸ δὲ πλῆθος ἐβόα δεινὸν εἶναι εἰ μή τις ἐάσει τὸν δῆμον

πράττειν ὃ ἂν βούληται; Xen. hell. 1,7,12 – Übersetzung nach: Xenophon, Hellenika. Griechisch – Deutsch. Hrsg. v. Gisela Strasburger. Berlin 2011. Zu dieser Parole siehe Morawetz, Demos als Tyrann und Banause (wie Anm.10), 114–131.

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bens – übernommen und sie in seine Kritik integriert, um auf diese Art und Weise die Freiheit zu tun, was man will noch umfassender und tiefgehender als ihr vollkommenes Gegenteil erscheinen zu lassen. Diese Vorgehensweise lässt sich anhand des „Gorgias“ und des „Staates“ verfolgen. Der „Gorgias“ ist eine der längsten und komplexesten platonischen Schriften. Im Verlauf der Handlung ist Sokrates der einzige konstante Diskutant, während sich Gorgias, Polos und Kallikles als seine Gesprächspartner abwechseln. 26 Welche Bedeutung Platon dem Begriff der Freiheit zu tun, was man will beimisst, wird auch in der Komposition sichtbar: Er steht im Mittelpunkt der Kritik im zweiten Teil des „Gorgias“. Polos ist ein Schüler des Gorgias und selbst ein Sophist. Während seines Gesprächs mit Sokrates stellt er die These von der außerordentlichen Macht des Rhetors auf. Der Redner ist genauso mächtig wie der Tyrann, weil er über die Macht zu tun, was er will verfüge – zu töten, zu plündern oder ins Exil zu treiben, wen auch immer er wolle: P. „Wie nicht geachtet? Haben sie nicht am meisten Macht in den Städten?“ S. „Nein, wenn du unter dem Machthaben verstehst, dass es etwas Gutes ist für den Vermögenden.“ P. „So verstehe ich es allerdings.“ S. „Dann, dünkt mich, haben die Redner unter allen in der Stadt am wenigsten Macht.“ P. „Wie? Töten sie nicht wie die Tyrannen, wen sie wollen, und berauben des Vermögens und verweisen aus der Stadt, wen ihnen gut dünkt?“ 27

Platon wählt die Macht des Rhetors – er steht für den Tyrannen – zu tun, was er will zum Hauptthema der Diskussion zwischen Polos und Sokrates; dies lässt erkennen, dass ihre Übereinstimmung mit dem demokratischen Konzept der Freiheit zu

26 Gorgias (Gorg. 449c–461b); Polos (Gorg. 461b–481b); Kallikles (Gorg. 482c–527e). 27 Plat. Gorg. 466b–e (Übers. F. Schleiermacher) Π. πῶς οὐ νομíζεσθαι; οὐ μέγιστον δύνανται ἐν ταῖς πόλεσιν; Σ. οὔκ, εἰ τὸ δύνασθαí γε λέγεις ἀγαθόν τι εἶναι τῷ δυναμένῳ. Π. ἀλλὰ μὴν [δὴ] λέγω γε. Σ. ἐλάχιστον τοíνυν μοι δοκοῦσι τῶν ἐν τῇ πόλει δύνασθαι οἱ ῥήτορες. Π. τí δέ; οὐχ, ὥσπερ οἱ τύραννοι, ἀποκτεινύασíν τε ὃν ἂν βούλωνται, καὶ ἀφαιροῦνται χρήματα καὶ ἐκβάλλουσιν ἐκ τῶν πόλεων ὃν ἂν δοκῇ αὐτοῖς; Polos betritt damit keinen neuen Pfad, denn bereits Gorgias hat das Thema „Macht und Herrschaft“ angeschlagen, wie es Dalfen, Platon: Gorgias (wie Anm.1), 144, 188 f., gezeigt hat; siehe auch Gorg. 452d; 513a–b. Zur Demokratiekritik im Gewand von Kritik an der Rhetorik siehe Yunis, Taming Democracy (wie Anm.1), 119–160; Josiah Ober, Political Dissent in Democratic Athens. Intellectual Critics of Popular Rule. Princeton 1998, 190–213.

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tun, was man will nicht zufällig, sondern beabsichtigt ist. 28 In diesem Zusammenhang ist es bezeichnend, dass Platon stillschweigend die Macht des Rhetors (Tyrannen) zu tun, was man will mit den größten Fehlschlägen des nachperikleischen Zeitalters assoziiert: dem Arginusenprozess und der Sizilischen Expedition. Platon weist im „Gorgias“ auf unterschiedliche Weise auf den Arginusenprozess hin. Zunächst wirft Polos Sokrates (zum zweiten Mal) vor, dieser würde mit seiner Anschauung, der Machthaber bzw. Tyrann könne nicht wirklich tun, was er wolle, im Widerspruch zu allen anderen Menschen stehen. Dagegen verteidigt sich Platons Lehrer mit dem Argument, er sei kein Politiker. Sokrates beruft sich dabei auf sein vermeintliches Unwissen, wie man eine Abstimmung durchführt, welches er an den Tage legte, als er Mitglied des Rates war und seine Phyle den Vorsitz innehatte. 29 Aus Platons „Apologie des Sokrates“ und Xenophons Schriften kann man entnehmen, dass diese Abstimmung mit dem Todesurteil für die Strategen endete, welche die Flotte in der Arginusenschlacht 406 befehligt hatten. 30 Zweitens offenbaren die im rechtlichen Sinne umstrittene Hinrichtung der Feldherrn und die scharfen Drohungen gegen alle Athener, die sich in dieser Hinsicht dem bekundeten Volkswillen widersetzten, wie leicht sich das Konzept der Freiheit zu tun, was man will in die Macht zu töten, wen man will umdeuten lässt, worauf Polos im „Gorgias“ auch immer wieder hinweist. 31 Drittens ist der Arginusenprozess das beste Beispiel für Sokrates’ Stand28

Plat. Gorg. 466d–468e.

29

Plat. Gorg. 473e–474a.

30

Plat. apol. 32b; Xen. mem. 1,1,18; 4,4,2, hell. 1,7,15; siehe Eric Dodds, Plato: Gorgias. A Revised Text with

Introduction and Commentary. Oxford 1959, 247; Emile de Strycker, Historische Zeugnisse über Sokrates, in: Andreas Patzer (Hrsg.), Der historische Sokrates. Darmstadt 1987, 323–354, hier: 344f.; Ernst Heitsch, Platon: Apologie des Sokrates. (Platon Werke. Übersetzung und Kommentar, Bd. 1/2.) Göttingen 2002, 131–134; Michael Christopher Stokes, Plato: Apology. With an Introduction, Translation and Commentary. Warminster 1997, 155f. 31

Plat. Gorg. 466b–e; siehe auch rep. 359c–d, 360b–c; vgl. Morawetz, Demos als Tyrann und Banause (wie

Anm.10), 169. Die Tendenz des Demos, privates Eigentum zu konfiszieren, zu vertreiben und zu töten, ist ein Gemeinplatz in der antidemokratischen Kritik (Plat. apol. 30c–d; Krit. 46c; rep. 565e–f; Xen. Ath. pol. 1,14). Zur Anwendung dieser Vorstellung auf einen Alleinherrscher sind Herodots Bemerkungen zu Kyros den Großen aufschlussreich: Kyros frevelte während des Feldzugs gegen die Massageten und offenbarte den Hang zum grenzenlosen Expansionismus (Hdt. 1,189, 206–207); vgl. Reinhold Bichler/Robert Rollinger, Herodot. Hildesheim/Zürich/New York 2000, 267. Kyros ist überzeugt, er sei allen Menschen überlegen und besonders glücklich (Hdt. 1,204,4); vgl. Bichler, Herodots Welt (wie Anm.18), 267; Walter Marg, ‚Selbstsicherheit‘ bei Herodot (1953), in: ders. (Hrsg.), Herodot. Eine Auswahl aus der neueren Forschung. 3.Aufl. Darmstadt 1982, 290–301, hier: 296. Als Kyros von Hybris überwältigt ist und tyrannische Züge zu Tage legt, beschuldigt er Dareios, der später das persische Reich wiederherstellte, eine Verschwörung anzuzet-

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punkt, der Machthaber bzw. Tyrann könne nicht wirklich tun, was er wolle, selbst wenn er töten und verbannen könne, wen immer er wolle. 32 In der Tat, kurz nachdem die athenischen Feldherren hingerichtet wurden, bedauerten die Athener ihr früheres Urteil und entschieden, diejenigen, welche das Volk getäuscht hatten, zu einer Voruntersuchung vor die Volksversammlung vorzuladen. 33 Viertens war Sokrates letztlich der einzige, der sich entschieden dem willkürlichen Verhalten der Menge während des Arginusenprozesses widersetzte und sich auch durch unverhohlenste Drohungen nicht einschüchtern ließ. 34 Auf diese Weise spitzt Platon Sokrates’ Standpunkt im Gespräch mit Polos zu: Die Meinung der Mehrheit sei für ihn ohne Belang, denn Unrecht zu tun sei ein größeres Übel als Unrecht zu erleiden. 35 Platon verfolgt die Intention, Polos’ Argument, der Rhetor (Tyrann) habe die Macht zu tun, was er wolle, mit der Sizilischen Expedition zu verknüpfen. Das ist daran erkennbar, dass Sokrates an dieser Stelle des Gesprächs Nikias erwähnt. 36 Nikias’ letzte Rede findet bei Thukydides unmittelbar vor der vollständigen Vernichtung der athenischen Streitkräfte auf Sizilien statt. In dieser Rede versucht der athenische Politiker und Feldherr seine demoralisierten Mitbürger zum Kampf zu ermutigen, indem er sie an das Vaterland, das freieste auf der Welt, und die ungehinderte Freiheit im täglichen Leben erinnert: „So also rief er, als die Schiffe schon jeden Augenblick auslaufen sollten, noch einmal jeden einzelnen der Schiffshauptleute auf mit Namen, Vatersnamen und Stamm und mahnte jeden, seine eigenen Ruhmestaten, wenn er von früher welche aufzuweisen hatte, nicht zuschanden zu machen, oder die Leistungen seiner Familie, wenn einer glorreiche Ahnen hatte, nicht auszulöschen;

teln. Hystaspes, Vater des Dareios, antwortete darauf, Kyros könne mit Dareios tun, was er wolle, weil er die Perser aus Sklaven zu Freien und Herrscher über alle Menschen gemacht habe (Hdt. 1.209,3–4, 210). Daher kann tun, was man will in dieser Situation auch töten, wen man will bedeuten; vgl. Simon Hornblower, The Old Oligarch (Pseudo-Xenophon’s Athenaion Politeia) and Thucydides. A Fourth-Century Date for the Old Oligarch, in: Pennile Flensted-Jensen/Thomas Heine Nielsen/Lena Rubinstein (Eds.), Polis & Politics. Studies in Ancient Greek History. Presented to Mogens Herman Hansen on His Sixtieth Birthday. Kopenhagen 2000, 363–384, hier: 367, 383 Anm.30. 32 Plat. Gorg. 466c–468e. 33 Xen. hell. 1,7,35; Diod. 13,103,2; Aristot. Ath. pol. 34,1. Platon verweist darauf indirekt in der Apologie, wenn Sokrates sagt, der Arginusenprozess sei illegal gewesen, und der Demos ist später auch zu diesem Schluss gekommen (Plat. apol. 32b). 34 Xen. hell. 1,7,9–15; vgl. de Strycker, Historische Zeugnisse (wie Anm.30), 332–339, 344. 35 Plat. Gorg. 469b–e, 471e–472c. 36 Plat. Gorg. 472a–b. Zu Nikias s. siehe Peter Pouncey, The Necessities of War. New York 1980, 119–123.

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er erinnerte sie an die herrliche Unabhängigkeit ihrer Vaterstadt und die zwanglose Freiheit, die sie allen im täglichen Leben gewährte, […]. 37

Nikias, der von allen Athenern dieser Zeit wohl am wenigsten zu skrupelloser Machtverherrlichung neigte, beschwört also die Ideale von Perikles’ „Epitaphios“. 38 Auf diese Weise verweist Thukydides darauf, dass die Ideale der „Gefallenenrede“, insbesondere die athenische Machtverherrlichung und die Freiheit zu tun, was man will, zu leeren Floskeln verkommen sind. 39 Der trügerische Eindruck von der Allmacht der Polis Tyrannos hat zu der erschütternden Erfahrung vollkommener Ohnmacht geführt. 40 Thukydides’ spürbar bittere Ironie verdeutlicht, dass Platon im

37

Thuk. 7,69,2: αὖθις τῶν τριηράρχων ἕνα ἕκαστον ἀνεκάλει, πατρόθεν τε ἐπονομάζων καὶ

αὐτοὺς ὀνομαστὶ καὶ φυλήν, ἀξιῶν τό τε καθ᾽ ἑαυτόν, ᾧ ὑπῆρχε λαμπρότητός τι, μὴ προδιδόναι τινὰ καὶ τὰς πατρικὰς ἀρετάς, ὧν ἐπιφανεῖς ἦσαν οἱ πρόγονοι, μὴ ἀφανíζειν, πατρíδος τε τῆς ἐλευθερωτάτης ὑπομιμνῄσκων καὶ τῆς ἐν αὐτῇ ἀνεπιτάκτου πᾶσιν ἐς τὴν δíαιταν ἐξουσíας, […]; Übersetzung nach: Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges. Hrsg. v. Georg Peter Landmann. Berlin 2014; vgl. Plat. rep. 557b; siehe Morawetz, Demos als Tyrann und Banause (wie Anm.10), 115f., bes. Anm.250; Kurt A. Raaflaub, Zum Freiheitsbegriff der Griechen, in: Elisabeth Charlotte Welskopf (Hrsg.), Soziale Typenbegriffe im alten Griechenland und ihr Fortleben in den Sprachen der Welt. Bd. 4. Berlin 1981, 180–405, hier: 222; ders., The Discovery of Freedom (wie Anm.6), 189; vgl. auch Arnold Wycombe Gomme/ Antony Andrewes/Kenneth James Dover, A Historical Commentary on Thucydides. Vol.4: Book V, 25–VII. Oxford 1970, 446; Jacqueline de Romilly, Thucydides and Athenian Imperialism. Oxford 1963, 80 Anm.2. 38

Thuk. 2,37,2 (Übers. G. P. Landmann): „Sondern frei leben wir miteinander im Staat und im gegensei-

tigen Verdächtigen des alltäglichen Treibens, ohne dem lieben Nachbar zu grollen, wenn er einmal seiner Laune lebt, und ohne jenes Ärgernis zu nehmen, das zwar keine Strafe, aber doch kränkend anzusehen ist.“ (ἐλευθέρως δὲ τά τε πρὸς τὸ κοινὸν πολιτεύομεν καὶ ἐς τὴν πρὸς ἀλλήλους τῶν καθ᾽ ἡμέραν ἐπιτηδευμάτων ὑποψíαν, οὐ δι᾽ ὀργῆς τὸν πέλας, εἰ καθ᾽ ἡδονήν τι δρᾷ, ἔχοντες, οὐδὲ ἀζημíους μέν, λυπηρὰς δὲ τῇ ὄψει ἀχθηδόνας προστιθέμενοι.); siehe Hellmut Flashar, Der Epitaphios des Perikles. Seine Funktion im Geschichtswerk des Thukydides. (Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften Heidelberg, Phil.-hist. Klasse.) Heidelberg 1969, 51f.; Tim Rood, Thucydides. Narrative and Explanation. Oxford 2004, 193–201, bes. 193f., 198; Gomme u.a., Historical Commentary (wie Anm.37), Vol.4, 446; Simon Hornblower, A Commentary on Thucydides. Vol.3: Books 5.25–8.109. Oxford 2008, 692; Morawetz, Demos als Tyrann und Banause (wie Anm.10), 104–107, 115; de Romilly, Thucydides and Athenian Imperialism (wie Anm.37), 202 Anm.1; Loraux, Invention of Athens (wie Anm.15), 181. 39

Thuk. 7,69,2; vgl. Flashar, Der Epitaphios des Perikles (wie Anm.38), 51f.; Colin Wiliam Macleod,

Thucydides and Tragedy, in: ders., Collected Essays. Oxford 1983, 141–158, hier: 145f.; Hartmut Leppin, Thukydides und die Verfassung der Polis. Ein Beitrag zur politischen Ideengeschichte des 5.Jahrhunderts v. Chr. Berlin 1999, 155; Morawetz, Demos als Tyrann und Banause (wie Anm.10), 115. Zu Nikias siehe auch Wolfgang Will, Thukydides und Perikles. Der Historiker und sein Held. Bonn 2003, 99. 40

Thuk. 1,122,3, 124,3; 2,63,2; 3,37,2; 6,85,1; Aristoph. Equ. 1111–1114, siehe auch 1329–1330, 1333. Zur

Datierung der Polis Tyrannos-Metapher siehe Kurt A. Raaflaub, Polis Tyrannos. Zur Entstehung einer politischen Metapher, in: Glen W. Bowersock/Walter Burkert /Michael C. J. Putnam (Eds.), Arktouros. Hellenic Studies Presented to Bernard M. W. Knox. Berlin 1979, 237–252, hier: 245, 251; ders., Athens ,Ideologie der

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„Gorgias“ nicht vollkommen neue Wege beschreitet und Sokrates’ Verweis auf Nikias alles andere als zufällig ist. 41

IV. Platon und die destruktive Kraft der Freiheit zu tun, was man will All dies verdeutlicht, dass durch die Widerlegung von Polos’ These von großer Macht der Rhetoren – da sie wie Tyrannen tun, was sie wollen – Platon auch das demokratische Konzept die Freiheit zu tun, was man will kritisiert. Denn durch die Hervorhebung der trügerischen Natur dieser Wertvorstellung verweist Platon darauf, dass es ein gefährliches Gefühl der Omnipotenz hervorruft, welches mit der Gesetzesherrschaft vollkommen unvereinbar ist. Platon geht allerdings noch einen wichtigen Schritt weiter. Dies geht aus seiner Aufteilung des „Gorgias“ in drei kleinere Gespräche (Gorgias – Polos – Kallikles) hervor. Der Verlauf dieser Diskussionen offenbart eine zunehmende Verhärtung der Standpunkte von Sokrates’ Gesprächspartner in Richtung skrupellosen Machtdenkens. Den Höhepunkt dieser Skala moralischer Degradation stellt Kallikles’ Lehre vom Recht des Stärkeren dar. 42 Daraus folgt, dass Platon zufolge das Konzept die Freiheit zu tun, was man will eines der grundlegenden Prinzipien der Lehre des Rechts des Stärkeren darstellt, eine Lehre, welche die Tyrannis idealisiert. Eine derartige Schlussfolgerung unterstützt auch Platons Beschreibung der Demokratie im „Staat“ als ein Pandämonium zügelloser Freiheit. Dieser Schilderung zufolge erlaubt die Demokratie allen Bürgern vollkommen frei zu sein, die gesamte

Macht‘ und die Freiheit des Tyrannen, in: Jack Martin Balcer/Hans-Joachim Gehrke/Kurt Raaflaub (Hrsg.), Studien zum Attischen Seebund. (Xenia, 8.) Konstanz 1984, 45–86, hier: 69–78. Zur Identifikation der athenischen archê mit der Tyrannis siehe Wolfgang Schuller, Die Stadt als Tyrann. Athens Herrschaft über seine Bundesgenossen. Konstanz 1978, 10–122; Pedro Barceló, Thukydides und die Tyrannis, in: Historia 39, 1990, 401–425, hier: 416, 419–424. 41 Auf diese Ironie hat schon Flashar, Der Epitaphios des Perikles (wie Anm.38), 52, hingewiesen. 42 Vgl. Ada Hentschke, Politik und Philosophie bei Plato und Aristoteles. Frankfurt am Main 1971, 38; Richard B. Rutherford, The Art of Plato. Ten Essays in Platonic Interpretation. London 1995, 142; Devin Stauffer, The Unity of Plato’s Gorgias. Rhetoric, Justice, and the Philosophic Life. Cambridge 2006, 15; Ostwald, From Popular Sovereignty (wie Anm.1), 244. Die zunehmend exzessiven Positionen von Sokrates’ Gesprächspartnern stimmen mit dem zunehmend rauen Ton der Diskussion überein; siehe George Klosko, The Insufficiency of Reason in Plato’s Gorgias, in: The Western Political Quarterly 36, 1983, 579–595, hier: 591f.

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Polis ist voll von Freiheit, es herrscht Redefreiheit und jeder genießt die Freiheit zu tun, was er will. Folglich kann jeder sein Leben in der Demokratie nach seinem Belieben einrichten, und es herrschen Gleichheit und Zwanglosigkeit. Infolgedessen leben in dieser Verfassung die unterschiedlichsten Menschen, und allerlei Sitten sind zugelassen, weshalb sie wie ein buntes Kleid ist: „Und wie ist wiederum diese Staatsverfassung beschaffen? Denn offenbar wird uns auch ein solcher demokratischer Mann zum Vorschein kommen. – Offenbar, sagte er. – Und nicht wahr, zuerst sind sie frei und die ganze Stadt voll Freiheit und Redefreiheit, und Erlaubnis hat jeder darin zu tun, was er will? – So sagt man ja wenigstens, sprach er. – Wo aber solche Erlaubnis ist, da offenbar richtet jeder sich seine Lebensweise für sich ein, welche eben jedem gefällt. – Offenbar. – So finden sich denn in solcher Verfassung vorzüglich gar vielerlei Menschen zusammen. – Wie sollten sie nicht! – Am Ende, sprach ich, mag dies die schönste unter allen Verfassungen sein; wie ein buntes Kleid, dem recht vielerlei Blumen eingewirkt sind, so könnte auch diese, in welche allerlei Sitten verwebt sind, als die schönste erscheinen. – Gewiss! sagte er. – Und es ist auch gar bequem, sprach ich, in ihr eine Verfassung zu suchen. – Wie das? – Weil sie vermöge jener Erlaubnis alle Arten von Verfassungen in sich schließt; und wenn einer, wie wir es ja eben taten, einen Staat einrichten will, so scheint es, braucht er nur in eine demokratisch geordnete Stadt zu gehen und sich dort, welcher Schnitt ihm am besten gefällt, den aussuchen, als wenn er sich in einer Trödelbude von Staatsverfassungen umsähe, und nun, sowie er ausgewählt hat, seinen Staat einrichten.“ 43

Dieser unstillbare Durst nach Freiheit entfesselt die Zügellosigkeit, die zur Auflö-

43

Plat. rep. 557a–e (Übers. F. Schleiermacher): καὶ ποíα τις ἡ τοιαύτη αὖ πολιτεíα; δῆλον γὰρ ὅτι

ὁ τοιοῦτος ἀνὴρ δημοκρατικός τις ἀναφανήσεται. – δῆλον, ἔφη. – οὐκοῦν πρῶτον μὲν δὴ ἐλεύθεροι, καὶ ἐλευθερíας ἡ πόλις μεστὴ καὶ παρρησíας γíγνεται, καὶ ἐξουσíα ἐν αὐτῇ ποιεῖν ὅτι τις βούλεται; – λέγεταí γε δή, ἔφη. – ὅπου δέ γε ἐξουσíα, δῆλον ὅτι ἰδíαν ἕκαστος ἂν κατασκευὴν τοῦ αὑτοῦ βíου κατασκευάζοιτο ἐν αὐτῇ, ἥτις ἕκαστον ἀρέσκοι. – δῆλον. – παντοδαποὶ δὴ ἂν οἶμαι ἐν ταύτῃ τῇ πολιτεíᾳ μάλιστ᾽ ἐγγíγνοιντο ἄνθρωποι. – πῶς γὰρ οὔ; – κινδυνεύει, ἦν δ᾽ ἐγώ, καλλíστη αὕτη τῶν πολιτειῶν εἶναι· ὥσπερ ἱμάτιον ποικíλον πᾶσιν ἄνθεσι πεποικιλμένον, οὕτω καὶ αὕτη πᾶσιν ἤθεσιν πεποικιλμένη καλλíστη ἂν φαíνοιτο. καὶ ἴσως μέν, ἦν δ᾽ ἐγώ, καὶ ταύτην, ὥσπερ οἱ παῖδές τε καὶ αἱ γυναῖκες τὰ ποικíλα θεώμενοι, καλλíστην ἂν πολλοὶ κρíνειαν. – καὶ μάλ᾽, ἔφη. – καὶ ἔστιν γε, ὦ μακάριε, ἦν δ᾽ ἐγώ, ἐπιτήδειον ζητεῖν ἐν αὐτῇ πολιτεíαν. – τí δή; – ὅτι πάντα γένη πολιτειῶν ἔχει διὰ τὴν ἐξουσíαν, καὶ κινδυνεύει τῷ βουλομένῳ πόλιν κατασκευάζειν, ὃ νυν δὴ ἡμεῖς ἐποιοῦμεν, ἀναγκαῖον εἶναι εἰς δημοκρατουμένην ἐλθόντι πόλιν, ὃς ἂν αὐτὸν ἀρέσκῃ τρόπος, τοῦτον ἐκλέξασθαι, ὥσπερ εἰς παντοπώλιον ἀφικομένῳ πολιτειῶν, καὶ ἐκλεξαμένῳ οὕτω κατοικíζειν. Vgl. auch 558c, 561e, 563d–e, 568d.

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sung der grundlegenden Unterschiede zwischen Jung und Alt, Bürger und NichtBürger sowie Männern und Frauen führt. Selbst die Tiere eignen sich die ungebundene Freiheit an. 44 Aus dieser äußersten Freiheit geht letztendlich die äußerste Knechtschaft hervor: „Also auch die äußerste Freiheit wird wohl dem einzelnen und dem Staat sich nichts anderes umwandeln als in die äußerste Knechtschaft. – Wahrscheinlich freilich. – So kommt denn wahrscheinlich die Tyrannei aus keiner anderen Staatsverfassung zustande als aus der Demokratie, aus der übertriebensten Freiheit die strengste und wildeste Knechtschaft.“ 45

Platon betont gleichzeitig, dass der Staat, der einst am freiesten von allen war, nachdem er in die Knechtschaft gefallen ist, wie die Seele des Tyrannen, am wenigsten tut, was er wolle: „Zuerst sprach ich, um vom Staate zu handeln, nennst du einen tyrannisch beherrschten Staat frei oder knechtisch? – Im höchsten Grade, sagte er, knechtisch. – Aber du siehst ja doch darin Herren und Freie. – Ich sehe wohl, sagte er, ein weniges derart; das Ganze aber, wenn ich es sagen soll, und das Vorzüglichste in ihm ist in einer ehrlosen und unseligen Knechtschaft. – Wenn nun, entgegnete ich, der Mann dem Staate ähnlich ist, muss dann nicht auch in ihm dieselbe Ordnung sich vorfinden und seine Seele voll Unfreiheit und vielfältiger Knechtschaft sein und gerade die Teile derselben in der Knechtschaft sein, welche die edelsten waren, und nur ein kleiner, und zwar der wertloseste und ausschweifendste herrschen? – Notwendig, sagte er. – Wie nun? Wirst du sagen, dass eine solche Seele knechtisch sei oder frei? – Knechtisch, sage ich,

44 Plat. rep. 562b–563d. Die Freiheit zu tun, was man will, ist zusammen mit der eleutheria der entscheidende Parameter für die Entstehung der radikalen Demokratie. Diese zwei Phänomene sind die Hauptursachen für die Zügellosigkeit, Gleichheit und Buntheit (Unterschiedlichkeit), welche die demokratische Ordnung definieren; siehe Plat. rep. 557b–e, 558c, 561e, 563d–e, 568d. Platon spricht zwar von anarchia, aber aus dem Kontext und den Bemerkungen des Alten Oligarchen, die mit Platons Sichtweise korrespondieren, kann man schlussfolgern, dass anarchia mit akolasia übersetzt werden kann, wie es auch viele Übersetzer zu tun pflegen (Xen. Ath. pol. 1,5, 8, 10–12); vgl. Yoshio Nakategawa, Democracy and Justice in Pseudo-Xenophon’s Athenaion Politieia, in: Hermes 123, 1995, 28–46, 34–36. 45 Plat. rep. 564a (Übers. F. Schleiermacher): ἡ γὰρ ἄγαν ἐλευθερíα ἔοικεν οὐκ εἰς ἄλλο τι ἢ εἰς ἄγαν δουλεíαν μεταβάλλειν καὶ ἰδιώτῃ καὶ πόλει. – εἰκὸς γάρ. – εἰκότως τοíνυν, εἶπον, οὐκ ἐξ ἄλλης πολιτεíας τυραννὶς καθíσταται ἢ ἐκ δημοκρατíας, ἐξ οἶμαι τῆς ἀκροτάτης ἐλευθερíας δουλεíα πλεíστη τε καὶ ἀγριωτάτη. Siehe Wolfgang Maria Zeitler, Entscheidungsfreiheit bei Platon. München 1983, 72–76. Die Tatsache, dass sich Platons Argumentation primär auf die Freiheit zu tun, was man will bezieht, indiziert, dass dieses Konzept das herausragende Merkmal der demokratischen Freiheit ist.

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gewiss. – Und weiter, der knechtische und tyrannisch beherrschte Staat tut wohl am wenigsten, was er will? – Gewiss. – So wird auch wohl die tyrannisch beherrschte Seele am wenigsten tun, was sie gern wollte, wenn man nämlich von der ganzen Seele redet, sondern wie sie immer vom Stachel mit Gewalt getrieben wird, muss sie auch immer voll Schrecken und Reue sein.“ 46

Die Parallelen zwischen diesem Demokratiebild im „Staat“ und dem im „Gorgias“ sind nicht zu übersehen. Auch Polos ordnet das Konzept der Freiheit zu tun, was man will in einen demokratischen Kontext ein (Rhetor). Außerdem prangert Sokrates die Dichotomie dokein – einai (schein – sein), bzw. doxa – alêtheia (Meinung – Wahrheit) als ein Kennzeichen der Rhetorik an. Danach weist er mit Hilfe dieses Gegensatzes auf das Unvermögen der ungerechten Machthaber (Rhetoren/Tyrannen) hin, zwischen dem wahrhaftig Guten und dem scheinbar Guten zu differenzieren. 47 Aus Polos’ Begründung der Macht des Redners (Tyrannen) mit dem Argument, Unrecht zu tun (tun, was man will) sei besser als Unrecht zu erleiden, ergibt sich, dass die Freiheit zu tun, was man will nicht mit der Gerechtigkeit und der Gesetzesherrschaft vereinbar ist. 48 Sokrates verficht den entgegengesetzten Standpunkt: Ungerechtigkeit und Zügellosigkeit sind das größte Übel unter allen, weshalb Unrecht zu tun (tun, was man will) schlimmer sei, als Unrecht zu erleiden. Diese Argumentation drängt zu der Schlussfolgerung, dass zu tun, was man will unausweichlich in Zügellosigkeit enden wird. 49 Sokrates vergleicht zudem Individuen, welche die Macht zu tun, was man will verherrlichen und glauben, Unrecht zu tun sei besser, als Unrecht zu erleiden, mit 46

Plat. rep. 577c–e (Übers. F. Schleiermacher): πρῶτον μέν, ἦν δ᾽ ἐγώ, ὡς πόλιν εἰπεῖν, ἐλευθέραν

ἢ δούλην τὴν τυραννουμένην ἐρεῖς; – ὡς οἷόν τ᾽, ἔφη, μάλιστα δούλην. – καὶ μὴν ὁρᾷς γε ἐν αὐτῇ δεσπότας καὶ ἐλευθέρους. – ὁρῶ, ἔφη, σμικρόν γέ τι τοῦτο· τὸ δὲ ὅλον, ὡς ἔπος εἰπεῖν, ἐν αὐτῇ καὶ τὸ ἐπιεικέστατον ἀτíμως τε καὶ ἀθλíως δοῦλον. – εἰ οὖν, εἶπον, ὅμοιος ἀνὴρ τῇ πόλει, οὐ καὶ ἐν ἐκεíνῳ ἀνάγκη τὴν αὐτὴν τάξιν ἐνεῖναι, καὶ πολλῆς μὲν δουλεíας τε καὶ ἀνελευθερíας γέμειν τὴν ψυχὴν αὐτοῦ, καὶ ταῦτα αὐτῆς τὰ μέρη δουλεύειν, ἅπερ ἦν ἐπιεικέστατα, μικρὸν δὲ καὶ τὸ μοχθηρότατον καὶ μανικώτατον δεσπόζειν; – ἀνάγκη, ἔφη. – τí οὖν; δούλην ἢ ἐλευθέραν τὴν τοιαύτην φήσεις εἶναι ψυχήν; – δούλην δήπου ἔγωγε. – οὐκοῦν ἥ γε αὖ δούλη καὶ τυραννουμένη πόλις ἥκιστα ποιεῖ ἃ βούλεται; – πολύ γε. – καὶ ἡ τυραννουμένη ἄρα ψυχὴ ἥκιστα ποιήσει ἃ ἂν βουληθῇ, ὡς περὶ ὅλης εἰπεῖν ψυχῆς· ὑπὸ δὲ οἴστρου ἀεὶ ἑλκομένη βíᾳ ταραχῆς καὶ μεταμελεíας μεστὴ ἔσται. Vgl. 564a. 47

Plat. Gorg. 459c–e, 464a–465a, 466a–467b, 468c–d, 471e, 472b; siehe Felix Heinimann, Nomos und Phy-

sis. Herkunft und Bedeutung einer Antithese im griechischen Denken des 5.Jahrhunderts. Basel 1945, 42– 58, 116f., 139, bes. 57f.; Max Pohlenz, Nomos und Physis, in: Hermes 81, 1953, 418–438, hier: 425–427, 430f.; Dodds, Gorgias (wie Anm.30), 217; Dalfen, Platon: Gorgias (wie Anm.1), 216, 219, 241.

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48

Plat. Gorg. 466b–c, 468e–469c, 470a–d.

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Plat. Gorg. 470e, 472d–479e, bes. 477d–478a. Zügellosigkeit (akolasia) ist einer der beliebtesten Vor-

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Menschen, die von schwersten Krankheiten befallen sind. Deren Seelen seien gänzlich verdorben, weshalb sie vollkommen unfähig sind, von sich aus irgendein Heilmittel anzunehmen. Wegen dieses Unvermögens, das wahrhaft Gute überhaupt zu erkennen, können die Machthaber auch nicht (wirklich) tun, was sie wollen. Sie verfügen nur über die Illusion der Handlungsfreiheit, denn sie besitzen in Wirklichkeit überhaupt keine Willensfreiheit, weil sie niemals das wahrhaftig Gute wählen können bzw. immer nur tun können, was für sie schlecht ist. Auf diese Weise spricht Platon im „Gorgias“ zum ersten Mal das Phänomen des vollständigen Freiheitsverlustes bzw. die absolute Unfreiheit an: S. „Sagtest du nicht jetzt gleich so, die Redner töteten, wen sie wollen, wie die Tyrannen, und beraubten des Vermögens und verbannten aus der Stadt, wen ihnen gut dünkt?“ P. „So sagte ich.“ S. „So sage ich dir denn, dass dies zwei Fragen sind und dass ich dir auf beide antworten will. Ich behaupte nämlich, Polos, Macht haben Redner sowohl als Tyrannen eigentlich am wenigsten im Staat, weil sie nämlich nichts tun, was sie wollen, dass ich es gerade heraus sage; jedoch tun sie freilich, was ihnen dünkt, das Beste zu sein.“ P. „Das ist doch eben das Machthaben, das viel Vermögen.“ S. „Nein, wie Polos wenigstens sagt.“ 50

Aus den bisherigen Ausführungen wird erkenntlich, dass Platon die Freiheit zu tun, was man will zum Hauptziel seiner Kritik auserwählt hat, weil diese am besten die Idee der absoluten Freiheit der athenischen demokratischen Ideologie verkörpere 51,

würfe gegen die Demokratie (Hdt. 3,81.2; Xen. Ath. pol. 1,5, 10; mem. 1,2,12; Thuk. 3,37,3; 6,89,5; Isokr. or. 7,20, 12,131). 50 Plat. Gorg. 466c–e (Übers. F. Schleiermacher): Σ. οὐκ ἄρτι οὕτω πως ἔλεγες, ‘ἦ οὐχὶ ἀποκτεινύασιν’ οἱ ῥήτορες οὓς ἂν βούλωνται, ὥσπερ οἱ τύραννοι, καὶ χρήματα ἀφαιροῦνται καὶ ἐξελαύνουσιν ἐκ τῶν πόλεων ὃν ἂν δοκῇ αὐτοῖς; Π. ἔγωγε. Σ. λέγω τοíνυν σοι ὅτι δύο ταῦτ᾽ ἐστιν τὰ ἐρωτήματα, καὶ ἀποκρινοῦμαí γέ σοι πρὸς ἀμφότερα. φημὶ γάρ, ὦ Πῶλε, ἐγὼ καὶ τοὺς ῥήτορας καὶ τοὺς τυράννους δύνασθαι μὲν ἐν ταῖς πόλεσιν σμικρότατον, ὥσπερ νυνδὴ ἔλεγον· οὐδὲν γὰρ ποιεῖν ὧν βούλονται ὡς ἔπος εἰπεῖν, ποιεῖν μέντοι ὅτι ἂν αὐτοῖς δόξῃ βέλτιστον εἶναι. Π. οὐκοῦν τοῦτο ἔστιν τὸ μέγα δύνασθαι; Σ. οὔχ, ὥς γέ φησιν Πῶλος. Polos (Gorg. 466c–468e, 469c– 470b, 473b–e, 475d–e, 478e–479e); Kallikles (Gorg. 504d–505d, 514d, esp. 521a–522e); siehe auch rep. 425e– 426c; 576a, 577d–578a, 579c–e (tyrannischer Mensch); epist. 7.330c–331a; vgl. Ernst Heitsch, Wollen und Verwirklichen. Von Homer zu Paulus. (Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Abh. der Geistes- und Sozialwiss. Klasse, 12.) Stuttgart 1989, 3, 23–29. 51 Plat. rep. 557b; vgl. Malcolm Schofield, Plato: Political Philosophy. Oxford 2006, 109.

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welche wiederum die Entwicklung der Vorstellung Macht geht vor Recht und die Idee der absoluten Unfreiheit förderte. Man könnte meinen, die Auffassung, die Tyrannis entwickele sich aus der extremen Freiheit, sei lediglich ein Ausfluss von Platons erbitterter Feindseligkeit gegenüber der athenischen Demokratie. 52 Eine nähere Betrachtung von Platons Denkweise bestätigt jedoch ihre theoretische Fundiertheit, weshalb er auch keineswegs alleine in seiner Verurteilung der absoluten Freiheit blieb. Ein noch härteres Urteil verkündet Hegel. In seinem Kapitel „Die Absolute Freiheit und der Schrecken“ sieht der deutsche Philosoph im Streben nach absoluter Freiheit die Grundursache des revolutionären Terrors in Frankreich: „Kein positives Werk noch Tat kann also allgemeine Freiheit hervorbringen; es bleibt ihr nur das negative Tun; sie ist nur die Furie des Verschwindens. […] Das einzige Werk und Tat der allgemeinen Freiheit ist daher der Tod, und zwar ein Tod, der keinen inneren Umfang und Erfüllung hat; denn was negiert wird, ist der unerfüllte Punkt des absoluten freien Selbsts; er ist also der kälteste, platteste Tod, ohne mehr Bedeutung als das Durchbauen eines Kohlhauptes oder ein Schluck Wassers. […] Die absolute Freiheit hat also als reine Sichselbstgleicheit des allgemeinen Willens die Negation, damit aber den Unterschied überhaupt an ihr und entwickelt diesen wieder als wirklichen Unterschied.“ 53

Das theoretische Fundament der platonischen Kritik am demokratischen Freiheitskonzept besteht in der Idee, dass keine einzige Tugend, die diesen Namen verdient, für sich allein existieren oder gültig sein kann. Jede Tugend muss immer an gewisse positive Werte gekoppelt sein und sich zugleich von negativen Werten abgrenzen. Selbst das absolute Gute, das alle anderen Tugenden in sich vereint, benötigt einen Gegensatz, mit dessen Hilfe es sich abgrenzen und definieren kann. Dies wird von M. A. Bulgakow im Roman „Der Meister und Margarita“ einfach, aber tref-

52

Siehe z.B. Frede, Verfassungen (wie Anm.1), 261; Popper, Die offene Gesellschaft (wie Anm.1), 52. Mo-

rawetz, Demos als Tyrann und Banause (wie Anm.10), 161, kommt zur folgenden Feststellung: „Es ist durchaus interessant, dass Aristoteles dieses eigenartige Konstrukt Platons vor dem Hintergrund seiner eigenen, streng empirisch ausgerichteten metabole-Forschungen überhaupt ernst nahm.“ Vgl. Kersting, Platons „Staat“ (wie Anm.1), 266ff., bes. 268. 53

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes. (Werke VI, B. 3.) Frankfurt am Main 1986,

435–438; siehe auch Reinhart Maurer, Platons Staat und die Demokratie. Historisch-systematische Überlegungen zur politischen Ethik. Berlin 1970, 188f., bes. Anm.20. Im Jahre 1793 tauchte auf zahlreichen Häusern in Paris anstelle der Parole Liberté, Égalité, Fraternité der Slogan Unité, Indivisibilité de la République, Liberté, Égalité, Fraternité ou la mort auf.

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fend anhand des Gesprächs zwischen dem Teufel (Woland) und Jeschuas Jünger (Levi Matthäus) gezeigt. 54 Die skizzierte Notwendigkeit einer Relationierung gilt wohl am meisten von allen Tugenden für die Freiheit, da man nur frei von etwas sein kann. Der Freiheitsbegriff setzt somit, aus sich heraus, die Existenz einer Grenze oder eines Gegensatzes voraus, was immer man darunter verstehen mag. 55 Diesen Gedanken bestätigen die historischen Umstände, welche die Entstehung dieses Wertesystems im alten Griechenland vorantrieben. Bevor die Freiheit (eleutheria) zu einem überragenden abstrakten Wertbegriff wurde, stellte sie nur eine einfache Negation dar und folglich eine Form von Ab- und Umgrenzung. Die Freiheit meinte vor allem, dass eine Person nicht als Folge einer – immer möglichen – Unterwerfung ihren sozialen und politischen Status verlor. Aus diesem Grunde bildete auch eleutheros, von seinem ersten Auftreten an, ein Gegensatzpaar mit doulos. 56 Die Schlüsselereignisse in der griechi54 Mikhail Afanasyevich Bulgakow, Der Meister und Margarita. Aus dem Russischen übertragen und kommentiert v. Alexander Nitzberg. Mit einem Nachwort v. Felicitas Hoppe. Berlin 2012, 469f.: „Ich komme zu dir, du Geist des Bösen, du Herr der Schatten, entgegnete jener mit einem feindseligen Stirnrunzeln. – Und kommst du zu mir, warum grüßt du mich nicht, oh ehemaliger Steuereintreiber?, fragte Woland streng. – Dem Begrüßten wünscht man ein langes Leben, das wünsche ich dir keinesfalls, versetzte der andere bärbeißig. – Du wirst dich damit abfinden müssen, erwiderte Woland mit hohnverzerrtem Mund. – Kaum bist du hier auf dem Dach erschienen, schon gibst du lauter Unfug von dir. Ganz recht, und zwar liegt er in deinem Tonfall. Du hast die Worte so ausgesprochen, als würdest du Schatten nicht anerkennen, ebenso wenig wie das Böse. Vielleicht bist du so gut und denkst mal nach, was dein Gutsein ohne das Böse wäre? Oder, Wie sähe die Erde aus, wenn von ihr alle Schatten schwänden? – Schatten entstehen durch Dinge und Menschen. Hier ist der Schatten meines Degens. Doch auch Bäume und Lebewesen werfen Schatten. Willst du womöglich die Erde leerfegen, alle Bäume und jegliches Leben ausmerzen, einzig und allein deiner Launen wegen, dich an dem nackten Licht zu weiden? Du bist ein Narr. – Ich werde mich gewiss nicht mit dir anlegen, Alter Sophist, sagte Levi Matthäus.“ 55 Vgl. Zeitler, Entscheidungsfreiheit (wie Anm.45), 44f.; Giovanni Sartori, The Theory of Democracy Revisited. Part 2: The Classical Issues. Chatham 1987, 301–306, bes. 302, 304; Schofield, Plato: Political Philosophy (wie Anm.51), 111, 117. 56 Siehe Raaflaub, The Discovery of Freedom (wie Anm.6), 23–57; vgl. Cynthia Farrar, Power to the People, in: Kurt A. Raaflaub/Josiah Ober/Robert W. Wallace (Eds.), Origins of Democracy in Ancient Greece. Berkeley/Los Angeles 2007, 170–195, hier: 179f.; Mogens H.Hansen, Democratic Freedom and the Concept of Freedom in Plato and Aristotle, in: GRBS 50, 2010, 1–27, hier: 2–5. Die Freiheit konnte sich auf die gesamte Polis beziehen, wie es der Schlachtruf bei Salamis in Aischylos’ „Persern“ zeigt (402–405): ὦ παῖδες Ἑλλήνων, ἴτε / ἐλευθεροῦτε πατρíδ᾽, ἐλευθεροῦτε δὲ / παῖδας, γυναῖκας, θεῶν τέ πατρῴων ἕδη,/ θήκας τε προγόνων· νῦν ὑπὲρ πάντων ἀγών. – „Ihr Söhne der Hellenen, auf! / Befreiet unser Vaterland! Auf, auf, befreit / Die Kinder, Weiber, unsrer Stammesgötter Sitz, / Der Vorfahren Gräber; nun für alles gilt der Kampf!“ Übersetzung nach: Aischylos, Die Perser. Übertragen v. Oskar Werner. Frankfurt am Main 1935; siehe Raaflaub, The Discovery of Freedom (wie Anm.6), 61.

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schen „Entdeckung der Freiheit“ waren die Perserkriege, der Sturz der Tyrannis in Athen und die Entstehung der Demokratie. Infolgedessen inkorporierte die Freiheitsidee immer mehr moralische Wertvorstellungen und formte sich zu einem irreversibel affirmativen Begriff. 57 Von dieser Zeit an wurde der Freiheitsbegriff, insbesondere in Athen, mit Vaterlandsliebe, Mut, Selbstaufopferung, Durchsetzungskraft, Autonomie, moralischer Überlegenheit, der Gesetzesherrschaft, isonomia, isêgoria, parrhêsia und anderen positiven Werten identifiziert. 58 Durch die Verknüpfungen wurde die Freiheit zugleich im selben Maße, in dem sie durch diese begleitenden Werte aufgewertet wurde, auch von ihnen begrenzt. Sowohl die athenischen Demokraten als auch ihre Widersacher waren sich dieser zwei evolutionären Merkmale der Freiheitsidee bewusst. Dies bestätigt, unter anderem, die Verwendung des Freiheitsbegriffs für Propagandazwecke während des Peloponnesischen Krieges. 59 Aufgrund der innen- und außenpolitischen Entwicklung Athens, vor allem in der zweiten Hälfte des 5.Jahrhunderts, entstanden freilich auch zahlreiche und manchmal unüberbrückbare Lücken zwischen dem idealisierten Freiheitsbild und der Realität. Auf der außenpolitischen Ebene versuchten die Athener den Freiheitsbegriff mit den Realitäten der archê mittels einer aufwendigen „Ideologie der Macht“ zu versöhnen. 60 Auf der innenpolitischen Ebene bemühten sich die Demokraten, die bestehenden Widersprüche zu lösen, indem sie den integrativen, inklusiven und beschützenden Charakter ihres Freiheitsverständnisses unterstrichen. 61 Der Erfolg dieser Bemühungen war, gelinde gesagt, fragwürdig, da sie die bestehenden Inkonsistenzen im athenischen Freiheitsverständnis eher vertieften als lösten. Das Konzept Freiheit durch Herrschaft hat in keiner Weise die Kritik an Athens Rolle als Polis Tyrannos reduziert, wie auch der Begriff der Freiheit zu tun, was man will nicht die Verurteilung der Volksmassen als Dêmos Tyrannos eindämmte. 62 Der Peloponnesische Krieg hat diese destruktiven Tendenzen der athenischen demokratischen Ideologie, wie sie der Melierdialog, die Sizilische Expedition und der Arginusenprozess zeigen, nur intensiviert. Aufgrund der angeführten Überlegungen erscheint es plausibel zu schließen,

200

57

Siehe Raaflaub, The Discovery of Freedom (wie Anm.6), 58–102.

58

Siehe ebd.203–238.

59

Siehe ebd.166–202.

60

Siehe ebd.166–193.

61

Siehe ebd.227ff.

62

Siehe ebd.181–193.

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dass das Konzept der Freiheit zu tun, was man will wie keine zweite Wertvorstellung über das Potenzial verfügte, alle Werte, welche dem demokratischen Freiheitsideal an sich eigen sind, zu negieren – die Freiheit selbst eingeschlossen. Denn diesem Konzept ist jede Art von Einschränkung vollkommen fremd. Dieser Tatsache waren sich sowohl die Demokraten als auch ihre Gegner wohl bewusst, wie es das Bestreben belegt, der Freiheit zu tun, was man will Grenzen zu setzen bzw. das Fehlen solcher Grenzen zu kritisieren. 63 Da jedoch die Freiheit zu tun, was man will grundsätzlich ohne jede Einschränkung ist, ermöglicht sie es, allen Normen ohne Rücksicht auf ihren tatsächlichen Stellenwert und ihre Relationierung den gleichen Wert zuzuweisen. Dieses Konzept wird somit zwangsläufig zu einer wahren Furie des Verschwindens, weil es unvermeidlich dazu führt, dass alle Normen ihre Verbindlichkeit verlieren: „Haben sie nun die Seele des von ihnen Eingenommenen und Geweihten von diesen allen mit großem Aufwand ausgeleert und gereinigt, dann holen sie mit einem zahlreichen Chor den Übermut ein und die Unordnung und die Schwelgerei und die Unverschämtheit, glänzend geschmückt und bekränzt unter Lobpreisungen und süßen Schmeichelreden, indem sie den Übermut als Wohlerzogenheit begrüßen, die Unordnung als Freisinnigkeit, die Schwelgerei als großartige Lebensweise und die Unverschämtheit als mannhafte Zuversicht. Geschieht es nicht so, sprach ich, dass einer in der Jugend aus einem bei den notwendigen Begierden Auferzogenen zur Befreiung und Loslassung der nicht notwendigen übergeht? […] Nach diesem nun, denke ich, lebt ein solcher so, dass er Geld, Zeit und Mühe um nichts mehr auf die notwendigen als auf die nicht notwendigen verwendet. Ja, wenn er glücklich ist und von jener bacchischen Begeisterung nicht noch weiter fortgerissen wird, vielmehr, nachdem er etwas älter geworden ist und das große Getümmel sich etwas verlaufen hat, er dann die Vertriebenen zum Teil wieder aufnimmt und sich den damals Eingedrungenen nicht gänzlich hingibt, so wird er dann in einem gewissen ruhigeren Gleichgewicht der Lüste leben, indem er der, welche jedes Mal eintritt als ob das Los sie getroffen hätte, die Herrschaft in sich übergibt, bis sie befriedigt ist, und dann wieder einen anderen, indem er keine nachteilig auszeichnet, sondern sie alle gleichmäßig pflegt. […] Eine wahre Rede aber, fuhr ich fort, nimmt er nicht an, noch lässt er sie in seine Wacht,

63 Vgl. Raaflaub, Polis Tyrannos (wie Anm.40), 237–252; Schuller, Die Stadt als Tyrann (wie Anm.49), 10 ff.; Charlotte Schubert, Die Macht des Volkes und Ohnmacht des Denkens. Studien zum Verhältnis von Mentalität und Wissenschaft im 5.Jahrhundert v.Chr. Stuttgart 1993, 77ff.

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wenn eine etwa aussagte, einige Lüste rührten von edlen und guten Begierden her, andere aber von schlechten, und jenen müsse man nachstreben und sie ehren, diese aber bändigen und unterwerfen; sondern hierüber hat er immer nur eine Antwort, dass sie alle einander ähnlich sind und auf gleiche Weise zu ehren. […] So dass irgendeine Ordnung oder Notwendigkeit gar nicht über sein Leben schaltet; sondern ein solches Leben nennt er anmutig und frei und selig und hält sich überall danach. – Auf alle Weise, sprach er hast du das Leben eines Mannes durchgenommen, der alles zu gleichen Rechten behandelt. – Und meiner Meinung nach, fuhr ich fort, ist der Mann ein gar mannigfaltiger, die meisten Sitten und Gemütsstimmungen in sich vereinigend und schier ebenso schön und bunt wie jener Staat, so dass ihn auch viele Männer und Frauen seiner Lebensweise wegen beneiden, weil er auch die Muster der meisten Verfassungen und Denkungsarten in sich trüge.[…] Wie nun? Soll uns ein solcher Mann auf die Seite der Demokratie gestellt bleiben als einer, der mit Recht den Namen eines demokratischen führt? – Dahin soll er gestellt bleiben, sagte er.“ 64

Die Freiheit zu tun, was man will beinhaltet zudem einen tiefen inneren Wider-

64

Plat. rep. 560d–562a (Übers. F. Schleiermacher): τούτων δέ γέ που κενώσαντες καὶ καθήραντες

τὴν τοῦ κατεχομένου τε ὑπ᾽ αὐτῶν καὶ τελουμένου ψυχὴν μεγάλοισι τέλεσι, τὸ μετὰ τοῦτο ἤδη ὕβριν καὶ ἀναρχíαν καὶ ἀσωτíαν καὶ ἀναíδειαν λαμπρὰς μετὰ πολλοῦ χοροῦ κατάγουσιν ἐστεφανωμένας, ἐγκωμιάζοντες καὶ ὑποκοριζόμενοι, ὕβριν μὲν εὐπαιδευσíαν καλοῦντες, ἀναρχíαν δὲ ἐλευθερíαν, ἀσωτíαν δὲ μεγαλοπρέπειαν, ἀναíδειαν δὲ ἀνδρεíαν. ἆρ᾽ οὐχ οὕτω πως, ἦν δ᾽ ἐγώ, νέος ὢν μεταβάλλει ἐκ τοῦ ἐν ἀναγκαíοις ἐπιθυμíαις τρεφομένου τὴν τῶν μὴ ἀναγκαíων καὶ ἀνωφελῶν ἡδονῶν ἐλευθέρωσíν τε καὶ ἄνεσιν; […] Ζῇ δὴ οἶμαι μετὰ ταῦτα ὁ τοιοῦτος οὐδὲν μᾶλλον εἰς ἀναγκαíους ἢ μὴ ἀναγκαíους ἡδονὰς ἀναλíσκων καὶ χρήματα καὶ πόνους καὶ διατριβάς· ἀλλ᾽ ἐὰν εὐτυχὴς ᾖ καὶ μὴ πέρα ἐκβακχευθῇ, ἀλλά τι καὶ πρεσβύτερος γενόμενος τοῦ πολλοῦ θορύβου παρελθόντος μέρη τε καταδέξηται τῶν ἐκπεσόντων καὶ τοῖς ἐπεισελθοῦσι μὴ ὅλον ἑαυτὸν ἐνδῷ, εἰς ἴσον δή τι καταστήσας τὰς ἡδονὰς διάγει, τῇ παραπιπτούσῃ ἀεὶ ὥσπερ λαχούσῃ τὴν ἑαυτοῦ ἀρχὴν παραδιδοὺς ἕως ἂν πληρωθῇ, καὶ αὖθις ἄλλῃ, οὐδεμíαν ἀτιμάζων ἀλλ᾽ ἐξ ἴσου τρέφων. […] καὶ λόγον γε, ἦν δ᾽ ἐγώ, ἀληθῆ οὐ προσδεχόμενος οὐδὲ παριεὶς εἰς τὸ φρούριον, ἐάν τις λέγῃ ὡς αἱ μέν εἰσι τῶν καλῶν τε καὶ ἀγαθῶν ἐπιθυμιῶν ἡδοναí, αἱ δὲ τῶν πονηρῶν, καὶ τὰς μὲν χρὴ ἐπιτηδεύειν καὶ τιμᾶν, τὰς δὲ κολάζειν τε καὶ δουλοῦσθαι, ἀλλ᾽ ἐν πᾶσι τούτοις ἀνανεύει τε καὶ ὁμοíας φησὶν ἁπάσας εἶναι καὶ τιμητέας ἐξ ἴσου. […] καὶ οὔτε τις τάξις οὔτε ἀνάγκη ἔπεστιν αὐτοῦ τῷ βíῳ, ἀλλ᾽ ἡδύν τε δὴ καὶ ἐλευθέριον καὶ μακάριον καλῶν τὸν βíον τοῦτον χρῆται αὐτῷ διὰ παντός. – παντάπασιν, ἦ δ᾽ ὅς, διελήλυθας βíον ἰσονομικοῦ τινος ἀνδρός. – οἶμαι δέ γε, ἦν δ᾽ ἐγώ, καὶ παντοδαπόν τε καὶ πλεíστων ἠθῶν μεστόν, καὶ τὸν καλόν τε καὶ ποικíλον, ὥσπερ ἐκεíνην τὴν πόλιν, τοῦτον τὸν ἄνδρα εἶναι· ὃν πολλοὶ ἂν καὶ πολλαὶ ζηλώσειαν τοῦ βíου, παραδεíγματα πολιτειῶν τε καὶ τρόπων πλεῖστα ἐν αὐτῷ ἔχοντα. […] τí οὖν; τετάχθω ἡμῖν κατὰ δημοκρατíαν ὁ τοιοῦτος ἀνήρ, ὡς δημοκρατικὸς ὀρθῶς ἂν προσαγορευόμενος; – τετάχθω, ἔφη. Vgl. 562c–563d.

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spruch. Die unbegrenzte Freiheit macht es möglich, die Freiheit selbst abzuschaffen. Ein berühmt-berüchtigtes historisches Beispiel hierfür ist die athenische Volksversammlung auf dem Kolonos 411. Im Beschluss der Volksversammlung, sich selbst aufzulösen, verwirklichte sich im vollen Umfang das destruktive Potential der Freiheit zu tun, was man will. Die Folge dieses Beschlusses war, wie es Thukydides kommentiert, dass das Volk seiner Freiheit beraubt war, nachdem es hundert Jahre nicht nur niemandem untertan, sondern über die Hälfte dieser Zeit selber andere zu beherrschen gewohnt gewesen sei. 65 Das anderenfalls bestehende Risiko einer graphê paranomôn oder eisangelia-Klage bedingte, dass auf derselben Volksversammlung vor dem Entschluss über die Abschaffung der Demokratie ein anderer Beschluss gefasst wurde, wonach jeder Athener straffrei jeden Antrag stellen dürfen solle, den er wolle. 66 Einer Gleichsetzung der Freiheit in der Volksversammlung jeden Antrag zu stellen, den man will bzw. zu sagen, was immer man möchte, mit der Freiheit zu tun, was man will kann vorgehalten werden, dass es sich hier um zwei grundverschiedene Sachverhalte handele. Diesem Einwand widersprechen allerdings vier Umstände. Erstens wurde in Athen die (offene) Debatte als eine Voraussetzung für das erfolgreiche politische Handeln aufgefasst. 67 Zweitens antizipiert Platon anscheinend Austins Sprechakttheorie, die entscheidend für das Verständnis der Funktionsweise der Demokratie ist: Die feststellende Rolle des Sprechens (etwas zu sagen) ist in der Praxis nicht trennbar von ihrer illokutionären und performativen Funktion (etwas zu bewirken). 68 Aus diesem Grund benutzt Platon im „Gorgias“ den Begriff exousia nicht nur als ein Synonym für parrhêsia und isegoria, sondern setzt auch sagen, was man will mit tun, was man will gleich. Am Anfang des Gesprächs fragt Polos, ob es ihm erlaubt sei zu reden, wieviel er wol-

65 Thuk. 8,67.2–3, 68.4–69.1. 66 Thuk. 8,67.2 (ἐξεῖναι μὲν Ἀθηναíων ἀνατεὶ εἰπεῖν γνώμην ἣν ἄν τις βούληται: […]); siehe auch Aristot. Ath. pol. 29,4; vgl. Ostwald, From Popular Sovereignty (wie Anm.1), 374; Peter J. Rhodes, A Commentary on the Aristotelian Athenaion Politeia. Oxford 1981, 378. Das Demophantos-Dekret gegen Tyrannis und Demokratieumsturz ist nach dem Fall der Vierhundert in Kraft getreten; siehe Ostwald, From Popular Sovereignty (wie Anm.1), 409, 414f.; Karl-Wilhelm Welwei, Das klassische Athen. Demokratie und Machtpolitik im 5. und 4.Jahrhundert. Darmstadt 1999, 405 Anm.305, 311. 67 Thuk. 2,40,2–3, 60,5; Demosth. or. 1,1; siehe Ober, Mass and Elite (wie Anm.9), 314–324; ders., Political Dissent in Democratic Athens (wie Anm.27), 89; Yunis, Taming Democracy (wie Anm.1), 229–332. 68 Josiah Ober, How to Criticize Democracy in Late Fifth- and Fourth-Century Athens, in: ders., The Athenian Revolution. Essays on Ancient Greek Democracy and Political Theory. Princeton 1996, 140–160, hier: 151–153; ders., Political Dissent (wie Anm.67), 36–38.

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le. Sokrates bestätigt, dass in Athen die größte Freiheit zum Reden herrscht. 69 Bald danach preist Polos die Freiheit zu tun, was man will. Sophokles’ „Antigone“ belegt, dass schon früh nicht mehr zwischen dem tun und dem reden, was man will unterschieden wurde, diese Gleichsetzung also keine platonische Erfindung ist. 70 Drittens konnte Thomas Morawetz nachweisen, dass Aischylos’ „Der gefesselte Prometheus“ und Sophokles’ „Antigone“ zeigen, wie die Möglichkeit zu tun, was man will von Anfang darauf abzielte, die Tyrannis des Demos auch dadurch zu denunzieren, dass dieser darauf beharre, absolut niemand stehe über der Volksversammlung und diese tue nicht etwa gegen die Gesetze, was sie will, sondern mit den Gesetzen und durch diese. 71 Viertens ist aus Polos’ und Gorgias’ Aussagen ersichtlich, dass die Macht des Rhetors zu tun, was er will auf seiner Fähigkeit basiert, die Massen zu manipulieren. Die Allmacht des Rhetors aber beruht auf der Omnipotenz der Volksversammlung und ihrer gleichzeitigen Unfähigkeit, zwischen dem wahrhaftigen und dem nur scheinbar Guten zu differenzieren. 72 All dies erklärt, weshalb Platon im „Staat“ einen kausalen Zusammenhang zwischen der Umwertung aller Werte als der destruktivsten Auswirkung der Demokratie und dem höchsten demokratischen Ideal – der absoluten Freiheit – herstellt. 73 Es

69

Pl. Gorg. 461d–e: Π. τí δέ; οὐκ ἐξέσται μοι λέγειν ὁπόσα ἂν βούλωμαι; / Σ. δεινὰ μεντἂν

πάθοις, ὦ βέλτιστε, εἰ Ἀθήναζε ἀφικόμενος, οὗ τῆς Ἑλλάδος πλεíστη ἐστὶν ἐξουσíα τοῦ λέγειν, ἔπειτα σὺ ἐνταῦθα τούτου μόνος ἀτυχήσαις. – „P. Wie doch? Es soll mir nicht erlaubt sein zu reden, wieviel ich will? / S. Das wäre freilich hart für dich Bester, wenn du solltest nach Athen gekommen sein, wo in ganz Hellas die größte Freiheit im Reden herrscht, und du allein solltest ihrer eben hier entbehren.“ (Übers. F. Schleiermacher); siehe auch rep. 557b; Demosth. or. 9.3 (parrhêsia/exousia); vgl. Dodds, Gorgias (wie Anm.30), 222; Plato, Gorgias. Translated with Notes by Terence Irwin. Oxford 1979, 129; Dalfen, Platon: Gorgias (wie Anm.1), 231. 70

Soph. Ant. 506f.: ἀλλ᾽ ἡ τυραννὶς πολλά τ᾽ ἄλλ᾽ εὐδαιμονεῖ κἄξεστιν αὐτῇ δρᾶν λέγειν θ᾽ ἃ

βούλεται. – „Doch ist die Tyrannei mit vielem ja beglückt: ihr steht auch zu tun, zu reden, was sie mag!“ Übersetzung nach: Sophokles, Antigone. Tragödie. Deutsch v. Wilhelm Willige. Stuttgart 1948. 71

Siehe Morawetz, Demos als Tyrann und Banause (wie Anm.10), 59–69, 76–81, bes. 68f., 80f.

72

Plat. Gorg. 456b–c; vgl. 459a–b; Prot. 319b–e; Hdt. 3,81,1–2, 5,97,2; Xen. Ath. pol. 1,6–9; Thuk. 6,39,1.

73

Pl. Rep. 558c: ταῦτά τε δή, ἔφην, ἔχοι ἂν καὶ τούτων ἄλλα ἀδελφὰ δημοκρατíα, καὶ εἴη, ὡς

ἔοικεν, ἡδεῖα πολιτεíα καὶ ἄναρχος καὶ ποικíλη, ἰσότητά τινα ὁμοíως ἴσοις τε καὶ ἀνíσοις διανέμουσα. – „Dieses also, sagte ich, und anderes dem Verwandtes hätte die Demokratie und wäre, wie es scheint, eine anmutige, regierungslose, buntscheckige Verfassung, welche gleichmäßig Gleichen wie Ungleichen eine gewisse Gleichheit austeilt.“ (Übers. F. Schleiermacher); siehe auch rep. 557b–d. Vor Platon hat der „Alte Oligarch“ eine Verbindung zwischen der Inversion der Werte und der Freiheit des Demos hergestellt (Xen. Ath. pol. 1,8–13, 2,17–19). Isokrates ging im Panathenaikos, im Vergleich zum Alten Oligar-

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sei genau dieses unbegrenzte Verlangen nach Freiheit um der Freiheit willen, welches bewirke, dass der demokratische Mensch alle seinen Begierden mit gleichen Rechten behandele und sich zu einem isonomischen Menschen (isonomikos anêr) entwickele. 74 Das Ergebnis dieser Gleichsetzung der guten und schlechten Begierden sei, dass Unordnung und Hemmungslosigkeit – und nicht die Gerechtigkeit – herrschten. 75 Daraus ergibt sich, dass die Zügellosigkeit letztendlich zur Entstehung des tyrannischen Mannes führt. 76 Den allgemeinen Charakter der kausalen Verbindung zwischen grenzenloser Freiheit und Tyrannis hat Alexis de Tocqueville unter der Überschrift „Tyrannei der Mehrheit“ prägnant erfasst: „Allmacht dünkt mich eine an sich schlechte und gefährliche Sache. Ihre Ausübung scheint mir über die Kraft des Menschen, wer immer er sei, hinauszugehen, und ich sehe nur Gott, der ohne Gefahr allmächtig sein kann, weil seine Weisheit und Gerechtigkeit immer seiner Macht ebenbürtig sind. Es gibt demnach auf Erden keine Autorität, die als solche so ehrwürdig oder Trägerin eines so geheiligten Rechtes wäre, dass ich sie unbeaufsichtigt handeln und unbehindert herrschen lassen wollte. Sehe ich also, dass irgendeiner Macht das Recht und die Befugnis, alles zu tun, eingeräumt wird, nenne man sie Volk oder König, Demokratie oder Aristokratie, werde sie in einer Monarchie oder in einer Republik ausgeübt, so sage ich: hier ist der Keim zur Tyrannei, und ich trachte, unter anderen Gesetzen zu leben.“ 77

chen, einen wichtigen Schritt weiter. Im Kontext der Umwertung der Werte in der Demokratie nennt Isokrates die Freiheit zu tun, was man will im Zusammenhang mit der Freiheit (Isokr. or. 12,131; vgl. auch 7,20); vgl. Peter Roth, Der Panathenaikos des Isokrates. Übersetzung und Kommentar. München/Leipzig 2003, 170f. Dennoch gelingt es beiden Autoren nicht vollkommen, das „volle“ Potential des Konzepts Freiheit zu tun, was man will zu erfassen. 74 Plat. rep. 560e–561e, bes. 561e; vgl. 559d; siehe Gregory Vlastos, ‚Isonomia politikê‘, in: Jürgen Mau/ Ernst Günther Schmidt (Hrsg.), Isonomia. Studien zur Gleichheitsvortellung im griechischen Denken. Berlin/Amsterdam 1964, 1–35, hier: 26f.; Francisco L. Lisi, Einheit und Vielheit des platonischen Nomosbegriffs. Eine Untersuchung zur Beziehung von Philosophie und Politik bei Platon. Meisenheim 1985, 167f., 171f.; Otto Maß, Platons Staat. Kommentar. Bielefeld/Leipzig 1921, 242f.; Norbert Blößner, Dialogform und Argument. Studien zu Platons ,Politeia‘. Stuttgart 1997, 276f.; Zeitler, Entscheidungsfreiheit (wie Anm.45), 72ff.; Scott, The Republic (wie Anm.1), 19–23; John Lombardini, Isonomia and the Public Sphere in Democratic Athens, in: History of Political Thought 34, 2013, 393–420, hier: 407f. 75 Plat. rep. 560e–561e; vgl. Kersting, Platons „Staat“ (wie Anm.1), 280; Frede, Verfassungen (wie Anm.1), 263; Arlene W. Saxonhouse, Democracy, Equality, and Eidê. A Radical View from Book 8 of Plato’s Republic, in: The American Political Science Review 92, 1998, 273–283, hier: 278–282. 76 Plat. rep. 572d–573d. 77 Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika (1835–1840). Aus dem Französ. neu übertragen v. Hans Zbinden. Bd. 1. Stuttgart 1959, 290f.

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Platon stellt somit im „Staat“ einen kausalen Zusammenhang her zwischen der Freiheit zu tun, was man will, der Umwertung der Werte, der Zügellosigkeit und der Entstehung des tyrannischen Menschen. Dementsprechend spielt die Akzentuierung der Machtfülle des Rhetors (Tyrannen) im „Gorgias“ nur eine Nebenrolle. Die wichtigste Funktion von Polos’ Befürwortung der Macht zu tun, was man will ist zu zeigen, dass dieses Konzept eine der Grundlagen von Kallikles’ Lehre vom Recht des Stärkeren bildet, wie es sich auch aus dessen Mangel an Ordnung (taxis) und seiner Überzeugung, alle Begierden (epithymiai) seien gleich, ergibt. Der „Staat“ zählt dies zu den Hauptmerkmalen des demokratischen Menschen. 78 Kallikles’ verblüffende Ähnlichkeit mit dem demokratischen und isonomischen Menschen offenbaren auch seine folgenden Worte: „Sondern das ist eben das von Natur Schöne und Rechte, was ich dir nun ganz frei heraus sage, dass, wer richtig leben will, seine Begierden muss so groß werden lassen als möglich und sie nicht einzwängen; und diesen, wie groß sie auch sind, muss er dennoch Genüge zu leisten vermögen durch Tapferkeit und Einsicht, und worauf seine Begierde jedes Mal geht, sie befriedigen. […] Sondern der Wahrheit nach, o Sokrates, die du ja behauptest zu suchen, verhält es sich so: Üppigkeit und Ungebundenheit (akolasia) und Freigebigkeit, wenn sie nur Rückhalt haben, sind eben Tugend und Glückseligkeit: Jenes andere aber sind Zierereien, widernatürliche Satzungen, leeres Geschwätz der Leute und nichts wert.“ 79

Diese Worte legen nahe, dass die Inversion der Werte bei Kallikles ein vollende-

78

Plat. Gorg. 466b–c, 470d, 471a–d, 493c, 494e–495a, 503e–504d, 508a; rep. 559d, 560e–561e, bes. 561d;

Xen. Ath. pol. 1,5; vgl. Dalfen, Platon: Gorgias (wie Anm.1), 377, 380f.; Kai Trampedach, Platon, die Akademie und die zeitgenössische Politik. Stuttgart 1994, 164; Scott Berman, Socrates and Callicles on Pleasure, in: Phronesis 36, 1991, 117–140, hier: 132. Zu Nachweisen, dass taxis und kosmos synonym sind, siehe Dalfen, Platon: Gorgias (wie Anm.1), 413f., 431f. 79

Plat. Gorg. 491e–492c (Übers. F. Schleiermacher): ἀλλὰ τοῦτ᾽ ἐστὶν τὸ κατὰ φύσιν καλὸν καὶ

δíκαιον, ὃ ἐγώ σοι νῦν παρρησιαζόμενος λέγω, ὅτι δεῖ τὸν ὀρθῶς βιωσόμενον τὰς μὲν ἐπιθυμíας τὰς ἑαυτοῦ ἐᾶν ὡς μεγíστας εἶναι καὶ μὴ κολάζειν, ταύταις δὲ ὡς μεγíσταις οὔσαις ἱκανὸν εἶναι ὑπηρετεῖν δι᾽ ἀνδρεíαν καὶ φρόνησιν, καὶ ἀποπιμπλάναι ὧν ἂν ἀεὶ ἡ ἐπιθυμíα γíγνηται. […] ἀλλὰ τῇ ἀληθεíᾳ, ὦ Σώκρατες, ἣν φῂς σὺ διώκειν, ὧδ᾽ ἔχει· τρυφὴ καὶ ἀκολασíα καὶ ἐλευθερíα, ἐὰν ἐπικουρíαν ἔχῃ, τοῦτ᾽ ἐστὶν ἀρετή τε καὶ εὐδαιμονíα, τὰ δὲ ἄλλα ταῦτ᾽ ἐστὶν τὰ καλλωπíσματα, τὰ παρὰ φύσιν συνθήματα ἀνθρώπων, φλυαρíα καὶ οὐδενὸς ἄξια; siehe auch Gorg. 497d, 499a–501c, 504d–505c; Aristoph. Equ. 150–184; Vesp. 548–630, 650f.; Eccl. 214–240; Isokr. or. 7,20; 12,131; vgl. Johannes Touloumakos, Die Politisierung des Eudaimoniebegriffs in der Klassischen Zeit, in: Jochen Bleicken (Hrsg.), Symposion für Alfred Heuss. Kallmünz 1986, 19–37, 33–35.

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ter Prozess ist. Infolgedessen kann er auch behaupten, Üppigkeit, Zügellosigkeit und Freiheit seien gemäß dem Gesetz der Natur bzw. der Lehre vom Recht des Stärkeren in Wirklichkeit Tugend und Glückseligkeit. 80 Begierden letztlich mit Glück und Tugend in eins zu setzen belegt, dass Kallikles ein Befürworter der Freiheit zu tun, was man will ist. Daher kann er auch problemlos die Gesetze als widernatürliche menschliche Konventionen abstempeln. 81 Die Verbindung zwischen der Umwertung der Werte und der Freiheit zu tun, was man will spiegelt sich auch in Kallikles’ Aussage, dass – falls Sokrates Recht habe mit der Widerlegung von Polos’ Thesen – das menschliche Leben auf den Kopf gestellt sei. 82 Sokrates spottet seinerseits über Kallikles, indem er sagt, dieser sei in die großen Mysterien eingeweiht worden, bevor er die kleinen kennengelernt habe. 83 Welche Bedeutung Platon der Freiheit zu tun, was man will für den Menschentypus wie Kallikles zumisst, ist auch daran erkennbar, dass sich Sokrates des Begriffs exousia, welcher oft genau dies bedeutet, im Schlussmythos im „Gorgias“ nicht weniger als dreimal bedient, um seinen Standpunkt zu untermauern. 84 Der Grund hierfür ist, dass der demokratische Mensch in seinem entsprechenden Geisteszustand keine wahre Rede annehmen kann. Unter dieser ist eine Rede zu verstehen, die zwischen den guten und schlechten Begierden unterscheidet und sich für die Bändigung der Letzteren ausspricht. 85 Dies erklärt, weshalb im „Gorgias“ angedeutet wird, dass der junge Athener von der schlimmsten Krankheit befallen ist. 86 Denn auch Kallikles bleibt bis zum Ende des „Gorgias“ für alle Argumente von Sokrates und dessen Schlussmythos, der die wahre Rede schlechthin ist, vollkommen unzugänglich – der wahre Arzt (Sokrates) scheitert daran, seinen Patienten (Kallikles) von seiner schweren Krankheit (der demokratischen Ideologie) zu heilen. Kallikles’ Ähnlichkeit zum isonomikos anêr sowie sein Lobpreis der Tyrannis zeigen an, dass im Falle des jungen Atheners die Transformation vom demokratischen zum tyrannischen Menschen größtenteils erfolgt ist. An dieser Stelle ist es erforderlich darauf hinzuweisen, dass laut Platon ein Mensch von

80 Plat. Gorg. 492c. 81 Plat. Gorg. 492c; siehe auch Aristot. pol. 1310a33–6; vgl. Schofield, Plato: Political Philosophy (wie Anm. 51), 111, 117, bes. 119. 82 Plat. Gorg. 481c. 83 Plat. Gorg. 493a, 497c; Plat. rep. 560d–e; vgl. Dalfen, Platon: Gorgias (wie Anm.1), 371, 373, 389f. 84 Plat. Gorg. 525a, 525d, 526a; siehe Dalfen, Platon: Gorgias (wie Anm.1), 490. 85 Plat. Gorg. 492c; rep. 561b–c; vgl. Schofield, Plato: Political Philosophy (wie Anm.51), 111, 117, bes. 119. 86 Plat. Gorg. 504e–505e; siehe auch 478e–479e.

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tyrannischer Natur nicht zwingend eine tyrannische Position innehaben muss; er kann auch ein Privatmensch sein (idiôtês). 87 Folglich gibt es keinen Widerspruch zwischen der Behauptung, Kallikles habe einen tyrannischen Charakter, und dessen Absicht, in der Demokratie politisch aktiv zu sein. Schließlich ist noch zu bemerken, dass sich Platon hinsichtlich der Verknüpfung der Umwertung der Werte in der Demokratie mit dem Aufstieg des tyrannischen Menschen auf keinen Vorläufer stützen konnte. Allerdings hat vor ihm Herodot einen Zusammenhang zwischen absoluter Freiheit und der Entstehung der Tyrannis hergestellt. In der „Verfassungsdebatte“ sagt der persische Adlige Otanes, welcher die Demokratie befürwortet, die Freiheit zu tun, was man will würde jeden König in einen Despoten verwandeln. 88 Herodot hat als Historiker diese Kausalität jedoch nicht wie ein Philosoph analysiert, weshalb es seiner Beobachtung an theoretischer Konsistenz und Tiefe fehlt.

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87

Plat. rep. 578a–c.

88

Hdt. 3,80.3.

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Götterkult und Göttervorstellung in Platons „Nomoi“ von Kai Trampedach

I. Athens „kultische Demokratie“ „Religion provided the framework and the symbolic focus of the polis. Religion was the very centre of the Greek polis.“ Mit diesen Worten beschließt Christiane Sourvinou-Inwood ihren 1990 erstmals erschienenen und mittlerweile klassisch gewordenen Aufsatz „What is Polis Religion?“ Nancy Evans spricht 2004 von einer „cultic democracy“ im klassischen Athen, in der öffentliche Feste ebenso zentral waren für die Bildung der Bürgeridentität wie für die Herstellung der Polisgemeinschaft: „There was no way for any citizen to avoid taking part in cultic occasions. Being a citizen necessarily meant taking part in cultic democracy.“ 1 Dass die Götterverehrung in der griechischen Polis als „Kitt“ fungiert, dass sie die Bürger für sich oder nach Gruppenzugehörigkeit durch Gebete und Opfer, Prozessionen und Wettkämpfe zusammenführt und zusammenhält, ist also eine naheliegende, ja fast banale Erkenntnis, die sich bereits an den homerischen Epen 2 ohne Weiteres ablesen lässt. Dennoch findet diese Erkenntnis in antiken Texten selten direkt Ausdruck. So hören wir zwar immer wieder, dass beispielsweise die Athener stolz waren auf die große Zahl und die Vielfalt und Pracht ihrer Feste. 3 Aber schon der „alte Oligarch“ begründet diese unübertroffene Fülle lediglich mit dem Wunsch des Volkes und der Armen, auf öffentliche Kosten zu schlemmen (εὐωχεῖσθαι). 4

1 Christiane Sourvinou-Inwood, What is Polis Religion?, in: Oswyn Murray/Simon Price (Eds.), The Greek City. From Homer to Alexander. Oxford 1990, 295–322, hier: 322; Nancy A. Evans, Feasts, Citizens, and Cultic Democracy in Classical Athens, in: Ancient Society 34, 2004, 1–24, hier: 3 und 13 (Zitat). 2 Hom. Il. 6,286–310 (Opfer der Troerinnen für Athena); 18,490–496 (Schildbeschreibung); Od. 8,57ff. (Fest bei den Phäaken). 3 Xen. Ath. pol. 3,2, 3,8; Aristoph. nub. 299–313; Soph. Oid. K. 1005–1009; Lys. 30,18; Isokr. 4,45f., 7,66; Xen. vect. 6,1; Plat. Alk. 2 148e–149a. 4 Xen. Ath. pol. 2,9: Θυσíας δὲ καὶ ἱερὰ καὶ ἑορτὰς καὶ τεμένη γνοὺς ὁ δῆμος ὅτι οὐχ οἷόν τέ ἐστιν ἑκάστῳ τῶν πενήτων θύειν καὶ εὐωχεῖσθαι καὶ ἵστασθαι ἱερὰ καὶ πόλιν οἰκεῖν καλὴν

https://doi.org/10.1515/9783110608380-008

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Dieser Aussage aus demokratiefeindlicher Sicht lässt sich eine Bemerkung zur Seite stellen, die Thukydides in der berühmten Gefallenenrede dem Perikles in den Mund legt: dass sich nämlich die Athener verdientermaßen durch die vielen Wettkämpfe und Opfer, „die jahraus, jahrein bei uns Brauch sind“ und „deren tägliche Lust das Bittere verscheucht“, von den Mühen des Alltags erholen. Weil wir in unserer Demokratie alle, das heißt jeder nach seinen Möglichkeiten, sagt Perikles hier sinngemäß, mehr leisten – und der Erfolg gibt uns recht –, so wollen wir auch mehr als andere feiern. 5 Aus gutem Grund spricht Perikles von Opfern und Agonen: Das Feiern besteht eben nicht nur aus „Schlemmen“, sondern auch im „Schauen“. Die θεωρικά, sogenannte Schaugelder, beweisen, dass Perikles mit seiner hedonistischen Auffassung der Demokratie in Athen nicht allein stand. Diese Schaugelder wurden nämlich verteilt, um auch den ärmeren Athenern den Besuch zentraler Kultveranstaltungen – wir hören in diesem Zusammenhang vor allem von den Dionysien und den Panathenäen – zu ermöglichen. 6 Wie wichtig die Athener diese Einrichtung nahmen, zeigt die Tatsache, dass sie nach dem verlorenen Bundesgenossenkrieg kurz vor der Mitte des 4.Jahrhunderts auf Antrag des Politikers Eubulos eine zentrale, θεωρικόν genannte Kasse schufen, in die Überschüsse und Sondereinnahmen des Polisetats flossen. Viele Debatten der vierziger und beginnenden dreißiger Jahre des 4.Jahrhun-

καὶ μεγάλην, ἐξηῦρεν ὅτῳ τρόπῳ ἔσται ταῦτα. θύουσιν οὖν δημοσíᾳ μὲν ἡ πόλις ἱερεῖα πολλά· ἔστι δὲ ὁ δῆμος ὁ εὐωχούμενος καὶ διαλαγχάνων τὰ ἱερεῖα. 5 Thuk. 2,38,1: ’Καὶ μὴν καὶ τῶν πόνων πλεíστας ἀναπαύλας τῇ γνώμῃ ἐπορισάμεθα, ἀγῶσι μέν γε καὶ θυσíαις διετησíοις νομíζοντες, ἰδíαις δὲ κατασκευαῖς εὐπρεπέσιν, ὧν καθ' ἡμέραν ἡ τέρψις τὸ λυπηρὸν ἐκπλήσσει. Die Übersetzungen sind von Georg Peter Landmann. 6 Hesych. s. v. θεωρικὰ χρήματα und θεωρικὸν ἀργύριον; Harpokr. s. v. θεωρικά = Philochoros FGrH 328 F 33. Es ist in der Forschung umstritten, wann die θεωρικά eingeführt wurden, ob unter Perikles oder zu Beginn des 4.Jahrhunderts oder erst durch Eubulos nach dem verlorenen Bundesgenossenkrieg (357– 355); vgl. James J. Buchanan, Theorika. A Study of Monetary Distributions to the Athenian Citizenry during the Fifth and Fourth Centuries B. C. New York 1962; Hermann Wankel, Demosthenes – Rede für Ktesiphon über den Kranz. Erläutert und mit einer Einleitung versehen. 2 Halbbde. Heidelberg 1976, 613–615; Jochen Bleicken, Die athenische Demokratie. (UTB-Ausgabe.) 4.Aufl. Paderborn 1995, 92f., 303, 305 u. bes. 333; Mogens Herman Hansen, Die Athenische Demokratie im Zeitalter des Demosthenes. Berlin 1995, 100, 273f.; Robert Parker, Athenian Religion. A History. Oxford 1996, 220. Mich hat die Argumentation von David Kowalko Roselli, Theorika in Fifth-Century Athens, in: GRBS 49, 2009, 5–30, hier: 6, überzeugt, wonach „distributions of public funds approved by the demos for attendance at festivals (θεωρικά) existed as ad hoc payments in the fifth century, but these were not part of the Theoric Fund that came into existence later in the fourth century“.

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derts in Athen drehten sich um die Frage, ob die Gelder in dieser Kasse außer für die Unterstützung der Festteilnahme zumindest ausnahmsweise auch für andere, etwa militärische Zwecke verausgabt werden dürften. 7 Für den zeitgenössischen Historiker Theopompos von Chios war das θεωρικόν daher ein Symbol des athenischen Niedergangs: Weil die Staatseinkünfte, die früher dem Unterhalt der Soldaten und Ruderer dienten, nun angeblich unter dem städtischen Volk aufgeteilt wurden, hätten die Athener Philipp und den Makedonen nicht wirksam Paroli bieten können. Sie ließen, so behauptet Iustin, der hier vermutlich über Pompeius Trogus auf den zeitgenössischen Historiker Theopomp zurückgreift, „die öffentlichen Einkünfte nicht wie einstmals in den Unterhalt von Flotte und Heer fließen, sondern in die Ausrichtung von Festtagen und prunkvollen Spielen und belebten ihre Theater mit den berühmtesten Schauspielern und Dichtern. Häufiger suchten sie die Bühne auf als das Heerlager und lobten lieber Verskünstler als Feldherren.“ 8 Natürlich ist diese polemische Gegenüberstellung lediglich Ausdruck einer moralisierenden Rhetorik, noch dazu mit dem „wisdom of hindsight“, wie sie dem Stil dieses Geschichtsschreibers besonders entsprach; das Körnchen Wahrheit, das selbst diese Aussage enthält, liegt in der Annahme der nicht nachlassenden Bedeutung, die die Athener ihrem Festwesen zumaßen. Auch für den politischen Redner Demades steht das Schaugeld für die Priorität der Versorgung und Unterhaltung der Bürger: Die θεωρικά seien, so stellte er spöttisch, doch treffend fest, der „Kitt der Demokratie“ (κόλλαν τῆς δημοκρατíας). 9 Diese Funktion konnten die Schaugelder nur erfüllen, weil die spektakulären Kultveranstaltungen, an denen teilzunehmen sie den Bürgern ermöglichten, einen eminent sozialen Charakter hatten – und sei es nur, indem sie die Bürger, wie die athenischen Quellen immer wieder betonen, zu gemeinsamer Erholung und Unterhaltung zusammenführten.

7 Demosth. 1,19–20, 3,10–13, 19–20, 30–31, 4,35–37, 8,21–23, 10,35–45; vgl. István Hajdú, Kommentar zur 4. Philippischen Rede des Demosthenes. Berlin/New York 2002, 292–297; Demosth. 18,113, 59,4–6; Aischin. 3,25–26; vgl. Lucia Cecchet, Poverty in Athenian Public Discourse. From the Eve of the Peloponnesian War to the Rise of Macedonia. Stuttgart 2015, 158–161. 8 Iust. 6,9,3–4 (Übers. Peter Emberger); vgl. Theopompos FGrHist 115 F 99, 213,11–17; Evans, Feasts, Citizens, and Cultic Democracy (wie Anm.1), 7. 9 Hyp. fr. 36 (de Falco) = Plut. mor. 1011 B.

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II. Platons Anknüpfungen an die kultische Praxis Athens Genau diesen sozialen Sinn hat niemand klarer und eindeutiger herausgearbeitet als Platon in seinem letzten und umfangreichsten Werk, den „Nomoi“. In der kretischen Stadt Magnesia, die er in diesem Dialog entwirft, spielt der Götterkult in den vertrauten Erscheinungsformen eine zentrale Rolle. Dessen Funktion beschreibt Platon noch im Vorgespräch, zu Beginn des zweiten Buches, mit ähnlichen Worten wie der thukydideische Perikles: „Die Götter aber, die Mitleid mit dem zur Mühsal geborenen Geschlecht der Menschen empfanden, haben zu ihrer Erholung von den Mühen als Gegengabe die Feste zu Ehren der Götter angeordnet.“ 10 An diese Aussagen lässt sich problemlos anknüpfen, was Platon im fünften Buch, bereits im Rahmen der eigentlichen Gesetzgebung, als Sinn und Zweck der Kulthandlungen anführt: „damit die Zusammenkünfte der einzelnen Bürgerabteilungen, wenn sie zu den festgesetzten Zeiten stattfinden, eine gute Gelegenheit zur Befriedigung aller Bedürfnisse bieten und damit die Leute beim Opfern Freundschaft schließen und miteinander vertraut und bekannt werden; denn für eine Stadt gibt es kein größeres Gut, als wenn die Leute miteinander bekannt sind“ (5, 738d–e).

Platon spielt hier offenbar auf die Tatsache an, dass Fleischkonsum in griechischen Städten häufig mit öffentlichen Tieropfern zu Ehren der Götter verbunden war. 11 Über das moderate „Schlemmen“ hinaus sollen – so will es Platon für seine 10

Plat. leg. 2, 653d (alle Übersetzungen aus Platons „Nomoi“ sind von Klaus Schöpsdau): θεοὶ δὲ οἰκτí-

ραντες τὸ τῶν ἀνθρώπων ἐπíπονον πεφυκὸς γένος, ἀναπαύλας τε αὐτοῖς τῶν πόνων ἐτάξαντο τὰς τῶν ἑορτῶν ἀμοιβὰς τοῖς θεοῖς (…). Bemerkenswerterweise benutzt Platon hier die gleiche Formel wie Thukydides (oben Anm.5): ἀναπαύλας (…) τῶν πόνων. An das hier von Perikles bei Thukydides evozierte Vergnügen (τέρψις), das mit der Erholung verbunden ist, lässt auch denken, wenn Plat. leg. 4, 716d das Beste, das ein guter Mann für ein glückliches Leben tun kann, so bestimmt: θύειν καὶ προσομιλεῖν ἀεὶ τοῖς θεοῖς εὐχαῖς καὶ ἀναθήμασιν καὶ συμπάσῃ θεραπεíᾳ θεῶν. Erholung und Unterhaltung als Hauptfunktionen von Kulthandlungen nennt auch Aristot. eth. Nik. 8,11 1160a23–25: θυσíας τε ποιοῦντες καὶ περὶ ταύτας συνόδους, τιμάς ἀπονέμοντες τοῖς θεοῖς, καὶ αὑτοῖς ἀναπαύσεις πορíζοντες μεθ’ ἡδονῆς. 11

Vincent J. Rosivach, The System of Public Sacrifice in Fourth-Century Athens. Atlanta 1994, bes. 64–67,

schätzt, dass ein athenischer Bürger im 4.Jahrhundert durchschnittlich jeden achten oder neunten Tag Opferfleisch konsumieren konnte. Die Feststellung von Michael H.Jameson, Religion in the Athenian Democracy, in: Ian Morris/Kurt A. Raaflaub (Eds.), Democracy 2500? Questions and Challenges. Dubuque 1998, 171–195, hier: 187, dass „the Greeks derived virtually all their meat from the ritual of sacrifice“, ist allerdings in letzter Zeit zu Recht unter Verweis auf Wildbret und das Fleisch von Tieren, die normalerweise nicht geopfert wurden (manches Geflügel, Hund, Esel), relativiert worden; vgl. Robert Parker, Eating Un-

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kretische Stadt, ganz im Sinne einer ‚kultischen Demokratie‘ athenischer Prägung – regelmäßige Fleischmahlzeiten in den jeweiligen Kultgemeinschaften eine gesellige Atmosphäre schaffen, die die soziale Kohäsion unter Bürgern befördert. 12 An anderer Stelle begründet Platon den Zweck der Opferhandlungen auf ähnliche Weise: „erstens um die Huld der Götter und der göttlichen Mächte zu gewinnen, sodann wegen der gegenseitigen Freundschaft und Bekanntschaft, wie wir meinen, und überhaupt um des ganzen Zusammenlebens willen“ (6, 771d).

Der zweite Aspekt bleibt keine rein abstrakte Überlegung. Die Feste sollen nämlich in Magnesia auch zur Anbahnung passender Ehen genutzt werden: „Denn für die eheliche Gemeinschaft und Verbindung ist es notwendig, die Unwissenheit darüber zu beseitigen, aus welcher Familie und wen man heiratet und wem man seine Tochter zur Frau gibt“ (6, 771e).

Die gemeinsame rituelle Götterverehrung konstituiert also einen Raum, in dem sich die Bewohner der geplanten kretischen Polis begegnen können. Dabei artikulieren sich alle Untergliederungen innerhalb der Polis (wie Phylen, Phratrien und Demen oder Alters- und Geschlechtsgruppen) als Kultgemeinschaften – so wie in Griechenland generell jede Art von Gruppenbildung, auf welcher Ebene auch immer, durch Kult zum Ausdruck gebracht wurde und Identität gewann. 13 Platons Überlegungen beruhen hier, wie auch sonst an vielen Stellen in den „Nomoi“, auf einer sehr genauen Funktionsanalyse der zeitgenössischen politischen Strukturen. Dies zeigt sich auch in der Organisation des Kultwesens, bei der Platon naheliegenderweise vor allem auf (mehr oder weniger spezifisch demokratische) Institutionen und Verfahren seiner Heimatstadt Athen zurückgreift. 14 Im Hinblick auf die Götterverehrung bietet Magnesia auf den ersten Blick das ver-

sacrificed Meat, in: Pierre Carlier/Charlotte Lerouge-Cohen (Eds.), Paysage et religion en Grèce antique. Mélanges offerts à Madeleine Jost. Paris 2010, 137–145; F. S. Naiden, Smoke Signals for the Gods. Ancient Greek Sacrifice from the Archaic through Roman Periods. Oxford 2013, hier: 241–250. 12 Vgl. Sourvinou-Inwood, What is Polis Religion? (wie Anm.1), 305: „Ritual reinforces group solidarity, and this process is of fundamental importance in establishing and perpetuating civic and cultural, as well as religious, identities.“ Ähnlich Evans, Feasts, Citizens, and Cultic Democracy (wie Anm.1), bes. 15, 23–25. 13 Sourvinou-Inwood, What is Polis Religion? (wie Anm.1), 310. 14 Vgl. Marcel Piérart, Platon et la Cité grecque. Théorie et réalité dans la Constitution des ‚Lois‘. 2.Aufl. Paris 2008 (zuerst Brüssel 1974), 465f.: „C’est la constitution d’Athènes qu’on lit en filigrane dans la cité des Magnètes. Il n’est guère d’institution qui n’en porte la marque. (…) Platon s’est contenté, pour l’essentiel, de demander à la constitution d’Athènes les matériaux de base dont il avait besoin.“

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traute Bild einer griechischen Polis: Da gibt es eine Akropolis mit den Heiligtümern von Hestia, Zeus und Athena sowie einen von Tempeln umgebenen Marktplatz; jedes Dorf hat seinen heiligen Markt und seine Kultbezirke; Heiligtümer mit Tempeln, Altären und Götterbildern sind über das ganze Land verstreut; Priester, Tempeldiener, Schatzmeister, Seher und Exegeten tun, was ihnen obliegt; der Kult besteht, wie eh und je, aus Prozessionen, Opfern und Gebeten, Tänzen und Agonen. 15 Des Weiteren schafft der Gesetzgeber in Magnesia Feste für Frauen, auch solche, die – wie die Thesmophoria, Skira und Haloa in Athen – unter Ausschluss der Männer gefeiert werden (8, 828c). Die konservative Grundhaltung zeigt sich ebenfalls in den Details: Vorhandene Götterbilder, Altäre und heilige Bezirke, gleich ob sie zu einheimischen oder zu ausländischen Kulten gehören, sind vom Gesetzgeber stets zu respektieren und dürfen nicht im geringsten verändert werden; außerdem sollen die Kulte und Heiligtümer nach den Weisungen aus Delphi, Dodona, vom Ammoneion oder aus anderen alten Überlieferungen eingerichtet werden (5, 738b–c). Die kretische Neugründung bezieht, wie der Athener im weiteren Verlauf des Gespräches bekräftigt, dem athenischen Vorbild entsprechend ihr Sakralrecht aus Delphi: „Aus Delphi aber soll man Gesetze über den gesamten Götterkult holen, für sie Exegeten bestellen und sie dann anwenden.“ 16 Bei der Nominierung von sechs Exegeten, die für die Auslegung des Sakralrechts zuständig sein und die zur Hälfte gewählt, zur anderen Hälfte nach einer Vorwahl vom delphischen Orakel bestimmt werden sollen, orientiert sich Platon offensichtlich wiederum an den athenischen Verhältnissen. Auch in Athen konnte die Gemeinde Exegeten in sakralrechtlichen Fragen konsultieren, darunter ἐξηγηταὶ Πυθόχρηστοι, die, wie der Name sagt, vom Orakel in Delphi berufen wurden. Im Übrigen galt für sämtliche Fragen des Kultes in Athen, dass sie κατὰ τὰ πάτρια καὶ τὴν μαντεíαν gehandhabt werden sollten, um eine Formel zu zitieren, die wiederholt auf attischen Inschriften Verwendung fand. 17 Platon folgt diesem Ansatz sehr weitgehend: Althergebrachte Tradition und göttliche Sanktion sollen der Götterverehrung in der kretischen Polis Unverfügbarkeit und Unantastbarkeit vermitteln. Die neuen Heiligtümer und Kulte in der neu15

Walter Burkert, Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche. 2.Aufl. Stuttgart 2011

(zuerst 1977), 494. 16

Plat. leg. 6, 759c. Vgl. – auch für das Folgende – Naiden, Smoke Signals (wie Anm.11), 46–48; Kai Tram-

pedach, Politische Mantik. Die Kommunikation über Götterzeichen und Orakel im klassischen Griechenland. Heidelberg 2015, 441–447. 17

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IG I3 78; LSCG 31.

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gegründeten Stadt müssen daher auf die Quellen mit der höchsten sakralen Autorität zurückgeführt werden können, die im zeitgenössischen Griechenland zur Verfügung stehen. Platon nennt in diesem Zusammenhang die berühmtesten Orakel, insbesondere dasjenige des Apollon in Delphi. In kultischen Angelegenheiten gilt der Orakelgott selbst als der wichtigste Deuter. Er heißt sowohl in Athen, wie epigraphische und literarische Zeugnisse belegen 18, als auch bei Platon πάτριος ἐξηγητής. In der „Politeia“ (4, 427bc) zählt Sokrates die Einrichtungen auf, die eine ideale Polis aus Delphi beziehen muss: „Tempelgründungen und Opfer und die anderen Dienste der Götter, Dämonen und Heroen; und die Beisetzungen der Verstorbenen und was man ihnen dort darbringen muss, um sie gnädig zu halten. Denn dergleichen verstehen wir ja selbst nicht und werden auch, indem wir die Stadt gründen, keinem anderen darin folgen, wenn wir Vernunft haben, noch einen anderen Ratgeber gebrauchen als den väterlichen. Denn dieser Gott ist in solchen Dingen allen Menschen der väterliche Ratgeber, weil er, inmitten der Erde auf dem Omphalos sitzend, seine Sprüche erteilt.“ 19

Diese Aussage trifft Platons Intention auch in den „Nomoi“. Die rituelle Götterverehrung, auf die wegen ihrer sozialen Funktion auch platonische Idealstädte nicht verzichten können, lässt sich nicht mit den Mitteln der menschlichen Vernunft gestalten; der Gesetzgeber übernimmt diejenigen Institutionen und Verfahren aus dem bestehenden religiösen „Konglomerat“ 20, die die soziale Funktion unterstützen und seinem Werk Stabilität verleihen. Einen Priesterstand benötigt Platon nicht, so dass er auch in der Zusammenstellung der Priesterschaften im Wesentlichen den Konventionen zeitgenössischer griechischer Städte folgen kann. 21 Die Priesterämter sollen per Los vergeben werden, „um so die Entscheidung dem göttlichen Zufall zu überlassen“, doch soll überprüft werden, dass der Erloste körperlich unversehrt und von rechtmäßiger Geburt ist sowie aus einem unbefleckten Haushalt stammt.

18 IG I3 131, 137; SEG 13,4, 13,6, 21,469. 19 Plat. rep. 4, 427b–c (Übers. Friedrich Schleiermacher). 20 Zu diesem Begriff siehe unten Anm.38. 21 Sourvinou-Inwood, What is Polis Religion? (wie Anm.1), 320f.; dies., Further Aspects of Polis Religion, in: Annali dell’Istituto Universitario Orientale di Napoli. Sezione di archeologia e storia antica 10, 1988, 259–274, hier: 259–263; vgl. Piérart, Platon et la Cité grecque (wie Anm.14), 314–354.

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„Auf ein Jahr und nicht länger“, so fügt Platon hinzu, „soll jedes Priesteramt befristet sein, und nicht weniger als 60 Jahre alt soll unserer Meinung derjenige sein, der gemäß den heiligen Gesetzen den Götterkult angemessen vollziehen soll“ (6, 759b–760a).

Ungewöhnlich ist hier nicht so sehr die Tatsache der hohen Altersgrenze als solcher, sondern vielmehr die grundsätzliche Bindung jedes Priestertums an das Mindestalter von 60 Jahren. 22 Offenbar wollte Platon durch diese Bestimmung die Würde des Alters der Repräsentanten auf die Kulthandlungen übertragen.

III. Systematisierung, Theologisierung, Sakralisierung Über zeitgenössische Verhältnisse in Athen und anderen griechischen Städten hinaus geht in der kretischen Neugründung auch der Festkalender. Jede Unterabteilung der Polis, also jede Phyle und jeder Demos, erhält einen Gott oder Heros mit den entsprechenden Altären. Außerdem ist jeder Monat einem Gott geweiht, und an jedem Tag des Jahres soll eine Behörde ein Opfer für Götter oder Dämonen vollziehen. Platon konstruiert einen Festkalender, der auf einer systematischen Heiligung von Raum und Zeit beruht. Dabei ist er offenbar kein Anhänger der oligarchischen Meinung, dass viele Feste das Volk verderben; im Gegenteil übertrifft sein Magnesia sogar das athenische Beispiel „in dem Ausmaß, in welchem der Kult das Leben der Polis durchdringt und die Zeit des Jahres zu einer permanenten Festzeit macht“. 23 Wie insbesondere Klaus Schöpsdau in seinem Kommentar zu den „Nomoi“ gezeigt hat, macht Platon hier im Detail ungewöhnliche Vorschläge: 1. Der magnesische Festkalender orientiert sich an einem 365tägigen Sonnenjahr, wie es die Ägypter ihrem Kalender zugrunde legten.

22

Dafür gibt es meines Wissens keine zeitgenössische Parallele: vgl. auch Jan Timmer, Altersgrenzen po-

litischer Partizipation in antiken Gesellschaften. Berlin 2008, 258–260. Allerdings hat Aristoteles diese Bestimmung für seine Idealpolis übernommen, denn er möchte, dass die älteren Bürger, „die wegen ihres Alters an Kraft verloren haben, den Dienst an den Göttern versehen und ihnen ihre Muße widmen; ihnen soll man daher die Priesterämter übertragen“ (pol. 7,9 1329a31–34]). 23

Klaus Schöpsdau, Platon Nomoi (Gesetze) Buch VIII–XII. Übersetzung und Kommentar. Göttingen

2011, 169; Jon D. Mikalson, The Sacred and Civil Calendar of the Athenian Year. Princeton 1985, 201–203 schätzt, dass nahezu die Hälfte aller Tage des athenischen Kalenders in der einen oder anderen Weise Festtage waren; vgl. Evans, Feasts, Citizens, and Cultic Democracy (wie Anm.1), 6.

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2. Eine Verbindung von 12 Göttern mit 12 Phylen und 12 Monaten ist vor Platon in Griechenland nicht nachweisbar. 3. Mit der Konzentration der chthonischen Kulte auf einen Monat (den letzten Monat des Jahres) weicht Platon wiederum vom attischen Festkalender ab, in welchem die Feste mit chthonischen Elementen über das ganze Jahr verteilt erscheinen. 24 Nach Platon gebührt dem Unterweltsgott dieselbe Ehre wie den himmlischen Göttern. Denn wie diese ist Pluton ein Wohltäter, weil er die Seele vom Körper und damit von den Begierden und Übeln des Leibes befreit und ihr die Rückkehr zu dem verwandten Göttlichen ermöglicht. Folgerichtig hat der Kult der chthonischen Götter in Magnesia keinen düsteren Charakter, sondern wird von der Hoffnung auf ein besseres Dasein für die Seele getragen; dadurch verliert der Tod seinen Schrecken, was eine unerlässliche Voraussetzung für die Bewährung kriegerischer Tapferkeit ist. Indem Platon die Verehrung der unter- und der oberirdischen Götter trennt (vgl. auch schon 4, 717a–b), sprengt er die Kontinuität der sakralen Zeit auf; er akzentuiert auf diese Weise das Ende des Jahres und den folgenden Neubeginn. Abgesehen von der Steigerung durch Systematisierung enthält der Festkalender von Magnesia also einen theologischen Einschlag. Theologie kommt auch – worauf Eric Robertson Dodds und Walter Burkert hingewiesen haben – in der Kultgemeinschaft von Apollon und Helios zum Ausdruck, die Platon in seiner kretischen Stadt schafft. Priester dieses Kultes sind die εὔθυνοι, die alle Beamten überwachen und letztlich die Herrschaft des Gesetzes in der Stadt sichern; sie müssen den höchsten moralischen Ansprüchen gerecht werden, ja von göttlicher Natur sein, genießen die höchsten Ehren und werden durch ein besonderes Wahlverfahren bestimmt; sie wohnen im Heiligtum; einer von ihnen wird jährlich zum „Oberpriester“ bestellt und gibt als Eponym dem Jahr den Namen (12, 945b–947b). Burkert zieht folgenden Schluss: „Im Hintergrund steht, unausgesprochen, die Gleichsetzung von Apollon und Helios; die postulierte Gestirnverehrung rückt damit ins Zentrum der Stadt, verbirgt sich freilich hinter der Doppelbenennung: Die kosmische Deutung ist möglich, wird aber nicht erzwungen. Dem Helios, der ‚alles übersieht

24 Plat. leg. 8, 828a–d mit Schöpsdau, Platon Nomoi (Gesetze) Buch VIII–XII (wie Anm.23), 170–172; vgl. Glenn P. Morrow, Plato’s Cretan City. A Historical Interpretation of the Laws. Princeton 1960, 451–453.

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und hört‘, entspricht der Auftrag seiner Priester. Herkommen und Natur treffen sich.“ 25

Ich komme auf das Problem der Theologie bald zurück, möchte aber zuvor noch kurz auf die Sakralisierung politischer, häuslicher und ritueller Verfahren eingehen, die in dieser Form keine Parallele in der zeitgenössischen griechischen Poliswelt findet. Mit Klaus Schöpsdau lassen sich folgende Elemente ausmachen 26: 1. Der Losentscheid wird als eine göttliche Offenbarung oder sogar als ein Gott selbst verstanden (5, 741b). Das Losverfahren kann daher der Bodenordnung der Stadt sowie der Auswahl von Gremien, Beamten und Priestern eine religiöse Legitimation verleihen, die sie gegen Änderungsversuche schützt (5, 757e, 759b–c; vgl. 690c). Daher wird die Losung von einem Gebet begleitet, dass es zur gerechten Seite fallen und sich somit auch hier der ‚Urteilsspruch des Zeus‘ durchsetzen möge. 2. Die Wahl der wichtigsten Beamten, auch die der Richter und Strategen, hat Platon besonders aufwendig gestaltet. Sie findet in drei Wahlgängen in dem Heiligtum statt, „das die Stadt als das ehrwürdigste ansieht“. An dem Wahlverfahren ist bemerkenswert, dass die Wähler die Täfelchen mit dem Namen ihres Favoriten auf dem Altar der Gottheit deponieren sollen (6, 753c). Zwar sind dafür gerade auch aus Athen Parallelen überliefert, die aber keine reguläre Beamtenwahl betreffen und eher den Stempel des Außergewöhnlichen tragen. 27 Ähnlich verhält es sich mit dem beim letzten Wahlgang von allen Wählenden zu vollziehenden rituellen Hindurchschreiten zwischen den Opferstücken; diese Handlung entspricht als solche dem bei

25

Burkert, Griechische Religion (wie Anm.15), 496f.; vgl. Eric R. Dodds, Die Griechen und das Irrationale.

Darmstadt 1970 (engl. Original 1951), 119: „Dieser Kultverband – an Stelle des erwarteten Zeuskultes – symbolisiert die Verschmelzung von alt und neu. Apollon vertritt den traditionellen Glauben der Masse, Helios die neue ‚Naturreligion‘ der Philosophen. Das ist Platons letzter, verzweifelter Versuch, eine Brücke zwischen der Intelligenz und dem einfachen Volk zu schlagen und auf diese Weise die Einheit des griechischen Glaubens und der griechischen Kultur zu retten.“ Die Gleichsetzung von Apollon und Helios findet sich freilich implizit schon bei Aischylos (Suppl. 213f.), explizit bei Euripides (Phaeton, frg. 781,11–13 Nauck = TrGF 5,817); vgl. Morrow, Plato’s Cretan City (wie Anm.24), 447f.: „Whether Plato was influenced by Euripides, or by contemporary Orphics, or was an independent contributor to this current of speculation, we cannot pause to inquire.“ 26

Vgl. Klaus Schöpsdau, Platon Nomoi (Gesetze) Buch IV–VII. Übersetzung und Kommentar. Göttingen

2003, 320, 358, 371–374, 462f., 493f., 531. 27

Vgl. Piérart, Platon et la Cité grecque (wie Anm.14), 143f., der die Intention wie folgt bestimmt (144):

„Il s’agit de sanctionner la sincérité du vote par une démarche religieuse.“ Meines Erachtens sollen die Wahlen eine andere Qualität gewinnen, indem sie regulär in einem Heiligtum mit geweihten Täfelchen vollzogen werden.

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einem Eid, etwa einem Amtseid in Athen und anderen Städten üblichen Ritual, bei dem der Schwörende auf die abgeschnittenen Teile eines männliches Opfertieres (Eber, Schafbock, Stier) tritt. Wie bei einem Eid verpflichtet sich der Wähler durch dieses Ritual, im Heiligtum und vor der Gottheit als Zeugen seine Wahl nach bestem Wissen und Gewissen zu treffen. 28 3. Eheschließungen und Bestattungen sind mit Opfern und heiligen Handlungen verbunden, die im Einzelnen von den Exegeten festgelegt werden sollen. Durch die ausgefeilte Sakralisierung empfangen die Rituale des Lebenszyklus ihre Würde und, was die Ehe betrifft, ihre Unverletzlichkeit (6, 775a, 8, 841d). Vom Tempel der Geburtsgöttin Eileithyia aus wachen ausgewählte Frauen über Ehe und Kinderzeugung (6, 784a). 29 4. Von den Formen der Kultpraxis beschreibt Platon in den „Nomoi“ am eingehendsten die Chöre. Gesang und Tanz, an dem alle Bürger teilnehmen müssen, üben wichtige Normen ein; die Chöre sollen einander immer wieder den Wert der Gerechtigkeit vor Augen stellen und zu Gehör bringen. 30 Von der Unveränderlichkeit der musikalischen Formen hängt für Platon die Stabilität der Gesetze und der Verfassung ab. Diese Unveränderlichkeit soll nach dem Vorbild ägyptischer Verfahren erreicht werden: Die Gesetzgeber setzen zunächst die kultischen Feiern und die dabei aufzuführenden Tänze und Lieder fest; dann weihen die Bürger mit Opfern die Tänze und Gesänge jeweils einem der Götter, so dass, wie Platon selbst betont, jede Abweichung davon als Religionsfrevel verfolgt werden kann (6, 799a–b). An dieser Stelle ist es Zeit, ein kurzes Zwischenfazit zu ziehen: Platon orientiert sich bei der Konstruktion der „zweitbesten“ Polis in den „Nomoi“ an vertrauten Einrichtungen und Verfahren der athenischen Demokratie, nicht nur weil er diese als Athener am besten kannte, sondern vor allem, weil die athenische Demokratie auf der intensivsten Mobilisierung der Bürger und der ausgeprägtesten Festkultur beruhte. Diese Einrichtungen und Verfahren unterzieht er, auf der Grundlage einer genauen Funktionsanalyse, einer Systematisierung und Sakralisierung. Damit ist frei-

28 Vgl. Piérart, Platon et la Cité grecque (wie Anm.14), 145. 29 Vgl. Schöpsdau, Platon Nomoi (Gesetze) Buch IV–VII (wie Anm.26), 493: „Platons Institution der Eheaufseherinnen ist in der griechischen Welt ohne Parallele.“ Zu den Bestattungen vgl. Morrow, Plato’s Cretan City (wie Anm.24), 461–465. 30 Burkert, Griechische Religion (wie Anm.15), 497, fügt hinzu, zugleich aber sei „ihr Tun Spiel, Spiel im Gegensatz zum Ernst und doch mit dem Anspruch, wichtiger zu sein als aller Ernst; sind die Menschen doch selbst Spielpuppen, Marionetten der Gottheit“.

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lich das entscheidende Element seines Neuansatzes noch nicht erfasst. Platon war nämlich der Meinung, dass ohne eine theologische Fundierung eine möglichst gute Polis, die sich durch Gerechtigkeit und innere Einheit auszeichnet, nicht geschaffen werden könnte. Aus eigener Lebenserfahrung und als aufmerksamer Beobachter des Zeitgeschehens wusste er: Ohne verbindliche Göttervorstellungen würden auch eine verstärkte Systematisierung der Kulteinrichtungen und eine weitergehende Sakralisierung der politischen Verfahren keine Gerechtigkeit und innere Stabilität hervorbringen können.

IV. Die Forderung der Orthodoxie Was heißt das alles für die Götterverehrung in Magnesia? Orthopraxie allein genügt nicht, Orthodoxie muss hinzutreten. Weil die Theologie die herkömmliche kultische Praxis rechtfertigt und ihr einen tieferen Sinn verleiht, kann der Gesetzgeber die Göttervorstellung nicht dem Belieben des einzelnen Bürgers überlassen. „Niemand“, so erklärt Platon zu Beginn des zehnten Buches, „der gemäß den Gesetzen glaubt, dass es Götter gibt, hat jemals willentlich eine unfromme Tat begangen oder ein gesetzloses Wort geäußert, sondern er tut dies nur, wenn er sich in einem dieser drei krankhaften Zustände befindet: entweder wenn er dies, wie gesagt, nicht glaubt, oder wenn er zweitens glaubt, dass sie zwar existieren, aber sich nicht um die Menschen kümmern, oder drittens, dass sie leicht zu beschwichtigen seien, weil sie sich durch Opfer und Gebete von ihrer Haltung abbringen lassen“ (10, 885b).

Platon widmet – auch das zeigt die Bedeutung, die er diesem Gegenstand beimisst – das ganze zehnte Buch der „Nomoi“ der Widerlegung der drei Heterodoxien und der Bestrafung ihrer Anhänger. Seine Widerlegung der Atheisten mündet in einen positiven Gottesbeweis, der vor allem auf der Beobachtung von regelmäßigen und harmonischen Bewegungen der Himmelskörper beruht. Demnach sind die Himmelskörper Götter, die in wunderbarer Ordnung am Himmel entlangziehen, woraus Platon den Schluss zieht, dass das Universum von der Vernunft (νοῦς) gelenkt werde, die als höchste Gottheit anzusehen sei. 31 Die Widerlegung der zweiten Häresie läuft auf eine Auseinandersetzung mit dem Theodizee-Problem hinaus, denn die

31

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Vgl. Michael Bordt, Platons Theologie. Freiburg im Breisgau/München 2006, 234–236.

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Ansicht, dass sich die Götter nicht um die Menschen kümmern, beruht auf der Erfahrung des Wohlergehens schlechter Menschen. Dagegen bemüht Platon, wie in früheren Werken, einen Jenseitsmythos, der die Vorstellung eines Zusammenhangs zwischen dem Schicksal der Seele nach dem Tode und ihrem Verhalten im jetzigen Leben und die Vorstellung einer Reinkarnation der Seele entfaltet. Soviel wird klar: „Wer mit seinem Leben unzufrieden ist, versteht nicht den Platz, den er innerhalb der Ordnung des Ganzen einnimmt.“ 32 Die dritte Häresie hat am meisten Einfluss auf die Kultpraxis und ist daher der am weitesten verbreitete und schlimmste Irrtum; denn die Annahme, die Götter seien bestechlich und wären durch Gebet und Opfer nach begangenem Unrecht zur Verzeihung zu bewegen, verleitet zur Ungerechtigkeit und untergräbt das Fundament der Gemeinschaft. Damit widerspricht Platon einem wichtigen Aspekt der gängigen Kultpraxis, der doch die Vorstellung einer grundsätzlichen, wenn auch asymmetrischen Reziprozität zugrunde liegt. 33 Ein auf dem Prinzip des do ut des basierender Handel zwischen Menschen und Göttern aber steht einer ethischen Haltung, wie sie gerade die Kulttätigkeit der Bewohner von Magnesia auszeichnen soll, entgegen; der Sinn des Kults müsse vielmehr der freundliche Umgang mit dem Befreundeten sein, der den Menschen in seinem Innersten prägt und formt und zu seiner Eudaimonie beiträgt. 34 Um die dritte Häresie wirksam bekämpfen und politische Kontrolle ausüben zu können, verbietet Platon überdies jegliche Form privater Kultbetätigung und privater Heiligtümer. Damit bleibt auch kein Raum mehr für die sogenannte Votivreligion, das heißt für die Gepflogenheit, bei Krankheiten oder in Notlagen oder auch infolge göttlicher Eingebung (durch Träume oder Orakel) Weihgaben zu geloben. 35 Eine Religion ohne persönliche Ansprache, ohne „spezifisch ‚religiösen‘ Zugang zu Gott außerhalb der Vernunft“? 36 Man darf an dieser Stelle im Lichte der Religionsgeschichte fragen, ob die ethische Aufladung und theologische Überhöhung nicht zum Scheitern verurteilt ist, solange die individuellen Bedürfnisse und Emoti-

32 Ebd.213. 33 Vgl. Naiden, Smoke Signals (wie Anm.11), 163–165; Trampedach, Politische Mantik (wie Anm.16), 392f. 34 Schöpsdau, Platon Nomoi (Gesetze) Buch IV–VII (wie Anm.26), 212f. 35 Peter A. Brunt, The Model City of Plato’s Laws, in: ders., Studies in Greek History and Thought. Oxford 1993, 245–281, hier: 253; Kai Trampedach, Platon, die Akademie und die zeitgenössische Politik. Stuttgart 1994, 231f. 36 Bordt, Platons Theologie (wie Anm.31), 185.

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onen, die sich in der Götterverehrung ja ebenfalls immer manifestieren, keinen Ausdruck finden können. 37 Man darf ferner fragen, ob „das ererbte Konglomerat“ (wie die griechische Religion von Eric Robertson Dodds treffend benannt wird) 38 selbst bei einer Neugründung einer rationalen Umgestaltung in dem von Platon avisierten Ausmaß zugänglich sein konnte und ob Platons Entwurf im Kontext der griechischen Poliswelt daher nicht notwendigerweise, trotz aller Zugeständnisse in Äußerlichkeiten, in eine Sackgasse führen musste. Die strafrechtliche Verfolgung der Heterodoxien, mit deren Erörterung das zehnte Buch endet, wird mit beispielhafter Strenge vollzogen. Delinquenten, bei denen keine Hoffnung auf Umkehr besteht, verfallen dem Tode, während die anderen in eine fünfjährige Beugehaft kommen und in einem σωφρονιστήριον, einer „Besinnungsanstalt“, Gelegenheit erhalten, zur Einsicht zurückzufinden (10, 908e–909a). Heutige Leser dürften bei solchen Überlegungen, die religiöse bzw. ideologische Abweichung zum kapitalen politischen Verbrechen erklären, unfreundliche Assoziationen an Ketzerprozesse, Inquisition und Umerziehungslager kaum zurückhalten können. Im Rausch der Folgerichtigkeit – einer Trübung der Geisteskräfte, die besonders Philosophen heimsucht – überschreitet Platon die Grenzen des Machbaren und des Wünschbaren. 39

V. Theokratie als Antwort auf den Bürgerkrieg Allerdings muss man seine Intentionen zur Kenntnis nehmen, und die lassen sich nur vor dem Hintergrund seiner eigenen Lebenserfahrung und der ausgeprägten Bürgerkriegsanfälligkeit griechischer Städte verstehen. 40 Platon wurde zwischen

37

Das gilt umso mehr, wenn man Sourvinou-Inwood, Further Aspects of Polis Religion (wie Anm.21),

264–267 u. 272 (Zitat 264) folgt: „In my view, the individual was without doubt the primary, the basic, cultic unit in polis religion – and not, for example, a small group such as the oikos.“ 38

Dodds, Die Griechen und das Irrationale (wie Anm.25), 107–122, bes. 117f.

39

Vgl. Panajotis Kondylis, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Der Philosoph und die Macht. Eine Anthologie.

Hamburg 1992, 9–36. 40

Der Bürgerkrieg als ubiquitäres Phänomen der griechischen Poliswelt des 5. und 4.Jahrhunderts wird

beschrieben und analysiert von Hans-Joachim Gehrke, Stasis. Untersuchungen zu den inneren Kriegen in den griechischen Staaten des 5. und 4.Jahrhunderts v.Chr. München 1985.

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428/27 und 425/24 in Athen geboren. 41 Vielleicht war er dabei, als die stolze athenische Flotte im Sommer 415 nach Sizilien auslief und im Piräus von fast der gesamten Bevölkerung Athens mit zwiespältigen Gefühlen – „unter Hoffen und zugleich unter Klagen“, wie Thukydides schreibt (6,30,2) – verabschiedet wurde. Als drei Jahre später, im Spätsommer 412, die Nachricht vom vollständigen Verlust der Flotte und der Vernichtung des Heeres auf Sizilien in Athen eintraf, dürfte Platon, inzwischen ein Jüngling, die Bestürzung und Erbitterung seiner Landsleute, von der Thukydides berichtet (8,1), geteilt haben. In der Folge erlebte Athen zehn turbulente Jahre, in denen die Stadt nicht nur den Krieg, sondern auch die innere Einheit verlor. Umsturz und Bürgerkrieg, Hinrichtungen und Enteignungen, das Zerbrechen der Kultgemeinschaft in seiner noch kurz zuvor so glanzvollen Heimatstadt erlebte Platon in einem Alter, in dem sich gemeinhin (oder zumindest in ambitionierten Kreisen, denen Platon qua Geburt angehörte) ein politisches Bewusstsein herausbildet. Ob die genannten Ereignisse eine traumatische Erfahrung für Platon darstellten, lässt sich mangels verlässlicher biographischer und autobiographischer Quellen nicht sagen 42; es ohne weiteres zu behaupten, hieße wohl, das Psychologisieren zu weit zu treiben. Dass es sich um eine prägende Erfahrung handelte, kann man aber annehmen, könnte man sogar dann annehmen, wenn vom Werk Platons nichts erhalten wäre. Glücklicherweise jedoch ist das Werk erhalten, und so können wir sehen, dass seine politische Philosophie tatsächlich um die Möglichkeiten der Überwindung des Bürgerkrieges kreist. 43 Das Problem hatte nach dem Ende des Peloponnesischen Krieges und der Wiederherstellung der Demokratie in Athen nicht an Dringlichkeit verloren, im Gegenteil: Gerade die Geschichte der ersten Hälfte des 4.Jahrhunderts verzeichnet eine Fülle von Bürgerkriegen und bürgerkriegsartigen Konflikten in Griechenland. Obwohl sich in Athen nach den Bürgerkriegen von 411/10 und 404/ 03 zu Platons Lebzeiten keine weiteren derartigen Vorfälle ereigneten, blieb auch dort die Lage prekär, denn die Furcht vor Verschwörungen und Umstürzen war weit

41 Debra Nails, The People of Plato. A Prosopography of Plato and Other Socratics. Indianapolis 2002, 243–247, zieht den traditionellen Ansatz 428/27 in Zweifel und plädiert für 424/23 als Geburtsjahr Platons. Auch wenn sie mich letztlich nicht überzeugt hat, macht ihre Diskussion die prekäre Quellenbasis jeglicher aufs Jahr bezogener Bestimmung deutlich. 42 Den 7. Brief möchte ich hier außer Acht lassen, zumal er nichts zu der Antwort auf die Frage beiträgt: vgl. Trampedach, Platon, die Akademie und die zeitgenössische Politik (wie Anm.35), 255–277. 43 Vgl. ebd.153f.

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verbreitet. 44 Platons politische Leitfrage lautet daher: Wie muss eine Verfassung beschaffen sein, die Bürgerkrieg in jedweder Form grundsätzlich ausschließt? Die Antwort, welche die „Nomoi“ auf diese Frage geben, greift auf Gott zurück. Theokratie ist die Lösung. Nicht zufällig lautet das erste Wort des Dialoges θεός und wird emphatisch zweimal wiederholt; ebenso bedeutsam ist die Rahmenhandlung, welche die Wanderung der drei Gesprächspartner am Tag der Sommersonnenwende von Knossos hinauf zur Zeus-Grotte am Ida-Berg beschreibt und damit zum Ausdruck bringt, „daß das Gespräch über die kretische Neugründung sein Ziel in der Begründung der Verfassung und der Gesetze durch einen göttlichen Ursprung selbst hat“. 45 Im vierten Buch lässt Platon die Gesprächspartner, den anonymen Athener, den Kreter Kleinias und den Lakedaimonier Megillos, zu der Erkenntnis gelangen, dass Städte, die von bestimmten Teilen ihrer selbst beherrscht und nach diesen benannt werden (wie Demokratie, Oligarchie, Monarchie), keine eigentlichen Verfassungen haben, sondern nur Fassaden, hinter denen die Stasis lauert. Wollte man eine gut eingerichtete Stadt nach der Macht der jeweils Herrschenden nennen, so müsste man sie dagegen „nach dem Namen des Gottes nennen, der in Wahrheit über die herrscht, welche im Besitz der Vernunft sind“ (4, 713a). Was damit gemeint ist, erklärt Platon mit Hilfe eines Mythos, den er im Zeitalter des Kronos ansiedelt. Weil Kronos wusste, dass die Menschen, auf sich gestellt, zu einem Leben ohne Übermut und Ungerechtigkeit nicht in der Lage waren, habe er aus Wohlwollen gegenüber dem menschlichen Geschlecht (φιλάνθρωπος ὤν) Dämonen als Könige und Herrscher über die Städte eingesetzt. Die Dämonen hätten den Menschen „Frieden und Ehrfurcht und Rechtlichkeit und eine reiche Fülle der Gerechtigkeit“ geschenkt und sie vor Zwietracht bewahrt und glücklich gemacht. „Und so sagt denn auch jetzt noch diese Sage, dass es für alle Städte, über die nicht ein Gott, sondern irgendein Sterblicher herrscht, kein Entrinnen aus den Übeln und Mühen gebe; vielmehr müssten wir, so meint sie, mit allen Mitteln das Leben, das unter Kronos bestanden haben soll, nachahmen und

44

Vgl. Joseph Roisman, The Rhetoric of Conspiracy in Ancient Athens. Berkeley 2006.

45

Bordt, Platons Theologie (wie Anm.31), 174f.; vgl. Trampedach, Platon, die Akademie und die zeitge-

nössische Politik (wie Anm.35), 224f.; Klaus Schöpsdau, Platon Nomoi (Gesetze) Buch I–III. Übersetzung und Kommentar. Göttingen 1994, 103: „Die lange Wanderung der drei Greise ist (…) zugleich ein Sinnbild für den ‚Gang‘ des Gesprächs hin zum göttlichen Ursprung der Gesetzgebung auf einer Bahn, auf der, wie Kleinias 968b 11 bemerkt, der Gott selbst führt.“

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müssten dem, was an Unsterblichkeit in uns ist, gehorchen und so im öffentlichen wie im persönlichen Bereich unsere Häuser und Städte verwalten, wobei wir der Verteilung der Vernunft (νοῦς) den Namen ‚Gesetz‘ geben“ (4, 713e).

So wie einst Kronos mit Hilfe von Dämonen das glückselige Leben der Menschen herbeiführte, so soll jetzt Gott mit Hilfe von Gesetzen, zumindest über die kretische Stadt, herrschen. Die Gesetze verdanken sich freilich nicht einer göttlichen Offenbarung, sondern gehen nur indirekt auf Gott zurück, insofern sie als Emanationen des göttlichen Nous im gesetzgebenden Menschen verstanden werden. Die Gottesherrschaft findet über die in den Gesetzgebern wirkende göttliche Vernunft in den Gesetzen Ausdruck. Es ergibt sich eine Reihe von der Theokratie über die Nookratie zur Nomokratie. 46 Regierungsämter werden in dieser Verfassung nicht nach Reichtum oder Stärke oder Macht oder Abstammung vergeben, sondern denjenigen übertragen, die den Gesetzen am willigsten gehorchen. „Diejenigen aber“, so führt Platons Gewährsmann aus, „die heutzutage ‚Herrscher‘ genannt werden, habe ich ‚Diener‘ der Gesetze genannt, nicht um neue Ausdrücke zu prägen, sondern weil ich glaube, dass hiervon mehr als von allem anderen die Erhaltung einer Stadt und ihr Gegenteil abhängt. Denn einer Stadt, in der das Gesetz den Regierenden unterworfen und machtlos ist, einer solchen sehe ich den Untergang bevorstehen; der Stadt aber, in der es Herr über die Regierenden ist und die Regierenden Sklaven des Gesetzes sind, der sehe ich Fortbestand und alle Güter zuteil werden, welche die Götter je Städten verliehen haben“ (5, 715b–d).

Freilich sind nicht erst die Regierenden Sklaven des Gesetzes, sondern, wie sich zeigt, auch schon die Gesetzgeber. In der kretischen Polis, so erklärt Platon nämlich kurz darauf in der Ansprache an die Siedler mit unverkennbarer Spitze gegen Protagoras, soll Gott das Maß aller Dinge sein, nicht irgendein Mensch (5, 716c). 47 Die Aussage hat sowohl eine individuelle als auch eine politische Dimension: Denn sie fordert einerseits den Einzelnen auf, dadurch glücklich zu werden, indem man Gott 46 Vgl. Bordt, Platons Theologie (wie Anm.31), 181: „Die Herrschaft Gottes ist die Herrschaft der Vernunft, und die Herrschaft der Vernunft ist die Herrschaft des Gesetzes, insofern das Gesetz selbst die Konkretisierung der Vernunft hinsichtlich der Struktur einer Polis ist.“ 47 Zur Auseinandersetzung mit Protagoras, die das Werk Platons von den Frühdialogen bis zu den „Nomoi“ durchzieht, vgl. Trampedach, Platon, die Akademie und die zeitgenössische Politik (wie Anm.35), 177– 188, 192f., 198f., 215–220, 226–229.

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folgt und ein der Vernunft gemäßes Leben führt. 48 Andererseits bedeutet der Deusmensura-Satz, dass Herrschaft und Ordnung der menschlichen Verfügbarkeit entzogen und im Absoluten verankert werden. Aus den Gesetzen von Magnesia soll eine göttliche Vernunft sprechen, die jeglichem menschlichen Ermessen vorausliegt, auch wenn sie sich im Detail – wie wir es bei der Kultorganisation gesehen haben – konventioneller Erscheinungsformen bedient. Die göttliche Vernunft regiert natürlich auch außerhalb der Polis. Die kosmische Ordnung wird von Platon, wie wir im zehnten Buch der „Nomoi“ erfahren, als eine rationale Ordnung verstanden, die von der Gottheit unter Zuhilfenahme der Vernunft geschaffen ist und aufrechterhalten wird (vgl. 10, 896d–899d). Diese rationale Ordnung soll in der Polis mittels der Gesetze gleichsam wiederholt werden, damit die Vernunft alle Bereiche der Realität durchdringen kann. 49 Zwar betrachtete Platon die traditionelle Götterverehrung als „Kitt der Polis“, aber er war eben auch der Meinung, dass dieser Kitt viel zu schwach war, um die destruktiven Energien, die immer wieder in Stasis mündeten, zu bändigen. Soweit gibt ihm die Geschichte recht: Religiöse Rücksichten scheinen Bürgerkriege im zeitgenössischen Griechenland nicht verhindert, nicht einmal abgemildert zu haben. Im Gegenteil wurden gerade Feste, bei denen sich die Bürger gut gelaunt und unbewaffnet, häufig außerhalb der Mauern, bewegten, von Bürgerkriegsparteien zum Staatsstreich benutzt, und oft wurden die Altäre der Götter mit dem Blut der Mitbürger besudelt. Der Vernichtungswille der Parteien ließ sich durch göttliche Gebote (wie das der Hikesie) oder religiöse Scheu nicht aufhalten; die ultima ratio der unterlegenen Seite, sich als Schutzflehende in die Heiligtümer zu flüchten, brachte meist keine Rettung. 50 Unter diesen Umständen reagieren Platons Überlegungen auf die normative Schwäche der griechischen Religion 51, indem er die soziale Funktion des Götterkul-

48

Vgl. Bordt, Platons Theologie (wie Anm.31), 183.

49

Schöpsdau, Platon Nomoi (Gesetze) Buch IV–VII (wie Anm.26), 187; vgl. Bordt, Platons Theologie (wie

Anm.31), 184: „Das Glück eines Menschen und die richtigen Gesetze einer Polis sind in einer den gesamten Kosmos umfassenden Ordnung der Vernunft begründet.“ 50

Vgl. Kai Trampedach, Hierosylia: Gewalt in Heiligtümern, in: Günter Fischer/Susanne Moraw (Hrsg.),

Die andere Seite der Klassik. Gewalt im 5. und 4.Jahrhundert v.Chr. Stuttgart 2005, 143–165, bes. 150–154. 51

Die normative Schwäche (und ästhetische Stärke) der griechischen Religion hat schon Jacob Burck-

hardt trefflich analysiert: Griechische Culturgeschichte. Bd. 2. (Jacob Burckhardt, Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 20.) München/Basel 2005, 21–203, bes. 38, 46, 48f., 124–133, 192–195.

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tes durch ethische und theologische Einschübe abzustützen und zu verstärken versucht. Die äußeren Formen des Kultes ändern sich kaum, wohl aber ihr geistiger Gehalt, der sich weit von der „kultischen Demokratie“ Athens entfernt. 52 Insofern hat Platon tatsächlich vom Feind gelernt, gleichzeitig aber die demokratische Ideologie „theokratisch“ ausgehebelt. Da Anthropokratien seiner Überzeugung nach notwendigerweise in den Bürgerkrieg führen, kann nur eine Ordnung, die im Absoluten verankert ist – eine Theokratie, ob in der Form einer Philosophenherrschaft oder einer Nomokratie –, Gerechtigkeit und inneren Frieden durchsetzen. Diese Verankerung im Absoluten muss, wie Platon insbesondere im zehnten Buch der „Nomoi“ ausführt, von allen Bürgern geglaubt werden; Abweichungen von der orthodoxen Theologie müssen bestraft werden. Die Frömmigkeit (εὐσέβεια) besteht in Platons kretischer Kolonie nicht mehr im formellen Erfüllen von Kultpraktiken, sondern ist eine moralische und intellektuelle Haltung. 53 Neben die kultische Reinheit tritt nunmehr die sittliche Reinheit als entscheidende Bedingung für die rechte Götterverehrung. 54 Mit solchen Annahmen hat Platon einen Weg beschritten, der nach ihm ebenfalls, zumindest phasenweise, in den drei großen monotheistischen Buchreligionen eingeschlagen wurde. Wie wir gesehen haben, hat Platon auch die düsteren Konsequenzen, die sich aus der Engführung von Orthodoxie und politischer Ordnung ergeben, bereits vorweggenommen.

Zum Ende möchte ich dreimal Dank abstatten: den Herausgebern für die Einladung zur Tagung nach Bielefeld; Peter Mauritsch (Graz) für die Einladung zu den 15. Grazer althistorischen Adventgesprächen „Kitt der Polis. Über den Zwang zum Miteinander“ (2015), bei denen ich eine erste Fassung dieses Aufsatzes vorgetragen habe; und meinem Schüler Rafal Matuszewski für wertvolle Hinweise.

52 Daher hat Brunt, The Model City (wie Anm.35), 252, Recht, wenn ihm das Urteil von Morrow, Plato’s Cretan City (wie Anm.24), 469, oberflächlich erscheint, „that the religion of Magnesia is the religion of his people, though elevated by philosophic interpretation“, denn diese philosophische Interpretation verändert das Interpretament im Kern. 53 Schöpsdau, Platon Nomoi (Gesetze) Buch VIII–XII (wie Anm.23), 372. 54 Schöpsdau, Platon Nomoi (Gesetze) Buch IV–VII (wie Anm.26), 213.

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(K)ein lupenreiner Demokrat? Überlegungen zur Erziehung des „guten Bürgers“ in Xenophons Kyrupädie von Sven Günther

I. Einleitung Zur Frage nach der politischen Einstellung Xenophons ist schon viel (zu viel) Tinte geflossen, als dass man dem anscheinend noch etwas Neues hinzufügen könnte. Die alte communis opinio, dass Xenophon aus seiner eigenen Erfahrung heraus ein Antidemokrat war und sich dies auch in seinen Werken spiegele, ist auch heute noch weit verbreitet, hat aber durch die Studien von Vivienne J. Gray Risse bekommen. 1 Sie fasst den xenophontischen Sokrates als deutlich in einem demokratischen Rahmen denkend, lehrend und agierend auf, womit das Bild vom antidemokratisch-aristokratischen Weltbild Xenophons ebenfalls fallen müsse. Auch Ron Kroeker hat sich – ausgehend von einer Differenzierung zwischen externer, die Demokratie zurückweisender Ablehnung und interner, die Prinzipien und Mechanismen der Demokratie grundsätzlich anerkennender Kritik – erstaunt darüber gezeigt, wie weit Xenophon in seinen Schriften (vor allem „Memorabilien“, „Hellenika“ und „Poroi“) von der demokratischen Ideologie geformte Diskurse aufnimmt, obschon dieser als Aristokrat ja gar keine Eigenmotivation dazu gehabt habe. 2 Und wenn Sarah Brown Ferrario jüngst schreibt, Xenophon sei „aristocratic in his background and often in his thinking, but he also sees elites as bearing significant social, political and econ-

1 Pointiert Vivienne J. Gray, Xenophon’s Socrates and Democracy, in: Polis 28, 2011, 1–32 (Original: Le Socrate de Xénophon et la Démocratie, in: Les Ètudes Philosophiques 69, 2004, 141–176), mit der weiteren Literatur. Zu den Forschungspositionen vgl. auch Andreas Mayr, Die Idealstaatsmodelle in Platons Nomoi und Xenophons Kyrupädie, Hieron, Die Verfassung der Spartaner und Die Verfassung der Athener, sowie die politischen Systeme Spartas und Athens im Vergleich. (Dissertationen der LMU, 9.) Münster 2016 (zugleich Diss. München 2015), online abrufbar: https://edoc.ub.uni-muenchen.de/19108/1/Mayr_Andreas.pdf (19.7.2017), 33–56, 58–60. 2 Vgl. Ron Kroeker, Xenophon as a Critic of the Athenian Democracy, in: History of Political Thought 30, 2009, 197–228.

https://doi.org/10.1515/9783110608380-009

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omic responsibilities as a result of their positions of privilege“ 3, wird man dies als neuen Konsens in der Frage der politischen Ausrichtung Xenophons durchaus akzeptieren können. Indes bleiben in allen drei oben genannten Ansichten Spannungen zurück, entweder zwischen Xenophon und seinem Werk (Kroeker) oder dem Autor und dem zeitgenössischen Kontext (Gray und Ferrario, wenn auch aus verschiedenen Perspektiven). Dass dies mit der Außenperspektive, der etischen Interpretation zu tun hat, die zumeist an Xenophons Werk angelegt wird, für eine korrekte Interpretation des Werkes im Verhältnis zu seiner Umwelt jedoch auch die emische (Innen-)Perspektive einzunehmen ist, hat der Verfasser in einem kleinen Beitrag zu Aeneas Tacticus zu erhärten versucht. 4 Basierend auf der Rahmenanalyse Erving Goffmans soll hier insbesondere die Frage beantwortet werden, inwieweit Xenophon seine eigene Erfahrungs- und Gedankenwelt, aber auch diejenige seiner potentiellen Leserschaft hinsichtlich politischer Institutionen und Ordnungen aufgreift, in sein Werk einbindet, und damit neue, innovative und zumindest diskursanregende Ordnungsrahmen schafft, welche traditionelle Zuordnungen und Dichotomien wie „demokratisch“ oder „aristokratisch“ respektive „Masse“ oder „Elite“ aufheben und in ein neues funktionierendes System überführen. 5

II. Das politisch-soziale System der „Kyrupädie“ Am besten lässt sich die xenophontische Konzeption im wohl schwierigsten, aber auch faszinierendsten Werk dieses Autors, der „Kyrupädie“ greifen, weswegen es auch den Ausgangs- und Hauptreferenzpunkt der hier vorliegenden kleinen Untersuchung bilden soll, zumal dieses Werk in den oben genannten Analysen eher am Rande behandelt worden ist.

3 Sarah Brown Ferrario, Xenophon and Greek Political Thought, in: Michael A. Flower (Ed.), The Cambridge Companion to Xenophon. Cambridge 2017, 57–83, hier: 71. 4 Vgl. Sven Günther, Framing the Financial Thoughts of Aeneas Tacticus. New Approaches of Theory to Economic Discourses in Antiquity, in: Journal of Ancient Civilizations 29, 2014, 77–86. 5 Zur Rahmenanalyse siehe Erwing Goffman, Frame Analysis. An Essay on the Organization of Experience. New York 1974; zur Anwendung der Methodik siehe nun Sven Günther, (K)einer neuen Theorie wert? Neues zur Antiken Wirtschaftsgeschichte anhand Dig. 50,11,2 (Callist. 3 cognit.), in: Gymnasium 124, 2017, 131–144.

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Bereits die Einleitung dieser genreübergreifenden Schrift, die zwischen Historiographie, Biographie, Enkomion, sokratischem Dialog, Erziehungsroman bzw. Fürstenspiegel wie fiktionaler Literatur changiert 6, macht deutlich, wie sehr das Leben des Älteren Kyros („des Großen“) in die Beobachtung des Autors von der Schwäche und Störanfälligkeit aktueller politischer Systeme eingepasst wird. Es heißt hier: „Schon manchmal haben wir darüber nachgedacht, wie viele Demokratien von Leuten zugrunde gerichtet wurden, die lieber in irgendeiner anderen Staatsform leben wollten als in einer Demokratie, wie viele Monarchien und Oligarchien schon von Anhängern der Demokratie beseitigt wurden und wie viele, die als Tyrannen zu herrschen versuchten, entweder ganz schnell wieder gestürzt oder aber auch als weise und glückliche Männer bewundert wurden, wenn sie sich nur eine Zeitlang an der Macht halten konnten. Wir glaubten aber auch festgestellt zu haben, daß viele Herren in ihren eigenen Häusern mit teils sehr vielen, teils aber auch ganz wenigen Dienern völlig unfähig waren, sogar diese wirklich kleine Schar so zu führen, daß sie ihnen gehorchte.“ 7

Die Instabilität von politischen Systemen, zuvorderst der Demokratie, sodann aber auch von Monarchien, Oligarchien und Tyranneis, wird hier von Xenophon, wie auch andernorts, mit der Leitungsschwäche in einem Haushalt (oikos) verglichen, woran sich Überlegungen zur Schwierigkeit von Menschenführung (Xen. Kyr. 1,1,2) anschließen, die das Hauptinstabilitätsmoment wie schon im ersten Abschnitt darstellt. In der Folge erscheint ihm dann Kyros die Regel zu durchbrechen, dass Herrschaft über Menschen dauerhaft nicht möglich sei (Xen. Kyr. 1,1,3), was er

6 Zur schwierigen Gattungsfrage vgl. etwa Christian Müller-Goldingen, Untersuchungen zu Xenophons Kyrupädie. (Beiträge zur Altertumskunde, 42.) Stuttgart/Leipzig 1995, XIV–XVI; Melina Tamiolaki, Xenophon’s Cyropaedia: Tentative Answers to an Enigma, in: Flower (Ed.), Cambridge Companion to Xenophon (wie Anm.3), 174–194. 7 Xen. Kyr. 1,1,1: Ἔννοιά ποθ’ ἡμῖν ἐγένετο ὅσαι δημοκρατíαι κατελύθησαν ὑπὸ τῶν ἄλλως πως βουλομένων πολιτεύεσθαι μᾶλλον ἢ ἐν δημοκρατíᾳ, ὅσαι τ’ αὖ μοναρχíαι, ὅσαι τε ὀλιγαρχíαι ἀνῄρηνται ἤδη ὑπὸ δήμων, καὶ ὅσοι τυραννεῖν ἐπιχειρήσαντες οἱ μὲν αὐτῶν καὶ ταχὺ πάμπαν κατελύθησαν, οἱ δὲ κἂν ὁποσονοῦν χρόνον ἄρχοντες διαγένωνται, θαυμάζονται ὡς σοφοí τε καὶ εὐτυχεῖς ἄνδρες γεγενημένοι. πολλοὺς δ’ ἐδοκοῦμεν καταμεμαθηκέναι καὶ ἐν ἰδíοις οἴκοις τοὺς μὲν ἔχοντας καὶ πλεíονας οἰκέτας, τοὺς δὲ καὶ πάνυ ὀλíγους, καὶ ὅμως οὐδὲ τοῖς ὀλíγοις τούτοις πάνυ τι δυναμένους χρῆσθαι πειθομένοις τοὺς δεσπότας. – Der griechische Text der „Kyrupädie“, wie auch der anderen Schriften Xenophons, folgt dem „Thesaurus Linguae Graecae“ (TLG), abrufbar unter: http://stephanus.tlg.uci.edu (10.7.2017); die Übersetzung ist diejenige von Rainer Nickel, Xenophon, Kyropädie / Die Erziehung des Kyros. Griechisch-deutsch. (Sammlung Tusculum.) München/Zürich 1992. Abweichungen werden entsprechend kenntlich gemacht.

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letztlich mit dessen angsteinflößender Autorität (phobos) einerseits und dem Erwecken des Wunsches (epithymia) der Untertanen, ihm zu gehorchen, andererseits begründet (Xen. Kyr. 1,1,5). 8 Dieses stabile und damit regierbare Gegenmodell entfaltet Xenophon in der Folge, von der Jugendzeit des Kyros (Buch 1) über die Kriegsphase (Bücher 2 bis 7) bis hin zur Einrichtung seiner eigentlich auf Dauer angelegten Herrschaft (Buch 8). Dabei sind die folgenden Prinzipien maßgeblich: 1. Kyros ist Ausgangspunkt wie Spitze des Systems, er hat nicht nur die oberste Befehls- und Kommandogewalt inne, sondern vereinigt in sich in perfektem Maße alle wesentlichen Fertigkeiten und Werte. 9 Ziel seiner Herrschaft ist allerdings nicht der eigene Nutzen, sondern der Nutzen für das Gesamtsystem. 10 2. Das Heer wie später auch der Staat bzw. das Reich werden in einer hierarchischen, persönlich auf Kyros ausgerichteten Kommandostruktur geführt. Dabei werden unterhalb der Spitze Funktionen geteilt, um einerseits Spezialisierung zu ermöglichen, andererseits gegenseitige Kontrolle auszuüben und damit übermäßigen Machtzuwachs zu verhindern. 11 3. Innerhalb des Heeres- wie auch Staats- bzw. Reichssystems sind Auf- oder Abstieg je nach Leistung und moralischer Qualität möglich; es gibt also Anreize, es stets besser, und zwar für das Gesamtsystem, zu machen. Auch hierbei hat natürlich Kyros als Bester die Haupt- und Letztverantwortung. 12 Innerhalb dieser grundsätzlichen Ordnungsrahmen haben nun auch Reflexionen zu typisch demokratischen Institutionen und Handlungsweisen ihren Platz. Gleich zu Beginn der „Kyrupädie“ etwa, als Kyros noch in Medien bei seinem Groß-

8 Zum Proömium vgl. Müller-Goldingen, Untersuchungen (wie Anm.6), 56–63. 9 Dazu insbesondere ebd.64–67 (zu Xen. Kyr. 1,2,1) mit den Parallelen zu anderen Führungspersönlichkeiten. 10

Vgl. unten S. 237. Zum Allgemeinwohlprinzip vgl. pointiert auch Mayr, Idealstaatsmodelle (wie Anm.

1), 144f. 11

So z.B. innerhalb der Satrapien, vgl. unten Anm.18; ebenso die gewollte Konkurrenz der aristoi unter-

einander, vgl. unten S. 235–237. Zur Arbeitsteilung und Spezialisierung vgl. speziell Xen. Kyr. 8,2,5–6 (Vergleich der Handwerksspezialisierung mit den verschiedenen Funktionen an der Tafel des Großkönigs); oft unbeachtet in diesem Zusammenhang ist die Kritik am zeitgenössischen persischen Heerwesen, für das keine gesondert geschulten Reiter, sondern auf derlei Hofdienste spezialisierte, nur für den jeweiligen Herrn arbeitende, nicht auf das Allgemeinwohl eingeschworene Personen in der Kavallerie eingesetzt werden (Xen. Kyr. 8,8.20–21). 12

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Vgl. dazu unten S. 239–241.

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vater Astyages weilt, zeigt er sich als Junge bereits erschrocken über die Ausgelassenheit und den Verlust von Selbstkontrolle beim Gastmahl. Er formuliert dazu im Dialog folgende Kritikpunkte: „Darauf fragte Astyages im Scherz: ‚Warum hast du denn von dem Wein nicht getrunken, Kyros, da du doch Sakas in allem anderen nachgeahmt hast?‘ – ‚Weil ich, beim Zeus, Angst hatte, daß im Krug Gift beigemischt war. Denn als du deinen Freunden an deinem Geburtstag ein Festmahl gabst, habe ich genau gesehen, daß er euch Gift beigemischt hat.‘ – ‚Und wie, mein Junge, hast du das festgestellt?‘ – ‚Weil ich, beim Zeus, sah, daß ihr nicht mehr vernünftig denken und euch nicht mehr richtig bewegen konntet. Zunächst habt ihr nämlich das getan, was ihr uns Kindern verbietet. Denn ihr habt alle durcheinander geschrien, ohne euch gegenseitig zu verstehen. Ihr habt auch ganz lächerlich gesungen, und obwohl ihr denjenigen, der sang, gar nicht verstehen konntet, habt ihr geschworen, daß er ausgezeichnet gesungen habe. Jeder von euch rühmte sich seiner Kraft; aber jedesmal wenn ihr dann aufstandet, um zu tanzen, wart ihr nicht mehr fähig, aufrecht zu stehen, geschweige denn im Takt zu tanzen. Du hattest völlig vergessen, daß du der König bist, und die anderen wußten nicht mehr, daß du ihr Herr bist. Da habe ich auch zum ersten Mal begriffen, daß es die sogenannte Redegleichheit war, die ihr damals genossen habt. Ihr wart nämlich kein einziges Mal still.‘ “ 13

Mit dem vermehrten Weingenuss geht also ein Verlust über Körper, Sprache und letztlich auch Hierarchie einher, was hier mit einem schlecht organisierten Tanz der Gruppe verglichen wird. 14 Es ist sodann insbesondere die für die Demokratie wich-

13 Xen. Kyr. 1,3,10: ἐκ τούτου δὴ ὁ Ἀστυάγης ἐπισκώπτων, Καὶ τí δή, ἔφη, ὦ Κῦρε, τἆλλα μιμούμενος τὸν Σάκαν οὐ κατερρόφησας τοῦ οἴνου; Ὅτι, ἔφη, νὴ Δíα ἐδεδοíκειν μὴ ἐν τῷ κρατῆρι φάρμακα μεμιγμένα εἴη. καὶ γὰρ ὅτε εἱστíασας σὺ τοὺς φíλους ἐν τοῖς γενεθλíοις, σαφῶς κατέμαθον φάρμακα ὑμῖν αὐτὸν ἐγχέαντα. Καὶ πῶς δὴ σὺ τοῦτο, ἔφη, ὦ παῖ, κατέγνως; Ὅτι νὴ Δí’ ὑμᾶς ἑώρων καὶ ταῖς γνώμαις καὶ τοῖς σώμασι σφαλλομένους. πρῶτον μὲν γὰρ ἃ οὐκ ἐᾶτε ἡμᾶς τοὺς παῖδας ποιεῖν, ταῦτα αὐτοὶ ἐποιεῖτε. πάντες μὲν γὰρ ἅμα ἐκεκράγειτε, ἐμανθάνετε δὲ οὐδὲν ἀλλήλων, ᾔδετε δὲ καὶ μάλα γελοíως, οὐκ ἀκροώμενοι δὲ τοῦ ᾄδοντος ὠμνύετε ἄριστα ᾄδειν· λέγων δὲ ἕκαστος ὑμῶν τὴν ἑαυτοῦ ῥώμην, ἔπειτ’ εἰ ἀνασταíητε ὀρχησόμενοι, μὴ ὅπως ὀρχεῖσθαι ἐν ῥυθμῷ, ἀλλ’ οὐδ’ ὀρθοῦσθαι ἐδύνασθε. ἐπελέλησθε δὲ παντάπασι σύ τε ὅτι βασιλεὺς ἦσθα, οἵ τε ἄλλοι ὅτι σὺ ἄρχων. τότε γὰρ δὴ ἔγωγε καὶ πρῶτον κατέμαθον ὅτι τοῦτ’ ἄρ’ ἦν ἡ ἰσηγορíα [von Nickel mit „Redefreiheit“ übersetzt] ὃ ὑμεῖς τότ’ ἐποιεῖτε· οὐδέποτε γοῦν ἐσιω πᾶτε. 14 Zum positiven Gegenstück, dem Heer als perfekt organisiertem Chor bzw. harmonischen Tänzern, vgl. Xen. Kyr. 1,6,18; 3,3,70. Zum dahinterstehenden Ordnungsprinzip vgl. Xen. oik. 8,3 (8,4–8 dann zum Vorteil der Ordnung im Heer); 8,20 (zur eukosmia des geordneten Chores).

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tige isêgoria, die Redegleichheit, welche von Kyros kritisiert wird, da durch andauerndes Durcheinanderreden die von ihm als natürlich empfundene Ordnung und Rangfolge unterlaufen werde. Hiergegen setzt er sodann die persische Sitte (Xen. Kyr. 1,3,11). 15 Auch an anderer Stelle wird die Rede, und zwar deren Inhaltsleere, kritisch diskutiert. So meint der Kyros-Vertraute Chrysantas vor der ersten großen Schlacht mit dem Assyrerkönig, Kyros solle mit einer Ermahnung den Kampfesmut steigern. Kyros bezweifelt hingegen, dass eine einzige Rede die Seelen der Zuhörer auf der Stelle mit Scham erfüllen oder am Schändlichen hindern und zu der Überzeugung veranlassen könne, dass es nötig sei, um äußerer Anerkennung willen jede Anstrengung und jede Gefahr auf sich zu nehmen. Sie könne auch nicht die Bereitschaft steigern, eher im Kampf zu sterben als durch Flucht sein Leben zu retten. Zunächst müssten entsprechende Gesetze (νόμοι) vorhanden sein, mit deren Hilfe den Tapferen ein ehrenvolles und würdiges Leben gewährleistet, den Feigen hingegen ein unbedeutendes, kummervolles und nicht lebenswertes Dasein auferlegt werde. Zudem müsse es dafür Lehrer und führende Persönlichkeiten (διδάσκαλοι καὶ ἄρχοντες) geben, die den Menschen das Richtige zeigten, sie lehrten und daran gewöhnten, in diesem Sinne zu handeln – bis es ihnen selbstverständlich sei, die Guten und Hochgeachteten für die wirklich glücklichsten Menschen zu halten, die Schlechten und Unbedeutenden aber als die unglücklichsten aller Menschen anzusehen. Falls aber jemand in der Lage wäre, vor einem Kampf, der doch viele Menschen sogar ihre vor langer Zeit erworbenen Kenntnisse vergessen lasse, die Männer durch einen einfachen Lehrvortrag auf Anhieb kampfbereit zu machen, dann wäre die höchste der menschlichen Tugenden, die Tapferkeit, am allerleichtesten zu lernen und zu lehren. 16 Hier scheint als Gegenstück zu einer beliebigen, auf einmaligen Motivierungseffekt abzielenden Mahnrede ein Kern des Ordnungsgedankens von Kyros zur Erreichung der eudaimonia auf. Es sind nomoi, hier vielleicht besser mit „Institutionen“ zu übersetzen, welche den Soldaten durch geeignete Lehrer Tapferkeit und Todesmut über einen langen Zeitraum einprägen und diese so zu entimoi und eleutherioi und in der Folge zu agathoi und eukleeis machen sollen. Diese moralische Erziehung gewichtet Kyros hier sogar stärker als das weitere erlernte Militärwissen, jedenfalls für die normalen Soldaten, die dieses (oder beides?) aus Angst im Kampf durchaus verges-

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15

Vgl. dazu auch Müller-Goldingen, Untersuchungen (wie Anm.6), 92 (mit weiterer Literatur).

16

Xen. Kyr. 3,3,51–55.

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sen könnten. Er sieht hier die Führungsspitze verantwortlich, die durch das für das Lehr- und Lernkonzept ganz wichtige Element des Beispiels (paradeigma) zur Imitation (mimêsis) anhalten könne, da sie selbst unerschütterlich und stabil sei. 17 Während in beiden Fällen das Negative der Redegleichheit bzw. inhaltsleeren Rede konstatiert wird, als dessen Gegenbild sich Kyros und sein System dann vorstellt, nutzt Kyros bestimmte Organisationsweisen einer (nicht nur demokratischen) polis, um seinen Staat im oben genannten Sinne zu organisieren, insbesondere im Bereich der gegenseitigen Kontrolle, etwa in den einzelnen Satrapien. 18 Allerdings hat dies auch eine Kehrseite: „Er dachte sich diese und viele andere derartige Möglichkeiten aus, um bei denen die erste Stelle einzunehmen, auf deren Zuneigung er Wert legte. Für die Wettkämpfe, die er einrichtete, und die Preise, die er aussetzte, um den Wetteifer für hervorragende Leistungen herauszufordern, erntete Kyros zwar Lob, weil er sich dafür einsetzte, daß die Tüchtigkeit geübt wurde. Doch riefen diese Wettkämpfe bei den Aristokraten Zank und Streit hervor. (27) Darüber hinaus traf Kyros eine Anordnung mit Gesetzeskraft, daß bei allem, was in einem Rechtsstreit und in einem Wettkampf der Entscheidung bedurfte, diejenigen, die die Entscheidung benötigten, sich über die Auswahl der Richter verständigen sollten. Selbstverständlich bemühten sich beide Parteien um die jeweils besten und die ihnen besonders gewogenen Richter. Die unterlegene Partei beneidete aber die Sieger um ihren Erfolg und haßte die Richter, die gegen sie entschieden. Die siegende Partei dagegen behauptete von sich, mit gutem Recht zu siegen, so daß sie glaubte, niemandem Dank zu schulden. (28) Auch die Menschen, die den Wunsch hatten, unter Kyros’ Freunden die erste Stelle einzunehmen – wie es auch sonst in den Staaten der Fall ist –, wurden eifersüchtig aufeinander, so daß die meisten eher den Wunsch hegten, sich gegenseitig aus dem Weg zu räumen, als daß sie im Blick auf ihr gemeinsames Wohl zusammenarbeiteten.“ 19

17 Zur Stelle vgl. Müller-Goldingen, Untersuchungen (wie Anm.6), 168–170. Dem paradeigma sowie der dadurch eröffneten Möglichkeit der Imitation liegt letztlich der Gedanke zugrunde, dass derlei Fähigkeiten nicht eine reine technê sind, sondern zur epistêmê zählen, also einer theoretisch wie praktisch zu durchdringenden wissenschaftlichen Beschäftigung, die zum Wissens- und Anwendungstransfer auffordert. Einschlägig hierzu ist z.B. Xen. oik. 1,10–13; Xen. Kyr. 1,6,5–6. Zur daraus gewonnenen Flexibilität im Kriegswesen, hier in Bezug auf taktische Varianten, vgl. Xen. Kyr. 1,6,38. 18 Vgl. dazu Xen. Kyr. 8,6,1–15; ebenso gespiegelt in Xen. oik. 4,5–11 (mit der Änderung, dass der Satrap beide Aufgaben, das Militärische und das Zivile, übernimmt). 19 Xen. Kyr. 8,2,26–28: Ταῦτα μὲν δὴ καὶ τοιαῦτα πολλὰ ἐμηχανᾶτο πρὸς τὸ πρωτεύειν παρ’ οἷς

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Hier verkehrt sich also Kyros’ Anreizsystem zur Bestenauslese ins Negative. Zunächst sind es die aristoi, die im agôn in Widerstreit verfallen; während Ersteres noch durch den guten Zweck, das Erreichen der kalokagathia, gedeckt wird, zerstört das Agonale die von Kyros zweitens festgelegte Rechtsordnung der gemeinsam von den Streitparteien auszuwählenden Richter, so dass letztlich ein zentraler Wert der xenophontischen Ordnung, die charis, missachtet wird. 20 Dies greift schließlich und drittens sogar auf die Freunde (philoi) über, die als zentral für das Organisationssystem des Kyros gelten, so zentral, dass er hierfür seine eigenen ungenutzten finanziellen Mittel jederzeit einsetzen würde, um ihre zweckgerichtete, auf Sicherheit und Anerkennung zielende Freundschaft zu erreichen. 21 Denn hier führt der Streit untereinander auch zur Aufgabe des Hauptzweckes des von Kyros etablierten Systems, der gemeinsamen Arbeit (sympraxis) am Allgemeinwohl ([koinon] agathon). Diese Stelle, die nicht nur im Hinblick auf das Auseinanderfallen des Perserreiches nach dem Tode des Kyros im letzten Kapitel des achten Buches interessant ist 22, argumentiert – erkennbar durch den auktorialen Einschub „wie auch sonst in den Staaten“ – ganz eindeutig mit dem als typisch griechisch empfundenen Agonalen, ἐβούλετο ἑαυτὸν φιλεῖσθαι. ὧν δὲ προηγόρευέ τε ἀγῶνας καὶ ἆθλα προυτíθει, φιλονικíας ἐμποιεῖν βουλόμενος περὶ τῶν καλῶν καὶ ἀγαθῶν ἔργων, ταῦτα τῷ μὲν Κύρῳ ἔπαινον παρεῖχεν ὅτι ἐπεμέλετο ὅπως ἀσκοῖτο ἡ ἀρετή· τοῖς μέντοι ἀρíστοις οἱ ἀγῶνες οὗτοι πρὸς ἀλλήλους καὶ ἔριδας καὶ φιλονικíας ἐνέβαλλον. (27) πρὸς δὲ τούτοις ὥσπερ νόμον κατεστήσατο ὁ Κῦρος, ὅσα διακρíσεως δέοιτο εἴτε δíκῃ εἴτε ἀγωνíσματι, τοὺς δεομένους διακρíσεως συντρέχειν τοῖς κριταῖς. δῆλον οὖν ὅτι ἐστοχάζοντο μὲν οἱ ἀνταγωνιζόμενοí τι ἀμφότεροι τῶν κρατíστων καὶ τῶν μάλιστα φíλων κριτῶν· ὁ δὲ μὴ νικῶν τοῖς μὲν νικῶσιν ἐφθόνει, τοὺς δὲ μὴ ἑαυτὸν κρíνοντας ἐμíσει· ὁ δ’ αὖ νικῶν τῷ δικαíῳ προσεποιεῖτο νικᾶν, ὥστε χάριν οὐδενὶ ἡγεῖτο ὀφεíλειν. (28) καὶ οἱ πρωτεύειν δὲ βουλόμενοι φιλíᾳ παρὰ Κύρῳ, ὥσπερ ἄλλοι ἐν πόλεσι, καὶ οὗτοι ἐπιφθόνως πρὸς ἀλλήλους εἶχον, ὥσθ’ οἱ πλεíονες ἐκποδὼν ἐβούλοντο ὁ ἕτερος τὸν ἕτερον γενέσθαι μᾶλλον ἢ συνέπραξαν ἄν τι ἀλλήλοις ἀγαθόν. 20

Zum zentralen Konzept von charis und den Verbindungen zum Weber’schen Konzept der charisma-

tischen Herrschaft vgl. Vincent Azoulay, Xénophon et les graces du pouvoir. De la charis au charisme. (Histoire ancienne et médiévale, 77.) Paris 2004. 21

Einschlägig ist hier Xen. Kyr. 8,2,22. Vgl. z.B. Xen. Ages. 1,17–19 zur konkreten Umsetzung durch den

Spartanerkönig Agesilaos II. Zum Freundschaftsbegriff vgl. grundlegend Vivienne J. Gray, Xenophon’s Mirror of Princes. Reading the Reflections. Oxford 2011, 291–329. 22

Xen. Kyr. 8,8. Zur Echtheit vgl. Müller-Goldingen, Untersuchungen (wie Anm.6), 262–271. Zur Deutung

als Scheitern des gesamten Idealstaats und der nur seine Freunde begünstigenden Person Kyros selbst vgl. Mayr, Idealstaatsmodelle (wie Anm.1), 129–133 (mit weiterer Literatur), sowie schon Christopher Nadon, From Republic to Empire. Political Revolution and the Common Good in Xenophon’s Education of Cyrus, in: The American Political Science Review 90, 1996, 361–374; beide schließen sich damit einer dark readingInterpretation in der Nachfolge von Leo Strauss an.

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das in einem strukturellen Spannungsverhältnis zur Gleichheit stand, und weist auf die entsprechende Sprengkraft für ein politisch-soziales System hin. Insofern bleibt die Spannung dieser Stelle bestehen und wird nicht, wie etwa im vorangehenden § 26, durch einen Vorteil für Kyros, konkret: durch Stärkung seiner Autorität und Monopolisierung der Netzwerke auf ihn hin, aufgefangen. 23 Fernab dieser Episode steht allerdings das Perserreich als positives Paradigma, und zwar sowohl dasjenige vor der Herrschaftsübernahme durch Kyros als auch das späterhin perfektionierte unter dessen Führung. Gerade in den Passagen der „Kyrupädie“, in denen die Verfassung – verstanden als ganzheitliche Organisation der Gesellschaft – sowie die Sozialstruktur reflektiert werden, kommt am besten das Modell zum Ausdruck, das Xenophon entwirft, indem er zentrale Ordnungsrahmen griechischer poleis, wohl vornehmlich der polis Athen, teils aufnimmt, sich teils aber auch von ihnen absetzt. 24 So heißt es gleich zu Beginn der „Kyrupädie“ über die Ausrichtung der Erziehung im Perserreich (Xen. Kyr. 1,2,2–3), Kyros sei nach den Gesetzen der Perser erzogen worden. Das Prinzip dieser Gesetze sei offensichtlich das Gemeinwohl, ein Prinzip also, auf das die Gesetze in den meisten Staaten gerade nicht abzielten. Denn die meisten anderen Staaten (αἱ πλεῖσται πόλεις) überließen es dem Einzelnen, seine Kinder nach eigenen Vorstellungen zu erziehen und gestatteten es sogar den Erwachsenen, ihr Leben nach eigenem Gutdünken zu führen (ὅπως ἐθέλουσι διάγειν). Darüber hinaus sähen deren Gesetze Strafen für alle möglichen Rechtsbrüche vor. Die persischen Gesetze hingegen sorgten im voraus dafür, dass es überhaupt keine Bürger gebe, die eine üble oder schändliche Tat begehen wollen (προλαβόντες ἐπιμέλονται ὅπως τὴν ἀρχὴν μὴ τοιοῦτοι ἔσονται οἱ πολῖται οἷοι πονηροῦ τινος ἢ αἰσχροῦ ἔργου ἐφíεσθαι). Um dieses Ziel zu erreichen, gebe es einen sogenannten freien Platz (ἐλευθέρα ἀγορὰ καλουμένη), wo der königliche Palast und die übrigen Regierungsgebäude stünden. Von diesem Platz würden Marktwaren und Händler mit ihrem Geschrei und ihren Derbheiten ferngehalten und an einen

23 Müller-Goldingen, Untersuchungen (wie Anm.6), 235f., sieht beide Maßnahmen als Stärkung von Kyros, da dessen Autorität durch sein Heraushalten aus Rechtsstreitigkeiten gestärkt werde. 24 Sparta stellt für Xenophon einen Sonderfall dar, da hier wesentliche Elemente seines Systems, wenigstens in der von ihm konstruierten Vergangenheit, verwirklicht gewesen sind. Vgl. dazu und zu Ähnlichkeiten mit der „Kyrupädie“ insbesondere Houliang Lu, Xenophon’s Theory of Moral Education. Newcastle upon Tyne 2015, 63–96.

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anderen Ort verwiesen, damit dieses Getümmel die gute Ordnung der Erzieher und Zöglinge und die Ausrichtung auf das Gemeinwohl nicht störe. Der Kontrast zwischen den Persern und den meisten anderen poleis (!) besteht hier vor allem darin, dass Erstere auf das Gemeinwohl (koinon agathon) ausgerichtet seien, während Letztere die Freiheit der Erziehung und des Handelns gewährleisteten und sodann durch Verbote regelten, was nicht dem „Staatsinteresse“ entspreche. 25 Die Optimierung dieses ohnehin schon guten Systems erfolgt sodann durch die Persönlichkeit von Kyros. Er als der perfekte Herrscher übernimmt dabei sogar die Rolle der ansonsten abstrakten Gesetze: „So also ging er mit denjenigen um, die nicht am Hof erschienen. Alle aber, die sich bei ihm zeigten, meinte er vor allem dadurch zu schönen und guten Taten anspornen zu können, daß er sich seinen Untergebenen als ein König darzustellen versuchte, der allen anderen ein strahlendes Vorbild an Tüchtigkeit bot. (22) Er glaubte nämlich zu erkennen, daß Menschen zwar auch schon durch die geschriebenen Gesetze besser werden; der gute Herrscher aber ist seiner Auffassung nach ein sehendes Gesetz für die Menschen, weil er in der Lage ist, Anordnungen zu treffen und zu sehen, ob jemand diese Anordnungen nicht befolgt, und ihn daraufhin zu bestrafen.“ 26

Die kalokagathia aller wird hier sowohl durch die zur Nachfolge auffordernde (eu)kosmia von Kyros selbst hinsichtlich der aretê erreicht als auch dadurch, dass er als der beste König flexibel durch von ihm gestaltete Gesetze auf Missstände reagieren kann. Hiermit wird natürlich ein an sich fixer Rahmen, derjenige der institutionalisierten Gesetzgebung, verlassen, was mit dem Allgemeinwohl und der alleinigen Ausrichtung des Königs darauf seine Begründung findet. Daraus ergibt sich die naheliegende Frage nach der Freiheit, die ja mit der, wenn auch diskretionären, um25

Vgl. dazu Müller-Goldingen, Untersuchungen (wie Anm.6), 68. Zur Entfernung schädlicher „Marktein-

flüsse“ zur Aufrechterhaltung der Moral, einem weit verbreiteten Diskursmotiv im 4.Jahrhundert, vgl. Sven Günther, Sonderwirtschaftszonen. Antike Konzeptionen und Konstruktionen am Beispiel des athenischen Piräus, in: Kerstin Droß-Krüpe/Sabine Föllinger/Kai Ruffing (Hrsg.), Antike Wirtschaft und ihre kulturelle Prägung – The Cultural Shaping of the Ancient Economy. (Philippika, 98.) Wiesbaden 2016, 113–130, hier: 118–122. 26

Xen. Kyr. 8,1,21–22: Τοῖς μὲν δὴ μὴ παροῦσιν οὕτω προσεφέρετο. τοὺς δὲ παρέχοντας ἑαυτοὺς

ἐνόμισε μάλιστ’ ἂν ἐπὶ τὰ καλὰ καὶ ἀγαθὰ ἐπαíρειν, ἐπεíπερ ἄρχων ἦν αὐτῶν, εἰ αὐτὸς ἑαυτὸν ἐπιδεικνύειν πειρῷτο τοῖς ἀρχομένοις πάντων μάλιστα κεκοσμημένον τῇ ἀρετῇ. (22) αἰσθάνεσθαι μὲν γὰρ ἐδόκει καὶ διὰ τοὺς γραφομένους νόμους βελτíους γιγνομένους ἀνθρώπους· τὸν δὲ ἀγα θὸν ἄρχοντα βλέποντα νόμον ἀνθρώποις ἐνόμισεν, ὅτι καὶ τάττειν ἱκανός ἐστι καὶ ὁρᾶν τὸν ἀτακτοῦντα καὶ κολάζειν.

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fassenden Gewalt des Königs kollidiert. Die Antwort in der „Kyrupädie“ ist ganz symptomatisch für das Aufgehen in einem „totalen“ System und wird wiederum von Chrysantas geliefert: „ ‚Wie ihr also den Anspruch erhebt, euren Untergebenen Befehle erteilen zu können, so wollen auch wir denen gehorchen, denen wir zu gehorchen verpflichtet sind. Wir müssen uns aber insofern von den Sklaven unterscheiden, als die Sklaven ihren Herren unfreiwillig dienen, während wir, wenn wir den Anspruch auf Freiheit erheben, freiwillig tun müssen, was am wichtigsten zu sein scheint. Ihr werdet aber auch bei einer Stadt, die nicht von einem König regiert wird, finden, daß diejenige, die ihren Beamten besonders bereitwillig gehorcht, sich am wenigsten dazu zwingen läßt, vor den Feinden zu kapitulieren.‘ “ 27

Auch der Gehorsam ist insofern ein „freier“ und unterscheidet sich so von der typischen Unfreiheit des Sklaven gegenüber seinem Herrn, als dass er wiederum auf das höhere Ganze ausgerichtet ist, wobei die Frage des Regierungssystems – ob Monarchie oder jede andere Form von archontes – nachrangig zu behandeln ist. 28 In diesem Kontext wird dann besonders die Verteidigungsfähigkeit einer Gemeinschaft betont, die sich durch derartigen Gehorsam mit Zielrichtung des Systemerhalts auszeichne. Dies ist ein Motiv, das sich ebenfalls beim zeitgenössischen Militärschriftsteller Aeneas Tacticus findet. 29 Dementsprechend sind auch der Staat und die Gesellschaft unter der Herrschaft von Kyros gegliedert. Es herrscht nicht das Gleichheits-, sondern das Leistungs- und Bestenprinzip, eine Meritokratie, was allerdings bei allen Beteiligten seine Anerkennung findet, da ein Auf- bzw. Abstieg jederzeit möglich ist. Dies kommt besonders

27 Xen. Kyr. 8,1,4: ὥσπερ τοíνυν αὐτοὶ ἀξιώσετε ἄρχειν τῶν ὑφ’ ὑμῖν, οὕτω καὶ αὐτοὶ πειθώμεθα οἷς ἂν ἡμᾶς καθήκῃ. τοσοῦτον δὲ διαφέρειν δεῖ τῶν δούλων ὅσον οἱ μὲν δοῦλοι ἄκοντες τοῖς δεσπόταις ὑπηρετοῦσιν, ἡμᾶς δ’, εἴπερ ἀξιοῦμεν ἐλεύθεροι εἶναι, ἑκόντας δεῖ ποιεῖν ὃ πλεíστου ἄξιον φαíνεται εἶναι. εὑρήσετε δ’, ἔφη [scil. ὁ Χρυσάντας], καὶ ἔνθα ἄνευ μοναρχíας πόλις οἰκεῖται, τὴν μάλιστα τοῖς ἄρχουσιν ἐθέλουσαν πεíθεσθαι ταύτην ἥκιστα τῶν πολεμíων ἀναγκαζομένην ὑπακούειν. 28 Vgl. bes. auch Xen. mem. 4,4,15. Dazu Gray, Xenophon’s Socrates and Democracy (wie Anm.1), 16. Vgl. zur Stelle auch Müller-Goldingen, Untersuchungen (wie Anm.6), 223f. (mit weiteren Verweisen). 29 Zum Beispiel Ain. Takt. 10,20, 14,1, 17,1; zum Verhältnis von homonoia-Forderung und beständigem Misstrauen bei Aeneas Tacticus vgl. Tong Wu, Public Festivals, Political Manipulations and Civil Strife. Aeneas Tacticus on Rituals and City Defenses, in: Marburger Beiträge zur antiken Handels-, Wirtschaftsund Sozialgeschichte 34, 2016, 41–51, vor allem in Bezug auf Umsturzversuche bei religiösen Festen.

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in der Beuteverteilungsdiskussion zu Beginn des zweiten Buches, die zentral für die Militär- wie die spätere Staatsorganisation ist, zum Ausdruck. 30 Die Bestenauslese ist dabei erstens wiederum an Kyros an der Spitze des Systems 30

Xen. Kyr. 2,2,20–26: „ ‚Meinst du denn wirklich‘, fragte Chrysantas, ‚die Masse des Heeres stimme da-

für, daß jeder einzelne nicht den gleichen Anteil erhalte, sondern die Besten höhere Belohnungen und mehr Geschenke bekommen?‘ – ‚Ja‘, antwortete Kyros, ‚das glaube ich. Denn einerseits sind wir uns alle darin einig, und andererseits wäre es eine Schande, der Forderung zu widersprechen, daß derjenige, der sich am meisten anstrengt und der Allgemeinheit am meisten nützt, auch den größten Lohn beanspruchen soll. Meines Erachtens wird es auch den Schlechtesten angemessen erscheinen, daß die Tüchtigen mehr bekommen.‘ (21) Kyros hatte den Wunsch, daß dieser Beschluß auch um der Homotimen willen zustande komme. Denn er meinte, sie setzten sich noch besser ein, wenn sie wüßten, daß auch sie selbst nach ihren Leistungen beurteilt und das bekommen würden, was sie wirklich verdienten. In dem Augenblick, wo auch die Homotimen die Gleichberechtigung der Masse befürchteten, schien es ihm angebracht zu sein, hierüber eine Abstimmung herbeizuführen. So waren sich alle in dem Zelt darin einig, diese Frage gemeinsam zu erörtern, und sie sagten, daß jeder, der ein Mann zu sein glaube, ihre Auffassung teilen müsse. (22) Da lachte einer der Taxiarchen und sagte: ‚Ich kenne aber einen Mann, und zwar einen einfachen Soldaten, der sicher damit einverstanden sein wird, daß nicht einfach allgemeine Gleichberechtigung herrscht.‘ Ein anderer fragte, wen er damit meine. Der Taxiarch gab zur Antwort: ‚Es ist, beim Zeus, einer meiner Zeltgenossen, der in jeder Hinsicht mehr haben will.‘ Jemand anders fragte ihn daraufhin: ‚Auch in Hinsicht auf Anstrengungen?‘ – ‚Um Gottes willen, das nicht. Jetzt habe ich mich aber dabei erwischen lassen, daß ich die Unwahrheit sagte. Denn ich sehe, daß der Mann bei Anstrengungen und bei anderen vergleichbaren Dingen stets großzügig jedermann nachgibt, der mehr haben will als er.‘ (23) ‚Ich bin der Ansicht‘, sagte Kyros, ‚daß solche Menschen, wie dieser sie jetzt beschreibt, aus dem Heer entfernt werden müssen, wenn wir eine tüchtige und gehorsame Streitmacht haben wollen. Denn der größte Teil der Soldaten scheint mir bereit zu sein, dorthin zu folgen, wohin man sie führt. Die tüchtigen Führer, glaube ich, haben es in der Hand, sie zu guten Leistungen, die schlechten zu schlechten Leistungen zu bringen. (24) Oft ziehen nun die Schlechten mehr Gleichgesinnte auf ihre Seite als die Tüchtigen. Denn die Schlechtigkeit, die schnelle Vergnügungen verschafft, verlockt viele mit eben diesen Vergnügungen, sich ihr auszuliefern. Die Tugend hingegen, die auf einem steilen Weg in die Höhe führt, ist auf den ersten Blick nicht in der Lage, jemanden ohne weiteres auf ihre Seite zu ziehen, besonders wenn es da noch Leute gibt, die dazu auffordern, lieber den sanftansteigenden und bequemen Weg zu gehen. (25) Die Menschen, die nur aus Trägheit und Faulheit schlecht sind, schaden meiner Meinung nach ihren Mitmenschen nur dadurch, daß sie wie die Drohnen Aufwand erfordern. Doch diejenigen, die sich bei Anstrengungen zwar als schlechte Kameraden erweisen, aber mit Rücksichtslosigkeit und Unverschämtheit auf ihren bloßen Vorteil bedacht sind, stiften auch andere zu Schandtaten an. Sie können ja oft auch beweisen, daß die Schlechtigkeit erfolgreich ist. Deshalb müssen wir solche Leute auf jeden Fall entfernen. (26) Versucht aber nicht, eure Einheiten nur mit euren Mitbürgern aufzufüllen, sondern wie ihr euch ja auch nur die besten und nicht immer nur inländische Pferde aussucht, so wählt euch aus allen Leuten die aus, von denen ihr meint, daß sie euch besonders gut unterstützen und ihr mit ihnen Ehre einlegen könnt. Daß dies ein guter Vorschlag ist, ergibt sich für mich auch aus folgender Beobachtung: Ein Wagen dürfte doch wohl weder schnell sein, wenn er von langsamen Pferden gezogen wird, noch richtig laufen, wenn das Gespann nicht richtig zusammenpaßt. Auch ein Haus könnte wohl kaum gut verwaltet werden, wenn dort nur unfähige Angestellte sind. Vielmehr wird einem Haus ohne Angestellte weniger Schaden zugefügt als dem Haus, das von untauglichen Angestellten in Un-

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gekoppelt. Er ist derjenige, der Qualitäten richtig zu beurteilen weiß und von dessen Entscheidungen Stimuli für weitere Leistungen ausgehen. 31 An der Spitze umgeben ihn dann Freunde, die in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis von ihm stehen, wobei er derjenige ist, der zunächst am meisten in diese investiert, um entsprechende wichtige Gegenleistungen zu erhalten. 32 Und auch für die nicht zur Leistung Be-

ordnung gebracht wird.‘ “ Zur Interpretation der Stelle im Einzelnen vgl. Müller-Goldingen, Untersuchungen (wie Anm.6), 136–141. 31 Vgl. nur die Belohnung der Taxis und des Taxiarchen in Xen. Kyr. 2,3,21: „Einmal sah Kyros einen anderen Taxiarchen, der seine Taxis einen Mann hinter dem anderen vom Fluß her zum Essen führte und, als es ihm günstig erschien, den zweiten, dann den dritten und den vierten neben den ersten vorrücken und eine Linie bilden ließ. Als aber die Lochagen in Linie standen, ließ er jeden Lochos eine Zweierreihe bilden. Dadurch kamen die Dekadarchen in die Linie. Als es ihm wiederum angebracht erschien, ließ er jeden Lochos eine Viererreihe bilden. So traten dann die Pempadarchen zu je vier Mann in die Linie. Als sie aber am Eingang des Zeltes angelangt waren, ließ er sie wieder zu einem hintereinander marschieren und den ersten Lochos in das Zelt gehen. Den zweiten ließ er dann folgen und dem dritten und vierten gab er denselben Befehl. So führte er seine Leute in das Zelt. Nachdem er sie auf diese Weise hineingeführt hatte, ließ er sie so zum Essen Platz nehmen, wie sie hereingekommen waren. Kyros bewunderte diesen Taxiarchen wegen seiner Geduld und Sorgfalt bei der Ausbildung seiner Leute und lud die Taxis mit ihrem Taxiarchen zum Essen ein.“ (Ἄλλον δέ ποτε ἰδὼν ταξíαρχον ἄγοντα τὴν τάξιν ἀπὸ τοῦ ποταμοῦ ἐπὶ τὸ ἄρι στον ἐφ’ ἑνός, καὶ ὁπότε δοκοíη αὐτῷ καιρὸς εἶναι, παραγγέλλοντα τὸν ὕστερον λόχον παρaγειν, καὶ τὸν τρíτον καὶ τὸν τέταρτον, εἰς μέτωπον, ἐπεὶ δ’ ἐν μετώπῳ οἱ λοχαγοὶ ἐγένοντο, παρηγγύησεν εἰς δύο ἄγειν τὸν λόχον· ἐκ τούτου δὴ παρῆγον οἱ δεκάδαρχοι εἰς μέτωπον· ὁπότε δ’ αὖ ἐδόκει αὐτῷ καιρὸς εἶναι, παρήγγειλεν εἰς τέτταρας τὸν λόχον· οὕτω δὴ οἱ πεμπάδαρχοι αὖ παρῆγον εἰς τέτταρας· ἐπεὶ δ’ ἐπὶ θύραις τῆς σκηνῆς ἐγένοντο, παραγγεíλας αὖ εἰς ἕνα [ἰόντων] εἰσῆγε τὸν πρῶτον λόχον, καὶ τὸν δεύτερον τούτου κατ’ οὐρὰν ἐκέλευσεν ἕπεσθαι, καὶ τὸν τρíτον καὶ τὸν τέταρτον ὡσαύτως παραγγεíλας ἡγεῖτο ἔσω· οὕτω δ’ εἰσαγαγὼν κατέ κλινεν ἐπὶ τὸ δεῖπνον ὥσπερ εἰσεπορεύοντο· τοῦτον οὖν ὁ Κῦρος ἀγασθεὶς τῆς τε πρᾳότητος τῆς διδασκαλíας καὶ τῆς ἐπιμελεíας ἐκάλεσε ταύτην τὴν τάξιν ἐπὶ τὸ δεῖπνον σὺν τῷ ταξιάρχῳ.) Dies führt sodann zum erfolgreichen Wettbewerb unter anderen Taxiarchen, vgl. Xen. Kyr. 2,3,22–24. 32 Vgl. insbesondere Xen. Kyr. 8,2,22: „Ich [scil. Kyros] beuge mich zwar der Macht der Götter und strebe ständig nach mehr Besitz; aber wenn ich meinen Besitz erwerbe und sehe, daß ich mehr habe, als ich brauche, dann beseitige ich damit den Mangel bei meinen Freunden – indem ich Menschen reich mache und ihnen Gutes tue, erwerbe ich ihr Wohlwollen und ihre Freundschaft – und gewinne dadurch Sicherheit und Ruhm. Dieser Besitz wird weder vermodern noch lästig sein, wenn er im Überfluß vorhanden ist, sondern je mehr er sich ausbreitet, desto größer, schöner und erträglicher wird der Ruhm, und oft läßt er sogar diejenigen ‚leichter‘ (d.h. lebensfroher) werden, die ihn besitzen.“ (ἐγὼ δ’ ὑπηρετῶ μὲν τοῖς θεοῖς καὶ ὀρέγομαι ἀεὶ πλειόνων· ἐπειδὰν δὲ κτήσωμαι, ἃ ἂν ἴδω περιττὰ ὄντα τῶν ἐμοὶ ἀρκούντων, τούτοις τάς τ’ ἐνδεíας τῶν φíλων ἐξακοῦμαι καὶ πλουτíζων καὶ εὐεργετῶν ἀνθρώπους εὔνοιαν ἐξ αὐτῶν κτῶμαι καὶ φιλíαν, καὶ ἐκ τούτων καρποῦμαι ἀσφάλειαν καὶ εὔκλειαν· ἃ οὔτε κατασήπεται οὔτε ὑπερληροῦντα λυμαíνεται, ἀλλὰ ἡ εὔκλεια ὅσῳ ἂν πλεíων ᾖ, τοσούτῳ καὶ μεíζων καὶ καλλíων καὶ κουφοτέρα φέρειν γíγνεται, πολλάκις δὲ καὶ τοὺς φέροντας αὐτὴν

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fähigten, die dann zu Recht Sklaventätigkeiten verrichten, trägt Kyros, wie ein Vater, Sorge. 33 Zweitens ist das System durch das Leistungsprinzip ein bemerkenswert offenes, denn jeder, nicht nur die Homotimen und auch nicht nur die politai, ist potentiell geeignet und befähigt, in diesem System „seine“ Rolle zu spielen. Dieser Gedanke ist auch in anderen Werken Xenophons omnipräsent. 34 Zusammenfassend lässt sich hinsichtlich der „Kyrupädie“ konstatieren, dass Xenophon an einigen Stellen direkt oder indirekt auf Gegebenheiten der griechischen (demokratischen) poleis rekurriert und die Institutionen, Verfahren und Strukturen sowohl sprachlich wie auch inhaltlich in seine didaktisierende Darstellung aufnimmt und in sein System überführt: Sofern die reflektierten Einrichtungen positiv im Sinne der Ausrichtung auf das Allgemeinwohl – verstanden als stabile, sich positiv entwickelnde Ordnung – wirken, werden diese von Kyros eingeschärft respektive übernommen (vor allem Gehorsam); wenn diese jedoch nicht zweckmäßig erscheinen, wird an deren Stelle ein Gegenmodell platziert, dessen Erfolg sodann gleich sichtbar gemacht wird (z.B. theoretisches und praktisches Wissen als Handκουφοτέρους παρέχεται.) Zum Freundschaftsbegriff vgl. oben Anm.21. Zur Deutung dieser Stelle als Kapitalsortenwechsel im Sinne Pierre Bourdieus vgl. Sven Günther, Wiederverwendung – ein ökonomisches Konzept bei Xenophon?, in: Patrick Reinard/Christoph Schäfer (Hrsg.), Gebrauchtwaren und Second Hand-Markt in der Antike. Beiträge einer wirtschaftsgeschichtlichen Tagung an der Universität Trier. (Beiheft Scripta Mercaturae, NF., 1.) Gutenberg 2018 (im Druck). 33

Vgl. Xen. Kyr. 8,1,44: „Denn wenn sie den Reitern die Tiere über das Gelände trieben, gestattete er

ihnen, Proviant auf die Jagd mitzunehmen, während er es einem freien Mann nicht erlaubte. Wenn man unterwegs war, führte er sie wie die Zugtiere an die Wasserstellen. Wenn es Zeit war, das Frühstück einzunehmen, wartete er, bis sie alles aufgegessen hatten, damit sie nicht unter Hunger zu leiden hatten. Daher nannten ihn auch die Sklaven ebenso wie die Edlen einen Vater, weil er sich so um sie kümmerte, daß sie ihr Sklavenlos ohne Widerspruch als unveränderlich hinnahmen.“ (καὶ γὰρ ὁπότε ἐλαύνοιεν τὰ θηρíα τοῖς ἱππεῦσιν εἰς τὰ πεδíα, φέρεσθαι σῖτον εἰς θήραν τούτοις ἐπέτρεπε, τῶν δὲ ἐλευθέρων οὐδενí· καὶ ὁπότε πορεíα εἴη, ἦγεν αὐτοὺς πρὸς τὰ ὕδατα ὥσπερ τὰ ὑποζύγια. καὶ ὁπότε δὲ ὥρα εἴη ἀρíστου, ἀνέμενεν αὐτοὺς ἔστ’ ἐμφάγοιέν τι, ὡς μὴ βουλιμιῷεν· ὥστε καὶ οὗτοι αὐτὸν ὥσπερ οἱ ἄριστοι πατέρα ἐκάλουν, ὅτι ἐπεμέλετο αὐτῶν ὅπως ἀναμφιλόγως ἀεὶ ἀνδράποδα διατελοῖεν.) 34

Vgl. etwa die Integration von Metöken zur Förderung des Wohlstandes der polis Athen in den „Poroi“:

Xen. vect. 2,1–7; Xen. hipp. 9,6. Zur Integration von Sklaven, Metöken und Fremden in den „Poroi“ vgl. Joseph Jansen, Strangers Incorporated. Outsiders in Xenophon’s Poroi, in: Fiona Hobden/Christopher Tuplin (Eds.), Xenophon: Ethical Principles and Historical Enquiries. (Mnemosyne Supplements, 348.) Leiden/ Boston 2012, 725–760. Zur Verwaltungsrolle, die geeignete Sklaven übernehmen können, vgl. Xen. oik. 9,11–13 (Hausverwalterin); 12,2–14,10 (Gutsverwalter). Zur Rolle der Frau(en) vgl. auch unten S. 247 mit Anm.47.

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lungsbasis; idealer Anführer als bester, da vorausschauender Gesetzgeber; Hierarchie nach Leistungsprinzip; Imitation der moralisch agierenden Führungsspitze als Gewähr für das Besserwerden des Gesamtsystems). Dieses Leistungs- und Wertesystem ist sicherlich aristokratischen Ursprungs, wird aber insofern „demokratisiert“, als dass es Richt- und Leitschnur für alle in der Gesellschaft, für Bürger wie Nichtbürger werden soll, wobei jeder sich nach seinen Möglichkeiten und Fähigkeiten einzubringen vermag. Es ist ebenfalls ein „totales“ System, da es zur vollständigen Identifizierung mit dem Gemeinnutzen und der unbedingten Nachfolge und Nachahmung der Besten an der Spitze aufruft, individuelle Eigeninteressen dabei stets hintangestellt werden müssen bzw. nicht toleriert werden (und durch Überwachung auch sanktioniert werden).

III. Die xenophontische Staatskonzeption als Gegenmodell zu demokratischen Strukturen des 4.Jahrhunderts? Dieser ganz eigene Systementwurf Xenophons in der „Kyrupädie“ kann nun als Interpretationsbasis für die anderen Schriften unseres Autors dienen, und tatsächlich wird man jeweils mehr oder weniger davon in dem einen oder anderen Werk aufscheinen sehen, z.B. hinsichtlich des idealen Anführers 35, der moralischen Handlungsmaßstäbe 36, der strikten, aber prinzipiell zum Aufstieg berechtigenden Hierarchie 37 usw. Diese Parallelen und Nuancen können hier nicht umfassend ausgeleuchtet werden. Drei Stellen sollen jedoch abschließend kurz in den Blick genommen werden, da sie meines Erachtens konkret aufzeigen, wie sehr Xenophon es mit seiner Konzeption vermochte, die wahrgenommenen Realitäten des 4.Jahrhunderts aufzunehmen und mit seinem Systemmodell zu kontrastieren. Die erste Stelle stammt aus den „Memorabilien“ und ist von den eingangs genannten Autoren Kroeker und Gray bezüglich der darin enthaltenen Demokratie-

35 Vgl. dazu die bezüglich der Erreichbarkeit eines derartigen Ideals kritischen Ausführungen von Tamiolaki, Virtue and Leadership in Xenophon (wie Anm.6). 36 Zum Wertesystem vgl. umfassend Lu, Xenophon’s Theory of Moral Education (wie Anm.24). 37 Zum Beispiel im „Hipparchikos“, vgl. dazu Oliver Stoll, Zum Ruhme Athens: Wissen zum Wohl der Polis. Xenophons Ideal einer Führungspersönlichkeit und Athens Reiterei im Hipparchikos. (Altertumswissenschaften/Archäologie, 3.) Berlin 2010.

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kritik ausführlich behandelt worden. 38 Es wird hier ein Anklagevorwurf gegen Sokrates wie folgt wiedergegeben: „Doch beim Zeus, so sagte der Ankläger, er veranlaßte seine Freunde, die bestehenden Gesetze zu verachten, wenn er sagte, es sei doch töricht, die Leiter des Staates auf Grund einer Abstimmung durch Bohnen zu bestellen; niemand dagegen wolle auf Grund einer Wahl durch Bohnen jemanden als Steuermann verwenden, als Zimmermann, als Flötenspieler oder für etwas anderes derart, obschon durch einen Mißgriff darin viel weniger Schaden entstehen könne als bei Fehlern in den Staatsgeschäften. Solche Reden, so meinte er (der Ankläger), veranlaßten die jungen Menschen dazu, die bestehende Staatsverfassung zu mißachten, und machten sie geneigt zur Gewalttat.“ 39

Dass die Sokrates vorgeworfene Kritik am für die athenische Demokratie wichtigen Losverfahren anschließend bezüglich der Gewaltbereitmachung der Jugend verteidigt wird (Xen. mem. 1,2,10), ist dabei ebenso betont worden (Kroeker) wie der Vergleich mit der Bestellung von Nicht-Experten für Berufe, in denen eigentlich Fachwissen vonnöten ist, wobei das später von Sokrates gelobte Dokimasie-Verfahren einen Gegenpol bildet (Gray; vgl. Xen. mem. 3,5,20). Der Kern der Stelle scheint mir jedoch vor allem der Aspekt der Erziehung der Bürger zur phronêsis zu sein, da der Bildungs- und Nachahmungsaspekt als Schlüssel gegen Gewalt eingebracht wird: „Ich jedoch glaube, daß diejenigen, welche ihren Verstand bilden und daraufhin fähig zu werden glauben, ihre Mitbürger über das Nützliche zu belehren, am wenigsten zur Gewalttat neigen, da sie wissen, daß der Gewalt sich Feindschaft und Gefahren gesellen, daß dagegen auf dem Wege der Überzeugung dasselbe gefahrlos und in aller Freundschaft erreicht wird. Denn wer mit Gewalt gezwungen wird, der hat Haß im Herzen wie ein Beraubter, wer dagegen überzeugt worden ist, der ist freundschaftlich gesinnt wie ein Beschenkter. So ist denn Gewaltanwendung nicht Sache jener, die ihren Verstand bilden, son-

38

Kroeker, Xenophon as a Critic of the Athenian Democracy (wie Anm.2), 212; Gray, Xenophon’s Socra-

tes and Democracy (wie Anm.1), 14–16. 39

Xen. mem. 1,2,9: Ἀλλὰ νὴ Δíα, ὁ κατήγορος ἔφη, ὑπερορᾶν ἐποíει τῶν καθεστώτων νόμων

τοὺς συνόντας, λέγων ὡς μῶρον εἴη τοὺς μὲν τῆς πόλεως ἄρχοντας ἀπὸ κυάμου καθιστάναι, κυβερνήτῃ δὲ μηδένα θέλειν χρῆσθαι κυαμευτῷ μηδὲ τέκτονι μηδ’ αὐλητῇ μηδ’ ἐπ’ ἄλλα τοιαῦτα, ἃ πολλῷ ἐλάττονας βλάβας ἁμαρτανόμενα ποιεῖ τῶν περὶ τὴν πόλιν ἁμαρτανομένων· τοὺς δὲ τοιούτους λόγους ἐπαíρειν ἔφη τοὺς νέους καταφρονεῖν τῆς καθεστώσης πολιτεíας καὶ ποιεῖν βιαíους. Übersetzung nach Xenophon, Erinnerungen an Sokrates. Griechisch-deutsch. Hrsg. v. Peter Jaerisch. (Sammlung Tusculum.) 4.Aufl. München/Zürich 1987.

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dern diese Handlungsweise ist vielmehr für die bezeichnend, die Kraft ohne Einsicht haben.“ 40

Es ist insbesondere die Ausrichtung auf das höherrangige Nützliche (sympheronta), das hier den Nutzen der Wissensbelehrung bildet, die – wie in der „Kyrupädie“ – in freundschaftlicher Weise durch die bereits Wissenden stattfindet, wobei die Weitergabe durch Überzeugung geschieht. Hingegen wird den Unwissenden im weiteren Verlauf der Entgegnung Gewaltbereitschaft zugeordnet, womit nicht nur das Anklägerkonzept von der Aufwiegelung der Jugend durch Sokrates in Ablehnung zentraler Elemente der Staatsverfassung völlig gesprengt wird, sondern implizit den Unterstützern eines derart nicht wissensbasierten Verfahrens die Gewaltanwendung und damit Verletzung des Allgemeinwohls unterstellt wird. So wie in den „Memorabilien“ Xenophon „seinen“ Sokrates die Unverantwortlichkeit der (demokratischen) Führung kritisieren lässt, deren Streben nicht auf Allgemeinwohl und Allgemeinnutzen ausgerichtet ist 41, so sehr greift er dies zu Beginn der „Poroi“, geschrieben nach dem für Athen verheerenden Bundesgenossenkrieg (357–355), wieder auf: „Ich glaube von jeher: wie die Führer sind, so werden auch die Staaten. Da aber einige der Führer in Athen sagten, sie wüßten genausogut wie andere Menschen, was recht ist, sich aber durch die Armut der Volksmenge gezwungen erklärten, gegen die Staaten eher ungerecht zu sein, deshalb habe ich herauszufinden versucht, ob sich die Bürger etwas aus eigenen Quellen erhalten könnten, woher es auch am gerechtesten wäre. Dabei bin ich überzeugt: wenn dies geschieht, dann würde zugleich ihrer Armut abgeholfen und dem Mißtrauen der Griechen gegen sie.“ 42

40 Xen. mem. 1,2,10: Ἐγὼ δ᾽ οἶμαι τοὺς φρόνησιν ἀσκοῦντας καὶ νομíζοντας ἱκανοὺς ἔσεσθαι τὰ συμφέροντα διδάσκειν τοὺς πολíτας ἥκιστα γíγνεσθαι βιαíους, εἰδότας ὅτι τῇ μὲν βíᾳ πρό σεισιν ἔχθραι καὶ κíνδυνοι, διὰ δὲ τοῦ πεíθειν ἀκινδύνως τε καὶ μετὰ φιλíας ταὐτὰ γíγνεται. οἱ μὲν γὰρ βιασθέντες ὡς ἀφαιρεθέντες μισοῦσιν, οἱ δὲ πεισθέντες ὡς κεχαρισμένοι φιλοῦσιν. οὔκουν τῶν φρόνησιν ἀσκούντων τὸ βιάζεσθαι, ἀλλὰ τῶν ἰσχὺν ἄνευ γνώμης ἐχόντων τὰ τοιαῦτα πράττειν ἐστíν. 41 Auch weitere Passagen können unter diesem Gesichtspunkt erklärt werden, so zum Beispiel die Widerlegung der Kritik des Anklägers an der Ausbildung von Kritias und Alkibiades durch Sokrates (Xen. mem. 1,2,12–16) oder das Streitgespräch zwischen Alkibiades und Perikles um Gesetzesherrschaft bzw. -zwang (Xen. mem. 1,2,41–46), aber auch der Vorwurf an Sokrates, seine Weisheit sei nichts wert (Xen. mem. 1,6,11–12 in Verbindung mit 1,2,60). In allen Fällen wird das Gegenmodell, ein auf das Allgemein- bzw. Volkswohl ausgerichtetes, nicht selbstsüchtiges Verhalten des weisen und gelehrten Anführers, evoziert. 42 Xen. vect. 1,1: Ἐγὼ μὲν τοῦτο ἀεí ποτε νομíζω, ὁποῖοí τινες ἂν οἱ προστάται ὦσι, τοιαύτας

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Hier bildet sich der Gegensatz zwischen dem angeblichen Wissen um das Gerechte (dikaion) seitens der Anführer und dem aus Xenophons Sicht unverantwortlichen, da Vertrauen zerstörenden Kriegführen, also Gewalt gegenüber anderen, deutlich ab. Dem doppelten Ziel – innerhalb der polis die Armut zu bekämpfen sowie bei den anderen Griechen das Vertrauen (wieder)zugewinnen – versucht er sodann durch Infrastruktur- und Anreizmaßnahmen näherzukommen. 43 Dabei stehen jedoch der Allgemeinnutzen sowie die moralische Besserung der gesamten Bürgerschaft, wie in den anderen Schriften Xenophons auch, stets im Vordergrund. 44 Noch stärker erscheint der Kontrast sodann in einem weiteren kleinen Werk Xenophons, dem „Kynêgetikos“. In den letzten beiden Kapiteln setzt Xenophon seine eigentlich auf Jagdpraxis und -organisation ausgerichtete Schrift in den moralischen wie politischen Bezugsrahmen (Xen. kyn. 12,10–17, 13,15–18): Wer die Jagd kritisiere, weil sie dazu verleite, die häuslichen Angelegenheiten zu vernachlässigen, wisse nicht, dass Männer, die dem Staate und den Freunden Gutes tun, allemal für ihre häuslichen Angelegenheiten besser sorgten. Wenn also die Jagdliebhaber sich vorbereiteten, dem Vaterlande für die wichtigsten Fälle nützlich zu sein, so würden sie umgekehrt auch nicht ihre eigenen Angelegenheiten versäumen; denn mit dem Staate stehe und falle das Hauswesen eines jeden Bürgers, so dass solche Männer neben dem ihrigen auch das Eigentum ihrer Mitbürger bewahrten. Viele der erwähnten Kritiker aber wollten blind vor Neid lieber durch ihre Schlechtigkeit zu καὶ τὰς πολιτεíας γíγνεσθαι. ἐπεὶ δὲ τῶν Ἀθήνησι προεστηκότων ἔλεγόν τινες ὡς γιγνώσκουσι μὲν τὸ δíκαιον οὐδενὸς ἧττον τῶν ἄλλων ἀνθρώπων, διὰ δὲ τὴν τοῦ πλήθους πενíαν ἀναγκάζεσθαι ἔφασαν ἀδικώτεροι εἶναι περὶ τὰς πόλεις, ἐκ τούτου ἐπεχεíρησα σκοπεῖν εἴ πῃ δύναιντ’ ἂν οἱ πολῖται διατρέφεσθαι ἐκ τῆς ἑαυτῶν, ὅθενπερ καὶ δικαιότατον, νομíζων, εἰ τοῦτο γένοιτο, ἅμα τῇ τε πενíᾳ αὐτῶν ἐπικεκουρῆσθαι ἂν καὶ τῷ ὑπόπτους τοῖς Ἕλλησιν εἶναι. Übersetzung nach Xenophon, Ökonomische Schriften. Griechisch und deutsch von Gert Audring. (Schriften und Quellen der Alten Welt, 38.) Berlin 1992. Vgl. Xen. Kyr. 8,8,5. 43 Vgl. dazu neben den Anmerkungen von Audring, Xenophon (wie Anm.42), auch den Kommentar von Philippe Gauthier, Un commentaire historique des Poroi de Xénophon. (Centre de Recherches d’Histoire et de Philologie de la IVe Section de l’École pratique des Hautes Études III, Hautes Études du Monde Gréco-Romain, 8.) Genf/Paris 1976; weitere Forschungsliteratur in Stefan Schorn, Xenophons Poroi als philosophische Schrift, in: Historia 60, 2011, 65–93; ders., The Philosophical Background of Xenophon’s Poroi, in: Hobden/Tuplin (Eds.), Xenophon: Ethical Principles (wie Anm.34), 689–723. Zu den Maßnahmen im Piräus und der Verbindung zur tatsächlichen Ausgestaltung unter Eubulos vgl. Günther, Sonderwirtschaftszonen (wie Anm.25), mit weiterer Literatur. 44

Zum philosophischen Anspruch der Schrift sowie den Verbindungen zu den anderen Werken Xeno-

phons vgl. die konzise Analyse von Schorn, Xenophons Poroi als philosophische Schrift (wie Anm.43); ders., The Philosophical Background of Xenophon’s Poroi (wie Anm.43).

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Grunde gehen als durch die Tugend anderer gerettet zu werden. Wer jedoch den Ratschlägen des Autors folge, werde von Übeln frei sein; denn eine gute Erziehung lehre, sich an die Gesetze zu halten und über das, was recht sei, gute Gespräche zu führen. Die also, welche sich anstrengten und sich belehren ließen, würden durch Kenntnisse und Routinen belohnt; ihrem Staat aber gereichten sie zur Rettung. Diejenigen Menschen aber, die wegen der damit verbundenen Mühen sich nicht belehren ließen, sondern in unziemlichen Vergnügungen hinleben wollten, folgten weder Gesetzen noch guten Gründen und tadelten überdies die Gebildeten. Die Wendung zur Jagd gelingt dem Autor ebenfalls: Wer sich am Gemeinwesen bereichern wolle, beschäftige sich damit, Freunde zu besiegen, die Jäger aber damit, gemeinschaftliche Feinde zu überwinden. Die Jagd sei auch deswegen eine gute Vorbereitung für den Kampf, da nur kluge Besonnenheit erfolgreich zur Beute führe. Und schließlich trage das Jagen auch zur Gottesfurcht bei, gebe es doch alte Sagen, dass auch Götter mit Freuden diese Beschäftigung teils selbst trieben, teils ihr zusahen, so dass „junge Leute, die tun, wozu ich ermahne, die Götter lieben und fürchten werden, wenn sie glauben, dass es von einem der Götter gesehen werde, und diese werden gegen den ganzen Staat, gegen Eltern und gegen jeden Einzelnen von den Bürgern und Freunden sich gut betragen“ (Xen. kyn. 13,17). Aber nicht bloß die jagdliebenden Männer würden besser werden, sondern auch die Frauen, welchen die Göttin Artemis sowie Atalante und Prokris diese Tätigkeit verliehen hätten. Die Passage, von der Kap. 13 zumeist als reine Sophistenkritik gedeutet wurde 45, zeigt in ihrer Gesamtheit deutlich auf, dass die moralisch guten und auf den Allgemeinnutzen orientierten Jäger jeglichen eigensüchtigen politischen Führern überlegen sind. Komplementär dazu kontrastiert Xenophon sich selbst mit den ebenfalls eigensüchtigen Sophisten (Xen. kyn. 13,1–9). 46 Erstaunlich ist, dass Xenophon am Ende auch die Frauen zur Jagd befähigt sieht; dies zeigt – wie etwa auch Passagen im „Oikonomikos“ 47 –, wie total und damit innovativ das System Xenophons in seiner Zeit gewesen ist und wie sehr es sich damit von der athenischen Demokratie, aber

45 So umfassend jetzt Louis L’Allier, Why Did Xenophon Write the Last Chapter of the Cynegeticus?, in: Hobden/Tuplin (Eds.), Xenophon: Ethical Principles (wie Anm.34), 477–497. 46 Der Übergang zurück zum eigentlichen Thema aus Kapitel 12 ist sodann in Xen. kyn. 13,10–14 zu sehen, wo die privat wie öffentlich guten Jäger mit beiden Gruppen (Sophisten wie Politikern), die sich privat wie öffentlich bereichern und nicht für das Allgemeinwohl einsetzen, verglichen werden. 47 Bes. Xen. oik. 7,4–10,13. Dazu etwa Lu, Xenophon’s Theory of Moral Education (wie Anm.24), 203–220 (mit der weiteren Literatur). Zu ausländischen Frauen, etwa Pantheia in der „Kyrupädie“, vgl. Emily Barag-

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auch anderen Staatsformen in den griechischen Poleis entfernen konnte: Zwar übernahm er die – aus seiner Sicht wenig zahlreichen – guten Prinzipien (Ordnung/Gesetze; Gehorsam), warf aber die schlechten (Verletzung des Allgemeinwohls; Verkennung des Leistungsgedankens) über Bord. 48 Insofern darf man schon davon sprechen, dass Xenophon zwar grundlegende Begriffe und Rahmenbedingungen der demokratischen und Polis-Ideologie, aber auch zeitgenössischer philosophischer Diskurse aufnahm, diese in seinem Werk jedoch in ein neues Ordnungsmodell überführte. Was sich im Ganzen utopisch liest, fand im Laufe des 4.Jahrhunderts in der Geschichte Athens (vgl. unter anderem die Maßnahmen in den „Poroi“) 49 respektive den griechischen Poleis insgesamt (Ansätze der Meritokratie, unter anderem durch den Euergetismus) bzw. der Struktur hellenistischer Monarchien eine ganz eigene Form der Rezeption und Umsetzung.

wanath, Xenophon’s Foreign Wives, in: Vivienne J. Gray (Ed.), Xenophon. Oxford Readings in Classical Studies. Oxford 2010, 41–71. 48 Vgl. dazu auch Mayr, Idealstaatsmodelle (wie Anm.1), 150–153, der den Idealstaat Xenophons als Nomokratie mit ethisch-moralischen Grundprinzipien charakterisiert. 49

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Siehe dazu Günther, Sonderwirtschaftszonen (wie Anm.25), mit weiterer Literatur.

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Demokratische Implikationen in der „Politik“ des Aristoteles von Karen Piepenbrink

I. Einleitung Die Demokratiekritik des Aristoteles ist seitens der althistorischen wie der politologischen Forschung vielfach beleuchtet worden – das gilt gleichermaßen für seine Kritik an der demokratischen Ordnung im Allgemeinen wie jene an der zeitgenössischen attischen Demokratie im Speziellen. 1 Demgegenüber wurde bislang kaum dezidiert betrachtet, in welchem Grade demokratische Implikationen in seine politischen Reflexionen eingeflossen sind und inwieweit er in seinem politischen Denken von der Auseinandersetzung mit der Demokratie profitiert hat. Hier haben wir es zweifellos mit einem Desiderat zu tun – und das nicht allein aus altertumswissenschaftlicher Perspektive 2, sondern nicht zuletzt auch in Anbetracht der sogenannten ‚Aristoteles-Renaissance‘ nach 1945, die – neben demokratieskeptischen Richtungen – im Bereich der Praktischen Philosophie wie der Politikwissenschaft bedeutende Strömungen hervorgebracht hat, die demokratienahe Lesarten der aristotelischen „Politik“ praktizieren. 3 Allerdings ist jene Frage nach den demokratischen Implikationen nicht ganz leicht zu operationalisieren: Dass wir dabei vom antiken Verständnis auszugehen haben, versteht sich von selbst; andernfalls liefen wir Gefahr, in Anachronismen zu

1 Siehe etwa Christoph Eucken, Der aristotelische Demokratiebegriff und sein historisches Umfeld, in: Günther Patzig (Hrsg.), Aristoteles’ „Politik“. Göttingen 1990, 277–291; Barry S. Strauss, On Aristotle’s Critique of Athenian Democracy, in: Carnes Lord/David K. O’Connor (Eds.), Essays on the Foundations of Aristotelian Political Science. Berkeley/Los Angeles/London 1991, 212–233; Andrew Lintott, Aristotle and Democracy, in: CQ 42, 1992, 114–128; Pierre Aubenque, Aristote et la démocratie, in: ders./A. Tordesillas (Eds.), Aristote, politique. Etudes sur la ‚Politique‘ d’Aristote. Paris 1993, 255–264. 2 Zur Relevanz der Fragestellung speziell aus althistorischer Sicht Josiah Ober, Political Dissent in Democratic Athens. Intellectual Critics of Popular Rule, Princeton, NJ 1998, 28–33. 3 Einen kompakten Überblick über die betreffenden Ansätze und ihre Vertreterinnen bzw. Vertreter bietet Thomas Gutschker, Aristoteles im 20.Jahrhundert, in: Barbara Zehnpfennig (Hrsg.), Die „Politik“ des Aristoteles. 2.Aufl. Baden-Baden 2014, 263–277 (zuerst 2012).

https://doi.org/10.1515/9783110608380-010

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verfallen. Schwierigkeiten ergeben sich aber bereits bei der Definition demokratischer Elemente und damit der Bestimmung dessen, was überhaupt Gegenstand der Suche sein soll. Nicht sämtliche Merkmale, die für eine demokratisch verfasste Polis konstitutiv sind, sind zugleich auch genuin demokratisch oder gar exklusiv demokratisch. Als einschlägiges Beispiel sei das Postulat der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz angeführt, welches zwar ein zentrales Element demokratischen Selbstverständnisses darstellt, das jedoch schon vor der Herausbildung der Demokratie belegt ist und sich zuweilen auch in oligarchisch organisierten Poleis findet. 4 Eine weitere Problematik betrifft die Quellen unseres Philosophen: Selbst wenn diverse markante Kongruenzen zwischen seinen politischen Reflexionen und demokratischem Gedankengut auszumachen sind, folgt daraus nicht zwangsläufig, dass er sich an den betreffenden Stellen durch reale Demokratien oder politisches Denken demokratischer Provenienz hat inspirieren lassen. Inwieweit dies der Fall ist, gilt es eigens zu erforschen. Auch das aber gestaltet sich nicht einfach: Zum einen haben wir nur wenige konkrete Hinweise auf seine Informationsquellen, zum anderen sind unsere Kenntnisse über demokratieaffines politisches Denken im klassischen Griechenland beschränkt, insbesondere über dessen Genese im 5.Jahrhundert. 5 Zu Letzterem ließe sich freilich einwenden, dass wir es bei unserem Autor bekanntermaßen mit einer Persönlichkeit des 4.Jahrhunderts zu tun haben, die Überlieferung demokratischen politischen Denkens – zumindest mit Blick auf Athen – für das 4.Jahrhundert aber dank der tradierten öffentlichen Reden signifikant besser ist als für das vorangegangene. Wir wissen jedoch, dass Aristoteles’ Perzeption der vermeintlich zeitgenössischen Demokratie stark durch die Verhältnisse des 5.Jahrhunderts bzw. deren Deutung durch demokratiekritische Autoren geprägt ist. In Hinsicht auf seine Auseinandersetzung mit Athen hat das etwa zur Folge, dass er die institutionellen Reformen, die dort im Anschluss an den Peloponnesischen Krieg bzw. im Verlauf des 4. Jahrhunderts implementiert wurden 6, kaum rezipiert und in seine Betrachtungen

4 Zur Existenz markanter Parallelen besonders in der institutionellen Ausgestaltung von Demokratien und Oligarchien Hartmut Leppin, Unlike(ly) Twins? Democracy and Oligarchy in Context, in: Hans Beck (Ed.), A Companion to Ancient Greek Government. Chichester 2013, 146–158, hier: 147. 5 Zu dem Komplex Arnold Hugh Martin Jones, The Athenian Democracy and Its Critics, in: The Cambridge Historical Journal 11, 1953, 1–26, bes. 1f.; Kurt A. Raaflaub, Contemporary Perceptions of Democracy in Fifth-Century Athens, in: CM 40, 1989, 33–70, bes. 34f.; Roger Brock, The Emergence of Democratic Ideology, in: Historia 40, 1991, 160–169, bes. 160–162. 6 Eine knappe Übersicht zu jenen Maßnahmen und deren Konsequenzen für die demokratische Ord-

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einbezogen hat. 7 Gleiches gilt für die bemerkenswerte Stabilität der Demokratie der Athener in jener Zeit und deren spezifische Ursachen. 8 Bekannt ist auch, dass unser Philosoph die attische Rhetorik seiner Zeit nur sehr eingeschränkt studiert hat – sein Interesse gilt diesbezüglich hauptsächlich den Schriften des Isokrates, kaum hingegen den Demegorien oder dikanischen Reden aus der politischen und jurisdiktionellen Praxis. 9 Bevor wir zur Sache selbst schreiten können, bleibt noch zu klären, welche aristotelischen Werke sinnvollerweise als Textgrundlage zu verwenden sind. Mir scheint eine Beschränkung auf die „Politik“ ratsam und damit ein Ausschluss der „Athenaion Politeia“, da wir zu Letzterer – von der Verfasserfrage einmal ganz abgesehen – quellenbedingt einen Befund zu erwarten haben, der mit dem zur „Politik“, trotz mannigfacher Parallelen 10, nicht ohne Weiteres kompatibel ist. 11 Zudem gilt es zu fragen, welche Abschnitte der Schrift zu sichten sind. Demokratische Implikationen müssen nicht auf Passagen konzentriert sein, in denen Aristoteles über die Demokratie handelt. Gerade in solchen Kontexten dominieren im Gegenteil nicht selten demokratieskeptische Aussagen. Insofern wäre es nicht hinreichend, allein die einschlägigen Textabschnitte zur Demokratie ins Visier zu nehmen. Überdies

nung gibt jetzt mit zahlreichen Literaturhinweisen Claudia Tiersch, Die Athenische Demokratie im 4.Jh. v. Chr. Zwischen Modernisierung und Tradition, in: dies. (Hrsg.), Die Athenische Demokratie im 4.Jahrhundert. Zwischen Modernisierung und Tradition. Stuttgart 2016, 7–32, hier: 19–21. 7 Vgl. Eucken, Der aristotelische Demokratiebegriff (wie Anm.1), 286–289. 8 Letztere unterscheiden sich von den Gründen, die Aristoteles bezüglich der Stabilität demokratischer Ordnungen anführt; zur Situation in Athen Peter J. Rhodes, Stability in the Athenian Democracy after 403 B. C., in: Bernhard Linke/Mischa Meier/Meret Strothmann (Hrsg.), Zwischen Monarchie und Republik. Gesellschaftliche Stabilisierungsleistungen und politische Transformationspotentiale in den antiken Stadtstaaten. Stuttgart 2010, 67–75, hier: 75. 9 Dazu Jeremy C. Trevett, Aristotle’s Knowledge of Athenian Oratory, in: CQ 46, 1996, 371–379, hier: 376. 10 Parallelen sind etwa in der Hochschätzung der solonischen Ordnung auszumachen, der in beiden Texten demokratische Elemente attestiert werden, die aber zugleich als dezidiert weniger demokratisch eingeschätzt wird als die athenische Verfassung der klassischen Zeit; hierzu mit Belegen Georges Burdeau, La constitution d’Athènes et la conception aristotélicienne de la démocratie, in: Mohammed A. Sinaceur (Ed.), Aristote aujourd’hui. Toulouse 1988, 344–355. 11 Die Reflexionen in der „Politik“ zeichnen sich durch einen deutlich höheren Grad an Komplexität und Differenzierung aus als jene in der „Athenaion Politeia“, die vor allem in ihrem ersten Teil sehr viel offener oligarchieaffin ist. Dies korreliert mit der Quellenwahl des Autors, namentlich seiner Verwendung entsprechend ausgerichteter Atthidographen wie Androtion; dazu Mortimer Chambers, Einleitung, in: ders., Aristoteles, Staat der Athener. Übers.u. erl. Berlin 1990, 75–103, hier: 87f.; Philipp Harding, Androtion and the ‚Atthis‘. The Fragments. Transl. with Introduction and Commentary. Oxford 1994, bes. 51f.

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wollen wir uns nicht auf die Frage beschränken, inwieweit die aristotelischen Reflexionen zur Demokratie durch dezidiert demokratische Überlegungen geprägt sind. 12 Wir möchten darüber hinaus eruieren, inwieweit dies zugleich für seine Auseinandersetzung mit seinen Kernanliegen gilt, speziell die Frage nach der unter den gegebenen Umständen bestmöglichen Polisordnung. Entsprechend empfiehlt es sich, die ersten sechs Bücher der „Politik“ in ihrer Gesamtheit auszuwerten. Die Bücher sieben und acht, die dem Idealstaat gewidmet sind, sind demgegenüber wenig ergiebig. Auch diese zeugen zwar partiell von einer Beschäftigung mit der politischen Empirie, weisen aber insgesamt eine deutlich stärkere Distanz zur Demokratie auf als die übrigen Bücher. 13 Zur Vervollständigung des Bildes scheint es mir sinnvoll, nicht nur auf bewusste Referenzen auf die Demokratie zu achten, sondern auch auf Parallelen, die unser Autor nicht intendiert hat und die ihm selbst möglicherweise gar nicht bewusstgeworden sind. Insgesamt ist einzukalkulieren, dass wir es – bedingt durch die Entstehungsgeschichte des Textes – nicht mit einer systematischen und kohärenten Abhandlung zu tun haben, sondern mit einer Schrift, welche durch eine Vielzahl von Fragestellungen gekennzeichnet ist, die zu vielschichtigen, durchaus auch divergierenden Resultaten führen.

II. Demokratische Implikationen in der „Politik“ 1. Die Stabilität der Demokratie Beginnen wir mit solchen Abschnitten, in denen Aristoteles sich explizit zum Sujet der Demokratie äußert. Ungeachtet aller Kritik macht er an der demokratischen Ordnung einige Aspekte aus, die er goutiert und die er produktiv zu verarbeiten vermag, nicht zuletzt weil er sie unter seine Fragestellungen subsumieren kann. Allem voran ist hier seine Überzeugung anzuführen, dass Demokratien tendenziell stabi-

12

Diese Fragestellung verfolgt beispielsweise Joseph Paul Dolezal, Aristoteles und die Demokratie. Eine

Untersuchung des aristotelischen Demokratiebegriffes unter besonderer Berücksichtigung der geistesgeschichtlichen und historischen Grundlagen. Frankfurt am Main 1974, der demokratische wie nichtdemokratische Einflüsse zu bestimmen sucht. 13

Vgl. Eckart Schütrumpf, Die Analyse der Polis durch Aristoteles. Amsterdam 1980, 41–43; Ada Neschke-

Hentschke, Die uneingeschränkt beste Polisordnung (VII–VIII), in: Otfried Höffe (Hrsg.), Aristoteles, Politik. Berlin 2011, 147–162, hier: 156.

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ler seien als Oligarchien. 14 Dies ist für ihn – angesichts seines zentralen Interesses an stabilen politischen Ordnungen – von hoher Relevanz. Zwar geht er bei beiden Verfassungen von einer Radikalisierungsneigung aus, die ihm unter Stabilitätsgesichtspunkten ungünstig scheint, jedoch hält er diese im Falle der Oligarchie für weitaus riskanter, da sie sich hier in einer fortschreitenden Restriktion der politischen Partizipationsrechte äußert, die geeignet ist, massiven Widerstand seitens der eigenen Bürger zu provozieren. 15 Diese Überlegungen stützen sich auf seine typologischen Betrachtungen zu den beiden Herrschaftsformen und weisen zudem teleologische Elemente auf, die für das Denken des Aristoteles auch über die politische Philosophie hinaus kennzeichnend sind. 16 Eine explizite Rezeption demokratischen Gedankengutes ist an der Stelle dagegen unwahrscheinlich: In demokratischen Reflexionen prädominieren bei der antagonistischen Betrachtung von Demokratie und Oligarchie andere Aspekte: Dort geht es – mit Blick auf die Demokratie – weniger um die innere Stabilität als vielmehr um das Moment der Egalität sowie jenes der Freiheit im Bereich der internen wie externen Politik. 17 Auch der bei unserem Philosophen prominente Gedanke, dass Demokratien weniger leicht durch innere Konflikte zu erschüttern seien als Oligarchien, da es ihnen besser gelinge, die auf Ausgleich wirkenden Mittelschichten einzubeziehen 18, ist zweifelsohne nicht demokratisch inspiriert. Die Vorstel14 Siehe etwa Aristot. pol. 1296a13–14. 15 Hierzu Aristot. pol. 1302a8–13, 1305a37–1306b21. 16 Zur Typologie speziell der Demokratie bei Aristoteles Charalambos I. Papageorgiou, Four or Five Types of Democracy in Aristotle?, in: History of Political Thought 11, 1990, 1–8; John Creed, Aristotle and Democracy, in: Andres Loizou/Harry Lesser (Eds.), Polis and Politics. Essays in Greek Moral and Political Philosophy. Aldershot u.a. 1990, 23–34, bes. 25–27; zu den Typen von Demokratie und Oligarchie Richard Mulgan, Aristote’s Analysis of Oligarchy and Democracy, in: David Keyt/Fred D. Miller (Eds.), A Companion to Aristotle’s ‚Politics‘. Oxford/Cambridge, MA 1991, 307–322, hier: 312–315; Christian Schwaabe, Demokratie und Oligarchie, in: Zehnpfennig (Hrsg.), Die „Politik“ des Aristoteles (wie Anm.3), 158–176, hier: 165–167; zur Bedeutung teleologischen Denkens speziell in der „Politik“ Arbogast Schmitt, Teleologie und Geschichte bei Aristoteles oder Wie kommen nach Aristoteles Anfang, Mitte und Ende in die Geschichte?, in: Karlheinz Stierle/Rainer Warning (Hrsg.), Das Ende. Figuren einer Denkform. München 1996, 528–563, bes. 558. 17 Dazu bes. Kurt A. Raaflaub, Die Entdeckung der Freiheit. Zur historischen Semantik und Gesellschaftsgeschichte eines politischen Grundbegriffes der Griechen. München 1985, 283–312. 18 Aristot. pol. 1296a13–14; zu seiner Konzeption der mesoi und ihrer politischen Rolle auch Aristot. pol. 1265b26–29, 1273b35–1274a2, 1288a12–15; zu jenen Überlegungen des Aristoteles grundsätzlich Josiah Ober, Aristotle’s Political Sociology. Class, Status, and Order in the ‚Politics‘, in: Lord/O’Connor (Eds.), Essays (wie Anm.1), 112–135, hier: 119f.

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lung, dass die mesoi einen systemstabilisierenden Faktor darstellen, begegnet zwar auch in demokratieaffinen Argumentationen, etwa der des Theseus in den „Hiketiden“ des Euripides 19, ist aber insgesamt nicht zu den dezidiert demokratischen Ideologemen zu rechnen. 20 Aristoteles selbst assoziiert sie mit älteren Formen der Demokratie, wobei ihm bewusst ist, dass diese zu seiner Zeit von den Verfechtern demokratischer Ordnungen nicht mehr als Demokratien klassifiziert werden. 21 Auf den ersten Blick paradox mutet das Phänomen an, dass der Verfasser der „Politik“ bei der Beschäftigung mit Instrumenten und Maßnahmen, welche die Stabilität von Demokratien zu verbessern vermögen, kaum auf demokratisches Gedankengut zurückgreift, insbesondere nicht mit positiver Intention. Dies erklärt sich aus seiner Überzeugung, dass Demokratien, die bestrebt sind, ihre Qualitäten zu optimieren, tendenziell das Gegenteil von dem praktizieren, was ihnen zuträglich sei 22: Seines Erachtens verabsolutieren bzw. fehlinterpretieren sie den Wert der Freiheit wie der Gleichheit, beschränken infolgedessen den Einfluss der sozialen Eliten gegenüber der Macht der Menge, forcieren so den Radikalisierungsprozess und erhöhen schlussendlich die Stasisneigung. 23 Er seinerseits plädiert für einen entgegengesetzten Kurs, indem er von der Prämisse ausgeht, dass demokratisch verfasste Poleis zu festigen seien, indem man demokratische Elemente reduziert und um oligarchische ergänzt. Hierzu unterbreitet er Vorschläge, die selbstredend nicht durch demokratisches Denken geprägt sind. 24 2. Der Bürgerbegriff Anders verhält es sich bei seiner Konzeption des Bürgers zu Beginn des dritten Buches der „Politik“. Ein Bürger zeichnet sich seiner Ansicht nach vor allem durch Teilhabe an der Macht aus, speziell an der archê und der krisis, was den Zugang zu Äm-

19

Eur. Suppl. 244–245.

20

Grundsätzlich zu dem Motiv Laurence B. Carter, The Quiet Athenian. Oxford 1986, 76–98; zum Grad

seiner Verbreitung und zu seiner Lokalisierung im politischen Denken Peter Spahn, Mittelschicht und Polisbildung. Frankfurt am Main 1977, 174–182. 21

Vgl. Aristot. pol. 1297b24–28.

22

Aristot. pol. 1310a25–28.

23

Aristot. pol. 1310a28–38.

24

Zu dem Komplex Aristot. pol. 1319a1–1320b5; zu dem Umstand, dass die bestmögliche Demokratie

im Verständnis des Aristoteles diejenige ist, die sich am wenigsten durch demokratische Elemente auszeichnet, Cynthia Farrar, Ancient Greek Political Theory as a Response to Democracy, in: John Dunn (Ed.), Democracy. The Unfinished Journey 508 BC to AD 1993. Oxford 1992, 17–39, hier: 33f.

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tern, Rat und Volksversammlung sowie zur Richtertätigkeit impliziert. 25 Dass er die Ämter ausdrücklich einschließt, ist in dem Fall unstrittig, da er – neben den Funktionen als ekklesiastês und dikastês – das Wirken in zeitlich befristeten und durch Iterationsbeschränkungen gekennzeichneten archai ausdrücklich anführt. 26 Die genannten Merkmale findet er nachgerade beim demokratischen Bürger, den er entsprechend mit dem Bürger schlechthin identifiziert. 27 An der Stelle konstatiert er maximale Übereinstimmung zwischen seinen Positionen und dem demokratischen Komment. Sie basiert jedoch nicht auf dem Umstand, dass er einem demokratischen Anliegen folgt, sondern darauf, dass er in seinem Bestreben, den Typus des Bürgers mit höchstmöglicher Präzision zu bestimmen, sämtliche Merkmale, die zugleich auf Nichtbürger zutreffen könnten, als kategorische Kriterien ausschließt – beispielsweise die Gemeinsamkeit hinsichtlich des Wohnortes oder des Rechts. 28 Daneben manifestiert sich auch an dieser Stelle sein Bestreben, nach der unter den gegebenen Bedingungen bestmöglichen Herrschaftsordnung zu forschen. Zu jenen Konditionen nämlich rechnet er den uneingeschränkten politischen Partizipationswunsch der Bürger. 29 Diesen begreift er als ein historisches Faktum, mit dem er als gegebener Größe zu operieren hat. 30 Auf Sympathie mit der Demokratie gründen sich jene Reflexionen nicht. Ebenso wenig implizieren sie, dass Aristoteles sämtliche Wertvorstellungen, die dem demokratischen Bürgerverständnis zugrunde liegen, mitträgt. Was diese betrifft, verhält es sich eher so, dass er sie zwar partiell goutiert, sie aber zugleich stets relativiert, indem er sie gegen die Postulate der Eliten abwägt: Das gilt etwa für seine Auseinandersetzung mit dem Moment der Freiheit oder der arithmetischen Gleichheit. Er würdigt sie bis zu einem gewissen Grad, limitiert

25 Aristot. pol. 1275a22–33, 1275b17–20, 1283b42–1284a3. 26 Aristot. pol. 1275a23–33. 27 Dazu Claude Mossé, La conception du citoyen dans la Politique d’Aristote, in: Eirene 6, 1967, 17–21. 28 Aristot. pol. 1275a7–19. 29 Sie wird aus der Gleichheit hergeleitet, die wiederum aus der gemeinsamen Freiheit resultiert; siehe Aristot. pol. 1275b22–39, 1278a27–34. Eine Beherrschung durch Einzelne oder begrenzte Gruppen wird nach Aristoteles entsprechend nicht mehr akzeptiert; vgl. Aristot. pol. 1287b41–1288a5. Zum zentralen Moment der politischen Partizipation beim aristotelischen Bürgerbegriff auch Eugene Lévy, Cité et citoyen dans la ‚Politique‘ d’Aristote, in: Ktèma 5, 1980, 223–248. 30 Zur Vorstellung einer historischen Entwicklung, die durch den zunehmenden Herrschaftsanspruch des Demos gekennzeichnet ist, Johannes Touloumakos, Die theoretische Begründung der Demokratie in der klassischen Zeit Griechenlands. Die demokratische Argumentation in der „Politik“ des Aristoteles. Athen 1985, 128–139.

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sie aber in Kontexten, in denen er sie mit den Exzellenzansprüchen der Privilegierten sowie dem Gedanken der proportionalen Gleichheit konfrontiert. In solchen Zusammenhängen tendiert er schließlich dazu, den Herrschaftsanspruch der Majorität der Bürger einzuschränken, indem er suggeriert, dass – abgesehen von der Richtertätigkeit – die Beteiligung an Volksversammlung und Rat und damit an der politischen Entscheidungsfindung sowie der Bestellung und Kontrolle der Amtsträger für einen Politen hinlänglich sei. 31 Damit distanziert er sich nicht nur vom demokratischen Bürgerbegriff seiner Zeit, sondern auch von seiner eigenen Definition des Politen, die ja den Zugang zu den Ämtern ausdrücklich eingeschlossen hatte. Aus moderner politologischer Perspektive ist dies zum Teil anders interpretiert worden, nämlich als Begründung der elektoralen Demokratie, die das aktive Wahlrecht in den Fokus bürgerlicher Partizipation rückt. 32 Eine solche Einschätzung aber differiert prinzipiell vom antiken Verständnis, nicht zuletzt indem sie – wenn auch teils unausgesprochen – von einem Repräsentativsystem ausgeht. 3. Das ‚Akkumulationsprinzip‘ – zur politischen Kompetenz der Bürger Eine weitere grundlegende Überlegung zur Thematik der breiten bürgerlichen Beteiligung findet sich im sogenannten ‚Akkumulations‘- oder ‚Summierungsprinzip‘, also der Annahme, dass die Menge der Politen in ihrer Gesamtheit – zumindest unter bestimmten Voraussetzungen – imstande sei, bessere Entscheidungen zu treffen als ein Einzelner oder eine Minorität, die sich durch aretê oder sonstige spezifische Befähigungen besonders auszeichnen, oder doch gleichermaßen gute. Der Gedanke begegnet im dritten Buch der „Politik“ in mehreren Varianten. 33 Aristoteles

31

Vgl. Aristot. pol. 1287b22–25, 1292a2–38; zum ‚Umschwenken‘ von demokratischen Prinzipien zur

Kombination von demokratischen und oligarchischen Grundsätzen auch Rolf Geiger, Die Einrichtung von Demokratien und Oligarchien (VI 1–8), in: Höffe (Hrsg.), Aristoteles, Politik (wie Anm.13), 131–145, hier: 140. 32

So etwa Dirk Jörke, Kritik demokratischer Praxis. Eine ideengeschichtliche Studie. Baden-Baden 2011,

120–122. 33

Aristot. pol. 1281a42–1281b15, 1281b34–38. Ausführlich zu seiner Argumentation Egon Braun, Die

Summierungstheorie des Aristoteles, in: Jahreshefte des Österreichischen Archäologischen Instituts 44, 1959, 157–184, hier: 159–174; Schütrumpf, Analyse der Polis (wie Anm.13), 174–185; Touloumakos, Die theoretische Begründung (wie Anm.30), 37–60; David Keyt, Aristotle’s Theory of Distributive Justice, in: Keyt/ Miller (Eds.), A Companion to Aristotle’s ‚Politics‘ (wie Anm.16), 238–278, hier: 270–276; Malcolm Schofield, Aristotle and the Democratization of Politics, in: Ben Morison/Katerina Ierodiakonou (Eds.), Episteme, etc. Essays in Honour of J. Barnes. Oxford 2011, 285–301, hier: 292–299; Melissa Lane, Claims to Rule: The Case

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deutet an, dass er hier auf eine bestehende Ansicht rekurriert, zu deren Herkunft er zwar keine detaillierten Angaben macht, die er aber als genuin demokratisch markiert. 34 Über den Gegenstand ist in der Forschung kontrovers diskutiert worden, und zwar sowohl über seine Genese als auch über seine Implikationen bei Aristoteles. 35 In systematischer Form, das heißt inklusive des Moments der Addition der Qualitäten der einzelnen Bürger und deren quasi-mathematischer Abwägung mit den Befähigungen herausragender Einzelner oder Teilgruppen, ist sie nur durch den Stagiriten tradiert. Ob hierzu unmittelbare Vorläufer existierten, etwa im Bereich der Sophistik, entzieht sich unserer Kenntnis. Bekannt sind hingegen bereits aus dem 5.Jahrhundert aus prodemokratischen Texten Bemerkungen zum Mehrheitsprinzip 36, aber auch zur politischen Kompetenz von Bürgern und deren Wirken in Gremien. Zu Letzteren zählen unter anderem der sogenannte Kulturentstehungsmythos im platonischen „Protagoras“ oder die Rede des syrakusanischen Demokraten Athenagoras im Werk des Thukydides. Von beiden differiert unser Autor in wesentlichen Hinsichten: Protagoras geht davon aus, dass nicht nur einige Spezialisten, sondern sämtliche Angehörige der Polis mit aidôs und dikê ausgestattet und somit befähigt seien, die politikê technê zu erlernen und sich am politischen Diskurs zu beteiligen. 37 Aristoteles setzt zwar gleichfalls voraus, dass alle Menschen sprachbegabt und demzufolge imstande seien, sich über Werte zu verständigen 38, schließt hieraus jedoch nicht auf einen entsprechenden öffentlichen Diskurs, an dem sämtliche Bürger grundsätzlich gleichberechtigt partizipieren. In der thukydideischen Rede des Athenagoras wird ausgeführt, dass der Demos nicht nur ein Teilsegment, sondern das Ganze repräsentiere und – selbst wenn man ihm eigene Klugheit abspreche – auf of the Multitude, in: Marguerite Deslauriers/Pierre Destrée (Eds.), Companion to Aristotle’s ‚Politics‘. Cambridge 2013, 247–274, hier: 252–264. 34 Zur demokratischen Qualität des Konzepts auch Josiah Ober, Democracy and Knowledge. Innovation and Learning in Classical Athens. Princeton/Oxford 2008, 112. 35 Einen Überblick über die Kontroversen gibt jetzt Katarina Nebelin, Vielfalt ohne Gleichheit? Das Problem der politischen und sozialen Vielfalt bei Aristoteles, in: Tiersch (Hrsg.), Die Athenische Demokratie im 4.Jahrhundert (wie Anm.6), 293–333, hier: 304f. 36 Zu den betreffenden Passagen Egon Flaig, Die Mehrheitsentscheidung. Entstehung und kulturelle Dynamik. Paderborn u.a. 2013, 432f.; Jan Timmer, Teilhabe und Systemeffektivität. Überlegungen zur Legitimität von Entscheidungen im klassischen Athen, in: Wolfgang Blösel/Winfried Schmitz/Gunnar Seelentag u.a., Grenzen politischer Partizipation im klassischen Griechenland. Stuttgart 2014, 95–124, hier: 99f. 37 Plat. Prot. 322 c/d; zu seiner Argumentation Cynthia Farrar, The Origins of Democratic Thinking. The Invention of Politics in Classical Athens. Cambridge, MA 1988, 81–83. 38 Aristot. pol. 1253a14–15.

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der Grundlage einer kompetenten Beratung durch einen Redner in der Lage sei, angemessene Entscheidungen zu treffen. 39 Der Fokus ist dabei, wie so oft bei Thukydides, vorrangig auf das Verantwortungsbewusstsein des Rhetors gerichtet. 40 Aristoteles hingegen beschäftigt sich in dem Zusammenhang nicht mit dem Kommunikationsprozess in der Volksversammlung, das heißt weder mit der Interaktion der Bürger untereinander noch mit der zwischen Rhetoren und Demos. Seine Aufmerksamkeit gilt vielmehr dem Gesichtspunkt, dass die einzelnen Politen den zur Debatte stehenden Gegenstand aus unterschiedlichen Perspektiven betrachteten und so eine umfassende Beurteilung zustande komme. Zum Vergleich führt er unter anderem das Phänomen der Bewertung von Kunstwerken durch eine Gruppe von Laien an, die sich ebenfalls durch Multiperspektivität auszeichne – im Unterschied zur Beurteilung durch den Künstler selbst. 41 Diese Akzentuierung steht in einem gewissen Gegensatz zu dem Umstand, dass das eigentliche Interesse unseres Philosophen an der Stelle nicht den Fähigkeiten der einzelnen Politen gilt, sondern der Tatsache, dass aus Einzelteilen ein Ganzes erwächst. Er illustriert dies mit Hilfe von Metaphern, etwa dem Zusammenwirken der einzelnen Organe des menschlichen Körpers, führt aber nicht aus, durch welche Prozesse jene Kooperation konkret zustande kommt. Stattdessen rekurriert er auf grundsätzliche Überlegungen, die er in anderen Passagen seines Werkes ausführlicher präsentiert, darunter die Überzeugung, dass die Polis aus quantitativen und qualitativen Elementen bestehe, wobei aber nur Letztere für das Ganze konstitutiv seien. 42 Die Menge der Bürger rechnet er gewöhnlich dem Quantitativen zu. 43 Sie sind demnach zwar notwendig für die Bildung einer Polis, formieren diese jedoch nicht. Das Ganze ist bei Aristoteles stets mehr als die Summe seiner Teile. 44 Das aber lässt sich auf der Basis des Summierungsprinzips, so wie der Verfasser der „Politik“ es beschreibt, gerade nicht explizieren. Anders hätte es sich verhal-

39

Thuk. 6,39,1.

40

Vgl. Hartmut Leppin, Thukydides und die Verfassung der Polis. Ein Beitrag zur politischen Ideenge-

schichte des 5.Jahrhunderts v.Chr. Berlin 1999, 57. 41

Zu dieser Argumentation mit weiteren Beispielen John T.Bookman, The Wisdom of the Many. An

Analysis of the Arguments of Books III and IV of Aristotle’s Politics, in: History of Political Thought 13, 1992, 1–12, hier: 7; Aubenque, Aristote et la démocratie (wie Anm.1), 261f. 42

Aristot. pol. 1253a25–26, 1283a23–26, 1296b13–34; zum Begriff des ‚Qualitativen‘ (to poion) Aristot.

met. 1020a33–1020b25; zum ‚Quantitativen‘ (to poson) Aristot. met. 1020a7–32. 43

Vgl. Aristot. pol. 1296b17–24. Eine Ausnahme bildet diesbezüglich die Freiheit, die er unter qualitati-

ven Gesichtspunkten beschreibt; siehe Aristot. pol. 1296b17–18. 44

258

Zu dem Komplex Aristot. pol. 1252b27–30, 1253a20–27, 1254a28–32, 1328a17–28; zu seinen diesbe-

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ten, wenn er auch die Überlegungen zu den Kommunikationsprozessen rezipiert hätte, die sich im demokratischen Diskurs finden – etwa in den erwähnten Passagen bei Thukydides oder im „Protagoras“. 45 Dies scheint mir nicht unwichtig zu erwähnen – nicht zuletzt in Anbetracht gelegentlicher Versuche in der Politikwissenschaft, die Anfänge der deliberativen Demokratietheorie bei Aristoteles anzusetzen. 46 Einen herrschaftsfreien Diskurs in der Volksversammlung sieht unser Autor nicht vor. Auch in seiner „Rhetorik“, in der er sich stärker mit der Frage auseinandersetzt, wie ein guter Redner die Bürger in Gremien zu überzeugen vermag und dabei auch das Moment der Orientierung am politischen Common Sense und an intersubjektiv gültigen Werten beleuchtet, finden sich derartige Gedanken nicht. 47 4. Die Ausdifferenzierung eines politischen Bereiches Ein weiterer Aspekt, bei dem sich einschlägige Parallelen zur Demokratie auftun, allerdings ohne dass Aristoteles diesen Umstand erkennbar reflektiert, ist die Ausdifferenzierung eines politischen Bereiches. Diese manifestiert sich bei dem Philosophen etwa in der kategorischen Unterscheidung von Oikos und Polis, wenn er betont, dass die Polis weder als die Summe ihrer Oikoi noch als ein überdimensionierter einzelner Oikos zu verstehen sei. Er verdeutlicht dies unter anderem in seiner kritischen Auseinandersetzung mit der platonischen „Politeia“, in der er sich gegen die Auflösung der Häuser und damit die Aufhebung der Differenzierung von Oikos und Polis ausspricht. 48 Analog dazu verhält sich seine Unterscheidung von Herrschaftstypen, bei der er hervorhebt, dass die politische Herrschaft, die er allem voran züglichen Überlegungen grundsätzlich Fred D. Miller, Nature, Justice, and Rights in Aristotle’s ‚Politics‘. Oxford 1995, 47f. 45 Auch in den Demegorien des 4.Jahrhunderts finden sich hierzu einschlägige Überlegungen; dazu mit Belegen Karen Piepenbrink, Zwischen Kontinuität und Wandel. Die Kommunikation von Rhetoren und Demos im klassischen Athen, in: Ancient Society 45, 2015, 1–26, hier: 9–17. 46 Zur Diskussion hierüber – unter besonderer Berücksichtigung des ‚Summierungsprinzips‘ – Pavo Barišić, Aristoteles’ Vielheitsdenken und die deliberative Demokratie, in: ders./Henning Ottmann (Hrsg.), Deliberative Demokratie. Baden-Baden 2015, 13–49, hier: 32–38. 47 Zum Verhältnis seiner Überlegungen zum Betrieb der attischen Demokratie Karen Piepenbrink, ‚Wertorientierung‘ als rhetorisches Argument. Die „Rhetorik“ des Aristoteles und die soziale Praxis im Athen des 4.Jahrhunderts v.Chr. im Vergleich, in: Rhetorica 34, 2016, 121–140, bes. 140. 48 Zu seiner Argumentation Peter Koslowski, Zum Verhältnis von Polis und Oikos bei Aristoteles. Politik und Ökonomie bei Aristoteles. Straubing/München 1979, 24–30; Richard F. Stalley, Aristotle’s Criticism of Plato’s ‚Republic‘, in: Keyt/Miller (Eds.), A Companion to Aristotle’s ‚Politics‘ (wie Anm.16), 182–199, hier: 187–191; John T.Scott, Aristotle and the ‚City of Sows‘: Doing Justice to Plato, in: Leslie G. Rubin (Ed.), Justice

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auf der Ebene der Polis ansiedelt, und die despotische, die er – bezogen auf den griechischen Kulturraum – vorrangig im Oikos lokalisiert, grundlegend divergieren. Als wesentliches Kennzeichen der politischen Herrschaft führt er den Wechsel von Herrschen und Beherrschtwerden an, den er aus der Gleichheit der Herrschaftsansprüche herleitet und den er seinerseits prioritär mit der Demokratie verknüpft. 49 Dies korreliert mit seinen Überlegungen zum Bürger, die wir bereits betrachtet haben. Die Konturierung eines spezifisch politischen Bereiches greifen wir am stärksten in seiner Beschäftigung mit der politeia, in der sich – seinem Verständnis nach – das Politische in der Polis manifestiert. Er präsentiert verschiedene Definitionen zur politeia, darunter das „Leben der Polis“ (bios poleôs) 50, die „Aktivbürgerschaft“ (politeuma), die an Rat, Gerichten und Ämtern teilhat 51, aber auch die „Ordnung der Ämter“ (archôn taxis). 52 Letzteres meint sowohl die Kompetenzen und Positionen der Ämter als auch die jeweiligen Zugangsbestimmungen. 53 Besonderes Interesse zeigt Aristoteles in dem Zusammenhang an institutionellen Aspekten und Verfahren, etwa dem Losprinzip, dem Mehrheitsentscheid oder der Interorgankontrolle. Er reflektiert dabei nicht nur über einzelne Einrichtungen, sondern betrachtet auch deren systematisches Gefüge. Dabei dominieren Ordnungsmuster, speziell das einer hierarchischen Ordnung. 54 Zentrale Relevanz schreibt er überdies den Gesetzen zu, auf die sich sämtliche Institutionen seiner Auffassung nach auszurichten haben. 55 Darin steht er dem demokratischen Betrieb erheblich näher als andere Kritiker der Demo-

v. Law in Greek Political Thought. Lanham, MD 1997, 41–68, hier: 42–47; Barbara Zehnpfennig, Die aristotelische Platonkritik, in: dies. (Hrsg.), Die „Politik“ des Aristoteles (wie Anm.3), 37–55, hier: 37–44. 49 Aristot. pol. 1259b4–7. 50

Aristot. pol. 1295a40–41.

51

Aristot. pol. 1278b11, 1279a25–27; zu jenem Begriff und seiner Bedeutung Wilfried Nippel, ‚Politeuma‘,

in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 7. Basel 1989, Sp.1036f. 52

Aristot. pol. 1290a7–8. Eine vollständige Übersicht über die aristotelischen Definitionen von politeia

gibt Jaqueline Bordes, La place d’Aristote dans l’évolution de la notion de ‚politeia‘, in: Ktèma 5, 1980, 249– 256, hier: 254–256; dies. Politeia dans la pensée grecque jusqu’ à Aristote. Paris 1982, 435–454. 53

Siehe hierzu die weiteren auf die Ämter fokussierten Definitionen zur politeia in Aristot. pol. 1278b8–

10, 1289a15–18. 54

Dazu mit weiterführenden Literaturhinweisen Karen Piepenbrink, Politische Ordnungskonzeptionen

in der attischen Demokratie des vierten Jahrhunderts v.Chr. Eine vergleichende Untersuchung zum philosophischen und rhetorischen Diskurs. Stuttgart 2001, 55f. 55

260

Zum Gedanken der Gesetzesherrschaft siehe unten Kapitel II.5.

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kratie wie Pseudo-Xenophon, Platon oder Isokrates, die bei der Auseinandersetzung mit guten politischen Ordnungen weitaus weniger auf Institutionen und Verfahren setzen als auf die persönlichen Qualitäten von Herrschaftsträgern. 56 Daraus folgt gleichwohl nicht, dass unser Autor hier dezidiert demokratisches Gedankengut verarbeitet. Es operiert eher mit Phänomenen, die konstitutiv sind für eine organisierte Polis der klassischen Zeit. Konfrontierte man ihn mit den Schnittmengen zwischen seinen Überlegungen und der Demokratie, würde er wahrscheinlich relativierend darauf verweisen, dass sich an den gleichen Stellen Überlappungen mit gemäßigten Oligarchien ausmachen ließen. Der Gedanke der Herausdifferenzierung und Dominanz eines politischen Raumes hat bei ihm zudem wiederum mit dem Umstand zu tun, dass er die Polis als einen zusammengesetzten Gegenstand (synthêton) begreift, bei dem aber das Ganze gleichwohl über die Summe der Teile hinausgeht. 57 Es wird dadurch generiert, dass ein Formprinzip (eidos) die Teile den Anforderungen des Ganzen entsprechend positioniert. Jenes Formprinzip aber macht er in der politeia aus, die, wie wir gesehen haben, den eigentlich politischen Bereich konstituiert. Dieses Denkmodell ist nicht genuin politisch, geschweige denn spezifisch demokratisch, sondern entstammt seinen ontologischen Schriften und wird von dort auf das Feld der Politik transferiert. 58 Er verwendet es darüber hinaus, um den Primat der Polis gegenüber den Oikoi zu begründen. 59 Damit entwickelt er in der Theorie eine Lösung für ein seit langem diskutiertes Problem, das wir bereits in der archaischen Zeit im Zusammenhang mit dem Prozess der Genese der

56 Dieser Befund korreliert mit der Überlegung Brocks und Leppins, die bemerken, dass im demokratischen politischen Denken die institutionelle Ebene dominiere, wohingegen im oligarchischen eine personalistische Betrachtung im Vordergrund stehe; siehe Brock, The Emergence of Democratic Ideology (wie Anm.5), bes. 164–168; Leppin, Thukydides und die Verfassung (wie Anm.40), 57. 57 Zu Stellenangaben siehe oben Anm.44. 58 Dazu Manfred Riedel, Politik und Metaphysik bei Aristoteles, in: ders., Metaphysik und Metapolitik. Studien zu Aristoteles und zur politischen Sprache der neuzeitlichen Philosophie. Frankfurt am Main 1975, 63–84 (zuerst 1970); Andreas Kamp, Aristoteles’ Theorie der Polis. Voraussetzungen und Zentralthemen. Frankfurt am Main 1990, 23–39, 73–86; Piepenbrink, Politische Ordnungskonzeptionen (wie Anm.54), 51–63. 59 Zu jenem Verständnis Wayne H.Ambler, Aristotle’s Understanding of the Naturalness of the City, in: The Review of Politics 47, 1985, 163–185; Bernard Yack, Natural Rights and Aristotle’s Understanding of Justice, in: Political Theory 18, 1990, 216–237; Miller, Nature, Justice, and Rights (wie Anm.44), 45–56; Simon Weber, Herrschaft und Recht bei Aristoteles. Berlin u.a. 2015, 118–124.

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Polis greifen 60, das sich aber ganz besonders in der Demokratie der klassischen Zeit stellt. 61 Im Athen der aristotelischen Ära finden wir es nachgerade in Gerichtsreden aus öffentlichen Prozessen. 62 Aristoteles jedoch diskutiert es mit einem anderen Schwerpunkt, als wir ihn im demokratischen Denken beobachten können: Ihm geht es nicht um das Problem, dass sich soziale Ungleichheit auch im politischen Raum manifestiert und nichtprivilegierte Gruppen in der Bürgerschaft schwächt, sondern um die Konstituierung und Wahrung einer Polisordnung. In diesem ontologisch geprägten Kontext ist auch der vieldiskutierte Begriff des zôon politikon zu verorten, mit dem der Stagirit den vorrangigen Bezug der Bürger auf die Polis teleologisch-naturrechtlich umreißt. 63 Er ist weder demokratisch inspiriert noch mit demokratischer Intention formuliert: Anders als gelegentlich in der politologischen Rezeption angenommen, zielt Aristoteles an der Stelle nicht auf das politische Engagement der Bürger 64, sondern auf die Priorisierung von Polisinteressen gegenüber partikularen Belangen. 65 5. Die ‚Politie‘ als Nomokratie Eng verbunden mit diesem Aspekt ist ein weiteres Moment: die Überzeugung, dass die ‚Politie‘ die unter den gegebenen Umständen bestmögliche Verfassung darstellt. Diese Annahme resultiert unter anderem aus seinem Verfassungsschema (‚Sechserschema‘) 66, konkret seinen Überlegungen, dass die beiden anderen von ihm

60

Zu diesem Komplex etwa Peter Spahn, Oikos und Polis. Beobachtungen zum Prozeß der Polisbildung

bei Hesiod, Solon und Aischylos, in: HZ 231, 1980, 529–564. 61

Zum Phänomen der Herausbildung eines spezifisch politischen Raumes besonders in der Demokratie

unter anderem Christian Mann, Politische Gleichheit und gesellschaftliche Stratifikation. Die athenische Demokratie aus der Perspektive der Systemtheorie, in: HZ 286, 2008, 1–35, bes. 18–20, 34f.; Schofield, Aristotle and the Democratization of Politics (wie Anm.33), 285–287. 62

Ein markantes Beispiel ist die demosthenische Rede gegen Meidias; siehe bes. Demosth. or. 21,30, 66,

98, 101, 140, 188, 221. 63

Aristot. pol. 1253a2–3; zu den diesbezüglichen Forschungskontroversen mit zahlreichen Literatur-

hinweisen Piepenbrink, Politische Ordnungskonzeptionen (wie Anm.54), 59–61. 64

Hierzu mit dezidierter Kritik aus althistorischer Sicht Christian Mann, Politische Partizipation und die

Vorstellung des Menschen als zoon politikon, in: Mogens H.Hansen (Ed.), Athenian Demokratia/Modern Democracy. Tradition and Inspiration. Genf 2010, 51–95, bes. 84–86. 65

Dazu unter Hinweis auf das Verständnis des Adjektivs politikos bei Aristoteles Eugene F. Miller, What

Does ‚Political‘ Mean?, in: The Review of Politics 42, 1980, 56–72, hier: 62f.; Kamp, Aristoteles’ Theorie der Polis (wie Anm.58), 35. 66

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Kompakt präsentiert findet sich dies in Aristot. pol. 1289a26–30.

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goutierten Ordnungen, das heißt Monarchie und Aristokratie, aktuell nicht mehr praktikabel sind, insbesondere weil sie den Herrschaftswillen breiter Bevölkerungsschichten nicht hinreichend berücksichtigen. Der Logik des Modells entsprechend handelt es sich bei der ‚Politie‘ um das positive Äquivalent zur Demokratie, das sich durch ausgedehnte Teilhabechancen, aber zugleich durch Gemeinwohlorientierung und Gesetzesobservanz auszeichnet. Hier operiert unser Autor mit Kriterien, die auch für die attische Demokratie des 4.Jahrhunderts von zentraler Relevanz sind und sich in ihrem Selbstverständnis widerspiegeln. Der enge Zusammenhang von Demokratie und Nomokratie, der von den attischen Rhetoren namentlich in öffentlichen Prozessen vielfältig artikuliert wird, ist in althistorischen Studien der letzten Jahre oft beschrieben worden. 67 Die Forschung hat verschiedene Typen von Gesetzesherrschaft im klassischen Griechenland identifiziert – David Cohen etwa differenziert zwischen einem demokratischen und einem zensorischen Modell, wobei er Letzteres mit der Oligarchie verknüpft. 68 In seinen Grundüberlegungen zu dem Gegenstand steht Aristoteles dem demokratischen Modell nahe, speziell indem er die Nomokratie als eine institutionalisierte Herrschaft begreift – in Abgrenzung zu einer personalisierten, wie sie in oligarchischen Diskursen gern präferiert wird. So konstatiert unser Autor, dass die Herrschaft von Gesetzen wesentliche Vorteile gegenüber einer personendominierten, nur wenig durch Gesetze reglementierten Herrschaft biete: Sie sei stärker durch sachorientierte Entscheidungen geprägt und in geringerem Ausmaß durch Willkür und Affekte gekennzeichnet. 69 Dies betont er auch im Vergleich mit der Herrschaft durch Einzelne, welche zwar situationsadäquat und flexibel agieren und damit Einzelfällen in hohem Maße gerecht werden könnten, die aber Gefahr liefen, ihre Befugnisse zu missbrauchen und sich über die

67 Siehe etwa Martin Ostwald, From Popular Sovereignty to the Sovereignty of Law. Law, Society, and Politics in Fifth-Century Athens. Berkeley u.a. 1986, 497–524; Raphael Sealey, The Athenian Republic. Democracy or the Rule of Law? University Park/London 1987, bes. 146; Hans-Joachim Gehrke, Der Nomosbegriff der Polis, in: Okko Behrends/Wolfgang Sellert (Hrsg.), Nomos und Gesetz. Ursprünge und Wirkungen des griechischen Gesetzesdenkens. Göttingen 1995, 13–35, bes. 34. 68 David Cohen, Rhetoric, Morals, and the Rule of Law in Classical Athens, in: ZRG RA 110, 1993, 1–13; ders., The Rule of Law and Democratic Ideology in Classical Athens, in: Walter Eder (Hrsg.), Die athenische Demokratie im 4. Jahrhundert v.Chr. Vollendung oder Verfall einer Verfassungsform? Stuttgart 1995, 227– 244. 69 Vgl. Aristot. pol. 1272a36–38; zur Argumentation des Aristoteles in dem Zusammenhang auch Aubenque, Aristote et la démocratie (wie Anm.1), 259.

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Polis zu erheben. 70 An der Stelle thematisiert er nicht zuletzt das Problem der hybris. 71 Angesichts dieses Problemkomplexes räumt er gar dem Verfahren des Ostrakismos, den er als eine demokratische Einrichtung begreift, eine Berechtigung ein. 72 Generell tun sich hier Parallelen nicht nur zum demokratischen Gesetzes-, sondern auch zum Anti-Tyrannen-Diskurs auf, wobei in der Schwerpunktsetzung wiederum Divergenzen auszumachen sind: Aristoteles zielt besonders auf Stabilität 73, während in demokratischen Texten gewöhnlich der Gedanke dominiert, dass die Nomokratie besser mit dem Postulat der Freiheit und der Gleichheit zu vereinbaren sei als eine Regentschaft durch personifizierte Machtträger. 74 Im Unterschied zu vielen anderen Demokratiekritikern realisiert unser Philosoph den Zusammenhang von Nomokratie und Demokratie – allerdings auch dies unter dem Gesichtspunkt der Stabilität, indem eine Herrschaft des Volkes nur unter der Prämisse für eine Polis zuträglich und ohne massive innere Spannungen praktikabel sei, dass tatsächlich die Gesetze herrschten und der Demos nur dort eigenmächtig entscheide, wo dies unumgänglich sei. 75 Bemerkenswert ist nun, dass Aristoteles die Kongruenzen, die sich im Bereich des Gesetzesdenkens zwischen seinen und den in der Demokratie prominenten Vorstellungen ergeben, nicht zu perzipieren scheint. Er assoziiert eine Gesetzesherrschaft – von Monarchie und Aristokratie einmal abgesehen – lediglich mit älteren Typen von Demokratie, etwa dem der ‚Hoplitenpoliteia‘, die dem gegenwärtigen Partizipa-

70

Siehe bes. Aristot. pol. 1286a9–31; zu dem Komplex Clifford Angell Bates, The Rule of Law or Pambasi-

leia. Competing Claims for Rule in Aristotle’s ‚Politics‘, in: Rubin (Ed.), Justice v. Law in Greek Political Thought (wie Anm.48), 195–211; ders., Law and the Rule of Law and Its Place Relative to ‚Politeia‘ in Aristotle’s Politics, in: Lisbeth Huppes-Cluysenaer/Nuno Coelho (Eds.), Aristotle and the Philosophy of Law: Theory, Practice and Justice. Dordrecht u.a. 2013, 59–75, bes. 64–69. 71

Aristot. pol. 1267b39, 1295b11, 1302b2–5. In seinem hybris-Verständnis steht Aristoteles der attischen

Demokratie generell sehr nahe; dazu Nicolas Ralph Edmund Fisher, ‚Hybris‘. A Study in the Values of Honour and Shame in Ancient Greece. Warminster 1992, 7–35. 72

Aristot. pol. 1284a17 u. 36, 1284b17.

73

Vgl. Aristot. pol. 1319b37–1320a4; zu der Thematik auch Judith A. Swanson, Aristotle and How to Pre-

serve a Regime. Maintaining Precedent, Privacy, and Peace through the Rule of Law, in: Rubin (Ed.), Justice v. Law in Greek Political Thought (wie Anm.48), 153–182. 74

Siehe z.B. Demosth. or. 24,75–76; Demad. Frg. 35; Hyp. Frg. 214.

75

Vgl. Aristot. pol. 1281b28–30, 1319b1–3; zu dem Gedanken Jan E. Garrett, The Moral Standard of the

Many in Aristotle, in: Journal of the History of Philosophy 31, 1993, 171–189; grundsätzlich auch Josiah Ober, Mass and Elite in Democratic Athens. Rhetoric, Ideology and the Power of the People. Princeton, NJ 1989, 303.

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tionsanspruch weiter Kreise des Demos, wie er selbst einräumt, nicht mehr entspricht. 76 In seinen weitergehenden Ausführungen zum Gegenstand der ‚Politie‘ wird deutlich, dass er sich von demokratischen Prinzipien stetig distanziert – zuvörderst indem er demokratische mit oligarchischen Momenten zu mischen sucht. 77 Dabei kommt zum einen seine Grundüberzeugung zum Tragen, dass gemischte Verfassungen die höchste Stabilität aufweisen, wie auch das Phänomen, dass er – anders als in demokratischen Diskursen – nicht von einer homogenen Bürgerschaft ausgeht, die sich über eine politische Identität definiert, sondern eine ökonomisch begründete Dichotomie annimmt, der auch im Politischen entsprochen werden müsse. 78 Hinzu kommt, dass es sich für ihn schwierig gestaltet, eine Gesetzesherrschaft zu konzipieren. Dabei stellen sich ihm allerdings die gleichen Probleme, die wir aus dem demokratischen Diskurs im Athen des 4.Jahrhunderts kennen: Im Vordergrund rangiert die Frage, wie generalisiert formulierte Gesetze adäquat auf den Einzelfall angewandt werden können und wie bei ‚Gesetzeslücken‘ zu verfahren ist. 79 In der attischen Demokratie werden in dem Zusammenhang eine ganze Reihe extralegaler Argumente herangezogen, darunter die – im Dikasteneid ausdrücklich genannte – dikaiotatê gnômê. 80 Im Umgang mit solchen Momenten ist für die Prozessparteien wie die Richter im Verständnis der Athener essentiell, sie zu den Wert-

76 Dazu Aristot. pol 1319a4–19; zu Aristoteles’ Plädoyer für eine ‚gemäßigte‘ Demokratie, die sich unter anderem an der Solon zugeschriebenen Ordnung orientiert, vgl. Touloumakos, Die theoretische Begründung (wie Anm.30), 140–152; zum retrospektiven Charakter der affirmativen Aussagen des Aristoteles zur Demokratie auch Aubenque, Aristote et la démocratie (wie Anm.1), 256. 77 Das kommt besonders darin zum Ausdruck, dass er die politeia auch als ‚Mischung‘ von Demokratie und Oligarchie definiert und damit einen grundlegend anderen Ansatz wählt als in seinem ‚Sechserschema‘; siehe Aristot. pol. 1293b33–34; zu seiner Präferenz für eine solche Mischung Clifford Angell Bates, Aristotle’s ‚Best Regime‘. Kingship, Democracy and the Rule of Law. Baton Rouge, LA 2003, 114–116; zu seinem ‚Verfassungsschema‘ Manuel Knoll, Die Verfassungslehre des Aristoteles, in: Zehnpfennig (Hrsg.), Die „Politik“ des Aristoteles (wie Anm.3), 126–143, hier: 127–129. Zu den grundlegenden Differenzen zwischen den aristotelischen Überlegungen zur ‚Mischverfassung‘ und der attischen Demokratie Wilfried Nippel, Mischverfassungstheorie und Verfassungsrealität in Antike und früher Neuzeit. Stuttgart 1980, bes. 98– 123. 78 Hier ist insbesondere der Gedanke der Arm-Reich-Dichotomie prominent, mit dem Aristoteles auch mit Blick auf Poleis operiert, die eine breite Mittelschicht aufweisen; zu der Vorstellung Hans-Joachim Gehrke, Die klassische Polisgesellschaft in der Perspektive griechischer Philosophen, in: Saeculum 36, 1985, 133–150, hier: 134–140; Aloys Winterling, ‚Arme‘ und ‚Reiche‘. Die Struktur der griechischen Polisgesellschaften in Aristoteles’ „Politik“, in: Saeculum 44, 1993, 179–205, bes. 203–205. 79 Hierzu mit Blick auf Aristoteles Aristot. pol. 1282a41–b13. 80 Zum Wortlaut des Eides und den dort aufgeführten Rechtsgründen Christopher Carey, Nomos in Attic

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begriffen und Prinzipien der Demokratie in Beziehung zu setzen. 81 Aristoteles hingegen scheut sich, den Juroren die notwendige Wertorientierung zu konzedieren und konzentriert sich stattdessen auf die Amtsträger. Diese sollen in gerichtlichen wie in politischen Zusammenhängen als Entscheidungsträger fungieren, unter anderem auf der Basis persönlicher ethischer Qualitäten agieren und so die Insuffizienzen des Nomos kompensieren. 82 An der Stelle rekurriert er auf Vorstellungen aus seinen Ethiken, darunter das Konzept des anêr agathos bzw. anêr spoudaios, der über Charakterfestigkeit (hexis), Vernunft (phronêsis) und die Fähigkeit zur Voraussicht (prohairêsis) verfügt und dadurch in der Lage ist, situationsadäquat sittlich gute Entscheidungen zu treffen. 83 Anders als in der modernen Rezeption zum Teil vorausgesetzt, bezieht er diese Überlegungen in der „Politik“ nicht auf sämtliche Bürger und macht sie damit auch nicht in einem demokratischen Kontext nutzbar, sondern attestiert sie allein einer Elite, die Ämter mit ausgedehnten Machtkompetenzen bekleidet. 84 Damit nähert er sich schließlich einem oligarchischen Verständnis von Gesetzesherrschaft an, das durch Amtsträger gekennzeichnet ist, welche die Bürger im Sinne der Gesetze zu erziehen haben. Die nomoi dienen dabei weniger der Konfliktregulierung als vielmehr der Konfliktvermeidung 85; sie erfüllen eine pädagogische, verhaltenssteuernde Funktion und greifen dazu massiv in den Bereich der Häuser ein. 86 Das aber kollidiert mit dem Anspruch auf Differenzierung zwischen politischem Rhetoric and Oratory, in: JHS 116, 1996, 33–46, hier: 37; Edward M. Harris, The Rule of Law in Action in Democratic Athens. Oxford 2013, 102. 81

Zu dem Phänomen mit weiterführenden Literaturhinweisen Adriaan M. Lanni, Law and Justice in the

Courts of Classical Athens. Cambridge, MA 2006, bes. 70–74. 82

Aristot. pol. 1287b15–18; zu dem Gedanken Dina Micalella, Nomotheta e politico in Aristotele. Il pro-

blema della ‚soteria tes poleos‘, in: Athenaeum 61, 1983, 88–110, bes. 110. 83

Zu dem Konzept in den Ethiken unter anderem Olof Gigon, ‚Spoudaios‘, in: Elisabeth Charlotte Wels-

kopf (Hrsg.), Soziale Typenbegriffe im alten Griechenland und ihr Fortleben in den Sprachen der Welt. Bd. 4: Untersuchung ausgewählter altgriechischer Typenbegriffe. Berlin 1981, 7–10, bes. 8, zur Anwendung auf die „Politik“ Aristot. pol. 1277b25–32. 84

Jene Rezeption setzt vielfach bei den Ethiken an, in denen Aristoteles weniger scharf zwischen ‚gutem

Menschen‘ und ‚gutem Bürger‘ kontrastiert, und geht davon aus, dass Ethik und Politik bei Aristoteles unmittelbar aufeinander bezogen sind; siehe z.B. Joachim Ritter, Politik und Ethik in der praktischen Philosophie des Aristoteles, in: ders., Metaphysik und Politik. Frankfurt am Main 2003, 106–132, hier: 110–114 (zuerst 1967); Otfried Höffe, Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles. 3.Aufl. Berlin 2008, bes. 39–45 (zuerst 1971). 85

Vgl. Aristot. pol. 1320a11–17.

86

Siehe Aristot. pol. 1310a12–22; Piepenbrink, Politische Ordnungskonzeptionen (wie Anm.54), 85f. mit

weiteren Literaturangaben.

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und häuslichem Bereich, der nach demokratischem Verständnis fundamental ist 87, den Aristoteles aber auch selbst, wie wir gesehen haben, als wichtige Prämisse formuliert hatte.

III. Zusammenfassung Wir können im politischen Denken des Aristoteles eine Reihe demokratischer Implikationen ausmachen, die er aber nur teilweise bewusst als solche rezipiert. Letzteres gilt insbesondere für seine Konzeption des Bürgerbegriffs einschließlich der Vorstellungen zur politischen Kompetenz von Bürgern beim Zusammenwirken in Gremien. Daneben finden sich Parallelen mit zeitgenössischen Demokratien und prodemokratischem Denken, die unser Autor – soweit es sich auf der Grundlage seiner Ausführungen in den „Politika“ bestimmen lässt – nicht als solche wahrgenommen hat: Prioritär sind hier zu nennen das Phänomen der Ausdifferenzierung eines politischen Raumes sowie Kongruenzen im Verständnis einer institutionalisierten Gesetzesherrschaft, wie er sie im Rahmen seiner Überlegungen zur ‚Politie‘ postuliert. Der Hauptgrund für die bewusste Rezeption demokratischer Elemente liegt meines Erachtens in der Überzeugung des Aristoteles, dass politische Ordnungen der Akzeptanz der Mehrheit der Bürger bedürfen und daher deren Erwartungen gerecht zu werden haben. In Anbetracht des Demokratisierungsprozesses, den er in der Poliswelt seit dem 5.Jahrhundert konstatiert, rechnet er dazu den Wunsch nach breiter politischer Partizipation. Die Tatsache, dass daneben nichtintendierte Parallelen begegnen, hat verschiedene Gründe. Sie sind nicht zuletzt darin zu sehen, dass demokratische und gemäßigt oligarchische Ordnungen zahlreiche Übereinstimmungen aufweisen. Entsprechend kann eine Beschäftigung mit moderaten Oligarchien zu Resultaten führen, die mit demokratischem Denken kompatibel sind. Ein spezielles Phänomen stellen die Kongruenzen mit der attischen Demokratie des 4.Jahrhunderts dar: Sie haben

87 Dies hat nicht zuletzt mit dem demokratischen Freiheitsverständnis zu tun, das unter anderem impliziert, dass jedem frei stehe zu tun, was er wolle, von dem Aristoteles sich aber distanziert; dazu Thomas Morawetz, Der Demos als Tyrann und Banause. Aspekte antidemokratischer Polemik im Athen des 5. und 4. Jahrhunderts v.Chr. Frankfurt am Main u.a. 2000, bes. 52f.

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seine Aufmerksamkeit offenbar nicht erregt, zum einen weil sein Athen-Bild stark durch das 5.Jahrhundert geprägt ist, zum anderen weil es sich jeweils nur um partielle Kongruenzen handelt. Besonders deutlich wird dies im Fall seiner Gedanken zur Gesetzesherrschaft, bei denen zwar die Grundannahmen mit demokratischem Denken konform gehen, die Detailüberlegungen jedoch eine Annäherung an dezidiert oligarchische Vorstellungen erkennen lassen. Bleiben noch jene Elemente, die in modernen philosophischen und politologischen demokratieaffinen Rezeptionen dominieren – vor allem das Bild des im öffentlichen Leben engagierten und zur politischen Reflexion und Deliberation befähigten zôon politikon, das zugleich seine private Existenz in Freiheit zu gestalten vermag. 88 Hier haben wir es mit Vorstellungen zu tun, die bei Aristoteles nur eingeschränkt demokratisch konnotiert sind und nur zu einem geringen Teil auf genuin demokratischem Gedankengut basieren. Am ehesten gilt dies noch für den Freiheitsgedanken, der sich jedoch deutlich vom liberal geprägten Libertätsverständnis unterscheidet, das sich in den betreffenden Zweigen der Aristoteles-Rezeption findet. 89

88

Dies gilt nachgerade für die Rezeption bei Hannah Arendt, die zugleich stark durch Distanz zum

Totalitarismus geprägt ist; siehe Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben. München/Zürich 2006, 33–97 (zuerst 1960); Otfried Höffe, Aristoteles’ Politik: Vorgriff auf eine liberale Demokratie?, in: ders. (Hrsg.), Aristoteles, Politik (wie Anm.13), 163–178. 89

Zu den Kontroversen über grundlegende Differenzen zwischen griechisch-antikem und modernem,

insbesondere liberalem Freiheitsverständnis siehe Wilfried Nippel, Antike und moderne Freiheit. Die Begründung der Demokratie in Athen und in der Neuzeit. Frankfurt am Main 2008, 332f., mit weiterführenden Literaturhinweisen. Siehe ferner den Beitrag von Egon Flaig in diesem Band.

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Totalitäre Demokratie Eine Spurenlese zum Verhältnis von Freiheit und Gesetz von Egon Flaig

„Where there is no Law, there is no Freedom.“ John Locke

I. Die zwei Freiheiten und ein kulturelles Vergessen Die Moderne wird seit der Französischen Revolution gequält vom Alb der totalitären Demokratie. Es war Benjamin Constant, der 1806 und 1814 dieses Konzept systematisch entfaltete – obgleich noch ohne das Wort zu gebrauchen –, in Auseinandersetzung mit der Jakobinerherrschaft und mit der Rousseau’schen Idee der Volkssouveränität. Die Theorie der totalitären Demokratie fußte auf zwei Behauptungen, zum einen, dass die Tyrannei eines schrankenlos souveränen Volkes schlimmer sei als jede Despotie, zum anderen, dass die klassische Antike keinerlei individuelle Freiheit gekannt habe und jede Politik, die sich an derselben orientiere, die moderne individuelle Freiheit schwerstens beschädige. 1 Der moderne, nachrevolutionäre Republikanismus hat nicht aufgehört, seine Probleme unter dem strengen Angesicht dieser übermächtigen These zu formulieren. Dennoch ist sie falsch. Just die griechische politische Philosophie hat das Konzept der individuellen Freiheit skizziert. Mehr noch: Sie hat die Dichotomie von individueller und politischer Freiheit konzipiert. Das unternahm in logischer Form zwar erst Aristoteles, doch die Vorstellung, dass die Freiheit zwei unterschiedliche Aspekte umfasse, findet sich in Texten des ausgehenden 5.Jahrhunderts. So rühmt Perikles in seiner (von Thukydides gestalteten) „Rede auf die Gefallenen“ 431 die athenische Demokratie: Sie erziehe zwar ihre Bürger dazu, sich in politischen Belangen zu engagieren, doch sie gestatte diesen trotzdem, ihren individuellen Neigungen nachzugehen, und sie

1 Jacob L. Talmon, Geschichte der totalitären Demokratie. Hrsg. v. Uwe Backes. Göttingen 2013, Bd. 1, 357– 364.

https://doi.org/10.1515/9783110608380-011

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biete dafür mehr Raum als andere Verfassungen. Damit ist das Thema angeschlagen; und es meldet sich im politischen Denken des Abendlandes immer wieder zu Wort – als Differenz zwischen politischer und individueller Freiheit. Diese Differenz prägnant verbegrifflichend, hat Aristoteles die Demokratie durch beide bestimmt: „Freiheit ist das Grundprinzip der demokratischen Verfassung; diese Auffassung vertritt man ja dauernd, so als könnten nur in dieser Verfassung (die Bürger) an der Freiheit teilhaben; denn man sagt, daß danach jede Demokratie strebe. Ein Aspekt von Freiheit ist, daß man abwechselnd sich regieren läßt und regiert. […] Aus diesem Rechtsverständnis folgt notwendigerweise, daß die Menge alle Macht innehat und daß der Beschluß der Mehrheit, wie immer er ausfällt, oberste Gültigkeit besitzt und die Rechtsnorm bildet. […] Dies ist ein Kennzeichen der Demokratie, das alle demokratisch Gesinnten als bestimmendes Merkmal dieser Verfassung angeben. Das zweite ist, daß man lebt, wie man will; denn man sagt, daß Freiheit dies gewährleiste, wenn es denn zutrifft, daß es für einen Sklaven charakteristisch ist, nicht leben zu können, wie er möchte. Damit haben wir das zweite Merkmal der Demokratie beschrieben. Als eine Folge (dieses Verständnisses von Freiheit) kam es dazu, daß man es nicht hinnimmt, sich beherrschen zu lassen, am besten von gar niemand, oder wenn schon, dann (nur) im Wechsel, und auf diese Weise unterstützt diese (Einstellung) den (ersten) Aspekt von Freiheit, der die Verwirklichung der Gleichheit der Zahl nach zum Ziel hat (εἰ δὲ μή, κατὰ μέρος, καὶ συμβάλλεται ταύτῃ πρὸς τὴν ἐλευθερίαν τὴν κατὰ τὸ ἴσον).“ 2

Aristoteles setzt beide Freiheiten als selbständige Momente. Politische Freiheit heißt, aktiv an der Ausübung von politischer Herrschaft partizipieren, nämlich „abwechselnd regiert werden und regieren“ (τὸ ἐν μέρει ἄρχεσθαι καὶ ἄρχειν). Die individuelle Freiheit hingegen gestattet, das eigene Leben nach eigenem Willen zu gestalten, nämlich „leben wie man will“ (τὸ ζῆν ὡς βούλεταί τις). Beide Momente sind zwar selbständig, doch das zweite unterstützt das erste: Um die individuelle Freiheit zu bewahren, ist es geboten, an den politischen Entscheidungen teilzunehmen. Gegen radikal individualistische Strömungen verficht Aristoteles die Ansicht, dass beide Freiheiten nicht im Gegensatz zueinander stehen. Was er darlegt, war im 4.Jahrhundert ein Gemeinplatz des politischen Diskurses, welcher sich in den erhaltenen Reden dokumentiert. Dieser Tradition folgend, bestimmt Cicero die Freiheit in Kontexten, wo es nicht um die politische Partizipation geht, als „sic vivere ut ve-

2 Aristot. pol. 1317a40–b17 (Übersetzung nach Eckard Schütrumpf).

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lis“. 3 Und an dieser Definition von Freiheit orientiert sich das Römische Recht, so etwa Florentinus. Dennoch kam die Behauptung auf, in den antiken Gemeinwesen hätte keine individuelle Freiheit bestanden. Eine mächtige Strömung in der Neuzeit setzt beide Freiheiten in einen harten Gegensatz zueinander; unter der Parole „Moderne Freiheit gegen antike Freiheit!“ gelingt es ihr, den Freiheitsbegriff von jeglicher republikanischer Substanz zu leeren. Der griechischen Kultur wurde in der Neuzeit eine Errungenschaft abgesprochen, die sie gerade auszeichnet. Diese Leugnung ist sonderbar, und sie verlangt nach einer Problemgeschichte. Den Anstoß dazu, eine solche zu erstellen, will der vorliegende Aufsatz geben. 4 Thomas Hobbes erfand einen rein mechanischen Freiheitsbegriff, den er der republikanischen Tradition frontal entgegenstellte. Individuelle Freiheit ist für ihn nur möglich im Status eines freien Untertanen: Der freie Untertan ist weder Leibeigener noch Sklave, freilich ist er auch kein Bürger sensu stricto; als Untertan partizipiert er nicht an den kollektiven Entscheidungen, die das Gemeinwesen betreffen. 5 Hobbes behauptete, auch in den antiken Bürgerschaften sei der Einzelne nicht freier gewesen als in den Monarchien der Moderne: „Ob ein Staat monarchisch oder demokratisch ist – die Freiheit bleibt dieselbe.“ 6 Er setzte also die politische Freiheit nicht der modernen individuellen Freiheit entgegen, sondern ihm ging es darum,

3 Cic. off. 1,70. 4 Das gedankenreiche Buch von Wilfried Nippel, Antike oder moderne Freiheit? Die Begründung der Demokratie in Athen und in der Neuzeit. Frankfurt am Main 2008, stellt andere Fragen, vgl. ebd.11–16 u. 334– 350. 5 Dazu nun Quentin Skinner, Hobbes and Republican Liberty. Cambridge 2008. 6 Thomas Hobbes, Leviathan oder Wesen, Form und Gewalt des kirchlichen und bürgerlichen Staates (1651). Hrsg. v. Iring Fetscher. Frankfurt am Main 1984, 167 (Kap. 21). Vgl. ders., Grundzüge der Philosophie. Zweiter und dritter Teil: Lehre vom Menschen und Bürger. Deutsch hrsg. v. Max Frischeisen-Köhler. Leipzig 1918, 186: „Manche halten die Monarchie deshalb für schlimmer als die Demokratie, weil dort weniger Freiheit als hier bestehe. Wenn sie hierbei unter Freiheit die Befreiung von dem Gehorsam verstehen, der den Gesetzen, d.h. den Geboten des Volkes geschuldet werden muß, so gibt es weder in der Demokratie noch in einer andern Staatsform überhaupt eine solche Freiheit. Wenn sie aber unter Freiheit verstehen, daß der Gesetze und Verbote nicht zu viele seien und nur solche, die zur Erhaltung des Friedens unentbehrlich sind, dann bestreite ich, daß in der Demokratie mehr Freiheit als in der Monarchie bestehe; denn beide Staatsformen können mit einer solchen Freiheit wohl bestehen. Wenn man auch an den Toren jeder Stadt das Wort Freiheit mit noch so großen Buchstaben anschreibt, so bezeichnet sie doch nicht die Freiheit des Bürgers, sondern des Staates; und dieses Wort wird mit ebensoviel Recht dem Staate zugeschrieben, den ein Monarch, wie dem, den das Volk regiert.“

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die politische Freiheit zu liquidieren, weil sie jedwedes Gemeinwesen zerstören würde. In der Antike seien nur die Staaten frei gewesen, nicht die Bürger; und die Staaten waren frei insofern, als sie sich untereinander im Naturzustand befanden und sich bekriegten. Und darin unterschieden sie sich nicht von modernen Monarchien. Die Rezeption simplifizierte freilich. Liest man die betreffende Stelle so, als sei es ein Charakteristikum der Antike, dass in ihr die Bürger nicht frei waren, sondern nur die Staaten, dann ergibt sich ein ganz anderer Sinn als jener, den Hobbes ausdrückt. Dann lässt sich Hobbes zum Erfinder des Gegensatzes von antiker und moderner Freiheit machen. Diese Fehllektüre überwog in der Rezeption. So entstand jenes geschichtsphilosophische Ideologem, das seither die politische Philosophie heimsucht: Die antike Freiheit bedeute Absorption des Individuums durch den Staat. Adam Ferguson drückte das 1767 so aus: „Für den alten Griechen oder Römer bedeutete das Individuum nichts und die Öffentlichkeit alles. Für die modernen Menschen ist in vielen Völkern Europas das Individuum alles und die Öffentlichkeit nichts.“ 7

Der große Theoretiker der Volkssouveränität, Jean-Jacques Rousseau, hatte schon drei Jahre vorher in seinem 9. Brief dargelegt, der Graben zwischen der Antike und der Moderne sei unüberwindlich, weil die modernen Menschen außerstande seien, sich zu jenem Gemeinsinn aufzuschwingen, der antiken Bürgern zumutbar war. Indes, obschon die antike Freiheit aus diesem Grunde uneinholbar sei, dürfe die individuelle Freiheit sich nicht lossagen von jener, weil sie sonst aufhöre, Freiheit zu sein, und zur bloßen „indépendance“ entarte, welche einen der schlimmsten Feinde der Freiheit darstelle – ein Gedanke, den sowohl Kant als auch Tocqueville aufgreifen werden. Die Gemeinwesen der Antike bleiben zwar das beste Anschauungsmaterial, um politische Themen so scharf wie möglich zu konturieren; doch sie können niemals mehr Vorbilder sein, weder moralische noch politische. Ihr Wert ist nach Rousseau ein heuristischer, zudem ein unermesslich bedeutungsvoller für die kulturelle und politische Selbstreflexion der Neuzeit. Eingeschwärzt wurde die ‚antike Freiheit‘ im Gefolge der Französischen Revolution und der gegenrevolutionären Bestrebungen. Benjamin Constant rügte 1814 die Radikalen der Französischen Revolution, sie hätten versucht, die Menschen des modernen Frankreich zu antiken Bürgern umzumodeln. Was Rousseau noch durchaus 7 Adam Ferguson, Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft (1767). Frankfurt am Main 1988, 169.

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bewusst gewesen sei, das hätten jene Revolutionäre, die sich auf seinen „Contrat social“ bezogen, schlicht ignoriert: „Unsere Reformer wollten also die öffentliche Gewalt so ausüben, wie – so hatten sie es von ihren geistigen Führern gelernt – sie einst in den freien Staaten der Antike ausgeübt worden war.“ Um eine solche an sich unmögliche kulturelle Umwälzung zu vollziehen, mussten sie mit beispiellosem Terror und umfassender Unterdrückung agieren: „Die Parteigänger der antiken Freiheit wurden wütend darüber, dass die Modernen nicht frei sein wollten gemäß ihrer Methode.“ 8 In seine endgültige und dauerhaft zitierfähige Gestalt brachte Constant diese Gedanken fünf Jahre später, in seinem Vortrag „Von der Freiheit der Alten, verglichen mit derjenigen der Modernen“. Er wiederholte hier seine Gedanken. Zum Scharnier seiner Unterscheidung machte Constant die aktive Partizipation: Die Menschen der Moderne ertragen keine Aufopferung ihres Daseins zum Gedeihen der Res publica; sie trachten danach, in viel größerem Maße ein privates Leben zu führen als die Spartaner und Römer. Deshalb können sie nicht Aktivbürger im antiken Ausmaß sein; folglich bedürfen sie der politischen Repräsentation. Constant malte das Bild der Staatsknechtschaft detailreich und düster: Auf unfassbare Weise seien in Sparta und auch in Rom die privaten Dinge der politischen Aufsicht unterworfen gewesen. Eine nicht unbedeutende Revision nahm Constant in Bezug auf Athen vor. Dass diese Polis eine ‚Ausnahme‘ darstellte, dessen war er bei seinen Überlegungen zur fatalen Imitation antiker Ideale und Praktiken innegeworden. So tadelte er 1815 die republikanischen Denker und die Revolutionäre, sie hätten sich das falsche Vorbild ausgesucht: „Es ist eigenartig, dass unsere modernen Reformer es vermieden, genau Athen zum Modell zu nehmen. Das liegt daran, dass Athen uns zu sehr ähnelt. […] Wenn der Leser darauf neugierig ist, sich vom ganz und gar modernen Charakter Athens zu überzeugen, dann kann er insbesondere Xenophon und Isokrates konsultieren.“ 9

Athen ragt heraus als erratischer Findling von Modernität inmitten einer antiken Welt ohne individuelle Freiheit. Das nimmt Constant in seinem Vortrag zurück. Zwar habe diese Republik die politische Freiheit mit der privaten in einem gewissen

8 Benjamin de Constant, De l’Esprit de Conquête et de l’Usurpation, II, cap. 6–9, in: ders., Ecrits politiques. Éd. par Marcel Gauchet. Paris 1997, 206–224, hier: 215 u. 217 (Übersetzung Egon Flaig, ebenso die im Folgenden zitierten Passagen aus dem Werk von Constant). 9 Ebd.207.

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Grade verbunden. Doch aus dem „ganz und gar modernen Charakter“ Athens macht Constant nun denjenigen Staat des Altertums, „der am meisten den modernen ähnelt“. Und auch Athen ist gezeichnet von den Malen der Antike, bleibt eine antike politische Gemeinschaft: „Das Individuum war noch ganz der Suprematie des gesellschaftlichen Ganzen unterworfen, so wie heutzutage in keinem freien Staat.“ 10 Constant hat damit die epochale Grenze scharf markiert: Es hat keine Moderne vor der Moderne gegeben. Sogar Athen hätte den Revolutionären nicht zum ‚Modell‘ getaugt, weil die Antike eben keine politischen Modelle für unsere Epoche mehr zu liefern vermag. Aus der Ausnahme ist eine historische Variante geworden. Indes, in der breiten und nachhaltigen Rezeption, die dem Vortrag widerfuhr, verschwanden sogar die Varianten, und es blieb fast nur die plakative Entgegensetzung von ‚antiker‘ und ‚moderner‘ Freiheit übrig. Constant konnte nicht wissen, dass Sparta die kulturelle Ausnahme war und dass Hunderte von hellenistischen Städten dem athenischen Weg folgten. Der Stand der altertumswissenschaftlichen Forschung sowie die Rezeptionsroutinen des neuzeitlichen Republikanismus richteten die Aufmerksamkeit auf Sparta und Rom, Athen spielte eine untergeordnete Rolle. 11 Es gab Gegenstimmen, insbesondere was die athenische Demokratie anging. In seiner zwölfbändigen „History of Greece“ (1846–1856), welche die umfangreichste und gründlichste Darstellung der politischen Geschichte Griechenlands bietet, zeichnete George Grote ein vollkommen anderes Bild der athenischen Demokratie, das nicht zuletzt John Stuart Mill übernahm; in Großbritannien ebbte darum auch das Echo der ‚Schwarzen Legende‘ vom antiken Staatstotalitarismus ab. 12 Demgegenüber radikalisierte Fustel de Coulanges in seiner „Cité antique“ das Konzept der ‚Staatsknechtschaft‘, indem er die antike Polis zur Gänze auf eine religiöse Basis stellte; der Übergang von den religiösen Zwecksetzungen zu blankem Utilitarismus habe diese Allmacht des Staates geradezu tyrannisch werden lassen. Fustel räumte Athen nur insofern einen Ausnahmestatus ein, als diese Polis die ökonomische Aktivität ihrer Bürger befördert habe, weshalb „dieser grausige Krieg zwischen den Reichen und den Armen“ dort nicht stattfand. 13 Jacob Burckhardt bestimmte das Verhältnis von

10

Constant, Écrits politiques (wie Anm.8), 596.

11

Ebd.591–619. Dazu Nippel, Antike oder moderne Freiheit (wie Anm.4), 201–221; Jennifer Tolbert

Roberts, Athens on Trial. The Antidemocratic Tradition in Western Thought. Princeton 1994, 156–207.

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12

Siehe die Dokumentation bei Nippel, Antike oder moderne Freiheit (wie Anm.4), 218–260.

13

Numa Denis Fustel de Coulanges, La Cité antique (1864). 27.Aufl. Paris 1922, 402 Anm.2.

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Religion und Polis zwar anders, doch übernahm er weitgehend jene Fustel’schen Thesen, wonach die Armen die staatliche Allmacht als Instrument im Klassenkampf gegen die Reichen gebraucht hätten. 14 Auch er hielt fest an der ‚Staatsknechtschaft‘. Und obwohl er gewahrte, dass die hellenistischen Poleis ein abundantes Privatleben pflegten und die Bürger einem politikfernen Individualismus frönten 15, überschrieb er den zweiten Abschnitt seiner „Griechischen Culturgeschichte“, welcher von der Polis handelte, mit jenem schauerlichen Vers, den Dante über der Pforte zur Hölle erblickte: „per me si va nella città dolente“. Wichtige Strömungen des Liberalismus haben die antike ‚Staatsknechtschaft‘ und das ‚Fehlen individueller Freiheit‘ in ihrem Katechismus behalten. Noch Isaiah Berlin wiederholte 1958 in seiner Schrift „Two Concepts of Liberty“, das Konzept der individuellen Freiheit mit der Hochschätzung der Privatheit sei eine Erfindung, die kaum älter sein könne als die Renaissance oder die Reformation. 16

II. Das Risiko der anthroponomen Ordnung Gehen wir nochmals zurück auf die aristotelische Definition der politischen Freiheit. Sie besteht in der Teilhabe der Bürger an den kollektiven Entscheidungen. Hier freilich liegt das schwelende Dilemma, das immer wieder hell aufloht. Denn wieweit soll die Reichweite des Entscheidens gehen? Die Antwort lautet: sehr weit. Denn die griechische Polis gab sich ihre innere Ordnung selber, nicht nur die politische, sondern partiell auch die soziale und familiale. Das Entscheiden über die Ordnung ist ein semantischer Zentralnerv im politischen Denken der Hellenen. Dabei geht es zunächst um das Zustandekommen von Gesetzen. Wahrscheinlich nirgendwo bei den Griechen entquillt das Gesetz aus dem Willen der Götter. Es entstammt entweder der Verfügung eines mythischen Gründers oder dem Willen der Gemeinschaft. 17 14 Zur Beziehung zwischen Burckhardts „Griechischer Kulturgeschichte“ und Fustels „Cité antique“ siehe Egon Flaig, Jacob Burckhardt, Greek Culture and Modernity, in: Ingo Gildenhard/Martin Ruehl (Eds.), Out of Arcadia. Classics and Politics in Germany in the Age of Burckhardt, Nietzsche and Wilamowitz. (Bulletin of the Institute of Classical Studies, Supplements, 79.) London 2003, 7–39, hier: 11–26. 15 Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte. Bd. 1–4. (Gesammelte Werke, Bd. 5–8.) Berlin 1954/55, Bd. 4, 554–560. 16 Isaiah Berlin, Two Concepts of Liberty (1959), in: ders., Four Essays on Liberty. Oxford 1969, 166–217, hier: 176. 17 Siehe hierzu: Uwe Walter, An der Polis teilhaben. Bürgerstaat und Zugehörigkeit im archaischen Grie-

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Diese Autonomie der politischen Gemeinschaft stößt notwendigerweise auf ihre eigene Problematik. Wenn eine Gemeinschaft kollektiv über ihre Ordnung verfügt, dann ergeben sich schnell Aporien und Paralogismen. Als erstes geraten Autonomie (der Gemeinschaft) und Autorität (der gesetzten Ordnung) in einen antinomischen Zwist. Das zeigt sich an der Geltung von Gesetzen. Wenn das Gesetz seinen Ursprung im Willen der Gemeinschaft haben soll, dann bezieht es auch seine Autorität aus diesem Willen. Dieser Wille äußerte sich unter nichtmonarchischen Bedingungen stets als Beschluss des Volkes. Doch was könnte den Autor des Gesetzes daran hindern, dieses zu widerrufen? Die kreisläufige Selbstaufhebung kam grell zum Vorschein, als sich im Herbst 406 die athenische Demokratie beim Arginusenprozess wissentlich und willentlich über Recht und Gesetz hinwegsetzte: Die Strategen, die während der siegreichen Seeschlacht bei den Arginusen versäumt hatten, die ertrinkenden Bürger zu retten, wurden mit einem kollektiven Urteil hingerichtet. Als der Redner Euryptolemos den Antrag stellte, die Strategen jener Seeschlacht einem ordnungsgemäßen gerichtlichen Verfahren zu unterziehen, in welchem jedem Angeklagten je nach seiner Schuld ein eigenes Urteil zustand, rief er der Volksversammlung zu: „Bewahrt die Gesetze, die euch gehören, und denen ihr eure Größe am meisten verdankt.“ Mit diesem Appell erwiderte der Redner das Geschrei, das sich unter den versammelten Bürgern plötzlich erhob: Es sei unerhört, wenn jemand das Volk daran hindere, „zu tun was es wolle“ (πράττειν ὃ ἂν βούληται). 18 Dieser Schrei, wie wenige es auch gewesen sein mögen, die ihn während der taktischen Diskussion über Verfahrensfragen ausstießen, riss jäh das Tor auf, welches die suizidale Gefahr ausgesperrt hielt. Wenn das Volk zu jeder Zeit alles tun konnte, was ihm beliebte, dann drohte die Selbstvernichtung der Volkssouveränität. Deswegen vor allem ballten sich die Ereignisse jenes Herbsttages zum Fanal, das wie ein Alb auf dem politi-

chenland. Stuttgart 1993; Karl-Joachim Hölkeskamp, Schiedsrichter, Gesetzgeber und Gesetzgebung im archaischen Griechenland. Stuttgart 1999; Egon Flaig, Radikale Anthroponomie. Wieso griechische Polis und Theokratie diametrale Gegensätze sind, in: Kai Trampedach/Andreas Pečar (Hrsg.), Theokratie und theokratischer Diskurs. Die Rede von der Gottesherrschaft und ihre politisch-sozialen Auswirkungen im interkulturellen Vergleich, Tübingen 2003, 75–99. 18

Xen. hell. 1,7,29 u. 1,12. Demosthenes nimmt die Formel auf – „es ist dem Volke alles erlaubt zu tun,

was es wolle“ –, lässt aber keinen Zweifel, dass dies nur innerhalb der bestehenden Gesetze gilt (Demosth. 59, 88). Zum ganzen Komplex siehe die vorzüglichen Erörterungen bei Erik Wolf, Griechisches Rechtsdenken. Bd. 3/1. Frankfurt am Main 1954, 103–186.

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schen Denken der Nachwelt lasten blieb und zur memorialen Landmarke wurde, ähnlich wie der Prozess gegen Sokrates. Je souveräner der Akt des Setzens ist, desto widerrufbarer und labiler ist das Gesetzte. Zwar haben die Athener keine Mühe, Gesetz und Beschluss semantisch auseinanderzuhalten. Aber in harten Kontroversen verwischen die Redner vorsätzlich beides; das gelingt ihnen zumindest bis zum Abschluss der großen Gesetzeskodifikation im Jahr 401. Und es kann gelingen, weil das normative Gesetz und der konkrete Beschluss auf dieselbe Weise zustande kommen und denselben Ursprung haben, nämlich im Volkswillen. Diese Identität des Ursprungs brachte die griechischen Demokratien in Versuchung, die Volkssouveränität über den äußersten Punkt hinauszutreiben, wie es beim Arginusenprozess 406 geschah. Zwar passierte in der historischen Realität derlei nicht häufig. Doch wenige Vorkommnisse genügten, weil die politische Reflexion darauf lauerte. Diese Aufmerksamkeit belud die fatalen Geschehnisse mit hohem Warnwert, welcher in die spätere Geschichtsschreibung hineinwirkte. Ein Beispiel für die Verwischung von normativem Gesetz und punktuellem Dekret bietet uns eine bei Thukydides überlieferte Debatte. Als die athenische Volksversammlung sich im Sommer 427 anschickte, einen Beschluss zu revidieren, den sie zwei Tage zuvor gefasst hatte, nämlich alle Männer der kapitulierenden Stadt Mytilene zu töten, da widersetzte sich der Redner Kleon dieser Revision mit den Worten: „Schon manches Mal ist mir klar geworden, auch früher schon, dass die Demokratie unfähig ist zur Herrschaft über andere Völker, vor allem aber jetzt bei eurer Reue wegen Mytilene […] Und das Allerärgste, wenn uns nichts Bestand haben soll, was wir einmal beschlossen haben, und wenn wir nicht einsehen wollen, dass ein Staat mit schlechteren, aber unverbrüchlichen Gesetzen stärker ist als mit einwandfreien, die nicht gelten […]“ 19

Hier ereignete sich, wovor Rousseau, der große Theoretiker der Volkssouveränität, eine besondere Furcht hegte: Der Souverän verliert seine volonté générale, also seine unbeirrbare Orientierung aufs Gemeinwohl, falls er auch über konkrete Dinge beschließt; denn dann handelt er als Magistrat, beschließt zu vieles und unweigerlich manchmal zugunsten partikularer Interessen; und obendrein werden seine Be-

19 Thuk. 3,37 (Übersetzung: G. P. Landmann). Dasselbe hatte Perikles bereits der athenischen Volksversammlung vorgeworfen, siehe Thuk. 2,59 u. 61.

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schlüsse abhängig von sich verändernden Umständen. 20 Der Fall von 427 zeigt, dass der neuralgische Punkt die Geltung ist. Ein Magistrat kann und soll seine Entscheidung widerrufen, um sie der Lage anzupassen. Der rousseauische Souverän hingegen soll ein ergangenes Wort nicht zurücknehmen, weil es gelten soll. Begeht er einen Fehler und muss ihn revidieren, schwächt er die normative Gültigkeit seiner Beschlüsse insgesamt. Weil an der einen Stelle nicht mehr gilt, was galt, schwindet die Kraft des Geltens an allen Stellen. Die Konsequenz ist entweder diejenige Rousseaus: Es ist besser, wenn der Souverän ganz selten entscheidet, und zwar niemals über konkrete Einzelmaßnahmen. Oder jene, zu der eine klug gewordene Polis sich entschloss: Die Athener fixierten nach dem Staatsstreich 411 ihre Gesetze und errichteten hohe Hürden gegen jeglichen Versuch, sie zu verändern. Die Beschlüsse der Volksversammlung hingegen wurden zu konjunkturell motivierten Dekreten, flexibel wie magistratische Maßnahmen, revidierbar, falls für untauglich befunden. Kleon 21 zieht den umgekehrten Schluss: Beschlüsse darf man nicht revidieren, weil sich in ihnen der Volkswille vergegenständlicht hat. Und der vergegenständlichte Volkswille hat gesetzesähnliche Qualität, ist sozusagen nomomorph. Diese Konsequenz braucht dem Redner nicht bewusst gewesen sein. Aber theoretisierende Zeitgenossen müssen schnell begriffen haben, dass eine solche Nomomorphie aus den Volksbeschlüssen einen geronnenen Volkswillen machen würde, welcher den aktuellen, lebendigen Willen früher oder später ersticken musste. Jean-Jacques Rousseau hat seine Aufmerksamkeit krampfhaft auf diese blinde Stelle gerichtet, befürchtend, dass ein Souverän, der unentwegt gegen seine Gesetze verstößt, sich auflösen müsse, da er nicht mehr imstande sei, seine eigene Identität zu sichern; denn es sind die ‚Sitten‘ und die Gesetze, die jegliche kollektive Identität bilden und bewahren. Doch lange vor ihm umkreisten die Reflexionen griechischer Denker diese gefahrenträchtige Stelle des Politischen: Von der „Antigone“ des Sophokles über die Sophistik bis zum 8. Buch der platonischen „Politeia“ und zur „Politik“ des Aristoteles. 22

20

Dazu Egon Flaig, Die Mehrheitsentscheidung. Entstehung und kulturelle Dynamik. Paderborn 2013,

225–226. 21

Siehe dazu Antoine Leandri, L’aporie de la souveraineté, in: Pierre Aubenque (Éd.), Aristote politique.

Études sur la Politique d’Aristote. Paris 1993, 315–329. 22

Aristot. pol. 1269a9–29. Hierzu Christian Meier, Die politische Kunst der griechischen Tragödie. Mün-

chen 1988; Martin Hose, Drama und Gesellschaft. Studien zur dramatischen Produktion in Athen am Ende des 5.Jahrhunderts. Stuttgart 1995.

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Man kann die Anthroponomie – das menschliche Verfügen über die Regeln des Zusammenlebens – soweit treiben, dass sich der Boden unter dem Politischen verflüssigt. Destabilisierende Dynamiken werden ausgelöst nicht nur, wenn die Schwemme von neuen Gesetzen einen verkraftbaren Pegel übersteigt und wenn die Revidierbarkeit der Gesetze an der Gesetzeskraft zweifeln lässt, sondern obendrein, wenn es zu Beschlüssen kommt, die den sittlichen Grundlagen der Gemeinschaft Gewalt antun. Aber Letzteres ergibt sich aus dem Ersteren: Man ist in der Lage, über Vieles zu verfügen, und man glaubt sich berechtigt, das ehemals Verfügte zu verändern und kann sich mithin dem Gedanken nicht erwehren, es seien dem Verfügen überhaupt keine Grenzen gesetzt. Diese Gefahrenzone zu vermessen, unternimmt Sophokles in seiner „Antigone“. Dort singt der Chor jenes vielzitierte Standlied, dessen Anfangsverse zu fundierenden Sentenzen der faustischen Identität taugen: „Vieles ist ungeheuer, nichts ungeheurer als der Mensch.“ Die Pointe dieses ergreifenden Liedes ist klar und einfach: Da der Mensch so unfassbar viel vermag und da seine technischen Fähigkeiten sich immer weiter perfektionieren, scheinen ihm keine Grenzen gesetzt, außer jener, sterben zu müssen. Da sein Können so maßlos zu werden droht, muss er auf sein Wollen achten. Und es gibt nur einen einzigen Damm gegen das Überborden seines Willens, nämlich das Gesetz und die Sitte: „Achtet er die Gesetze des Landes / Und das bei den Göttern beschworene Recht: / Hoch in der Stadt (ὑψίπολις)! Verlustig der Stadt (ἄπολις), / Wem das Ungute sich gesellt / Wegen seines Wagemuts! – / Sitze mir nicht am Herd / Noch habe Teil mit mir am Rat / Wer so tut!“ 23

Ein Übermaß an Können berechtigt nicht dazu, alles tun zu wollen, was man technisch tun kann. 24 Die Grenze verläuft am Gesetz und noch mehr an jener Sitte, die unbefragt und unhinterfragt bestehen bleiben muss, als sei sie „Götterrecht schwurgeweiht“. Wer an diese vorreflexiven Bestandteile des Grundkonsenses tastet, bewirkt Unheil. Ein nicht näher zu bestimmender Teil der Ordnung muss unbedingt gelten. Wenn Heraklit etwa vier Jahrzehnte zuvor die Sentenz aufstellt, kämp-

23 Soph. Ant. 367–375 (Übersetzung Hellmut Flashar). 24 Hierzu Egon Flaig, Das rettende Gesetz und die Aporie des Verfügens. Zum Mängelwesen Mensch bei Protagoras und Sophokles, in: Hans Beck/Benedikt Eckhardt/Christoph Michels/Sonja Richter (Hrsg.), Von Magna Graecia nach Asia Minor. Festschrift für Linda-Marie Günther zum 65. Geburtstag. Wiesbaden 2017, 115–132.

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fen müsse das Volk um seinen nomos wie um seine Mauer 25, dann dramatisiert er denselben Gedanken, der den griechischsten aller großen politischen Denker, JeanJacques Rousseau, zum Grübeln anhielt. Die Mauer ist nicht allein steinerne Trennlinie zwischen Innen und Außen, ohne welche keine Bürgerschaft als Gemeinwesen agieren kann. Ohne sie ist eine Stadt wehrlos. Überwindet der Feind die Mauer, dann fällt die Stadt, und die Polis verliert ihre Existenz, die Menschen Leben oder Freiheit. An der Mauer hängt die Existenz einer autonomen Gemeinschaft. So wie die Mauer nach außen schützt, so schützt das Gesetz die Polis im Inneren und hält die Bürger in Gemeinschaft zusammen. Den nomos antasten heißt, den Zusammenhalt der Polis antasten. Wer das tut, gegen den muss die Polis kämpfen, als sei er ein Feind, der ihre politische Existenz bedroht. Die Herrschaft des nomos ist unbedingt. Die quasisakrale Überhöhung des nomos, des Brauches und der Gesetze parasakrale Eigenschaft haben nicht das Mindeste zu tun mit einer Gottgegebenheit von Gesetzen oder der Ordnung, sondern sie ergeben sich semantisch und politisch aus der Unbedingtheit ihrer Geltung. Eine Besonderheit des Politischen bei den Griechen ist die tendenzielle oder totale Identität von Volkssouveränität und Volksherrschaft. Diese Kongruenz war unvermeidlich; denn die Polis war ein machtzentriertes System: Es gab keine neuzeitliche Gewaltenteilung, und es gab keine römische Obstruktion, mittels derer ein Entscheidungsprozess verlangsamt, gestoppt oder umgebogen werden konnte. 26 Stattdessen oblag es immer einem einzigen Organ, verbindliche Entscheide zu treffen. Nicht nur in den demokratisch regierten Städten war das die Volksversammlung, sondern ebenso in den meisten aristokratisch regierten. Die griechische Volkssouveränität ist darum reiner und unverfälschter als die neuzeitliche. Denn Gewaltenteilung ist ein der Souveränität entgegenwirkendes Prinzip; sie begrenzt immer und überall die souveräne Macht, ob diese eine fürstliche ist oder nicht. In jedweder Demokratie ist Gewaltenteilung notwendigerweise eine empfindliche Einschnürung des souveränen Volkswillens. Den Beschluss der Volksversammlung durch eine balancierte Gewaltenteilung auszuhebeln, wäre einer Missachtung des souveränen Volkswillens gleichgekommen. Direkte Demokratien verkraften eine

25

Heraklit, Fragment 70 Gemelli Marciano = B 44 Diels-Kranz.

26

Zum Versuch, während der Arginusendebatte mittels einer graphê paranomon zu obstruieren, siehe

Egon Flaig, Die Versammlungsdemokratie am Nadir. Entscheidungstheoretische Überlegungen zum Arginusenprozess, in: HZ 297, 2013, 27–63.

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Teilung und Balance der Gewalten nur mühsam, Versammlungsdemokratien im Grunde gar nicht. Aber gerade in ihnen kommt die Volkssouveränität zur plastischen und direkten Erscheinung. Daher genügen Herodot zwei Bestimmungen, um die Demokratie zu definieren, nämlich einerseits, dass alle Angelegenheiten dem Volke vorzulegen sind, anderseits, dass der Wille der Mehrheit als Wille des Ganzen gilt. Und mit dieser Definition bestimmt er zugleich und vollständig die Volkssouveränität, denn beides ist identisch. Deswegen konnte Montesquieu über die Demokratie sagen, in ihr sei der Wille des Souveräns selber der Souverän: „La volonté du Souverain est le souverain lui-même.“ 27 Und damit stehen wir auf der einen Seite erneut vor der Frage: Wie weit darf dieser Wille gehen? Und auf der anderen Seite stellt sich die neue Frage: Wie kann es sein, dass der Souverän in seinem Willen aufgeht? Abermals erhebt sich das Drohbild der schrankenlosen Volkssouveränität. An dieser Stelle müssen wir wieder nach vorne springen, ins 19.Jahrhundert und zu seinem politischen Denken in philosophischer und in historiographischer Form. Es war Benjamin Constant, der – auch unter dem Eindruck der konservativen wie der katholisch-konterrevolutionären Kritik an der Revolution – eine systematische Kritik an der Volkssouveränität formulierte: „Die abstrakte Anerkennung der Volkssouveränität erhöht mitnichten die Summe der Freiheiten der Individuen. Und wenn man dieser Souveränität einen Umfang zugesteht über das hinaus, was ihr gebührt, dann kann die Freiheit verloren gehen trotz oder vielleicht gerade wegen dieses Prinzips. […] Dort wo die Unabhängigkeit und die individuelle Existenz beginnen, endet die Jurisdiktion dieser Souveränität. […] Die Souveränität des Volkes ist nicht unbegrenzt; sie ist umschrieben innerhalb der Grenzen, welche die Gerechtigkeit und die Rechte des Einzelnen ihr setzen.“ 28

Die Volkssouveränität darf nicht, wie Rousseau es postulierte, schrankenlos über alles verfügen. Sie endet dort, wo der einzelne sein Recht auf eine unabhängige, eigenständige und ganz eigene Existenz anmeldet. Eine schrankenlose Souveränität mündet direkt in die Despotie – und eine solche wird niemals vom Volk selber ausgeübt, sondern immer von jenen, die vorgeben, in seinem Namen zu sprechen: „Sobald die volonté générale alles vermag, sind die Repräsentanten dieses Willens umso furchterregender, als sie vorgeben, die gefügigen Werkzeuge dieses

27 Montesquieu, De l’ Esprit des Lois, II 2 (erstmals Genf 1748). 28 Constant, Écrits politiques (wie Anm.8), 311, 313, 319.

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angeblichen Willens zu sein, zumal in ihren Händen sich jene Mittel des Zwangs und der Verführung befinden, die nötig sind, um die Manifestationen desselben sicherzustellen – und zwar in dem Sinne, der ihnen zusagt. […] Was kein Tyrann in eigenem Namen zu tun wagte, das legitimieren diese mittels der grenzenlosen Ausdehnung der sozialen Autorität. […] Das Volk, das alles tun kann, ist gefährlich, ja gefährlicher als ein Tyrann; oder vielmehr: es ist gewiss, dass die Tyrannei sich der Rechte bemächtigen wird, die dem Volk zugestanden sind.“ 29

Was später totalitäre Demokratie genannt wird, ist eine Despotie, die im Namen des Volkes ausgeübt wird, indem nämlich die Repräsentanten der volonté générale jene Souveränität, die eigentlich dem Souverän zukommt, in dessen Namen ausüben. Entscheidend ist, dass diese Souveränität unbegrenzt ist, keine Rücksicht auf Herkommen oder auf Recht nimmt und keinerlei Rechte des Einzelnen anerkennt. Constant spricht hier von der Französischen Revolution. Indes, wenn es in der Antike keine geschützte individuelle Freiheit gab, dann war dort auch die Souveränität schrankenlos, egal ob eine Demokratie sich auf sie berief oder eine Oligarchie oder eine Tyrannis. Den historiographischen Beweis für das totale Fehlen individueller Freiheit und für das Funktionieren eines beispiellosen Staatsdespotismus erbrachte Fustel de Coulanges in „La Cité antique“. 30 Er unterstrich, wie der Verfall der religiösen Bindung des Staates dazu führte, dass das „öffentliche Interesse“ wie ein Gott sich alles unterwarf. 31 Die Volksversammlungen wurden zum Instrument dieser Diktatur des „öffentlichen Interesses“, das sich über alles Recht und Herkommen hinwegsetzte. Fustel folgt haargenau der Dialektik, die Benjamin Constant so scharfsinnig gezeichnet hat. In seiner „Griechischen Kulturgeschichte“ übernahm Jacob Burckhardt beim Konstruieren des Polisbildes fast alle wesentlichen Gedanken Fustels. Allerdings verschob er den Akzent seiner Überlegungen zu einem Dilemma, das Fustel nicht bemerkt hatte und das sich auch bei Constant nur vage angedeutet findet. Burckhardt thematisiert die Selbstzerstörung eines Gemeinwesens, das unter Berufung auf das „öffentliche Interesse“ seine eigene Ordnung immer wieder umwälzt. Er fasst das ins Auge, wovor auch Rousseau die tiefste Furcht empfand, nämlich die Neigung zur Revision:

282

29

Ebd.795.

30

Fustel de Coulanges, La Cité antique (wie Anm.13), 265–269.

31

Ebd.377.

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„In der vollendeten Demokratie ist dann die Revisionslust in Permanenz […]. Es ist der Zustand, da nach dem Ausdruck des Aristoteles nicht mehr das Gesetz, sondern die Menge (πλῆθος) herrscht.“ 32

Burckhardt glaubt, die Revisionslust der Demokratie zuschreiben zu können, weil die Volkssouveränität keine Bindung an Traditionen anerkenne, sondern sich nur nach dem öffentlichen Nutzen richte. Nun ist dieser Nutzen erstens radikal momentan, er kann von heute auf morgen wechseln, und er ist zweitens umstritten, denn was die einen für nützlich halten, erscheint den anderen als schädlich. So erklärt sich, dass Burckhardt das politische Geschehen in der Polis zu erklären sucht aus den extremen historischen Vorkommnissen: „Überall war durch die beständigen Volksversammlungen alles momentan und willkürlich geworden; ihre Beschlüsse banden sich an keine früheren Beschlüsse desselben Volkes und durchlöcherten die Gesetzgebungen.“ 33

Was Burckhardt für eine ausweglose Spirale hält, auf welcher die demokratischen Poleis sich ins Abwärts beschleunigten, war eine ideelle Linie, die der rückblickende Historiker zog. Die historische Realität sah anders aus. Die Demokratien der Spätklassik und des Hellenismus glitten mitnichten in jene Sackgasse, in welcher Burckhardt sie selbstzerstörerisch verenden sah. Gewiss, just diese beängstigende Revidierbarkeit des Beschlossenen und der gesetzlich garantierten Ordnung erhebt Aristoteles später zum Prüfstein, der die schlechte ‚Demokratie‘ von der guten ‚Politeia‘ unterscheidet. 34 Doch schon zu seiner Zeit hatten einige Demokratien längst auf die Gefahr reagiert. Um die Gesetze stabil zu halten, veränderten die Athener, nachdem sie die Demokratie 403 restauriert hatten und nachdem die große Rechtskodifikation abgeschlossen war, das Verfahren zum Erlass neuer Gesetze. Die wenigen neuen Gesetze und die vielen Beschlüsse entfließen, prozedural gesehen, nicht mehr demselben Ursprung. 35 Die spätere Demokratie nennt sich ruhmredig eine

32 Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte (wie Anm.15), Bd. 1, 80. 33 Ebd.242 u. 250. Burckhardt betonte, dass die griechische Polis die Bereiche gemeinschaftlicher Verfügung bis zum Geht-nicht-mehr ausdehnte und schließlich bedenkenlos über ihre eigene Ordnung verfügte, so dass dieses unaufhaltsame Verfügen alle Geltung entkräftete. Gegen die opinio communis in der Burckhardt-Forschung ist dieser Sachverhalt herausgearbeitet bei: Egon Flaig, Angeschaute Geschichte. Zu Jacob Burckhardts „Griechische Kulturgeschichte“. Rheinfelden 1987, 98–130; siehe nun auch ders., Radikale Anthroponomie (wie Anm. 17). 34 Aristot. pol. 1269a8–29, 1294a und vor allem 1292a. 35 Siehe dazu Friedemann Quaß, Nomos und Psephisma. Untersuchungen zum griechischen Staatsrecht. München 1971. Zum Nomothesie-Verfahren siehe Jochen Bleicken, Die athenische Demokratie. 2.Aufl. Pa-

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‚Gesetzesherrschaft‘ und bringt in der beschwörenden Formel ebenso die Stabilität ihrer Ordnung zu Bewusstsein wie den Grund dieser Stabilität. Wenn jemand die Geltung des autonom gesetzten Gesetzes anficht, weil der Souverän jederzeit eine andersartige Setzung vornehmen kann, dann wird nicht allein die Geltung überhaupt unterminiert, sondern dann kann die politische Ordnung nicht mehr verbergen, wie maßgeblich das prozedurale Zustandekommen des Gesetzten ist. Der Souverän verschwindet in der Prozedur, durch welche er selber seinen Willen ausspricht. 36 Diese Transsubstantiation fasst Jacob Burckhardt in die schneidige Sentenz: „Das große Regierungsmittel aber, die Quelle nicht bloß der einzelnen Maßregeln, sondern des Rechts, der eigentliche Souverän ist die allgemeine Abstimmung.“ 37 Die Aussage, der eigentliche Souverän sei das Verfahren selber, soll entlarven: Der Wille des Souveräns ist letztlich nichts weiter als ein momentanes Stimmenmehr. Wird die pathetische Formel ‚Die Polis hat beschlossen‘ in die Mangel genommen, entschlüpft ihr der Tatbestand, den sie kaschiert und den Burckhardt dermaßen missbilligt: „Und für all dies genügte eine momentane Stimmenmehrheit.“ 38 Es war nicht das Volk, es war die Mehrheit. Wenn man den Satz Herodots, wonach im Mehr das Ganze sei, beiseiteschiebt, dann lässt sich das Ganze in feindliche Teile zerlegen, so wie der Diskurs des ‚Alten Oligarchen‘ es vormachte. Und dann ist jede Mehrheitsentscheidung ein Sieg über die gegnerische Minderheit. Aus solchem Zunder lässt sich gefährliches Feuer schlagen. Leugnet man ein gemeinsames Wohl, weil die überstimmte Minderheit mit der Mehrheit fast nichts oder zu wenig gemeinsam hat, dann entlegitimiert man jegliche Demokratie augenblicklich und vollständig. Antidemokratische Diskurse, sowohl die aristokratischen wie die anarchischen, pflegten diese empfindliche Stelle anzuvisieren. Um sie soll es nun gehen. Wir wenden uns nun an die Reflexionen griechischer Zeitgenossen zum Thema ‚Gesetz‘, zu dessen Ursprung, Umfang und Geltung. Die Kritik an der Momentaneität des Volkswillens, welcher für sich reklamiert, das Gesetz jederzeit suspendieren zu können und damit dem Recht seine Zuverlässigkeit

derborn 1994, 183–190; Mogens Herman Hansen, Die athenische Demokratie im Zeitalter des Demosthenes. Struktur, Prinzipien und Selbstverständnis. Berlin 1995, 167–183. 36 Rousseau, Du Contrat Social, II, 8 (erstmals Amsterdam 1762).

284

37

Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte (wie Anm.15), Bd. 1, 242.

38

Siehe ebd.243.

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entzieht, zieht logisch die Kritik an der Revision von Beschlüssen nach sich, insofern die Revidierbarkeit und die Neigung, von ihr Gebrauch zu machen, als Quelle von politischem Übel benennbar wird. Diese beiden Kritiken ließen sich noch überbieten, nämlich erstens durch eine extreme Infragestellung des Gesetzes überhaupt, zweitens durch eine radikale Kritik an der Gesetzgebung. Die extreme Infragestellung lehnt das Gesetz überhaupt ab. Sie stellt damit den schwersten Angriff auf das Fundament der griechischen Polis dar und negiert jedwede Demokratie. Dabei sind in der Geschichte des politischen Denkens der Griechen zwei Varianten aufgetaucht, die einander diametral entgegenstehen: erstens die platonische Herrschaft der Philosophen, zweitens die kallikleische Herrschaft der Stärkeren.

III. Extreme Kritik am Gesetz nach der Version von Platons „Politeia“ In seiner „Politeia“ konstruiert Platon einen Staat, der von keiner Stasis erfasst werden soll und keine inneren Konflikte mehr kennt. Entgegen der Annahme des Protagoras geht Platon davon aus, dass die seelisch-geistigen Eigenschaften der Menschen in wesentlicher Hinsicht nicht gleich seien. Folgt man dem höchsten Prinzip der Gerechtigkeit – ‚Jedem das Seine‘ – beim Staatsaufbau, dann muss folglich der homogene Bürgerverband aufgelöst werden; er zerfällt gemäß dem Gerechtigkeitsprinzip in drei funktionale Segmente, nämlich die Klasse der arbeitenden und Handel treibenden ‚Bürger‘, die Klasse der Krieger und die kleine Gruppe der ‚Wächter‘, also der Philosophen. Letztere sollen herrschen. Diese Idealpolis kennt also keinen Bürgerverband mehr. Obendrein gibt es keine politischen Organe mehr, weder Magistrate noch einen Rat oder eine Volksversammlung noch Gerichte. Die Philosophen herrschen ohne jegliche institutionelle Kontrolle; sie selber benötigen kein Organ, innerhalb dessen sie kollektive Beschlüsse fassen könnten. Platon ersinnt also die restlose Abschaffung des Politischen als eines eigenen Raumes sowie der Politik überhaupt. 39 Die Philosophen verfügen über ein absolutes Wissen (477a). Dieser erkenntnistheoretische Optimismus ist systematisch notwendig; denn mit einem absoluten Wissen sind die Philosophen imstande, Entscheidungen zu treffen, 39 Egon Flaig, Weisheit und Befehl. Das Ende des Politischen in Platons „Politeia“, in: Saeculum 45, 1994, 37–70.

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ohne sich beraten zu müssen, weil sie sich unentwegt in einem vorgängig gesicherten Konsens befinden. Desgleichen wird das Gesetz überflüssig. Ohnehin hat Platon schon im „Politikos“ die Unzulänglichkeit von Gesetzen erörtert: Normative Gesetze vermögen nicht die Einzelfälle zu regeln (294a); und jene Maxime, an die auch Kleon sich klammerte, wonach kein Bürger weiser sein solle als die Gesetze, bedenkt dieser Dialog mit Spott. Die einzigen Gesetze, derer die platonische Politeia bedarf, regeln die Erziehung und die Selektion der Krieger und der Wächter (425e). Was tritt an die Stelle des Gesetzes? Zum einen die Sitte, zumindest was den Umgang der Wächter und der Krieger untereinander angeht, zum anderen der Befehl. Die höhere Weisheit ermächtigt zum Befehlen; die Krieger dürfen den ökonomisch Tätigen befehlen, und die Philosophen befehlen allen anderen. 40 Diese vollständige Negation der Prinzipien der griechischen Polis soll freilich dazu dienen, allen Unfrieden und alle Konflikte aus der menschlichen Gemeinschaft zu beseitigen. Eine politische Gemeinschaft bleibt diese Idealpolis insofern, als sie sich nach außen scharf abgrenzt und kriegsfähig ist. Ihr Zusammenhalt ist letztendlich der höchste politische Zweck. Ganz anders sieht die kallikleische Variante aus.

IV. Extreme Kritik am Gesetz nach der Version des

kallikleischen ‚Rechts der Natur‘ 41 In dem Dialog „Gorgias“ verficht Sokrates die These, Unrecht zu leiden sei besser als Unrecht tun, denn es schade sowohl dem Einzelnen wie der Gemeinschaft weniger. Kallikles greift in diese Diskussion ein, indem er Sokrates beschuldigt, mit einem Trick seine Diskussionen zu gewinnen. Sokrates vermenge nämlich ständig zwei unterschiedliche Sachverhalte, nämlich Natur und Gesetz, doch diese beiden stünden „sich größtenteils entgegen, die Natur und das Gesetz“ (482e). Und er verblüfft mit einer philosophischen Innovation: Er setzt Natur und menschlichen Brauch antithetisch gegenüber. Diesen Gegensatz von Gesetz und Natur hatte bereits Hippias formuliert. Im platonischen Dialog „Protagoras“ bezeichnet er die im Hause das Kallias anwesenden Diskutanten als Bürger einer gemeinsamen intellek-

286

40

Ebd.56f.

41

Siehe zum Folgenden auch den Aufsatz von Ivan Jordović in diesem Band.

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tuellen Welt, obwohl das Gesetz sie voneinander absondert, weil sie ja Bürger unterschiedlicher Poleis sind: „Das Gesetz ist aber ein Tyrann der Menschen; es erzwingt vieles (mit Gewalt: βιάζεται) gegen die Natur.“ 42 Wo immer sich weise Männer versammeln, entsteht eine Art Intellektuellenrepublik, so dass die einzelnen ‚Sophisten‘ die Zugehörigkeit zu ihrer heimatlichen Polis suspendieren – zumindest für die Dauer einer Diskussion –, denn sie hätten mehr miteinander gemeinsam als mit den Bürgern ihrer Stadt. Wenn Hippias hier das Gesetz einen Tyrannen nennt, dann nicht, weil er der Polis abspräche, Gesetze zu gebrauchen, sondern weil die politische Identität kein Hindernis für den geistigen Austausch sein darf. Er überträgt also das Modell der Agonistik auf die Diskussion zwischen Intellektuellen: So wie Athleten unterschiedlichster Poleis ihre Kräfte messen unter Regeln, die, von keiner Polis gesetzt, allein aus den Zwecken der Agonistik entspringen, so sollen die weisen Männer ihre Dispute führen. Das Tyrannische am Nomos der Polis bezieht sich darauf, dass dieser die natürliche Zusammengehörigkeit der Weisen verdunkelt. Mit Bedacht verändert Hippias den berühmten Vers von Pindar und macht aus dem ‚Basileus‘ einen ‚Tyrannos‘. Indes, er wählt eine thetische Form, eine kategorische Aussage. Und kategorische Aussagen übersteigen immer den Kontext, in dem sie geäußert wurden; und damit übersteigen sie immer das konkret Gemeinte, meistens gegen die Absicht des Sprechers. Die Opposition von Gesetz und Natur klingt also radikaler, als Hippias sie meint. Aber als kategorische Aussage ist sie zitierfähig, also dekontextualisierbar. Kallikles kann daher ohne viel Zutun die Opposition verschärfen: Das menschliche Gesetz ist der Natur dermaßen entgegengesetzt, dass es diese permanent vergewaltigt. In diesem Sinne behauptet Kallikles, das von Natur aus Üblere sei auch das Schändlichere. Da nun das Unrechtleiden zweifellos ein größeres Übel ist als das Unrechttun, ist es auch schändlicher, und zwar von Natur aus. Wer lieber Unrecht leidet, vermag sich nicht zu wehren; somit ist er ein niedriger Mensch, eine Sklavenseele; keiner will sein Freund sein, und er verdient, wie ein Hund behandelt zu werden. Kallikles sieht das Problem von Unrechttun und Unrechtleiden völlig unter der Perspektive von Sieg und Niederlage, Ehrbehauptung und Ehrverlust. Es ist eine egozentrische Perspektive, innerhalb derer die soziale Einbettung reduziert wird auf

42 Plat. Prot. 337d.

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eine einzige Dimension, nämlich auf das Bemühen, den eigenen Wert als Partner in Bündnissen zu steigern. Das ist einleuchtend, wenn man den methodologischen Individualismus radikalisiert und die Gesellschaft überhaupt in lauter Beziehungen zwischen Akteuren auflöst. Problematisch wird es, wenn die sozialen Folgen des Handelns ins Blickfeld kommen. Daher fügt Kallikles hinzu, erst das menschliche Gesetz mache das Unrechttun schändlicher als das Unrechtleiden. Wozu sind dann Gesetze gut? Seiner Ansicht nach (483b) sind die, die Gesetze geben, „die Schwachen und der große Haufe. In Beziehung auf sich selbst also und das was ihnen nutzt, bestimmen sie die Gesetze und das Löbliche, was gelobt, das Tadelhafte, was getadelt werden soll.“ Die Schwächlinge und die Masse machen sowohl die Gesetze als auch die Moral, und beides machen sie zu ihrem eigenen Nutzen. Kallikles konzipiert Gesetze wie Moral fundamental utilitaristisch. Diese dienen nicht der Polis, sondern den Schwachen, und das sind die weitaus Meisten. Er greift ein Argument auf, das bereits in einer radikalen antidemokratischen Schrift der 430er- oder 420er-Jahre aufgetaucht ist (Pseudo-Xenophon, „Staat der Athener“). Der ‚Alte Oligarch‘ wiederholt antidemokratische Vorwürfe, die schon in Herodots persischer Verfassungsdebatte auftauchen – allerdings mit einer bemerkenswerten Variante: Das Volk sei leider nicht ganz dumm; in einem Punkt sei es geradezu hochintelligent, nämlich beim blitzschnellen Erkennen des eigenen Nutzens und bei der instinktsicheren Verteidigung des eigenen Vorteils (Xen. Ath. pol. 1,14): „Die Athener […] hassen die Edleren, denn sie erkennen, dass der Herrschende notwendig gehasst wird vom Beherrschten.“ Dieses Axiom untersagt es, die Polis als Gemeinschaft von Bürgern zu begreifen. Vielmehr stehen sich in jeder Polis die Armen und die Vornehmen als eigene Verbände gegenüber, die einander hassen. Damit verschiebt sich die Trennlinie zwischen ‚Feind‘ und ‚Freund‘. Die Opposition von Feind und Freund ist allerdings die kardinale Konstituente der politischen Gemeinschaft. Mit Bedacht kontrastiert Aischylos in den Segensgesängen seiner „Eumeniden“ die Eintracht der Bürger im Innern der Polis mit der Feindschaft des ganzen Bürgerverbandes gegen äußere Gegner. 43 Das ist im klassischen politischen Denken immer gültig geblieben: Die Front zwischen Feind und Freund soll kongruent sein mit der Grenze zwischen Innen und Außen. Doch der ‚Alte Oligarch‘ und auch Kallikles definieren anders; sie verlegen 43

Christian Meier, Aischylos’ Eumeniden und das Aufkommen des Politischen, in: ders., Die Entstehung

des Politischen bei den Griechen. Frankfurt am Main 1980, 144–246.

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die Trennlinie zwischen Freund und Feind mitten in die Polis. Damit negiert der antidemokratische Diskurs jenes Polisideal, welches Aischylos und Sophokles hochhielten. Der antidemokratische Diskurs füllt sich mit gemeinschaftsfeindlichem Inhalt und löscht den gemeinschaftsbezogenen Gehalt von nomos und dike aus. Wenn der Begriff des Gemeinwohls und des allgemeinen Nutzens Phantomkonzepte sind, bleibt nur noch der Nutzen von partikularen Gruppen oder Individuen übrig. Dann vermag eine Verfassung nicht mehr der Bürgerschaft als Ganzer zu dienen, vielmehr wird die politische Ordnung zur Organisation, mittels derer die Herrschenden die Beherrschten niederhalten: Die Schwächlinge in ihrer Majorität verfertigen die Gesetze zum eigenen Nutzen, und so fabrizieren sie auch die Moral. Nach Kallikles bezwecken die Gesetze, Handlungsmöglichkeiten einzuschränken. Seine Überlegung deckt sich exakt mit der Ansicht, die der radikale Utilitarismus gegen das Gesetz überhaupt vorbringt: „Every Law is contrary to Liberty“, sagt Jeremy Bentham. 44 Hier berühren sich utilitaristischer Liberalismus und anarchistische Gesetzesfeindlichkeit; und der Konnex zwischen beiden ist bis in die neueste politische Philosophie hinein zu spüren. Freilich schränkt das Gesetz nur die Handlungsmöglichkeiten des Stärkeren ein, wohingegen der Schwächere diesen limitierenden Effekt des Gesetzes als Schutz wahrnimmt. Ohne dieses Einschränken hätten die Stärkeren sofort viel mehr als die Schwächeren. Das Gesetz erzwingt also eine Gleichheit auf Kosten der Stärkeren. Damit zertrümmert Kallikles das Ideal der griechischen Bürgerverbände schlechthin, nämlich die Rechtsgleichheit (Isonomie) und a fortiori die politische Gleichheit (483c): „Denn sie selbst, meine ich, sind ganz zufrieden, wenn sie nur Gleiches erhalten, da sie die Schlechteren sind.“ Dieser Angriff auf die Gleichheit entbehrt nicht einer gewissen Raffinesse: Gleichheit ist die Parole, mit der die Schwächeren scheinbar an die Solidarität unter den Bürgern appellieren; in Wahrheit aber bekommen sie unter dieser Parole viel mehr, als ihnen zusteht. Die Schwachen dürfen auf keinen Fall das Gleichheitsprinzip in Frage stellen, andernfalls zerbräche zwischen ihnen selber die Solidarität; und dann könnten sie die Starken nicht mehr niederhalten. Kallikles verschärft die Opposition Gesetz – Natur (nomos – physis), indem er der Natur selber eine Gesetzeskraft zuspricht: In Wahrheit kenne auch die Natur ein Recht – aber dieses natürliche Recht sei dem menschlichen Recht entgegengesetzt 44 Jeremy Bentham, Principles of the Civil Code (1786), in: ders., The Theory of Legislation. Ed. by C. K. Ogden. London 1931, 94.

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(483e); das natürliche Recht habe ewigen Bestand, das menschliche Gesetz sei willkürlich gesetzt, daher widernatürlich. Freilich ist dieses „Recht der Natur“ nichts anderes als das „Recht des Stärkeren“. Wenn römische Juristen später vom ius naturale – vom Naturrecht – sprechen, dann meinen sie nicht das, was Kallikles so bezeichnet. Das römische Recht, angelehnt an die Konzepte der Stoa, gab dem Begriff einen völlig neuen Inhalt, welcher Jahrhunderte später in der Rezeption durch christliche Minoritäten eine unvorhergesehene Dynamik entfaltete. 45 Bei Kallikles wird wohl erstmalig die Natur zur begründungsliefernden Instanz. 46 Denn die Natur will, dass der Bessere über den Schlechteren herrscht, wie immer dieser Wille auch zu denken sei. Kallikles leugnet die natürliche Gleichheit aller Menschen. Er radikalisiert eine Auffassung, die sich zwar auch bei Pindar und bei Herodot findet, die aber nur eine unter mehreren Ansichten darstellte. 47 Denn gleichzeitig vertraten Andere, wie etwa Aischylos oder Protagoras, just die natürliche Gleichheit aller Menschen. Das Axiom der natürlichen Ungleichheit entlässt aus Kallikles Munde Aussagen, die im 19.Jahrhundert an Kurswert gewannen. Kallikles erblickt in den pädagogischen Institutionen und Praktiken vor allem den enormen politischen Aufwand, um den Stärkeren einzubläuen, es sei unmoralisch mehr haben zu wollen als die Schwachen (483c): Gesetze und Moral impfen den Menschen eine falsche Vorstellung ein, ja sie betreiben quasi Gehirnwäsche. Den Menschen wird eingetrichtert, wer mehr haben wolle als der andere, begehe ein Unrecht. Indes, der Begriff des Unrechttuns sei ein reines Phantom. Wenn der Stärkere seiner Natur gehorche, handele er gemäß dem Recht der Natur und könne folglich gar kein Unrecht begehen. Das Unrecht im gängigen Sinne entstehe überhaupt erst, wenn man auf soziale Interaktionen durch die juridico-moralische Brille blicke. So gesehen bezwecken Gesetze und Sitte, die Starken moralisch zu terrorisieren und juristisch einzuschüchtern. Die auf Gleichheit angelegte Gesellschaft kann demnach nur überleben, indem

45

Vgl. Egon Flaig, Abolition und Weltgeschichte. Geschichtstheoretische Überlegungen zu einer welt-

geschichtlichen Besonderheit, in: Elisabeth Herrmann-Otto (Hrsg.), Sklaverei und Zwangsarbeit zwischen Akzeptanz und Widerstand. Hildesheim 2011, 178–244, sowie Kyle Harper, Christianity and the Roots of Human Dignity in Late Antiquity, in: Timothy S. Shah/Allen D. Hertzke (Eds.), Christianity and Freedom. Vol.1. Cambridge 2017, 123–148. 46

Felix Heinimann, Nomos und Physis. Herkunft und Bedeutung einer Antithese im griechischen Den-

ken des 5.Jahrhunderts. Basel 1945, 146, 152, 167. 47

Mirko Kirschkowski, Norm und Identität. Untersuchungen zur Konstruktion von Wirklichkeit in den

Dichtungen Pindars. Ungedr. Diss. phil. Freiburg 1998, 224–270.

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sie die Kräftigsten von Kindheit an bändigt. Diesen wird buchstäblich Unrecht getan, weil das einzige sinnvoll zu denkende Verbrechen dasjenige ist, dem Recht der Natur entgegenzuhandeln. Freilich gibt Kallikles nicht viel auf diese Bändigung der Natur durch moralische Erziehung. Denn diese geht an der Natur soweit vorbei wie magische Formeln, mit denen Quacksalber Krankheiten zu heilen vorgeben. Wer die richtige Natur in sich trägt, der wird eines Tages die Ketten der Moral sprengen und sich befreien von all diesen sinnwidrigen Einschränkungen, von diesen „widernatürlichen Gesetzen“ (νόμους τοὺς παρὰ φύσιν), mit denen die auf Gleichheit angelegten Ordnungen ihre Individuen knechten (484a–b). Wir bekommen einen invertierten Begriff der Revolte vorgeführt: Nicht die Unterdrückten und Geknechteten erheben sich, sondern die gekettete Natur des Starken begehrt auf. Dieser Gedanke wird von Nietzsche anders geformt: Nach ihm perpetuierte sich die kulturelle Katastrophe in den vergangenen 2000 Jahren deswegen, weil das Christentum einen Käfig aus Symbolen, moralischen Vorschriften, religiöser Einschüchterung und gerichtlichen Sanktionen errichtet hat, in welchem die Starken krank werden und ihre Kraft verlieren. Dieses eherne Gehäuse ist nur zu sprengen durch eine Umwertung der Werte. Nietzsches „Genealogie der Moral“ ist in vieler Hinsicht eine Antwort auf die kallikleische Problemstellung. 48 Dessen Ideen erhielten im 19.Jahrhundert plötzlich Auftrieb, als nämlich der Anarchismus sich programmatisch formte und seine Prinzipien verkündete. Eine zentrale Rolle spielten dabei Max Stirner (d. i. Kaspar Schmidt, 1806–1856) und sein Werk „Der Einzige und sein Eigentum“ (1845). Stirner verwarf sowohl den Begriff der Volkssouveränität wie den des ‚gemeinsamen Guten‘, also des Gemeinwohls, und hielt moralische Regeln wie staatliche Gesetze für pure Unterdrückung der Freiheit. Er war der radikalste Protagonist des bedingungslosen Rechts jedes Individuums, zu tun was es wolle: „Was Du zu sein die Macht hast, dazu hast Du das Recht. Ich leite alles Recht und alle Berechtigung aus MIR her. Ich bin zu allem berechtigt, dessen ICH mächtig bin. Ich bin nur zu Dem nicht berechtigt, was ICH nicht mit freiem Mute tue, d.h. wozu ICH Mich nicht berechtige. ICH entscheide, ob es in Mir das RECHTE ist; außer Mir gibt es kein Recht. Ist es Mir recht, so ist es recht. […]

48 A. Menzel, Kallikles. Eine Studie zur Geschichte der Lehre vom Recht des Stärkeren, in: Zeitschrift für Öffentliches Recht 3, 1922/23, 1–84; Peter von Kloch-Kornitz, Der Gorgias Platons und die Philosophie Friedrich Nietzsches, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 17, 1963, 586–603.

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So macht es Jeder, der Sich zu schätzen weiß, Jeder in dem Grade als er Egoist ist, denn Gewalt geht vor Recht, und zwar – mit vollem Rechte.“ 49

Der erste Satz des Zitats ist kongruent mit der Hobbes’schen Definition des Naturzustandes, in welchem der Mensch dem Menschen ein Wolf ist und der Krieg aller gegen alle tobt. Stirners Gedanken zirkulierten in weiten Kreisen Mitteleuropas. Richard Wagner, Michail Bakunin und Friedrich Nietzsche kannten sie. Karl Marx und Friedrich Engels hielten es für nötig, der Auseinandersetzung mit Stirner mehr als 330 Seiten (von 522) ihres Riesenwerkes „Die deutsche Ideologie“ zu widmen. Sie hatten dazu guten Grund. Denn einerseits entwarfen sie selber den Kommunismus als einen gesellschaftlichen Zustand ohne Staat, anderseits fürchteten sie eine radikale Asozialität, die den Hobbes’schen Naturzustand repristiniert. Die Faszination, die dieses Denken im 19. und im 20.Jahrhundert erregte, konnte in der Antike nicht aufkommen. Sokrates brachte alle maßgeblichen Argumente sofort in Stellung: Wer nach den Maximen des Kallikles leben wollte, müsste das Leben eines Räubers führen. Er könnte weder mit den Menschen befreundet sein noch mit den Göttern, denn die einen wie die anderen bedürfen der Gemeinschaft; aber mit einem solchen zügellosen Menschen könne es keine Gemeinschaft geben und keine Freundschaft. Und solch pure Asozialität könne mit keiner Polis koexistieren. 50 Bezeichnenderweise war die gesamte politische Philosophie der Antike immun gegen einen derartigen Anarchismus. Die Denker der Antike wussten um den bürgerkriegshaltigen Charakter der Gewalt und des ‚Rechtes‘ des Stärkeren und ließen diesen Aspekt bei keiner Überlegung aus. Für Kallikles ist der nomos zwangsläufig gewaltsam, ob als nomos der Natur oder als gesetzter nomos. Und dann ist die Gewalt nicht nur der Vater aller Dinge, sondern auch ihr permanenter König.

V. Individualistische Entlegitimierung der Gesetzgebung Die beiden extremen antinomistischen Standpunkte eliminieren das Gesetz überhaupt. In Platons Idealstaat soll das Gesetz nicht mehr herrschen, damit die politische Gemeinschaft eine maximale Stabilität erlangen kann, bei Kallikles hin-

292

49

Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum (1845). Stuttgart 1981, 204–219, bes. 208.

50

Plat. Gorg. 507d–509d.

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gegen treibt die Gesetzlosigkeit in die Auflösung jedweder menschlicher Sozialität überhaupt. Anders die radikale Gesetzeskritik. Sie lässt das Gesetz gelten unter der Bedingung, dass der Einzelne ihm zugestimmt hat. Daher kritisiert sie das Verfahren der Gesetzgebung. Die Handhabe hierzu bietet die Opposition von Überzeugen (peitho) und Gewalt (bia). Diese Opposition nimmt im politischen Denken der Griechen einen zentralen Platz ein. Wer institutionalisierte Gerechtigkeit und zivische Gewaltlosigkeit befürwortete, operierte gerne mit diesem Gegensatz. Die Tragödiendichter werden nicht müde, die Kraft der peitho zu rühmen, der es gelinge, Zerstrittene wieder zusammenzuführen, verstockte Gemüter für Argumente zu öffnen und Gemeinschaft herzustellen. 51 Indes, der Gegensatz von peitho und bia ließ sich dermaßen zuspitzen, dass man ihn gegen alles institutionalisierte Entscheiden kehren konnte. Jegliches kollektive Entscheiden wird seiner Legitimation beraubt, wenn man das Zustimmen semantisch radikalisiert und tendenziell verabsolutiert. Das gelingt mittels eines binären Schematismus, welcher als Gegenbegriff zum ‚Zustimmen‘ nur ‚Zwang‘/‚Gewalt‘ zulässt. Nun ist der Weg, die Zustimmung anderer zu erreichen, das Überzeugen. Tatsächlich wurde im Diskurs über Macht und Herrschaft im 5.Jahrhundert die Opposition von Überzeugen und Gewalt zu einer zentralen Kategorie. Einige Diskurse der Klassik beklemmen nicht zuletzt deswegen, weil Herrschaft meist nicht von der Zustimmung her gedacht wird, sondern von der Überlegenheit: Überlegen ist, wer über stärkere Machtmittel gebietet; eines davon ist die Gewalt; diese ist das äußerste Mittel, folglich dasjenige, was am seltensten zum Einsatz kommt. Eine nicht sehr breite, aber lautstarke Strömung des griechischen Denkens bestimmte Herrschaft als bloßes Machtverhältnis, vor allem während des 5.Jahrhunderts, wie am ‚Alten Oligarchen‘ zu sehen war. Doch unter allen Machtmitteln zieht gerade das äußerste und letzte obsessiv die diskursive Aufmerksamkeit an. Ein zur Zuspitzung neigendes Denken reduziert das Herrschen auf die Ausübung von Gewalt. 52 Unter dieser Prämisse kann man die Opposition peitho/bia

51 Christine Rohweder, Macht und Gedeihen. Eine politische Interpretation der Hiketiden des Aischylos. Frankfurt am Main 1998; Harvey Yunis, Taming Democracy. Models of Political Rhetoric in Classical Athens. Ithaca/London 1996. 52 Kai Trampedach, Die Tyrannis als Wunsch- und Schreckbild, in: Bernd Seidensticker/Martin Vöhler (Hrsg.), Gewalt und Ästhetik. Zur Gewalt und ihrer Darstellung in der griechischen Klassik. Berlin/New

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bis zum Kollaps der institutionellen Ordnung vorantreiben, wie das folgende Beispiel zeigt. Xenophon erzählt in seinen „Memorabilien“ einen fiktiven Dialog zwischen Perikles und seinem Neffen Alkibiades. 53 Alkibiades nötigt seinen Onkel zum Eingeständnis, dass jegliches Gesetz auf Gewalt beruhe. Seine Argumentation folgt einer Taktik, die zu Beginn des 4.Jahrhunderts längst üblich geworden war: „‚Sage mir, Perikles […], könntest Du mich wohl darüber belehren, was ein Gesetz ist?‘ ‚Recht gern.‘ ‚Bei den Göttern, so belehre mich also.‘ […] (42) ‚Da verlangst du nichts Schwieriges, Alkibiades […], wenn Du wissen willst, was ein Gesetz ist. Denn alles ist ein Gesetz, was das versammelte Volk nach vorheriger Prüfung schriftlich festlegt, um zu bestimmen, was man tun soll und was nicht.‘ […] (43) ‚Wenn nun aber nicht das Volk, sondern wie dort, wo eine Oligarchie besteht, die Wenigen zusammenkommen und schriftlich festlegen, was man tun muß, was ist das?‘ – ‚Alles was die herrschende Instanz einer Polis an Geboten für das Handeln schriftlich festlegt, das gilt als Gesetz.‘ – ‚Und wenn nun ein Tyrann über den Staat herrscht und für die Bürger schriftlich festlegt, was man tun muß, ist auch das ein Gesetz?‘ – „Auch was ein herrschender Tyrann schriftlich festlegt […], das wird ein Gesetz genannt.‘ – (44) ‚Gewalt jedoch und Gesetzlosigkeit […], was ist das, Perikles? Nicht wahr, wenn der Stärkere den Schwächeren nicht überzeugt hat, sondern ihn vielmehr mit Gewalt zwingt, das zu tun, was ihm gutdünkt?‘ ‚Das scheint mir so zu sein.‘ […] ‚Soweit demnach ein Tyrann die Bürger nicht überzeugt hat und ihnen zwangsweise Vorschriften macht für ihr Tun, ist das Gesetzlosigkeit?‘ – „So scheint es mir zu sein […]; denn ich nehme es zurück, daß das ein Gesetz ist, was ein Tyrann vorschreibt, ohne überzeugt zu haben.‘ – (45) ‚Was aber die Wenigen vorschreiben, ohne das Volk überzeugt zu haben, sondern weil sie eben die Herrschaft ausüben, sollen wir das Gewalt nennen oder nicht?‘ – ‚Alles […], was jemand einen anderen zu tun zwingt, ohne ihn überzeugt zu haben, mag er es nun schriftlich festlegen oder nicht, scheint mir mehr Gewalt als Gesetz zu sein.‘ – ‚Und was wohl die versammelte Menge, wenn es die Begüterten beherrscht, vorschreibt, ohne überzeugt zu haben, sollte das denn mehr Gewalt oder Gesetz sein?‘ (46) ‚Gar sehr, Alkibiades, […] waren auch wir damals in deinem Alter groß in solchen Spitzfindigkeiten.‘“ 54

York 2006, 3–27, sowie Ulrich Gotter, Cultural Differences and Cross-Cultural Contact – The Semantics of Power in Greece and Rome, in: Harvard Studies in Classical Philology 104, 2009, 179–230. 53 Xen. mem. 1,2,40–46. 54

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Xen. mem. 1,2,41–46 (Übersetzung nach P. Jaerisch).

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Alkibiades spielt die Zustimmung der Gesetzesunterworfenen gegen den Begriff des Gesetzes aus. Falls man alles, was die herrschende Instanz (τὸ κρατοῦν τῆς πόλεως) festsetzt, einen nomos nennte, dann ließe man das Moment der Zustimmung außer Acht und damit die Notwendigkeit des Überzeugens. Wenn der Stärkere den Schwächeren nicht überzeugt (μὴ πείσας), etwas Bestimmtes zu tun, sondern ihn dazu zwingt (ἀλλὰ βιασάμενος), dann sei dies Gewalt und anomia (Gesetzlosigkeit). Alkibiades operiert also mit zwei Oppositionspaaren; zum einen damit, dass bia und nomos sich gegenseitig ausschließen, also Gewalt stets anomia bedeute, zum anderen mit der Opposition von bia und peitho. Dieser These stimmt Perikles zu. Daraufhin (45) wird er genötigt, der Reihe nach alle diejenigen Fälle als anomia – Gewaltherrschaft – zu bezeichnen, bei denen Gruppen oder Institutionen innerhalb der Polis andere dazu nötigen, etwas zu tun, ohne sie überzeugt zu haben (Πάντα μοι δοκεῖ […] ὅσα τις μὴ πείσας ἀναγκάζει τινὰ ποιεῖν […] βία μᾶλλον ἢ νόμος εἶναι). Genüsslich weist nun Alkibiades auf, dass die „versammelte Menge“ oder auch „die ganze Mehrheit“ (τὸ πᾶν πλῆθος) mit dem Akt des kollektiven Beschließens über die nicht überzeugten Wenigeren herrsche und folglich dieser Minderheit Gewalt antue. Denn zur Abstimmung kommt es in der Volksversammlung ja deswegen, weil man die Minderheit nicht hat überzeugen können. Perikles ist verärgert. Zwar hätte er dagegen einwenden können, dass die Gesamtheit der Bürger gar nicht beteiligt ist, wenn ein Tyrann oder ein Adelsrat Gesetze erlassen, wohingegen in der Volksversammlung auch die Begüterten sitzen und berechtigt sind, mit ihrer Rede und ihrer Stimme am Entscheid mitzuwirken. Doch das hätte in diesem Wortgefecht keinen Punkt mehr gebracht. Der Neffe hatte die Erörterung bereits auf eine Ebene gehoben, auf der Partizipation oder Nicht-Partizipation unerheblich sind. 55 Die Brisanz dieses Textes liegt darin, dass jedwede auch mich betreffende Entscheidung, der ich nicht zugestimmt habe, ein Akt der Gewalt gegen mich ist. Damit entlarvt sich die Demokratie mit ihren Mehrheitsentscheidungen als Gewaltherrschaft, denn sie agiert auf Grund von Beschlüssen, die zustande kommen durch Abstimmungen, in denen die Mehrheit den Ausschlag gibt. Die Lehre des ‚Alten Oligarchen‘, jenes berüchtigten antidemokratischen Pamphletes, gelangt hier zum quasimathematischen Abschluss. Wenn Alkibiades Recht behält, dann steht jegliche organisierte menschliche Gesellschaft unter der Herrschaft der Gewalt. Wenn das 55 Egon Flaig, Gewalt als präsente und als diskursive Obsession in der griechischen Klassik, in: Seidensticker/Vöhler (Hrsg.), Gewalt und Ästhetik (wie Anm.52), 29–56, hier: 51–55.

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Kriterium für die Akzeptabilität eines Gesetzes die explizite Zustimmung jedes Bürgers ist, dann kann nur ein einstimmig beschlossenes Gesetz überhaupt Gesetzesqualität haben. Und auch diese Qualität entweicht, sobald ein einziger seine Zustimmung zurücknimmt. Damit ist menschliches Zusammenleben nur noch möglich bei permanentem Konsens von selbstermächtigten Individuen. Strapaziert man die Opposition bia/peitho, dann lässt sich logisch die Ubiquität der Gewalt behaupten und die Sphäre institutionalisierter kollektiver Entscheidung restlos entlegitimieren. Da Alkibiades kein Gesetz anerkennt, dem er nicht selber zugestimmt hat, ist er letztlich sein eigener Gesetzgeber. Was das bedeutet, hat Sophokles in jenem Chorlied angedeutet, in dem der Chor Antigone beschuldigt, sie sterbe einsam, weil sie autonomos ist – weil sie sich selbst das Gesetz gibt. Der Anarchismus von Max Stirner schickt im xenophontischen Text seine Prämissen voraus, und mit ihm meldet sich sein Zwillingsbruder, jener besondere Liberalismus, der in keiner republikanischen Tradition mehr steht. Dieser vereinseitigt das Prinzip der individuellen Freiheit, welche Aristoteles in die Formel gefasst hat: ‚leben wie man will‘. Ein Gemeinwesen darf nur so weit handlungsfähig sein, bis wohin die individuelle Zustimmung reicht. Ein Gemeinwohl kann es im radikalen ökonomistischen Kontraktualismus ja a priori nicht geben. Robert Nozick und James Buchanan haben die äußersten Konsequenzen aus diesem Axiom gezogen; vorbereitet haben diesen Liberalismus ohne Republik sowohl der Ökonom Josef Schumpeter als auch der radikale Utilitarismus von Jeremy Bentham. 56 Vertragstheoretisch ist er eine widersinnige Doktrin. Dennoch findet er immer wieder Anhänger. Der gemeinsame Ausgangspunkt beider Zwillingsideologien führt zu parallelen Konsequenzen. Denn dieser Anarchismus reaktiviert die Gewalt und das Recht des Stärkeren, wie Kallikles im platonischen „Gorgias“ aufweist: Die Überzahl ist stärker; darum gilt ihre Ordnung, so lange wie sie die Stärkeren sind. Ist man soweit gegangen, lässt sich das Politische nur noch rekonstituieren, indem man eine Herrschaftsbefugnis einführt, die aller menschlichen Verfügung entzogen bleibt. Dafür kann es aber nur zwei Quellen geben, nämlich entweder die sogenannte Natur oder aber ‚Gott‘, eine transzendente Instanz mit unbeschränkter Macht.

56

Stirner, Der Einzige und sein Eigentum (wie Anm.49), 204–219, bes. 208. Hierzu Wolfgang Kersting, Die

Politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags. Darmstadt 1994, 321–351. Siehe auch Flaig, Die Mehrheitsentscheidung (wie Anm.20), 475–479.

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VI. Das Gesetz stillstellen – Platon im Umfeld der

Theonomie 57 Wenn man von der Annahme ausgeht, dass einerseits menschliche Gemeinschaften ohne Gesetze nicht existieren können und dass anderseits das Revidieren von Gesetzen ein Gemeinwesen destabilisieren kann, dann liegt es in der Praxis nahe, vorhandene Gesetze zu kodifizieren. Die politische Reflexion kann einen Schritt weitergehen und die Gesetze ‚kanonisieren‘, das heißt sie kann in der Theorie die Gesetze gegen Veränderungen immunisieren. Diesen Versuch unternimmt Platon in seiner späten Schrift „Nomoi“. Aber der Philosoph fasst dabei lediglich in Gedanken, was die verfassungsmäßigen Innovationen bereits gezeitigt hatten, und radikalisiert diese Innovationen auf hypothetische Weise. In der Tat war die athenische Polis der Philosophie vorausgeeilt. Nach dem Sturz der Tyrannis der Dreißig und der Wiederaufrichtung der Demokratie im Jahr 403 veränderte man das Verfahren der Gesetzgebung. 58 Die athenische Demokratie schloss 401 die Kodifizierung ihrer Gesetze ab. Hinfort galten die Gesetze, die auf rotierenden Stelen ausgestellt waren. Wenig später entzogen die Athener der Volksversammlung das Recht, normative Gesetze nach traditioneller Weise zu verabschieden. Die Gesetzgebung erfolgte in einem besonderen Verfahren – der Nomothesie –, welches dem schon bestehenden Gesetz einen Vorsprung verschaffte gegenüber den neuen Vorschlägen. Die politischen Debatten, die einem solchen Eingriff in die Verfassung vorausgingen, müssen intensiv gewesen sein. Leider hat die Überlieferung davon nichts bewahrt. Aber diese verlorenen Debatten sind als Kontext zu berücksichtigen, wenn wir nun Platons zweites Polismodell in die Reihe der Kritiken einbeziehen. Für Platon ist die Herrschaft der Wissenden stets das Ideal geblieben; bereits im „Politikos“ steht fest, dass die zweitbeste Herrschaft die des Gesetzes sei (297d–e, 306 ff.). In den „Nomoi“ verändert Platon die Beziehung zwischen Wissen und Handeln. Er behält weiterhin das Axiom bei, dass ein Wissen, welches vollkommen auf

57 Siehe zum Folgenden auch den Aufsatz von Kai Trampedach in diesem Band. 58 Siehe Georg Busolt/Heinrich Swoboda, Griechische Staatskunde. 2 Bde. 3.Aufl. München 1920/26, Bd. 2, 1010ff.; Mogens Herman Hansen, Athenian Nomothesia, in: GRBS 26, 1985, 345–371; ders., Die athenische Demokratie (wie Anm.35), 167–186; Bleicken, Die athenische Demokratie (wie Anm.35), 183–190 u. 509–512; Alan L. Boegehold, Resistance to Change in the Laws at Athens, in: Josiah Ober/Charles Hedrick (Eds.), Dêmokratia: A Conversation on Democracies, Ancient and Modern. Princeton 1996, 203–214.

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das Gemeinwohl ausgerichtet ist, möglich sei; doch er baut den Zweifel ein, ob solches Wissen das Handeln des Philosophen lückenlos steuere (875b–c). 59 Dieser Zweifel genügt aber, um die Herrschaft der Wissenden nicht mehr als unbedingtes Ideal anzusehen. Im Zweifelsfalle ist die Herrschaft der Gesetze einer Herrschaft der Weisen vorzuziehen. Platon entfaltet nun diese Herrschaft der Gesetze in einer gedanklich dermaßen radikalen Weise, dass wir seine neue Idealpolis als Nomokratie ansprechen müssen. Die Protagonisten des Dialogs ersinnen einen ermüdend umfangreichen Gesetzeskodex, weil sie die menschliche Verfügung so weit als möglich zurückdrängen wollen, da ja dieses Verfügen die Quelle von Bürgerkriegen ist. Platon erstellt eine Gegenrechnung zur These von Protagoras: Während dieser das Heil darin sieht, dass die Menschen ob ihrer politischen technê in der Lage sind, über die Ordnung ihres Zusammenlebens zu verfügen, will Platon eben dieses Verfügen auf den Nullpunkt pressen: Das Gesetz soll souverän und unverfügbar über den Menschen stehen. Dazu muss es irgendwie in die göttliche Sphäre gerückt werden oder sogar aus der göttlichen Sphäre stammen. Zwei Gesprächspartner des Dialogs, nämlich der Kreter Kleinias und der Spartaner Megillos, behaupten, dass ihre Gesetze gottgegeben seien: In Kreta soll Minos sich alle neun Jahre mit seinem Vater Zeus beraten haben, um gemäß dessen Sprüchen den kretischen Städten ihre Gesetze zu geben (624b). Platons Formulierung ist freilich zurückhaltend; er spricht von den Gesetzen, „die dem Zeus und dem pythischen Apollon zugeschrieben werden, welche Minos und Lykurg aufstellten“ (632d). 60 Platon getraut sich nicht, eine entschiedene Theonomie zu behaupten: Minos und noch mehr Lykurg stellen die Gesetze auf, sie bringen nicht wie Mose von Gott geschriebene Tafeln vom Berg Sinai hinunter zum Volk. Dennoch entwirft er eine kohärente ‚Politische Theologie‘ der Gesetzesgeltung (713a–718a), in der er darlegt, dass „es für alle Staaten, über die nicht ein Gott, sondern irgend so ein Sterblicher herrscht, kein Entrinnen vor Unheil und Leiden gibt“. Da aber keine göttliche Herrschaft noch eine Offenbarung zu erwarten ist, müssen die Menschen aus dem schöpfen, was in ihnen göttlich ist, näm-

59

Gerhard Müller, Studien zu den platonischen Nomoi. 2.Aufl. München 1968, 51ff.; Kai Trampedach,

Platon, die Akademie und die zeitgenössische Politik. Stuttgart 1994, 221. 60

Olof Gigon, Das Einleitungsgespräch der Gesetze Platons, in: Museum Helveticum 11, 1954, 201–230,

hier: 206; Glenn R. Morrow, Platon’s Cretan City. A Historical Interpretation of the Laws. Princeton 1960, 27 f.; Trampedach, Platon, die Akademie und die zeitgenössische Politik (wie Anm.59), 225.

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lich aus ihrer Vernunft. Der Vernunft folgend, gelangt der unumgängliche menschliche Gesetzgeber zu Gesetzen, die göttlich sind; Platon bleibt also auch in diesem Dialog dabei, dass die Vernunft eine göttliche Instanz in der menschlichen Seele sei. 61 Trampedach kommentiert dies so: „Darin kommt die Souveränität und Unverfügbarkeit des Gesetzes ebenso zum Ausdruck wie die radikale Ablehnung persönlicher Herrschaft.“ 62 So vermag Platon den Pindar-Vers vom Nomos Basileus abzuwandeln in die Behauptung (715d): „In welchem es (das Gesetz) aber Gebieter über die Herrschenden ist und die Herrschenden Sklaven des Nomos sind, dem Staat sehe ich Fortbestand und alle Güter zuteil werden, welche die Götter je Staaten verliehen haben.“

So wird die unbedingte Gesetzestreue für jeden Bürger zum fraglosesten Mittel, selber ‚gottähnlich‘ zu werden; Gottähnlichkeit als Lebensziel ist kein Privileg der Philosophen. Konsequent beschließt Platon diesen Gedankengang, indem er den Homo Mensura-Satz des Protagoras zurückweist und ihn theonom umformuliert (716c): „Der Gott dürfte nun für uns am ehesten das Maß aller Dinge sein, und dies weit mehr als etwa, wie manche sagen, irgend so ein Mensch“ (716c). Diese Nomokratie verzichtet weder auf gewählte Magistrate noch auf einen Rat oder auf die Volksversammlung; sie ist im Gegensatz zur Idealpolis der „Politeia“ keine Negation des Politischen. Sie könnte theoretisch sogar eine demokratische Verfassung haben. Doch nicht das Volk würde herrschen, sondern ein Gesetzeskodex, der unverfügbar und unveränderlich den Rahmen des politischen Handelns absteckte und ihn auf extreme Weise verengte. Die Autonomie des Politischen wäre auch auf diese Weise wenn nicht liquidiert, so doch neutralisiert. Indes, der Versuch, die Gesetze unwandelbar zu machen, stößt an seine Grenze dort, wo lebenspraktische Notwendigkeiten nach neuen Regelungen verlangen. Diese Magnesia genannte Polis benötigt auch fürderhin eine Instanz, die erstens immer wieder die Vollständigkeit der gesetzlichen Regelungen überwacht, zweitens überprüft, ob es nötig ist, die eine oder andere gesetzliche Regelung an neue Situationen anzupassen. Diese Aufgabe soll der ‚Nächtlichen Versammlung‘ zufallen, einem Organ, das sich zusammensetzt aus einer Elite von Amtsträgern und von Kooptierten (962b–c). Damit dieses Organ die richtigen Gesetze erlässt, müssen seinen

61 Matthias Perkams, Ämter und Gesetze in Magnesia, in: Christoph Horn (Hrsg.), Platon, Gesetze – Nomoi. (Klassiker auslegen.) Berlin 2013, 227–247, hier: 231. 62 Trampedach, Platon, die Akademie und die zeitgenössische Politik (wie Anm.59), 227.

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Mitgliedern der Staatszweck und die wesentlichen Tugenden vollkommen klar sein; sie benötigen eine philosophische Erziehung, in welcher die Astronomie als Wissen um die kosmische Harmonie einen maßgeblichen Platz innehaben (965c; 967e– 968a). Beide Instanzen, sowohl der Gesetzgeber als auch der Gesetzesanpasser, bleiben menschlich. Es war Platon zwar möglich, eine Theonomie logisch zu postulieren, aber diese in ihrer einzig sinnvollen Weise zu konzipieren, nämlich als Offenbarung, das war ihm innerhalb des Horizontes der griechischen Kultur verwehrt. Die theoretisch wirksamste Weise, um die Demokratie zu entlegitimieren, war der frontale Angriff auf das menschengemachte Gesetz. Es wurde schnell klar, dass ein solcher Angriff die Polisordnung insgesamt entlegitimierte. Platons politische Philosophie war der radikalste und grandioseste Versuch, das politische Verfügen asymptotisch auf die Nulllinie zu drücken. Aber eben deswegen blieb er als politischer Philosoph in der gesamten Antike nicht anschlussfähig. 63

VII. Die totalitäre Versuchung: Lykurgs Prozessreden Falls man das Wort Demokratie in seinem substantiellen Sinne verwendet, hat es in der Moderne bisher keine totalitären Demokratien gegeben. Was auf der von Constant und Tocqueville vorgegebenen Linie mit diesem Wort tituliert wurde, waren allesamt Diktaturen ohne demokratische Legitimation. Dass sich aber in Demokratien quasitotalitäre Stimmungen herstellen können, das steht außer Frage. Das veranschaulicht das Wort ‚öffentliche Meinung‘. Eine solche Meinung kann es nach Hannah Arendt gar nicht geben, weil erstens Meinungen immer nur individuell sein können und weil zweitens just die Öffentlichkeit ihrem Begriffe nach als Forum fungiert, auf welchem die unterschiedlichsten Meinungen sich aneinander reiben; entstünde so etwas wie eine ‚öffentliche Meinung‘, dann wäre dies der Tod der Meinungsfreiheit. 64 Nun hat allerdings Tocqueville in den USA Phänomene beobachtet, die er als „tyrannie de la majorité“ interpretierte. Darunter fasste er jenen Druck einer ‚öffentlichen Meinung‘, gegen den die Andersdenkenden nicht mehr ankom-

63

Dazu Flaig, Weisheit und Befehl (wie Anm.39), sowie Trampedach, Platon, die Akademie und die zeit-

genössische Politik (wie Anm.59). 64

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Hannah Arendt, Über die Revolution. München 1974, 290–292.

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men und dem sie sich nur widersetzen um den Preis ihrer sozialen Ächtung. 65 Es ist nicht zu leugnen, dass unter bestimmten außenpolitischen oder innenpolitischen Konstellationen auch in Demokratien geistige Konjunkturen ähnlicher Art aufkommen. Zu vermuten, dass derlei auch in antiken Demokratien geschah, ist nicht abwegig. In der Tat dokumentieren einzelne attische Gerichtsreden ‚totalitäre Tendenzen‘. In der 25. Rede des Lysias verteidigt sich ein Amtsbewerber in der Dokimasie gegen den Vorwurf, er sei ein Gegner der Demokratie, weil er nach deren Beseitigung 404 weiterhin in der Stadt geblieben sei und mit dieser Loyalität gegenüber der Regierung der Dreißig de facto am Sturz der demokratischen Ordnung mitgewirkt hätte. Dagegen bringt der Amtsbewerber vor, er habe während der oligarchischen Tyrannis niemanden zu Schaden gebracht, niemanden begünstigt und selber keinerlei materiellen Vorteil bezogen (15f.). Der Kern seines Arguments lautet, dass man nicht zum Feind der Demokratie werde, wenn man nicht aktiv für sie eintrete: Der bloße Gesetzesgehorsam – egal gegenüber welcher Staatsverfassung – reiche aus, um der Bürgerpflicht zu genügen. Ohnehin seien alle Menschen auf ihren eigenen Nutzen bedacht und daher ihre politischen Einstellungen restlos nutzenorientiert (8–14). Folglich sei ein besonderes Engagement der Bürger über den bloßen Gesetzesgehorsam hinaus nicht nur unrealistisch, sondern ein solches einzufordern sei demagogisch und – bei Lichte besehen – ganz und gar selber eigennützig. Das dürfte der früheste historische Beleg sein für das Auftauchen des radikalen Utilitarismus im öffentlichen Raum; und bezeichnenderweise beanspruchte er umstandslos eine staatliche Neutralität, die ihm eine sanktionslose ‚unpolitische‘ Einstellung garantiert. Gehalten etwa um 400, bezeugt die Rede, wie schwer es den Athenern fiel, sich auf die konkreten Grenzen und den jeweiligen Inhalt ihrer beschworenen Amnestie zu einigen. Allzu schwer lasteten der zweimalige Umsturz der staatlichen Ordnung, der oligarchische Terror und der abschließende Bürgerkrieg auf der Polis und den Familien. In solchen Situationen verändern sich die Erwartungen an den einzelnen Bürger; und damit drohen sich die Erwartungen an den Bürger überhaupt zu verhärten. Einige Gerichtsreden aus dem letzten Drittel des 4.Jahrhunderts enthalten Elemente, die – falls kombiniert – die politische Kultur der Demokratie weitgehend umge65 Alexis de Tocqueville, De la Démocratie en Amérique (1835–1840). Biographie, préface et bibliogaphie par François Furet. Paris 1981, 343–360 (Teil II, Kap. 7).

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wälzt hätten. Ohne dass die demokratische Verfassung auf der institutionellen Ebene auch nur im Geringsten angetastet wurde, hätte sich die Demokratie fundamental gewandelt, wenn ein neuer, radikalerer Bürgerbegriff hegemonial und normativ geworden wäre. Besonders die Rede Lykurgs „Gegen Leokrates“ dokumentiert diese Tendenz. Der athenische Politiker Lykurg klagte vor 330 den Bürger Leokrates an. Dieser war aus Athen geflohen, als die Niederlage bei Chaironeia gemeldet wurde; er fand zunächst in Rhodos Zuflucht; danach lebte er fünf Jahre in Megara, also in der unmittelbaren Nachbarschaft seiner Heimat. Zurückgekehrt nach Athen, hatte er eine Reihe von Anklagen zu überstehen, darunter jene des Lykurg. Lykurg hätte gegen Leokrates drei verschiedene öffentliche Anklagen (graphai) einreichen können: wegen Feigheit, wegen Desertion und weil er sich der militärischen Mobilisierung entzog. 66 Stattdessen wählte Lykurg die Eisangelie, obschon diese für besonders schwere magistratische Vergehen – Verrat und Angriff auf die Demokratie – vorgesehen war. 67 Das blieb nicht unwidersprochen. Der Redner Hypereides stemmte sich mehrfach solchen Ausweitungen der Deliktdefinition entgegen. Im Prozess gegen Lykophron, wo Lykurg dem Ankläger Ariston beistand, prangerte Hypereides den Missbrauch des Eisangelie-Verfahrens an. Dieses sei für schwere und manifeste Fälle reserviert gewesen: „Was heute in unserer Stadt passiert, ist lächerlich: Diognides und der Metöke Antidoros werden einer Eisangelie ausgesetzt, weil sie ihre Flötenspielerinnen über dem gesetzlichen Höchstpreis vermieten, Agesikles vom Piräus, weil er sich in den Demos Halimos einschreiben ließ, und Euxenippos für das, was er im Traum gesehen zu haben behauptet. Von diesen Beschwerden hat kein einziger, wie ich glaube, etwas mit dem Gesetz zur Eisangelie zu tun!“ 68

66

Graphê deilias, graphê lipotaxiou, graphê astrateia; siehe hierzu und zum Folgenden insgesamt: Vincent

Azoulay, Les métamorphoses du koinon athénien: autour du ‚Contre Léocrate‘ de Lycurgue, in: ders./Paulin Ismard (Éds.), Clisthène et Lycurgue d’Athènes. Autour du politique dans la cité classique. Paris 2011, 191– 217, hier: 201. 67

Mogens Herman Hansen, Eisangelia. The Sovereignty of the People’s Court in Athens in the Fourth

Century and the Impeachment of Generals and Politicians. Odense 1975, 58f., listet für die Zeit von 432 bis 355 folgende Eisangelien auf: 33 gegen Strategen, 9 gegen andere Amtsträger, 7 gegen Redner. 68

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Hyp. Eux. 2–3 (Übersetzung Egon Flaig).

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Und er erhebt den Vorwurf, dass dieser Missbrauch der Eisangelie verfassungswidrig sei: „Du wirfst in Deiner Eisangelie mir vor, die Demokratie zu ruinieren, indem ich die Gesetze überträte. Aber Du selber hast Dich über alle Gesetze hinweggesetzt, um eine Eisangelie einzureichen wegen Angelegenheiten, wo sie (die Gesetze) eine öffentliche Anklage (graphê) vor den Thesmotheten vorsehen.“ 69

Lykurg war sich dessen bewusst, denn er appelliert in seiner Rede gegen Leokrates an die Geschworenen, mit einem einzigen Urteil mehrere schwere Verbrechen zu bestrafen: Verrat (προδοσία), „weil er die Stadt verlassend diese den Feinden in die Hände gegeben hat“, Sturz der Demokratie (δήμου κατάλυσις), „weil er sich geweigert hat, für die Freiheit zu kämpfen“, Asebie, „weil er – soweit es von ihm abhing – zuließ, dass Heiligtümer und Tempel verwüstet wurden“, Misshandlung der Eltern (τοκέων κάκωσις), „weil er ihre Gräber ausradierte und sie um ihre Grabriten brachte“, Desertion und Verweigerung des Wehrdienstes (λιποταξίου δὲ καὶ ἀστρατείας οὐ παρασχὼν τὸ σῶμα τάξαι τοῖς στρατηγοῖς), „indem er sich nicht bei den Strategen meldete, um sich einziehen zu lassen“. 70 Sally Humphreys hat angenommen, dass Lykurg die Prozeduren vermischte, um den Anklagen eine didaktische Funktion für die jüngeren Generationen zu verleihen. Der Ankläger habe den Vorschlaghammer benutzt, um eine Nuss zu knacken. 71 Vincent Azoulay hält dem entgegen, dass in der Antike jeder Verurteilung überhaupt auch eine didaktische Funktion eignete. Vielmehr habe Lykurg darauf abgezielt, „die gesetzliche Grundlage des Verratsdeliktes auszuweiten“, also Elemente unter das Delikt zu subsumieren, die zuvor nicht dazugehörten. Die Vergehen dermaßen politisieren hieß, den Zusammenhalt der Bürgerschaft auf völlig neue Weise zu bestimmen. Konsequent fordert der Ankläger die Geschworenen dazu auf, in diesem Falle nicht nur als Richter zu agieren, sondern auch als Nomotheten. 72 Das schockiert. In der Tat benutzt der Ankläger das Rechtssystem, um die politische Semantik weitreichend umzugestalten, indem er die Zugehörigkeit des einzelnen Bürgers

69 Hyp. Lyk., fr. 4, col. 10, § 12 (Übersetzung Egon Flaig). 70 Lykurg. Leokr. 147 (Übersetzung Egon Flaig). 71 Sally C. Humphreys, Lycurgus of Boutadai: an Athenian Aristocrat, in: dies., The Strangeness of Gods. Historical Perspectives on the Interpretation of Athenian Religion. Oxford 2004, 110–129, hier: 106–108 u. 120. 72 Lykurg. Leokr. 9 (Übersetzung Egon Flaig).

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radikalisiert und dessen politische Pflichten ins Uferlose treibt. Auf diese Weise politisiert sich jedwedes Vergehen; bei jedem einzelnen Delikt vergeht sich der Delinquent jedes Mal an der Polis als Ganzer und im Ganzen. Dem Verteidiger, welcher vorbringen könnte, „dass ein einzelner Mann nicht all das Unglück verursacht haben könne“, erwidert Lykurg antizipierend: „Ich persönlich halte das Gegenteil für wahr: dass von ihm das Wohl der Polis abhing. Eine Polis überlebt nur, wenn jeder einzelne Bürger nach seinem Vermögen sie behütet. Und wenn ein Mann seine Pflicht in einer Hinsicht verletzt, dann hat er sie – ob man will oder nicht – allesamt verletzt.“ 73

Jacob Burckhardt kommentierte die Gesinnung in diesen Reden so: „Jedes Vergehen wurde zur Bedrohung des Staates. Jeder Prozess hat die Neigung, ins Politische umzuschlagen.“ 74 In dieser Maßlosigkeit des „Fanatismus einer Prodosieklage“ 75 erkennt Burckhardt die direkte Parallele zur ‚grande terreur‘ der Französischen Revolution. 76 Vincent Azoulay nennt das, was Lykurg vorbringt, eine „conception totalitaire de la communauté“. 77 In der Tat. Auch die Demokratie ist nicht davor gefeit, totalitär zu werden. Dieser Tendenz der Ankläger, an jedweden Delikten die politische Dimension ins Zentrum zu stellen, entspricht eine neue Selbststilisierung der Anklage. So verzichtet Lykurg auf jegliche persönliche Invektiven gegen Leokrates; stattdessen attackiert er ausschließlich dessen Handlungen; er objektiviert die Anklage so weit als möglich. Dementsprechend präsentiert er sich nicht als persönlicher Feind, der eine Rechnung zu begleichen hat. Indes, ganz offenherzig die persönliche Feindschaft mit dem Angeklagten darzulegen, gehörte zu den traditionellen Performanzen von Anklägern. Denn nach allgemeiner Ansicht dienten die privaten Feindschaften dazu, das Wohl der Polis zu befördern, weil die Kontrolle der Amtsträger – und der Bürger – dann am wirkungvollsten sei, wenn private Missgunst über die Amtsausübung wacht. Ganz in diesem Sinne hatte Aischines noch 345 in seiner erfolgreichen Anklage gegen Timarchos sein Motiv, sich rächen zu wollen, erwähnt. 78 Lykurg hinge-

304

73

Lykurg. Leokr. 64 (Übersetzung Egon Flaig).

74

Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte (wie Anm.15), Bd. 1, 231.

75

Ebd.232.

76

Ebd.Bd. 4, 324.

77

Azoulay, Les métamorphoses du koinon athénien (wie Anm.66), 206.

78

Aischin. Tim. 2.

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gen präsentiert sich als persönlich desinteressiert („Gegen Leokrates“, 6). Einzig der reine, von nichts Persönlichem getrübte Patriotismus treibe ihn zur Anklage: „Was mich angeht, so habe ich, das Vaterland, seine Heiligtümer und seine Gesetze verteidigend, diesen Prozeß aufrichtig und angemessen geführt, ohne des Privatleben dieses Menschen zu verleumden und ohne Vorwürfe, die nicht zur Sache gehören.“ 79

Diese Verschiebung der Motivation macht aus dem Anklagen schlagartig eine zivische Tugend. Und das kann sich als fatal erweisen, nämlich dann, wenn diese Tugend als allgemeine vorausgesetzt und erwartet wird. Sie erscheint dann als Pflicht. In diesem Sinne hatte mehr als zwanzig Jahre zuvor schon Demosthenes in seiner Rede „Gegen Androtion“ (354), seine Anklage als zivische Pflicht präsentiert. 80 Bei Lykurg hört man „a new prosecutoral voice“ 81, und falls diese Stimme die anderen dauerhaft übertönte, hätte sich die Ansicht durchgesetzt, dass keine Anklage zu erheben, wo eine solche möglich wäre, untrüglich einen Mangel an Bürgersinn anzeige. Es zeichnete sich die Möglichkeit ab, dass eine denunziatorische Gesinnung sich ausbreitete – schlimmer als das übliche Sykophantenwesen. Vor dem Hintergrund einer solchen möglichen Veränderung der politischen Kultur Athens darf es nicht verwundern, dass der Redner Hypereides seine Anklagen öffentlich aufzählt. 82 Der Redner tut so, als seien dieselben regelrechte Euergesien für die Polis. Wird eine solche polizeimäßige Gesinnung zum Stilelement im Politischen, dann gerät das Miteinanderleben unter einen neuartigen politischen Stress. Denn in der hochgradig auf Öffentlichkeit ausgerichteten Kultur der klassischen Antike war die Neigung, gerichtliche Anklagen anzustrengen, ohnehin nicht eben gering. Umso mehr durfte nun das übliche Verdächtigen sich von einem politischen Grundton tragen lassen, welcher auf Dauer das gesamte kulturelle Klima einer Polis vergiftet hätte. An der Verfassung hatte sich fast nichts geändert. Aber ein neuer mobilisierender Diskurs, entstanden im Angesicht der übermächtigen außenpolitischen Drohungen, drang in die Rechtsdiskurse ein und bediente sich der Gerichte, um die Bürgeridentität neu zu definieren. Man kann dankbar sein, dass diese historische Möglichkeit sich nicht verwirklichte. 79 Lykurg. Leokr., 149 (Übersetzung Egon Flaig). 80 Demosth. or. 22,66. 81 Danielle S. Allen, The World of Prometheus: The Politics of Punishing in Democratic Athens. Princeton 2000, 159. 82 Hyp. Eux. 28f.

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VIII. Schluss Demokratien können also totalitär werden. Aber sie werden es anders als jene Demokratiekritik glaubt, die sich an Jacob L. Talmon oder an Benjamin Constant anlehnt. Sowohl Constant als auch Talmon hatten nirgendwo existierende Demokratien im Blick – bei beiden ist keine Rede von Schweizer Kantonen mit Landsgemeindesouveränität. Vielmehr richtete sich ihre Aufmerksamkeit auf revolutionäre Diktaturen, die sich auf die Volkssouveränität beriefen, um im Namen des Volkes die schlimmsten Maßnahmen zu ergreifen. Benjamin Constant, der erste Kritiker einer Volkssouveränität, die sich verabsolutiert, war auch der erste, der die individuelle Freiheit als unantastbare Freiheit des Privatlebens verabsolutierte und von diesem unantastbaren Bereich aus festlegte, was für die politische Freiheit überhaupt noch übrig bleibt. Constant hat später gewahrt, wie nahe ihn diese Position an Hobbes heranrückt. Und er hat in seinem berühmten Vortrag von 1819 – „De la liberté des Anciens comparée à celle des Modernes“ – eine erhebliche Revision vorgenommen. Diese Revision kommt in der Tradition des modernen Liberalismus fast nie zur Sprache. Constant schließt nämlich seinen Vortrag von 1819 mit dem klangvollen Appell, jeder Bürger solle sich um die politische Freiheit bemühen: „Die politische Freiheit ist das mächtigste und energischste Mittel zur Perfektionierung, welches der Himmel uns gegeben hat.“ 83 Wenn die politische Freiheit dies leistet, dann ist sie wahrscheinlich das höchste Gut auf Erden. Die erste Freiheit garantiert somit nicht allein die zweite, sondern umschließt sie. Das hat der große Liberalismus immer gewusst, denn dazu verpflichtet ihn seine republikanische Tradition. So hat auch Tocqueville 1856 die individuelle Freiheit eine negative genannt, die politische hingegen die positive. Jene trenne die Bürger, diese hole sie aus ihrer Isolierung heraus und bewirke gemeinsames Agieren um eines gemeinsamen Guten willen: „Sie alleine liefert dem Ehrgeiz erhabenere Ziele als den bloßen Erwerb von Reichtümern.“ 84 Alle Republiken, die auf Partizipation beruhen, müssen die Gefahr vermeiden, dass ihre Bürger sich wie freie Untertanen benehmen. Der freie Untertan ist bereit, die Rechtsordnung hinzunehmen und den Gesetzen zu gehorchen. Das genügt der

83

Constant, Écrits politiques (wie Anm.8), 617.

84

Alexis de Tocqueville, L’Ancien Régime et la Révolution (1856). Preface, notes bibliographie, chronolo-

gie par Françoise Melonio. Paris 1988, 94.

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individuellen Freiheit von Thomas Hobbes vollkommen. Der Bürger soll nicht nach Teilhabe an der souveränen Staatsgewalt streben. Es soll kein politischer Raum existieren, innerhalb dessen Bürger als politische Wesen miteinander kommunizieren. Die Existenz des Bürgers ist eine eindimensional private. Als bloßer ‚Einwohner‘ braucht er nur den Gesetzen zu gehorchen. Seine Loyalität erschöpft sich im Gehorsam gegenüber der staatlichen Autorität. 85 Hobbes hat, wie Quentin Skinner sagt, seinen Begriff der Freiheit vorsätzlich gegen den republikanischen konstruiert. Republiken sind jedoch angewiesen auf die aktive Teilhabe der Bürger an den Entscheidungen. Sie stehen unter dem Imperativ, den Solon ausgab: Das gemeinsame Unheil trifft alle und macht am Gartentor nicht halt; Rettung kommt allein von der ‚Eunomie‘, von der Wohlordnung, um die sich alle Bürger zu bemühen haben. Republiken müssen mehr von ihren Bürgern fordern, als freie Untertanen zu geben bereit sind. Sie müssen verlangen, dass ihre Bürger sich um das Gemeinwohl sorgen. Unvermeidlich setzen sie damit ihre Bürger unter einen gelinden Homogenisierungsdruck. Ohne diese Zumutung können sie nicht überleben. Homogenisierungen erhöhen die Leistungskraft von Gruppen außerordentlich, die sprachliche Homogenisierung beschleunigt die präzise Kommunikation, die ethische erleichtert den Umgang im Alltag, die mentale steigert die kollektive Ausdauer in Kriegen. Kulturelle Homogenisierung schließlich ist vonnöten, damit die Bürger zu sicheren kollektiven Entscheidungen gelangen und mehrheitlich gefasste Beschlüsse akzeptieren. Homogenität als Zustand kann es historisch niemals geben, sondern immer nur Homogenisierung. Diese ist, das sollte nicht vergessen werden, stets ein Prozess; und der wird immer begleitet von Prozessen der Differenzierung und somit von Enthomogenisierung. Ein Liberalismus, der sich von seinen republikanischen Voraussetzungen losgesagt hat, wird freilich immerfort den Vorwurf erschallen lassen, die Bürgerschaft homogenisiere sich zu sehr; sie verschmelze gar zu einer undifferenzierten Masse; und ohnehin benutze die Mehrheit skrupellos ihre Macht, um Minderheiten zu unterdrücken. Nun ist die vielzitierte ‚Tyrannei der Mehrheit‘ von Tocqueville zwar grundsätzlich in jeder Staatsform möglich, aber ihr Vorkommen ist nichtsdestotrotz am ehesten dort zu erwarten, wo sich eine homogenisierte ‚öffentliche Meinung‘ zusammenbraut; und die ist, wie Hannah Arendt sagt, der Todfeind der Meinungsfrei-

85 Skinner, Hobbes and Republican Liberty (wie Anm.5), 120–177.

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heit, ja des freien geistigen Austausches überhaupt. Insofern kommt der Republikanismus nicht umhin, den liberalen Einspruch in einer Hinsicht ernst zu nehmen: Republiken benötigen eine gemeinsame Basis an geteilten Werten, aber ihre Lebendigkeit und ihre Innovationskraft beruht auf der Kontroverse im öffentlichen Raum. Es ist fatal, wenn dort eine Tendenz zur ‚Einswerdung‘ zu wirken beginnt. Kulturelle Homogenisierung und ein hoher Konsens über die zentralen Werte dürfen nicht die Vielfalt der Meinungen und Ansichten beeinträchtigen. Indes, eben diese vom neuzeitlichen Liberalismus beschworene Gefahr scheint in den hellenischen und hellenistischen Poleis, sofern sie nicht einem Tyrannen gehorchten, nie ein ernstes Problem gewesen zu sein. Die seltenen totalitären Tendenzen, die sich in den Quellen zeigen, betrafen nicht die Meinungsfreiheit und auch keine ‚Tyrannei der Mehrheit‘, sondern sie bekundeten sich am fundamentalen Atom der Polis, nämlich am Begriff des Bürgers. Jene angesprochenen Gerichtsreden der lykurgischen Ära politisieren die Existenz des athenischen Bürgers umfassend. Eine solche totale Politisierung verwischt einerseits die Differenz zwischen dem Bürger und dem Amtsträger und benimmt den Gerichten zweitens die Möglichkeit, die Schwere der Delikte hinsichtlich ihrer politischen Wertigkeit zu ordnen, weil jeder Gesetzesbruch tendenziell zum Hochverrat oder zum Landesverrat wird. Unbegrenzte Politisierung dieser Art ist an sich nichts Spezifisches von direkten Demokratien. Sie ereignet sich allerdings vorwiegend dort, wo die Menschen revolutionär mobilisiert werden, um Totalveränderungen durchzusetzen oder wo sie noch unter dem schockhaften Eindruck von tiefgreifenden Umbrüchen stehen. Solche Mobilisierungen sind nur verkraftbar während bestimmter Konjunkturen, die immer – wenn man die Lebensspanne einer Generation berücksichtigt – die Signatur von Ausnahmen tragen. Werden sie permanent, dann müssen die Erwartungen an das zivische Verhalten der Bürger so hochgeschraubt werden, dass sie ohne Einschüchterung nicht mehr zu erfüllen sind. Diesen kulturellen Sachverhalt hat Jacob Burckhardt hart konturiert, und zwar in Hinblick auf jene athenischen Prozesse des späten 4.Jahrhunderts: „Man hat die Fiktion vom unbedingten Bürgertum höher gespannt, als die menschliche Natur auf die Länge erträgt.“ 86

86

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Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte (wie Anm.15), Bd. 1, 82.

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Wenn die politische Freiheit, wie Constant meint, das mächtigste und energischste Mittel ist, um uns zu perfektionieren, dann fragt sich: Wo dürfen wir uns überhaupt perfektionieren? Und wo ist es besser, die Finger zu lassen von allen solchen Versuchen? Vom Himmel geschenkte Mittel sind prometheische Geschenke. Zwar verhält es sich mit der politischen technê anders, denn Zeus selbst war es, der den Hermes beauftragte, alle Menschen mit der Fähigkeit zu begaben, sich politisch zu organisieren. 87 Aber die Eigenschaft, sich gebrauchen zu lassen in Maßen wie im Übermaß, zum Guten wie zum Übel, haftet dem olympischen Geschenk ebenso an wie jenen Gaben des Prometheus.

87 Plat. Prot. 322b–d.

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Demokratiekritik und antidemokratisches Denken in Deutschland vor und nach dem Ersten Weltkrieg von Hans-Christof Kraus

I. ‚Externe‘ und ‚interne‘ Demokratiekritik bis 1914 „Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik“ – unter diesem Titel erschien im Jahr 1962 ein bald sehr einflussreiches und vielzitiertes Buch, die Habilitationsschrift des jungen Politologen Kurt Sontheimer, das in seiner wohl etwas plakativen Gegenüberstellung von demokratischem und antidemokratischem politischen Denken 1 in gewisser Weise typisch für die frühe, soeben neubegründete Politikwissenschaft in Westdeutschland war, die sich zuerst und vor allem als „Demokratiewissenschaft“ verstand und den demokratischen Neubeginn in der Bundesrepublik Deutschland aktiv zu unterstützen und zu begleiten beabsichtigte. 2 Im politischen und ebenfalls im ideengeschichtlichen Kontext der zweiten Nachkriegszeit waren derartige Deutungen verständlich und vielleicht sogar notwendig, um einige immer noch virulente Geister der jüngsten Vergangenheit mit den Mitteln rationaler, wissenschaftlich-kritischer Argumentation zu bannen und in Schach zu halten. Aus heutiger Sicht wird man hingegen einräumen müssen, dass derart grobschlächtige, weil allzu stark verallgemeinernde Dichotomien dem Phänomen, das sie beschreiben wollen, nicht mehr gerecht werden, weil sie die notwendigen Differenzierungen vermissen lassen, um ein so diffiziles Phänomen, wie es die unter-

1 Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933. München 1962 (gekürzte und ergänzte Studienausgabe München 1968). 2 Diesen Aspekt beleuchten, jeweils aus entgegengesetzter Perspektive, zum einen Hans-Joachim Arndt, Die Besiegten von 1945. Versuch einer Politologie für Deutsche samt Würdigung der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 1978, bes. 250ff., 265ff., und zum anderen Wilhelm Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland. München 2001, 265ff.

https://doi.org/10.1515/9783110608380-012

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schiedlichen Formen von Demokratiekritik nun einmal sind, angemessen und sachgerecht erfassen zu können. Insofern wird man zuerst einmal die Kritik der Demokratie von antidemokratischem Denken sorgfältig unterscheiden müssen, denn beides ist in keiner Weise miteinander identisch, sondern weist signifikante Unterschiede auf. Demokratiekritik kann auch von denjenigen geübt werden, die der Demokratie als einer gegebenen Staatsform, vielleicht eines Nachbarlandes, keineswegs feindlich gegenüberstehen, und Demokratiekritik wird gelegentlich sogar von denjenigen formuliert werden, die auf dem Boden der Demokratie stehen. Im Allgemeinen kann man – vor allem, was die Ära vor 1914 anbetrifft – von einer externen und einer internen Demokratiekritik sprechen, die jedoch beide keineswegs bereits an sich mit genuin „antidemokratischem“ Denken im Sinne einer Fundamentalkritik an dieser politischen Form identisch sind. Eine solche externe Demokratiekritik findet man in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg vor allem bei denen, die sich in ihrer Ablehnung einer demokratischen Staatsform für das Deutsche Reich auf das sogenannte Seeley-Axiom berufen haben. Der bedeutende englische Historiker Sir John Robert Seeley, Geschichtsschreiber des Britischen Empire und gleichzeitig ein hervorragender Kenner der deutschen, besonders der preußischen Geschichte, hatte in seiner 1896 erstmals erschienenen „Introduction to Political Science“ die These aufgestellt, das Maß der politischen Freiheit innerhalb eines Staates verhalte sich umgekehrt proportional zu dem Druck, der auf seinen Grenzen laste. 3 Als Beispiele hierfür dienten ihm einerseits das durch seine geographische Insellage geschützte Großbritannien, das seit der Glorreichen Revolution auf eine große stehende Armee im Lande – und damit eben auch auf ein potentiell zur Repression freiheitlicher Bewegungen im eigenen Land einsetzbares Instrument – hatte verzichten können. Und andererseits hatte Seeley natürlich Preußen im Blick, das wegen seiner ungeschützten Grenzen und des auf sie ausgeübten Drucks potentiell feindlicher Nachbarmächte stets auf eine starke Ar-

3 John Robert Seeley, Introduction to Political Science. Two Series of Lectures. London 1911 (zuerst 1896), 130f.: „The community is under a pressure which calls for common action, and common action calls for government. It is reasonable therefore to conjecture that the degree of government will be directly proportional, and that means that the degree of liberty will be inversely proportional, to the degree of pressure. In other words, given a community which lives at large, in easy conditions and furnished with abundant room, you may expect to find that community enjoying a large share of liberty; given a community which has to maintain itself against great difficulties and in the midst of great dangers, you may expect to find in it little liberty and a great deal of government.“

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mee angewiesen gewesen war und aus diesem Grund auch keine wirklich freiheitliche Regierungsform hatte entwickeln können. 4 Führende deutsche Gelehrte und Wissenschaftler haben während des Kaiserreichs die von ihnen nachdrücklich postulierte Notwendigkeit einer konstitutionellen Monarchie mit eingeschränktem Parlamentarismus als Staatsform für Deutschland gerade unter Aufnahme dieses von Seeley formulierten Axioms begründet. Zu ihnen gehörten etwa Gustav Schmoller und Otto Hintze 5, die in diesem Fall ihre externe Kritik der Demokratie nicht im engeren Sinne staatstheoretisch, sondern lagebedingt und erfahrungsgeschichtlich begründeten und damit den potentiell universalistischen Anspruch der demokratischen Regierungsform verneinten. Diese externe Kritik bedeutete jedoch keineswegs eine Fundamentalkritik der parlamentarischen Demokratie westlichen Zuschnitts als solcher, deren Eignung für die angelsächsischen Länder auch von den deutschen Vertretern des Seeley-Axioms nicht in Frage gestellt wurde. Ganz anders wiederum argumentierten Autoren, denen es um die Herausarbeitung einer internen Demokratiekritik ging, die also bemüht waren, die Schwächen und Defizite der politischen Praxis real bestehender Demokratien in den Blick zu bekommen. Sie konnten dabei bereits an eine seit längerem bestehende Denktradition anknüpfen, die vor allem von Alexis de Tocqueville in seinem klassischen, in den frühen 1830er Jahren entstandenen Werk „Über die Demokratie in Amerika“ begründet und argumentativ ausgearbeitet worden war. Das betraf zum einen die mannigfachen Gefahren, die durch eine mögliche Tyrannei der Mehrheit über die Minderheit in einer ausschließlich auf dem Gleichheits- und Mehrheitsprinzip bestehenden politischen Ordnung entstehen konnten, zum anderen aber auch die von Tocqueville bereits sehr hellsichtig und präzise beschriebenen subtilen sozialen Ausgrenzungsmechanismen, mit denen in der frühen US-amerikanischen Demo4 Zum Kontext von Seeleys Denken siehe auch Adolf Rein, Sir John Robert Seeley. Eine Studie über den Historiker. Langensalza 1912, 53ff.; Hans-Christof Kraus, Geschichtsschreibung als Schule der Politik – Zum Werk von John Robert Seeley, in: Wolfgang Elz/Sönke Neitzel (Hrsg.), Internationale Beziehungen im 19. und 20.Jahrhundert. Festschrift für Winfried Baumgart zum 65. Geburtstag. Paderborn u.a. 2003, 65–81, hier 77f. 5 Otto Hintze, Gesammelte Abhandlungen. Bd. 1: Staat und Verfassung. Göttingen 1970, 366, 411, 433, 506; ders., Deutschland und das Weltstaatensystem, in: ders./Friedrich Meinecke/Hermann Oncken/Hermann Schumacher (Hrsg.), Deutschland und der Weltkrieg. Leipzig/Berlin 1915, 3–51, hier 5f.; Gustav Schmoller, Herkunft und Wesen der deutschen Institutionen, in: Hintze u.a. (Hrsg.), Deutschland und der Weltkrieg. 2. erw.Aufl. Leipzig/Berlin 1916, Bd. 1, 199–231, hier 200.

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kratie diejenigen, die der Mehrheit nicht folgen wollten, zur Raison gebracht wurden. 6 Was der große französische Denker für die erste Jahrhunderthälfte geleistet hatte, unternahm um 1900 der aus Russland stammende Moissei Jakowlewitsch Ostrogorski, der in einem monumentalen zweibändigen Werk mit dem Titel „Democracy and the Organization of Political Parties“ auf nicht weniger als 1400 Druckseiten eine sehr subtile und kenntnisreiche Analyse der geistesgeschichtlichen, politischen und vor allem parteiorganisatorischen Voraussetzungen der modernen angelsächsischen Demokratien vorlegte. 7 Er arbeitete dabei vor allem die Tendenz der modernen Parteien zur inneren Verkrustung von Strukturen, zur Etablierung von inneren Machtzirkeln, zur Verfestigung von Praktiken des Machterhalts und der Wahlmanipulation durch sogenannte Parteimaschinen – wie etwa Tammany Hall in New York 8 – und hauptamtliche Wahlmanager und Parteiangestellte heraus. Die modernen Demokratien waren in seiner Sicht gefährdet durch den Anspruch vor allem wirtschaftlicher und politischer Oligarchien auf die Erringung und den Erhalt politischer Macht – ohne Rücksichtnahme auf den eigentlichen demokratischen Volkswillen, der durch manipulative Praktiken aller Art im Grunde in sein Gegenteil verkehrt werde. 9 Ostrogorskis seinerzeit aufsehenerregenden, durch viele konkrete Beispiele und eine Fülle empirischer Fakten untermauerten Analysen fanden auch in Deutschland Beachtung, etwa bei Robert Michels 10, Max Weber 11 und vor allem bei dem Kie-

6 Alexis de Tocqueville, Oeuvres Complètes. Vol.1: De la Démocratie en Amérique 1. Ed. par J[acob]-P[eter] Mayer. Paris 1961, 265ff.; zu den besonderen Gefahren des von Tocqueville hier erstmals präzise beschriebenen „demokratischen Despotismus“ siehe auch die Bemerkungen bei J[acob]-P[eter] Mayer, Alexis de Tocqueville – Prophet des Massenzeitalters. Stuttgart 1955, 60ff. 7 M[oissei] Ostrogorski, Democracy and the Organization of Political Parties. Vol.1–2. New York 1902; zum zeithistorischen Kontext und zur Bedeutung des Werkes siehe auch Rodney Barker/Xenia Howard-Johnston, The Politics and Political Ideas of Moisei Ostrogorski, in: Political Studies 23, 1975, 425–429; Cristiana Senigaglia, Analysen zur Entstehung der Massenparteien und zu ihrem Einfluß auf das Parlament: Ostrogorski, Michels, Weber, in: Parliaments, Estates & Representation 15, 1995, 159–184. 8 Dazu ausführlich Ostrogorski, Democracy (wie Anm.7), Vol.2, 151ff. u. passim. 9 Sehr aufschlussreich in diesem Zusammenhang auch Ostrogorskis „Appendix I: The Power of Social Intimidation as a Principle of Political Life“, in: ebd.Vol.2, 745–754. 10

Robert Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über

die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens (1911, erw.Aufl. 1925). Neuausgabe der 2.Aufl. hrsg. v. Werner Conze. Stuttgart 1957, 340, 434, 449, 457, 514.

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ler Staatswissenschaftler Wilhelm Hasbach 12, einem Schüler von Gustav Schmoller und Adolph Wagner, der die Thesen Ostrogorskis wohl am intensivsten rezipierte und für seine 1912 publizierte umfangreiche Monographie „Die moderne Demokratie – Eine politische Beschreibung“ auswertete. Dieses im Jahr 1921 noch einmal unverändert neu aufgelegte Werk von immerhin mehr als 600 Seiten stellte viele Jahre lang das deutschsprachige, zeitweilig auf die Debatten in Deutschland großen Einfluss ausübende Standardwerk zum Thema dar. 13 Auch Hasbach gehörte, wie sein Lehrer Schmoller, wie Hintze und andere, zu den Verfechtern der deutschen konstitutionellen Monarchie und damit zu den entschiedenen Kritikern der modernen Demokratie, die er allerdings nicht nur mit Blick auf die USA, sondern auch unter Berücksichtigung Frankreichs und der Schweiz untersuchte. Drei zentrale Argumente bestimmen den Gedankengang dieses Buches: Erstens kritisiert Hasbach die damals bereits weit verbreitete Idee einer Art von historischer Teleologie, die in der modernen Demokratie gewissermaßen das Endziel der historischen Entwicklung der neuzeitlichen westlich-europäischen Welt erkennen zu können meint. Anhand breiter historischer Analysen kommt er vielmehr zu dem Ergebnis, dass die drei wichtigsten zeitgenössischen Demokratien, die der Vereinigten Staaten von Amerika, die der Republik Frankreich und die der schweizerischen Eidgenossenschaft, alle in der Folge konkret benennbarer schwerer historischer Krisen entstanden seien, damit also aus einer jeweils einmaligen geschichtlichen Konstellation heraus, keineswegs jedoch als das Ergebnis eines vermeintlich geradlinig verlaufenden historischen Prozesses. Zweitens betont Hasbach, ein bedeutender Kenner und Verehrer Montesquieus, immer wieder die Gefahren eines demokratischen Parlaments- oder Parteienabsolutismus, der aus einem verfassungsrechtlichen und damit in der Konsequenz machtpolitischen Übergewicht der Parlamente und der Parteien in den modernen Demo-

11 Zu den Spuren des Einflusses von Ostrogorski auf Weber vgl. Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920. 3.Aufl. Tübingen 2004, 116f., 424. 12 Siehe neben Christian Patz, Wilhelm Hasbach – Politikwissenschaftler avant la lettre?, in: Wilhelm Knelangen/Tine Stein (Hrsg.), Kontinuität und Kontroverse. Die Geschichte der Politikwissenschaft an der Universität Kiel. Essen 2013, 211–230, jetzt vor allem Hans-Christof Kraus, Wilhelm Hasbach – Theorie und Kritik der modernen Demokratie, in: Detlef Lehnert (Hrsg.), „Das deutsche Volk und die Politik“. Hugo Preuß und der Streit um „Sonderwege“. (Historische Demokratieforschung, 12.) Berlin 2017, 109–128. 13 Wilhelm Hasbach, Die moderne Demokratie. Eine politische Beschreibung (1912). 2., unveränd.Aufl. Jena 1921.

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kratien entstehen könne. Dem stellt er, unter ausdrücklicher Berufung auf Montesquieu, den gewaltenteiligen Charakter der konstitutionellen Monarchie gegenüber, die aufgrund ihrer Tendenz zur Austarierung innerer Machtgleichgewichte zwischen Krone, Regierung und Parlament Freiheitspotentiale erhalte, die in einer Demokratie mit besonders starkem Parlament und ausgeprägtem Parteiensystem hingegen gefährdet seien. Drittens jedoch – und dies kann im Kontext seiner Zeit wohl auch als sein stärkstes Argument angesehen werden – stellen für ihn, wie er im Anschluss an Ostrogorski vor allem am US-amerikanischen Beispiel aufzeigt, die Parteien und die von ihren Wahlmanagern in Gang gehaltenen Wahlmaschinen lediglich Instrumente im Dienst des großen Kapitals dar, das auf diese Weise seine Interessen sichere und letzten Endes auch politisch alle wichtigen Fäden in der Hand behalte. Hasbach bemerkt: „Je vollkommener die Parteiorganisation ist, um so abstoßender sind ihre Wirkungen. Die Partei gibt sich als Vertreterin des Volkes aus, und ist ein Werkzeug der Führer, welche häufig Geschäftsführer des großen Kapitals sind.“ Insgesamt manifestiere sich die nordamerikanische Demokratie als ein abstoßend-groteskes Schauspiel: „führende Kapitalisten, geführte Parteiführer, in ihren Zeitungen die öffentliche Meinung machend, welche dann die Massen der Armen und Ungebildeten als den Volkswillen an der Wahlurne verkünden“. 14 Die Wähler seien am Ende „der Tyrannei einer unverantwortlichen Klike [sic] von gewissenlosen und beutelüsternen Berufspolitikern“ ausgeliefert, deren „Beute […] in Staatsämtern und anderen Vorteilen“ bestehe, „die sie zur Belohnung für ihre Dienste von der Partei empfängt“. 15 Hierin sieht Hasbach auch den Hauptgrund für die extremen sozialen Gegensätze in den USA, die dort eben nicht, wie in Deutschland, durch eine aktive staatliche Sozialpolitik ausgeglichen werden können. Nur eine konstitutionelle Monarchie sei nach Hasbachs Auffassung, im Gegensatz zur modernen Demokratie, stark genug, die politische Macht des Großkapitals in Schach zu halten und sie in ein die sozialen Gegensätze ausgleichendes sozialpolitisches System einzubinden. Man findet also – um an dieser Stelle bereits ein knappes Zwischenresümee zu formulieren – im deutschen Kaiserreich vor 1914 vor allem eine externe und eine interne Demokratiekritik; die Fundamentalkritik an der Demokratie war hingegen nur

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14

Ebd.476f.

15

Ebd.478.

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bei einzelnen, weitgehend einflusslosen Autoren der radikalen politischen Rechten, etwa im Umfeld des Alldeutschen Verbandes, zu finden. 16

II. Radikalisierung der Demokratiekritik während des Ersten Weltkriegs Das änderte sich jedoch während des Ersten Weltkriegs in geradezu fundamentaler Weise. Die alliierte Kriegspropaganda, die besonders auf den Gegensatz zwischen westlich-demokratischer Freiheit auf der einen Seite und deutscher „militaristischer“ Tyrannei auf der anderen Seite abhob, rief in Deutschland entschiedene Gegenreaktionen hervor, die sich auf lange Sicht verhängnisvoll auswirken sollten. 17 Denn nun richtete sich die Kritik vieler deutscher Autoren, die ihrerseits politische Propagandaschriften wider die westlichen Kriegsgegner verfassten, vor allem gegen die vermeintlich dort vorhandene demokratische Heuchelei. Wohl am schärfsten formuliert findet sich diese radikale Kritik der westlichen Demokratie ausgerechnet bei einem Engländer, der im Krieg deutscher Staatsbürger wurde und 1917 sein Büchlein „Demokratie und Freiheit“ veröffentlichte: Houston Stewart Chamberlain. 18 Die Demokratie ist nach der Überzeugung dieses Autors in gewisser Weise die Staatsform der Unfreiheit an sich, weil „unter den verschiedenen Arten der Tyrannei […] die bleiern schwerste die Tyrannei einer Mehrzahl ist. Von Plato und Aristoteles bis zum heutigen Tage hat jeder Denker in dieser Beziehung das gleiche Urteil gefällt. Gegen jegliche andere Tyrannei ist Auflehnung möglich; im schlimmsten Falle befreit Dolch oder Revolver ein unterdrücktes Volk; hier aber findet die Unterdrü16 Siehe etwa, pars pro toto, Daniel Frymann [= Heinrich Claß], ‚Wenn ich der Kaiser wär‘ – Politische Wahrheiten und Notwendigkeiten. 2.Aufl. Leipzig 1912, bes. 40ff. u. passim; hierzu auch Johannes Leicht, Heinrich Claß 1868–1953. Die politische Biographie eines Alldeutschen. Paderborn 2012, 151ff. 17 Zu den politischen Debatten im Ersten Weltkrieg in Deutschland siehe u.a. Klaus Schwabe, Wissenschaft und Kriegsmoral. Die deutschen Hochschullehrer und die politischen Grundfragen des Ersten Weltkrieges. Göttingen u.a. 1969; Markus Llanque, Demokratisches Denken im Krieg. Die deutsche Debatte im Ersten Weltkrieg. (Politische Ideen, 11.) Berlin 2000. 18 Houston Stewart Chamberlain, Demokratie und Freiheit. München 1917; zu Chamberlains Kriegspublizistik siehe ebenfalls Geoffrey G. Field, Evangelist of Race. The Germanic Vision of Houston Stewart Chamberlain. New York 1981, 352ff., und neuerdings Udo Bermbach, Houston Stewart Chamberlain. Wagners Schwiegersohn – Hitlers Vordenker. Stuttgart/Weimar 2015, 387ff.

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ckung durch eine anonyme, unfaßbare Masse [statt], die sich als angeblichen ‚Volkswillen‘ gibt, und die Drahtzieher stehen verborgen dahinter.“ Das zeige nicht nur die Lage in Frankreich, „wo eine Handvoll reicher Männer das Land nach Belieben regiert, das zeigt uns Amerika, wo die Vermögen immer ungeheurer werden und die Multimillionäre über allem Gesetze stehen“. 19 In seinem Herkunftsland Großbritannien wiederum herrsche, wie eh und je, niemand anderes als eine aristokratischgroßbürgerliche Clique aus Angehörigen der wohlhabenden Oberschicht, die das dortige Zweiparteiensystem auf überaus geschickte Weise zur Beförderung des eigenen Vorteils manipuliere und auf diese Weise das Parlament beherrsche. Bereits diese wenigen Zitate zeigen, wie Chamberlain hier vorgeht: Er nimmt einzelne Aspekte der internen Demokratiekritik, wie sie etwa von Ostrogorski, Hasbach und anderen formuliert worden waren, auf, vergröbert, verzerrt und radikalisiert sie anschließend jedoch in einer Weise, die sich von deren ursprünglicher Argumentation weit entfernt, um sie desto konsequenter im Dienst der deutschen Kriegspropaganda instrumentalisieren zu können. 20 So sieht er denn auch folgerichtig im Parlamentarismus „das Grundübel unserer Zeit. Wissenschaftlich betrachtet ist er ein Ungeheuer: allen wissenschaftlichen Erfordernissen […] schlägt er ins Gesicht; völkisch betrachtet, ist er ein Wahnsinn: kein Mensch auf Erden besitzt ein ‚Recht‘ auf einen Wahlzettel […].“ 21 Chamberlains Argumentation läuft im Ergebnis darauf hinaus, Freiheit vor allem als innere geistige Freiheit zu definieren, die nach seiner äußerst simplifizierenden Auffassung allein in Deutschland zu finden sei, nicht jedoch in den modernen westlichen Demokratien, in denen die herrschenden kapitalistisch-großbürgerlichen (in Großbritannien auch aristokratischen) Cliquen mittels einer von ihnen dirigierten und politisch instrumentalisierten Massenpresse die große Mehrheit der Menschen manipulierten und damit geistig beherrschten und unterdrückten. Demokratie könne also, unter diesem Blickwinkel betrachtet, nichts anderes sein als ein Regieren mittels systematischer Erzeugung von „Massenpsychosen“. 22

19

Die Zitate: Chamberlain, Demokratie und Freiheit (wie Anm.18), 68f.

20

Zu seinen Gewährsleuten unter den Historikern zählte Chamberlain übrigens auch Jacob Burckhardt,

vor allem dessen „Griechische Kulturgeschichte“, aus deren erstem Band nach Auffassung Chamberlains reiche Belehrung „über das Chaotische, das aus den demokratischen Verfassungen sich ergab“, zu entnehmen war (ebd.73).

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21

Ebd.70.

22

Ebd.75.

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Nimmt man nicht nur Chamberlains vielleicht nicht zufällig im Jahr 1917 formulierte Polemik gegen die westliche Demokratie und den modernen Parlamentarismus, sondern auch ähnliche Schriften dieser Art in den Blick – man denke etwa an Sombarts „Händler und Helden“ 23 oder an Schelers „Genius des Krieges“ 24 –, dann wird hier ein Grundmuster erkennbar, das die Kritik an der Demokratie und die Polemik gegen die Demokratie, die sich später bei vielen deutschen Autoren der Zeit nach 1918 finden, nachhaltig bestimmt hat. Zwei Aspekte kommen hier zusammen: zum einen bestimmte Elemente der bereits vor dem Ersten Weltkrieg formulierten externen und internen Demokratiekritik, die jedoch als solche noch nicht als genuin antidemokratisches Denken zu bezeichnen ist, zum anderen das Erlebnis des Krieges und vor allem die Rezeption der Kriegspropaganda beider Seiten, die jeweils mit Verzerrungen, Vergröberungen, Verleumdungen und oft auch mit schlichten Falschinformationen gearbeitet hatte. Es war genau diese fatale Mischung aus sachlich durchaus begründbarer Kritik an bestimmten Aspekten der Verfassungswirklichkeit in den modernen Demokratien und Elementen grob verzerrender und verfälschender Kriegspropaganda, die im besiegten und durch den Versailler Vertrag politisch, ökonomisch und nicht zuletzt moralisch geknebelten Deutschland nach 1918/19 auf einen besonders fruchtbaren Boden fallen musste.

III. Demokratie als Fremdherrschaft versus „organische Demokratie“: Spengler, Moeller van den Bruck, Jung Dabei bleibt festzuhalten, dass die Krise des Liberalismus und der Demokratie in der Zwischenkriegszeit durchaus kein ausschließlich deutsches, sondern ein europäisches, in mancher Hinsicht sogar ein internationales Phänomen gewesen ist. 25 Der liberale Parlamentarismus schien in den Augen vieler Zeitgenossen ein historisch erledigtes, im Grunde dem 19.Jahrhundert angehörendes politisches Auslaufmodell zu sein; hingegen schien die Zukunft den neuen radikalen Ordnungsmodellen der äußersten Linken oder der Rechten zu gehören: dem Sozialismus, der Dikta-

23 Werner Sombart, Händler und Helden – Patriotische Besinnungen. München/Leipzig 1915. 24 Max Scheler, Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg. Leipzig 1915. 25 Dazu etwa die Beiträge in: Rudolf von Thadden (Hrsg.), Die Krise des Liberalismus zwischen den Weltkriegen. Göttingen 1978.

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319

tur des Proletariats einerseits, der Militärdiktatur, dem autoritären Ständestaat oder sogar der faschistischen Diktatur andererseits. Zwar besaß die demokratisch-parlamentarische Republik in Deutschland natürlich ebenfalls ihre Anhänger und Verteidiger 26, doch das größere allgemeine Interesse war in aller Regel den Gegnern der Demokratie sicher. Hierzu gehörte an erster Stelle Oswald Spengler, der im Jahr 1918 den ersten Band seines aufsehenerregenden und sofort intensiv diskutierten geschichtsphilosophischen Hauptwerks „Der Untergang des Abendlandes“ veröffentlichte. Zwei Jahre später folgte seine erste explizit politische Schrift, die unter dem Titel „Preußentum und Sozialismus“ eine gnadenlose Abrechnung mit westlicher Demokratie und Parlamentarismus formulierte. 27 Der simple Grundgedanke dieser Schrift besteht darin, die 1918/19 in Deutschland errichtete neue Republik als Kniefall vor der vorherrschenden politischen Ideologie der Sieger des Ersten Weltkriegs zu deuten – mit anderen Worten: den modernen Parlamentarismus und die Demokratie als etwas „Westliches“, damit genuin „Undeutsches“ zu entlarven. Denn nach Spengler ist der deutsch-preußische politische „Instinkt“ folgendermaßen zu charakterisieren: „Die Macht gehört dem Ganzen. Der einzelne dient ihm. Das Ganze ist souverän. Der König ist nur der erste Diener seines Staates. […] Jeder erhält seinen Platz. Es wird befohlen und gehorcht. Dies ist, seit dem 18.Jahrhundert, autoritativer Sozialismus, dem Wesen nach illiberal und antidemokratisch, soweit es sich um englischen Liberalismus und französische Demokratie handelt.“ Dass Spengler hier eine massive Vergröberung und Simplifizierung bestimmter Aspekte der externen Demokratiekritik der Zeit vor 1914 vornimmt, wird besonders in seiner Behauptung klar erkennbar, in Großbritannien sei „der Staat […], weltlich wie geistlich, abgeschafft und durch den Vorzug der Insellage ersetzt“ worden. 28 Auch die interne Demokratiekritik vergröbert Spengler, hier offenbar unter dem

26

Hierzu u.a. Christoph Gusy (Hrsg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik. Baden-Baden

2000; Kathrin Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik. Von der konstitutionellen Staatslehre zur Theorie des modernen demokratischen Verfassungsstaats. (Jus Publicum, 197.) Tübingen 2010; neuerdings auch mehrere grundlegende Beiträge in: Detlef Lehnert (Hrsg.), Verfassungsdenker. Deutschland und Österreich 1870–1970. Berlin 2017. 27

Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus (1920), in: ders., Politische Schriften. München 1933,

1–105; zur politischen Publizistik Spenglers und ihrem Kontext siehe auch Anton Mirko Koktanek, Oswald Spengler in seiner Zeit. München 1968, 215ff.; zu Spenglers Rezeption der „Ideen von 1914“ auch 166ff. 28

320

Spengler, Preußentum und Sozialismus (wie Anm.27), die Zitate 15.

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Einfluss des Buches von Hasbach, dem er die Kenntnis vieler Details und mittelbar wohl auch der Thesen von Ostrogorski und ähnlichen Autoren zu verdanken scheint. 29 Die Vermutung, dass Parteien, „vor allem englische Parteien, Teile des Volkes sind“, bezeichnet Spengler ausdrücklich als „dilettantische[n] Unsinn. In Wirklichkeit kann es, außer in Staaten vom Umfang weniger Dörfer, etwas wie Volksregierung, Regierung durch das Volk, gar nicht geben. Nur hoffnungslos liberale Deutsche glauben daran. Die Regierung liegt überall, wohin englische Regierungsformen gedrungen sind, in den Händen sehr weniger Männer, die innerhalb einer Partei durch die Erfahrung, ihren überlegenen Willen und ihre taktische Gewandtheit herrschen, und zwar mit diktatorischer Machtvollkommenheit.“ 30 Im Übrigen seien „Demokratie und allgemeines Stimmrecht“ nichts anderes als „erprobte Methoden des Kapitalismus“ – also letzten Endes nichts anderes als ein dem Volk vorgetäuschtes System von Pseudofreiheiten in den Diensten einer anonymen „Plutokratie“. 31 An dieser Stelle zeigen sich die von Spengler vorgenommenen starken Vergröberungen demokratiekritischer Auffassungen der Vorkriegszeit in besonders augenfälliger Weise: Hatten Männer wie Hintze, Schmoller, Delbrück, Hasbach und andere die konstitutionelle Monarchie als eine dem Deutschen Reich angemessene Staatsform verteidigt und gerechtfertigt, so erscheint in Spenglers Sicht jetzt nur noch ein autoritärer, in vermeintlich „preußischer“ Tradition staatssozialistisch organisierter Militärstaat als im eigentlichen Sinne „deutsch“, weil angeblich den deutschen Traditionen und deshalb auch dem, wie er sagt, „schicksalhaft“ bestimmten Wesen des deutschen Volkes entsprechend. Der Parlamentarismus – nach Spengler faktisch eine verhüllte Diktatur von Oligarchen und Plutokraten – möge in Großbritannien deshalb funktionieren, weil er dem Wesen des Inselreichs und seiner Bewohner entspreche, er lasse sich jedoch auf Deutschland nicht übertragen, ebenso wenig wie die französische Demokratie. Ein zweites, im Detail sehr anschauliches Beispiel eines entschieden demokratiekritischen bis antidemokratischen Denkens findet sich bei Arthur Moeller van den Bruck in dessen politischem Hauptwerk, im Krisenjahr der Republik 1923 unter

29 Spengler erwähnt Hasbachs Buch nicht, jedoch zeigen verschiedene Passagen, vor allem im zweiten Teil des „Untergangs des Abendlandes“, dass er aus dieser Quelle geschöpft haben muss. 30 Spengler, Preußentum und Sozialismus (wie Anm.27), 59. 31 Ebd.61.

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321

dem ominösen Titel „Das Dritte Reich“ veröffentlicht. 32 Das Motto des dritten Kapitels mit der lapidaren Überschrift „Liberal“, könnte das des gesamten Buches sein und formuliert in der Tat einen tragenden Grundgedanken der Ideen Moellers: „An Liberalismus gehen die Völker zugrunde.“ 33 An der deutschen parlamentarischen Demokratie seiner Gegenwart hat dieser Autor vor allem auszusetzen, dass in seiner Sicht das Volk keinen Anteil an ihr nehme, ja sie geradezu verachte; das gelte vor allem für den „Revolutionsparlamentarismus, den wir nach dem neunten November durch die Weimarer Verfasser bekamen. Er mag Gesetze beschließen oder er mag sie nicht beschließen, er bleibt im Volke völlig unbeachtet. Seine Verhandlungen sind vollkommen gleichgültig. Man erwartet nichts von ihm. Man traut ihm nichts zu. Man hat keinen Glauben.“ 34 Das wiederum hängt nach Moeller vor allem damit zusammen, dass die Träger der deutschen Revolution von 1918/19 davon überzeugt gewesen seien, es reiche aus, die westliche Demokratie in der Form des britischen oder französischen Parlamentarismus im Grunde einfach nachzuahmen, indem man „den Staat auf die Ziffer, die Summierung, die wurzellose Wählermasse stellte und dafür dann den Namen der Demokratie beanspruchte“. Das spezifisch deutsche Problem bestehe gegenwärtig nun darin, dass man nicht daran gedacht habe, gegen die Herrschaft der bloßen „Ziffer“ Schutzvorrichtungen in das politische System einzubauen, wie es in Großbritannien die Parteiregierung im Kabinett darstelle und in Frankreich der „Klüngel, der sich der Kammer zu seinen Privatzwecken, aber auch denjenigen Frankreichs zu bedienen wußte“. 35 In diesem einen Aspekt knüpft Moeller also an die schon im Vorkriegsdeutschland – aber eben nicht nur hier – vorhandene interne Demokratiekritik an, deren Vertreter die demokratische Staatsform als bloße Vorspiegelung einer Volksherrschaft, das heißt als erfolgreich vorgenommene Kaschierung einer verdeckten Regierung von Klüngeln, Kartellen, Interessengruppen aller Art sowie von Parteimaschinen und deren Funktionären deuten. Interessant und aufschlussreich zugleich ist nun aber, dass Moeller, hier in deutlichem Gegensatz zu Spengler, die Demokra32

Arthur Moeller van den Bruck, Das Dritte Reich. Berlin 1923; zum biographisch-historischen Entste-

hungskontext siehe auch André Schlüter, Moeller van den Bruck. Leben und Werk. Köln u.a. 2010, 287ff., 347ff. u. passim.

322

33

Moeller van den Bruck, Das Dritte Reich (wie Anm.32), 64.

34

Ebd.110.

35

Die Zitate ebd.115.

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tie – historisch gesehen – jedoch keineswegs als etwas genuin „Undeutsches“ abzutun versucht, sondern, im Gegenteil, die Überreste einer ursprünglich vorhandenen, in den Tiefen der deutschen Geschichte seit dem Spätmittelalter auffindbaren Tradition einer spezifisch „deutschen“ Demokratie erkennen zu können meint: „Wir waren ursprünglich ein demokratisches Volk.“ 36 Moeller nennt hier keine Namen, aber die von ihm in diesem Zusammenhang verwendete Begrifflichkeit, seine Berufung auf Körperschaftsgedanke, Gemeinschaftsideen, auf das „Genossenschaftsrecht“, die Hervorhebung der „genossenschaftliche[n] Zusammenbindung der Selbstverwaltungen auf allen Gebieten“ 37, schließlich auf das Ständetum als ein Grundprinzip der alten deutschen Verfassungsordnungen – dies alles weist darauf hin, dass er hier bestimmte Einflüsse der deutschrechtlichen Schule der deutschen Rechtswissenschaft des 19.Jahrhunderts aufgreift, die vor allem auf Otto von Gierke und dessen „Deutsches Genossenschaftsrecht“ zurückgehen. 38 Es bleibt dabei letztlich unklar, welche Form eine nach seiner Auffassung spezifisch „deutsche“ Demokratie, die sich deutlich von der westlichen, das heißt britischen, amerikanischen und französischen Form abhebt, denn haben sollte. Vermutlich gingen seine Vorstellungen in Richtung eines „organisch“ aufgebauten, nach Berufsständen gegliederten korporativen Staatswesens, eventuell mit einer Ständekammer statt einer parlamentarischen Volksvertretung und natürlich ohne politische Parteien. Eine irgendwie geartete Rückkehr zum Bismarckreich, dessen Verfassung er kritisiert, und gar eine Restauration der Monarchie lehnt er, wie die meisten Autoren der Konservativen Revolution, strikt ab. Inhaltlich recht ähnlich, wenngleich in der Sache ausführlicher und differenzierter, argumentierte ein weiterer Autor dieser Strömung, Edgar Julius Jung, in seinem Buch „Die Herrschaft der Minderwertigen, ihr Zerfall und ihre Ablösung durch ein neues Reich“, zuerst 1927 erschienen. Jung lehnt den Liberalismus ebenso konsequent ab wie vor ihm schon Spengler und Moeller van den Bruck, differenziert aber

36 Ebd.111. 37 Ebd.112. 38 Otto von Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht. Bd. 1–4. Berlin 1868–1913; zur staatsrechtlich-politischen Einordnung und Bedeutung siehe auch Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. 2: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800–1914. München 1992, 359ff., der das Werk Gierkes in den Kontext des gemäßigten deutschrechtlich geprägten Liberalismus des Kaiserreichs einordnet, was aber eine spätere Rezeption von konservativer Seite keineswegs ausschließt.

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323

ähnlich wie der Letztere zwischen radikaler moderner Demokratie einerseits und traditioneller, „organischer“ Demokratie andererseits. 39 Die zeitgenössische Demokratie, damit auch der Staat der Weimarer Reichsverfassung, verfällt dem Verdikt eines auf der Grundlage eines radikalen liberalen Individualismus aufgebauten „mechanischen Mehrheitssystem[s]“ 40, das sich als „Volksherrschaft“ nur ausgebe. Jung wendet sich jedoch nicht nur gegen die liberalen Voraussetzungen dieses Systems, sondern seine Kritik gilt vor allem den nach seinem Verständnis zutiefst korrupten und mit Hilfe manipulativer Mittel agierenden Protagonisten und den Strukturen des modernen Parteiensystems westlichen Zuschnitts – und hiermit bewegt er sich wiederum in den Bahnen all dessen, was bereits vor 1914 von der internen Demokratiekritik auf den Begriff gebracht worden war – auch hier jedoch wiederum in stark vergröberter Form und in scharf polemisch formulierter, abwertender Absicht. Die politische Partei in der modernen parlamentarischen Demokratie verfüge, so Jung, „über Presse, Einpeitscher und sonstige Propagandamittel. Mit ihrer Hilfe wird die Öffentlichkeit, das heißt der Wähler, empfänglich gemacht für die Ansichten, mit welchen die hinter der Partei stehenden Interessengruppen die Stimme des Wählers zu erobern beabsichtigen. Das Parteiprogramm spielt also nur die Rolle des Köders. Die wahren Ziele der Partei werden verborgen und gehen den Wähler nichts an. Wird doch nach erfolgter Wahl die ganze Geschicklichkeit der Parteipresse aufgewendet, um die Kluft zwischen Wahlversprechungen und späterer praktischer Politik der Partei zu überbrücken. In der Regel […] muss [dies] bei der völligen geistigen Versklavung der Wähler glücken.“ 41 Jung verweist nicht nur, wie vor ihm schon seit längerem andere Kritiker des modernen Parteiwesens, auf die hinter den Parteien stehenden anonymen Interessengruppen und Machtkartelle, sondern er betont ebenfalls nachdrücklich die immer stärker werdende Bedeutung der Parteiorganisationen: In den großen Parteien siege in aller Regel der Demagoge, stellt Jung fest, „in den kleinen der Intrigant. Wer die Beziehungen zu den Geldgebern, die Fäden zu bestimmten Machtgruppen, den Appa-

39

Edgar Julius Jung, Die Herrschaft der Minderwertigen, ihr Zerfall und ihre Ablösung durch ein Neues

Reich (1927). 3., erw.Aufl. Berlin 1930; dazu neuerdings vor allem Roshan Magib, Edgar Julius Jung (1894– 1934). Political Theorist and Man of Action. A Political Biography. Phil. Diss. Birbeck College, University of London 2011, 107ff.

324

40

Jung, Die Herrschaft der Minderwertigen (wie Anm.39), 225.

41

Ebd.233.

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rat der Parteibeamten in Händen hat, beherrscht die Partei.“ 42 Nach dem Krieg sei die frühere „Honoratiorenpartei“ des deutschen Kaiserreichs durch die im Kern korrupte, ihren Anhängern einträgliche Posten zuschanzende „Patronagepartei“ der Republik abgelöst worden. Als Gewährsmann für diese These nennt Jung hier unter anderem Robert Michels 43, der seinerzeit in seiner bekannten Studie „Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie“, vermutlich angeregt oder wenigstens beeinflusst durch die einschlägigen Forschungen von Ostrogorski, zu sehr ähnlichen Ergebnissen gelangt war. 44 Das Gegenmodell zur modernen parlamentarischen Demokratie westlichen Zuschnitts erkennt auch Jung, ähnlich wie vor ihm bereits Moeller van den Bruck, in einer organisch-berufsständisch aufgebauten politischen Gemeinschaft, die an den alten deutschen Gedanken der freien Genossenschaft anknüpft und die bestehenden Parlamente durch berufsständisch-korporativ gegliederte Interessenvertretungen ersetzen soll. Diese Konzepte, die damals etwa in partiell veränderter Form auch der frühe italienische Faschismus in den 1920er Jahren aufzugreifen und umzusetzen versuchte 45 und die ebenfalls von Juristen und Ökonomen wie etwa Heinrich Herrfahrdt 46 oder Othmar Spann 47 in ihren wissenschaftlichen Publikationen propagiert wurden, sah Edgar Jung als mögliche und gangbare Alternative zur von ihm vehement abgelehnten westlichen, als „mechanistisch“ kritisierten Mehrheitsdemokratie französischen oder angelsächsischen Zuschnitts. 48

42 Ebd.235. 43 Vgl. ebd.240. 44 Siehe oben Anm.10. 45 Aus zeitgenössischer deutscher Perspektive beleuchtet das Problem etwa Erwin von Beckerath, Wesen und Werden des faschistischen Staates. Berlin 1927; wichtig hierzu auch der Rezensionsaufsatz von Carl Schmitt, Wesen und Werden des faschistischen Staates (1929), in: ders., Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1923–1939. Berlin 1988, 109–115. 46 Heinrich Herrfahrdt, Das Problem der berufsständischen Vertretung von der französischen Revolution bis zur Gegenwart. Stuttgart/Berlin 1921. 47 Othmar Spann, Der wahre Staat. Vorlesungen über Abbruch und Neubau des Staates. Leipzig 1921. 48 Vgl. Jung, Die Herrschaft der Minderwertigen (wie Anm.39), 224ff. u. passim.

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325

IV. Ein Fazit Versucht man abschließend ein kurzes Resümee, dann wird zuerst einmal die Feststellung getroffen werden müssen, dass unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs und den im Grunde verheerenden Wirkungen der Kriegspropaganda die vor 1914 klar erkennbaren Grenzen zwischen sachlicher, das heißt externer und interner Demokratiekritik einerseits und der radikalen Ablehnung, also einer Fundamentalkritik der modernen Demokratie andererseits verschwimmen, ja eigentlich zusammenfließen zu einer neuen antidemokratischen Ideologie. Hier wird bei den meisten Denkern der politischen Rechten die traditionelle Demokratiekritik deutlich zugespitzt und radikalisiert. Das hängt vor allem damit zusammen, dass dieses Denken sich nun in der Opposition befand, also nicht mehr, wie noch bei Schmoller, Hasbach oder Hintze, die bis 1918 bestehende konstitutionelle Monarchie verteidigte, sondern die in Deutschland 1919 eingeführte demokratisch-republikanische Verfassung strikt ablehnte. Natürlich entwickeln diese neuen Autoren, von denen hier pars pro toto nur Spengler, Moeller van den Bruck und Jung angeführt worden sind, ihre Ideen, was nicht übersehen werden darf, in kritischer Auseinandersetzung mit den liberalen und demokratischen Denkern und Theoretikern, die es nach 1918 in Deutschland ebenfalls gegeben hat, von Alfred Weber bis Theodor Heuss, von Moritz Bonn bis Hermann Heller und anderen. 49 Analysiert man die – meist nur rudimentär entwickelten – Gesellschafts-, Sozial- und Verfassungsmodelle jener demokratiekritischen „konservativ-revolutionären“ Autoren, dann erkennt man, dass die meisten dieser Ideen im Grunde auf mehr oder weniger autoritär geprägte Regime hinauslaufen, seien es Präsidial- oder Militärdiktaturen, seien es korporative Ständestaaten mit jeweils starker politischer Führung und konsequenter Ausschaltung des Parteienpluralismus. Insofern wird man sie zwar nicht als direkte Vorläufer, auch nicht als Stichwortgeber, jedoch gerade in ihrem publizistischen Kampf gegen die deutsche parlamentarische Demokratie von Weimar zumindest als gedankliche Wegbereiter des Nationalsozialismus – wenn auch in aller Regel wider Willen – ansehen müssen. Und das gilt auch dann, wenn manche von ihnen nach 1933 öffentlich attackiert wurden

49

326

Siehe oben Anm.26.

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(gelegentlich sogar von Hitler persönlich) und publizistisch verstummten, wie Oswald Spengler, oder sogar von den Nationalsozialisten ermordet wurden, wie Edgar Julius Jung. Der Untergang der Weimarer Republik entpuppte sich schon sehr bald als Menetekel der deutschen Geschichte des 20.Jahrhunderts, und die radikale Demokratiekritik gerade der Zwischenkriegszeit muss in dieser Perspektive in erster Linie als ein zentrales Krisensymptom angesehen werden.

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Die Autorinnen und Autoren

Thomas Blank ist zur Zeit Juniorprofessor für Alte Geschichte an der Universität Mainz. 2014 erschien seine Dissertation „Logos und Praxis. Sparta als politisches Exemplum in den Schriften des Isokrates“, 2018 der mitherausgegebene Band „Die symphonischen Schwestern. Narrative Konstruktionen von ‚Wahrheit(en)‘ in der nachklassischen Geschichtsschreibung“. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die antike Religionsgeschichte sowie Bildungs- und Weisheitskulturen in der antiken Welt. Egon Flaig war bis zu seiner Emeritierung Professor für Alte Geschichte an der Universität Rostock. Er hat aus einer dezidiert historisch-anthropologischen und soziologisch-praxeologischen Perspektive Studien zur römischen Kaiserzeit, zur politischen Kultur der römischen Republik, zu Themen der griechischen Geschichte sowie zur Universalgeschichte der Sklaverei vorgelegt. Zuletzt erschien die umfangreiche Monographie „Die Mehrheitsentscheidung. Entstehung und kulturelle Dynamik“ (2013). Kritisch-besorgte Zeitgenossenschaft stand Pate bei „Gegen den Strom. Für eine säkulare Republik Europa“ (2013) und „Die Niederlage der politischen Vernunft. Wie wir die Errungenschaften der Aufklärung verspielen“ (2017). Sven Günther ist Full Professor for Classics and Ancient History am Institute for the History of Ancient Civilizations der Northeast Normal University in Changchun (VR China). Er hat breit zum römischen Steuerwesen publiziert, ferner zahlreiche Aufsätze zum Verhältnis von Wirtschaft, Politik, Krieg und Gesellschaft im klassischen Griechenland sowie zum ökonomischen Denken der Griechen vorgelegt. Ivan Jordović ist Ordentlicher Professor für Alte Geschichte an der Universität Novi Sad (Serbien). Nach der Bochumer Dissertation „Anfänge der Jüngeren Tyrannis. Vorläufer und erste Repräsentanten von Gewaltherrschaft im späten 5.Jahrhundert v.Chr.“ (2005) publizierte er unter anderem eine griechische Geschichte der Antike

https://doi.org/10.1515/9783110608380-013

329

in serbischer Sprache (Stari Grci. Portret jednog naroda, 2011). Eine Studie zu Platon ist im Druck. Hans-Christof Kraus hat den Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Passau inne. Er hat zahlreiche Bücher, Sammelbände und Aufsätze zur englischen, preußischen und deutschen Geschichte vom 18. bis 20.Jahrhundert sowie zur Ideen- und Historiographiegeschichte vorgelegt. Zuletzt erschien „Bismarck. Größe – Grenzen – Leistungen“ (2015). Marian Nebelin ist zur Zeit Juniorprofessor für Antike und Europa an der Universität Chemnitz und hat mehrere Sammelbände mitherausgegeben, darunter „Eliten nach dem Machtverlust? Fallstudien zur Transformation von Eliten in Krisenzeiten“ (2011). 2014 wurde er in Dresden mit der Studie „Freiheit und Gewalt. Die Semantik des Politischen bei Cicero“ promoviert. Zu seinen systematischen Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichtstheorie und die politische Philosophie sowie die Rezeptionsgeschichte der Antike. Karen Piepenbrink ist Professorin für Alte Geschichte an der Universität Gießen. Die Griechen gehören seit der Dissertation „Politische Ordnungskonzeptionen in der attischen Demokratie des vierten Jahrhunderts v.Chr. Eine vergleichende Untersuchung zum philosophischen und rhetorischen Diskurs“ (2001) zu ihren Forschungsschwerpunkten. Im Jahr 2003 gab sie den Sammelband „Philosophie und Lebenswelt in der Antike“ heraus. Kurt Raaflaub war David Herlihy University Professor sowie Professor of Classics and History an der Brown University (Rhode Island, USA). Seine Habilitationsschrift „Die Entdeckung der Freiheit. Zur historischen Semantik und Gesellschaftsgeschichte eines politischen Grundbegriffs der Griechen“ (1985) erschien 2004 revidiert in englischer Übersetzung („The Discovery of Freedom in Ancient Greece“) und wurde mit dem James Henry Breasted-Preis der American Historical Society ausgezeichnet. Er hat zahlreiche einflussreiche Sammelbände unter anderem zur athenischen Demokratie, zum athenischen Imperialismus, zu Krieg und Frieden in der Antike sowie zur vergleichenden Geschichte des Altertums herausgegeben und eine große Zahl von Aufsätzen publiziert.

330

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Claudia Tiersch ist Ordentliche Professorin für Alte Geschichte an der HumboldtUniversität Berlin. Die Habilitationsschrift behandelte 2006 das Thema „Demokratie und Elite. Zur Rolle und Bedeutung der politischen Elite in der athenischen Demokratie (480–322 v.Chr.)“. Ihre Forschungsgebiete sind neben der Geschichte Athens noch die römische Republik sowie die Spätantike. Zuletzt gab sie den Sammelband „Die athenische Demokratie im 4.Jahrhundert. Zwischen Modernisierung und Tradition“ (2016) heraus. Kai Trampedach ist Ordentlicher Professor für Alte Geschichte an der Universität Heidelberg. Neben seinen Monographien „Platon, die Akademie und die zeitgenössische Politik“ (1994) und „Politische Mantik. Die Kommunikation über Götterzeichen und Orakel im klassischen Griechenland“ (2015) hat er Aufsätze zum Verhältnis von Religion, Theologie, Philosophie und Politik in der antiken Welt vorgelegt. Uwe Walter ist Universitätsprofessor für Allgemeine Geschichte unter besonderer Berücksichtung der Alten Geschichte an der Universität Bielefeld. Seine jüngsten Buchpublikationen sind „Politische Ordnung in der römischen Republik“ und „Antike über den Tag hinaus. Bücher – Köpfe – Themen“ (beide 2017). Mit den Griechen befasst er sich seit der Göttinger Dissertation „An der Polis teilhaben. Bürgerstaat und Zugehörigkeit im archaischen Griechenland“ (1993).

DIE AUTORINNEN UND AUTOREN

331

Abkürzungen und Siglen

AJPh

American Journal of Philology

Bd.

Band

CJ

Classical Journal

CM

Classica et Medievalia

CQ

Classical Quarterly

Diels/

Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch von Hermann

Kranz

Diels. Hrsg. v. Walther Kranz. 3 Bde. 1. Aufl. 1903/1910, 6. Aufl. Berlin 1951/ 52. Unveränderte Neuaufl. Hildesheim 2004/2015/2016.

Ed(s.)

Editor(s)

fr.

Fragment

GFA

Göttinger Forum für Altertumswissenschaft

GHI

Greek Historical Inscriptions 478–404 B. C. Ed. by Peter J. Rhodes and Robin Osborne. Oxford 2004.

GRBS

Greek, Roman, and Byzantine Studies

GWU

Geschichte in Wissenschaft und Unterricht

H.

Heft

H&T

History and Theory

Hrsg.

Herausgeber

IG

Inscriptiones Graecae

JHIdeas Journal of the History of Ideas JHS

Journal of Hellenic Studies

LSCG

Lois sacrées des cités grecques. Ed. par Franciszek Sokolowski. Paris 1962.

SEG

Supplementum Epigraphicum Graecum

TAPhA

Transactions and Proceedings of the American Philological Association

TrGF

Tragicorum Graecorum Fragmenta. Hrsg. v. Bruno Snell, Stefan Radt u. Richard Kannicht. Bd. 1–5. Göttingen 1971–2004.

Vol.

Volume

https://doi.org/10.1515/9783110608380-014

333

ZHF

Zeitschrift für historische Forschung

ZPE

Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik

ZRG RA Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Romanistische Abteilung

334

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Register

1. Antike Personen und anonyme Texte

Gorgias

156, 189, 193, 204

Aeneas Tacticus

Herodot

23, 32 f., 38, 92, 119–123, 129, 149, 152,

230, 239

Aischines

64, 66, 68 f.

Aischylos

185, 199, 204, 218, 288–290

Alexander d. Gr. Alkibiades

156, 158, 171 f., 174, 179, 186 f., 190, 208, 281, 284,

69

154, 179 f., 245, 294–296

„Alter Oligarch“ 83, 195, 204 f., 209, 284, 288, 293, 295 (s. a. Pseudo-Xenophon) Andokides

49, 53

Androtion

65, 187

Anonymus Iamblichi Antiphon Apollon

Hippias v. Elis

286 f.

Hippodamos v. Milet 26, 159, 172 Hystaspes

191

68, 156, 171

Isokrates

13, 16, 18 f., 28, 34 f., 37 f., 48 f., 55–60,

66, 68, 72, 75 f., 84–86, 88, 95–98, 104, 107 f., 156, 204, 251, 261, 273

13, 15, 18, 27, 34 f., 38 f., 41, 70 f., 96,

99, 103, 116, 130, 136, 140–146, 149–151, 159,

Kallias

172, 185, 198, 249–270, 278, 283, 296, 317

Kallikles

(s. a. Pseudo-Aristoteles) Astyages

233

Athenagoras

286 28, 42, 68, 189, 193, 205–208, 286–292,

296 Kambyses

158, 181, 257

186 f.

Kleinias (Kreter) Kleisthenes

224, 298

28, 131–133

Charmides

68

Kleon 68, 277 f., 286

Chrysantas

234, 240

Kritias

155, 245

Kyros d. Gr. Dareios

190 f., 231–242

119 f., 190 f.

Deinarchos Demades

133

133

155

49 f., 155

Aristoteles

Hippias (Tyrann)

Hypereides 302, 305

215, 218

Aristophanes

288, 290 Hipparchos (Tyrann)

63, 69 211

Demosthenes

Leokrates Lochites

62, 64–69, 75, 187, 276, 305

302, 304 55

Lykurg (athen. Politiker)

302–305

Dionysios II. 105 f.

Lykurg (spartan. Gesetzgeber) 161 f., 298

Drakon

Lysias 49, 187, 301

133

Empedokles Ephialtes

156

133 f., 157

Euagoras 57 Eubulos Euripides

Megabyzos

119, 121

Megillos (Spartaner)

224, 298

Meidias 65–66

210 156, 171, 174, 180, 218, 254

Euryptolemos

Nikias

50, 191–193

276

https://doi.org/10.1515/9783110608380-015

335

Otanes

119, 121, 187, 208

Xenophon

13, 15 f., 18, 35, 40 f., 72, 83–86, 94, 153,

156, 161 f., 164, 187 f., 190, 229–248, 273, 294 Pausanias (Spartanerkönig) Peisandros

49

Peisistratos

132–135

Perikles

50 Zeus

214, 218, 224, 233, 240, 298, 309

15, 24, 26, 58, 77, 83, 132, 134, 154, 167,

170, 172, 179, 186, 192, 210, 212, 245, 269, 277,

2. Moderne Personen

294 f. Philipp II. v. Makedonien Pindar

62, 69, 211

Andurand, Anthony

109 f.

Arendt, Hannah 18, 47, 268, 300, 307

290, 299

Platon 13, 15, 18, 22, 26, 28, 33, 35, 37–40, 42, 53, 55, 60 f., 67 f., 70, 72, 74 f., 77 f., 83, 85, 88, 94, 97–

Austin, John L.

91, 203

Azoulay, Vincent 80, 100, 102, 303 f.

100, 104–106, 108, 136–141, 143, 149 f., 183–227, Bentham, Jeremy

261, 285 f., 292, 297–300, 317 Polos

189–191, 193, 196 f., 204, 206 f.

289, 296

Berlin, Isaiah 275

Prodikos 155

Bleicken, Jochen 10, 13, 26, 29, 115, 119, 148

Prometheus

Bourdieu, Pierre

Protagoras

309 155, 173, 180, 225, 257, 285, 290, 298 f.

Pseudo-Aristoteles

100

Brock, Roger 27 f., 48 Brunt, Peter A. 52

130–136, 150

Pseudo-Demosthenes 64

Bulgakow, Mikhail Afanasyevich 198 f.

Pseudo-Herodes Atticus

Burckhardt, Jacob 42, 274 f., 282–284, 304, 308,

155

Pseudo-Xenophon 15, 18, 26, 35, 38 f., 60, 123–130,

317

133, 138, 149 f., 153–181, 261, 288 (s. a. „Alter

Burkert, Walter

Oligarch“)

Butler, Judith

217 91, 93

Cartledge, Paul

Rhinon 134 f.

12, 26, 31

Carugati, Federica 46 Sokrates

74, 85, 98, 103, 106, 108, 137, 177, 189–

191, 193, 196, 204, 207, 215, 229, 244 f., 286, 292 Solon 28, 58, 115, 131–133, 135, 143, 160, 251, 265,

Chamberlain, Houston Stewart 317–319 Cohen, David 263 Constant, Benjamin 42, 110, 272–274, 282, 300, 306, 309

307 Sophokles

185, 204, 278 f., 289, 296 Dante Alighieri 275

Themistokles Theognis

Destutt de Tracy, Antoine Louis Claude 19

133, 170

Dodds, Eric R. 217, 222

160

Theophrast 34, 71 Theopompos v. Chios

57

Theramenes 134–136

Ehrenberg, Victor

110

Thersites 66

Engels, Friedrich

20, 292

Theseus

Euben, J. Peter

57, 180, 254

Thrasymachos Thukydides

336

Eder, Walter

211

80, 88

Evans, Nancy 209

156

16, 24 f., 60, 77, 114, 117, 136, 151,

154, 156, 158, 167, 172, 174, 179 f., 191 f., 203, 210,

Ferguson, Adam 272

212, 223, 257–259, 269

Ferrario, Sarah Brown 229 f.

Timarchos

304

Finley, Moses I. 155

Timotheos

107 f.

Flaig, Egon 27, 139, 141

Historische Zeitschrift //

BEIHEFT

74 / 2018

Flügel-Martinsen, Oliver

46

Raaflaub, Kurt A.

Fustel de Coulanges, Numa Denis

42, 274 f., 282

139

Rhodes, Peter J. 153 Roberts, Jennifer Tolbert 45, 123, 137

Haake, Matthias

59

Habermas, Jürgen

Rousseau, Jean-Jacques 269, 272, 277 f., 280–282

111

Hansen, Mogens H. 10

Samaras, Thanassis

Hasbach, Wilhelm

Schaefer, Hans

43, 315 f., 318, 321, 326

60 f.

115

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 198

Schmidt-Hofner, Sebastian

Herrfahrdt, Heinrich 325

Schmitt, Carl 112

Hintze, Otto

Schmitz, Winfried 148

313, 315, 321, 326

Hobbes, Thomas

271 f., 292, 306 f.

Schmoller, Gustav

Humphreys, Sally 303

115

313, 315, 321, 326

Schofield, Malcolm

140

Schöpsdau, Klaus

216, 218, 224

Jordović, Ivan 154

Schumpeter, Josef

296

Jörke, Dirk

Seeley, John Robert 312 f.

46

Jung, Edgar Julius

323–327

Skinner, Quentin

48, 307

Sombart, Werner

319

Keaney, John J. 130

Sontheimer, Kurt 311

Kroeker, Ron 38, 79, 82–85, 87–89, 229 f., 243 f.

Sourvinou-Inwood, Christiane 209 Spengler, Oswald 320–323, 326 f.

Locke, John 269

Stein-Hölkeskamp, Elke

116

Stirner, Max 42, 291 f., 296 Mannheim, Karl

21

Stollberg-Rilinger, Barbara 112, 147

Marr, John L. 153

Strauss, Leo

98, 236

Marx, Karl 20, 292 Michels, Robert 314, 325 Mill, John Stuart

Talmon, Jacob L. 306

274

Moeller van den Bruck, Arthur

Timmer, Jan 54 321–323, 325 f.

Monoson, Susan Sara 88

Tocqueville, Alexis de 43, 205, 272, 300, 306 f., 313 Trampedach, Kai

137, 139, 299

Montesquieu, Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède de 281, 315 f. Morawetz, Thomas

Walter, Uwe 16, 115

185, 198, 204

Walzer, Michael

Morris, Ian 101

30, 38, 79–82, 84, 88, 91–93, 100

Weber, Alfred 326 Weber, Max

Nebelin, Katharina

80, 115, 139

Nietzsche, Friedrich

42, 291 f.

314

Weingast, Barry R.

46

Nippel, Wilfried 116 3. Begriffe und Sachen Ober, Josiah 16, 24, 38, 45 f., 59, 70, 77, 80 f., 83, Adel/Aristokrat/Aristokratie 26, 38, 39, 101, 147,

89–91, 110, 116 f., 120, 136 f., 149 Ostrogorski, Moissei Jakowlewitsch 318, 321, 325

43, 314–316,

152, 170, 263 Amnestie 9, 38, 53, 72 Anarchismus

296

Pocock, John

48

anêr agathos 266

Popper, Karl

18

antike vs. moderne Freiheit 37, 110, 268–275, 306 Anti-Tyrannisgesetz (336 v. Chr.) 11

REGISTER

337

apragmosynê

26, 74, 77 f., 98, 104

– Literalität des dêmos 94

archê 54, 72, 200

– offenes System

Areopag

– ohne Reformagenda

11, 69, 133, 135

Arginusenprozess (406 v. Chr.)

40, 188, 190, 276 f.

28 13, 26

– ohne Theorie 155

Aristokratisierung der Bürgerschaft 115

– politischer Konkurrenzkampf

69

Arme und Reiche 124, 141, 146, 165, 168, 170, 288

– Professionalisierungstendenz

67

atimia

– Reformen

158, 177

attische Redner 45–72

250, 278

– Respekt unter Bürgern 65

Attischer Seebund 166, 169

– Respekt vor dem Gesetz

Ausdifferenzierung der politischen Sphäre 102, 259–262, 267

61,

– Revision der Gesetze

64

10

– Schutz von Eigentum

64

– Sitte und Lebensform 165 Besoldung

24, 32

– Stabilität 251–254

Bestenauslese 236, 240

– Theoriedefizit 45

bia/peitho

– Verrechtlichung 52

293, 295 f.

Bürgerbegriff

254–256

– Wert und Konzept

Bürgeridentität 209, 305

25

– Wissen 29

Bürgerkrieg (404/03 v. Chr.)

9, 223

Demokratietheorie (mod.) demokratischer Diskurs

46, 111 12, 15, 25–33, 45–48, 265

Common Sense 16, 86, 259

Demokratisierungsprozess

critical community

Diäten 125 f.

35

Dikê Deliberation

37, 46, 259

267

173, 257, 289

Diskursraum 28, 100

Demagoge 13, 324

Dokimasie 10, 17, 301

Demokratie, athenische

Dreißig Tyrannen

49, 59, 135, 187, 297

– Akzeptanz 59 – Alternativlosigkeit 148, 152

Ehre 137, 180, 217

– und Aristokratie 26

Eisangelie 302

– Außenpolitik 160

Ekklesia 37, 46, 59, 77

– bessere Variante 34

Entscheiden 112, 275

– Beteiligung aller Bürger – Depravierung

157

Erfahrungswissen

58

– Dynamik im 4. Jh. 72

Euergetismus

– Elite 72

eunomia

– Entscheidung

– Erfolgslegitimation

151

Fest 40, 45, 127, 163, 209, 219, 226

157

Festkalender 216 f.

157

Flucht ins Private 51

– freie Rede 164 – Freiheit

248

165, 176, 179, 307

39, 147

– Entscheidungskultur – Experiment

56

Erziehung 234

Freiheit

64, 176, 184

33, 39, 41, 51, 55, 168, 184–208, 253 f.,

264, 269, 282, 306, 318

– Gleichheit vor dem Gesetz 55

Freund-Feind-Unterscheidung 32

– Grundrecht

Fürstenspiegel

139

57, 231

– Ideologie 77, 159, 169–178, 229 – Inbegriff von Recht und Gesetz

63

– Institutionen 62

338

Gemeinwohl

123, 236, 238, 242, 245 f., 248, 277,

291, 296, 298, 307

– Integrationspotential

62

Historische Zeitschrift //

BEIHEFT

Generationenkonflikt 181

74 / 2018

Gerechtigkeit 32, 54, 76, 177, 220, 285, 293

Leistungsprinzip 242 f., 248

Gerichte 10, 29, 37, 46, 59, 126 f., 129, 163, 305

Leserschaft/Publikum

Gesellschaftskritik

Liberalismus

81 f.

Gesetz 60, 64, 126, 177 f., 234, 248, 275 f., 280, 284, 292 f., 300

38, 93, 95

43, 275, 289, 306 f., 319, 322 f.

Logik des Gegensatzes 31 Losung/Losungsprinzip 24, 119, 125, 178, 218,

Gesetz und Natur Gesetzesgehorsam

286 f., 289

Gesetzesgerechtigkeit 53, 55 Gesetzesherrschaft 200 Gesetzesorientierung Gewaltenteilung

260

56 Mehrheitsentscheid/Mehrheitsprinzip 142, 146, 257, 260, 284, 295

150

Meinungsfreiheit

28, 42, 280

Gleichheit 24, 41, 175 f., 184 f., 250, 253 f., 264, 289 f.

Meritokratie

58, 308

239, 248

mesoi 41, 175, 253 Mischverfassung 172

graphê paranomôn 10, 172, 203

Misstrauen

17, 147

Monarchie 57, 70, 120 f., 141, 224, 263 Häresie

220 f.

Honoratiorenherrschaft 34

Naturrecht 262, 290

Hopliten 124, 135, 166

Naturzustand 272, 292

Hoplitenpoliteia 49, 264

Nomokratie 225, 262–264, 298 f.

hybris 186, 264

Nomothesie 24, 29, 283, 297

Ideologie 19–25, 27

öffentliche Meinung 300, 307

– demokratische 15–33, 116

Oikos und Polis

– Funktion 22

Oligarch/Oligarchie 22, 30, 34 f., 39, 59, 64, 105,

Ideologiekritik Institution

19 f.

120–122, 128 f., 141, 174, 224, 250, 253, 263, 314,

138 f., 146, 169, 177, 213, 234, 261

Institutionsvertrauen 54 Integration

259

321 Oligarchie (411 u. 404/03 v. Chr.)

149

11, 48, 101, 151,

158, 181, 223

Intellektuelle/intellektuelles Feld 38, 80, 100, 102

oligarchische Ideologie 174

interne/externe Kritik 14, 16, 29 f., 37 f., 43, 79–89,

oligarchische Theorie

93, 100, 117, 149, 229, 312 f., 316, 319 f. Interorgankontrolle 260

Orakel 214 f.

isêgoria

Ordnung

47, 175, 185, 200, 234

isonomia 26, 47, 119, 175 f., 179, 200, 289

154

Oligarchisierung der Demokratie 11 206, 226, 248, 260

Orthodoxie/Orthopraxie 220

isopsêphia 175 Parlamentarismus 313, 318 f., 321 f. Jagd 246 f.

parrhêsia 185, 200 Partei/Parteiensystem 315 f., 324

kalokagathia 236, 238

Partizipation

Kommunikation 89–104, 258

patrioi nomoi

Komödie 29, 158

patrios politeia

Konservative Revolution

17, 323

149, 162, 255 34, 52 28, 34, 43, 57, 175

Peloponnesischer Krieg 15, 33 f., 223

Konstitutionelle Monarchie 313, 315 f.

Perserkrieg 172, 200

Korruption 127, 163

Philolakonismus 32

Kranzprozess (330 v. Chr.)

66

Philosophie

136, 159

polis tyrannos

54, 200

REGISTER

339

Polisreligion 209

Ungleichheit, natürliche 18, 290

politeia

Utilitarismus

26, 161– 64, 260, 265

296, 301

Politie 141 f., 262, 265 Politikwissenschaft 311

Verfassung der Fünftausend 136, 172

Politische Integration 103

Verfassungsgeschichte 136

Politische Kultur 89 f., 115

Verfassungsschema

Politische Theorie 48, 156

Verfassungswandel 120, 172

Politisierung

Volksbeschluss

308

262

129

Volkssouveränität

42, 276 f., 280 f., 283, 291, 306

Rat der Fünfhundert 29, 127, 255 f.

Volksversammlung

Rechenschaftslegung

volonté générale 42, 277, 281 f.

Recht des Stärkeren

17, 178, 186

29, 127, 255 f.

18, 193, 292

Rede 29, 35

Wissen 61, 242, 244

Republikanismus Reziprozität

269, 308

221

zôon politikon

Rhetoriktheorie 143 Sakralisierung

Zügellosigkeit

262, 268 39, 168, 194, 196

216–219 4. Stellen

Schaugeld 210 f. Seemacht 166, 169 f., 179 Seeschlacht von Salamis

Aischylos (Aischyl.)

135

Sizilische Expedition 40, 190, 200

– Pers. 402–405 199

Sklave 166, 239 Sophist

96, 98, 102, 155 f., 180, 189, 247

Andokides (And.) 4,6 36

Sparta 161 f. Sprechakt/Sprechakttheorie 12, 91 Stasis

9, 34, 49, 156, 158, 222, 224, 226

Summierungstheorie 15, 37, 41, 70, 140, 142, 144,

Antiphon (Antiph.) – Apol. fr. 1–2 50

150, 172, 256–259 Sykophanten 50, 305

Aristoteles (Aristot.)

Systemtheorie 38, 91 f.

– Ath. pol. 14,3

135

Theater 13, 45

16,2

135

Theokratie 224 f., 227

23,1–2

Theologie 217 f.

23,2

132

Theonomie

132

297, 300

26,1

133

thin coherence 28, 89 f.

27,4

134

totalitäre Demokratie 42, 269, 300, 304

28,1

132 f.

Totalitarismus 268

33,2

136

Tragödie

38,4

134

41,2

134

29, 35, 117, 157, 293

Tyrann/Tyrannis 59, 64, 152, 186, 196, 200, 206, 301

– pol.

Tyrannei der Mehrheit 308, 313

1275a22–33

Tyrannentopik 133

255

1275b17–20 255 Ungerechtigkeit 168, 196, 221, 224

340

Historische Zeitschrift //

BEIHEFT

74 / 2018

1279a37–1279b4 142

1280a20–21 144

Hypereides (Hyp.)

1281a42–1281b10 143

– Eux. 2–3 302

1281a42–1281b15 256

– Lyk. Fr. 4, col. 10, § 12

303

1281b21–38 144 1281b34–38 256

Isokrates (Isokr.)

1282a13–15 145

3,14 57

1282a27–32 146

3,17 ff.

1282a34–41 146

7,15–28

1283b42–1284a3 255

7,15 58

1289a26–30 262

7,20 58

1296a13–14 253

7,60 58

1317a40–b3 29

8,14 58

1317a40–1317b17 270

9,44 ff.

1317b12

10,36 57

185

57 28

57

12,5–34

96 f.

Euripides (Eur.)

12,130–131 58 f.

– Suppl.

12,147 58

152–161

180

15,232 57 f.

214–218

180

15,306 ff.

229–237

180

857–917

180

57 f.

Iustin (Iust.) – 6,9,3–4

211

Herodot (Hdt.) 1,82 32

Lykurg

3,31,3–6 187

– Leokr.

3,80,2–6 23

64

3,80,3 121, 186

147 303

3,80,5 121

149 305

304

3,80,6 29, 119 f. 3,81,1–2 174 f.

Lysias (Lys.)

3,81,2–3 23

2,18 51

3,82,1–4 23

2,61 51

3,82,4 175

7,27 f. 53 25,15 f. 301

Demosthenes (Demosth.) 8,41 62

Platon (Plat.)

10,4–5 62

– apol.

10,11–13 62

31c–32a 73 f.

10,15

62

13,20

62

17,10

63

461d–e 204

17,14

63

– Gorg. 466b–c

189

21,219 f. 65 f.

466c–e

197

59,88

482e 286

276

483b

288

483c

289 f.

REGISTER

341

483e

289 f.

484a–b

1,3 125

291

491e–492c

1,4 165

206

1,5 125 1,8 126, 165

– leg. 624b

298

1,11

167

1,14

288

653d 212

2,9 209

713a–718a 298 f.

2,17

128

713e

2,20

27, 123

224 f.

715b–d 225

3,3 128

715d 299

3,6 127

716c

3,8–9 163 f.

225, 299

759b–760a 216 759c

214

Sophokles (Soph.)

771d 213 771e

– Ant.

213

875b–c 885b

367–375 279

298

506f.

204

220 Thukydides (Thuk.)

– polit.

2,37,1 15

274e–277a 287b

60

2,37,2 192

60

2,38,1 210

292a–303d 60

2,40,2 77 3,12–13 158

– Prot.

3,37

337d 287

277

4,86,4 174 6,30

– rep.

223

7,69,2 192

331c–332c

32

8,67,2 203

347c–d 138 427b–c 517c

215

Xenophon (Xen.)

137

557a–e

– hell.

194

557b

185

558c

204

560d–562a 562b–c

1,7,12 188, 276 1,7,29 276 201 f.

– kyn.

184

12,10–17 246 f.

562b–563d 195 564a

13,15–18 246 f.

195

577c–e 195 f.

– Kyr. 1,1,1 231

342

Pseudo-Xenophon (Xen.)

1,2,2–3 237

– Ath. pol.

1,3,10 233

1,1 124

2,2,20–26

1,1–6 168

2,3,21 241

1,2 173

8,1,4 239

Historische Zeitschrift //

BEIHEFT

74 / 2018

240 f.

8,1,21–22 238

– mem.

8,1,44 242

1,2,9

8,2,22 241

1,2,10 244 f.

244

8,2,26–28 235 f.

1,2,41–46

294

1,2,45 295 – Lak. pol. 14

162

15,1 161

– vect. 1,1 245

REGISTER

343