Die athenische Demokratie [2 ed.] 3506719017, 9783506719010


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German Pages 648 [650] Year 1994

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Die athenische Demokratie [2 ed.]
 3506719017, 9783506719010

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Bleicken

: Die athenische Demokratie

Meinem Freunde Dr. Erdogan Içen gewidmet

Ebenfalls von Jochen Bleicken:

Die Verfassung der Römischen Republik

(UTB 460)

Verfassungs- und Sozialgeschichte des Römischen Kaiserreiches Band 1

(UTB 838)

Verfassungs- und Sozialgeschichte des Römischen Kaiserreiches Band 2

(UTB 839)

Die athenische Demokratie (Studienausgabe)

(UTB 1330)

Jochen Bleicken

Die athenische Demokratie

2., völlig überarbeitete und wesentlich erweiterte Auflage

Ferdinand

Schôningh

Paderborn : München

- Wien

- Zürich

Der Autor: Jochen Bleicken, geb. 1926, lehrte als Professor für Alte Geschichte an den Universitäten Hamburg (1962-1967), Frankfurt/M. (1967-1977) und bis zu seiner Emeritierung

1991 in Göttingen. Er ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen zur griechischen und römischen Geschichte, u. a. Die Verfassung der Römischen Republik (5. Aufl. 1989 = UTB 460); Verfassungsund Sozialgeschichte des Römischen Kaiserreiches, Bd. 1 (3. Aufl. 1989 = UTB 838), Bd. 2 (3. Aufl.

1994 = UTB 839). Die athenische Demokratie ist auch als gekürzte Studienausgabe (3. Aufl. 1991) als UTB 1330 erschienen. Titelbild: Athena Lemnia. Marmorreplik einer Bronzestatue des Phidias (vor 450 v. Chr.).

Staatliche Kunstsammlungen, Dresden.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Bleicken, Jochen: Die athenische Demokratie / Jochen Bleicken. 2., völlig überarb. und wesentlich erw. Aufl. Paderborn; München; Wien; Zürich: Schöningh, ISBN

1994

3-506-71901-1

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem Papier © 1994 Ferdinand Schöningh, Paderborn (Verlag Ferdinand Schöningh GmbH, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich

geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany. Herstellung: Ferdinand Schóningh, Paderborn ISBN 3-506-71901-7

Inhaltsverzeichnis Vorwort zur 1. Auflage

.........................................

11

Vorwort zur 2. Auflage .........................................

12

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Die Entwicklung Athens zur Demokratie l.

.................

17

Die Entwicklung der politischen Ordnung Athens bis auf Perikles ........................................

17

Vorsolonische Zeit - Solon - Peisistratos - Kleisthenes - Ostrakismos - Losung der Archonten - Politische Auswirkungen des Flottenbaus - Areopag; Reform des Ephialtes

|

. Die Bedingungen für die Entstehung des demokratischen Gedankens

...............................4...4.......

47

. Die Entstehung des Begriffs „Demokratie“ und der Beginn des verfassungspolitischen Denkens ...................... . Das Problem des Beginns der Demokratie urid deren Einheit im 5. und 4. Jahrhundert ................................

54 61

. Abrıß der Geschichte Athens in demokratischer Zeit

(480-322 v.Chr) ...« ον ννννννννννν εν εν here

66

Die fünfzig Jahre zwischen Salamis und dem Ausbruch des Peloponnesischen Krieges (Pentekontaëtie, 480-431 v.Chr.) - Der Peloponnesische Krieg (431-404

v.Chr.) - Gnechenland in der Zeit der Vorherrschaft von Sparta und Theben (404-360 v.Chr.) - Athen in der Zeit der makedonischen Suprematie (359-322 v.Chr.)

II.

Soziale und wirtschaftliche Grundlagen Athens zur Zeit der Demokratie .................................,....... 1. Die soziale Schichtung der Bevölkerung ..................

83 83

Landschaft - Bevölkerungszahl - Bürger - Metóken - Proxenoi - Freigelassene Stellung der Frau - Stadt und Land

. Die wirtschaftlichen Grundlagen

.........................

Produkte und Bodenschätze Attikas - Landwirtschaft - Handwerk - Bergwerke - Handel - Einfuhr und Ausfuhr - Geldgeschäfte - Charakter der Wirtschaft Vermögensverteilung - Verhältnis des Staates zur Wirtschaft - Getreideeinfuhren

98

6

Ill.

Inhaltsverzeichnis

Organisation von Heer und Flotte 1. Das Heer

.......................

119

....................................,..,.,..

119

Dienstpflicht - Milizgedanke - Waffengattungen des Heeres - Kommandoverhältnisse - Kampfesweise - Mauern von Athen/Piräus, Festungen in Attika

2. Die Flotte

..............................,.,....,,,2,2

127

Stärke der Flotte - Die Triere - Bemannung der Triere - Kampfesweise - Bau und Instandhaltung der Flotte; Trierarchie - Hafenanlagen

IV.

Stadt und Religion

......................................

V.

Die politische Gliederung Attikas

141

........................

153

Phratrie - Demos - Phyle - Trittys

VI.

Die politischen Organisationsformen (Institutionen) 1. Die Volksversammlung (ekklésia)

.......

161

.........................

161

Zusammensetzung; Ort, Zeit und Häufigkeit der Versammlungen - Willensbildung - Gegenstand der Beschlüsse

2. Das Gesetzgebungsverfahren des 4. Jahrhunderts (Nomothesie)

183

Entstehungsgeschichte der Nomothesie - Das Verfahren - Verhältnis zur Volksversammlung

3. Der Rat (boulé)

..................,............,.,......

190

Areopag ('Areos págos) und Rat der Fünfhundert (boulé) - Zusammensetzung des

Rates; Ort und Zeit der Sitzungen - Geschäftsgang - Politische Funktion - Zuständigkeit

4. Die Geschworenengerichte (dikastéria)

....................

203

Problemstellung; Begriff - Das Gerichtswesen des 5. und 4. Jahrhunderts Zusammensetzung und Organisation der Geschworenengerichte - Die Vertei-

lung der Richter auf die Gerichtshöfe - Prozeftablauf; Anzahl der Verfahren Faktoren der Urteilsbildung - Politische Bedeutung

5. Die Beamten

........,.................................

228

Der Begriff des Beamten - Die allgemeinen Grundlagen der Beamtenschaft - Der Charakter von Amt und Verwaltung - Die einzelnen Ámter

6. Das Finanzwesen der Stadt ..............................

246

Grundlagen - Einnahmen und Ausgaben - Die Verwaltung der Gelder - Das

System der Ausgabendeckung vor Errichtung der großen Finanzämter (Zusammenfassung) - Das Finanzwesen in der Demokraue

VII.

Verfahrensformen zur Sicherung der demokratischen Idee

265

1. Losung

265

ΕΞ

2. Überprüfung der Person vor Antritt des Amtes (Dokimasie)

273

3. Rechenschaft

277

.................................,........

4. Entgelt für die Tätigkeit im öffentlichen Bereich (Sold, Diäten)

.

280

Inhaltsverzeichnis

7

VIII. Die Grundlagen des demokratischen Gedankens 1. Gleichheit

...........

287

...................,....,............,,..

287

a) Gleichheit als politische Gieichberechtigung b) Freiheit der Rede (Isegorie)

c) Die Herrschaft der Masse. Kritik und Rechtfertigung d) Identität von Herrschen und Beherrschtwerden (Freiheit und Herrschaft)

e) Soziale und ökonomische Gleichheitsvorstellungen

2. Die Verwirklichung der Gleichheit in der politischen Praxis 3. Freiheit als neues Lebensgefühl IX.

Ziele der Politik

.

306

..........................

310

........................................

315

I. Mangelnde Bestimmtheit des politischen Zieles

............

315

2. Versorgung und wirtschaftliche Besserstellung der Bevölkerung

318

3. Außenpolitik: Demokratie und Herrschaft

................

322

.........................

325

.....................................

330

4. Schutz der politischen Ordnung 5. Zusammenfassung

Form und Intensität der politischen Praxis

................

333

I. Das politische Engagement der Athener ...................

333

2. Der Bürger als Träger der staatlichen Aktion

..............

337

..................,,,.,...,........

347

3. Das politische Klima

4. Die Rolle der Rechtsordnung in der Demokratie

...........

351

5. Die Verselbständigung eines öffentlichen Bereichs

..........

358

......

363

1. Lebenssituation und Mentalität des Bürgers im demokratischen Athen .................,........,.,.,..4seesee.

363

2. Die innere Opposition gegen die Demokratie

..............

371

3. Sophistik und Rhetorik

.................................

379

Grenzen der Demokratie

.................,.........4....

393

XIII. Symptome einer Schwächung der demokratischen Grundlagen im 4. Jahrhundert .................................

403

XIV. Leistungen der Demokratie

411

XI.

XII.

XV.

Die innere Einstellung des Atheners zur Demokratie

..............................

Demokratien außerhalb Athens im 5. und 4. Jahrhundert

XVI. Über antike und moderne Demokratie

..

....................

+17 423

Inhaltsverzeichnis

ZWEITER TEIL: HINWEISE AUF QUELLEN UND FORSCHUNG I.

Die Entwicklung Athens zur Demokratie

.................

437

Die Entwicklung der politischen Ordnung Athens von Solon bis auf Perikles - Die Entstehung des Begriffs „Demokratie“ und der Beginn des verfassungspolitischen Denkens - Das Problem des Beginns der Demokraue und deren Einheit im 5. und 4. Jahrhundert

II.

Soziale und wirtschaftliche Grundlagen Athens zur Zeit der Demokratie .........................................

469

Die soziale Schichtung der Bevólkerung (Landeskunde , Bevólkerungszahlen, Metóken, Proxenoi, Sklaven, die Frau, Verhältnis von Stadt und Land) - die wirtschaftlichen Grundlagen (Forschung zur Wirtschaftsgeschichte, Quellen, Landwirtschaft,

Bankwesen, Bergbauwesen, Außenhandel, Kornversorung)

Organisation von Heer und Flotte

.......................

489

Heerwesen (Hoplitenphalanx, Reiterei, Aushebungswesen, Ephebie, Mauern und Festungen) - die Flotte (Zahl der Kriegsschiffe und Schiffshäuser, Triremenproblem, Rekrutierung)

Stadt und Religion

......................................

Die politische Gliederung Attikas

........................

495 496

Phyle, Phratrie, Binnenwanderung, Demen

Die politischen Organisationsformen

.....................

499

Die Volksversammlung (ekklésia: Quellen, Besucherzahlen, soziale Zusammenset-

zung, Strategen, Demagogie, Entscheidungsprozesse, keine Gewaltenteilung, Eisan-

gelie und Paranomie-Klagen) - Die Nomotheten und das Gesetzgebungsverfahren des 4. Jahrhunderts (Quellen, Verfahren, Verhältnis zur Volksversammlung) - Rat (boulé und Areopag (Geschichte des Rates der Fünfhundert, Verhältnis zur Volksversammlung,

Zusammensetzung,

Vorsitz) - Die Geschworenengerichte

(dikasteria;

Quellen, Entstehung, Stellung des Richters, Verteilung der Richter auf die Geschworenenhófe, Charakter des athenischen Rechts, das ungeschriebene Recht, Rechtsprechung und Gesetzgebung, Gerichtspraxis, Rechtsprechung und Gesetzgebung, forensische Rhetorik) - Die Beamten (Quellen, Begriff des Beamten, Mindestalter, Amtsdauer, Zensusklassen, Kollegialität) - Das Finanzwesen der Stadt (Quellen,

Forschungsgeschichte, Volksvermógen, Besteuerung, Leiturgien)

VII.

Verfahrensformen zur Sicherung der demokratischen Idee

530

Losung (Ursprung, Einführung der Beamtenlosung, Verfahren) - Überprüfung der Person vor Antritt des Amtes (Einrichtung der Dokimasie, Charakter der Eignungsprüfung) - Rechenschaft - Entgelt für die Tätigkeit im öffentlichen Bereich (Entwicklungsgeschichte, Beamtenbesoldung, Sold für den Besuch der Volksversammlung und für die Richter, Theorikon, Gesamtumfang der Soldzahlungen, modernes

Urteil und politischer Wert der Zahlungen)

VIII. Die Grundlagen des demokratischen Gedankens

...........

538

Gleichheit (Quellen, Isegorie, Freiheit) - Die Verwirklichung der Gleichheit ın der politischen Praxis - Freiheit als neues Lebensgefühl

IX.

Ziele der Politik

........................................

Funktion der Außenpolitik, Wille nach Herrschaft - Bauten in Athen, insbes. auf der Akropolis - Schutz der politischen Ordnung

547

Inhaltsverzeichnis

X.

9

Form und Intensität der politischen Praxis

................

555

Das politische Engagement der Athener und der Bürger als Träger der staatlichen Aktion (Repräsentauonsgedanke, Unmittelbarkeit der Demokratie, personale Ver-

bindungen, arm und reich, Bürgerrechtsgesetz von 451/50, das politische Klima) Die Rolle der Rechtsordnung in der Demokratie (Arginusenprozeß, politische Justiz,

Sykophantie) - Die Verselbständigung eines öffentlichen Bereichs

XI.

Die innere Einstellung des Atheners zur Demokratie

......

569

Lebenssituation und Mentalität des Bürgers im demokratischen Athen - Die innere Opposition gegen die Demokratie - Sophistik und Rhetorik (Begriffsgeschichte von

Sophistes, politisches Umfeld der Sophisten, einzelne Sophisten)

XII.

Symptome einer Schwächung der demokratischen Grundlagen im 4.Jahrhundert ...............................,...

576

Soziale und wirtschaftliche Gesamtsituation Athens, Verhältnis von Volksversamm-

lung zu den Geschworenengenichten, soziale Zusammensetzung der Institutionen

XIII. Demokratie außerhalb Athens im 5. und 4. Jahrhundert ... XIV. Über antike und moderne Demokratie ....................

579 581

George Grote, Jacob Burckhardt, August Boeckh, Robert v. Pöhlmann, neuere Forschung

DRITTER TEIL: LITERATURVERZEICHNIS A.

Ausgaben, Kommentare

und Literatur zu ausgewählten

B.

Quellen .................. MEME Literatur zur athenischen Demokratie ....................

587 598

1. Allgemeine Literatur zur griechischen Geschichte der klassischen Zeit ...........................................

598

a. Darstellungen der griechischen Geschichte .,......................... b. Handbücher zu einzelnen Bereichen der griechischen Geschichte ........

598 599

2. Spezielle Literatur zur athenischen Demokratie Ι ll. — Ill. |. IV. V. . VL VIL — VII. IX. — X. XI. XII.

............

603

Die Entwicklung Athens zur Demokratie Soziale und wirtschaftliche Grundlagen Athens z.Zt. der Demokratie Organisation von Heer und Flotte Stadt und Religion Die politische Gliederung Attikas Die politischen Organisationsformen Verfahrensformen zur Sicherung der demokratischen Idee Die Grundlagen des demokratischen Gedankens Ziele der Politik Form und Intensität der politischen Praxis Die innere Einstellung des Atheners zur Demokratie Symptome einer Schwächung der demokratischen Grundlagen im 4. Jahrhundert

XIII.

XIV.

Demokratie außerhalb Athens im 5. und 4. Jahrhundert

Über antike und moderne Demokratie

Zeittafel ....................... ernennen TE Verzeichnis der im Forschungsteil zitierten modernen Autoren ....... Personen- und Sachregister .....,............................... Bildquellenverzeichnis .................................,.......

634 636 641 648

Vorwort zur 1. Auflage Dieses Buch verfolgt das Ziel, einem weiteren Kreis von historisch Interessierten, insbesondere Lehrern und Studenten, ein besseres Verständnis der atheni-

schen Demokratie zu vermitteln. Das erschien mir um so wichtiger, als das demokratische Athen trotz der scheinbar so ähnlichen politischen Grundanschauungen heute nicht leicht verstanden wird. Der schwierige Zugang ist nicht in erster Linie darın begründet, daß nur wenige über die altgriechische Sprache ın das Leben und Denken des klassischen Griechenland eingeführt werden. Die größte Barriere bilden die komplizierten Verfahrensformen der direkten Demokratie, und den modernen Betrachter dürfte auch nicht unerheblich der Um-

stand verwirren, daß es in Athen lediglich um eine politische Gleichberechtigung ging, also der wirtschaftliche und soziale Sektor - wenn auch nicht tatsächlich, so doch jedenfalls der Idee nach - aus dem politischen Raum weitge-

hend ausgeklammert blieb. Ebenso ist erklärungsbedürftig, warum eine Demokratie, in der unermüdliche Anstrengungen zur Beteiligung aller an allen Beratungen und Entscheidungen gemacht wurden, ein verhältnismäßig ruhiges soziales Klima ausgestrahlt hat und nicht innere Erschütterungen, sondern äußerer Druck zu ihrem Ende geführt haben. So will denn diese Darstellung nicht vornehmlich die Náhe unserer Zeit zu dieser ersten Demokratie der Weltgeschichte demonstrieren, sondern vor allem auch deren Andersartigkeit ins Bewußtsein rücken. Ich habe die Hoffnung, daß gerade aus der so gewonnenen Distanz für den demokratischen Gedanken in Antike und Moderne Einsichten gewonnen werden. Das Buch stellt das demokratische Athen in einem systematischen Aufriß dar. Die systematische Darstellung historischer Lebensformen ist nicht unproblematisch; doch schien mir der Versuch berechtigt zu sein, weil die demokratische

Idee und die Formen, in denen sie ihre praktische Verwirklichung erfuhr, sich in Athen während der rund

150 Jahre, in denen sie lebendig waren, jedenfalls

grundsätzlich nicht wandelten. Den vielfachen Korrekturen und Umformungen, denen auch die Demokratie in Athen trotzdem unterworfen war, ist indes-

sen auch in der Systematik Rechnung getragen worden: Auf die Entwicklung insbesondere mancher Verfahrensformen wird jeweils innerhalb der einzelnen Kapitel hingewiesen, und vor allem wird die allmähliche Herausbildung der Demokratie von ihren Anfängen bis zu ihrer Vollendung unter Ephialtes und

12

Vorwort

Perikles in einem einführenden Kapitel ausführlicher behandelt, dies vor allem auch deswegen, weil die besondere Ausprägung der athenischen Form von Demokratie gerade aus der Entwicklungsgeschichte gut verständlich wird. Die Systematik der Darstellung bringt den Nachteil mit sich, daß z. T. eng aufeinander bezogene Sachgebiete getrennt werden; so ist z. B. der Gedanke, daß die

politische Tätigkeit für die Athener einen Wert darstellte und gefördert wurde, sowohl in dem Kapitel über die demokratischen Grundgedanken (VII 2) als

auch in dem über die politische Praxis (X 1) behandelt worden. Ich habe diesen Nachteil, der auch Wiederholungen unvermeidlich machte, in Kauf genommen,

um die einzelnen Phänomene schärfer herausstellen zu können - in dem ge-

nannten Beispiel: um jeweils die Idee und die Wirklichkeit der politischen Aktivität klarer hervortreten zu lassen.

Der Forschungsteil nimmt auf den Leserkreis Bezug. Es konnten darum weder alle Aspekte angesprochen noch diejenigen, die gebracht wurden, immer sehr ausführlich erörtert werden. Ich habe diejenigen Probleme, die mir wesentlich erschienen, wie z. B. die Geschichte und Bedeutung der demokratischen

Grundbegriffe und die Rolle der Geschworenengerichte, ausführlicher besprochen als andere. Bisweilen mögen Neigungen eine Rolle für die besondere Auswahl oder die breitere Behandlung eines Sachgegenstandes gespielt haben. Doch war immer der Wille maßgebend, den Leser auf wichtige Kontroversen aufmerksam zu machen und ıhm dadurch ein tieferes Verständnis und die Möglichkeit der weiteren, selbständigen Durchdringung der Materie zu geben.

Ich habe vielen für die Hilfe bei der Drucklegung des Manuskripts zu danken,

insbesondere den Herren Thomas Göhmann, Matthias Pfordt, Helmut Schwäbl

und Dankward Vollmer sowie den unermüdlichen Sekretärinnen, Frau Margarete Martin und Frau Christine Winter. Göttingen, ım März 1984

Jochen Bleicken

Vorwort zur 2. Auflage Seit dem Erscheinen dieses Buches ist eine unerwartet große Anzahl von Schriften zur athenischen Demokratie verfaßt worden, darunter umfangreiche und wichtige Werke. Sowohl die dadurch veränderte Forschungsanlage als auch mein Wunsch, - neben der Korrektur von Fehlern und Irrtümern - größere Änderungen im Aufbau des Stoffes und vor allem auch Erweiterungen vorzunehmen,

haben dahingeführt, daß nicht nur der Umfang

des Werkes stark

gewachsen ist, sondern sich auch sein systematischer Rahmen wesentlich verändert hat. Für Hinweise und Kritik an der 1. Auflage des Buches, die dieser Neuauflage nicht unerheblich genützt haben, danke ich vor allem den Herren Kollegen P. Funke, M. H. Hansen, P. J. Rhodes und E. Ruschenbuch.

\orwort

13

Für die Anfertigung und Durchsicht des Manuskriptes hatte ich vielfältige Hilfe. Mein Dank richtet sich hier vor allem an die Sekretärin des Göttinger althistorischen Seminars, Frau Marianne Hohn, und an die Damen und Herren

doctores bzw. studiosae/studiosi Frank Goldmann, Loretana de Libero, Sabine Lippert, Michael Koch, Matthias Pfordt, Dirk Schlinkert, Markus Sehlmeyer und Dankward Vollmer. Herr Sehlmeyer hat mich auch in die Geheimnisse der modernen Computer-Technik eingeweiht, welche die Herstellung der Satzvorlage sehr erleichtert hat. Göttingen, ım August 1993

Jochen Bleicken

Erster Teil:

DARSTELLUNG

I. Die Entwicklung Athens zur Demokratie 1. Die Entwicklung der politischen Ordnung Athens bis auf Perikles Der Athener, der in der Zeit der entwickelten Demokratie, also etwa in der

zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts, über die Geschichte seiner Stadt nachdachte, verlegte die Entstehung des demokratischen Gedankens weit in die Vergan-

genheit zurück. Er vermochte sich die Entwicklung der ihm ebenso vertrauten wie von ihm geschätzten politischen Ordnung seiner Zeit nicht anders vorzustellen, als daß sie, von einzelnen großen Staatsmännern und Weisen erfunden

und weiter ausgebaut, in langen, schweren Kämpfen durchgesetzt und schlief-

lich bis zu der Höhe geführt worden sei, die er vor sich sah. Die Vorstellung, daß einzelne Gesetzgeber an der Schaffung oder Reform eines Staates maßgeblich beteiligt, ja als die eigentlichen Begründer der Ordnung anzusehen seien, war gemeingriechisch. Jede Stadt hatte ihren als Heros verehrten Stadtgründer, und Gesetzgeber, welche die in Unordnung geratene Verfassung wieder ins Gleichgewicht brachten, finden wir im 7. und 6. Jahrhundert an vielen Orten, so Lykurgos in Sparta, Charondas in Katane (Catania) und Drakon und Solon in Athen. Diese Männer genossen die uneingeschränkte Verehrung der Nachwelt

und erstarrten schließlich zu unangreifbaren Monumenten dessen, was als ihr Werk angesehen wurde: Die übernatürliche Autorität, die ihnen eine spätere

Zeit gab, schützte und trug die politische Ordnung ıhrer Städte. Es versteht sich, dal? die mit diesen Männern verbundene Gesetzgebung weitgehend eine Rückprojektion der späteren politischen Ordnung darstellte. Nur wenige unter den

alten Gesetzgebern sind uns historisch gut faßbar. Solon etwa hat seine Ansichten zu der Art und Weise, in der er seinen Auftrag zur Schlichtung der inneren Streitigkeiten in Athen erledigte, in Gedichten, der zu seiner Zeit einzigen Form

der literarischen Dokumentation, niedergelegt, von denen uns umfangreiche Fragmente erhalten sind. Auch die Athener der entwickelten Demokratie kannten selbstverstándlich die Gedichte Solons; aber nichtsdestoweniger projizierten sie in seine Derson, in der sich staatsmánnische Fáhigkeit und Weisheit in seltener Dichte zu verkórpern schienen, die politischen Gedanken der eigenen Zeit,

und also war Solon der Begründer des demokratischen Gedankens und damit

18

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

zugleich die Demokratie durch die Person dieses in der ganzen griechischen Welt angesehenen Mannes legitimiert. Die Zeit, die den Anfängen der Demokratie noch näherstand, hat allerdings, für unser Gefühl richtiger, in Kleisthenes den Begründer der neuen Ordnung erkannt; so sah es etwa auch Herodot. Im 4. Jahrhundert, als in dem Parteienhader zwischen Demokraten und Oligarchen der Legitimationsdruck stärker wurde, gab man der verteidigten Ordnung - mochte es nun je nach dem damaligen politischen Standpunkt die radikale oder die gemäßigte Demokratie sein - ein höheres Alter und verband sie mit Solon und schließlich sogar mit dem mythischen König Theseus, wobei dann Solon gelegentlich sogar die Rolle eines radıkalen Demokraten erhielt. Auch ın der athenischen Verfassungsgeschichte des Arıstoteles, die vom 7. Jahrhundert bis zum Ende des 5. Jahrhunderts reicht, hat Solon eine durch und durch demokratische Färbung erhalten, und obwohl Aristoteles in ihm einen Mann des Ausgleichs sah, unterstellte er ihm dennoch, daß er seine Gesetzgebung bewußt auf das Ziel einer Demokratisierung Athens ausgerichtet habe. Die Bemühungen der Athener, die ihnen so teure demokratische Verfassung möglichst weit in die Vergangenheit zu rücken, enthüllen sich dem Historiker leicht als Rechtfertigungsmechanismen, die aus den politischen Spannungen einer späteren Zeit geboren sind. Um so erstaunlicher ist es, daß noch heute manche Historiker, wohl unter dem Eindruck von Aristoteles, die Anfänge der

Demokratie mit Solon verbinden und also glauben, daß einige wichtige, uns aus der entwickelten Demokratie vertraute Ideen und Institutionen, wie das Ge-

schworenengericht, die Losung der Beamten und ein neuer, „demokratischer“ Rat, von ihm im Sinne einer qualitativen Veränderung der politischen Ordnung geschaffen worden seien. Man hat jedoch heute von der Vorstellung auszugehen,

daß ein grundlegender Wandel des politischen Bewußtseins niemals und nirgendwo dem schöpferischen Geist eines staatsmännischen Genies verdankt wird, sondern die Konsequenz eines ın aller Regel sehr komplexen Wandels der allgemeinen politischen und sozialen Lebensbedingungen der Menschen ist, und zumal ein Phänomen wie die Demokratie, die in ihrer einzigartigen Besonderheit einen Umbruch des ganzen politischen Denkens verlangte, nur aus einem vielschichtigen Bedingungsgefüge heraus hervorgegangen sein kann. Wir werden sehen, daß solche Bedingungen ausschließlich für Athen galten und darum die Entstehung des demokratischen Gedankens nur aus der athenischen

Geschichte verstanden werden kann. Waren die Athener im Irrtum, in Solon den ersten Demokraten zu sehen, muß

man ihnen doch zugestehen, daß das politische Werk Solons für die weitere Entwicklung des athenischen Staates einen so wichtigen Stellenwert hatte, daß dieser Irrtum verzeihlich erscheint. Mit Solon beginnt etwas Neues und in die Zukunft Weisendes. Nicht als ob er mit dem Herkommen gebrochen und einer veränderten politischen Welt das Wort geredet hätte. Dergleichen lag damals außerhalb jeder Vorstellung. Solon war ein Mann der Tradition und verstand sich zunächst einmal als ein Schlichter innerhalb gegebener sozialer und politischer Verhältnisse, als ein Schiedsrichter, der die in Streit geratenen politischen Lager wieder in eine gute, und das heißt alte Ordnung zurückführen wollte. Insofern er von seinem Werk her nicht nur, wie wir noch sehen werden, in die

l. Die Entwicklung Athens zur Demokratie

19

Zukunft, sondern eben vor allem auch in die Vergangenheit verwies und damit die alte Tradition nicht mit ihm abbricht, sondern sich in vielfältiger Weise

fortsetzt, wäre es auch für das Urteil über die Anfänge der Demokratie und nicht weniger für das Verständnis der Rolle, die in ihr noch das ganze 5. Jahrhundert hindurch viele große arıstokratische Familien spielten, wichtig zu wissen, wie denn die Gesellschaft und die politischen Organisationsformen vor

Solon ausgesehen haben. Eine ältere Generation von Forschern ging, vielleicht nicht ohne Blick auf die besser überlieferten Verhältnisse der römischen Frühzeit und gestützt auf etliche, scheinbar gut bezeugte Daten der schriftlichen Überlieferung, davon aus,

daß die einzelnen Landschaften und sich bildenden Städte (Poleis) von einer den römischen gentes vergleichbaren Aristokratie beherrscht worden wären, die in

großen Familienverbänden organisiert waren und für die der Begriff génos (Geschlecht) angemessen sei. Die Geschlechter hätten sich nicht nur dadurch ausgezeichnet, daß sie sich als gentile Großverbände mit Abstammung von einem gemeinsamen Ahnherrn verstanden und einen gemeinsamen Geschlechterkult mit gemeinsamer Grabstätte besessen, sondern sie auch eın kollektives Grundeigentum, gentilizisches Erbrecht und die gemeinsame Handlungsfähigkeit aller

Gentilgenossen gekannt hätten. Zum Widerspruch gegen dieses Bild führten vor allem quellenkritische Überlegungen. Denn abgesehen von den poetischen Werken, die uns aus archaischer Zeit erhalten sind (Homer, Hesiod, Lyriker), gibt es

keine schriftliche Überlieferung, die über das 5. Jahrhundert hinausginge, und was wir der zeitgenössischen Dichtkunst entnehmen können, entlarvt die herkömmlichen Darstellungen der Forschung zu einem nicht geringen Teil als ein Konstrukt. Es scheint vielmehr vieles darauf zu deuten, daß die Arıstokratie der

archaischen Zeit nicht durch eine Gruppe stabiler Geschlechter, sondern durch eine größere Anzahl unterschiedlich großer und ebenso unterschiedlich angesehener Einzelfamilien bestimmt war, die zudem nicht alle ihren sozialen Rang bewahren konnten, sondern von denen manche verschwanden und neuen Fami-

lien Platz machten. Das Fundament dieser Gesellschaft herausgehobener Familien ist danach nicht eine mehr oder weniger feste Zahl beständiger Geschlechter mit bestimmten personellen und lokalen Umrissen, sondern sind viele kleine und auch größere Häuser (ofkoi), die keinen geschlossenen Verband bilden,

sondern vereinzelt nebeneinander stehen und durch Instabilität charakterisiert sind. Sie befinden sich in einem ständigen Konkurrenzkampf, und die sie zusammenhaltende Ethik ist vor allem durch ihn, also durch Wettbewerb, charak-

tensiert. Da das Leben des Adligen, wie wir diesen Typ von Einzelkämpfer wegen seiner herausgehobenen sozialen Stellung und seiner trotz aller Vereinzelung alle Konkurrenten zusammenschließenden Kampfesethik nennen dürfen,

durch den Kampf um die Erhaltung des Hauses und die Sicherung bzw. Erhöhung des Ranges der Häuser untereinander bestimmt wird, ist der Partner auch nicht lediglich der lokale, räumlich am nächsten stehende Konkurrent, sondern ebenso der außerhalb der engeren politischen Heimat (Stamm, Stadt) stehende

Mann, und es erstreckt sich also diese Adelskultur über weite Bereiche Griechenlands. Die Bindungen an die engere politische Gemeinschaft sind darum jedenfalls zunächst noch locker und besonders in Krisenzeiten, wie sie das

20

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

gesamte 6. Jahrhundert darstellt, wegen der ausschließlich auf die Durchsetzung des Eigeninteresses bedachten Haltung eher noch gespannter. Auch wenn vor allem seit der Großen Kolonisation viele dieser Familien Aufgaben im Interesse der übergeordneten politischen Einheit finden und übernehmen, sind sie doch alle in einem politischen Sinne weitgehend beziehungslos. Es fällt gerade darum nicht leicht sich vorzustellen, wie sich unter diesen Bedingungen ein politisches Gemeinwesen bilden und festigen konnte, an dem auch der Adlige teilhatte. Jedenfalls läßt sich von einer Gesellschaft mit stabilen, großen Familien (Geschlechter) die allmäh-

liche Herausbildung eines institutionalisierten Adelsrates und von Exekutivorganen, die von jenem mehr oder weniger abhängig sind, sehr viel leichter vorstellen als von einer unbestimmten Anzahl instabiler Kleinfamilien. Bei der Annahme eines unständigen Adels mit zudem wenig festen Beziehungen zur eigenen Stadt bzw. Landschaft müssen wir davon ausgehen, daß einzelne Adlige sich, aus wohlverstandenem Eigeninteresse, „Bundesgenossen“ bei nichtadligen Gruppen gesucht haben,

die für lokale Interessen oder um Bestätigung ihres auf Grund von Kampfesleistungen als Hopliten gewachsenen gesellschaftlichen Ranges nach Personen suchten, die sie zu führen und ihre Forderungen durchzusetzen vermochten. Wie auch immer die größere staatliche Dichte erreicht wurde: In Athen haben wir dann jedenfalls unmittelbar vor dem Auftreten Solons, also um 600 v. Chr., die Umrisse

eines institutionalisierten Gemeinwesens (Polis) vor uns. Von den politischen Einrichtungen, die wir in dieser Zeit in Athen vor uns sehen, sind vor allem der

Adelsrat (Areopag) und die neun Archonten als das höchste Exekutivgremium sowie ein „staatliches“, zumindest für die Tötungsdelikte zuständiges Gericht herauszuheben, das nicht nur mehr schiedsrichterliche Instanz, sondern eine öffent-

lich-rechtliche Institution mit Gerichtszwang und effektiver Streitbeilegung war,

nämlich das Gericht der 51 Epheten. An der Spitze der Archonten stand der Archon, der dem Jahr den Namen gab (eponymer Beamter). Von den anderen Archonten führte einer das Heer (Polemarchos), ein anderer besorgte die wichtigsten religiösen Angelegenheiten (Basileus). Die restlichen sechs waren Richter (Thesmotheten). Die Archonten sollen ın sehr alter Zeit für jeweils zehn Jahre

gewählt worden sein. Später, nach der Überlieferung seit 683/82, dem Jahr des

ersten jährlich gewählten Archon Kreon, wurde das Archontat zum Jahresamt. Die Befristung des Amtes, durch die alle Ämter jährlich reihumgingen (Annuität), ist ein typisch arıstokratischer Regierungsmechanismus. Er verweist darauf, daß sich jedenfalls diejenigen Adligen, die sich um Ämter bewarben, als eine nun auch

innerhalb

des politischen Gemeinwesens miteinander konkurrierende Gesell-

schaft aufgefaßt haben. Die Adelswelt geriet in den meisten griechischen Staaten schon seit den Anfängen des 7. Jahrhunderts in eine schwere Krise. Die Ursachen sind für uns heute nur noch schwer faßbar, und sie können für diesen Zusammenhang auch

auf sich beruhen. Es sei nur soviel gesagt, daß dabei die Übervölkerung in Attika sowie neue wirtschaftliche Praktiken, die sich aus der Erfindung der Schrift im 8. und der der Münze um die Mitte des 7. Jahrhunderts ergaben, eine Rolle gespielt haben. Allerdings war die wirtschaftliche Entwicklung in Westkleinasien damals weiter fortgeschritten, Attika in dieser Hinsicht eher rückständig, und es dürfte das Münzwesen hier frühestens zu Beginn des 6. Jahrhunderts,

l. Die Entwicklung Athens zur Demokratie

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eher erst unter den Peisistratiden in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts eingerichtet worden sein. Einen wesentlichen Faktor des Wandels bildeten auch veränderte Formen des Kampfes. Der adlige Einzelkampf, überhaupt die Konzentration des Kriegshandwerks beim Adel, trat zunehmend zurück. Die Adlıgen zogen nun mit größeren Trupps von Abhängigen ins Feld, unter denen viele schwer bewaffnet waren und als Fußsoldaten kämpften; es bildeten sich die Vorläufer der späteren Schlachtreihe von Schwerbewaffneten (Phalanx). Der allgemeine Wandel der politischen Gesamtsituation wurde zunächst vor allem für die ärmere und abhängige Bevölkerung spürbar, da die wirtschaftlichen Schwierigkeiten und die stärkere militärische Belastung auf sie abgewälzt wurden. Für uns werden diese Verhältnisse in Attika faßbar durch Klagen von Bauern über ungerechte Urteile. In Böotien hatte bereits um 700 Hesiod seinen Protest gegen die „schiefen“ Urteile der Adligen erhoben; hundert Jahre später entnehmen wir den Gedichten Solons ähnliche Vorwürfe. Von Solon erfahren wir auch genauere Daten über die Lage der Bauern in Attika. Viele von ihnen waren verschuldet. Da es möglich war, auf seinen Körper zu leihen, konnte ein Bauer bei Zahlungsunfähigkeit vom Gläubiger versklavt und sogar verkauft werden. Manche Bauern liefen einfach davon, wieder andere, die im Lande blieben, àchzten unter dem Druck ihrer Schulden oder fristeten ein kümmerli-

ches Dasein als Pächter. Der Wandel der Lebensbedingungen und die große Not schufen gerade bei der ärmeren Bevölkerung neue Bewußtseinslagen, in denen nicht nur die Not und die an ihr Schuldigen erkannt, sondern auch Vorschläge für Abänderung gemacht wurden. Die Ausweglosigkeit der Situation wie die Tatsache, daß der Bauer - als Soldat oder Pächter - Leistungen vollbrachte, erzeugte auch bereits ein Selbstbewußitsein, das sich in politischen Forderungen niederschlug. Der radikalste Vorschlag zielte auf die völlige Neuaufteilung des Landes (anadasmós tés ges); in ihm wurde die Adelswelt als ganze in Frage gestellt. Nicht ganz so umstürzlerisch, aber auch von weitreichender wirtschaftlicher Konsequenz war die Forderung nach Erlaß aller Schulden (chreön apokopé). Nicht jeder ging so weit wie diejenigen, die alles Land neu verteilt wissen wollten; die alten Bindungen waren stark. Aber jeder, auch die meisten Adligen,

wußte, daß etwas geschehen mußte. In Athen war die erste Reaktion auf die Unruhe die Aufzeichnung des geltenden Rechts. Das war nicht neu; dergleichen war bereits in manchen griechischen Städten praktiziert worden. Mit einem solchen Gesetzgebungswerk, durch das jedenfalls im Prinzip nicht neues Recht geschaffen, sondern das alte aufgezeich-

net wurde, sollte der Forderung nach Rechtssicherheit Genüge getan werden: Jeder konnte nun die Bindung des Richters erkennen und unter Umständen auf sie verweisen. Für Athen übernahm Drakon im Jahre 624 diese Aufgabe. Da hier damals zum ersten Male das Recht (hier: Strafrecht) aufgezeichnet wurde, war sein Werk eine große Tat, und er scheint auch manche, auf die besondere

Lage seiner Zeit verweisende Neuerung eingeführt zu haben. Drakon galt den Athenern später als ein strenger Gesetzgeber; aber die Härte mancher Sätze hat

nicht er, sondern der Geist seiner Zeit zu vertreten. Die Personalisierung des Zeitgeistes ist zwar verständlich, aber das Urteil ungerecht, besonders, wenn es

der heutige Historiker, der es besser wissen könnte, den Athenern nachredet.

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Mit

Solon

begann eine neue Etappe der Entwicklung Athens. Sein Werk

ließ kaum einen Lebensbereich der Gesellschaft unberührt. Hier sollen lediglich die Maßnahmen vorgestellt werden, welche die politische Ordnung betrafen.

Solon wurde im Jahre 594 mit dem Auftrag zum Archon gewählt, die in zwei feindliche Lager zerfallene Bevölkerung Attikas wieder zu versöhnen. Er war,

wie es in so vielen griechischen Städten dieser Zeit gemacht wurde, als Schiedsrichter und Versöhner (aisymnetes, diallaktes) mit unumschränkter Macht bestellt worden, und das hıeß, daß seine Person als der letzte Ausweg aus einer

völlig verfahrenen inneren Situation angesehen wurde. Zahlreiche Bauern waren in Abhängigkeit von Adlıgen gekommen oder hatten gar ihr Landstück verloren, nicht wenige waren auch in Schuldknechtschaft geraten oder aus

Attika geflohen, um dieser zu entgehen. Unter den Adligen/Reichen dürften wohl auch manche gewesen sein, die, ohne einer einflußreichen Familie anzugehören, zu Geld gekommen waren. Solon, selbst ein Adliger, wenn auch ohne

großes Vermögen, löste die Aufgabe ım Sinne eines Mittlers zwischen den

Parteiungen; in seinen Gedichten hat er viele Male diese seine Rolle als die über den Streitenden stehende Instanz beschrieben, die jeder Seite das ıhr Zukom-

mende zumißt. Den Auftrag der Vermittlung hat er bitterernst genommen, und gerade aus ihm heraus, der den Kerngedanken seiner Reform darstellt, hat er

Neues geschaffen: Die Abwehr der parteiischen Standpunkte, die in der Tradition verwurzelt waren, gab ihm schöpferische Kraft zu bis dahin nicht Gedach-

tem. Da er aber wußte - und auch das wird durch ıhn selbst vielfach bezeugt -, daß der mittlere Weg beide Lager wenig befriedigen würde, hat er zur Festigung seines schiedsrichterlichen Werkes die Menschen in Attika mittels seiner Gesetzgebung auf den vielfältigsten Gebieten auch zu einem Bewußtsein der Einheit und Zusammengehörigkeit bringen und ihnen so ein Gefühl der Verant-

wortlichkeit für das Ganze geben wollen. Dieser zweite Gedanke gibt seinem Werk eine für seine Zeit eigentümliche politische Note und weist weit über sie hinaus in die Zukunft.

Die erste und wichtigste Tat Solons war die Beseitigung der auf den Grundstücken liegenden Lasten (seisächtheia): Sie war nicht schon Reform, sondern die Voraussetzung dafür, daß die Menschen Attikas überhaupt wieder zu einer Gemeinschaft zusammentreten konnten: Sie bedeutete die Wiederherstellung der von vielen verlorenen Verfügbarkeit über die eigene Person. Tausende, die ins Ausland geflüchtet waren, kehrten nun zurück; andere, die bereits verkauft worden waren, ließ Solon loskaufen; wieder andere fühlten sich von dem Druck der Schulden befreit. Die ,,Lastenabschüttelung" war ein tiefer, jedoch notwen-

diger Eingriff in die Wirtschaft des Landes; aber sie vermied den Umsturz aller Verhältnisse, die eine Neuverteilung des Bodens bedeutet hátte, und stellte damit die eine, geknechtete Gruppe wieder auf die Beine, ohne damit die andere zu vernichten. Solons wichtigste Reform lag in der Verknüpfung der politischen Rechte mit dem Vermógen und in deren Abstufung durch die Schaffung von Vermógensklassen. Diese von der späteren Staatstheorie als Timokratie (von time,“ Schätzung", und kratos, „Kraft“, , Macht") bezeichnete politische Ordnung bedeutete

einen Bruch mit der Vergangenheit: Die Fähigkeit zu politischem Einfluß war

l. Die Entwicklung Athens zur Demokratie

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künftig nicht mehr an die Herkunft, das heißt an die Zugehörigkeit zum Adel, sondern an das Vermögen, also an eine berechenbare Größe geknüpft. Wer ein bestimmtes Maß an Erträgen nachzuweisen vermochte und darum in den Schätzungslisten stand (timémata parechömenoi,

„die Vermögen

nachweisen

kön-

nen“), gehörte zu dem Kreis der Berechtigten. Die Zeit, in der die Adligen allein das politische Leben geprägt hatten, ging mit dieser Neuerung zu Ende, auch wenn Solon - und hier erscheint er uns wiederum als Vermittler - den alten Familien innerhalb der Timokratie eine beherrschende Stellung gab. Den zwei Personengruppen nämlich, die er bereits als institutionalisierte Klassen vorgefunden haben dürfte, den Reitern (das sind im großen ganzen die Adlıgen) und den Zeugiten (mit ihnen müssen wir die Masse der großen und mittleren Bauern gleichsetzen), fügte er eine dritte hinzu, nämlich die reichsten Grundbesitzer,

welche über 500 Scheffel (= 26 250 I) pro Jahr an festen und flüssigen Produkten Ertrag hatten. Diese „Fünfhundertscheffler“ (pentakosiomedimnoi) zeigen mit ihrem Namen deutlich an, daß sie als eine Gruppe künstlich geschaffen, nicht natürlich gewachsen waren, und verweisen damit auf Solon als ihren Schöpfer: Um die Vornehmsten und Reichsten, die sowohl durch die Schuldentilgung als auch durch die Erweiterung des Kreises der politisch Berechtigten am schwer-

sten getroffen waren, zu versöhnen, nahm er sie aus der Gruppe der Ritter heraus und stellte sie an die Spitze der nunmehr drei Vermögensklassen. Die nach Vermögen abgestuften Klassen - die Reiter mußten 300, die Zeugiten 200

oder 150 Scheffel Ertrag nachweisen - wurden nun in Beziehung zu den politischen Rechten gesetzt: Aus der ersten Klasse wurden die Archonten und Schatzmeister gewählt; das oberste Amt, das Archontat, blieb damit den Reichsten, die

zugleich als die nach Herkunft Vornehmsten anzusehen sind, vorbehalten. War das passive Wahlrecht auf die Bürger mit Vermógen von mehr als 200/150 Scheffel Ertrag begrenzt, dürfte der Wahlkôrper, also die Volksversammlung,

doch auch die weniger besitzenden Bürger (Theten) umfaßt haben. Wir besitzen darüber allerdings keine eindeutige Aussage und kónnen das daher lediglich aus dem Gesamtcharakter des solonischen Werkes, das auf alle freien Bewohner

Atukas zielte, erschließen. Entsprechend der Bedeutung derjenigen Bürger, die sich für den Hoplitendienst auszurüsten vermochten (boi ta höpla parechömenoı),

dürfte allerdings das Gewicht der ármeren Bürger in der Volksversammlung auch dann, wenn sie als Leichtbewaffnete Dienst taten, nicht groß gewesen sein. Denn da Beschlüsse dieser Versammlung damals so gut wie ausschließlich auRenpolitische Fragen betrafen, versteht sich eine Zurückhaltung derjenigen Bürger, welche die Politik nicht auch bewaffnet durchsetzten, von selbst. Da Solon

in seiner Reform nur drei Klassen konstituierte, standen die nicht dazugehórigen Bürger nach lateinischer Terminologie infra classem. Doch ist dieser Begriff hier nur als ein auf die Klasseneinteilung, nicht auch auf die politische Berechtigung bezogener zu verstehen: Zu den politisch Berechtigten sind auch die Bürger infra classem zu zählen, doch waren sie keine ,, Aktiv-Bürger".

Diese Neuerung hatte weitreichende Konsequenzen. Die gemeinsam in der Schlachtreihe Stehenden waren die neuen „Aktiv-Bürger“. Gerade der Krieg mit seiner auf Gleichheit und den - im wahrsten Sinne des Wortes in der Schlacht

erforderlichen - Gleichschritt ausgerichteten Lebensweise mußte das Bewußt-

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

sein von der politischen Einheit und Verantwortlichkeit stärken. Darüber hinaus waren die politisch Berechtigten nun zu einer berechenbaren Größe geworden; denn nicht mehr die in der Tradition gegründete Herkunft und Charisma (arete), sondern das Vermögen bestimmte die Zugehörigkeit zu den politisch Mündigen. Jeder konnte nun auch ın ihren Kreis hineinwachsen; denn die adlıge Herkunft, die als eine absolute Größe den Zugang bisher verhindert hatte, war jedenfalls für die Bestimmung des politischen Rechts gegenstandslos geworden. Der Kreis derjenigen, die Politik machen durften (politenömenot, politai), war aber Jetzt nicht nur genau bestimmbar, er war auch sehr viel größer geworden: Die Athener waren plötzlich eine Masse, und ihre Stadt, die ein großes Territorium hatte, gewann damit sofort an politischem Profil. Von großem Gewicht war auch die Einführung einer Berufungsinstanz gegen den Spruch des (auch jetzt noch immer) adligen (Schieds-)Richters: Jeder Athe-

ner konnte gegen das Urteil der Thesmotheten Berufung (ephesis) bei einer offenbar nun neu eingerichteten Institution einlegen. Da unsere Überlieferung Solon bereits das Gerichtswesen der entwickelten Demokratie einrichten läßt (mit Geschworenenhöfen, Rechenschaftslegung der Beamten usw.), können wir diese Neuerung nur sehr mühsam aus den späteren Zusätzen und Erweiterungen herausschälen. Aber uns unterstützt nicht nur eine etwa gleichzeitig mit Solon erfolgte Reform in Chios, durch welche die Berufung einem besonderen Gre-

mium anvertraut wurde, sondern auch die uns gut bekannte Kritik gegen die „schiefen“ Urteile der Richter, auf die sich Solon doch in seinem Werk beziehen mußte. Wie die Behörde hieß, die Solon einrichtete, ist uns nicht bekannt. Er

soll einen Rat von 400 Personen, je 100 aus den vier alten Geschlechterphylen, aufgestellt haben; aber ob diese Behörde, die vielleicht dem in dem Gesetz von Chios erwähnten Rat (bolé demosié epithötos, „Volksrat zuständig für Bußgel-

der") entsprochen hat, ob die Volksversammlung oder eine als Heliaia bezeichnete Institution, die auch wieder mit einer der genannten identisch sein kann, die Urteilsfällung bei Berufungen übernahm, wissen wir nicht. Für die Zukunft nicht weniger bedeutsam war eine Neuerung, welche die Intenuonen Solons besonders gut charakterisiert: Die Einrichtung (oder auch nur Erweiterung) der Popularklage, das heißt einer Klage, die jedermann, also auch der gar nicht durch den Klagegegenstand Betroffene, erheben konnte. Angesichts der noch wenig entwickelten Staatlichkeit in der archaischen Zeit hatte es keine staatliche Strafverfolgung gegeben und war ein Prozeß überhaupt nur auf die Klage der betroffenen Parteien hin zustande gekommen. Wenn Solon

nun für eine ganze Reihe von Tatbestánden des Straf- und Privatrechts - die Tatbestánde entsprachen nicht alle unserer heutigen Einteilung - jedem Athener die Klage gestattete, führte er dadurch gleichsam den Staatsanwalt ein. Das Motiv für die Reform ist an den Tatbeständen, für die die Popularklage zulässig war, ablesbar (z. B. Unrecht gegenüber Waisen und Erbtóchtern, Vernachlässigung der Unterhaltspflicht). Es sollten alle diejenigen, die auf Grund ihrer

persónlichen oder sozialen Lage an einer Klage gehindert oder zu ihr nicht fáhig waren, zu ihrem Recht kommen. Es ist leicht zu erkennen, daß Solon hier den

Kreis der wirtschaftlich und sozial Schwachen im Auge hatte und er, das ist für die Zukunft besonders bedeutsam, alle Athener zu deren Schutz in die Verant-

L Die Entwicklung Athens zur Demokratie MEN

25

LN

wortung ziehen wollte. Die Durchsetzung des Rechts und der Gerechtigkeit wird so als Sache aller Athener hingestellt und das Interesse der Athener mit dem Staatsinteresse gleichgesetzt. War durch die timokratische Ordnung der Kreis der politisch Berechtigten zahlenmäßig gewachsen und durch die Popularklage die Verantwortung aller für die Gemeinschaft gestárkt worden, zeigt eine ganze Reihe anderer Gesetze Solons, daß die so erzeugte größere Dichte der Staatlichkeit nicht Nebenprodukt, sondern Ziel seiner Reform war. In der Gleichsetzung von Staat/Stadt und Kollektiv war mit einem Male der einzelne von Problemen und Sachbereichen betroffen, die er vorher gar nicht als die seinen angesehen hatte. Die Verantwortung des

einzelnen für das Ganze war plótzlich an vielen Stellen sichtbar geworden, wo man sie bisher gar nicht gespürt hatte. Das war nicht überall und in jeder Sache so; Solon war ja kein totalitärer Gesetzgeber. Aber die größere staatliche Dichte wurde spürbar. So hatte Solon etwa in einem Brunnengesetz den Verbrauch des

Wassers aus öffentlichen und privaten Brunnen geregelt, erließ er Vorschriften, welche die Nachbarschaftsverhältnisse ordneten (Abstand von Bauten, Pflanzen und Bienenstöcken vom Nachbargrundstück), veranlaßte er die Eltern, ihre Kinder ein Handwerk lernen zu lassen, indem er alle diejenigen, die von ihren Eltern keine Berufsausbildung erhalten hatten, von der Verpflichtung befreite, ihre El-

tern im Alter zu ernähren. Auch ein Gesetz gegen die Faulheit soll er geschaffen haben, und das mag wohl zutreffen; denn mit den Lauen und Trägen lag Solon im Kampf: Der Träge leugnete die Existenz der Gemeinschaft. Solon hatte auch ein Gespür für die Bedeutung der Wirtschaft seiner Stadt. Das ist deswegen erstaunlich, weil die Ökonomie bei den Griechen damals nur

sehr bedingt ein Gegenstand staatlicher Aktivität war. Ohne weiteres verständlich ist die Anordnung Solons, daß außer Öl, das in Attika reichlich produziert

wurde, keine Bodenprodukte - es ist hier vor allem an Getreide zu denken ausgeführt werden durften. Die Übervölkerung war eines der großen Probleme der Zeit, und die Sorge dafür, daß die Bevölkerung über hinreichend Grundnahrungsmittel (trophe) und Wasser verfügte, gehört, wenn nicht seit jeher, so doch in Athen jedenfalls seit Solon zu den ersten Aufgaben der Stadt. Für den Ausbau

des Handwerks scheint er auch über das genannte Gesetz zur Förderung der nandwerklichen Ausbildung hinaus manches geleistet zu haben; doch ist es schwer, hier feste Konturen zu erkennen. Mit Sicherheit hat er die Maße und Gewichte (nicht den Fuß der Münze, die es zu seiner Zeit in Athen noch nicht

gegeben hat) geändert, doch bleibt der wirtschaftspolitische Zweck dieser Maßnahme unsicher. Am wahrscheinlichsten ıst es, daß er den athenischen Gewichten unter den verschiedenen Gewichtsnormen, die damals bei den Griechen in Gebrauch waren, eine Recheneinheit zugrunde legen wollte, die zu den wichtig-

sten anderen Systemen in einem leicht konvertiblen Verhältnis stand. Seine Reform hätte demnach den Sinn gehabt, den Athenern den Handel mit der Außenwelt zu erleichtern, und beı der späteren Einführung der Münze, die

selbstverständlich dem athenischen Gewichtssystem entsprach, war deren Erfolg, den wir bereits in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts aus der Münzfundstatistik, insbesondere aus Münzhorten deutlich erkennen können, gleich-

sam vorprogrammiert.

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Solon war angetreten, um in einer Welt, in der nicht mehr alles zum besten

stand, die zerstrittenen Gruppen zu versöhnen und sie wieder in eine staatliche Ordnung

(Eunomie,

„Wohlordnung“)

zurückzuführen.

Er stürzte dabei die

überkommenen Einrichtungen und Werte nicht um; von einem demokratischen Geist, den eine spätere Zeit in seinem Werk walten sah, ist nichts zu spüren. Im Gegenteil, die Gleichheit (isomorria, „gleicher Anteil") war Solon nach seinem

ausdrücklichen Zeugnis kein politischer Wert, sogar eher ein Greuel. Jeder hat, so sah er es, eine ihm zugemessene Stelle innerhalb der Gesellschaft, und nur

diese, die in den Unruhen der Vergangenheit gefährdet war, wollte er zurückgeben. Aber anders als Hesiod, der hundert Jahre früher noch glaubte, daß der

Mensch das Unrecht überwinden könne und die Gerechtigkeit (dike) den Sieg davontragen werde, war Solon mißtrauischer, und seine Zeit gestattete diesen

Optimismus auch nicht mehr. So kam er dahin, sein Werk auf einen möglichst gerechten Ausgleich zu stützen, der jedem aus unmittelbarer Einsicht die Überzeugung von der Billigkeit der Versöhnung geben mußte. Nicht von ungefähr haben die Griechen den Gedanken,

daß man

nichts im Übermaß

tun dürfe,

Solon zugesprochen; das Wort war ein politisches Programm. Aber der Ausgleich allein sicherte noch nicht den Erfolg. Es mußßten die Menschen auch in die staatliche Verantwortung gezogen werden, damit das Werk Bestand hatte. Kein anderer Gedanke Solons war von solcher Tragweite wie dieser. Die „Wohl-

ordnung" (Eunomia) verkórperten nicht mehr die unwandelbaren, über viele Generauonen tradierten Normen. Sie wurden zwar nicht beseitigt, aber sie

gewährten keine Garantie mehr dafür, daß die Ordnung erhalten blieb; denn die Welt war zumindest in wichtigen Teilbereichen durch die Unruhen fragwürdig geworden. Die Sicherheit für die Erhaltung und das Funktionieren aller Lebensbereiche der Stadt wurde nunmehr in den einzelnen Athener selbst und durch ihn in das Kollektiv, das die Polis-Gemeinschaft bildete, hineingelegt. Sie war damit allerdings künftig auch von der Aktivität und dem Verantwortungsbe-

wußtsein der Bürger abhängig geworden. Aber nachdem die alten Mechanismen der Streitbefriedung versagt hatten, sah Solon keinen anderen Ausweg für die Rettung der Stadt, und er durfte auch mit Vertrauen in die Zukunft blicken.

Denn die Aktivität im politischen Raum war ja in der Unruhe des Streits vorhanden gewesen; man mußte sie nur bedeutet eine Wendung zum Politischen. ten größer und meßbar geworden und politische Bewegung geschaffen worden

weiter erhalten. Dieses Kalkül Solons Wie der Kreis der politisch Berechtigdamit gleichsam der Motor für die war, so wurde, damit dieser Motor

auch arbeiten konnte, durch die weitere Gesetzgebung Solons das politische Bewußtsein aktiviert, ja für große Teile der Bevölkerung überhaupt erst geweckt und wurde darüber hinaus der Raum des Politischen weiter. Und das Instrument künftiger Politik lag auch schon bereit: Die menschliche Satzung. Solon selbst hatte es den Athenern vorgemacht. Sein umfangreiches Gesetzeswerk lief er auf Tafeln schreiben und öffentlich aufstellen, und er bestimmte ihre Gültigkeit auf

100 Jahre, das heißt auf immer. Das war nicht ganz wörtlich zu nehmen. Denn das Gesetzgebungswerk selbst und der ihm innewohnende Geist, der die Athener zu mündigen und selbstverantwortlichen Bürgern machte, war ein Wechsel auf die Zukunft. Durch Solon war es den Athenern in die Hand gegeben, sich

I. Die Entwicklung Athens zur Demokratie

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künftig selbst den politischen Rahmen zu stecken, nach dem sie leben wollten: Die menschliche Ordnung war verfügbar geworden. Die Konsequenzen des solonischen Werkes sollten sich nicht sogleich zeigen. Insbesondere die politische Verantwortung des einzelnen für das Ganze und auch der von Solon so nicht ausgesprochene, aber doch durch sein Werk eingegebene Gedanke von der Verfügbarkeit der Ordnung mittels Gesetz hatte noch keine festen Wurzeln gefaßt. Darüber hinaus lebten nach dem Archontat Solons, der sich hartnäckig geweigert hatte, zur Stützung seines Werkes die Tyrannis zu übernehmen, die alten Streitigkeiten wieder auf. Viele Adlige hatten sich noch nicht mit ihrer neuen, begrenzten politischen Rolle abgefunden, und die neue

Gemeinschaft hatte sich noch nicht formiert. Aber in dem Werk Solons lag doch alles bereit, und vor allem: Die Menschen gewöhnten sich an die ihnen in dem Gesetzgebungswerk vorgestellten neuen Gedanken. Zunächst jedoch verfiel die Stadt in ein großes Chaos. So mancher einflußreiche und ehrgeizige Adlige trachtete nämlich danach, den eingeschränkten Spielraum für seine individuellen Absichten zurückzugewinnen. Gegenüber der vorsolonischen Zeit stieß er aber nun auf stärkeren Widerstand. Denn seine Rivalen waren jetzt nicht mehr

nur die anderen Adligen, sondern auch die Bauern und wohlhabenden Handwerker, die von Solon ein Bewußtsein der Zugehörigkeit zu einem gesellschaftlichen Ganzen erhalten hatten, darin ihre neuerworbene Stellung zu behaupten trachteten und damit Selbstvertrauen sowie Selbstwertgefühl erworben hatten. Und es fühlten sich gewiß nicht nur diejenigen Bauern und Handwerker, die Hoplitendienst zu leisten vermochten und damit zur solonischen Timokratie gehörten, als Teil einer „Bürgerschaft“ (Demos, démos), sondern auch viele Athener, die, obwohl wenig vermógend, doch durch zahlreiche Gesetze, wie

z. B. die zum Nachbarschaftsrecht, oder durch neue staatliche Einrichtungen Solons, wie die Berufung und die Popularklage, der Bürgerschaft náhergerückt

waren. So taten sich dem Ehrgeiz des Adligen überall dort Barrieren auf, wo

Solon den Raum des Politischen mit neuen „staatlichen“ Institutionen und

gesetzlichen Normen abgesteckt hatte und wo die nun zu Bürgern gewordenen Athener ihn zu verteidigen gewillt waren. Der adlige Streit wurde damit gegenüber früher hárter und auch vielfáltiger. In manchen Gegenden Attikas, wo Solons Werk nicht die Autoritát hatte erhalten kónnen, mochte der adlige Konkurrenzkampf weiterlaufen wie vor Solon, an anderer Stelle traten neben den adligen Widersacher die Bürgerschsaft oder Teile derselben. In dieser Situation sah mancher Adlige seine Chance darin, in der Verteidigung des Demos Einfluß zu gewinnen bzw. den noch vorhandenen zu sichern. Das mochte zwar schon vor Solon bisweilen so gewesen sein. Jetzt aber, nachdem Solon eine

breitere Masse, die wir als Demos (Bürgerschaft) bezeichnen dürfen, zu politischem Handeln aktiviert hatte, versprach die Übernahme dieser Rolle weit größeren Einfluß. Denn der adlige Anführer der Bürgerschaft konnte nach einem Sieg nicht nur einen, sondern gleich alle seine adligen Gegner in die Knie zwingen: Die Bürgerschaft war nicht ein Objekt des adligen Konkurrenzkampfes unter anderen, sondern bedeutete das Ganze. Der Adlige, der sich für die

Bürgerschaft entschied, war darum auch nicht mehr als ein unabhängiger

Kämpfer um Einfluß anzusehen; er war in seinem politischen Handeln nicht

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

mehr frei. Er hatte mit der Übernahme dieser neuen Rolle sein Handeln im Sinne der Bürgerschaft versachlicht, war ein Akteur der Bürger geworden. Das hat er selbst zunächst ohne Zweifel nicht so gesehen. Um sich als Vollzugsorgan des Demos verstehen zu können oder zu müssen, war dieser noch nicht stark

genug, auch noch zu uneinig, und es fehlte ihm ebenso noch an politischem Selbstbewußtsein, das sich doch eben nur durch ein aktives Einsetzen für die neu

gewonnene politische Rolle festigen kann. So mußte der Sıeg des einen Adligen über die anderen mit Hilfe der Bürgerschaft zu einer Herrschaft über den Demos, zur Tyrannis, führen: Der Sachwalter des Demos machte sich zu dessen

Herrn. Eine dauerhafte Herrschaft war indessen nur dann möglich, wenn der Tyrann den Demos auch auf Dauer niederzuhalten vermochte; denn war dieser

auch schwach, war er doch nach der Beseitigung der adligen Konkurrenten bzw. deren Schwächung oder Zurückdrängung der einzige politische Faktor neben dem Tyrannen. So war denn dieser darauf angewiesen, sich von außen Unterstützung zu holen, um sich gegenüber einem, wenn auch schwachen Demos und gegenüber eventuell erstarkenden adligen Konkurrenten zugleich behaupten zu können. Auf diese Weise wurde die Söldnertruppe zum Schirm des Tyrannen. Das Werden einer Tyrannis mochte nicht in allen Städten, in denen wie in Athen sich der politische Raum breiteren Schichten geöffnet hatte, so verlaufen wie eben beschrieben, stellte vielleicht nicht einmal den Normalfall dar. Ein Adliger

mochte gleich mit einer Söldnertruppe erscheinen und also der Demos für die Etablierung der Tyrannis keine oder eine sehr geringe Rolle spielen. Bei einem sehr schwachen Demos mochte sich ein Adliger allein durch die Niederringung aller Konkurrenten zum Tyrannen aufschwingen, und es konnten alle genannten Faktoren in verschiedener Mischung dahin führen. In Athen war es jedenfalls Peisistratos, dem es gelang, die Herrschaft über die gesamte Landschaft zu erringen und sie zu behaupten. Peisistratos soll seit 561/60 mehrere Versuche, die Herrschaft zu gewinnen,

unternommen, aber erst beim dritten Ansatz sich endgültig etabliert haben. Nach seinem Tod 528/27 regierten seine Söhne noch bis 510. Die peisistratidi-

sche Herrschaft währte also, wenn man die nicht ganz kurzen Perioden des Exils des Peisistratos unberücksichtigt läßt - das zweite Exil dauerte ca. zehn Jahre -, etwa ein halbes Jahrhundert. Nach der Überlieferung war die politische Lage, aus der heraus sich Peisistratos zum Tyrannen aufschwingen konnte -, wohl unter dem Eindruck der kleisthenischen Phylenreform, die von einem festen Schema dreier verschiedener Landschaften Attikas ausging (s.u.) - von drei landschaftlich geprägten Interessengruppen bestimmt. Die Gruppen, die um politischen Einfluß rangen, waren danach die Großgrundbesitzer in der

Ebene des Kephisos bei Athen (die Pediaker), die Bauern mit mäßigem Grundbesitz, Händler und Handwerker, die an der Südküste saßen (Paralier), und die

ärmeren Kleinbauern aus den bergigen Gegenden Ostattikas (Diakrier). Peisistratos habe sich nun, wird gesagt, auf die letztere Gruppe gestützt, und dieser Umstand soll seiner Herrschaft denn auch die besondere Note der „Volks-

freundlichkeit“ verliehen haben. Die Nähe zum Volk ist hier als eine zu den bis dahin an der Politik nicht Beteiligten gedacht und erscheint nicht nur als gegen den Adel, sondern auch als gegen das solonische Werk gerichtet; denn Solon

L Die Entwicklung Athens zur Demokratie

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hatte ja in erster Linie die Bauern mit Vermögen gefördert, also jene Schicht, die in dem genannten Dreier-Schema die Bewohner der Küstengegenden, die Paralier, drstellen. An diesem Bild von der Entstehung der athenischen Tyrannis ist wohl nur soviel richtig, daß Peisistratos sich selbstverständlich gegen den Adel, seinen egentlichen Rivalen im Kampf um die Macht, und jedenfalls nicht mit tatkräftiger Hilfe derjenigen, die durch Solon zu politischem Recht gekommen

waren,

hate durchsetzen kónnen. Da die Masse der Kleinbauern und der anderen Berufsguppen mit wenig oder gar keinem Vermógen keinen Wehrdienst in der Phalanx lesete und darum keine sehr starke politische Kraft gebildet haben kann, dürfte Pasistratos sich vor allem mit fremder Hilfe, also mit geworbenen Sóldnern und mit Unterstützung auswärtiger Adliger bei seinen verschiedenen Versuchen durchgesetzt haben. Das wird uns von den Quellen auch ausdrücklich bestátigt. Die Tyrannis in Athen hat sich demnach bei nur geringer Unterstützung von Teilen des Demos vor allem aus den Kämpfen adliger Gruppen heraus etabliert, in denen sich schließlich einer, eben Peisistratos, mit auswärtiger Hilfe und unter

Einsatz militárischer Gewalt durchsetzte, und ihre Entstehungsgeschichte entsprach somit durchaus den Móglichkeiten, die wir dafür ausmachen kónnen. Das Besondere an der peisistratidischen Tyrannis liegt folglich nicht in ihrer Entstehung, die keine etwa für die Entwicklung der athenischen politischen Ordnung bedeutsamen neuen Züge trägt, sondern darin, daß sie sich so lange zu halten vermochte und sie den Athenern in so außergewöhnlichem Glanze, im nachhinein sogar als die Wiederkehr des goldenen Zeitalters erschien. Peisistratos hatte sich der Herrschaft gewaltsam bemächtigt, und er lief$ sich während seiner Herrschaft von einer Sóldnertruppe schützen. Die Voraussetzung für die Erhaltung der Herrschaft war neben der Sicherung der eigenen Person die politische Entmachtung des Adels. Manche vornehmen Familien wichen darum freiwillig aus Athen, andere wurden vertrieben, wieder andere dadurch zum Wohlverhalten gezwungen, daß sich Peisistratos deren Kinder als Geiseln geben und sie dem Tyrannen Lygdamis von Naxos, dem er selbst zur Herrschaft verholfen hatte, zur Bewachung überstellen ließ; zumindest einige wenige konnte er auch zu einer Zusammenarbeit bewegen. Das mächtige Geschlecht der Philaiden konnte er, wenn nicht für sich gewinnen, so doch von der

athenischen Politik fernhalten, indem er dessen - durchaus in adliger Tradition stehende - Aktivität zur Gewinnung von Herrschaften im Ausland unterstützte (es ging um die thrakische Chersones, d. i. Gallipoli, und die den Meerengen vorgelagerten Inseln Lemnos und Imbros). Im Landesinneren erwies er sich

dabei nicht als blutrünstiger Verfolger der Vornehmen. Soweit sie sich nicht gegen ihn stellten, lieRen er bzw. seine Sóhne sie sogar an politischen Ámtern

teilhaben, wie denn Kleisthenes, das Haupt des mächtigen Clans der Alkmäoniden, 525/24 das Archontat bekleiden durfte. Aktiver Widerstand aber wurde

selbstverständlich mit aller Härte gebrochen, so vor allem 513 von Hippias, einem Sohn des Peisistratos, der das Widerstandsnest Leipsydrion auf dem Parnes vernichtete, wo sich unter Führung der den Peisistratiden mittlerweile

feindlichen Alkmäoniden die Opposition verschanzt hatte. Der Charakter der Herrschaft des Peisistratos und seiner Sóhne war nach allen unseren Berichten nicht durch Gewalt im Sinne der späteren Tyran-

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

nentopik bestimmt. Peisistratos rührte die formale Ordnung, wie sie Solon geschaffen hatte, nicht an; die Institutionen und Gesetze behielten ihre Gültig-

keit. Der Tyrann selbst übernahm kein Amt, wie etwa das Archontat, als Ausgangspunkt und Basıs seiner Herrschaft; er stand gleichsam neben der politischen Ordnung, die er auf Grund seiner tatsächlichen, militärisch abgestützten Macht dirigierte und manipulierte. Ganz offensichtlich lebte man trotz dieser Verhältnisse jahrzehntelang ohne große Spannungen; Peisistratos wurde von der großen Menge derjenigen, die Solon hatte politisch aktivieren wollen, stillschweigend geduldet, und die äußeren Umstände rechtfertigten das. Denn nach dem Elend der nachsolonischen Zeit mit ihren Adelskämpfen, in denen der gemeine Mann doch niemals etwas zu vermelden gehabt hatte, erlebte man nun

einen politischen und wirtschaftlichen Aufschwung Athens und mochte sich zeitweise in einer großen Zeit stehend fühlen. Peisistratos konnte von seiner aristokratischen Herkunft her seine Herrschaft nur als eine Überhöhung des ihm durch die Tradition gegebenen Charismas ansehen. Seine politischen Ambitionen mußten daher vor allem von dem Ziel

getragen sein, die erworbene Macht als eine persönliche, durch Herkunft und Leistung gerechtfertigte Herrschaft darzustellen. Das Bild von dem volksfreundlichen, sich auf den kleinen Mann stützenden Herrscher, wie es heute manche Historiker sehen, ist ein Anachronismus, und es ist auch gar nicht zu

belegen. Dem Ziel, seiner Herrschaft Größe und Glanz zu geben, dienten zunächst seine und seiner Söhne Bauten sowie die großartige Ausgestaltung von Festen. Peisistratos und seinen Söhnen lassen sich eine Reihe von Bauten archäologisch einwandfrei zuweisen. Mit großer Wahrscheinlichkeit hat Peisistratos am Umbau des Athena-Tempels auf der Akropolis arbeiten lassen und auch

sonst auf der Agora und außerhalb Athens gebaut. Seine Söhne waren noch sehr viel aktivere Bauherren. Sie begannen den gewaltigen Tempel des Olympischen Zeus im Ilissos-Gebiet, der mehr als doppelt so groß angelegt war wie der

Athena-Tempel, stifteten unter manchen anderen Gebäuden ein Brunnenhaus in der Südostecke der Agora (Enneäkrunos), errichteten Befestigungen in Munichia und bereicherten auch den Demeter-Bezirk von Eleusis mit Neubauten. Dies alles ist aber weder so gewaltig, daß man von einer herrschaftlichen Baupo-

litik sprechen könnte, noch haben wir dahinter einen Willen zur Schaffung von Arbeit für eine mittellose Bevölkerung zu vermuten. Wenn man einmal von der Frage absieht, ob es damals überhaupt Arbeitslose in größerer Zahl gab, kann

die Arbeitsbeschaffung nicht Ziel, sondern allenfalls Wirkung der Bautätigkeit gewesen sein; denn der Gedanke der Schaffung von Arbeit durch Bauten (anstatt

durch Verteilung von Land) ist zu modern für diese Zeit und als Gedanke auch nicht belegt. Durchaus nicht volksfreundlich, sondern eher herrschaftlich mutet uns eine beinahe revolutionäre Neuerung des Peisistratos an, nämlich die Besteuerung aller grundbesitzenden Athener. Eine allgemeine Ertragssteuer (Ein-

kommensteuer) hatte es bisher nicht gegeben, und sie war bei der Natur des Adelsstaates, der auf persónlichen Abhängigkeiten beruhte und keinerlei Fi-

nanzverwaltung zulieR, auch nicht denkbar. Staatliche Ausgaben waren auf die Reicheren umgelegt oder aus den Einnahmen der staatlichen Silberminen, ferner aus Kriegsbeute und gelegentlich auch mit Hilfe von Anleihen aus dem

1 Die Entwicklung Athens zur Demokratie

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Geschenkfundus eines Tempels gedeckt worden. Peisistratos nahm nun den „Zwanzigsten“ (eikosté) oder „Zehnten“ (dekäté), also 5 bzw. 10% des Bodenertrages, um die Kosten der Herrschaft (Söldner, Bauten, Hofhaltung usw.) zu

bestreiten. Er war auch in der Lage, die dafür notwendige Verwaltung aufzubauen, da in seiner Person die lenkende und kontrollierende Spitze vorhanden war. Mit der zentralen Finanzverwaltung und einer aus allgemeinen Abgaben gefüllten Staatskasse gewann der „Staat“ an Profil und verloren in demselben Maße

die Abhängigkeiten zu einzelnen Adelshäusern und der Einfluß des einzelnen Adligen an Gewicht. Die Herrschaftsauffassung der Peisistratiden können wir noch etwas näher bestimmen. Ihre Aktivität in Eleusis nämlich verfolgte mehr, als nur den Ruhm der Góttin und den Glanz der Tyrannen zu verbreiten. Peisistratos hat offensichtlich den Demeter-Kult durch die Betonung der Gestalt des Triptolemos, der bis dahin innerhalb des Kultes keine beherrschende Funktion besessen hatte,

als des Getreidebringers aus dessen lokalen Verflechtung zu einem zentralen Kult ganz Attikas ausbauen und ihn darüber hinaus auch für andere griechische Stádte, ja vielleicht für alle Griechen anziehend machen wollen, um durch die

Verallgemeinerung und Aktualisierung des Kultes seine Herrschaft und damit auch die Stellung Athens zu stárken. Auch die sonstige Politik der Peisistratiden gegenüber Kulten und deren Festen ist eher in diesem herrschaftspolitischen Zusammenhang denn als Ausfluß volksnaher Gesinnung zu sehen. Hier ist vor allem an die Panathenäen als das zentrale Fest für die Burggótun und an die Dionysien zu denken. Das sehr alte Panathenäenfest wurde bereits Mitte der sechziger Jahre, also schon vor der Tyrannis des Peisistratos, ausgebaut, doch erst von ihm und seinen Söhnen in den Mittelpunkt des städtischen religiösen Lebens gestellt. Zu diesem Fest, das in jedem Jahre, besonders aufwendig alle vier Jahre, gefeiert wurde und bei dem eine feierliche Prozession der Göttin Athena ein prächtiges, von Frauen der Stadt gewebtes Gewand (Peplos) auf die Burg brachte, versammelte sich die ganze Bürgerschaft um ihre Stadtgöttin.

Noch deutlicher läßt sich an den Dionysien zeigen, wie stark das persönliche Interesse des Peisistratos an dem Kult war. Dionysos - durchaus kein sehr Junger und auch kein der bäuerlichen Bevölkerung besonders verpflichteter Gott, wie man lange gemeint hat, sondern ein aristokratischer Gott wie die anderen auch und einer, der schon seit langem auch in Athen zu den wichtigsten Göttern der

Landschaft gehört hat - wurde von Peisistratos am Südabhang der Akropolis ein besonderer heiliger Bezirk eingeräumt und ihm ein neues Fest, die Großen Städtischen Dionysien, mit musischen Agonen geweiht. An ihnen fand in den dreißiger Jahren des 6. Jahrhunderts die älteste Tragödienaufführung statt und sollte im 5. Jahrhundert die Tragödie ihre große Blüte erleben. Peisistratos hat für diesen Kult nicht einen der bereits in Athen bestehenden Dionysos-Kulte ausgebaut, sondern den an der böotischen Grenze in Eleutherai verehrten Dionysos, zu dem er von seiner Familientradition her ein besonders enges Verhältnis hatte oder auch konstruierte, nach Athen holen lassen. Die Bedeutung, welche

die Athener wie deren Herrscher den genannten Festen zumaßen, können wir heute deutlich an den prächtigen panathenäischen Preisamphoren und an den Vasen ablesen, die seit ca. 540 in großer Zahl dionysische Motive, seit dem

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

letzten Drittel des Jahrhunderts auch den Triptolemos in seiner veränderten Funktion zeigen. - Ist hier vor allem persönlicher Geltungswille der Motor von

Maßnahmen, die wir nicht als Religionspolitik mißverstehen dürfen, wird dies noch deutlicher in dem Bemühen der Peisistratiden, insbesondere des zweitge-

borenen Sohnes des Peisistratos, Hipparchos, einen Kreis von Dichtern an den Hof zu ziehen; vor allem Anakreon und Simonides folgten diesem Ruf. Es ist dies selbstverständlich keine Kulturpolitik, sondern steht in einer adligen Tradition; die lyrische Dichtung war ganz auf die Adelswelt bezogen, und sie diente den Peisistratiden dazu, den ihrer Familie zukommenden Rang vor der griechischen (natürlich adligen) Öffentlichkeit darzustellen. Maßnahmen, die zum Besten des einfachen Mannes, insbesondere des Bau-

ern, getroffen wurden, wie die dem Peisistratos zugeschriebene Einrichtung von Demenrichtern - sie wurden in die verschiedenen Gegenden Attikas geschickt, um an Ort und Stelle Recht zu sprechen -, erscheinen nach dem bisher Gesagten

denn auch eher als Ausdruck herrschaftlicher Fürsorge denn als „populare“ Politik. Wie

hier der

Bauer, der den

weiten

Weg

nach

Athen

oft aus rein

wirtschaftlichen Gründen nicht auf sich nehmen kann, durch die Dezentralisie-

rung der Justiz zu seinem Recht kommt, diente der Ausbau des Wegenetzes und

die Schaffung eines auf der Agora in Athen errichteten zentralen Ausgangspunktes dieses Netzes, von dem aus die Entfernungen zu den weiter abliegenden kleinen Städten Attikas gemessen wurden, neben einer besseren und schnelleren Überwindung der Wegstrecken vor allem auch der Stärkung der geographischen Einheit Attikas. Den Ausgangspunkt bildete der Zwölfgötteraltar am Panathenäenweg in der Nordwestecke der Agora, den der gleichnamige Enkel des Peisistratos im Jahre 522/21 errichtete und der sogleich ein bekannter und anerkannter Ort für Asylsuchende wurde. Peisistratos und seine Nachfolger stellen sich in diesen Maßnahmen als ein dem inneren Frieden, der Gerechtig-

keit und der Wohlfahrt der Athener verpflichtetes Herrscherhaus dar. Und in diesem Frieden nehmen nun, sei es mit oder ohne tatkráftige Unterstützung der Tyrannen, Handel und Handwerk einen großen Aufschwung. Erst Deisistratos oder sein Sohn Hippias hat für Athen, wenn nicht das Münzwesen überhaupt,

so doch die einheitliche Münze mit dem Athena-Kopf auf der Vorder- und der Eule auf der Rückseite eingeführt, welche die älteren Münzen mit ihren vielfältigen Emblemen, die sogenannten Wappenmünzen, ablôste. Für ihren Erfolg im

Außenhandel schlug nun die solonische Gewichtsreform zu Buche, welche die athenische Münze im Verhältnis zu den anderen wichtigsten Währungen konvertibel machte, wie denn die ganze auf Handel und Handwerk gerichtete Komponente der peisistratidischen Zeit so recht den Geist Solons atmet. Die Blüte von Handel und Gewerbe kónnen wir heute am besten an der künstlerisch und technisch überlegenen attischen Keramik ablesen. Bereits in vorpeisistratidischer Zeit, nämlich seit den sechziger Jahren des 6. Jahrhunderts, beginnt die attische schwarzfigurige Malerei schnell die Produkte der anderen griechischen Städte zu übertreffen, und noch unter den Peisistratiden setzt um 530 dann

bereits die großartige rotfigurige Malerei ein. Namen wie Exekias, Kleitias, der Schópfer der berühmten Francoisvase (heute in Florenz), und Amasis seien für

viele Maler schwarzfiguriger Vasen genannt. Die Vasenproduktion nimmt auch

I. Die Entwicklung Athens zur Demokratie

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in Umfang gewaltig zu. Es versteht sich, daß es bei dieser wirtschaftlichen Aktıvität eine politische Opposition schwer haben mußte. Auch die Auftenpoliük gewann an Kraft und Gewicht. Sie war jetzt nicht mehr bedingt durch

Melsrivalitáten, die eine politische Kontinuität nur bei seltenen Gelegenheiten zuließen, sondern konzentrierte sich in der Person des Herrschers und erlaubte

dimit räumlich und zeitlich großzügige Perspektiven. Diese waren naturgemäß teils von ganz persönlichen Freundschaften oder auch von dem Bedürfnis nach Absicherung der eigenen Herrschaft getragen, wie es etwa aus dem Verhältnis zu den „Kollegen“ in der Tyrannis, z. B. zu Lygdamis von Naxos und Polykrates von Samos, letzterer eine der bedeutendsten Tyrannengestalten der Zeit (538522), oder gegenüber den thessalischen Adligen sichtbar wird. Aber es vermoch-

ten sich an diesen Verbindungen doch die Konturen einer ersten athenischen Außenpolitik, die den Namen verdient, abzuzeichnen. Sosehr die peisistratidische Tyrannis als eine persónliche Herrschaft anzusehen ist, kann sie doch allein von dorther nicht charakterisiert werden. Wenn

Anstoteles den Peisistratos nach der Entwaffnung der Bürger sagen läßt, sie sollten nur ihren Geschäften nachgehen und ihm die Sorge für die Staatsgeschäfte überlassen, so ist dies nicht als ein typisches Tyrannenwort zu interpreueren, das zur Demütigung noch den Spott des Mächtigen gesellt; ebenso sind axh die Belassung des gesamten von Solon eingerichteten Gesetzgebungswerkes und die Erhaltung der staatlichen Institutionen nicht nur als eine billige Fassadenlegitimation anzusehen. Es ist vielmehr gerade umgekehrt so, daß Peisistratos sich in vielfältiger Weise auf das Werk Solons bezog. Das dürfte weniger damit zusammenhängen, daß er die Gruppe, die Solon angesprochen hatte, bevorzugte - er entzog ihr ja das gerade gewonnene politische Recht -, und er wird auch wohl kaum ein persónliches Engagement für Solon gezeigt haben. Er kam vielmehr dahin durch seinen Kampf gegen den Adel. Die Entmachtung des Adels erzwang geradezu die Bewahrung bzw. die Erneuerung der politischen Ordnung Solons. Denn das Werk Solons hatte, wie dargelegt wurde, jedenfalls formal keinen Bezug zur Adelswelt; es vermochte ohne den Adel zu funktionieren, ja es war in ihm sogar die Wendung zu einer völligen Loslósung vom Adel angelegt. Peisistratos setzte sich mit der Anerkennung des solonischen Werkes gleichsam ins gemachte Bett. Er brauchte nur hier und da zu korrigieren oder,

einer persónlichen Neigung folgend, zu ergänzen. Im Grunde lebte er von und aus dem Werk Solons. Nur in einem Punkt wich er von ihm ab, und das war

allerdings das Kernstück des solonischen Staatsgedankens: Die politische Aktivitt, der Solon so große Bedeutung zugemessen und die er so vielen zum ersten Male ermöglicht hatte, wurde beseitigt, oder richtiger: auf die Person des Tyran-

nen konzentriert. [m politischen Raum hat Peisistratos sich an die Stelle des

Kollektivs gesetzt. Er tat damit im Grunde nichts anderes, als daft er die Stelle, die im solonischen Staat nicht funktioniert hatte, nämlich die Exekutive, mit seiner Person ausfüllte, dies zwar nicht formal, aber der Sache nach. Er erscheint

in mancher Hinsicht dem nachschauenden Betrachter eher als Vormund einer noch unmündigen Gesellschaft denn als ein Tyrann. Und in der Tat, die Stadt blühte und gedieh unter den Peisistratiden nicht trotz des Fehlens des Politischen, sondern gerade weil es fehlte. Denn die Athener waren ja nicht fähig

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

gewesen, den von Solon gezeichneten Rahmen des Politischen in einem gemeinathenischen Sinne auszufüllen. Peisistratos, der den politischen Bereich usurpierte, rettete damit in gewissem Sinne das Werk Solons. Der Umstand, daß

unter den Peisistratiden das politische Element weitgehend ausgeschaltet war, gibt der Tätigkeit des Peisistratos übrigens jene soziale Note, die heute vielfach als der eigentliche Zweck seiner Politik mißverstanden wird. Diese Note ist durchaus vorhanden; aber sie ist nicht Konsequenz eines selbstándigen politischen Programms, sondern eine der Herrschaft, und es handelt sich also dabei nicht um Sozialpolitik, sondern um obrigkeitliche Fürsorge. Für die Entwicklung der politischen Ordnung Athens kommt der peisistratidischen Tvrannis ein Gewicht zu, das nur schwer überschätzt werden kann. Vor allem blieb durch sie das solonische Werk - allerdings ohne dessen für das Werk

unabdingliche politische Komponente - erhalten und wurde ihm in der langen Zeit der Herrschaft innerhalb der Gesellschaft soviel Boden bereitet, daß es als

ein unentbehrlicher Bestandteil der Lebenswelt ganz allgemein angesehen werden konnte. Darüber hinaus hat die auf den persónlichen Herrscherglanz ausge-

richtete Tyrannis in einem überaus hohen Maße die zum Teil geographisch abgelegenen und von unterschiedlichsten lokalen Traditionen beherrschten Landschaften Attikas in den Staat der Athener integriert. Hierzu haben einmal die neuen oder neu eingerichteten großen Feste, die alle Bewohner Attikas in Athen versammelten, haben ferner die Konzentration aller politischen Gescháfte beim Sitz des Tyrannen und schliefilich besonders der Umstand beigetragen, daß die von den Tyrannen geschwächte oder teils auch beseitigte Macht der adligen Häuser gleichzeitig deren jeweils lokalen Einfluß minderte. Der Blick

war auf die Stadt Athen als die allen wichtigste, ja einzige Zentrale im politischen wie im - mit dem Politischen unlóslich verknüpften - religiósen Bereich gerichtet. Das lokale Kolorit verschwand nicht, und es wurde auch nirgendwo bewußt ausgelóscht; es wurde lediglich seine Bedeutung schwächer. Den bei weitem nachdrücklichsten Einfluf$ übte die peisistratidische Tyrannis auf die Verfassungsentwicklung aber einfach dadurch aus, daß sie - mit Unterbrechungen in den Anfángen - über 50 Jahre hin die traditionellen politischen Kráfte, eben jene, gegen die Solon als neue politische Kraft die vermógenderen Bauern gesetzt hatte, suspendierte: Der Adel war zwar teils in Attika geblieben; aber er

hatte ein halbes Jahrhundert lang kaum Anteil an der Politik gehabt. Hier waren Traditionen abgebrochen, an die nicht einfach wieder angeknüpft werden konn-

te. Die Enkel und Urenkel derjenigen, die im politischen Raum ganz auf die adligen Häuser und deren Rivalitäten fixiert gewesen waren, vermochten nach den Peisistratiden dem Adel nicht mehr den Stellenwert zu geben, den er vor ihnen gehabt hatte. Das Ende der Tyrannis kam nicht sehr plótzlich, und es wurde vor allem nicht von den Athenern herbeigeführt. Die Ursachen des Sturzes lagen in der peisistratidischen Herrschaftsform selbst begründet: Es war nicht ihre Blutrün-

stigkeit, die vielmehr fehlte, sondern es waren gerade die positiven Leistungen der Herrschaft, welche die Tyrannis auf die Lánge hin zu Fall brachten. Die Erhaltung der auf sozialen Kontakt und auf das Politische ausgerichteten soloni-

schen Gesetzgebung, die stárkere Integration der Bewohner Attikas und ihre

I. Die Entwicklung Athens zur Demokratie

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Ausrichtung auf Athen mußten auf die Dauer den breiten Massen, insbesondere den durch Solon politisch mündig gewordenen Bauern, ein Bewußtsein von der Bedeutung des Politischen geben. Der Friede, der wirtschaftliche Aufschwung und der werdende Glanz der Stadt mochten allerdings zunächst wohl schwer ein

Gefühl der Knechtung aufkommen lassen. Es wurde erst durch einige Vorkommnisse wach, oder richtiger: Vorkommnisse, die früher vielleicht keine politische Reaktion hervorgebracht hätten, erhielten jetzt ein anderes Gewicht. Schon die Entwaffnung der Athener, die wohl kaum schon mit dem Beginn der

Tyrannis durchgeführt worden ist, mochte große Mißstimmung hervorgerufen haben. Als dann unter der Herrschaft der Söhne des Peisistratos aus ganz privaten Motiven einer der Tyrannen, Hipparchos, an den Panathenäen 514

ermordet wurde - Hipparchos hatte sich in einen jungen Athener namens Harmodios verliebt, war aber von diesem verschmäht worden und hatte darauf-

hin dessen Schwester schwer beleidigt; in Reaktion darauf planten Harmodios und dessen Freund Aristogeiton ein Attentat auf die Tyrannen; doch gelang es ihnen ın der Aufregung nur, Hipparchos umzubringen -, veränderte sıch das

politische Klima. Hippias, der führende Kopf unter den Söhnen des Peisistratos, reagierte wohl härter, als es bei der Lage der Dinge richtig gewesen wäre. Die Spannungen wuchsen. Es war charakteristisch, daß es die Athener nach der langen politischen Enthaltsamkeit nicht fertigbrachten, von sich aus den Tyran-

nen zu vertreiben; sie benötigten auswärtige Hilfe. Diese brachten unter Vermittlung einer der von den Peisistratiden verbannten adligen Familien, nämlich

der mächtigen Alkmäoniden, dann die Spartaner. Nach einem gescheiterten ersten Versuch gelang es schließlich dem Spartanerkönig Kleomenes, die Peisistratiden in der Burg einzuschließen und unter Gewährung freien Abzugs Athen zu befreien (510).

Nach der Vertreibung der Peisistratiden versuchten Adlige unter Führung des Isagoras, die alte Autorität der adligen Familien wiederherzustellen. Wie sie sich das nach dem langen Hiat der Tyrannıs im einzelnen vorstellten, können wir

nicht mehr erkennen. Aber es ist bezeichnend, daß sie zur Erreichung ihres Zieles Gewalt anwenden, sogar den König Kleomenes, der die Athener gerade

vom Joch befreit hatte, als Steigbügelhalter benutzen und dann letztlich doch dem Widerstand der Athener weichen mußten: Kleomenes und Isagoras wur-

den in der Burg belagert und durften am Ende froh sein, daß sie freien Abzug bekamen. Die erzwungene politische Enthaltsamkeit unter der langen Tyrannenherrschaft wirkte sich, wie nun deutlich wurde, für den Gedanken

der

Restauration der Adelsordnung ungünstig aus. Die Athener waren fast 50 Jahre ohne den Adel ausgekommen, und sie hatten in dieser Zeit auch eine neue

Vorstellung von Attika gewonnen, wonach, jedenfalls im politischen Bereich, alle Bürger mehr oder weniger gleich nebeneinander standen und nunmehr die Stadt Athen - und nicht der Sitz der einzelnen adligen Familien - den Mittel-

punkt des politischen und religiösen Lebens bildete. Dieses erwachende Bewußtsein einer politischen Einheit hat offenbar unter dem Druck des Restaurauonsversuchs des Isagoras bei vielen Athenern den Wunsch geweckt, sich gegen

künftige Überraschungen von seiten der Vornehmen durch eine neue politische

Organisation, in welcher der Adel keine Rolle mehr spielte, abzusichern. Für

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

eine Neuordnung des Bürgerverbandes sprachen auch militärische Überlegungen. Denn es gab offensichtlich kein Rekrutierungssystem für die Aushebung

der Schwerbewaffneten und Reiter im Kriegsfall. Da vor der Tyrannıs der Peisistratiden die einzelnen adligen Häuser für ihre kriegerischen Unternehmungen ihre eigene Aushebungspraxis gehabt hatten und ein vielleicht von Solon im Zusammenhang seiner timokratischen Ordnung eingerichtetes Aushebungssystem spätestens in den Wirren danach untergegangen sein dürfte, die Peisistratiden ihrerseits ohne Zweifel ihre eigene (oder vielleicht auch gar keine) Rekrutie-

rungsordnung gehabt hatten, müssen die Athener nach der Beseitigung der Tyrannis in der Tat ohne eine militärische Ordnung und schon darum auf auswärtige Hilfe angewiesen gewesen sein. Es galt nun, die Masse der Schwerbewaffneten, das heißt die Angehörigen der drei Vermögensklassen, als Soldaten zu aktivieren und also eine Militärverfassung zu schaffen, ın der die Athener

entsprechend ihrer neuen Bewußtseinslage und in Übereinstimmung mit der neuen Kampfesweise in der Schlachtreihe untereinander gleich waren und in der auch ihre rein numerische Stärke aktiviert werden konnte. Die Notwendigkeit

einer Neuordnung des Militárwesens, insbesondere der Erfassung und Aushebung der für den Dienst als Schwerbewaffnete Wehrfähigen, hatten nicht nur die

Ereignisse nach der Vertreibung der Peisistratiden gezeigt, als man, mehr in lockeren Haufen und wie jeder gerade hinzukam, die Fronde unter Isagoras und seinen Helfern, darunter vor allem Kleomenes, vertrieben hatte: Kleomenes kam

nämlich rachedurstig mit dem Aufgebot des Peloponnesischen Bundes zurück,

und etwa gleichzeitig mit ihm fielen die Nachbarn über Athen her; der Bóotische Bund suchte Platáà wiederzugewinnen, und die Chalkidier brachen von Osten in das attische Land ein. Nach dem Sturz der glanzvollen und mächtigen Tyrannis erschien allen Athen als ein politisches Vakuum, und die Adligen um

Isagoras warteten nur auf die Niederlage, um in einem geschwächten Athen ihre alte Position wieder einnehmen zu kónnen. Nur wenige Jahre nach dem Sturz der Tyrannis hat der Alkmäonide Kleisthenes die fällige Reform geschaffen. Aristoteles hat sie auf das Jahr 508/07

datiert, doch dürfte die komplizierte, in das Leben der Bürger tief eingreifende Aufgabe mehrere Jahre beansprucht haben. Daß nur ein Vornehmer sie durchführen konnte, verstand sich von selbst. Die Masse wurde jetzt zwar mündig, aber sie hatte noch keinen Mund, durch den sie ihren Willen kundtun konnte;

sie brauchte den adligen Sprecher. Kleisthenes hat denn auch die Reform nicht nur durchgeführt, um die politische Rolle der Hopliten zu stárken, sondern um sich gegenüber seinen adligen Rivalen, die ihn nach dem Sturz der Tyrannis so bedrängt hatten, mit einer neuen Gefolgschaft zu behaupten. Politik, auch

Reformpolitik ist zu dieser Zeit noch immer unlösbar mit den Rivalitätskämpfen des Adels verbunden. Aber die Modalitáten der Reform zeigen dann doch

deutlich, daß deren Ziel in erster Linie in der politischen und militärischen Stárkung der nun mündig gewordenen Athener, und unter ihnen vor allem der Schwerbewaffneten, lag. , Mündigkeit" kann aber auch jetzt noch nicht so verstanden werden, daß sich unterhalb der Schicht der Adligen, etwa bei den

Hopliten, eine neue, fest umrissene politische Klasse gebildet hätte, die deswegen, weil nach den Vorstellungen der Zeit kein Bauer-Hoplit als Sprecher aufzu-

I. Die Entwicklung Athens zur Demokratie

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treten vermochte, sich einen Adligen als ihren Führer erkor. Es gibt keinen Hinweis auf die Eigendynamik etwa einer „mittleren“ Schicht zwischen Adlı-

gen und ärmeren Bauern bzw. Nichtbesitzenden. Soweit wir sehen, gibt es spätestens seit Solon lediglich die Voraussetzung für eine Öffnung des politischen Raumes, die von den Nichtadligen - außer bei Beamtenwahlen doch nur gelegentlich, etwa in einer Krisensituation, wahrgenommen wurde, die aber als Gruppe weder fest umrissen noch von beständiger Aktivität war.

„Mündigkeit“ ist daher als lediglich potentielle Bereitschaft zu begreifen, im politischen Raum etwa für die Verbreiterung der politischen Basis, wie sie seit Solon angelegt war, einzutreten. Die Dynamik des Vorgangs, den wir als kleisthenische Phylenreform bezeichnen, kann daher nicht von nichtadligen Bauern oder Handwerkern, sondern muß von Kleisthenes ausgegangen sein. Er war es, der die Bürger zu einer neuen Gesellschaft, die sie in manchen Bereichen potentell schon sein mochte, übergeführt hat, und wir dürfen annehmen, daß er dafür

vor allem Gründe gehabt hat, die in seiner Zugehörigkeit zu der Schicht der

Adligen lagen, unter denen er sich durchsetzen wollte. Sieht man das so, und ich glaube, daß unsere Überlieferung anderes nicht erlaubt, haben wir auch davon auszugehen, daß die so konstituierte politische Gemeinschaft erst in ihre neue Rolle hineinwachsen mußte. Insofern das Bauprinzip der Gesellschaft durch

Kleisthenes die politische Gleichheit war, ist also diese nicht von denen, die dann nach der Reform die Gleichen bildeten, kämpferisch erzwungen, sondern diese sind auf Grund seit Solon bestehender Voraussetzungen von Kleisthenes erst dahingebracht worden: Isonomie war nicht der Schlachtruf, der in diese Reform führte, sondern sie war deren Konsequenz. Die Reform bestand in einer Neuordnung der politischen Organisation der

Athener. Hatte diese früher in nach Phratrien und Phylen gegliederten Personenverbánden bestanden, wurde sie jetzt durch die Schaffung von zehn neuen geographischen Bezirken, die ebenfalls Phylen hießen (danach sprechen wir heute von der kleisthenischen Phylenreform), in eine rein territoriale Ord-

nung verwandelt. Neben dem Territorialprinzip stand als zweite, nicht minder gewichtge Idee der Reform der Gedanke der Mischung verschiedener landschaftlicher Gebiete Attikas innerhalb einer jeden Phyle: Die Phyle sollte kein geographisch zusammenhängendes Gebilde sein, sondern sich jeweils aus drei „Dritteln“ (Trittyen) zusammensetzen, von denen jedes Drittel (Trittys) einem der drei großen Landschaftsbereiche, nämlich Stadt (dsty), Binnenland (mesó-

geion) und Küste (paralfa), angehórte. Die Phyle war also ein aus den verschiedenen Landschaften Attikas zusammengesetztes territoriales Gebilde und vereinigte in sich damit sowohl stádtische als auch stadtferne, sogar die stadtfernsten

Gegenden; in ihr war der Lokalgeist ebenso aufgehoben wie etwaige besondere wirtschaftliche Interessen, die sich aus dem Wohnsitz ergeben mochten: Jede Phyle repräsentierte gleichsam ganz Attika und hielt in sich mógliche Gegensitze in der Schwebe, und alle Phylen insgesamt reprásentierten wiederum gleichmäßig alle Bürger, die von Athen ebenso wie die von Eleusis oder Marathon,

die am Rande Attikas lagen, und „alle Bürger“ heißt: den Staat der

Athener. Nach diesen Phylen wurden nun künftig die Mitglieder der politischen

Gremien gewählt bzw. erlost, die Mitglieder des Rates (Buleuten) ebenso wie die

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

der zahlreichen Beamtenkollegien und später die Richter der Geschworenenhöfe, und nach ihnen wurden die Athener auch ausgehoben, zum Dienst im Heer

als Hoplit ebenso wie spáter zum Dienst auf der Flotte als Ruderer. Hatten in diesem System Phyle und Trittys die Funktion, den Bürger politisch zu aktivieren, blieb doch der Demos als das gewachsene Siedlungszentrum die demographische Grundeinheit. Er erhielt als die kleinste Zelle der Polis Athen noch zusätzliches Gewicht dadurch, daß die Demos-Angehórigen auch selbst eine kleine politische Einheit bildeten. Der Demos erhielt als die demographi-

sche Grundeinheit überhaupt jetzt erst ein politisches Gewicht, und dies gerade auch gegenüber der älteren politischen Ordnung, in der die großen Familien

den Ton angegeben hatten und deren Häuser die politischen Zentren gewesen waren. Denn nach dem Willen des Kleisthenes sollte sich der Athener künftig soweit als Genosse des Demos (und eben nicht mehr als Abhángiger eines adligen Hauses oder als Angehóriger eines durch Verwandtschaft oder auch nur persónliche Nähe konstituierten Personenverbandes, wie die Phratrie) fühlen, daß er sich forthin nach ihm benannte, indem er seine Demenzugehörigkeit als Teil seines Namens führte (z. B. Kimon Lakiades, das ist Kimon aus dem Demos

Lakiadai; der die Demenzugehörigkeit ausdrückende Namensteil hieß démotikón). Der Athener empfing also seine Identitát durch den Demos so, wie der Adlige seine durch die Nennung des Vaternamens (patronymikón) erhalten hat-

te. Nur der Adlige hatte ja in einem politischen Sinne einen Vater gehabt; für die Masse, die sich für ihren persónlichen Bereich auch der Filiation hatte bedienen können und bedient hat, besaß das Patronymikon kein politisches Gewicht. Zwar wurde es, schon zur Bestimmung der Person gegenüber anderen (darunter auch gleichnamigen) Personen, auch von Nichtadligen benutzt, aber zur Bestimmung des Bürgers war allein das Demotikon maßgebend, und es setzte sich schnell durch.

Die Wirkung der neuen Phylenordnung zeigte sich sofort in dem politischen Aufbau der Stadt. Die Beamten wurden künftig nach Phylen gewählt, ebenso der neue Rat, in den jede Phyle 50 Mann entsandte und der als Rat der Fünfhundert eine grofte Zukunft haben sollte. Hat es in vorkleisthenischer Zeit bereits einen ,,Volksrat“ gegeben, wie ja Solon die Einführung eines Rates der „Vierhundert‘ zugeschrieben worden ist, dürfte er dessen Kompetenzen übernommen haben; es scheint jedenfalls zunächst für ihn keine weitere Konsequenz eingetreten zu sein als die, daß er sich der Phylenreform anpaßte. Vor allem aber fügte man das Heerwesen in die neue Ordnung ein. Jede Phyle stellte künftig ein Regiment (zunáchst wohl ca. 1 000 Mann) mit einem Strategen an der Spitze. Die zehn Strategen wurden von der ganzen Volksversammlung, je einer aus jeder Phyle, gewählt. Damit war die Organisation geschaffen, durch welche man jederzeit die numerische Gesamtstárke des Heeres übersah und das Heer schnell

zusammenrufen konnte. Von dieser Neuorganisation waren drei Gebiete ausgenommen worden, nämlich das Gebiet von Eleutherai im Westen, Oropos im Norden an der bóotischen Grenze und die Insel Salamis. Sie waren seit jeher nur lose mit Attika verbunden

gewesen, da die Bevölkerung als fremd angesehen wurde, und Oropos ging schließlich auch ganz verloren. - Die alte Phylenorganisation der Geschlechter

L Die Entwicklung Athens zur Demokratie

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ließ Kleisthenes überall unangetastet, und sie ist auch später nicht angerührt worden. Von Bedeutung blieb sie vor allem auf kultischem Gebiet. Aber durch

den Verlust des politischen Gewichts starben doch große Bereiche dieser Ordnung ab.

Die politische Bedeutung der Reform liegt auf der Hand. Durch sie wurde zunächst die Macht des Adels völlig gebrochen. Die adlıge Gesellschaft war künftig in dem politischen Aufbau der Stadt nicht mehr präsent, und es waren die tausendfachen Bindungen zwischen ıhr und der athenischen Bevölkerung durch die neue lokale Einteilung überall zerrissen. Darüber hinaus schloß die neue Phylenordnung auf der Ebene der politischen Repräsentation jeden land-

schaftlichen Sondereinfluß aus; politische Sonderinteressen einer Gegend oder wirtschaftliche Sorgen einer anderen wurden von dem Aufbau des politischen Systems nicht nur nicht reflektiert, sondern geradezu paralvsiert. Die Ausschaltung des landschaftlichen Sonderwillens sollte große Konsequenzen haben; denn sie erstickte von vornherein viele politische Themen. Die neue Ordnung war aber nicht nur zur Abwehr des alten politischen Kräftefeldes errichtet worden; sie hatte auch eine aufbauende, positive Seite. Durch sie erhielt Athen

nämlich eine politische Repräsentation auf der Basis der Gleichheit der Athener (bei denen man zunächst gewiß nur an die Mitglieder der drei Klassen, die allein Kriegsdienst leisteten, zu denken hat) und eine schlagkráftige Armee, die nun

eine Armee politisch gleichstehender Soldaten letztere in der Phalanx. Aber die Gleichheit war abstrakter politischer Begriff bewußt geworden, wenn sie das nicht entdeckt hätten. Denn diese

war. Äußerlich zeigte sich das den Athenern nun auch als ein und es wäre auch merkwürdig, neue Organisation ist in allen

ihren Gliedern von der Idee der Gleichheit durchdrungen. Der Begriff erscheint denn auch schon zur Zeit des Kleisthenes. Er wurde damals auf diejenigen bezogen, die in der Vorstellung der Athener dafür die Voraussetzung geschaffen hatten, nämlich auf die Tyrannenmórder Harmodios und Aristogeiton: Sie hätten Athen die Gleichheit des politischen Rechts gebracht. Der griechische Begriff heißt Isonomia (von fon, „gleich“, und némein, ,, verteilen"). Die Gleichheit, das ion, war die Grundidee der Demokratie, und daher sah eine spätere

Zeit in Kleisthenes deren Begründer. Herodot sagt, daß Kleisthenes die zehn Phylen geschaffen und (damit) die Demokratie eingerichtet habe. Ein Demokrat war Kleisthenes zwar nicht; seine Reform diente der Abwehr der Adelsherr-

schaft, der Schaffung einer neuen politischen Repräsentation anstelle des Adels und der Reorganisation des Heeres zur Bannung einer von außen drohenden Gefahr. In ihren Konsequenzen aber war seine Reform mehr. In ihr lagen Möglichkeiten, die Kleisthenes weder gesehen noch beabsichtigt hatte, die vielmehr erst neue politische Bedingungen verwirklichen konnten. Wegen ihrer Bedeutung soll diese Reform des Kleisthenes später dort, wo von der politischen Organisation Attikas gesondert gehandelt wird, noch ausführlicher besprochen werden (u. S. 153 ff.).

Wenn soeben gesagt wurde, daß Kleisthenes durch seine neue Phylenordnung die Adelsherrschaft gebrochen hatte, soll das nicht heißen, daß damit künftig

auch der einzelne Adlige als politischer Führer vóllig verschwand. Es wurde durch sie lediglich der Einfluß der Gruppe adliger Häuser aufgehoben, die zwar

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

nicht als Gruppe aufgetreten war, aber doch durch ihre soziale Macht das

politische Leben bestimmt hatte, nicht auch der Einfluß einzelner adlıger Häuser abgeschnitten. Der einzelne Adlige konnte allerdings unter den veränderten Umständen nicht mehr neben oder gar gegen die organisierte Gesellschaft der Gleichen auftreten. Die Phylenordnung war ein Stück der staatlichen Ordnung selbst, und wenn ein Adliger künftig politisch tätig werden wollte, konnte er das nur im Rahmen dieser Ordnung tun. Seine ursprünglich ungebundene, einem Dritten nicht verantwortliche Aktivität war jetzt, wollte er sie weiter ausüben,

gleichsam in den staatlichen Raum hineingenommen und darin versachlicht worden. Tatsächlich fanden sich nun adlige Personen, die innerhalb des neuen Rahmens tätıg wurden, und daß sie dies taten, war auch ganz im Interesse der neuen Gesellschaft. Denn wer sonst hätte für die Gemeinschaft sprechen sollen? Mit dem politischen Recht war den Bauern nicht gleichzeitig auch die Fähigkeit zugewachsen, den Willen der Gemeinschaft zu artikulieren. So war diese denn sogar mehr oder weniger auf adlige Personen angewiesen, die für sie als Führer im innenpolitischen Streit und im Kampf um die äußere Sicherheit auftraten. Die Voraussetzung für eine politische Führerschaft war allerdings nun Loyalität gegenüber dem Demos als dem neuen Herrn der Ordnung. Es versteht sich, daß zunächst viel Mißtrauen herrschte, Adlige der Tyrannis oder zumindest der Tyrannenfreundlichkeit verdächtigt oder ihnen eigensüchtige Ziele nachgesagt wurden. Der Ruf nach einer wirksamen Kontrolle der politischen Führerschaft lag auf der Hand, und ihn fand man in dem Ostrakismos, dem Scherbengericht. Nach unserer Überlieferung soll noch Kleisthenes den Ostrakismos, nämlich das Gericht über die Verbannung eines einflußreichen bzw. des einflußreichsten Bürgers aus der Stadt, eingeführt haben (der Begriff ist von dem für die Abstimmung benutzten Schreibmaterial, dem óstrakon, „Keramikscherbe“, gebildet und bezieht sich, genaugenommen, auf das Urteil; das Verfahren, also die

Abstimmung, heißt ostrakophoria). Danach sollte zu Beginn der zweiten Hälfte eines jeden Amtsjahres (in der 6. Prytanie, d. i. Amtsperiode des Rates, also im

Januar unseres Kalenders) der Volksversammlung die Frage vorgelegt werden, ob eine Abstimmung mittels Scherben abgehalten werden solle. Wurde die Frage bejaht, summten die Athener in einer späteren Versammlung in der Weise ab, daß jeder auf eine Keramikscherbe, die ja das billigste Schreibmaterial war,

einen Namen einritzte. Für die Beschlußfähigkeit war ein Quorum von 6 000 Stimmen erforderlich. Wurde es erreicht, entschied die relative Mehrheit, und es

mußte also derjenige, auf den die meisten Stimmen gefallen waren, für zehn Jahre ohne Einbufte an Ansehen und Vermógen in die Verbannung gehen. Der erste erfolgreiche Ostrakismos fand erst 487, also 20 Jahre nach der kleisthenischen Phylenreform, statt; er traf Hipparchos, einen Verwandten des Peisistra-

tos. In den folgenden Jahren wurden dann weitere bekannte Politiker ostrakisiert, unter ihnen der Alkmäonide Megakles, ein Neffe des Kleisthenes (486). Es

ist nicht einfach, dem Grund und vor allem auch dem Zeitpunkt für die Einrichtung dieses merkwürdigen Verfahrens, das die Straffolgen eines Gerichtsurteils hatte, ohne jedoch Gericht zu sein, auf die Spur zu kommen. Wenn es schon

Kleisthenes geschaffen hat, dürfte es sich am ehesten gegen die Führer allzu mächtiger Adelscliquen gerichtet haben und hätte damit die Rückkehr der alten

1. Die Entwicklung Athens zur Demokratie

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Bürgerzwiste verhindern sollen. Es wäre dann dieses „Gericht“ ein Instrument zur

Absicherung der gerade gewonnenen Harmonie auf der Grundlage der Gleichheit aller Bürger gewesen. Das würde gut zu Kleisthenes passen. Die Tyrannis, die von

unserer Überlieferung als Ursache des Verfahrens genannt wird, dürfte damals kaum mehr als große Gefahr angesehen worden sein. Isagoras, nicht die vertriebenen Peisistratiden, war demnach der Anlaß für die Entstehung des Verfahrens. Es bleibt aber nicht ganz ausgeschlossen, daß es erst zu der Zeit, als es zum ersten Male

erfolgreich angewandt wurde, geschaffen worden ist (s. u.). Die weitere Entwicklung der inneren Ordnung Athens ist von der großen Auseinandersetzung mit den Persern nicht zu trennen. Der Prozeß des Wandels wird nun nicht mehr von Kräften getragen, die aus der athenischen Gesellschaft selbst kommen, sondern weitgehend von außenpolitischen Notwendigkeiten diktiert. Die Autonomie der Entwicklung hat damit ein Ende. Ist der Anteil der Außenwelt an der Gestaltung der Innenpolitik im späten 5. Jahrhundert klarer, können wir für den Anfang dieses Jahrhunderts nicht immer erkennen, wo der eigentliche Antrieb zu suchen ist. Eine sehr wichtige Reform, die einen Grundsatz der entwickelten Demokra-

ue vorwegnimmt, erfolgte im Jahre 487/86, also zwischen den beiden Perser-

kriegen. Sie sah vor, daß künftig die neun Archonten und der Schreiber der Thesmotheten aus 100 (so auch im 4. Jahrhundert) von den Demen vorgewähl-

ten Kandidaten (prókritoi) gelost wurden. Die verhältnismäßig große Anzahl der Kandidaten weist darauf hin, daf$ damais der Kreis der Bewerber schon auf die zweite Zensusklasse, die Hippeis, erweitert war; denn die erste Klasse ver-

mochte kaum in jedem Jahr 100 Kandidaten aufzustellen. Auch wenn der Losung noch eine Wahl vorgeschoben ist, bedeutet diese Abänderung des herkömmlıchen Verfahrens doch einen großen Einschnitt. Die Besetzung der höchsten Beamtenstellen, vor allem die des Archon, der dem Jahr den Namen gab,

war künftig unter die Beliebigkeit des Loses gestellt. Noch in den neunziger und frühen achtziger Jahren war der Kampf um politischen Einfluf mit dem Kampf um das Archontat verbunden gewesen, und wir finden deswegen unter den Archonten dieser Zeit bekannte Namen, wie Hipparchos (496/95), Themistokles (493/92) und Aristides (489/88); nach 487/86 änderte sich das. Die Ursache

für die Entmachtung des Archontats ist nicht leicht zu fassen. Die Verbannungen mehrerer bekannter Politiker in den achtziger Jahren verweisen auf schwere

Adelskämpfe. Themistokles, dessen Namen wir auf den ältesten Ostraka finden, war damals eine der umstrittensten Persónlichkeiten. Bei den Auseinandersetzungen dürfte weniger eine wiedererwachende Tyrannenfurcht als die Richtung der Außenpolitik der Zeit die entscheidende Rolle gespielt haben; denn es ging damals in dem Kampf mit den Persern, der im Jahre 490 seinen ersten Hóhepunkt hatte, und in dem Krieg mit Ágina, der alten Konkurrentin Athens im Saronischen Golf, um Lebensfragen der Athener. Es bleibt die Frage, wohin innerhalb des Gefüges der politischen Ordnung sich nach der Entwertung des Archontats die Macht verlagerte. Eine gewisse Schlüsselrolle wird schon damals dem Kollegium der zehn Strategen zugekommen sein, die nach der Phylenreform des Kleisthenes das Aufgebot kommandierten und auch künftig von der Volksversammlung gewählt, nicht erlost wurden.

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Die außenpolitische Komponente der Innenpolitik zeigt sich besonders deutlich in der Frage des Flottenbaus. Beginnend wohl schon Ende der neunziger Jahre, wird zunächst der Piräus als Kriegshafen ausgebaut, dann vor allem seit

483/82 die Anzahl der Kriegsschiffe, der Trieren, erheblich vermehrt. Es schei-

nen in einem einzigen Anlauf anfangs mindestens 100 neue Trieren auf Stapel gelegt, in der Folge dann soviel dazu gebaut worden zu sein, daß die Athener bei der Ankunft des persischen Großkönigs ın Griechenland über 200 Kriegsschiffe besaßen. Der große Initiator dieser Politik war Themistokles. Seine Gestalt ist aber bereits im letzten Drittel des 5. Jahrhunderts, aus dem wir die frühesten Nachrichten über ıhn besitzen, so weıt ins Heroische und Anekdotische verzerrt

und überhöht worden, daß es kaum mehr möglich ist, die Motive und einzelnen Abschnitte innerhalb des Flottenprogramms genau zu rekonstruieren. Anstelle von konkreten Daten wird uns der weit vorausschauende Staatsmann und Demokrat Themistokles vorgeführt, der die einfältigen Athener durch eine List zu

dem von ihnen nıcht erkannten eigenen Besten drängte. Hinter der Unfähigkeit, über Themistokles hinweg auf den politischen Hintergrund selbst zu schauen, verbirgt sich der gewaltige Eindruck, den dieser Mann hinterlassen haben muß. Es wird darum nicht ganz deutlich, ob der Krieg gegen Ägina oder die Persergefahr den Ausschlag für den großzügigen Flottenausbau gegeben hat. War für Athen anfangs Âgina der wichtigere Gegner, ist doch der Entschluß für den weiteren Ausbau in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre mit Sicherheit unter dem Eindruck der drohenden persischen Invasıon gefaßt worden. Es bleibt ferner nicht nur die Entwicklung des Bauprogramms, sondern auch dessen

Finanzierung undeutlich. Es scheint, daß die Ausgaben für die Flotte zumindest teilweise aus den Einnahmen neuerschlossener Silberminen im Gebiet von Laureion gedeckt worden sind. Wie immer die Schiffe nun finanziert wurden, technisch verlief der Bau so, daß jeweils für ein Schiff ein verantwortlicher Trierarch bestellt wurde, der sein Schiff für eine feste Summe aus öffentlichen

Mitteln, zu denen er in aller Regel aus eigenem Vermögen noch hohe Beträge dazuzulegen hatte, baute und ausrüstete, die Mannschaft einübte und auch

weiterhin als Schiffsführer fungierte. Da er gewöhnlich keine seemännische Erfahrung besafs, ist er nicht als Kapitän in unserem Sinne anzusehen. Die große Bedeutung des Flottenbaus für die innere Entwicklung Athens liegt darin, daß für die Schiffe viele Ruderer benötigt wurden. Denn da in der

Seeschlacht alles von der Wendigkeit der Schiffe abhing, mußten die Kriegsschiffe Ruderschiffe (Galeeren) sein; jedes Schiff brauchte für die drei Ruder-

bänke 170 Ruderer, dazu gut zehn Mann seemännisches Personal. Staatssklaven,

die man hätte heranziehen können, besaß die Stadt aber nur wenige, wie denn überhaupt die Zahl der Sklaven in Attika damals noch nicht sehr groß gewesen sein dürfte. Es kam hinzu, daß der Ruderer im Grunde kein Sklave sein konnte;

denn seine Tätigkeit galt eher als Soldatendienst denn als reine Handarbeit zur Fortbewegung des Schiffes: Es kämpften ja nicht die Deckmannschaften der Schiffe durch Schießen, Entern und im Nahkampf miteinander, sondern man

kämpfte durch Rammen, setzte demnach das ganze Schiff als Waffe ein; die Ruderer versahen also nicht den Dienst von Galeerensklaven, sondern sie lenk-

ten die Waffe selbst. Dieser Umstand brachte die eigentliche Schwierigkeit einer

LDeEnrwicklung Athens zur Demokratie

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großzügigen Flottenpolitik: Man brauchte eine sehr große Anzahl von frei geborenen Männern

zur Besetzung der Ruderbänke. Aber woher sollten sie

genommen werden? Es kamen da - abgesehen von der Heranziehung von in Athen ansässıgen Fremden und von der Anwerbung von Ausländern - nur die ärmeren Bürger Athens in Frage, also diejenigen, die von ihrem Vermögen her nicht in der Lage waren, sıch für den klassischen Soldatendienst, nämlich als

Schwerbewaffnete für den Kampf in der Phalanx, selbst auszurüsten. Die Schwerbewattneten kamen für den Ruderdienst deswegen nicht in Betracht,

weil sie - abgesehen davon, daß sie der Zahl nach nicht genügten - für die

Feldarmee benótigt wurden. So besetzten vornehmlich Athener die Ruderbänke, die keiner der drei Vermógensklassen angehórten, also die Personen infra classem, die in Athen Theten hießen. Mit dem Ruderdienst, der Militärdienst

war, erwarben sie aber nach damaligem Denken den Anspruch auf einen aktiven

Anteil am politischen Leben, denn beides stand seit ältester Zeit in einem Kausalzusammenhang. Die Verwirklichung des Anspruchs kam noch nicht sofort zum Tragen, teils weil die Flotte ja zur Abwehr einer drohenden Gefahr,

nicht zu einer Erweiterung der Schicht der politisch aktiven Bürger gebaut worden war und man darum die inneren Konsequenzen vorerst gar nicht im

Blick hatte, teils auch weil das Rudern ohne Zweifel zunächst noch nicht als ein dem Kampf in der Schlachtreihe ebenbürtiger Dienst erachtet wurde. Erst die größte und folgenreichste Schlacht dieses Jahrhunderts, Salamis, hob das Ansehen des Ruderers so weit, daß man in ihm einen Kämpfer zu sehen vermoch-

te. Durch die Flotte wurde Athen zur Grofimacht, und nach den siegreichen Schlachten gegen die Perser setzte die Stadt ihr in dem großen Krieg gewonnenes Ansehen und ihre junge Marine dann für eine großangelegte Bündnispolitik

ein, die Hunderte von Städten der Ägäis und der Meerengen unter ihrer Füh-

rung gegen die Perser vereinte. In dieser Zeit war das Denken und Streben der

Athener von der äußeren Politik und von dem dort gewonnenen Ruhm weitgehend absorbiert. Dem rückschauenden Betrachter erscheint diese Periode als

eine innenpolitisch ruhige Zeit, die - wie durch einen Mißton - in den heute oft als „Umsturz“ bezeichneten Ereignissen des Jahres 462/61, die zur Demokratie führten, ein jáhes Ende fand. Nach Aristoteles hat in dieser Zeit, zwischen 479

und 462, der Areopag, also der alte Adelsrat und seit Solon der Rat der ehemaligen Archonten, die Stadt verwaltet. Der Areopag, dem neben der Blutgerichtsbarkeit vor allem die Aufsicht über die Beamten zukam, mag dadurch, daß die

Archonten trotz der Schwáchung des Amtes seit 487/86 zumeist wohl noch meist dem Adel angehórten, auch ein hóheres Ansehen besessen haben, als von

seinen Zuständigkeiten her eigentlich zu erwarten war, zumal es nach der Entmachtung des Archontats sonst keine Institution gab, von der ein starker und kontinuierlicher politischer Wille hätte ausgehen können. Denn der seit Kleisthenes bestehende neue Rat der Fünfhundert war noch nicht in seine spätere Rolle hineingewachsen, auch wenn er neben der Funktion des vielleicht schon seit Solon

bestehenden alten Rates der Vierhundert bereits diese oder jene

Aufgabe zusätzlich übernommen, u.U. sogar schon die Volksbeschlüsse vorbe-

raten haben sollte. Die Strategen ferner hatten zwar Gewicht; Kimon z. B., der

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Sohn des Marathon-Siegers Miltiades und der zu dieser Zeit bekannteste Politiker und Feldherr, nutzte dieses Amt zur Profilierung seiner Person. Aber gerade die Fähigsten unter ihnen waren meist mit irgendeiner der vielen militärischen Unternehmungen beschäftigt, wie eben auch gerade Kımon. So mag der Areopag in der verwirrenden außenpolitischen Konstellation dieser Zeit, in der die Athener aus einer eher provinziellen Vergangenheit in die große Politik hinaustraten und sozusagen die Welt entdeckten, an Gewicht gewonnen haben. Wenn Aristoteles ihn aber die gesamte Staatsverwaltung in Händen halten läßt, spielt dabei gewiß ein spätes politisches Urteil über den Areopag hinein: Die Kritiker

der Demokratie sahen im nachhinein die Jahrzehnte vor den Ereignissen des Jahres 462/61, ın dem der Areopag wichtiger Funktionen beraubt worden war, als eine Zeit gemäßigten politischen Klimas an, das insbesondere der Autorität dieser Versammlung zu verdanken gewesen sei; die Demokratie, die man bereits seit Kleisthenes für verwirklicht hielt, wäre damals noch so maßvoll gewesen, daß sie die Anerkennung aller finden konnte. Tatsächlich aber müssen wir zweifeln, ob die Vorstellung, daß man eine neue, mit keiner anderen vergleich-

bare politische Ordnung besaß, bei den Athenern vor 462/61 wirklich schon so allgemein war, daß wir selbst dann, wenn wir in dieser Zeit bereits alle wesentlichen Elemente der späteren Demokratie verwirklicht sehen würden, von „De-

mokratie“ sprechen dürfen. Wir haben wohl eher die knapp zwanzig Jahre nach den großen Schlachten gegen die Perser als eine Periode des Übergangs anzusehen, in der die Veränderungen seit Kleisthenes, insbesondere die Hineinnahme ganz neuer Schichten in die politische Verantwortung, nur sehr allmählich wirksam wurden. Die unbemittelten und weniger vermögenden Athener wuch-

sen erst in langen Jahren, nämlich in dem Maße, wie sie seit den großen Perserschlachten Jahr um Jahr in der Flotte dienten und die Außenpolitik mitgestalte-

ten, in ihre neue politische Rolle und in ein gewandeltes politisches Bewußtsein hinein. Am Ende dieses Prozesses war dann schließlich eine politische Atmosphäre geschaffen, in der es nur eines Anstoßes bedurfte, um die jetzt gestaute Dynamik zu befreien und damit die politische Ordnung qualitativ zu verändern. Ob das Ende dieser innenpolitisch eher beschaulichen Ära sehr plötzlich

kam, wie die Alten glaubten und die Modernen es ihnen noch heute nachreden, sei dahingestellt. Das Jahr 462/61 hat ohne Zweifel wichtige Änderungen ge-

schaffen, und es stand in der Tat auch der Areopag im Zentrum der Auseinandersetzungen. Aber ob Ephialtes, der damals einflußreichste Politiker unter den Gegnern Kimons, den Areopag „stürzte“, um die Entscheidungen in die Hände

der breiten Masse zu legen und sie damit zu politisieren, ist kaum zweifelsfrei nachzuweisen. War der „Sturz“ des Areopags wirklich ein Akt demokratischer

Politik, wie es dem rückschauenden Betrachter erscheinen mag? Es besteht allerdings gewiß kein Zweifel darüber, daß wir in den fünfziger und vierziger Jahren bereits von einem allgemeinen Bewußtsein einer Herrschaft des Volkes bei den Athenern sprechen können, wohl aber darüber, ob dieser Bewuñtseins-

wandel so punktuell gesehen werden kann und ob die Demokratie das Ziel oder nicht eher eine Konsequenz der Entmachtung des Areopags gewesen ist. Der Areopag blieb auch nach 462/61 eine angesehene Behörde, vor allem auf Grund

L Die Entwicklung Athens zur pef gs

kratie

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MM

seiner Blutgerichtsbarkeit und einiger anderer wichtiger Kompetenzen. Aber

waser vor den Ereignissen dieses Jahres gewesen ist und er also damals aufgeben mußte, läßt sich lediglich einer vorsichtigen Interpretation dessen entnehmen, was wir für ihn vor diesem Datum an Kompetenz nachweisen kónnen und was ihm in einer späteren, der entwickelten Demokratie feindlichen Epoche, vor

allem im Jahre 404/03, zurückgegeben wurde. Mit einiger Sicherheit läßt sich da feststellen, daß der Areopag 462/61 die Überprüfung der Qualifikation (Dokimasie) der Beamten, insbesondere der damals noch einflußreichen Archonten,

und die allgemeine Aufsicht über sie durch Anklagen, die er bei Verdacht von Unregelmäßigkeiten von sich aus oder auf Antrag von Privatpersonen erheben konnte, und durch die Prüfung der Amtsführung nach dem Amt (Euthynie)

verloren hat. Dokimasie und Euthynie sowie gegebenenfalls Anklagen bei Verdacht von politischen Straftaten wurden später jedenfalls in besonderen, systematisierten Verfahren von Rat, Volksversammlung und Geschworenengerichten sowie von Spezialbeamten wahrgenommen, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß zumindest die groben Umrisse der späteren Ordnung z.Zt. von Ephialtes errichtet wurden. Damit war dem Areopag die Kontrolle über die Exekutive entzogen und auf die zentralen Masseninstitutionen, letztlich auf die Geschwo-

renengerichte, übertragen worden. Spáter hat man das nicht mehr verstanden, wollte dem

Datum

von einem späten Verstándnis dessen, was man an der

Demokratie für wichtig hielt, mehr hinzufügen und hat dann gemeint, daß es vor allem um die Klage wegen Gesetzwidrigkeit, also den Verfassungsschutz im engeren Sinne, gegangen sei, der dem Areopag als dem ehrwürdigen Wächter der Ordnung entzogen wurde. Aber die betreffende Klage begegnet uns in den Quellen erst gegen Ende des Jahrhunderts, und die Übertragung der Beamtenkontrolle auf die große Menge ist eine so einschneidende Maßnahme, daß sie für die Akzentuierung dieses Datums keine weitere Unterstützung benötigt: Die Demokratie ist vor allem durch die Auflósung derjenigen politischen Macht bestimmt, die seit der Adelszeit die Stadt gelenkt hatte, die der Beamten. Schwieriger ist es, für die Reform ein Motiv zu finden. Die Außenpolitik,

welche die Athener nun über 20 Jahre im Bann gehalten hatte, mag hineingespielt haben. Aber es ist weder klar, ob Ephialtes überhaupt ein innenpolitisches Programm hatte (etwa Demokratisierung), für das er eine günstige außenpolitische Konstellation nutzte (Abwesenheit des Spartafreundes Kimon in Messene), oder ob er vielleicht eher eine bestimmte Außenpolitik verfolgte (Seebund;

Gegnerschaft zu Sparta), zu dessen Durchsetzung er innenpolitisch aktiv wurde (Beseitigung des spartanerfreundlichen Areopags als des damals ausschlaggebenden Machtfaktors). Alle Thesen müssen sich auf Wahrscheinlichkeitsannah-

men stützen. Da das eigentliche politische Interesse damals in der Seebundspoli-

uk lag, spricht manches dafür, daß das Motiv der Reform in der Außenpolitik zu suchen ist, und in der Tat ist kurz vor der Reform und noch in Abwesenheit

Kimons das seit dem Perserkrieg mit Sparta bestehende Bündnis gekündigt worden (462). Doch die Art, wie Ephialtes sich durchzusetzen suchte, verweist auf das inzwischen veránderte innere Klima: Die durch Ephialtes erfolgte totale Unterordnung der Exekutive unter die in den Geschworenengerichten richtenden Massen brachte die potentiell längst bereitliegenden Kräfte an die Oberflä-

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

che. Daß das möglich war, ıst vielleicht nicht zuletzt dem Umstand zu verdanken, daß Ephialtes seine Reform in Abwesenheit von 4 000 Hopliten, die unter Führung Kimons den Spartanern zur Niederwerfung des Helotenaufstandes gesandt worden waren, durchsetzte. Die Bürger ohne Hoplitenzensus, die Theten, waren damals also rein zahlenmäßig überlegen. Die Verbannung Kimons

(461) beweist auch, daß es nach der Rückkehr des Expeditionskorps zu großem inneren Zwist kam. Hatten für die Reform anfangs zunächst vielleicht außenpo-

litische Fragen und die Gegnerschaft zu Kimon im Vordergrund gestanden, mischte sich in den Kampf offensichtlich dann immer stärker auch der Wille der minderbemittelten Bürger hinein, ın den politischen Entscheidungen mitzureden. Die folgenden Jahrzehnte sollten jedenfalls zeigen, daß mit dieser Reform in der Tat mehr als nur eine außenpolitische Linie durchgesetzt worden war. Die politische Dynamik der Massen war geweckt. Die 462/61 vervollständigte Abhängigkeit der Exekutive von Organen, in denen eine große Anzahl von Athenern (Rat, Geschworenengerichte) oder gar alle (Volksversammlung) saßen, leitete zur Demokratie über. Es ist bezeichnend, daß

sich die Athener in den folgenden Jahrzehnten immer wieder um die weitere Schwächung, ja Auflósung der exekutiven Gewalt bemühten. Nach 458/57 wurde das Archontat sogar den Zeugiten zugänglich gemacht, und sehr bald schon waren die meisten Beamten reine Losbeamte, wurden nur Offiziere, Finanzbeam-

te, Gesandte und etliche Kultbeamte gewählt. Die Vorstellung von der Herrschaft der Menge bricht jetzt durch; die Konsequenzen der Seemachtspolitik, welche die

Ármeren zum Ruderdienst und damit latent zum politischen Mitspracherecht herangeführt hatte, wurden nunmehr gezogen. Ziemlich rasch und offensichtlich durch politische Führer, vor allem durch Perikles, gelenkt, vollendete sich der Ausbau dessen, was nun bald auch „Demokratie“, also „Volksherrschaft“, ge-

nannt wurde. An die Stelle der Exekutive rückte der Volksführer (Demagoge), der allein durch seine Autoritát und seine Argumente das Volk lenkte; rednerisches Talent wurde so zu einem unverzichtbaren Teil der Politik. Manche Demagogen, wie Perikles, stützten sich auf das Strategenamt, da Seemachts- und Seebundspoliuk eng mit dem demokratischen Gedanken verbunden waren; zogen doch bei jeder Ausfahrt der Flotte oder auch nur eines Teiles von ihr viele Tausende

Athener in den Kampf und demonstrierten die Macht und den Glanz der Stadt. Mit der Beteiligung der Massen am politischen Gescháft stellte sich auch bald die Frage danach, wie der minderbemittelte Athener, der von seiner Hände Arbeit

lebte, denn überhaupt politisch tátig werden kónnte. Die Idee der Zahlung von Tagegeldern (Diáten) kam auf, zunächst für die Richter, dann auch für die Ratsherren und anderen Beamten und schließlich sogar für den Besuch der Festlichkeiten zu Ehren der Stadtgótter (Theorika, , Schaugelder“). Das wachsende Be-

wußtsein von der eigenen Macht und dem ideellen wie materiellen Wert dieser

Macht veranlaßte denn auch schon bald die Athener, die Demokratie personell abzugrenzen: Ein Gesetz vom Jahre 451/50 schränkte das athenische Bürgerrecht auf diejenigen ein, deren Vater und Mutter Athener waren. Mit dem Bewußtsein ihrer Exklusivität verrieten die Athener, daß sie ihre politische Ordnung als eine ihnen eigentümliche, mit keiner der vorhandenen vergleichbare und in jeder Hinsicht außergewöhnliche begriffen hatten.

Le Enmicklung, Athens —

zur

Demokratie

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000

} Die Bedingungen für die Entstehung des demokratischen Gedankens Die innenpoltische Entwicklung Athens, die in dem vorangehenden Kapitel dargelegt wurde, lehrt, welche besonderen Bedingungen des allgemeinen gesellschaftspoliuschen Umfeldes und welche außenpolitischen Gegebenheiten dahin geführt haben, daß Athen in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts eine Demo-

kratie wurde. Die erste, wenig überraschende, aber angesichts antiker wie auch moderner Ansıchten zur Entwicklung der athenischen Demokratie wichtige

Feststellung ist die, daß es keine politische Theorie gab, die als eine in sich selbst ruhende Kraft die Ausbildung einer demokratischen Verfassung getragen oder gefördert hätte. Die ın der jüngeren Geschichte selbstverständliche Vorstellung,

daß gesellschaftliche Ordnungen insbesondere auch durch Ideen vorangerrieben werden, gilt nicht für die athenische Geschichte des 6. und 5. Jahrhunderts. Daß die Athener es später so sahen und Solon für einen demokratischen Politiker hielten, der die neue Staatsform aus eigenem Gestaltungswillen schuf, darf ihnen zugute gehalten werden, da sie nicht entwicklungsgeschichtlich dachten und unter den besonderen politischen Verhältnissen des 4. Jahrhunderts nach einer Figur suchten, in der sie ihre Verfassung personalisieren und rechtfertigen konnten. Die moderne Forschung hingegen ıst, wenn sıe dergleichen Behaup-

tungen aufstellt, verpflichtet, den allgemeinen Rahmen der Bedingungen zu nennen, in dem eine neue und von den Athenern wie von allen Griechen seit der

Mitte des 5. Jahrhunderts auch als ganz andersartig empfundene politische Idee sich zu bilden vermochte. Eine verfassungspolitische Diskussion aber gibt es bis zur Mitte des 5. Jahrhunderts nicht. Die Demokratie ist darum nicht das Pro-

dukt einer politischen Idee, sondern der besonderen Umstände der athenischen

Geschichte des 6. und 5. Jahrhunderts. Es ist einer Überlegung über die Umstände, die zur Demokratie führten, eine weitere Bemerkung vorauszuschicken. Diejenige politische Ordnung, welche die Athener seit der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts Demokratie nannten,

entstand in Athen. Alle demokratischen Ordnungen außerhalb Athens sind unter dem Einfluß, nicht selten unter dem politischen Druck Athens eingeführt worden. Die Demokratie gehórt nach Athen; dort hat sie sich entwickelt, und

nur dort haben wir also auch nach den Bedingungen für diese besondere Form politischen Lebens zu suchen.

Nun ist es aber gewiß nicht so, daß Athen eine ganz selbständige, gleichsam von den anderen griechischen Städten isolierte Entwicklung genommen hat. Für weite Strecken ihrer inneren Geschichte finden wir an anderen Orten Parallelen, wie denn auch der erste große Schub, der zu neuen Formen des

politischen Denkens führte, aus einer gesellschaftlichen Krise kam, an der alle Griechen mehr oder weniger Anteil hatten: die Krise der Adelswelt. Sie erfafite beinahe alle Bereiche des óffentlichen und privaten Lebens, sowohl die Formen der politischen Willensgebung als vor allem auch militárpolitische und wirtschaftliche Aspekte, die zu einer allgemeinen Verschlechterung der sozialen

Lage weiter Bevölkerungskreise führten; von letzterer nahm die Unruhe beinahe

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

überall und so auch ın Athen ihren Ausgang. Aber die besondere Weise, in der die Probleme in Athen angepackt und zu dem Versuch einer Lösung gebracht wurden, ging dann doch über das hinaus, was wir - bei, zugegeben, schlechter Information - über alle Vorgänge außerhalb Athens ın dieser Zeit wissen, und sie war weniger in den besonderen, etwa gegenüber den meisten griechischen Städten andersartigen Voraussetzungen der Krise - sie dürften eher an manchen Orten ähnlich oder gar gleich gewesen sein - als in der Person dessen begründet, dem in Athen die Bewältigung der Krise anvertraut worden war. Solon war gewiß kein Mann, der aus seiner Zeit heraustrat und Athen zu neuen Ufern führen wollte; er war im Gegenteil fest in seiner Zeit verwurzelt und eher der älteren Zeit als einem neuen Geist verpflichtet. Aber seine Vorstellungen zur Überwindung der Krise waren doch sehr eigenwilliger Art. Er hatte, um das erneut herauszustellen, keine Idee von einer grundsätzlichen Umgestaltung der politischen Gesamtordnung; er dachte überhaupt nicht verfassungspolitisch, und er konnte das auch gar nicht; denn die Zeit war dafür noch lange nicht reif. Die politische Gesamtordnung sah er als eine feste Größe an. Er wollte sie nicht umformen, sondern die ins Wanken gebrachte Ordnung wieder ins Lot bringen, das heißt, in seiner Sprache, die Dysnomie oder Anomie („Unordnung“) wieder zu einer Eunomie („Wohlordnung‘“), die sie früher gewe-

sen war, zurückführen. Angesichts der Heftigkeit der Auseinandersetzungen und der völlig festgefahrenen Situation, in der sich die Lager einander unversöhnlich gegenüberstanden, schien es Solon, der sich als Mittler zwischen den

Parteiungen fühlte, geboten, zur Wiederherstellung der alten Ordnung feste Onentierungsmarken zu setzen, an die sich alle halten sollten. Die Versöhnung konnte nach Solon also nur durch eine aktive Stützung der Eunomie vollbracht werden; gute Worte und einen starken Schiedsrichter allein hielt er in dieser Situation für unzureichend. Er wollte die alte politische und soziale Ordnung im Prinzip also zwar nicht anrühren, jedoch bindende Markierungen schaffen, durch welche die Harmonie dauerhaft zu bestehen vermochte. Als eine Voraussetzung zur Lósung der Aufgabe erkannte er die Notwendigkeit, den verschuldeten, z. T. versklavten Bauern wieder die Verfügung über ihre Person und damit Freiheit und Freizügigkeit zurückzugeben; daß dies in besonders durchgreifender und umfassender

Form

geschah, machte diesen Teil seines

Schiedsamtes besonders wichtig. Von fundamentaler Bedeutung wurde die wei-

tergehende Idee, alle Wehrfähigen, soweit sie eine Rüstung stellen und damit als Schwerbewaffnete dienen konnten, durch die Übertragung des passiven Wahlrechts aktiv am politischen Leben zu beteiligen und sie zu diesem Zweck in Vermógensklassen zu organisieren, in denen nun nicht mehr nur der Vornehme und Einflußreiche, sondern jeder Hoplit erfaßt war. Damit war nicht nur der politische Raum dichter und dynamischer, sondern es auch für jeden móglich geworden, bei Erreichung des Mindesteinkommens in diesen Kreis aufzustei-

gen. Das Besondere an der solonischen Timokratie, wie wir diese Verbindung eines bestimmten Vermógens, das den Dienst in der Phalanx ermóglichte, mit dem politischen Recht nennen, war aber - anders als etwa in Sparta - der Umstand, daf$ dies ohne einen Umbruch der sozialen Ordnung geschah. Im Gegenteil sollten sich jedenfalls nach dem Willen Solons die sozialen Verhält-

1. Die Entwicklung Athens zur DeMOkrarie s

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MM

nisse der älteren Zeit gerade M der neuen timokratischen Ordnung widerspiegen; denn die Einflußreichsten und Reichsten wurden in ihr in besonderer Weise privilegiert. Damit war die innere Ordnung aber unter ein bestimmtes Ziel gestellt: Es ging um ein stárkeres Mitspracherecht nun aller Hopliten bei Entscheidungen für das Gemeinwesen, nämlich um die Teilnahme am WillensbildungsprozeR durch die Wahl der Amtstráger, durch die Bekleidung von Ámtern nun auch durch jene Hopliten, die bisher davon ausgeschlossen gewesen waren. Obwohl schon damals auch die Athener, deren Vermógen unter dem Zensus der Zeugiten lag, in der Volksversammlung gesessen haben dürften, zielte die Reform Solons doch - neben der politischen Besserstellung der Einflußreichsten - auf die Hopliten, die nun, anders als die ärmeren Athener, einen

normativ abgesicherten Anteil am politischen Leben erhalten hatten. Dies, die Stärkung der vorhandenen alten und neuen Kräfte, stand im Zentrum des politischen Gedankens. Einen Wandel der sozialen und ókonomischen Bedingungen hatte Solon gar nicht im Visier. Für die Demokratie sollte das von nicht zu unterschätzender Bedeutung werden. - Die Lösung der Krise durch Solon hat noch in einem weiteren Punkt auf die künftige Entwicklung gewirkt, und dieser ist vielleicht noch bedeutsamer. Die gesamte Gesetzgebung Solons ist getragen von der Vorstellung der politischen Verantwortung des einzelnen für die Stadt. In der Vorstellung Solons war eine dauerhafte Versóhnung der durch innere Kämpfe zerrissenen Stadt nur durch die Übernahme einer Verantwortlichkeit zu erreichen. Er hat das selbst unmißverständlich ausgesprochen und dies vor allem auch in zahlreichen Gesetzen über konkrete Lebensverhältnisse verankert. Wohl nichts atmet mehr politische Atmosphäre als dieser Gedanke. Und dadurch, daß er schließlich all dies in Gesetzen niederlegte, wies er auch den Nachfolgenden den Weg, wie das politische Leben, wenn es in Unordnung geraten war, wieder in die angemessene Form gebracht werden konnte: Das Gesetz, einst die unwandelbare, ungeschriebene und unveränderliche Richtschnur des Verhaltens, aber durch Solon Instrument zur Bestimmung und Wandlung der Ordnung, lag nun als Mittel politischer Entscheidung bereit. Die Ordnung war verfügbar geworden.

Solons Werk enthält keinen einzigen jener Grundsätze, aus denen die spätere Demokratie lebte, vor allem nicht den Gedanken der Gleichheit des politischen Rechts, nicht die Ausschaltung des Gruppeninteresses, nicht die Auflösung der starken Regierung zugunsten der Entscheidung aller und was alles noch mehr aufzuzählen wäre. Mag man auch in diesem oder jenem Satz seines Werkes den Anfang von etwas Neuem sehen, dessen Vollendung wir dann am Ende des 5. Jahrhunderts vor uns haben (man kann da an die Popularklage denken), so hat doch all dies nıchts mit Demokratie zu tun. Aber der Geist, in dem Solon sein

Werk gestaltete - und dies weist in der Tat in die Zukunft und hat schon damals Athen auch von den Nachbarstädten geschieden -, aktivierte das innenpolitische Klima, erzeugte die Vorstellung von der Teilhabe am Ganzen und legte den

Grund dafür, daß jeder sich für das politische Geschäft zuständig fühlte.

Großes Gewicht hat für den besonderen Weg Athens auch die Tyrannis der Peisistratiden gehabt. Dabei geht es nicht um die Tyrannis als solche, die wir vielmehr aus vielen Städten als eine Konsequenz der Krise der Adelswelt ken-

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

nen, sondern um die lange Dauer der Tyrannis und deren besondere Ausdrucksform. Die Dauer der Tyrannis verringerte den politischen Einfluß des Adels, ja sie machte die Rückkehr zu den Verhältnissen der Adelszeit unmôglich. Darüber hinaus aber führten die Peisistratiden durch ihren herrschaftlichen Geltungswillen Attika zu einer politischen, auf die Stadt Athen ausgerichteten Einheit, welche die auf viele landschaftliche Zentren sich stützende und aus

ihnen lebende Adelswelt zusätzlich schwächte. Das politische Leben und die Götter Attikas, die mit dem öffentlichen Leben untrennbar verbunden waren,

gehórten von nun an in die Stadt Athen. Es entspricht. daher einer inneren Logik, wenn ein moderner Historiker die Phylenreform des Kleisthenes, die den

Einfluß der jahrhundertealten Machtzentren der Adlıgen in Attika auf die Geschicke der Stadt endgültig zerstórte, als ein Werk der Peisistratiden angesehen hat. Diese Theorie ist allerdings mit Sicherheit nicht richtig; denn abgesehen von vielen anderen Einwänden, waren die Peisistratiden viel zu sehr der Adels-

welt verbunden, als daß sie deren Grundlagen hätten völlig aufheben wollen. Aber der Gedanke steht ihnen, die im Kampf gegen den Adel emporgekommen waren, doch nicht ganz fern, und vor allem ist die Schwáchung des Adels die, wenn nicht beabsichtigte, so doch nicht zu übersehende Konsequenz ihrer Herrschaft.

Es wurde für die weitere Entwicklung Athens entscheidend, daß der Adel nach der Vertreibung der Tyrannen politisch weder entmachtet noch gar mora-

lisch abgewertet war. Solon hatte ihm sogar noch den zentralen Einfluß im politischen Leben gesichert, und die Tyrannis war von Adligen bekämpft, ja sogar vor allem durch sie beseitigt worden; jedenfalls mochten sich viele Adlige als die eigentlichen Retter der Stadt fühlen. Da man andererseits an die Zeit vor der Tyrannis nicht wieder anschließen konnte - so viele Adlige das auch gewollt und mit [sagoras sogar versucht hatten -, ergab sich für die nachpeisistraudische Zeit die besondere Konstellation, daß der Adlige der Sprecher eines größer gewordenen Kreises politisch Mündiger wurde. Die Schwerbewaffneten, in der Masse Bauern, waren nun zu ihrem politischen Recht gekommen; sie hatten es

sich gegen Isagoras und Kleomenes, vor allem auch in den Kämpfen gegen die unmittelbar nach 510 in Attika einfallenden Nachbarn und schließlich, 20 Jahre später, auch bei Marathon gegen die Perser erstritten. Aber man war noch weit davon entfernt, daß jeder Beliebige als Sprecher aller hätte auftreten können,

und es standen ja auch Adlige für dieses Geschäft bereit, die nicht nur ohne jeden Makel ihres politischen Prestiges waren, sondern sogar ruhmvoll für die Stadt gekämpft hatten. So führten Adlige die Stadt, zunächst Kleisthenes, der in seiner Phylenreform der letzten institutionellen Barriere der alten Adelsmacht, námlich der personengebundenen Organisation der Athener, ihren politischen Einfluß nahm und damit die Konsequenz aus der Tyrannenzeit zog. Mit dem adligen Führungsanspruch erneuerten sich aber zunächst die alten

Rivalitäten; die Adelskämpfe lebten unter veränderten politischen Umständen wieder auf. Es wurde nun für die Zukunft Athens bestimmend, daß sich Wider-

stand dagegen erhob. Manches hat dazu beigetragen. Viele mochten sich an die schrecklichen Zeiten der Anarchie vor der Tyrannis erinnern; aber auch in der eigenen Zeit, unmittelbar nach der Vertreibung der Peisistratiden, hatten die

peter

Athens zut Demokratie

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Athener die Folgen solchen Zwistes erlebt. Dazu kam die geschwächte politische Position des Adels. Es stand nicht mehr soviel hinter ihm; der einzelne Adlige mochte sich auf seine Familie, vielleicht auch auf befreundete Personen stützen, aber er besaß keine große, ihm verpflichtete Gefolgschaft unter den Athenern, insbesondere den Bauern, mehr, die institutionell oder moralisch an

ihn gebunden war. Er fand sich nun im Gegenteil einer zu Selbstbewußtsein gekommenen Masse militärisch erprobter Hopliten gegenüber. Schließlich kam hinzu, daß den Athenern seit Solon auch das Instrument in die Hand gegeben war, sich gegen ihnen unerwünschte politische Verhältnisse zu wehren: Es lag nunmehr in dem Gesetz die Möglichkeit bereit, den erwünschten Wandel auch institutionell durchzusetzen. So wurde in den Athenern der Wunsch übermächtig, gerade die herausragendsten Gestalten unter den sich bekämpfenden Politikern und mit ihnen die politische Macht als solche auszuschalten, und diesen

Wunsch haben gerade die adligen Politiker selbst formuliert und durchgesetzt, um sich ihrer Gegner entledigen zu können. Sie wurden damit die Totengräber auch ihres eigenen Einflusses: Die Rivalität denkt nicht an die Konsequenzen für das persönliche Schicksal, wenn sie den Gegner ausschalten kann. Kleisthenes selbst blieb auf Grund seines Anteils an den Ereignissen um die Vertreibung der Tyrannen und der Stabilisierung der Stadt noch unangefochten. Aber noch er selbst oder auch Spätere legten dann den Grund für die Entmachtung der politischen Führung. Der Ostrakismos und die Losung des Archontats (zunächst noch aus Vorgewählten) lösten die in einer Person konzentrierte politische Macht auf. Beide Maßnahmen hatten, so verschieden sıe sind, doch das

gleiche Ziel: Der Ostrakismos räumte die jeweils bestimmte mächtige Persónlichkeit des politischen Lebens für die nächsten zehn Jahre aus dem Weg, die Losung des Archontats verhinderte im vorhinein, daß sich eine politisch einflußreiche und ehrgeizige Persönlichkeit darum bemühte, ihre Macht mit Hilfe

des höchsten Amtes zu konsolidieren. Im Effekt wurde damit die Regierung der Stadt schwächer. Denn es war sowohl das Amt, von dem aus am ehesten Politik

gemacht werden konnte und das aus eben diesem Grunde auch so sehr umkämpft gewesen war, dem Belieben des Loses anheimgestellt und damit entwertet worden, als auch jede herausragende Persönlichkeit latent dem Verdikt der

Verbannung unterstellt und dadurch „verdächtigt“. Wer mächtig war, erschien damit als ein gewiß nicht moralisch minderwertiger, aber doch „gefährlicher“ Mann; er stand nicht mehr mit dem in Übereinstimmung, was der Durch-

schnittsathener für politisch „richtig“ hielt. Damit war die Basis gelegt für einen Grundgedanken der Demokratie, nämlich die Auflösung der zentralen Regierungsgewalt zugunsten einer Regierung aller. An der Vervollständigung dieses Grundgedankens haben die Athener weitergearbeitet. Als Ephialtes 462/61 dem Areopag die Kontrolle über die Beamten nahm und auf den Rat, die Geschworenengerichte und die Volksversammlung, also auf die Menge, übertrug, war der letzte Schritt in diese Richtung getan und nun jeder Beamte während des Amtes und nach dessen Niederlegung und also ununterbrochen der Aufsicht aller unterstellt. Kein Staat nach Athen ist so mit seiner Regierung umgegangen.

Vielleicht schon in dem Konflikt mit Ägina, deutlich erkennbar seit dem

Zeitpunkt, als sich die persische Invasion unter Führung des Großkönigs ab-

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

zeichnete, brach die äußere Politik in die Entwicklung der inneren ein. Durch den Entschluß, zur Abwehr der äußeren Gefahr eine große Flotte zu bauen,

wurde eine neue Bevölkerungsgruppe, die wenig oder nichts Besitzenden, in den Militärdienst und damit zumindest latent auch in die politische Atmosphäre hineingezogen. Der Einfluß der Flottenpolitik auf die Ausbildung der politischen Ordnung zu einer Demokratie ist dem späteren Betrachter und war schon dem Athener zur Zeit des Perikles überdeutlich. Für die Generation der Teilnehmer am großen Perserkrieg sah es indessen nicht so aus. Die Konsequenzen der Flottenpolitik waren vor allem durch die ungeheure Gefahr, die von den Invasoren drohte, verdeckt; man wird die innenpolitische Komponente der militärpo-

litischen Maßnahmen gar nicht gesehen haben, auch nicht der Initiator dieser Politik, Themistokles. Zudem trennte den Schwerbewaffneten, der in der Phalanx stand und den der Ruhm Marathons umstrahlte, eine Welt von den Habenichtsen auf den Ruderbänken, die, anstatt ıhr Leben mit Lanze und Schwert im

Kampf Mann gegen Mann einzusetzen, sich mit ihren Armen auf den Ruderbänken mühten. Der Hoplit mochte sich gegenüber einem Ruderer wie ein Arıstokrat vorgekommen sein. Aber nicht nur der Bau einer großen Flotte und auch nicht allein der legendäre Sieg bei Salamis über den Großkönig selbst, der dem

Schlachtentheater vom Strand aus zugeschaut hatte und nach der Niederlage nach Persien zurückgekehrt, in den Augen der Athener „geflohen“ war, politisierte die Rudermannschaften. Es war erst die außergewöhnlich aktive Seebundspolitik nach den großen Perserschlachten, die - als Konsequenz des Perserkrieges und der in ihm gewonnenen Seegeltung Athens - Jahr für Jahr athenische Flottengeschwader und mit ihnen bei jeder einzelnen Fahrt tausende, manchmal vielleicht zehntausend Athener in die weite Welt führte und sie, die

zu 90% Theten und nur zu einem geringen Teil Angehörige der Zensusklassen waren, mit der großen Politik verband. Außenpolitik war Flottenpolitik geworden, und der innere Raum wurde in zunehmendem Maße von denjenigen be-

herrscht, die diese Politik im wörtlichen Sinne mit ihren Armen trugen. Es war am Ende nur ein Zündfunke vonnöten, der den Wandel eher deutlich machte, als

daß er ıhn vollzog. Es darf bei einer Untersuchung der Ursachen für die Umgestaltung der athenischen Verfassung in eine Demokratie nicht vergessen werden, daß auch die

räumliche Größe Attikas und die Menge seiner Bewohner diesen Prozeß mitbestimmt haben. Abgesehen von Sparta, das eine politische Ordnung sui generis hatte und zudem aus Gründen der Selbsterhaltung auf eine starre Bewahrung der einmal gefundenen Ordnung gerichtet war, gibt es keine griechische Stadt, die auch nur annähernd diesen Umfang hatte. Die relativ große Bevölkerungszahl gab der Stadt zunächst einmal die „Masse“, ohne die sich die Vorstellung

einer politischen Ordnung, in der die Menge herrscht, gar nicht ausbilden kann. Denn die Herrschaft der Menge, also Demo-kratie im Wortsinne, ist nur dann

gegeben, wenn die Menge auch tatsächlich einen quantitativ relevanten politischen Faktor bildet, der in sich selber ruht, und das heißt: Sie muß ohne

Bindung an bestimmte Personengruppen existieren. So wie die Arıstokratie oder

der König in sich selbst ruhende politische Größen sind, die als solche die politische Ordnung tragen, muß dies auch die Menge sein, wenn es denn eine

Deckung

Athens zur Demokratie

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Hemschaft der Menge sein soll. Obwohl die Athener nun ihre politischen Bindungen an den Adel zıemlich radikal gelöst hatten, waren damit doch nicht die vielen persönlichen Beziehungen und Abhängigkeiten der mannigfachsten An unter den Bürgern (und darunter auch gegenüber Vornehmen und Reichen) aufgehoben. Aber während in jeder kleineren und auch mittelgroßen griechischen Stadt gerade wegen ihrer Kleinheit und Überschaubarkeit solche persönli-

chen Bande immer präsent waren und darum in jeder Entscheidung auf gesamtstädtischer Ebene nıcht nur eine, sondern die tragende Rolle spielten, erlaubte

die Größe Athens den Athenern, Entscheidungen ohne Rücksicht auf personelle Bindungen zu treffen. Jeder einzelne mochte seine besonderen persönlichen Verpflichtungen haben; aber auf der Ebene gesamtstädtischer Beschlüsse kamen sie nicht oder doch nicht in derselben Stärke wie in einer kleineren Stadt zum Tragen. Es war also möglich, daß die Menge unpersönlich, „rational“ oder was man dafür hielt, entschied: Der Demos konnte in sıch selbst ruhen.

Die athenische Demokratie ist nicht das Produkt eines auf Herrschaft der Masse gerichteten Willens; es fehlt jede auf Demokratie gerichtete politische Theorie. Bis zu dem Zeitpunkt, von dem an allen Athenern ihre politische Ordnung als eine Demokratie bewußt war, kämpfte niemand um die Demokratie, und auch dieser Zeitpunkt selbst, der sogenannte Sturz des Areopags durch Ephialtes und

seine Helfer, bedeutete keinen Durchbruch zur Demokratie: Ephialtes scheint es gar nicht um innenpolitische, sondern um außenpolitische Ziele gegangen zu sein. Manchen rückschauenden Betrachter mag es verwundern, daß diejenige Staatsform, die wir heute wie schon die Athener als die allein wünschenswerte

ansehen, als eine neue politische Ordnung nicht eher bewußt wurde, als bis sie auf welche Weise auch immer - entstanden war und praktiziert wurde. Niemand

wird zwar heute deswegen der teleologischen Sehweise des Aristoteles folgen wollen, der in seiner Schrift vom Staat der Athener die Demokratie als einen mit

Solon einsetzenden, auf Demokratie gerichteten EntwicklungsprozeR begriff; aber man wird mit den Athenern Nachsicht haben, wenn sie schon sehr bald auf

einen und schließlich sogar mehrere Staatsmänner als die Erfinder des demokratischen Gedankens hinwiesen. In die Verwunderung wird sich auch Zweifel

mischen, ob diese großartige, ja vielleicht größte politische Idee ein Spiel zufälliger Kräfte gewesen sein kann, und es mag dem, der der hier vorgelegten Darstellung folgt, angesichts der Macht der Tyche bei der Bildung des demokratischen Gedankens auch ein wenig Resignation überkommen. Es steht dem Historiker schlecht an, hier beruhigen oder gar korrigieren zu wollen. Aber es ist, neben dem großen Zufall, den man etwa in der Art und Form der atheni-

schen Tyrannis und in der Verknüpfung des Perserkrieges mit den inneren Auseinandersetzungen sehen kann, doch auch, wie die obigen Ausführungen darlegten, menschlicher Gestaltungswille am Werk gewesen, kein Wille zwar zur Demokratisierung, aber doch ein Wille auf Beteiligung der Menschen am litischen Geschehen, der intensiver gewesen sein dürfte als in jeder anderen

griechischen Stadt. Er liegt einmal in der Person Solons. Solon war zwar Aristokrat und hatte kein Engagement für die Masse; die zukunftstráchtige Kraft seiner Tat liegt aber darin, daß er in einer heillos verworrenen inneren Situation,

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

in der sich die beiden großen Gruppen, der Adel und gegenüberstanden, das Werk der Versöhnung nicht in gesetzgeberischen oder institutionellen Zwang, sondern Menschen zu einer gemeinsamen Verantwortung gesehen

die Bauern, voll Haß erster Linie in einem ın der Erziehung der hat. Die Politisierung

der Masse - damals noch die grundbesitzenden Bauern, erst später stellte sich der Unbemittelte neben sie - ist die geistige Tat Solons, und ohne sie hätte es in Athen keine Demokratie gegeben. Sie ist eine Kraft, welche die weitere Verfas-

sungsentwicklung der Stadt begleitet, zeitweise auch zurückgedrängt wird, aber im Spiel des Zufalls, der zu dem historischen Ereignis führt, latent gegenwärtig bleibt. Noch ein Zweites ist in diesem Zusammenhang zu nennen. Es wurde bemerkt, daß die Größe der Landschaft Attika eine Bedingung der Demokratie ist. Große Landschaften, die wir als eine politische Einheit bezeichnen dürfen,

hat es in dieser Zeit in West- und Nordgriechenland indessen mehrere gegeben (ich sehe hier von Sparta als einer politischen Größe eigener Art ab). Attika aber unterscheidet sich von ıhnen dadurch, daß diese Landschaft eine Stadt blieb

oder richtiger: sie dies durch die Peisistratiden und Kleisthenes wurde. Dabei kommt dem Werk des Kleisthenes viel mehr Gewicht zu. Denn die Peisistrati-

den schwächten zwar die lokalen Zentren des Adels und richteten die Athener auf Athen als den politischen Mittelpunkt aus. Aber Kleisthenes bewirkte durch seine Phylenreform, daß diese politische Einheit dann auch eine Stadt, und das heißt: eine die Menschen unmittelbar und auf einen einzelnen Punkt zusam-

menfassende politische Einheit war. Denn die besondere Form der politischen Organisation der Bürgerschaft, die er schuf, stellte sicher, daß jede noch so entfernte Ecke der Landschaft zu jeder Zeit in dem politischen Aufbau der Stadt präsent war, und mochte auch der ferner wohnende Athener nicht an allen Geschäften teilnehmen können, war doch durch die besondere politische Organisation Attikas gesichert, daß jeder einzelne zu jeder Zeit über alles informiert war und an allem inneren Anteil hatte, was auf der Agora und der Pnyx, also ım Rat, in der Volksversammlung und bei den Gerichten, vor sich ging. Kleisthenes hat es verstanden, die große Landschaft in einer Polis zu konzentrieren: Attika war Athen, und wenn Herodot sagt, daß Kleisthenes durch seine Phylenreform

die Demokratie schuf, liegt in diesem Wort eine innere Wahrheit: Ohne die Einheit von Landschaft und Stadt wäre eben jene politische Dynamik der Masse unmôglich gewesen, die zur Demokratie führte und dann mit ihr identisch wurde.

3. Die Entstehung des Begriffs „Demokratie“ und der Beginn des verfassungspolitischen Denkens Dem modernen Menschen ist das verfassungspolitische Denken so vertraut, daß

er nicht nur jede politische Ordnung nach den ihm seit Jahrhunderten bereitliegenden Verfassungsbegriffen benennt, sondern er sich auch kaum noch vorstellen kann, daf zu irgendeiner Zeit jemals anders gedacht worden ist: Nicht

wenige Historiker verwenden daher auch den Begriff der Demokratie schon für die Zeit, die der endgültigen Ausformung dieser Verfassung vorausgeht, also für

| Die Entwicklung Athens zur Demokratie

das 6. und das frühe 5. völlig unterschiedliche daran gewöhnt haben, renzierenden Zusätzen

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Jahrhundert. Da das Wort heute viele und darunter auch demokratische Staatsformen abdeckt und wir uns darum zur Bezeichnung der jeweils gemeinten Form mit diffezu arbeiten (repräsentative Demokratie, soziale Demo-

kratie, Volksdemokratie usw.), neigen manche auch dazu, in der Entwicklung

zur Demokratie in Athen mehrere Stufen anzunehmen und diese durch entsprechende Adjektive anzuzeigen; man spricht dann von „gemäßigter“ und ,,radika-

ler“ Demokratie und interpretiert den Übergang von der einen zu der anderen Form als Demokratisierungsprozeß. Das haben die Athener, wie wir sahen (o. S. 17f.), im nachhinein ebenso gemacht: Bereits gegen Ende des 5. Jahrhunderts, als die Demokratie ihre ersten schweren Belastungsproben hinter sich hatte, und vollends dann bei Aristoteles finden wir die Vorstellung von der

Entwicklung der Demokratie von schwachen Anfängen bis zu ihrem letzten Höhepunkt, und wie selbstverständlich wird mit diesem Gedanken den Athenern, vornehmlich ihren großen Staatsmännern, der Wille zur Ausgestaltung der politischen Ordnung in Richtung auf Demokratie und damit die Schaffung dieser Staatsform, die es bis dahin ja noch nicht gab, als eine schöpferische Tat unterstellt. Demgegenüber haben wir festzuhalten, daß das Bewußtsein der Menschen davon, daß sie ınnerhalb ihrer Stadt oder ıhres Stammes in besonderer und unterschiedlicher Art „verfaßt“ sind, daß diese verschiedenen Verfassungen

abstrakt benannt werden können und sogar die jeweils eigene Verfassung durch eine andere ausgetauscht werden kann, bei keinem Volk der älteren Zeit einfach vorausgesetzt werden darf, ja daß diese Art des Denkens bei den Griechen

vielmehr gerade erst die Folge der Entstehung der Demokratie ist. Eine Reflexion auf die allgemeinen politischen Verhältnisse hat selbstverständlich auch in früher Zeit nicht ganz gefehlt. Es war etwa jeweils bewußt, daß es Abhängigkeitsverhältnisse der mannigfachsten Art gab oder die politische Macht in den Händen eines einzelnen oder einer Gruppe lag. Aber man war noch nicht in der Lage, die Träger der politischen Macht ın einen abstrakten Rahmen einzuordnen. Wurden die politischen Verhältnisse angesprochen, nannte man den bestimmten König, z. B. Theseus, oder die jeweils üblichen Bezeichnungen für die Gruppe, z. B. Eupatriden für den Adel, sprach nicht von Monarchie oder Arı-

stokratie. Die Begriffe Aristokratie und Oligarchie sind spät; sie gehören erst der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts an. Eine tiefergehende Reflexion auf die den Lebensverhältnissen zugrunde liegende politische Ordnung konnte sich nur in einer Zeit großer innerer Spannungen einstellen, in der die alten Bindungen fraglich geworden waren und die Menschen nach neuen politischen Lösungen suchten. Das war in Griechenland im 7. Jahrhundert der Fall, in dem die noch im 8. Jahrhundert festgefügte Adelswelt in eine schwere wirtschaftliche und politische Krise geriet. Hier interessie-

ren nicht die Ursachen dieses Umbruchs, sondern dessen Konsequenzen für die Entwicklung des politischen Denkens. Es werden nun zunächst die einander

gegenüberstehenden Gruppen als solche erfaßt und benannt. Eine Vielzahl von Bezeichnungen, die in ihrer moralischen Ausprägung ein direkter Reflex der

inneren Unruhe sind, entsteht und zeugt von der Erhitzung des innenpoliti-

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

schen Klimas, und es wird jetzt auch die politische Ordnung selbst angesprochen. Dabei werden naturgemäß noch nicht die Machtverhältnisse im späteren, verfassungspolitischen Sinne abstrahiert, sondern wird zunächst nur die Ordnung als solche erkannt: Die Unruhe und der innere Hader rufen jetzt die Vorstellung hervor, daß die allgemeinen politischen Verhältnisse sich ın einer „schlechten Ordnung“

oder „Unordnung“ (dysnomia, anomia) befinden und

man wieder in eine „gute Ordnung“ (eunomia) zurückstreben muß. In diesen

Bezeichnungen wird die Ordnung als eine Summe von noch nicht schriftlich fixierten, sondern als Gewohnheit tradierten Normen (nómos, Pl. nómoi) ge-

dacht. In Athen ist diese Stufe des Denkens für uns in der Person Solons deutlich faßbar, der in den uns überlieferten Fragmenten seiner Dichtungen die genannte Begrifflichkeit verwendet. Es war für die Entwicklung eines verfassungspolitischen Denkens nun nicht unwesentlich, daß sich in vielen Städten dieser krisengeschüttelten Zeit ein einzelner Adliger, im Kampf mit anderen Adligen und gestützt auf eine der streitenden Gruppen oder auch auf eine Söldnertruppe, zum Stadtherrn aufwarf

und die dem Streit zugrunde liegenden Probleme aus eigener Machtvollkommenheit und mit Blick auf den eigenen Vorteil zu lösen suchte. Der Wechsel von der tradierten Ordnung zu einer Einmannherrschaft, die man Tyrannis nannte, und - nach Vertreibung des Tyrannen durch seine Gegner - die Wiederherstellung der alten Ordnung waren allen Griechen seit dem 7. Jahrhundert vertraute Vorgänge, und selbstverstándlich begriff man den neuen politischen Faktor, der als eine Art von politischer Alternative zu der vielerorts im Chaos versinkenden alten Ordnung betrachtet und nicht selten auch begrüßt worden ist, auch sehr schnell abstrakt als Tyrannis. Es war übrigens móglich, diese Alleinherrschaft auch mit anderen Begriffen zu bezeichnen, so u.a. mit monarchia, wie denn der Alleinherrscher damals in sehr verschiedenen Formen auftreten und sogar ein Mann, der von allen Bürgern zum Schiedsrichter und Versóhner gewáhlt wor-

den war, als Alleinherrscher angesehen werden konnte. Der Begriff Tyrannis, der durchaus nicht überall einen schlechten Sinn haben mochte, setzte sich aber

durch. In Athen kónnen wir erst mit der Vertreibung der Peisistratiden ein deutlich erweitertes politisches Bewußtsein erkennen. Da wir über diese Zeit sehr schlecht orientiert sind, vermógen wir nur einige Umrisse nachzuzeichnen. Soviel ist jedoch sicher, daß der politische Neubeginn nach dem Sturz der Tyrannis mit dem Begriff der Isonomie verbunden war. Das Wort ist eine künstliche Zusammensetzung aus íson (gleich) und nómos (bzw. dem Verb némein) und drückt folglich Gleichheit des Nomos oder gleichen Anteil am Nomos aus. Es ist dabei weniger an die Gleichheit vor dem Gesetz zu denken, die jedenfalls theoretisch nicht bestritten war, sondern, da es damals um Macht-

verteilungskämpfe ging, an die politische Gleichberechtigung. Isonomie ist als ein politisches Schlagwort ganz offensichtlich von denjenigen geprágt worden, die seit Solon und besonders in den Jahren nach dem Sturz der Tyrannis zu Selbstbewußtsein und Kraft gekommen waren, nämlich von den als Schwerbe-

waffnete dienenden Bürgern, die in der Phalanx die Hauptlast des Kampfes trugen (Phalangiten, Hopliten), und es richtete sich gegen den Adel, der nach der langen politischen Enthaltsamkeit der Tyrannenzeit wieder zu Ansehen zu

I. Die Entwicklung Athens zur Demokratie

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kommen suchte. Ihm gegenüber setzten sich die neuen politischen Kräfte nun durch: Man erzwang sich das längst fällige politische Recht, das dem des Adlıgen gegenüber ebenbürtig (gleich) war. Die Phylenreform des Kleisthenes hat die in dem Begriff Isonomie enthaltene Vorstellung dann in praktische Politik umgesetzt. Das Wort begegnet uns zuerst um 500; doch gehört der größere Teil

der Belege der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts an. Zugleich oder doch nicht viel später mit isonomia dürften die erst bei Herodot und Euripides überlieferten anderen Begriffe, die von dem Adjektiv son gebildet sind, aufgekommen sein, nämlıch iségoria (gleiches Recht auf Rede), isokratía („Gleichheit der Macht“)

und isópsépbos („mit gleichem Stimmrecht“). In dem Wort Isonomie haben die Athener eine Grundforderung der neuen

politischen Kráfte zur Bezeichnung der politischen Ordnung selbst gemacht und sich damit in dem Begriff auch von ihrer alten Ordnung abgesetzt. Diese Distanzierung bedeutete aber keinen Umbruch des politischen Bewußtseins. Denn da sich der politische Gegner, die Adligen, mit den gegebenen Verháltnissen abfand, ferner auch in vielen anderen griechischen Stádten sich die Hopliten als Bürgerschaft der Stadt etablierten und damit die innenpolitische Spannung teils auch als Folge des von den Persern kommenden Druckes - in Athen und anderswo

nachließ, verlor das Wort

Isonomie

viel von seiner Stoßkraft. Es

bezeichnete das erreichte Ziel; der damit verbundene Wandel der Ordnung als einer neuen „Verfaßtheit“ dürfte jedenfalls nicht sehr stark gewesen sein. Das

wird auch darin deutlich, daf$ sich diese isonome Gesellschaft nicht von der

tradierten Ordnung, also der Adelsherrschaft, sondern von der Tyrannis als der unerwünschten oder einfach als „Unordnung“ bezeichneten absetzte. Das ist auch bis zum Ende des 5. Jahrhunderts so geblieben: Die Hoplitenpolis wie die spátere Demokratie sahen als ihren klassischen Gegner bis dahin die Tyrannis, nicht etwa die Aristokratie oder Oligarchie an. Die entscheidenden Jahre zur Ausbildung dessen, was dann „Demokratie“

heißen sollte, liegen in dem Jahrzehnt vor und nach den großen Schlachten gegen die Perser. Das Wort Demokratie begegnet uns aber erst in der zweiten Halfte des 5. Jahrhunderts, nicht früher als 440/430. Auch wenn man unsere

gerade für die Mitte des 5. Jahrhunderts sehr lückenhafte Überlieferung bedenkt

und einen Spielraum von einigen Jahrzehnten läßt, ist doch das späte Auftreten des Wortes auffallend, indessen gewif nicht zufällig. Denn da der Wille zu einer grundlegenden Neuorientierung der politischen Gesamtordnung fehlte, konnte die Entstehung eines Bewußtseins davon, daß man sowohl gegenüber der eigenen Vergangenheit als auch gegenüber den anderen griechischen Stádten in

einer besonderen politischen Ordnung lebte, eben dieser Ordnung nur folgen, nicht ihr vorausgehen. Es kam in Athen hinzu, daß die Außenpolitik, nämlich

die Kämpfe gegen die Perser und die sich an sie anschließende Seebundspolitik, die Athener von jeder Reflexion auf den inneren Wandel zunächst ferngehalten

oder sie doch in Grenzen gehalten hat. Die Neuheit der eigenen politischen Ordnung gegenüber der tradierten, ja ihre völlige Andersartigkeit sogar den anderen Griechen, insbesondere den Athen feindlichen aufgegangen als den Athenern selbst. Aber erst als überall und Athen selbst der politische Umbruch klar bewußt geworden war,

ist vielleicht Stádten eher vor allem in konnte sich

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

allmählich ein verfassungspolitisches Denken einstellen. Allerdings war der Begriff der „Verfassung“ zunächst noch an die in der politischen Realität als solche erkannten Verfassungen, und das heißt an die neue politische Form, die

es allein in Athen gab, und an die tradierten Ordnungen, für welche die Gegner Athens zunächst noch den alten Begriff der Wohlordnung (eunomta) benutzten,

gebunden. Andere verfassungspolitische Vorstellungen gab es noch nicht; denn die Tyrannıs war ja die „Unordnung“.

Seit die Athener ihre politische Ordnung als eine ganz neuartige erkannt hatten, begannen sie diese als „Demokratie“ zu bezeichnen, also als eine Ordnung, in welcher der ganze Demos (anstatt nur die Adligen und Reichen) dıe

politische Macht ın Händen hielt. Das Wort setzte sıch seit den 30er Jahren des 5. Jahrhunderts schnell durch, obwohl noch weitere Worte, die ganz offensichtlich schon Jahrzehnte vorher für die Herrschaft des Demos benutzt worden waren, weiter in Gebrauch blieben, wie démos oder auch pléthos (d. h. Menge).

Durch die Großmachtpolitik der Athener im Seebund und gegenüber den Spartanern wurde die Idee der neuen politischen Ordnung nicht nur überall bekannt, sondern weckte auch in vielen Städten den Wunsch, es den Athenern nachzutun. Es war natürlich, daß die nach Demokratie strebenden Kräfte vieler-

orts auf die Athener als die gegebenen Helfer ıhrer Wünsche und Hoffnungen blickten, und diese sahen sofort ıhre Chance, aus dem sich nun verbreitenden

demokratischen Gedanken politisches Kapital zu ziehen: Sie stützten vor allem in ihrem Seebundsbereich überall dort die demokratischen Kräfte, wo die Bünd-

nistreue auf dem Spiele stand, und sorgten gegebenenfalls für einen Umsturz der tradierten Ordnung zugunsten einer demokratischen Verfassung. Die Demo-

kratie wurde auf diese Weise zu einem Exportartikel; sie war für die Athener ein Instrument zur Befestigung ihrer Herrschaft im Seebund geworden. Die gewaltsame Übertragung der demokratischen Verfassung durch Athen hat das verfassungspolitische Denken außergewöhnlich gefördert, und dies nicht nur bei den Athenern, die sich ihrer Besonderheit und Einzigartigkeit immer stärker bewußt wurden, sondern auch bei allen anderen Griechen. Sıe hat

darüber hinaus dieses Denken auch weiter differenziert. Denn mit der oft gewaltsamen Übernahme der Demokratie stellte sich bei den Gegnern Athens der

Wunsch ein, sie wieder zu beseitigen. Und es waren nicht nur die Adlıgen und Reichen, also alle diejenigen, die in den mit Demokratien versehenen Städten um ihren Einfluß und womöglich auch um ihr Vermögen gekommen waren, die

so dachten. Auch Sparta, dem Hauptgegner Athens, der seit den späten 60er

Jahren des 5. Jahrhunderts um seine politische Stellung unter den Griechen fürchten mußte, waren die überall sich bildenden Demokratien ein Dorn im

Auge, da sie die an sich schon unerträgliche Macht der Athener noch zusätzlich stärkten. Die Spartaner ließen sich allerdings trotz der für sie ungünstiger

gewordenen außenpolitischen Gesamtsituation nur sehr allmählich in den offenen Kampf gegen Athen hineinziehen, weil sie sich auf Grund der inneren Struktur ihrer Stadt außerhalb der Peloponnes militärisch nicht ohne Not enga-

gierten. Das treibende Element waren hier aber gerade jene Städte - meist Mitglieder des Athenischen Seebundes -, die sich von Athen zu lösen wünsch-

ten, aber selbst keine Kraft dazu hatten. Sparta, das unter allen Griechen einzige

L De Entwicklung Athens zur Demokratie

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Gegengewicht gegen Athen - wer hätte sich sonst mit Athen messen wollen! -,

wurde durch diese Konstellation auch zum verfassungspolitischen Gegenpol der

Athener. Denn hatte eine Stadt, die von Athen abfiel, eine demokratische Ver-

lassung besessen, wurde diese als Konsequenz des Abfalls sofort beseitigt und

die alte Ordnung, die man vor der Demokratie gehabt hatte, wiederhergestellt. Die alte Ordnung gewann aber bei diesem Vorgang insofern an Gewicht und Konkretheit, als sie nun die der demokratischen Idee gegenübergestellte Verfassung wurde. Man hätte sie nach älterer Terminologie Eunomie nennen können. Aber unter dem Zwang, der demokratischen Verfassung eine andere entgegenzustellen, fanden die Gegner Athens für diese anti- oder nichtdemo-

kratische Verfassung den Begriff der „Oligarchie“. Das Wort besagte im Grunde nur, daß in dieser Verfassung nicht der ganze Demos, sondern lediglich ein Teil (meist war es eine durch feste Einkommensschranken nach unten abgegrenzte Schicht, wie es die Hopliten etwa auch gewesen waren) die politische Macht

innehatte. Sparta war von seiner politischen Ordnung her an sich ganz und gar nicht geeignet, die Idee der Oligarchie zu vertreten; die Spartiaten bezeichneten

sich im Gegenteil sogar als „die Gleichen“, und nur der große zahlenmäßige Unterschied zwischen ihnen und den übrigen Bewohnern Lakoniens und Messeniens sowie ihr Knegerethos konnten sie mit der Vorstellung von Oligarchie oder Aristokratie verbinden. Aber da Auftenpolitik und innere Verfassung nunmehr unlóslich ineinander verschránkt waren, trat das durch die Benutzung der

Demokratie als Herrschaftsinstrument in Zugzwang geratene Sparta nun auch im verfassungspolitischen Sinne als Kontrahent Athen gegenüber: Der Verfassungsdualismus wurde auf diese Weise zu einem konstitutiven Element griechi-

scher Außenpolitik und zu einem selbstverständlichen Teil des allgemeinen politischen Denkens. Gleichzeitig damit verfielen aber die hinter den beiden Verfassungsformen stehenden politischen Ideen. Denn der Wandel von der einen zur anderen Verfassung hing nicht mehr von der verfassungspolitischen

Dynamik der einzelnen Stadt, sondern allein von dem machtpolitischen Nutzen ab, den die Großmächte sich davon versprachen. Umgekehrt mußten die zahlreichen Städte, die zu schwach waren, um sich allein gegen eine Großmacht verteidigen zu können, ihre Außenpolitik nach der Großmacht ausrichten, welche die eigene Verfassung vertrat, oder aber die herrschende Verfassung um des außenpolitischen Nutzens willen mit der anderen vertauschen. Man kann

sich vorstellen, wie sehr eine jede griechische Stadt unter dem außen- und innenpolitischen Druck litt, ja manche geradezu in zwei sich in Todfeindschaft gegenüberliegende Lager zerrissen wurde. Nachdem drei verschiedene Möglichkeiten politischer Organisation, nämlich

Demokratie, Oligarchie und Tyrannis, bewußt geworden waren, hat der reflektierende Geist der Griechen sehr bald nach weiteren Formen gesucht bzw. hat die nun bekannten weiter differenziert. Denn da alle drei Verfassungen in der

politischen Wirklichkeit umstritten waren, lag es nahe, sich eine jede Form in einer positiven und negativen Ausprägung zu denken, zumal für die Tyrannis, die von vornherein für alle ein verabscheuungswürdiger Typ geworden war, in dem Bild vom mythischen König ein positives Gegenstück bei der Hand lag. Schon in der ersten theoretischen Reflexion auf die möglichen Formen politi-

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

schen Lebens, die wir kennen, die von Herodot fingierte Debatte der persischen

Verschwörer gegen den Usurpator Gaumata über die beste Verfassung, haben wir die spätere, entwickelte Verfassungstypologie weitgehend vor uns. Charakteristischerweise sind hier die Demokratie

(und die Kritik an ıhr) und die

Einzelherrschaft (in positiver und negativer Ausprägung) klar und durchsichtig beschrieben worden, während die Oligarchie, die als Verfassungsform ja eine eher künstliche Schöpfung war, ganz unvollkommen herausgearbeitet ist; sie war damals eben nur sehr bedingt ein in sich selbst ruhender Verfassungstyp. An

der Verfassungsdebatte bei Herodot wird auch das Motiv deutlich, das weitergehenden Überlegungen über die Formen menschlichen Zusammenlebens Dynamik und Dauerhaftigkeit zu verleihen vermochte: die Suche nach der besten

Verfassung. Die Philosophie hat sich dieses Gedankens sogleich bemächtigt, und in der „Politeia“ Platons erreichte die Staatstheorie dann ihren ersten Höhe-

punkt.

Die Demokratie, die als die neue Verfassungsform das Verfassungsdenken und den Begriff der Verfassung (politeía) überhaupt erst hervorgebracht hat, ist noch in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts mehrfach Gegenstand theoretischer Überlegungen gewesen. Das, was uns darüber erhalten ist, dürfte nur einen Bruchteil dessen darstellen, was einmal vorhanden war. Abgesehen von der bereits genannten Verfassungsdebatte bei Herodot, in der die Demokratie in ihren wesentlichen Grundlagen treffend vorgeführt ist, besitzen wir eine anonyme Flugschrift über die Verfassung der Athener aus der Zeit um 430/425, welche die Demokratie, ohne sie ganz abzulehnen, von einem kritischen Stand-

punkt her beleuchtet (da sie im Corpus der Schriften Xenophons erhalten ist,

erscheint sie in der modernen Literatur als pseudo-xenophonusche Schrift), und die preisenden Darstellungen des demokratischen Gedankens durch Euripides (in den „Hiketiden“, 424 oder 421 aufgeführt) und Thukydides (Grabrede des

Perikles, wohl erst nach dem Ende des Peloponnesischen Krieges, also nach 404,

verfaßt). Die in diesen Schriften enthaltenen Charakterisierungen sind ein wichtiges Indiz dafür, was den Athenern gerade in den Anfängen und auf dem Hóhepunkt der Demokratie an ihr wesentlich erschien.

Es verdient besonders auch vor dem Hintergrund modernen Denkens hervorgehoben zu werden, daß der Begriff der Freiheit, soweit wir sehen, gegenüber dem der Gleichheit ein sekundäres Element demokratischen Geistes gewesen zu sein scheint. Freiheit (eleutbería) wird werthaft zunächst als persónliche Freiheit

begriffen, und als solche begegnet sie uns bei Solon, der für viele Bauern diese Grundbedingung politischen Handelns erst wiederhergestellt hat. Daf$ gegen-

über der Tyrannis der Peisistratiden nicht die Freiheit das politische Schlagwort geworden ist, sondern die Tyrannenmórder als diejenigen gepriesen wurden, welche die Gleichheit brachten, mag nicht nur an unserer, zugegebenermaften sehr schmalen Überlieferung über die Geschichte der Begriffe dieser Zeit liegen. Das Drängen nach politischer Gleichberechtigung mit der ehemals herrschenden Schicht, wofür das Schlagwort der Isonomie stand, hat den Gedanken, daß

die Vertreibung der Tyrannen Freiheit bedeutete, ganz offensichtlich zunächst in den Hintergrund treten lassen, zumal die Tyrannis ja lange Zeit ganz gern geduldet worden war und die Athener sie nicht selbst beseitigt hatten. Es kam

L Die Entwicklung Athens zur Demokratie

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hinzu, daß unmittelbar nach dem Sturz der Tyrannis die Abwehr äußerer Feinde, zunächst der Nachbarn, dann der Perser, die Freiheitsproblematik über-

schattet hat: Freiheit bedeutete in diesen Jahrzehnten vor allem die Erhaltung der äußeren Selbständigkeit der Stadt. Die bald nach der Vertreibung der Tyrannen wieder aufflammenden Kämpfe der Adligen untereinander, die zur Einrichtung des Ostrakismos und zur Entmachtung des höchsten Amtes, des Archon-

tats, geführt hatten, mögen mit der Furcht vor einem neuen Tyrannen - der Tyrann war ja früher aus solchen Fehden hervorgegangen - den Gedanken der Freiheit von Herrschaft neben den der Isonomie gestellt haben. Auch der persische Großkönig, welcher der gegebene Helfer des Tyrannen war - die Peisistrauden hofften, in seinem Gefolge nach Athen zurückzukehren -, dürfte dadurch,

daß die Achener in seiner Person die Abwehr von äußerer zugleich als die von innerer Bedrohung verstehen konnten, die Hineinnahme des Freiheitsbegriffs in die Grundwerte der Demokratie gefördert haben. Sobald die Athener sich ihrer neuen politischen Verfassung bewußt geworden waren, haben sie jedenfalls dıe in ihr gewonnene Gleichheit des politischen Rechts auch als Freiheit verstanden: Die Herrschaft aller bedeutete ihnen, daß keiner Knecht, das heißt politisch

abhängig war. So hat es bereits der Autor der pseudo-xenophontischen Schrift vom Staat der Athener formuliert, und so sagt es auch etwa gleichzeitig Abwehr gegenüber der Tyrannis - Theseus in den ,,Hiketiden" des Euripides.

4. Das Problem des Beginns der Demokratie und deren Einheit im 5. und 4. Jahrhundert Sind in den vorangehenden Ausführungen sowohl die allgemeinen Bedingungen für die Entstehung des demokratischen Gedankens aufgezeigt und auch dargelegt worden, wie sich der Begriff ,,Demokratie“ und mit ihm ein verfassungspohusches Bewufstsein erst sehr allmählich entwickelt hat, jedenfalls vor der Mitte des 5. Jahrhunderts nicht nachgewiesen werden kann, bleibt doch die Frage

offen, von welchem Zeitpunkt an denn die Athener ihre politische Ordnung als Demokratie, und das heißt als eine Verfassung begriffen haben, die sich sowohl von der ihr vorangehenden politischen Ordnung als auch von den Ordnungen aller anderen griechischen Städte unterschied. Denn da der Prozeß der Entwicklung zur Demokratie hin nicht mit einer theoretischen Diskussion um die politische Ordnung begann oder von ihr begleitet wurde, wir aber in perikleischer Zeit ein klares Bewußtsein von der demokratischen Verfassung und ihrer Besonderheit gegenüber anderen Verfassungen vor uns haben, muß dieses Bewußtsein sich in der Zeit davor herausgebildet haben. Wenn ich gesagt habe, daß es bei der Frage nach dem Anfang der Demokratie darum geht, was denn die Athener davon dachten, setze ich mich bewußt von Meinungen ab, die mit

eigenen, also modernen Definitionen von Demokratie die griechischen Verhältnisse meinen beurteilen zu dürfen und von ihrer Definition her dann den Beginn von Demokratie ansetzen. Nicht der moderne Konstruktionswille, sondern die

Vorstellungen der Athener stehen hier zur Debatte, und da fállt die Antwort auf

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

die Frage nach dem Beginn der Demokratie deswegen schwer, weil eine Überlieferung darüber aus der Zeit der fraglichen Herausbildung der Demokratie, nämlich der Zeit nach dem Sturz der Tyrannis bis zu der des Perikles, nicht existiert und das, was die Athener nachträglich dazu gesagt haben, deutlich die

Züge einer Konstruktion aus den besonderen Bedingungen einer demokratischen Spätzeit trägt. Diese Konstruktion ist zum einen dadurch gekennzeichnet, die Demokratie im nachhinein durch die Verbindung mit bedeutenden Männern der Vergangenheit (Solon, Kleisthenes) zu legitimieren, zum anderen enthält sie deutlich Elemente einer Demokratie-Kritik, die in Abwehr der Demo-

kratie nach Formen einer gemäßigten Demokratie sucht und aus ihnen die eigene kritische Position rechtfertigen möchte. Der Gedanke der „väterlichen Verfassung" (pätrios politeta) als einer „maßvollen“ demokratischen Verfassung gehört hierher, der vielleicht bereits im Zusammenhang der oligarischen Bewe-

gung von 411 v. Chr. geprägt und mit Kleisthenes verbunden wurde. Es ließe sich denken, daß wir der Antwort auf unsere Frage mit einer Besinnung auf die Geschichte des Begriffs demokratia näherkommen könnten. Aber wir vermögen das Wort und seine Derivate, wie dargelegt wurde, nicht vor dem letzten Drittel des 5. Jahrhunderts nachzuweisen. Das besagt natürlich nicht, daß es das Wort vorher überhaupt nicht gegeben hat, denn seit eben dieser Zeit beginnt überhaupt erst die Prosa-Literatur mit ihren Gattungen, Historiographie, Reden und politische Pamphlete, die den Gebrauch des Wortes erwarten lassen. Immerhin kann es nicht häufig gewesen sein, da wir Inschriften haben, in denen es hátte stehen kónnen und gelegentlich dort, wo man es erwarten darf,

ein anderes Wort steht. Es hilft hier also die Begriffsgeschichte nicht weiter. Man kann von ihr her nur soviel sagen, daß trotz des Fehlens von Belegen vor der Zeit des Peloponnesischen Krieges der allgemeine und selbstverständliche Gebrauch des Wortes und seiner Derivate während dieses Krieges bei Ps.-Xenophon und Thukydides ebenso wie bei Aristophanes auf eine deutlich ältere Verwendung

verweist.

Lassen uns eindeutige Aussagen der Quellen in Stich, bleiben für die Rekonstruktion der Anfánge der Demokratie nur Wahrscheinlichkeitsannahmen. Dabei hilft uns weiter, daß wir erkennbare Stufen einer demokratischen Entwick-

lung, die von ersten Anfängen über eine gemäßigte Form von Demokratie zur „radikalen“ verläuft, eindeutig als gedankliche Gebilde einer späten Zeit zu-

rückweisen können, die zur Legitimierung des demokratischen Gedankens und vor allem aus einer kritischen Haltung ihr gegenüber mit mehr oder auch

weniger Vorbedacht in der Vergangenheit aufgefunden bzw. erfunden wurden. Vor allem ist die Vorstellung einer „radikalen“ Demokratie ein Produkt späten kritischen Nachdenkens und wirken in den modernen Darstellungen, die diesen

Begriff für die Zeit nach dem „Umsturz“ des Ephialtes im Jahre 462/61 verwenden, Formulierungen des Aristoteles nach, der die Demokratie seiner Zeit, und das heißt nach ihm: die Demokratie von Perikles an bis auf seine Zeit, als die im

Sınne einer Vervollkommnung bzw. (mit Aristoteles) Pervertierung des demokratischen Gedankens zeitlich letzte und sachlich äußerste (teleutaía, eschäté)

beschrieben hat. Müssen wir diese Gedanken als Konstruktionen verwerfen, bleibt nur die Annahme einer Demokratie, eben derjenigen, die wir in der

I. Die Entwicklung Athens zur Demokratie

63

Mitte des 5. Jahrhunderts vor uns haben. Für die Annahme einer anderen gibt es von den Quellen her nicht den geringsten Hinweis. Wir würden den Beginn dieser einen Demokratie gewiß gern mit dem verbinden wollen, was man ın der Forschung den „Umsturz“ bzw. die „Revolution“

des Ephialtes genannt hat. Wie oben S. 43ff. dargelegt, ist das nicht ganz einfach, weil wir die Motive des Ephialtes zu seiner Reform nicht zuverlässig kennen. Aber auch wenn sie im außenpolitischen Bereich gelegen haben sollten, dürfen wir doch zumindest behaupten, daß mit dieser Reform der institutionelle Ausbau der Demokratie begann. Der Ausbau der Verfassung vor allem durch die Einrichtung von Massengerichten und Kontrollinstanzen für die Beamten aber setzen ein verstärktes Selbstbewußtsein der Massen gegenüber den überkommenen institutionalisierten Trägern der Ordnung voraus, das sich wiederum in einem gesteigerten Bewußtsein von der politischen Gleichheit aller gründen muß, einer Gleichheit, die sich nıcht lediglich auf das Versammlungsrecht für alle stützt, sondern sämtliche Institutionen durchdringt und der Tendenz nach die Regierung durch die Herrschaft aller ersetzt. Dieses Bewußtsein kann sich nicht nach der Vertreibung des Tyrannen im Jahre 510 v. Chr. schon eingestellt haben, denn

an ihr waren

nicht alle beteiligt, und es ist zudem

deutlich, daß damals für den Aufbruch in die politische Freiheit die Führung

durch Adlige unentbehrlich war. So bleibt für die Bildung eines demokratischen

Bewußiseins nur das Erlebnis der Perserkriege, in dem alle Bürger, bei Salamis

buchstäblich die gesamte Bürgerschaft, und das heißt der Staat der Athener, aktiv wurden und nach den großen Schlachten über Jahre hinaus bei auRenpolitischen Unternehmungen tätig waren, also die Politik selbst gestalteten und das ausfüllten, was damals und dann, solange es eine Demokratie gab, das erste und weitgehend einzige Ziel demokratischer Politik war, nämlich das Streben nach Hegemonie unter den Griechen. Wenn Aristoteles sagt, daß nach Salamis bis zum „Umsturz“ des Ephialtes, also 480-462/61, der Areopag als der alte Adels-

rat die Führung im Staate hatte und unter ihm Themistokles und Aristeides die maßgebenden Politiker waren, mag darin die richtige Erinnerung stecken, daß diese Zeit eine Übergangsphase war, in der sich das Selbstbewußtsein der Athener stärkte und sie in diesen ereignisreichen Jahren, in denen sie die Seeherrschaft in der Ägäis gewannen, durch die ständige Teilnahme aller an den Unternehmungen im Sinne einer radikalen Gleichheitsidee politisiert wurden.

Ist dies richtig - und ich sehe keine Möglichkeit, die Dinge anders zu rekonstrueren -, bleibt übrig, den Stellenwert der kleisthenischen Phylenreform für

die Ausbildung des demokratischen Gedankens zu bestimmen. Die Motive des

Kleisthenes sind, wie dargelegt wurde, nicht vóllig klar, doch zeigt das Bauprinzip der Reform sehr deutlich den Gleichheitsgedanken. Mag er auch zunächst gegen konkurrierende adlige Häuser gerichtet gewesen sein, wirkte er dann

doch in den Perserkriegen als Fundament und Ausgangspunkt einer radikalen Gleichheit. Nicht zu Unrecht sagt darum Herodot, daß Kleisthenes mit seiner

Phylenreform die Demokratie begründete. Aber die Demokratie als die Verfassung der politischen Gleichheit ist doch nicht allein, ja nicht einmal in erster

Linie durch ihren normativen Aufbau gekennzeichnet, sondern vor allem durch

die innere Anteilnahme der Bürger am politischen Geschehen, die eine nie

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

gekannte und in keiner antiken Stadt je wieder erreichte politische Dichte schuf. Mag man darum in Kleisthenes den Begründer der ersten demokratischen Institution sehen, gehört die Demokratie als die Ordnung, in der die Bürger nicht nur Rechte haben, sondern sie diese auch wirklich ausüben, erst in die Zeit der

Perserkriege, und es sind dann ja auch gerade diejenigen Institutionen und Normen,

welche diese Aktivität ermöglichten

und sie absicherten, wie die

Massengerichte, die Vermassung der amtlichen Geschäftsträger und die Diätenzahlungen, um nur das Wichtigste zu nennen, erst in dieser Zeit und zum

größten Teil wohl erst nach 462/61 geschaffen worden. Sie sind nicht die Voraussetzung für den Willen nach politischer Anteilnahme, sondern deren Konsequenz. Die Demokratie beginnt somit in perikleischer Zeit, und es gibt nur diese eine Demokratie in Athen. Andere Demokratien sind theoretische Konstrukte kritischer oder rechtfertigender Literatur des späten 5. und des 4. Jahrhunderts. Das andere im Zusammenhang dieser Vorüberlegungen zu besprechende Problem berrifft die Frage nach der Einheit der Demokratie ım 5. und 4. Jahrhundert. Es geht hierbei darum, ob die Demokratie in Athen sich durch den Peloponnesischen Krieg bzw. die Kriegsfolgen ihrer Qualität nach soweit verändert

hat, daß wir die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse des 4. Jahrhunderts von denen im 5. Jahrhundert absetzen oder gar von einer anderen Form von Demokratie im 4. Jahrhundert ausgehen müssen. Es ist dies keine antike, sondern eine rein moderne Fragestellung. Sowohl die Athener selbst und die anderen Griechen dieser Zeit als auch der auf das 5. und 4. Jahrhundert zurück-

blickende antike Mensch haben keine Zäsur gesehen, die berechtigte, die politischen Formen des 4. von denen des vorangehenden Jahrhunderts zu trennen. Das Ende des Peloponnesischen Krieges bedeutet gewiß einen nicht geringen Einschnitt nicht nur in der athenischen Außen- und Herrschaftspolitik, sondern auch für das Leben des einzelnen Bürgers. Der Seebund war völlig verloren, die Flotte bis auf wenige Schiffe vernichtet oder abgerüstet und die Mauern geschleift. Mit der Hektik äußeren Engagements und damit zugleich mit den

militärischen und diplomatischen Aktivitäten des Bürgers im gesamten von Griechen besiedelten Raum war es nun fürs erste vorbei. Die Menschenverluste waren schrecklich gewesen. Dazu kam der innere Zwist in der Endphase und nach dem Ende des Krieges, der zeitweise die Bürgerschaft in zwei Teile zerriß. Die Niedergeschlagenheit der Bürger, die von einer schwindelnden Höhe ins Nichts zu stürzen schienen, war groß, das Mißtrauen gegenüber dem Mitbürger wuchs, und Verdächtigungen jeder Art waren an der Tagesordnung. Aber die wirtschaftliche Not war, soweit wir sehen, selbst unmittelbar nach Kriegsende

nicht groß. Es scheint nicht einmal der öffentlichen Kasse an Geld gefehlt zu haben, denn es wurden nach der Niederlage nicht etwa die Diätenzahlungen eingeschränkt oder gar abgeschafft, sondern umgekehrt sie nur wenige Jahre später für den Besuch nun auch der Volksversammlungen erweitert. Athen blieb auch weiterhin Handelszentrum, und es blühte das Handwerk wie eh und je.

Nur ein Jahrzehnt nach dem Großen Krieg begannen die Athener denn auch wieder, in die alten Bahnen ihrer Außenpolitik zurückzuschwenken, die dann

I. Die Entwicklung Athens zur Demokratie

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378 zu der Gründung eines neuen, allerdings unter einem anderen Vorzeichen stehenden und auch an Größe mit dem alten nicht zu messenden Seebundes führte. Auch die Menschenverluste scheinen nach einer Generation weitgehend ausgeglichen worden zu sein. Trotzdem wird von manchen Forschern angenommen, ja wird es oft einfach ohne jede Überprüfung vorausgesetzt, daß die Stadt sich im 4. Jahrhundert im Niedergang befand, der Bürger sich aus dem öffentlichen Leben vielfach zu-

rickzog und sogar den Militärdienst mied. Dieser Wandel soll sich auch institutionell u.a. darin niedergeschlagen haben, daß die Volksversammlung als Institution geschwächt wurde. Wir haben danach von zwei unterschiedlichen Ausprigungen von Demokratie auszugehen, die durch die Katastrophe von 404/03 getrennt werden. Aber tatsächlich lassen sich keine Veränderungen nachweisen, die solche Zäsur berechtigten. Die Veränderungen im normativen Bereich sind zwar außergewöhnlich groß, aber sie tragen eher den Stempel eines Ausbaus und einer Verfeinerung demokratischer Einrichtungen als eines grundsätzlichen Umbaus, wie etwa die Einführung von Diäten für den Besuch der Volksversammlung, die Reform des Vorsitzes in der Volksversammlung und im Rat, die Einrichtung eines Gesetzgebungsverfahrens und die Änderung des Verfahrens für die Zuweisung der Richter an die einzelnen Geschworenenhöfe beweisen. Es ging um eine verfeinerte Durchdringung der als richtig erkannten allgemeinen Regeln, vor allem auch um eine bessere Kontrolle und Durchsichtigkeit der Verfahren. Dazu trug u.a. eine jetzt deutlich stärkere Schriftlichkeit im óffentlichen Bereich bei, wie denn nicht nur die Dokumentation óffentlich-rechtlicher

Akte, etwa die Übergabe der Geschäfte eines Beamtenkollegiums an das nächste, sondern auch Prozeßeingaben und Zeugenaussagen seit dem ersten Drittel des 4. Jahrhunderts schriftlich zu erfolgen hatten. Für das Strategenkollegium, das ja unter den Beamten seit jeher eine Sonderrolle gespielt hatte, läßt sich auch eme verstárkte Spezialisierung beobachten, indem die Strategen nicht nur gewählt, sondern ihnen nun auch bestimmte Aufgaben zugewiesen wurden. Das alles berührt jedoch nicht das Fundament der Demokratie, ist eher geeignet, dieses zu stárken. Von einem Abbau demokratischer Formen kann daher nicht die Rede sein, und was die Volksversammlung angeht, hat sie auch nach Abgabe legislativer und jurisdiktioneller Zustándigkeiten zu jeder Zeit die Verfahrensherrschaft über alle Gegenstánde behalten. Sie wurde durch Veránderungen, wie die Einrichtung eines besonderen Gesetzgebungsverfahrens, eher wieder funkuonsfähig gemacht als geschwächt. Auch für die Bereitstellung der Machtmittel haben die Athener nicht weniger Sorge getragen, und sie waren zu nicht weniger Opfern bereit als früher. In den dreißiger Jahren des 4. Jahrhunderts, nicht lange also vor dem gewaltsamen Ende der Demokratie, besaßen die Athener so viele

Knegsschiffe wie unseres Wissens niemals zuvor. Auch die Behauptung, daß sich der Athener weitgehend ins private Leben zurückgezogen und die wichtigsten Ämter nicht mehr von einem repräsentativen Querschnitt aller Bürger besetzt worden seien, stimmt so nicht. Die Gerichtsverfassung, für deren Funktionieren auch im 4. Jahrhundert táglich Tausende erforderlich waren, straft solchem Vorwurf Lügen. Mochte auch der Schwung, den die Perserkriege den Athenern gebracht hatten, vorbei und das

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Gefühl des Aufbruchs in Neuland, das die Unternehmen der Mitte des 5. Jahrhunderts ohne Zweifel getragen hat, verloren gegangen sein, mochte ferner die Bitterkeit über die vergeblichen Mühen und Opfer nach 404 nachwirken, be-

harrte man doch auf der politischen Ordnung, die eine Lebensform geworden war, und richtete sich einen demokratischen Alltag ein, nicht ohne jedoch schon

bald wieder den Versuch zu unternehmen, mit einer intensiveren Außenpolitik erneut Herrschaftspolitik zu verbinden. Es soll nicht bestritten werden, daß das private Leben wahrscheinlich nach 404 einen größeren Stellenwert erhielt als früher. Man erkennt es an der Thematik der Komödie. Politikverdrossenheit und das Gefühl finanzieller Überforderung hat bei vielen, vor allem auch wohlhabenden Bürgern um sich gegriffen. Aber man sollte sich hüten, all dies in einen Prozeß des Niedergangs einordnen zu wollen. Manches, was uns in diese Richtung weist, müssen wir als vorübergehendes Phänomen ansehen. Im ganzen gesehen jedenfalls berechtigen die Hınweise nicht zu der Annahme, daß wir uns gegenüber dem 5. Jahrhundert in einer anderen Demokratie bewegten.

5. Abrıß der Geschichte Athens in demokratischer Zeit

(480-322 v. Chr.) Die fünfzig Jahre zwischen Salamis und dem Ausbruch des Peloponnesischen Krieges (Pentekontaëtie, 480-431 v. Chr.)

Nach den großen Schlachten gegen das persische Expeditionskorps bei Salamis (480), Platää in Bôotien (479) und an der Mykale in Westkleinasien (479) wurde

Athen von den Griechen als eine Sparta ebenbürtige Großmacht angesehen. Der Ruhm der Stadt gründete sich auf die Standhaftigkeit der Athener, die nach der Besetzung Attikas durch Xerxes sich nicht unterworfen, sondern ihre Vaterstadt geräumt und, zu allem entschlossen, mit ihren Verbündeten dem Großkönig entgegengetreten waren, und auf ihrem maßgeblichen Anteil an den Siegen in den großen Schlachten. Die Seeschlachten von Salamis und an der Mykale

begründeten auch die athenische Seegeltung, und da das Instrument für eine maritime Expansion, die damals mit Abstand größte Flotte unter Griechen,

bereitlag, begannen die Athener auch sogleich, eine aktive Außenpolitik zu

betreiben. Sie ergab sich zunächst nahtlos aus der Notwendigkeit, die Perser aus der Ägäis zu vertreiben. Die Antriebskräfte für die offensive Strategie, in die schon gleich nach den großen Abwehrschlachten der Defensivkrieg umschlug,

lagen dabei vor allem auch in den Städten der ägäischen Inselwelt und Westkleinasiens, wo man sich mit athenischer Hilfe der persischen Oberherrschaft zu entledigen trachtete. Obwohl das alte hellenische Bündnis gegen die Perser zunächst noch fortbestand, richteten sich daher die Augen der Griechen ın der Ägäis vor allem auf Athen, und als der spartanische König Pausanias, der den

Oberbefehl über die verbündeten Griechen führte, bei der Belagerung von Byzanz und nach dessen Einnahme gegenüber den Griechen sehr ungeschickt auftrat, schlossen etliche Städte Ionıens, insbesondere die Inseln Chios, Samos und Lesbos, mit Athen einen Sonderbund (478/77). Dieser Bund war eine

I. Die Entwicklung Athens zur Demokratie

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Vereinigung von Seestädten, in der Athen die Führung hatte, nach griechischer Terminologie Hegemon war. Das wegen der athenischen Führungsrolle in der modernen Forschung „athenischer“ oder „attischer Seebund" bzw. nach seinem Zentrum im Apollon-Hei-

ligtum auf der Insel Delos auch „delisch-attischer Seebund" genannte hegemoniale Machtgebilde verkórperte einen vóllig neuen, bis dahin unbekannten Typ internationaler Zusammenschlüsse. Hatten Vertragswerke bislang keinen weiteren Organisationsrahmen besessen, erforderte der Umstand, daß dieser Bund ein Seebund war, eine besondere Struktur. Denn benótigte man im allgemeinen wegen der Selbstausrüstung aller Krieger bei Vertragsabschlüssen keine beson-

deren Regelungen für die Ausrüstung der Heere, lag das bei einem Bündnis, dessen Schlagkraft auf der Flotte beruhte, anders. Kriegsschiffe waren schon damals teuer, und kleine Stádte vermochten nicht einmal ein einziges Schiff

auszurüsten, andere waren im Kriegsschiffsbau unkundig, wieder anderen fehlte es an Mànnern, um das Ruderwerk zu besetzen. So steuerten neben dem übermächtigen Athen nur die großen Seestádte, wie Chios, Thasos und Samos, Schiffe zu der Flotte bei, die anderen - und das war die Mehrzahl - lósten ihre

Bündnisverpflichtungen durch Matrikelbeitráge ab. Dadurch war eine Kasse mit Kassenführern und vor allem ein gerechtes System für die Umlage der Beitráge auf die verschieden großen und ungleich zahlungsfähigen Städte notwendig geworden. So entstand das erste griechische Militärbündnis (Symmachie) mit

einer „Verfassung“. Die Umlage der Beiträge soll der Athener Aristeides zur Zufriedenheit aller - wahrscheinlich auf der Grundlage des Agrareinkommens

der Städte - durchgeführt haben. Das Verwaltungszentrum wurde das Heiligtum des Apollon auf Delos, wo auch die Bundeskasse war, und Kassenverwalter wurden zehn Hellenotamiai („Kassenwarte der Hellenen“). Die hegemoniale

Stellung Athens zeigte sich nicht nur darin, daß die Athener den Oberbefehl des Bundes ınnehatten, sondern auch darın, daß die Kassenwarte von der atheni-

schen Volksversammlung gewählt wurden. Die erste Umlage erbrachte eine Summe von 460 Talenten, eine große, aber die Bundesgenossen gewiß nicht stark belastende Summe. In der Aktivität der ersten beiden Jahrzehnte des Seebundes waren verschiedene Antriebskräfte, in erster Linie die Abwehr der

Perser, die Befreiung der Griechen vom persischen Joch und athenisches Herrschaftsstreben, unlöslich und meist schwer unterscheidbar ineinander verwo-

ben. In Athen war es vor allem Kimon, der eine aktive Seebundspolitik vertrat und sie auch meist selbst als gewählter Stratege durchführte. Er war vornehm-

lich an den Meerengen und in Thrakien aktiv. Als die Perser Mitte der sechziger

Jahre sich zu einer energischeren Abwehr aufrafften, hat Kimon in einer großen Schlacht zu Lande und zu Wasser an der Mündung des Eurymedon in Südwestkleinasien die Perser vernichtend geschlagen und deren weitere Aktivitäten für die Zukunft entscheidend gelähmt. Kurz danach unternahm er einen Zug zur thrakischen Chersones (Gallipoli) und wiederum nach Thrakien, wo er am

Strymon Tausende athenischer Kolonisten ansiedelte (465). Sind die ersten 15 Jahre nach den großen Schlachten gegen die Perser noch durch den Perserkrieg und der aus ihm resultierenden Möglichkeit der Befrei-

ung vom Perserjoch und der Erweiterung der Einflußzone Athens bestimmt und

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

das Bewußtsein der Griechen auch in dieser Konfrontation befangen, setzt seit der Mitte der sechziger Jahre sowohl ın den Städten selbst als auch, vielfach ın Reaktion auf den inneren Wandel, in ihrer äußeren Politik ein tiefgreifender

Wandel ein. In Athen, wo der Perserkrieg und die damit verbundene Seebundspolitik all die Jahre hindurch von der Masse der Bürgerschaft getragen worden war, begannen seit den späten sechziger Jahren Ephialtes und, nach dessen Ermordung, Perikles die Herrschaft der Gleichen nun auch institutionell zu verankern, sie dabei zu erweitern und so eine neue politische Ordnung zu errichten, die dann bald Demokratie genannt wurde. Auf andere Städte übte die demokratische Verfassung eine starke Anziehungskraft aus, besonders auf Städte des Seebundes und unter ihnen wiederum vor allem auf diejenigen, ın denen politisch instabile Verhältnisse herrschten und die unterlegene Partei, meist die weniger Bemittelten, in der Demokratie eine politische Alternative zur gegebenen Ordnung sehen konnte. Nicht minder deutlich waren die Veränderungen in den Beziehungen der griechischen Städte untereinander. Das läßt sich am klarsten an dem Wandel des spartanisch-athenischen Verhältnisses ablesen. Sparta hatte nach dem Einsturz einer Ephebenhalle durch ein Erdbeben, bei dem viele junge Spartiaten den Tod fanden, mit einem großen Helotenaufstand zu kämpfen (3. Messenischer Krieg, 464-460/59), in dem es sogar die seit dem Perserkrieg noch mit Sparta verbündeten Athener zu Hilfe rufen mußte. Als dann dieses Hilfskorps unter Kimon von den Spartanern 462 ziemlich brüsk zurückgeschickt wurde - die Spartaner betrachteten die Hilfe wohl zu Recht als Ausdruck ihrer inneren Schwäche und wollten Unabhängigkeit demonstrieren -, brach das alte Bündnis mit Athen auseinander und begannen sich allmählich Spannungen zu entwickeln. Im Gefolge des Umschwungs in der Außenpolitik wurde Kimon als der Vertreter einer sparta-freundlichen Richtung ostrakisiert (461), und Athen mischte sich in die peloponnesischen Verhältnisse ein, als Sparta, geschwächt von dem Helotenaufstand, durch seinen alten Rivalen Argos bedrängt wurde, und sandte sogar Freiwillige dorthin; doch besiegten die Spartaner bei Oinoë/Argolis (wohl 460) die feindliche Stadt. Athen, das Mantineia und Megara zu einem Bündnis bewegen konnte, warf sich nun 459 auf die alte Konkurrentin Aigina im Saronischen Meerbusen, belagerte die Stadt und zwang sie nach der Kapitulation ın den Athenischen Seebund (456). Sparta war schon im Jahr vorher, nach dem Ab-

schluß eines Bündnisses mit den Böotern, ın Mittelgriechenland eingerückt, und es begann nun der offene Kampf zwischen Sparta und Athen. Bei Tanagra/ Ostböotien siegten die Spartaner und ihre Bundesgenossen über die Athener (457), aber nach dem Abzug der Spartaner konnten die Athener noch in demselben Jahr die Böoter bei Oinophyta schlagen. Die veränderte Lage zeigte sich jedoch nicht nur in der wachsenden Spannung zwischen Athen und Sparta, sondern auch in den Schwierigkeiten, die Athen mit seinen Seebündnern bekam. Sowohl athenisches Machtstreben als auch der schnell abnehmende Widerstandswille des unter Artaxerxes I. (465/64-425) von Aufstánden geschüttelten

und durch Inaktivität der Zentrale im Westen des Reiches gekennzeichneten Perserreiches ließen den Glanz, der die Athener als Befreier von den Persern

umgab, verblassen und schwächten auch die Notwendigkeit ihrer Hilfe. Manche

I. Die Entwicklung Athens zur Demokratie

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mochten denken, daß angesichts der veränderten Gesamtlage die Voraussetzungen des Bündnisses entfallen waren, und suchten aus dem Bund auszutreten. So dachten schon sehr bald die Naxier und mußten schnell erfahren, daß die Athener keine uneigennützigen Befreier waren. Sie wurden mit Gewalt in den Bund zurückgebracht. 465 suchte sich auch Thasos aus dem Bund zu lösen, das durch die Aktivitäten der Athener vor seiner Haustür in Thrakien in seinen wirtschaftlichen Interessen empfindlich getroffen worden war. In einer langen Belagerung wurde die reiche Inselstadt besiegt, mit dem Verlust der Flotte, der Schleifung der Mauern und der Abtretung aller festländischen Besitzungen, darunter das goldreiche Pangaion-Gebirge, bestraft und als ein tributäres Mitglied wieder in den Bund zurückgezwungen. Das Klima im Seebund hatte sich verändert, aber die Athener fühlten sich

nach wie vor im Vollgefühl ihrer Kräfte. Der Ausbau der politischen Ordnung zur Demokratie scheint die Dynamik sogar noch gefördert zu haben. 455 umfuhr der athenische Stratege Tolmides mit einer Flotte die Peloponnes und demonstrierte den Spartanern durch kurze Landungen die Macht der Athener,

setzte sich im Norden der Peloponnes in Achaia Test und schuf darauf den Athenern durch die Niedersetzung der nach dem verlorenen Krieg gegen Sparta aus der Peloponnes abgezogenen Messenier in Naupaktos am Nordausgang des Korinthischen Golfes eine feste Bastion. Nicht genug damit begannen die Athener 460 zur Unterstützung der aufständischen Ägypter eine großangelegte Expediuon zum Nil. Die Motive sind nicht sehr klar. Es waren wohl weniger Handelsinteressen (Getreide, Papyrus) als die schier unbegrenzt erscheinenden Möglichkeiten einer Machtpolitik mit Hilfe der Flotte, welche die Athener in so weite Ferne trieb. Sie befanden sich noch in den Anfängen einer neuen Ära, die

durch Außen- und Machtpolitik gekennzeichnet war, und maßen ihre Kräfte. Das Unternehmen endete mit einer Katastrophe. Die athenische Flotte wurde samt dem Expeditionskorps auf der Nilinsel Prosopitis eingeschlossen und vernichtet (454). 6 000 Athener und Bundesgenossen sollen dabei umgekommen

sein. Durch den Schock der Niederlage brachten die Athener die Bundeskasse

von Delos nach Athen und schlossen 454/53 mit Sparta einen fünfjährigen Waffenstillstand. Nach der Rückkehr Kimons aus der Verbannung rafften sie sich jedoch zu einer erneuten Expedition gegen die Perser auf, die im Gefolge ihres Sieges in Ägypten Zypern wieder besetzt hatten, und schlugen sie bei

Salamis/Zypern (450/49). Als mit Kimons Tod - er starb kurz vor der Schlacht der Vertreter einer aktiven Kriegspolitik gegen die Perser abgetreten war, entschlossen sich die Athener zum

Frieden mit den Persern, der in Form einer

einseitigen Erklärung des Großkönigs, daß er keine Schiffe in die Ägäis einlaufen lassen und sich einem etwa drei Tagesmärsche breiten Streifen von der westkleinasiatischen Küste fernhalten würde, und dem gleichzeitig ausgespro-

chenen Verzicht der Athener auf Ägypten und Zypern als Einflußzone durch den athenischen Gesandten Kallias abgeschlossen wurde. Der Friede war wenig ruhmreich, und er schuf für die Athener das Problem, wie der Seebund vor den

Bundesgenossen weiter begründet werden konnte. Perikles versuchte durch die Einberufung eines alle Griechen umspannenden Kongresses nach Athen bald nach dem „Kallias-Frieden“, dem Bund durch ein neues Programm, in dessen

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Zentrum die (natürlich von Athen zu garantierende) Sicherheit auf den Meeren

und die Sicherung eines dauerhaften Friedens stand, auch ein neues Fundament zu geben. Da aber die Spartaner verständlicherweise nicht erschienen, blieb es bei einer leeren Demonstration. So wurde der Wunsch vieler Bundesgenossen nach einer Loslösung von Athen dringender. Als 446 die euböischen Städte und Megara aus dem Bund austraten, mußten auch sie, wie schon andere in gleicher Lage vorher, erfahren, daß Loslösung für die Athener „Abfall“ bedeutete: Athen

bestrafte vor allem Euböa u.a. durch die Abtretung von Land sehr hart. Ein 446/45 auf dreißig Jahre abgeschlossener Friede zwischen Athen und Sparta brachte aber dann einige Jahre Ruhe. Nach dem Kallias-Frieden wandelte sich der Seebund immer stärker in eine

Herrschaft der Athener und wurden aus Bundesgenossen der Sache nach Untertanen. Die Herrschaftsinstrumente waren dabei sehr verschiedener Art. Die rein

direkte Herrschaft mittels eines bürokratischen Apparats verbot schon der Mangel an Menschen und Kontrollmöglichkeiten eines Stadtstaates. Aber es fehlte durchaus nicht an entsprechenden Ansätzen. In manche Städte wurden Militärkommandanten und Besatzungen gelegt, und es gab auch vielerorts Zivilbeamte, besonders als Aufsichtsorgane, die direkt in die Verwaltung der Einzelstadt integriert waren (Archonten, Episkopoi). Auch bemühten sich die Athener durch eine für alle Städte geltende Gesetzgebung (Tribute, einheitliche Münze, Beschränkung der Handelsfreiheit), die Individualität der Einzelstadt in einem zentralen Herrschaftswillen aufzuheben. Vielleicht noch wichtiger für den Wandel vom Bund zur Herrschaft wurde die Konzentration der Verfolgung politischer und teils auch rein krimineller Straftaten von Bürgern aller Bundesstädte bei den Geschworenengerichten in Athen, und natürlich waren athenische Gremien auch für alle Fragen der Tribute zuständig. Am wirksamsten aber erwiesen sich die indirekten Herrschaftsinstrumente und unter ihnen am wichtigsten die Anbindung der Bundesstadt an Athen durch bestimmte, den Interes-

sen Athens verpflichtete Personenkreise und durch die Ausrichtung der politischen Verfassung auf die Demokratie. Die Demokratie vor allem wurde zur Garantie der Bundestreue. Ihr stellte die unterlegene Partei, der in aller Regel die Bemittelteren angehörten, auf der Suche nach einer politischen Alternative

schon bald die Oligarchie, die sich dabei jetzt erst zu einem eigenen Verfassungstyp entwickelte, gegenüber und sah dann in Sparta den Verteidiger ihrer politischen Interessen. Verfassungspolitik und Auflenpolitik begannen sich auf diese Weise zunehmend in den Stádten zu verschránken und Athen und Sparta nicht nur für ein außenpolitisches, sondern zugleich für ein innenpolitisches

Programm zu stehen. Trotz der Waffenruhe von 446/45 waren weitere Auseinandersetzungen mit den Spartanern unvermeidbar. Der athenisch-spartanische Antagonismus, der bis in die späten sechziger Jahre hinein gar nicht denkbar gewesen war, hatte sich zu einem Strukturelement der griechischen Welt entwickelt. Die tiefere Ursache dafür lag selbstverstándlich in der Herausbildung des gewaltigen, alle bisherigen Ausmaße sprengenden Machtgebildes des Seebundes der Athener, das die bis dahin unangefochtene spartanische Suprematie unter den Griechen

gefährdete. Das Bewußtsein der damit verbundenen machtpolitischen Einen-



.

I. Die Entwicklung Athens ne Uo kratie

71

gung und der möglichen Gefahr brauchte aber Reibungsflächen, um die Veränderungen in der aktuellen Politik sichtbar zu machen, und deren gab es in der

Tat nun mehrere. Zum einen fühlte sich Korinth, das im Westen ausgedehnte

Macht- und Handelsinteressen hatte und die nach Athen stärkste Flotte besaß, durch die athenische Expansionspolitik gegen Ägina und die nördliche Peloponnes sowie durch eine athenische Westpolitik bedrängt, die sich 444/43 durch die Gründung einer „panhellenischen“ Kolonie Thurioi und durch Verträge mit Rhegion (Reggio di Calabria) in Unteritalien sowie mit Leontinoi auf Sizilien abzeichnete. Korinth war daher im Peloponnesischen Bund, in dem es ein sehr wichtiges Mitglied war, ein latent stets bereiter Vermittler antiathenischer Politik. Zu einer Verschárfung der Spannungen mit Sparta trug aber vor allem die Labilität des Athenischen Seebundes bei. Denn der Ausbau des Bundes zu einer Herrschaft brachte immer wieder einzelne Seebündner, wie 441-439 Samos,

zum Abfall und führte mit dem Abfall oder den Vorüberlegungen dazu zur Suche nach einem Bundesgenossen gegen Athen, der nach Lage der Dinge allein Sparta sein konnte. Schon 465 hatte sich Thasos an Sparta um Hilfe gewandt, damals vergebens. Jetzt mochten die Bündner, die von Athen loswollten, mit

mehr Aussicht auf Erfolg auf Sparta schauen. Die latente Spannung kam zur Explosion, als Athen, wenn auch zógernd, in den Konflikt Korinths mit seiner Tochterstadt Kerkyra um Epidamnos durch die Entsendung eines Beobachtungsgeschwaders eingriff (433) und in demselben Jahr von Poteidaia, die als Kolonie Korinths jáhrlich von Korinth entsandte Magistrate hatte, verlangte, diese zurückzuschicken. Als die Stadt nicht gehorchte, begannen die Athener mit der Belagerung (432). Schließlich wurde dem mit Korinth liierten Megara jeglicher Handel im Seebundsbereich verboten („megarisches Psephisma“). All das führte zum erneuten Ausbruch des Krieges mit Sparta (Frühjahr 431). Der

Krieg sollte bis 404/03 dauern und wurde der längste und folgenreichste Krieg der griechischen Geschichte. Er läßt sich in drei große Phasen einteilen, bildete aber nichtsdestoweniger, wie bereits Thukydides gesehen hat, eine Einheit. Der Peloponnesische Krieg (431-404 v. Chr.) In der ersten Kriegsphase, dem nach einem der beiden spartanischen Kónige sogenannten Archidamischen Krieg, suchten die Athener durch weite Seeoperationen um die Peloponnes (Phormion, 429; Demosthenes, 425; Laches, 427 nach

Sizilien) die Spartaner zu schwächen, die Spartaner die Athener durch Einfälle in das attische Land (451, 430, 428, 426, 425) auf die Knie zu zwingen. In eine

schwierige Lage gerieten die Spartaner durch die Einschließung und schliefliche Kapitulation von 300 Spartiaten auf der Insel Sphakteria/Pylos in der westlichen Peloponnes. Das eigentliche Verdienst an dem Unternehmen kam dem tüchtigen Feldherrn Demosthenes zu, doch war bei der Kapitulation Kleon, der nach dem Tod des Perikles einflufireichste Demagoge und Gegner jeglicher Friedenspolitik, Stratege. So schenkte man den friedensbereiten Spartanern wenig Beachtung, und erst der Zug des spartanischen Feldherrn Brasidas nach Norden in das thrakische Gebiet, eines der Machtzentren Athens, und die

Einnahme von Amphipolis durch ihn machte die um ihren Einfluß im Seebund

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

fürchtenden Athener friedensbereiter, und nachdem dann auch noch Kleon bei

einem Treffen in Thrakien gefallen war, bei dem übrigens ebenfalls Brasidas den

Tod fand, kam es auf Drängen von Nikias zum Abschluß eines fünfzigjährigen Friedens auf der Basis der gegenseitigen Rückgabe der Gefangenen und des Rückzuges aus den - von den Spartanern im Seebund, von den Athenern auf der Peloponnes - besetzten Gebieten (421, „Nikias-Frieden“).

Mit dem Frieden war kaum jemand zufrieden. Das zeigte sich schon darin, daß weder Sparta noch Athen alle Plätze, wie im Friedensvertrag vorgesehen,

räumten. Sparta behielt u.a. Amphipolis, Athen wich daraufhin nicht aus Kythera und Poteidaia. Manche Bundesgenossen, vor allem Korinth, waren über

den Frieden so aufgebracht, daß sie aus dem Peloponnesischen Bund austraten und mit Argos und den Städten der Chalkidike einen Sonderbund schlossen, dem Athen mit einem Defensivbündnis beitrat. Sparta machte sich indessen gegen diese Bedrohung durch eine energische militärische Aktion Luft, in der die vereinigten Truppen des Sonderbundes, darunter ein athenisches Korps, in einer gewaltigen Schlacht bei Mantineia geschlagen wurden (418). Damit war

der Sonderbund erledigt und Spartas Hoheit auf der Peloponnes wiederhergestellt.

In Athen suchte die Kriegspartei trotz dieser gespannten Lage, in der Sparta schon beinahe wieder Gegner war, nach neuen außenpolitischen Zielen. Man entdeckte Sizilien, wo der athenische Verbündete, Leontinoi, von Syrakus ein-

verleibt worden war und sich darauf Segesta hilfeflehend an die Athener gewandt hatte. Es gelang dem jungen Alkibiades, der aus vornehmem Hause stammte und von brennendem Ehrgeiz besessen war, den Widerstand des Nikias zu brechen und die Athener nicht nur zu der Entsendung eines Expeditionskorps dorthin zu überreden, sondern auch eine gigantische Flotte von 135 Trieren und über 30 000 Mann Soldaten und Ruderern auszurüsten. Sie stach 415 in See. Eine außenpolitische Zwangslage sucht man für dieses Unternehmen vergeblich. Ein Motiv dafür ist wohl auch nicht in einem Machtrausch der Athener, in dem keiner mehr Gefahr sah, zu suchen. Schließlich mußten die in

der Volksversammlung Abstimmenden das Unternehmen ja größtenteils selbst durchführen. Herrschaftswille hat ohne Zweifel mitgespielt, aber die Einsicht in die Gefährlichkeit des Unternehmens zeigt schon die Größe der Flotte, durch die man alles erreichen zu können schien. Nicht Blindheit, sondern die falsche

Einschätzung der Möglichkeiten brachte die Athener zu diesem Abenteuer und Alkibiades, der ohne Zweifel klarer sah als alle, dem das Unternehmen

vielleicht sogar geglückt wäre, dessen Ehrgeiz aber alle Bedenken unterdrückte und dessen Charme und Beredsamkeit die Volksversammlung unterlag. Das Unternehmen endete trotz mehrerer Flotten mit Ersatz in einer Katastrophe. Flotte und Heer wurden nach einer vergeblichen Belagerung des durch ein gigantisches Mauerwerk geschützten Syrakus vernichtend geschlagen (413). Wer nicht getötet wurde, schmachtete in den syrakusanischen Steinbrüchen. Die Feldherren Nikias und Demosthenes wurden hingerichtet. Alkibiades hatte an der Katastrophe übrigens keinen Anteil. Gegen ihn war nämlich schon bald nach Ankunft der Flotte in Sizilien wegen der Anschuldigung, die eleusinischen Mysterien durch Nachahmung in frevelhafter Weise verletzt zu haben, eine

L Die Entwicklung Athens zur Demokratie

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Eisangelie-Klage eingebracht und er nach Athen zurückberufen worden; auf der Rückfahrt hatte er dann entkommen und nach Sparta entweichen können. Nur sen persönliches Schicksal im Auge, wechselte er die Fronten und net den Spartanern zur Entsendung eines erfahrenen militärischen Beraters nach Syrakus. Die Spartaner folgten dem Rat und entsandten Gylippos, der an der athenischen Niederlage vor Syrakus dann erheblichen Anteil hatte. Mit Sparta war schon 414 der Krieg wieder ausgebrochen. Nach der sizilischen Katastrophe brach die athenische Herrschaft in der Ägäis weitgehend zusammen. Zahlreiche Bundesgenossen, darunter Chios, Mytilene und Milet,

waren schon 412 abgefallen. Dazu erwachte nun die Aktivitát der Perser, die durch die Satrapen Tissaphernes von Lydien und Pharnabazos von Phrygien Ihre alten Besitzungen zurückzugewinnen trachteten und den Spartanern sogar Hilfsgelder zahlten. Athen hatte dem nicht viel entgegenzusetzen. Abgesehen von den Verlusten an Menschen und Schiffen fehlte es an Geld, denn selbst von

den treu gebliebenen Bundesgenossen gingen die Tribute nicht oder nur schleppend ein. Man erhob im Seebund zusätzlich einen fünfprozentigen Zoll auf alle importierten und exportierten Waren. Die äußere Schwäche schlug auf den innenpolitischen Bereich um. Durch die Schaffung einer Art Notstandsbehörde von zehn „ersten Räten“ (Probuloi) mit Sondervollmachten, die vor allem den

Rat weitgehend ersetzen sollten, war die demokratische Verfassung bereits unterhohlt. Unter Führung von Antiphon, Peisandros, Theramenes und Phrynichos wurde schließlich 411 eine von einer Kommission ausgearbeitete neue Verfassung eingeführt, nach der nur noch 5 000 Athener politisches Recht haben

und diese von einem vierhundertkópfigen Rat, der mit praktisch unbeschránk-

ter Gewalt ausgerüstet war, regiert werden sollten. Das beschloR dann auch eine eingeschüchterte Volksversammlung (Juni 411). Gleichzeitig wurden natürlich

auch die Diáten abgeschafft. Athen war nun eine Oligarchie. Aber die in Samos liegende athenische Flotte unter Thrasybulos machte nicht mit, und auch der

äußere Erfolg blieb aus. Euböa, Byzanz und schließlich Thasos fielen noch 411 vom Seebund ab. So gaben die 400 Ratsmitglieder, die faktisch die Herren in Athen gewesen waren, auf und übergaben das Regiment den 5 000. Aber nachdem Thrasybulos Ende 411 zwei Seesiege bei Kynossema und Abydos und schließlich Alkibiades, der nun wieder die Seite gewechselt und sich bei der

Flotte eingefunden hatte, im Frühjahr 410 einen glänzenden Sieg über die spartanische Flotte bei Kyzikos erringen konnten - die Spartaner machten

damals sogar ein Friedensangebot, was in Athen Kleophon, der kommende Mann des Demos, verhinderte -, brach das oligarchische Regime zusammen (Julı 410).

Trotz der Seesiege Athens war die Lage der Stadt schwierig. An den Meerengen hatte man zwar wieder Fuß gefaßt und damit die Getreideroute vom

Schwarzen Meer nach Athen gesichert. Aber es fehlte an Menschen und an Geld. Es zeugt jedoch von der Stimmung eines Wiederaufbruchs nach der Überwindung des oligarchischen Staatsstreichs, daß man eine große Sammlung aller Gesetze in Gang brachte, die dann allerdings nach einigen Jahren im Sande verlief, und Kleophon für die mittellosen Bürger eine finanzielle Unterstützung (Diobelie) durchsetzte. 408 kehrte der an den Meerengen so erfolgreiche Alki-

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

biades im Triumphzug nach Athen zurück, wo er sogleich zum Strategen für 408/07 gewählt wurde. Als er jedoch 407 die Seeschlacht bei Notion verlor - die

Spartaner hatten inzwischen in Lysander einen fähigen Admiral gefunden -, setzte der launische Demos ihn wieder ab. Er zog sich auf seine Güter auf der thrakischen Chersones (Halbinsel Gallipoli) zurück und wurde 404 auf Betrei-

ben des Pharnabazos in Melissa/Phrygien ermordet. Noch einmal brachten die Athener eine große Flotte auf, mit der sie dann auch im Sommer 406 den Spartanern bei den Arginusen (Inselgruppe südóstlich von Mytilene/Lesbos) eine vernichtende Niederlage beibrachten. Doch auch die Verluste der Athener waren hoch, und vor allem konnten viele Schiffbrüchige wegen eines Sturmes nicht gerettet werden. Das aufgebrachte Volk verurteilte daraufhin die sechs Strategen, derer es habhaft wurde, zum Tode. War dieser letzte Seesieg von einem Justizmord überschattet, brachte das folgende Jahr 405 mit der Vernichtung der auf Strand gezogenen, einzigen den Athenern noch gebliebenen Flotte

und der Niederschlachtung der gesamten Mannschaften, darunter über 3 000 Athener, durch die Spartaner das Ende. Alle noch treu gebliebenen Seebündner aufter Samos fielen nun ab. Athen kapitulierte vor dem anrückenden Lysander. Die Vernichtung Athens, die vor allem Korinth wünschte, verhinderte er. Aber

die Stadt mußte außer zwölf Schiffen die gesamte Flotte ausliefern, alle Befestigungen schleifen und verlor sämtliche Außenbesitzungen. April 404 zog Lysander im Piräus ein. Im Juni gab auch Samos auf, deren Bürgern Athen noch 405 als Lohn für ihre Treue das athenische Bürgerrecht geschenkt hatte. Griechenland in der Zeit der Vorherrschaft von Sparta und T heben (404-360 v. Chr.)

Mit der vollstándigen Niederlage hatten die Athener nicht nur ihre Herrschaft und sogar jeden außenpolitischen Kontakt verloren, sondern waren selbst ihrer eigenen Stadt nicht mehr Herr. Auf die Akropolis legten die Spartaner eine Besatzung unter einem spartanischen Befehlshaber (Harmost), und es sollten

die Athener wieder unter einer „väterlichen Verfassung" (pätrios politeia), wie man vielleicht schon seit dem Umsturz von 411 das oligarchische Regime nannte, leben. Das Regiment rift dann aber die bis zur Einrichtung einer Verfassung eingesetzte vorläufige Kommission von 30 Minnern an sich, unter ihnen der schon vom Jahre 411 bekannte Theramenes und Kritias, der Onkel Platons. In einer wahrhaftigen Terrorherrschaft wurden viele Bürger hingerichtet, anderen,

unter ihnen Thrasybulos, gelang die Flucht. Die Stadt versank schließlich in einem Bürgerkrieg zwischen den Demokraten, die sich unter Thrasybulos zunächst in dem Kastell Phyle am Parnes, dann im Piräus festsetzten, und den

Oligarchen. Im Winter 404/03 brach die Herrschaft der Dreißig zusammen -

Kritias war im Kampf gefallen - und machte einer maßvolleren Herrschaft eines Zehnmännergremiums Platz. Als nichtsdestoweniger der Kampf weiterging, haben sich die Athener schließlich unter dem Druck Spartas zu einer Versöhnung verstanden. Es wurde eine allgemeine Amnestie erlassen, von der nur die »DreiRig“ und die „Zehn“ ausgenommen waren, und den Oligarchen in Eleusis

ein Sonderstaat innerhalb des athenischen Staates bewilligt, der noch bis 401/00

L Die Entwicklung Athens zur Demokratie

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Bestand hatte. Die Amnestie bewahrte Athen vor einem langen Bürgerkrieg und legte das Fundament für eine innere Erneuerung. Die demokratische Ordnung

wurde nun wieder eingeführt und zu ihrer gesetzlichen Untermauerung ein Ausschuß von 500 ,,Gesetzgebern“ (Nomotheten) gewählt, der alle unter der Demokratie geltenden Gesetze prüfen und Vorschläge für neue Gesetze beraten sollte. Aus dieser außerordentlichen Kommission ging dann bald das ordentliche Gesetzgebungsverfahren (Nomothesie) hervor, durch das künftig Gesetze in

einem übersichtlichen und vor Überraschungen gefeiten Rahmen beschlossen werden sollten. Die Demokratie, so zeigte sich jetzt, war in der Bevölkerung fest verankert; sie konnte selbst eine Katastrophe wie die vom Jahre 404/03 überstehen. Selbstverständlich wurden auch die Diáten wieder eingeführt. Obwohl

keine Beitráge von Bündnern mehr flossen, konnte die Stadt sie zahlen. Schon wenige Jahre nach 404/03 wurden sie sogar noch auf den Besuch der Volksver-

sammlung ausgedehnt, der zunáchst mit zwei, einige Jahre spáter sogar mit drei Obolen entlohnt wurde.

Wenn die Griechen geglaubt hatten, daß mit der Niederlage Athens sie nun frei sein würden, sahen sie sich sehr schnell getáuscht. An die Stelle der Athener rückten überall die Spartaner, die Besatzungen mit einem Statthalter (Harmost) in die Stádte legten. In Kleinasien suchten die Perser ihre verlorenen Positionen

zurückzugewinnen. Da die Spartaner schon von ihrer Zahl her gar nicht in der Lage waren, überall mit Heeresmacht präsent zu sein, glichen sie mit Brutalität ihr Unvermógen aus, konnten sich aber trotzdem an vielen Orten nicht durchsetzen. So wurde die allgemeine politische Lage immer undurchsichtiger, zer-

splitterten sich die Aktionen der Machtgruppen und Einzelstaaten und schien es letztlich auf einen Kampf aller gegen alle hinauszulaufen. Mit den Kriegen und inneren Unruhen wurde der Ruf nach einem allgemeinen Frieden (koiné eiréné) und nach Selbstbestimmung der einzelnen Stadt, für welche die Schlagworte der „Freiheit“ (nach außen, eleutherta) und „Autonomie“ (im Binnenbereich der Stadt, autonomía) gebräuchlich wurden, immer lauter.

Die Spartaner wurden als die maßgebliche Macht unter den Griechen schon sehr bald in die Rolle gedrángt, die einem Hegemon, der diesen Namen verdiente, zukam, nämlich für die Freiheit der kleinasiatischen Stádte von der Perser-

herrschaft zu sorgen. So der des Großkönigs, der dessen Tod (401) seit 400 Ionien, der nicht ohne

unterstützten sie denn auch Kyros, den jüngeren Bruden persischen Thron beanspruchte, und sandten nach auch Truppen, seit 399 sogar den Kónig Agesilaos nach Erfolg gegen die Perser operierte. Die Perser blieben

nicht untätig; sie suchten durch Hilfs- und Bestechungsgelder griechische Staaten vor allem Mittelgriechenlands für einen Kampf gegen Sparta zu gewinnen, und es kam dann in der Tat auch 395 zu einer Koalition von Theben, das den neu

organisierten Bóotischen Bund führte, mit Korinth, Argos und den Stádten der Chalkidike. Der nun ausbrechende Krieg mit Sparta in Mittelgriechenland („Korinthischer Krieg“, 395-387) und eine schwere Niederlage der spartanı-

schen Flotte bei Knidos gegen eine griechisch-phónizische Flotte unter dem Athener Konon (394) brachten auch den Athenern außenpolitischen Spielraum zurück. Die Stadt baute ihre Mauern wieder auf, schloß eine Reihe von Verträgen ab, u.a. mit Chios und Mytilene, und konnte die mit athenischen Kleruchen

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

besiedelten Inseln Lemnos, Imbros und Skyros zurückgewinnen. 392 näherte sich sogar Sparta den Athenern mit einem Friedensangebot, das den letzteren

ihre rung kam und

Errungenschaften belieR, von diesen aber wegen der spartanischen Fordenach Autonomie für alle griechischen Städte abgelehnt wurde. Erst 386 es durch die Vermittlung des Spartaners Antialkidas zum Frieden. Die Art Weise seines Zustandekommens zeigt die völlig veränderte weltpolitische

Lage: Der Wortlaut des Friedenswerkes wurde in einem von Susa „herabgesand-

ten“ Schreiben des Großkönigs Artaxerxes den in Sardes versammelten Abgesandten der Griechen verkündet, faktisch diktiert und dann in einem Kongreß in Sparta (386) von den teils widerstrebenden Staaten unter spartanischem Druck angenommen. In ihm wurden alle Städte Kleinasiens, ferner Klazomenai

und ganz Zypern dem Großkönig überlassen, alle anderen Städte für frei und autonom erklärt außer den drei Inseln, die Athen gehörten („Antialkidas-Friede“, „Königs-Friede“). Trotz seiner inneren Schwäche hatte sich das Perserreich

in der Ägäis wieder als die entscheidende Großmacht etabliert. waren durch die Perversion hegemonialer Großmachtpolitik der Spartaner und die dadurch erzeugte Fixierung aller Städte auf ihre keit in eine Unzahl kleinster politischer Einheiten aufgesplittert

Die Griechen Athener und Unabhängigund auf diese

Weise unfähig geworden, den Bemühungen des Großkönigs um die Wiederherstellung der persischen Suprematie in Kleinasien ernsthaften Widerstand entge-

genzusetzen. Durch den ,,Kónigs-Frieden" war die spartanische Hegemonie noch einmal

bekräftigt. Sparta teilte sein Gebiet und das seiner Bundesgenossen in zehn

Militärkreise, von denen allein sieben auf die Peloponnes entfielen, und zog aus diesen feste militärische Kontingente. Die Athener hatten bei den Griechen der Ägäis inzwischen wieder größeres Vertrauen gefunden. Nach einer Reihe von Einzelverträgen erließen sie dann einen förmlichen Aufruf zum Beitritt zu einem neuen Seebund auf der Basis dieser Einzelverträge (377). Tatsächlich

schlossen sich nicht wenige an (die Zahl der Bundesmitglieder stieg schließlich bis auf 70), und Athen wurde der Führer eines neuen, des „Zweiten Athenischen

Seebundes". Doch hatten die Bundesgenossen für andere Bedingungen gesorgt: Es wurden ausdrücklich die Freiheit und Autonomie aller Bundesmitglieder anerkannt, und die Bundesversammlung (Synhedrion) sollte an allen Entschei-

dungen beteiligt sein. Die athenische Suprematie zeigte sich aber darin, daß die athenische Volksversammlung jedem Beschluß der Bundesversammlung zustimmen mußte, die Athener den Oberbefehl hatten und der Tagungsort Athen war. Es wurden selbstverstándlich auch wieder Beitragszahlungen geleistet, die jedoch nun Syntaxeis („Beiträge“), nicht mehr Phoros hießen, was mittlerweile soviel wie „Tribut“ bedeutete. Schon 376 zeigte der neue Bund seine Präsenz mit der Seeschlacht in der Straße zwischen Naxos und Paros, in der Chabrias die

spartanische Flotte schlug. Aber nicht die Athener, die Thebaner wurden nach dem Kônigsfrieden der eigentliche Gegenspieler der Spartaner. Die Thebaner bildeten durch ihre Vor-

machtstellung im Bóotischen Bund, der eine auch schon zahlenmäßig bedeutende militärische Basis besaß, und durch die glänzende militärische Begabung

ihrer leitenden Mánner in der Tat eine ernste Gefahr für Sparta. Daneben erhob

l. Die Entwicklung Athens τοῦ

Demokratie

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sich nach dem Niedergang der alten Mächte eine weitere bisherige Mittelmacht, nämlich Jason von Pherai, der seit 374 die verschiedenen Herrschaften Thessaliens mit ihren noch unerschöpften militärischen Reserven vor allem an Rei-

tern und etliche Nachbarvölker unter seiner Herrschaft geeint hatte, doch wurde er vor einem wirksamen Eingreifen in Mittelgriechenland ermordet (370). Die Thebaner, seit der Besetzung.der thebanischen Burg, der Kadmeia,

durch einen spartanischen Handstreich (382) von unversöhnlichem Haß auf die

Spartaner erfüllt und nach Vertreibung der spartanischen Besatzung (379) wieder im Besitz ihrer Handlungsfähigkeit, zogen schließlich nach vergeblichen

Friedenskongressen (375/74, 371) unter ihrem genialen Feldherrn Epameinondas gegen die Spartaner zu Felde und schlugen sie durch die Taktik der „schiefen Schlachtordnung" bei Leuktra. In ihr wurde der gesamte rechte Flügel der

Spartaner vernichtet; fast 400 Spartiaten blieben auf dem Schlachtfeld (371). Diesen Verlust hat Sparta niemals verwunden; es hatte mit Leuktra seine hegemoniale Stellung für immer verloren und spielte künftig nur als Macht der Peloponnes noch eine Rolle. Als Epameinondas dann 369 in die Peloponnes einrückte und den Messeniern zu einem eigenen Gemeinwesen verhalf, verlor

Sparta auch noch den grófiten Teil seiner ókonomischen Ressourcen, auf denen die Unabhängigkeit des Soldatenlebens eines Spartiaten beruhte. Die Thebaner konnten sich nun in der Nachfolge der Spartaner als Hegemon Griechenlands

fühlen, und in der Tat traten sie gegenüber dem Großkönig in Susa auch so auf (367). Epameinondas zog insgesamt viermal in die Peloponnes, fiel dann aber in der siegreichen Schlacht von Mantineia (362). Mit ihm verloren die Thebaner mehr als nur ihren Feldherrn. Unter Ausnutzung des politischen Vakuums vermochten nun die Athener ihr Einflußgebiet zu erweitern. In Timotheos, dem Sohn Konons, hatten sie auch einen fähigen Admiral von unbeugsamem Willen

gefunden, der in zahlreichen Unternehmungen zwischen 366 und 360/59 in Westkleinasien, an den Meerengen und im thrakischen Raum den Athenern viele wichtige Positionen zurückgewann, insbesondere 365 nach langer Belage-

rung Samos dem Großkönig wegnahm, das mit zahlreichen athenischen Kleruchen besiedelt wurde. Atben in der Zeit der makedonischen Suprematie (359-322 v. Chr.) Athens neu gewonnene Stellung erhielt einen schweren Schlag, als sich einige wichtige Bundesgenossen, allen voran Chios, Byzanz und Rhodos, zu einem

Sonderbund zusammenschlossen und ihre Bindung zum Athenischen Seebund lösten. Vergeblich bemühte sich Athen, sie mit Gewalt im Bund zu halten („Bundesgenossenkrieg“, 357-355). Als einige Jahre darauf auch die lesbischen

Stádte und Eubóa austraten, waren Athen nur noch die Kykladen und nebst einigen kleineren Inseln mehrere feste Plätze an der thrakischen Küste sowie seine alten Klerucheninseln Lemnos, Imbros, Skyros und das auch von Kleru-

chen besiedelte Samos geblieben. Mit dem athenischen Seereich war es vorbei. Die Schwáche Athens war um so bedenklicher, als der Makedonenkónig Philipp II. (359-336) nach Konsolidierung des Kónigshauses und Sicherung der makedonischen Nordgrenzen gegen die unruhigen Illyrer sich anschickte, die Küste der

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

nördlichen Ägäis zu besetzen. Als erstes nahm er das Athen versprochene

Amphipolis (357), darauf Pydna ein und bemächtigte sich schließlich des durch seinen Goldreichtum berühmten Pangaion-Gebirges, wo er die griechische Stadt Krenides mit Makedonen neu besiedelte und ihr den Namen Philippoi gab (noch 357). Als dann die Phoker das Delphische Heiligtum besetzten und sich

mit Hilfe der Tempelschätze eine große Söldnerarmee schufen, fand Philipp Gelegenheit zu einem Ausgreifen auch nach Mittelgriechenland. Zunächst warf

er die Phoker, die sich in thessalische Händel eingemischt hatten, dort wieder hinaus und ließ sich, der anfangs nur der vom Bund (koinón) der Thessaler gewählte Feldherr war, spáter sogar zum obersten Magistrat der Thessaler (ärchön) wählen (344); seitdem sind die thessalischen Landschaften bis zur Nie-

derlage Philipps V. gegen die Rómer bei Kynoskephalai (197) in Personalunion mit dem makedonischen Kónigtum verbunden geblieben. Ein Versuch Philipps, die Gunst des Augenblicks nutzend, in Mittelgriechenland einzudringen, scheiterte; die Phoker und ihre Bundesgenossen, darunter ein starkes athenisches Kontingent, hatten den Thermopylenpaß gesperrt (352). So wandte sich Philipp wieder der nordägäischen Küste zu. Steckte die athenische Außenpolitik mit dem Auftreten Philipps in einer schweren Krise, entwickelten sich die inneren Verhältnisse erfreulicher. In Eu-

bulos erwuchs den Athenern nach dem unglücklichen Ausgang des „Bundesgenossenkrieges“, der die Kassen völlig erschöpft hatte, ein fähiger Staatsmann, dem es in kurzer Zeit gelang, die desolate Finanzlage zu konsolidieren. Eubulos schuf eine zentrale Kasse, das Theorikon, dessen Uberschüsse, wenn sie nicht für militärische Aktionen verwendet werden mußten, für die Verteilung an die

Besucher der Feste (Schaugelder, Theorika) und später auch für andere wichtige Aufgaben zur Verfügung standen. Eubulos versuchte auf diese Weise auch, die

Athener für eine Friedenspolitik zu motivieren. Tatsächlich brachte er auf Dauer Ordnung in die Finanzen der Stadt, zumal er die Kasse einer besonderen, Jährlich gewählten Behörde unterstellte, die er wohl zunächst selbst leitete und dann mittels Verbindungsleuten lange Jahre beherrschte (354/53-339/38). Ei-

nige Jahre nach dem Ende des „Bundesgenossenkrieges“ wurden die Athener

unter Chares auch wieder am Hellespont aktıv (352), als Philipp plötzlich die thrakischen Fürstentümer überrannte, sie zu Bündnisverträgen zwang und damit an der Küste der Propontis (Marmara-Meer) erschien. Nicht genug damit

wandte er sich dann gegen den Chalkidischen Stádtebund, eroberte dort Stádte und belagerte das zu dieser Zeit mit Athen verbündete Olynth. Demosthenes entwickelte sich in diesen Jahren zum kompromißlosen Gegner Philipps und hielt u.a. drei Reden für Olynth („Olynthische Reden“). Doch die athenische

Hilfe unter Chares und Charidemos kam zu spät. 348 eroberte und zerstörte

Philipp die Stadt. Die Athener sahen sich vor vollendete Tatsachen gestellt und waren nun friedensbereit. Eine Gesandtschaft, unter der sich neben Philokrates

und dem Redner Aischines auch Demosthenes befand, ging nach Pella an den

Hof Philipps. Aischines kam als Makedonenfreund zurück, Demosthenes blieb unversöhnlich. Die athenische Volksversammlung nahm 346 den auf der Basıs

der Wahrung des gegenseitigen Besitzstandes ausgehandelten Frieden an („Philokrates-Friede“). Philipp zog darauf nach Mittelgriechenland gegen die

De Ensiklung

Athens

Poker, die sofort

zur

jeden

Demokratie

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Widerstand aufgaben, und ließ sich in Delphi die

beiden Summen der Phoker im Amphiktyonenrat übertragen. Mochten die Phoker auch empelräuber sein, waren sie doch Athens Verbündete, und es kam eher einer Täuschung gleich, wenn Philipp sie schnell noch vor der Beeidigung des Fnedens in Pella und nachdem die Athener ihn bereits beschworen hatten,

vom Fneden ausnahm. Die Rechnung Philipps ging auf. Für die Phoker wollten die Athener den Krieg mit ihm nicht erneuern, sogar Demosthenes sprach für den Frieden (Rede „Über den Frieden“, 346). Damit hatte Philipp im Herzen Griechenlands und an der Propontis zugleich festen Fuß gefaßt. Der Makedone bedrohte nicht nur die Athener und deren Interessengebiet in der Nordägäis und an den Meerengen, obwohl er dort ohne Frage die größten Aktivitäten entfaltete. Alle Griechen mußten in ihm den neuen Tyrannen erblicken. Darauf die Griechen unaufhörlich hingewiesen zu haben, ist das Verdienst des Demosthenes, und er ließ auch nach dem Philokrates-Frieden nicht

nach, die griechischen Städte aufzurütteln. Davon zeugen sowohl die von ihm 344 wegen der makedonischen Einmischung auf der Peloponnes gehaltene „Zweite Rede gegen Philipp“ als auch die 341 wegen Händel mit Philipp auf der thrakischen Chersones gehaltene „Rede über die Angelegenheiten auf der Cher-

sones“ und die „Dritte Rede gegen Philipp“. Vor allem die letzte Rede war ein Aufruf an die Hellenen zum Krieg und zur Kriegshilfe gegen den König. Die

Reaktion war nur gering, obwohl der aggressive Expansionsdrang Philipps sich noch steigerte. Dieser hatte sıch jetzt allerdings wieder in den Norden verlagert. 342 jagte der König die thrakischen Fürsten gänzlich aus dem Lande und zog deren Herrschaften als makedonisches Untertanengebiet unter einem Statthalter ein. Die Belagerung von Perinthos an der Propontis 341/40 machte dann für viele Griechen aber das Maß voll. Demosthenes brachte einen hellenischen Bund unter Athens Führung zustande, dem u.a. Euböa und Korinth, aber nicht

die Böoter angehörten, und 340 wurden die Kriegshandlungen eröffnet. Trotz eines gewaltigen Belagerungsheeres gelang Philipp nicht die Eroberung von Perinthos, was nicht zuletzt auch der athenischen Hilfe zu verdanken war. Daraufhin brach er das Unternehmen ab, rückte zur Sicherung seiner Nord-

grenzen zunächst gegen die Skythen an die Donau (339) und marschierte dann, einen „Heiligen Krieg“ gegen die Lokrer von Amphissa zum Anlaß nehmend, noch im Herbst 339 in Mittelgriechenland ein, wo er unter Umgehung des Thermopylenpasses in Elateia/Böotien sich niederließ. Erst jetzt fanden auch die Böoter zu Athen und seinen Verbündeten. Im Sommer des nächsten Jahres stellten sich die Griechen, vornehmlich Athener und Thebaner, bei Chaironeia

dem vorrückenden Philipp entgegen. Sie wurden völlig geschlagen; den entscheidenden Stoß gegen den rechten Flügel, wo die Böoter standen, führte

Philipps Sohn, der damals gerade 18 Jahre alte Alexander. Die Schlacht bedeutet das Ende einer von äußeren Mächten unabhängigen griechischen Geschichte. Philipp, der bereits seinen Perserfeldzug vorbereitete, zeigte sich nach seinem

Sieg maßvoll. Theben mußte zwar eine Besatzung aufnehmen, und Philipp ließ seine Gegner dort beseitigen, ferner hatte Athen die thrakische Chersones an

Philipp abzutreten und seinen Seebund aufzulösen, doch blieb die Stadt selbst ungeschoren und durfte sogar seine Kleruchien, darunter auch Samos, behalten.

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Aischines, Demades und Phokion unterstützten in Athen den Frieden; Demosthenes, der zunächst aus der Stadt gewichen war, kam zurück und hielt die

Grabrede für die bei Chaironeia gefallenen Athener (338). Philipp war unterdessen in die Peloponnes gerückt, wo allein die Spartaner ihn abwiesen, und rief dann noch im Winter 338 Gesandte aller griechischen Staaten nach Korinth, die er einen gewaltigen hellenischen Bund zur Wahrung des allgemeinen Friedens zu Lande und auf den Meeren und zur Aufrechterhaltung der inneren Selbständigkeit (Autonomie) gründen ließ. Dem Bund („Korinthischer Bund"), der ei-

nen Exekutivrat (Synhedrion) besaß, gehörte der Makedonenkönig selbst nicht

an. Mit diesem schloß vielmehr der Bund einen Bündnisvertrag, in dem Philipp die Hegemonie auf Lebenszeit erhielt. Kurz danach, ım Frühjahr 337, stellte

Philipp beim Bund den Antrag auf den Krieg gegen die Perser wegen der im Jahre 480 (!) von Xerxes zerstörten Tempel und ließ sich selbst zum unabhängigen Strategen dieses Krieges (stratégós autokrätôr) wählen. Die Griechen hatten ihren Perserkrieg unter Führung Philipps, wie ihn sich Isokrates in seiner Flugschrift „Philippos“ an den König, verfaßt nach dem ,,Philokrates-Frieden' 346, gefordert hatte, doch waren die Umstände anders, als es sich der vertráumte

Publizist wohl vorgestellt hatte. Bereits Frühjahr 336 überschritt eine makedonische Vorhut unter Parmenion und Attalos den Hellespont. Nur wenige Monate spáter wurde jedoch Philipp, er war noch in der alten makedonischen Kónigsstadt Aigai, ermordet - aus Privatrache, wie es heißt, doch gehört die Sache zu

den ungeklärten Mordfällen der Weltgeschichte. Der Nachfolger Philipps, sein und der Olympias Sohn Alexander, rückte zunächst in Griechenland reibungslos in die Stelle seines Vaters (Thessalien,

Delphi, Korinth). Als er aber zur Sicherung der makedonischen Nordflanke ın scheinbar unerreichbare Ferne entrückt war und in Griechenland das Gerücht aufkam, er 561 dort umgekommen, gärte es in vielen Städten, vor allem in Theben, aber auch in Athen. Alexander eilte darauf mit seinem Heer nach

Mittelgriechenland, schlug die Thebaner, ließ Theben niederbrennen und die Bevölkerung in die Sklaverei verkaufen. Die Athener, die zwar nicht gegen ıhn ausgerückt waren, aber doch aufgemuckt hatten, blieben erneut ungeschoren (335). Frühjahr 334 setzte Alexander dann über den Hellespont, um den von seinem Vater begonnenen Krieg gegen die Perser fortzusetzen. Was er dann daraus machte, die Vernichtung des Perserreiches, konnte im Jahre 334 niemand

ahnen. Er entschwand jedenfalls sehr schnell für ein Jahrzehnt den Blicken der

Griechen. Er ließ zum Schutze Makedoniens und zur Beaufsichtigung der Griechen seinen tüchtigen Feldherrn Antipatros mit einem Viertel seines Heeres zurück. Antipatros erhielt den neuartigen Titel eines „Strategen von Europa“. In der Zeit von Alexanders Abwesenheit erlebten die Griechen eine Friedensperiode, die sie so lange ersehnt und so oft durch Vertragswerke herbeizuzwingen gesucht hatten. Aber es war eher eine Lähmung nach dem Schock der überfallartigen Feldzüge Philipps und Alexanders als wirklicher Friede. Die Ruhe unterbrach nur ein Lärm von der Peloponnes, wo die Spartaner, die alleın

dem Korinthischen Bund nicht angehörten, ein Stück ihrer alten Größe wiederzuerlangen suchten. Antipatros wurde ihrer schnell Herr (331). Athen erlebte damals trotz der Einengung der äußeren Aktivität eine letzte Blüte der Demo-

|. Die Entwicklung Athens zur Demokratie

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kratie. In der Leitung des Finanzwesens, die auch nach dem Abtritt des Eubulos weiter zentralisiert war, rückte der vornehme und hochgebildete Lykurgos, der auch unter die zehn bedeutendsten attischen Redner gezählt wurde, ein, und er

hat wie sein Vorgänger die städtischen Finanzen stabil gehalten, die Einnahmen sogar noch vermehrt. Er leitete den Finanzsektor zwölf Jahre (338/37-327/26), zunächst direkt über das nunmehr vierjährige Schatzamt, dann über politische Freunde, und er sorgte in dieser Zeit nicht nur für die Erneuerung vieler kultischer Werke und Geräte und organisierte ein großes Bauprogramm - u.a. betrieb er den Ausbau des Dionysos-Theaters und den Neubau des Stadions jenseits des [lissos, das aber erst Herodes Atticus in der Mitte des 2. Jahrhunderts n.Chr. als Marmorbau fertigstellte -, sondern er bemühte sich in den schweren Jahren nach

Chaironeia vor allem auch um die Wehrtüchtigkeit der Stadt. Die Flotte gelangte damals auf die vorher nie erreichte Zahl von über 350 Trieren. In seiner Zeit wurden auch die Festungswerke der Stadt restauriert und vor allem die Ephebie reorganisiert oder damals erst wirklich als eine Ausbildungstruppe geschaffen. Die Wiederaufrüstung der Stadt nach Chaironeia, die materielle wie auch die geistig-moralische, lag ihm als erste Aufgabe am Herzen, und Demosthenes hat ihn darin unterstützt. Lykurgos war ein Mann von großer Rechtschaffenheit und von nicht minder großem Patriotismus; er gehörte zu den

unerbittlichen Gegnern der Makedonen. Es blieb ihm erspart, das Ende der Demokratie zu erleben (gest. 324). Die politischen Auseinandersetzungen dieser Jahre waren naturgemäß geprägt von der Frage nach der richtigen Makedonenpolitik vor und nach Chaironeia, und sie entwickelten sich zu einem regulären

Prozeßkrieg, dessen Höhepunkt ohne Zweifel der Streit zwischen Aischines

und Demosthenes bildete und in dem der letztere verdientermaßen gewann (330). Sie wurden weiter belegt durch das Auftreten des Schatzmeisters Alexanders, Harpalos, in Athen, der eine gewaltige Summe unterschlagener Gelder

mitbrachte und zur Erreichung seiner politischen Absichten athenische Politiker reihenweise bestach (324). Auch Demosthenes wurde in die Bestechungsaf-

fären verwickelt und wich aus Athen.

Nach dem Tode Alexanders, noch bevor seine Generale um die Nachfolge

kämpften, ergriff ganz Griechenland große Unruhe; man glaubte wieder die Freiheit zu sehen. In Athen, wo Hypereides jetzt der Mann war, wurde der Korinthische Bund aufgekündigt und unter rung ein neuer Hellenenbund begründet. Dem Bundesheer gelang

am Horizont maßgebliche Athens Fühes sogar, den

makedonischen „Statthalter“ Antipatros in Lamia einzuschließen („Lamischer

Krieg“, 323/22). Aber dessen Admiral Kleitos besiegte bei Amorgos die athenische Flotte (322), und als dann auch noch Antipatros sich aus der Einschließung befreien und das griechische Heer bei Krannon besiegen konnte, war es mit dem Traum von der Freiheit vorbei. Antipatros rückte vor Athen, das kampflos

kapitulierte. Eine milde Behandlung durften die Athener jetzt nicht mehr erwarten. Die Stadt mußte eine Besatzung in der Munychia/Piräus aufnehmen und auf die Demokratie verzichten. Das politische Recht wurde von einem Zensus abhängig gemacht; Athen war, mochten auch die Institutionen den gleichen Namen wie in demokratischer Zeit behalten, seitdem eine Oligarchie. Die makedonenfeindlichen Politiker wurden zum Tode verurteilt; Hypereides

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

sofort hingerichtet. Demosthenes, der auf die Insel Kalaureia vor der Südostküste der Argolis geflüchtet war, gab sich dort im Poseidon-Tempel selbst den Tod.

II. Soziale und wirtschaftliche Grundlagen Athens zur Zeit der Demokratie I. Die soziale Schichtung der Bevölkerung Attika, dieser große, in die Ägäis hineinragende östliche Zipfel Mittelgriechenlands, ist eine geschlossene Landschaft, deren Grenzen nach Osten, Süden und

Westen das Meer, nach Norden die Gebirgszüge des Kithairon und Parnes bilden. Der kleine Landstrich um Oropos im Norden, der jenseits des Parnes liegt, und die Insel Salamis gehórten bezeichnenderweise niemals im engeren Sinne zu Attika; Oropos war strittiger Besitz und ging spáter verloren. Nicht zuletzt auf Grund dieser landschaftlichen Geschlossenheit ist die politische Einheit Attikas niemals umstritten gewesen und hat sich die Stadt trotz mächtiger Grenznachbarn - die Insel Ágina, Megara auf dem Isthmos, die zeitweise in einem máchtigen Bund zusammengeschlossenen bóotischen Stádte sowie Chal-

kis und Eretria auf Eubóa - stets behaupten kónnen. Die Stadt Athen oder, wie man damals sagte, „die Athener' waren mithin stets identisch mit dem Gebiet von Attika, der Begriff „Athen“ oder „die Athener“ die politische Bezeichnung

für die Landschaft.

Athen/Attika umfaßte ohne Oropos 2 250 qkm (Oropos ca. 100 qkm; zum Vergleich: das Saarland hat 2 567 qkm; Kreta ist über dreimal so groß: 8 331 qkm) und war daher vom Umfang her die größte griechische Polis - wenn wir von Sparta absehen, das wegen seiner einmaligen politischen Struktur nur bedingt zum Vergleich herangezogen werden kann (Lakonien und Messenien waren zusammen etwa dreimal so groß wie Attika; doch eignete sich nur ein Bruchteil des Landes zum Anbau von Früchten). Die anderen Stádte, die zugleich eine Landschaft bildeten, waren entweder kleiner, wie Argos und die

Doris, oder sie zerfielen in mehrere politische Einheiten, wie Thessalien.

Attika war in sich wiederum reich gegliedert. Zum Teil recht schroffe Gebirgsmassive - der Hymettos steigt auf 1 027 m, das Pentelikon auf 1 109 m und das Parnes- Massiv im Norden gar auf 1 412 m an - trennen fruchtbare und teils flache, teils auch leicht hügelige Ebenen voneinander. Siedlungszentren waren die vier größeren Ebenen, nämlich die Eleusinische (Thriasische) Ebene um die

Stadt Eleusis, der Salamis vorgelagert ist, das Kephisos-Tal um Athen/Piräus,

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

das die Athener als „die Ebene“ schlechthin (to pedion) bezeichneten (mit ca. 200

qkm die größte Ebene), ferner das Mesogeion, d. h. Mittelland, das im Osten zwischen dem Hymettos und den Erhebungen der Küste liegt, und schließlich die kleine Küstenebene um Marathon im Norden. Zu den ebenen Gebieten sind auch viele Landstriche der Küste zu zählen, die unter dem Namen

Paralia

zusammengefaßt wurden. Obwohl die Binnengliederung nicht unerheblich war - die Eleusinische Ebene war z. B. von Gebirgen umgeben, das Mesogeion mit dem zentralen Kephisos-Tal nur durch den verhältnismäßig schmalen Einschnitt zwischen Hymettos und Pentelikon bei Pallene verbunden -, wissen wir

von keinen politischen Sonderentwicklungen. Andererseits hat sie die Bedingung für das zähe Festhalten an lokalen Traditionen geschaffen und auch insofern in die Politik der Stadt hineingewirkt, als der Adel selbst in der Zeit der entwickelten Demokratie seinen lokalen Einfluf bis zu einem nicht geringen Grade aufrechterhalten konnte. Die absolute Zahl der Bevólkerung Attikas ist für keine Periode des antiken Athen auf uns gekommen. Wir besitzen lediglich für das 5. und 4. Jahrhundert einigermaßen verläßliche Angaben über die wehrfähigen Bürger Athens und müssen alles übrige aus einer großen Anzahl von Einzelinformationen und mit Hilfe von Kombinationen, Vergleichszahlen und Wahrscheinlichkeitsannahmen, welche die Ergebnisse stark belasten, rekonstruieren. Die Nachrichten über die Anzahl der Wehrfähigen entstammen meist der Kriegsgeschichte, die den Historikern oft Gelegenheit gibt, Angaben über Truppenstárken zu machen. In der Mitte des 5. Jahrhunderts hatte Athen danach zwischen 30 000 und 50 000 wehrfähige Bürger; in der Zeit der großen Perserschlachten dürften es kaum mehr als 30 000 gewesen sein, vor Ausbruch des Peloponnesischen Krieges etwas mehr. In diesem Krieg verloren die Athener weit über die Hälfte, nach pessimistischer Schátzung über 2/3 ihrer Wehrfáhigen. Von dem Tiefstand im Jahre 404 läßt sich bis zum Ende des 4. Jahrhunderts wieder eine Aufwärtsentwicklung der Bevólkerungszahlen feststellen. Aristophanes spricht in seiner »Weibervolksversammlung"

(,Ekklesiazusen",

392

aufgeführt)

wohl

etwas

übertreibend sogar von wieder über 30 000 Bürgern. Im ganzen gesehen hat sich Athen von den Verlusten des Großen Krieges aber niemals erholt. Unter den

Wehrfähigen bildeten die Schwerbewaffneten (Hopliten), die wegen der Selbstausrüstung Vermögen haben mußten und also den drei Zensusklassen angehór-

ten, eine besondere Gruppe. Athen dürfte um 480 etwa 10 000-15 000, im Jahre 432, also vor Ausbruch des Peloponnesischen Krieges, hóchstens 20 000 Hopliten besessen haben; am Ende des Krieges ist diese Zahl auf unter 10 000 gesunken. Die nicht in der Phalanx dienenden Athener kamen für den Dienst in den attischen Grenzfestungen und auf der Mauer, für den auch die Rekruten und die älteren Jahrgänge der Hopliten herangezogen wurden, sowie für den Ruderdienst in der Flotte in Betracht. Man sieht, daf die Flotte, die für jedes Schiff 170

Ruderer benótigte, zur Bemannung der Schiffe nicht nur Athener einberufen konnte, sondern auf andere Bevölkerungskreise und auf Ausländer angewiesen

war.

Es ist schwer, aus diesen Angaben auf die Zahl der bürgerlichen Gesamtbevölkerung zu schließen, da sich die Zahl der Frauen, Kinder und Alten wegen

II. Soziale und wirtschaftliche Grundlagen Athens

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des Mangels geeigneter Angaben nur aus einer Multiplikation mit der Zahl der Wehrfähigen errechnen läßt. Die meisten Forscher verwenden hier den Multiplikator 3 (Ehemann, Ehefrau, ein Kind). Danach hätte Athen in sei-

ner besten Zeit, also in den vierziger und dreißiger Jahren des 5. Jahrhunderts, eine bürgerliche Bevölkerung von 100 000-120 000, höchstens 150 000 Personen gehabt. Noch schwieriger ist es, die Zahl der Metóken, also der in Attika fest ansässigen Fremden, zu bestimmen, obwohl auch für sie die Aushebungszahlen der

wehrdienstleistenden Personen dieser Gruppe etwas weiterhelfen. Die meisten Schätzungen schwanken zwischen 9 000-12 000, die gesamte Metókenbevólkerung entsprechend zwischen 25 000-35 000 Personen. Die größte Unsicherheit besteht in der Berechnung der Anzahl der Sklaven. Denn es gibt keine verläßlichen Angaben darüber, und alle Berechnungen hängen davon ab, wie viele Sklaven man für die einzelnen Wirtschaftsbereiche ansetzt. Als sich in der letzten Phase des Peloponnesischen Krieges die Spartaner mitten in Attika festsetzten, sollen 20 000 Sklaven weggelaufen sein. Wo waren sie tätig gewesen, in der Landwirtschaft, im Silberbergbau, in Handwerksbetrieben, im Hause oder wie viele jeweils in diesen Arbeitsbereichen, und woher

hatte unser Informant, Thukydides, überhaupt diese Zahl? Es ist nicht zu verkennen, daß manche Antworten von dem Bild, das sich der jeweilige Betrachter

von dem Stand der wirtschaftlichen Entwicklung Athens gemacht hat, und bisweilen auch von deutlich ideologischen Prämissen abhängen. Ein Unsicherheitsfaktor liegt für alle Berechnungen in der mangelnden familiären Bindung des Sklaven, der oft, aber nicht immer, als reine Arbeitskraft erworben und ohne

Familie ist. Gewisse Angaben über den Gesamtbedarf Attikas an Getreide legen es nahe, auch für die Zeit der stärksten Bevölkerung keinesfalls über eine Zahl von 80 000-120 000 Sklaven hinauszugehen. Aber gerade bei dieser Bevólkerungsgruppe müssen wir auch mit starken, von der jeweiligen politischen und wirtschaftlichen Lage abhángigen Schwankungen rechnen. Die Gesamtzahl aller in Attika wohnenden Menschen hat nach den obigen

Ausführungen auf dem Hóhepunkt Athens Mitte des 5. Jahrhunderts etwa eine

viertel Million betragen; in den Perserkriegen lag die Zahl deutlich niedriger, am Ende des Peloponnesischen Krieges dürfte sie weniger als die Hälfte betragen haben, um dann im 4. Jahrhundert wieder anzusteigen. Ein beträchtlicher Teil dieser Menschen lebte im Kephisos-Tal, vor allem in Athen und im Piráus, die

noch nicht wie heute zu einer einzigen Siedlung zusammengewachsen waren. Da sich das blühende Handwerk, insbesondere das Tópferhandwerk, und das

Handelsleben weitgehend in diesen Stádten konzentrierten, ferner viele Wohlhabende, auch wenn sie in einem ferner liegenden Demos beheimatet waren, doch in einer der beiden Städte ein Haus besaßen, lebten hier nicht nur über-

durchschnittlich viele Bürger, sondern vor allem die Masse der Metóken, die in Handel und Handwerk arbeiteten, und viele Sklaven, die im Haushalt und in

Manufakturen beschäftigt waren. Trotz alledem bewahrte das übrige Attika gegenüber Athen/Piráus seinen Einfluß, und da es ein bäuerliches, durch den

Kleinbauern geprágtes Land war und blieb, bildete es immer ein Gegengewicht,

das Stadt und Land in der Balance hielt.

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Wenn im folgenden die einzelnen gesellschaftlichen Gruppen noch etwas näher besprochen werden sollen, genügen für die Gruppe der Bürger wenige Bemerkungen, da sie als die tragende Gruppe der Stadt in den anschließenden Kapiteln ausführlich behandelt werden wird. Hier sei nur soviel gesagt, daß unter den Bürgern alle diejenigen freien, in Attika wohnhaften Menschen zu verstehen sind, die politische Rechte besaßen und danach Politen genannt wurden. Von ihnen waren zunächst nicht alle in gleicher Weise am politischen Leben beteihgt. Das passive Wahlrecht besaßen durch Solon nur die Schwerbewaffneten, die durch eine Vermögensgrenze, die zum Dienst in der Phalanx berechtigte und verpflichtete, von den anderen Bürgern abgegrenzt waren. Auch die Bürger mit geringem oder gar keinem Vermögen dürften zwar in der Volksversammlung gesessen und abgestimmt haben, doch kam ihnen, welche die Politik nicht als Hopliten bewaffnet durchsetzten, ohne Zweifel ein geringeres Gewicht zu. Aktiv-Bürger waren demnach damals nur die Angehörigen der drei Steuerklassen der Pentakosiomédimnoi (die „Fünfhundertscheffler“, das heißt die, welche 500 Scheffel Ertrag nachweisen konnten), der Hippeis („Reiter“, 300 Scheffel) und der Zeugiten (von zygón, „Joch“; der Begriff bezieht sich wahrscheinlich auf

die im Glied, zygön, der Phalanx stehenden Hopliten, nach anderen auf die Bauern, die ein Joch Ochsen besaßen und damit zum Hoplitendienst befähigt waren; 150/200 Scheffel). Nachdem durch die Flottenpolitik der Perserkriege auch die Nichtbesitzenden auf den Schiffen als Soldaten (Ruderer) dienten, sind

auch sie, und das heißt nun alle Bürger Athens, als Aktiv-Bürger anzusehen. War der Umfang der Bürgerschaft also nun durch den Kreis aller derjenigen freien Personen bestimmt, die in einem Demos eingeschrieben waren, wurde

451/50 die Bürgerschaft dadurch noch schärfer gegenüber anderen Personenkreisen abgegrenzt, daß fortan nur als Bürger galt, wer in rechtsgültiger Ehe von einem Bürger und der Tochter eines Bürgers abstammte. Neben den Politen bildeten die Metóken (métoikoi, „Mitbewohner“) eine

besondere Gruppe. Sie waren in Attika fest ansässige Fremde, persónlich frei,

aber ohne politische Rechte. Ihre Anzahl ist durch den wirtschaftlichen Aufschwung Athens, u.a. auch durch die mit der Flottenrüstung zusammenhängende Blüte vieler Handwerkszweige, stark gewachsen. Bereits im 6. Jahrhundert hatte die offizielle Politik mehrfach Fremde ermuntert, sich in Attika

niederzulassen; das Ziel war dabei vor allem gewesen, móglichst viele tüchtige Handwerker zu bekommen. Neben dem Handwerk war auch der Handel ein für Metóken typischer Berufszweig. Jeder Metóke gehórte, wie der Bürger, einem Demos an, in dem er in eine besondere Liste eingeschrieben wurde. Damit war er aber nicht Demos-Angehóriger im eigentlichen Sinne, also Demote geworden, führte auch nicht das Demotikon, das vielmehr Zeichen des Bürgers blieb,

sondern war lediglich „in einem Demos wohnhaft“. Die scharfe Trennung von den Bürgern zeigt sich auch darin, daß er eine Kopfsteuer, das Metoikion, zahlte, die zwar gering war - 12 Drachmen pro Kopf jährlıch, eine alleinstehende Frau die Hälfte -, aber allein ın der Art der Steuer, die kein Bürger zahlte,

den Nichtbürger und Fremden auswies. Wer die Steuer nicht entrichtete, wurde ın die Sklaverei verkauft; auch dies ein deutlicher Hinweis auf den energischen Willen, die Gruppe der ansässigen Fremden von den Bürgern fernzuhalten und

Il. Soziale und wirtschaftliche Grundlagen Athens

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ide mögliche Vermengung mit ihr von vornherein zu unterbinden. Wie gegenüber den Bürgern, waren die Metóken auch von dem unteren Teil der sozialen Pyramide scharf geschieden. Sie wurden niemals als Sklaven, ebenfalls nicht als Abhángige angesehen, dies auch nicht im rein sozialen Sinne. Ebenso streng war die Trennung von den übrigen, sich nur vorübergehend in Athen aufhaltenden Fremden. Jeder Fremde, der sich über eine gewisse Zeit in Athen aufhielt, mußte

sine Aufnahme unter die Metóken beantragen. DaR der Metóke als Fremder angesehen wurde, zeigt sich auch deutlich in seiner Rechtsstellung. Als persönlich freier Mann genießt er zwar Rechtsschutz wie alle Bürger auch, und er ist ebenso voll rechtsfáhig, das heißt, er kann sich

vor Gericht selbst vertreten, ist in der Ausübung von Handel und Handwerk keinen Beschränkungen ausgesetzt, kann seinen religiösen Neigungen frei nachgehen und darf auch an den Kulten und Festen der Stadt teilnehmen. Aber jeder Metöke muß sich trotz dieser unabhängigen Stellung doch einen „Vorsteher“ (prostätes) genannten Bürger wählen, der ihm als eine Art Leumund bei der Eintragung in die Metókenliste assistiert und darüber hinaus als das Bindeglied zur Gemeinschaft der Politen angesehen wird. Er ist gegenüber den Bürgern ferner vor allem darin zurückgesetzt, daß er kein Eigentum an Grund und

Boden erwerben darf, und dies besonders schließt ihn von den Bürgern ab und unterstreicht seine Zugehörigkeit zu den Fremden. Er ist weiter in der Rechtspflege auf mancherlei Art deutlich als Fremder gekennzeichnet, und dies biswei-

len in einer fast stigmatisierenden Weise. So ist es zwar etwa auch von einem

Metóken einzusehen, daß im Falle der Klage eines Bürgers gegen ihn das Verfahren vor dem Polemarchos als dem für die Fremdengerichtsbarkeit zustándigen Beamten eingeleitet wird. Schwerer aber dürfte von ihm hingenommen worden sein, daß die Tötung eines Metóken wie die eines Sklaven oder nichtansássigen Fremden vor das sogenannte Gericht am Palladion kam, das jede Tótung (auch

die absichtlich begangene) als eine unabsichtliche behandelte. Hier wurde dem Metóken trotz aller Nähe zum Bürgerleben, trotz allem inneren Engagements, das er für die Stadt haben mochte, und trotz aller Leistung, die er für sie

erbrachte, doch mit großer Härte seine Fremdheit bewußt gemacht. Man gewinnt bei diesen und anderen Regelungen den Eindruck, daß die Athener den

Metóken gerade wegen seiner Nähe zum Bürger und damit wegen der Gefahr, daß dieser in den Bürgerverband aufgehen könnte, in wohlbedachter Strenge stets an seinen Status zu erinnern und damit seine Ausgrenzung zu festigen trachteten. Das Domizilrecht und der Rechtsschutz der Stadt legten den Metóken eine Reihe von besonderen Verpflichtungen auf. Neben dem Metoikion beteiligten sie sich an den außerordentlichen Umlagen für Kriegskosten (Eisphora) und an den Leiturgien, vor allem an der Choregie (Stellung eines Chores für ein öffentliches Fest). Darüber hinaus leisteten sie auch Wehrdienst, wenn sie den geforderten Zensus hatten, auch als Hopliten. In aller Regel wurden sie aber nur als Wach- und Mauerbesatzungen in den Grenzfestungen Attikas und in Athen/Piräus, bei Feldzügen außerhalb Attikas nur gegen die unmittelbaren Nachbarn eingesetzt. Als etwa die Athener im Jahre 424 mit ihrem gesamten Aufgebot

gegen die benachbarten Böoter zogen, waren die Metöken und übrigens damals

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

auch die sich in Athen aufhaltenden Fremden, die keinen Metókenstatus besa-

ßen, dabei. Bei dem Mangel an Rudermannschaften wurden Metöken auch in

der Flotte gebraucht, doch für diesen Dienst nicht verpflichtet, sondern meist besonders angeworben. Die Metöken waren eine für die Stadt wichtige Personengruppe. Das blühende Wirtschaftsleben wurde zu einem beträchtlichen Teil von ihnen getragen, ja sie haben wohl für den Aufschwung im 5. Jahrhundert überhaupt erst den Grund gelegt. Athen, das durch seine Großmachtpolitik und seine besondere

Verfassungsform auf die anderen Griechen zeitweise wie ein Magnet wirkte, hat aus allen Teilen der griechischen Welt gerade die unternehmungslustigen und fahigen Menschen an sich gezogen. Da die Metóken im allgemeinen nicht unbemittelt, viele sogar reich waren, zog die Stadt vielfachen Nutzen aus ihnen, und auch ihre Wehrfähigkeit wurde durch sie nicht unerheblich gestärkt. Trotz dieser bürgernahen Dienste ist es niemals zu einer Verschmelzung der Metöken mit den Bürgern gekommen. Das ist um so erstaunlicher, als es kein ausgesprochenes Standesbewußtsein der Metöken gab, aus dem heraus sich ein Gruppenund Identitätsbewußtsein hätte bilden und stabilisierend wirken können. Das

mangelnde Gruppenbewußtsein rührte zum einen daher, daß es vom sozialen Rang und vom Beruf her keine hohen Schranken zu den Bürgern gab; zum anderen wurde jedes Gruppendenken dadurch erstickt, daß für den Metöken der Bürger das Vorbild war, er also, wenn er überhaupt an den Wandel seines Status dachte, in den Bürgerstand hineinstrebte, und eine Alternative, wie etwa

die soziale Aufwertung oder geistige Verinnerlichung des Metókendaseins, gar nicht im Blick hatte. Daß der soziale Aufstieg stets als einer in den Bürgerverband gesehen wurde, erkennen wir auch deutlich an den Privilegien, die den

Metóken gewáhrt wurden und nach denen sie strebten. Es waren dies Vergünstigungen, die sie der Stellung eines Bürgers näherkommen ließen, so vor allem die

vóllige Gleichstellung in den steuerlichen und militárischen Leistungen (Isotelie), die auch die Befreiung von dem Metoikion einschloß. Da die Isotelie oft

vergeben wurde, bildete sich eine besondere Gruppe von isotelen Metóken. Aber wie nah sie auch den Bürgern standen, Bürger wurden sie damit doch nicht; vor allem von den politischen Rechten blieben sie ausgeschlossen. Und da auch die Verleihung des vollen Bürgerrechts an einen Metóken stets eine Ausnahme blieb, läßt sich nicht verkennen, daß es letztlich der Wille der Bürger

war, der die Metóken als eine Gruppe erhielt: Das Bürgerrecht war ein Wert, an dem man andere - und mochten sie noch so nützliche Glieder der Gesellschaft sein - nicht ohne Not teilhaben ließ. Der Metóke bleibt also immer ein Fremder (xénos; xénos métoikos), aber durch

seine weitgehende Integration in die Wirtschafts- und Wehrgemeinschaft der Politen sowie durch die Lebenslänglichkeit seiner Verbundenheit mit der Polis doch ein Fremder eigener Art. Seine Stellung ist in etwa vergleichbar der eines

heutigen in Deutschland lebenden Ausländers mit Aufenthaltsberechtigung; denn auch dieser hat ein lebenslängliches Recht auf Aufenthalt und hält sich auch faktisch auf Lebenszeit in seinem Gastland auf, ist aber nichtsdestoweniger

von der Bürgergemeinschaft dieses Gastlandes sowohl durch den Mangel des Bürgerstatus als auch durch den AusschluR vom politischen Leben getrennt.

Il. Soziale und wirtschaftliche Grundlagen Athens

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Aber die ihm gegenüber deutlich größere Nähe des Metöken zum Gastland zeigt sich darın, daß der heutige Ausländer mit Aufenthaltsberechtigung keinen Militärdienst in seinem Gastland leistet und er vor allem die Staatsbürgerschaft seines Herkunftslandes behält, wohin er jederzeit zurückkehren

bzw. auch

zeitweise überwechseln kann. Der Metóke aber ist weder ein Bürger in Athen nxh in irgendeiner anderen Stadt. Sein Status ist mit einem modernen Begriff schwer zu umschreiben. Man hat ihn einen „Clienten“ genannt, dessen Patron nicht ein Individuum, wie es vielleicht in der Adelszeit gewesen sein mag,

sondern das Volk 1st. Aber in dem Begriff des Clienten ist die Vorstellung von persönlicher Abhängigkeit enthalten, die wir mit dem Metóken gerade nicht verbinden kónnen, und in ihm fehlt die Vorstellung der fremden Herkunft, die für den Metóken konstitutiv ist, für den Clienten aber gerade nicht. Bleibt der Metóke ein Fremder, stehen neben ihm nochandereFremde (xénoi), von denen er sich als enger zur Polis gehörig abhebt. Das sind die sich vorübergehend in Athen aufhaltenden Fremden (xénoi parepidémosintes). Da einem sich im Ausland aufhaltenden Mann, der zugleich mit dem vorübergehenden Verlassen seiner Heimatstadt aus der ihm eigenen Rechtsordnung her-

austrat, in der fremden Rechtsordnung allein der Rechtsschutz des Gastlandes

die Sicherheit seiner Gescháfte, ja seiner Existenz geben konnte, bemaf sich der Status der sich in Athen aufhaltenden Fremden nach diesem Schutz, der nicht

für alle Fremden gleich sein mußte, sondern manche unter ihnen bevorzugen

konnte. Der Fremde nämlich, dessen Heimatstadt mit Athen einen Rechtshilfe-

vertrag (symbolon) abgeschlossen hatte, besaß einen fórmlichen, völkerrechtlich abgesicherten Rechtsschutz nach Maßgabe des Vertrages (xénos apó symbólón koinônountes). Wessen Stadt keinen solchen Vertrag mit Athen hatte, mußte sich

mit den allgemeinen Regelungen für Fremde zufriedengeben, die es jedenfalls

im 5. Jahrhundert längst überall gab und die geachtet wurden. Wie für die Metóken war auch für alle anderen Fremden der Polemarch die Behörde, die bei Klagen den Prozeß einleitete.

Für den sich vorübergehend in Athen aufhaltenden Fremden gab es noch eine besondere Hilfe in der Institution des Staatsgastfreundes (pröxenos). Die Pro-

xenie war gemeingriechisch und hatte sich aus der privaten Gastfreundschaft

entwickelt. Der Proxenos ist ein Bürger, der von einer fremden Stadt (bzw. auch

von einem Staatenbund oder Kónig) zum Schutz von deren Bürgern, die sich vorübergehend in der Stadt des Proxenos aufhalten, ernannt wird. Er wirkt in

seiner Heimatstadt in fremden Stadt, leistet stand, gewährt ihnen, sein, in seinem Hause

vielfältiger Weise für die ihm so anvertrauten Bürger der ihnen etwa vor den Gerichten seiner Heimatstadt Beimag ihr Reisezweck nun offizieller oder privater Natur Aufnahme oder verschafft Gesandten der von ihm betreu-

ten Stadt Zutritt zu den Behôrden, ist, kurz gesagt, die erste Anlaufstelle für

jeden Ankómmling, dem er mit Rat und Tat zur Seite steht. Der Proxenos ist also mit dem modernen Konsul zu vergleichen (der allerdings heute meist Angehóriger des fremden Staates ist, für deren Bürger er wirkt), und er war dem Charakter und dem Umfang seiner Aufgabe entsprechend meist ein einflußreicher und vermógender Mann in seiner Heimatstadt, der auch weite internatio-

nale Verbindungen besaß. In manchen Familien vererbte sich die Proxenie, wie

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

denn Alkibiades die von seinem Großvater aufgekündigte „alte Proxenie“ mit Sparta im Jahre 420 zu erneuern trachtete. Die Ernennungsdekrete (ProxenieDekrete) sprechen denn auch die Erblichkeit in aller Regel aus. Erstreckte sich dem Sınn der Institution entsprechend die Fürsorge des Proxenos zunächst auf dıe Bürger der Stadt, die ihn zum Proxenos ernannt hatte, konnte doch auch bei Gelegenheit die eigene Stadt aus dessen Verbindungen Nutzen ziehen, ihn z. B. in offiziellen Angelegenheiten als Vermittler bestellen und damit sein Ansehen in der Stadt, für die er Gastfreund war, nutzen. Bei der Komplexität der internationalen Beziehungen konnte es vorkommen, daß es für einen Proxenos zu Interessenkollisionen zwischen seiner Heimatstadt und seiner „Gaststadt“ kam,

und gelegentlich haben Proxenoi auch, wie etwa solche aus Städten des athenischen Seebundes, das Interesse ihrer „Gaststadt“ höher geschätzt als das ihrer Heimatstadt oder auch aus Entscheidungsnot ihre Proxenie offiziell niedergelegt. Das war aber nicht sehr häufig der Fall, und im allgemeinen hat die Institution ihre Wirkung getan. Es versteht sich, daß ein Proxenos in der Stadt, für die er wirkte, ein hochangesehener Mann war. Mit der Übernahme einer Proxenie waren daher in aller Regel besondere Ehrungen verbunden, wie denn der Proxenos schon früh den Titel eines „Wohltäters“ (ewergétés) erhielt. Es gab auch bereits

im Athen der klassischen Zeit Privilegien, mit denen der von Athen ernannte und für sie tâtige Proxenos bedacht wurde, wie z. B. die Abgabenfreiheit (atéleia), das Recht des Grunderwerbs (égktésis) oder das Recht der Ein- und Ausfuhr im

gesamten Seebundsbereich. Solche Privilegien waren zunächst nicht fester Bestandteil von Proxenie-Dekreten, aber in hellenistischer Zeit, als sich die Ehrun-

gen und Privilegien häuften, waren manche Privilegien standardisierter Teil einer Ernennung, und es trat dann auch allmählich gegenüber der Ehrung und Privilegierung die eigentliche Aufgabe des Proxenos zurück. Das zeigte sich u.a. auch darin, daß schließlich mehrere Proxenoi für eine einzige Stadt ernannt werden konnten. In klassischer Zeit waren die Athener mit Privilegien eher zurückhaltend, verliehen insbesondere nicht das Bürgerrecht an Proxenoi, was ja auch dem ursprünglichen Sinn der Proxenie als der Gewährung von Hilfe und Rat in einer fremden Stadt durch einen Bürger eben dieser Stadt (also einen Fremden, von der

ernennenden Stadt aus gesehen) zuwiderläuft. Wenn sich athenische Proxenoi in Athen aufhielten, standen sie dem Ansehen nach naturgemäß über den anderen Fremden. In der Rechtspflege war aber selbstverständlich auch für sie der Polemarchos der Gerichtsstand, und sie waren jedenfalls in klassischer Zeit - abgesehen davon, daß sie keine Gerichtsgebühren (prytaneta) zu zahlen brauchten - hier auch nicht in besonderer Weise bevorzugt, besaßen vor allem nicht das Recht der bevorzugten Abfertigung vor Gericht (prodikía), wie es bereits damals von anderen Stádten gewáhrt wurde.

Der Schwerpunkt des Proxeniewesens fällt in die spátklassische und hellenistische Zeit, und in sie gehórt auch die Masse der auf uns gekommenen Proxenie-Dekrete. In der Tat mußte die in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhun-

derts einsetzende Expansion der Griechen in das Gebiet des ehemaligen Perserreiches und die damit verbundene starke Erweiterung des Verkehrs von Personen und Waren die Proxenie noch unentbehrlicher machen. Aber auch schon im 5. Jahrhundert hatte sie durch das freiwillige oder erzwungene Näherrücken

Il. Soziale und wirtschaftliche Grundlagen Athens

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vieler griechischer Städte, das u.a. auch zu einem entwickelteren Vertragswesen führte, an Bedeutung gewonnen. Für Athen dürfte daher die Errichtung des ersten Seebundes im Jahre 478/77, insbesondere dann der Ausbau des Bundes zu einer Herrschaft, der Proxenie einen Aufschwung gebracht haben. Denn seitdem vervielfachte sich im Binnenraum des Seebundes der Personenverkehr, seı esnun, Athener nahmen ın Bundesstädten herrschaftliche oder ökonomische

Interessen wahr, sei es, Angehörige der Bundesstädte mußten Athen aufsuchen; letzteres konnte viele Gründe haben, war vor allem aber auch notwendig wegen der Bestimmung Athens zum alleinigen Gerichtsstand für etliche in den Bundesstädten begangene Straftaten, darunter vor allem politische Verbrechen und charakteristischerweise auch die an Proxenoi, die in den Bundesstädten als

Kollaborateure angesehen werden mochten, begangenen Straftaten. So dürfte nıcht nur die Zahl der von Athen für fremde Städte ernannten Proxenoi, son-

dern auch die von Athenern, die in Athen für fremde Städte als Proxenoi tätig waren, stark zugenommen haben. Das Institut der Sklaverei wird bereits in den frühesten uns faRbaren Quel-

len vorausgesetzt. Obwohl wiederholt ausgesprochen worden ist, daß der Sklave von Natur aus den anderen Menschen gleich sei - der Redner und Gorgias-Schüler Alkidamas aus der kleinasiatischen Áolis prägte ca. 361 den berühmten Satz, daß die Gottheit alle Menschen frei geboren werden läßt und die Natur niemanden zum Sklaven macht, und etwa zwei Generationen später hat Philemon, einer der großen Dichter der Neuen Komödie, diesen Gedanken in einigen wunderbaren Versen erneut ausgesprochen -, sind aus solcher Erkenntnis doch niemals prakusche Konsequenzen für die Abschaffung der Sklaverei gezogen, ja

ist dies nicht einmal ernsthaft erwogen worden. Die grofte Philosophie des 4. Jahrhunderts, insbesondere Aristoteles, hat für den Sklaven nicht nur nichts

geleistet, sondern dadurch, daß sie die Sklaverei in angeborenen qualitativen Unterschieden der Sklaven zu den Freien begründet sah, eher noch zur Verfesugung der bestehenden Verhältnisse beigetragen. Die Grundbedingung des Sklaven ist seine persónliche Unfreiheit: Er ist Eigentum seines Herrn, und es fehlt ihm darum die Verfügungsgewalt über seine Person, bzw. er hat sie nur durch seinen Herrn. In dem vólligen Verlust der

selbständigen

Geschäftsfähigkeit,

Ehefähigkeit

und

Freizügigkeit

teilt der

Sklave in Athen sein Schicksal mit allen Sklaven der antiken Welt. Die Hälfte seines Wertes verliert der Mensch an dem Tage, an dem er Sklave wird, sagte

schon Homer. Auf der anderen Seite bleibt seine Zugehörigkeit zum menschlichen Geschlecht immer bewußt. Beide Aspekte, der des Eigentums und der der Menschlichkeit, sind in der Definition des Arıstoteles, daß der Sklave ein „beseelter Besitz" seı, berücksichtigt, und beide sind auch diejenigen Faktoren, auf

denen sich die Rechtsstellung des Sklaven gründet. Im 5. und 4. Jahrhundert ist der Sklave zunächst von allen anderen Abhängigkeitsverhältnissen dadurch abgegrenzt, daß er Eigentum eines Herrn und also nicht Rechtssubjekt ist. Im Prinzip lebt, arbeitet und erwirbt er für den Herrn

und ist insoweit nicht vom Hausvieh zu unterscheiden. Er heißt daher auch

„Menschenfüßler“ (andrápodon, das heißt ursprünglich: der menschliche Teil der Kriegsbeute); allerdings hat sich diese juristisch klare Definition gegenüber

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

dem Worte doulos, das jeden dienstbaren und untertänigen Menschen bezeichnet und damit die Zugehörigkeit des Sklaven zur Menschheit voraussetzt, nicht durchgesetzt. Die den Sklaven betreffenden athenischen Rechtssätze setzen die Grundbedingung, die mangelnde rechtliche Persönlichkeit, voraus und stellen im übrigen für die verschiedenen Lebens- und Tätigkeitsbereiche Regeln auf, die zugleich dem Interesse des Eigentümers und der conditio humana des Sklaven gerecht werden, und folglich bestimmen sie, was der Sklave, obwohl Mensch, nicht darf, was der Eigentümer dem Sklaven, weil Mensch, nicht antun und was

der Sklave in seiner Eigenschaft als Mensch leisten soll. Selbstverständlich hat der Sklave am politischen Leben keinerlei Anteil; er darf bei Androhung schwerer Strafe nicht einmal vor der Volksversammlung und dem Rat erscheinen; lediglich von den meisten Kulten und Festen ist er nicht ausgeschlossen. Er ist ferner nicht wehrfähig; nur in größter Not, wie vor der Arginusen-Schlacht, am

Ende des Peloponnesischen Krieges, als es an Mannschaften für die Schiffe mangelte, wurden Sklaven eingestellt. Ihm fehlt weiter die Zeugnisfähigkeit; vor Gericht kann die Aussage eines Sklaven nur dann als Beweismittel dienen, wenn sie auf der Folter abgenommen worden ist. Weist dies deutlich auf die mangelnde rechtliche Persönlichkeit des Sklaven hin, ist seine menschliche Qualität aus den Bestimmungen ablesbar, daß die Tötung eines Sklaven zwar nicht als

Mord, aber doch als Totschlag (worauf nur Verbannung, nicht der Tod stand) geahndet wird, der Sklave vor Mißhandlung von Fremden durch eine öffentliche Klage geschützt ist und er vor Mißhandlung durch den eigenen Herrn Asylrecht

in Heiligtümern und an Altären genießt. Das Leben eines Sklaven war wesentlich von dem Charakter seines Herrn und von der Tätigkeit, die er ausüben mußte, bestimmt. Entsprechend der mannigfachen Arbeitsgebiete der Sklaven war ihre soziale Stellung äußerst unterschied-

lich. Dies ist der wichtigste Grund dafür, daß es unter Sklaven keine Solıdarität und ohne äußeren Anstoß auch keine Revolten gab. In der hier interessierenden Zeit kennen wir nicht einmal eine von Sklaven bevorzugte Religion. Das Ziel des

Sklaven war das persönliche Wohlleben, der Aufstieg innerhalb der Sklavenschaft und, nur für wenige erreichbar, die Freilassung, alles dies Faktoren, die in

dem Mitsklaven eher den Konkurrenten als den Genossen sehen mußten. Die Masse der Sklaven arbeitete in Athen als Handwerker, hier insbesondere im arbeitsteiligen Gewerbe, ferner als Bergwerksarbeiter und Hausgehilfen. Den

Sklaven in den Silberbergwerken von Laureion ging es nicht immer besonders

gut; die Arbeit war hart, die Aufstiegschancen gering. Am besten hatte es der Haussklave, der den Freien am nächsten stand, darum am meisten menschliche

Wärme zu spüren bekam und auch die größten Aussichten auf Freilassung hatte, mochte er nun Verwalter, Diener, Koch, Lehrer oder Kindererzieher sein. Die

Landwirtschaft beschäftigte in Athen zwar mehr Sklaven als in den meisten anderen griechischen Städten der Zeit, doch war sie keineswegs von Sklavenarbeit abhängig; der kleine, von einer Familie bestellte Hof blieb auch ın der Zeit

großer Sklavenzahlen die das attische Land beherrschende Betriebsform. Mit

der von Seebunds- und Großmachtpolitik geförderten Wirtschaft stieg die Sklavenzahl besonders in dem Ballungszentrum von Athen/Piräus sehr an. Handel

und Gewerbe beschäftigten jetzt zahlreiche Sklaven, und gerade diese lebten

Il Soziale und wirtschaftliche Grundlagen Athens

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nicht selten verhältnismäßig frei. Viele waren als Handwerker, Händler oder in anderen Berufen selbständig tätig; sie lieferten ihren Verdienst entweder, nach

Abzug der Selbstkosten, ganz oder zu einem bestimmten Prozentsatz an ihren Eigentümer ab (die Abgabe hieß apophorä) und waren zur Durchführung ihrer Unternehmungen teils sogar beschränkt geschäftsfähig. So ließ der von dem Redner Hypereides angeklagte Athenogenes, ein Metöke, ein Salbengeschäft voneiner Sklavenfamilie, Vater mit zwei Söhnen, bewirtschaften, das er dann als

en geschlossenes Unternehmen an einen Bürger verkaufte (und letzteren wegen der Verschuldung des Geschäftes damit reinlegte). Für den Sklaven bot diese Art seiner Verwendung manche Möglichkeiten für ein etwas bequemeres und freizügigeres Leben, und er konnte sich vielleicht auch etwas Geld für seinen Freikauf zurücklegen. Sklaven in dieser Stellung wohnten in aller Regel außerhalb der Wohnung des Herrn. Daß das eine Besonderheit war, beweist ihre förmliche Benennung als „außerhalb Wohnende“ (chörts oikountes). Andere Sklaven wur-

den von ihrem Herrn als Lohnsklaven - bei Zahlung des Unterhalts durch den Pächter - vermietet, wie z. B. einer der Vormünder des Demosthenes drei Skla-

ven für eine vereinbarte feste Summe an einen Mitvormund verpachtete. Sowohl die selbständig Arbeitenden als auch die Lohnsklaven unterschieden sich dabei nach Lebensstandard und sozialer Stellung oft kaum von Freien, wie denn nicht nur in Tópfereien und auf Baustellen, sondern sogar im Bergwerk Sklaven neben Freien und Metóken arbeiteten. Auch dem Äußeren nach unterschieden sich die meisten Sklaven nicht vom Freien, zumal es keine gesetzlichen Kleidervorschriften für Sklaven gab. Zwar galt ein bestimmtes Gewand aus Schafwolle als Sklavengewand, wie wir durch Aristophanes wissen; aber es war keine gesetzliche Sklaventracht und wurde auch von ármeren Freien getragen. Gerade im wirtschaftlich aufstrebenden Athen verwischten sich die Unterschiede zwischen Sklaven und der ármeren Bevólkerung und genossen viele Sklaven fakusch weitgehend Freizügigkeit. Die Größe der Stadt, welche die persönliche Kenntnis voneinander stark einschränkte, förderte dies. Naturgemäß erhoben

sich dagegen auch kritische Stimmen. Aber es war gerade das Interesse der Sklavenbesitzer an gutem Profit, das einen allgemeinen Summungsumschwung zuungunsten der Sklaven verhinderte. Die Athener besaften auch Staatssklaven. Sie wurden als Amtsdiener oder Arbeiter bei Wegeausbesserungen, bei öffentlichen Baumaßnahmen und bei der

Münzprágung beschäftigt oder verrichteten diejenigen staatlichen Dienste, die man den Bürgern nicht zumuten wollte, wie vor allem die Arbeit von Henkern, Folterknechten und Gefängniswärtern, aber auch die von Polizisten. Es gab sogar eine um 450 eingerichtete besondere Polizeitruppe von 300 Mann, die aus Skythen rekrutiert wurde; sie hatte für Ruhe und Ordnung zu sorgen und

benutzte z. B. zur Herstellung der Ordnung bei Volksversammlungen auch die Peitsche. Das Bild von dem herrscherstolzen Bürger, der von Amts wegen die Hiebe eines Sklaven ertragen mußte, irritiert etwas; es wird dadurch wenig

gemildert, daR der Staatssklave nur auf Befehl seiner (freien) Offiziere oder von Beamten handeln durfte.

Ein großer Teil, wenn nicht sogar die Mehrheit der Sklaven, war bereits im Sklavenstand geboren und kannte die Welt der Freiheit nicht. Die Sklavenkinder

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

stellten ein großes Kontingent für den Nachwuchs ihres Standes. Die größte Quelle der Sklaverei war aber nach wie vor der Krieg, in dem Kriegsgefangene als Beute gewonnen und verkauft wurden, aber in verstärktem Maße auch der Handel, der seine Ware nicht nur aus der Kriegsbeute, sondern auch aus Seeräuberei, Sklavenjagden und - über Zwischenhändler - aus fernen Landen bezog. Die Bürger von Chios sollen als erste Sklaven von auswärts gekauft haben; ın Athen war der Sklavenhandel im 5. und 4. Jahrhundert ein anerkannter Erwerbszweig. Ihrer Herkunft nach gab es unter den Sklaven trotz der vielen Kriege der Griechen untereinander verhältnismäßig wenige Griechen. Das lag einmal daran, daß der Loskauf von Gefangenen vor allem dem Griechen zugute kam, ferner er auch eine größere Chance auf Freilassung hatte. Die meisten Sklaven kamen aus dem Hinterland der Kolonisationsgebiete in Illyrıen, Thrakien, Kleinasien und dem Schwarzmeergebiet, waren also Illyrer und Thraker

vom Balkan, Skythen aus Südrußland, Kolcher aus dem westlichen Kaukasusge-

biet sowie Bithyner, Paphlagoner, Lyder, Phryger und Karer aus dem kleinasiatischen Hinterland. Durch Handel und Krieg gab es auch Sklaven aus den Gebieten des persischen Großreiches, wie Iraner und Syrer, und sogar aus dem

fernen Malta kamen sie. Die Freilassung von Sklaven erfolgte in aller Regel formlos durch Willenserklärung oder Testament. Da aber - außer bei Freilassungen von Staats wegen,

wie z.B. nach der Arginusenschlacht - die Stadt die Freilassung nicht garantierte (sie war ja in den Freilassungsakt nicht hineingenommen), sie in der Regel lediglich öffentlich vorgenommen wurde (im Theater, vor dem Gencht, nämlich vor dem für Freilassungsfragen zuständigen Beamten, dem Polemarchen), ergaben sich für den Freigelassenen manche Unsicherheiten; er konnte womöglich wieder als Sklave gefordert werden, was zwar weder üblich noch zulässig,

aber doch eben möglich war. Gewöhnlich machte der Freigelassene mit seinem Freilasser besondere Freilassungsbedingungen aus, verpflichtete sich z.B. zu gewissen Dienstleistungen oder dazu, bis zum Tode seines Freilassers in dessen Haus zu wohnen und bestimmte Arbeiten zu verrichten. Die Auflagen erloschen mit dem Tode des Freilassers; sie sind nicht nur als eine den Freigelassenen bedrückende Last anzusehen, sondern brachten ıhm auch Nutzen, denn sie

sicherten ihm durch die ständige Leistung den neuerworbenen Stand. Diese Freilassung hieß von der Verpflichtung, den Dienst fortzusetzen, paramoné (wörtl.: das Dabeibleiben). Die Möglichkeit des Freikaufs aus vom Sklaven selbst erworbenen Mitteln ist für diese Zeit noch nicht überliefert, wohl hingegen für die zweite Hälfte des 4. Jahrhunderts der Loskauf aus einer Klubkasse (éranos), in die sowohl Freie als auch Sklaven Beiträge einzahlten. Ebenso ken-

nen wir für diese Zeit schon die vor allem später in den Zentren großer Heiligtümer übliche Freilassungsform der Weihe an die Gottheit; sie gab sowohl durch die religiöse Autorität des Gottes als auch durch ihre inschriftliche Fixierung dem Freigelassenen mehr Sicherheit. Der Freigelassene wurde mit der Freilassung nicht Bürger, sondern Fremder; die griechische Polis war weitaus exklusiver als etwa Rom, wo der Freigelassene unter die Hauskinder und damit unter die Bürger aufgenommen wurde. Als Fremden stand dem Freigelassenen die Ortsansässigkeit zu, doch war er dem

Il. Soziale und wirtschaftliche Grundlagen Athens

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Metöken nachgestellt. Denn er zahlte zwar das Metoikion wie er, und mancher mochte sich als Metóke fühlen; aber alle Freigelassenen blieben an ihren Freilasser gebunden, den sie auch offiziell als ihren Patron (Prostates) anzuerkennen

hatten, und die meisten von ihnen waren durch die umfangreichen Freilassungsbedingungen besonders hart an den Patron gefesselt, der sie bei Nichteinhaltung ihrer Pflichten mittels Privatklage auch wieder in den Sklavenstand zurückzubringen vermochte. Die Gruppe der Freigelassenen war im Verhältnis zu der Menge der Sklaven ın Athen nicht sehr groß, und folglich stellte sie unter den Bewohnern Attikas keine auffällige Minderheit dar. Vor allem dem freigelassenen Nichtgriechen mochte der ehemalige Status des Sklaven noch lange nachhängen; aber ım allgemeinen war der soziale Makel nicht allzu fühlbar, wozu eben auch die geringe Anzahl der Freigelassenen beitrug. Eine andere Frage ist, warum die

Griechen und unter ihnen die Athener von der Möglichkeit der Freilassung so wenig Gebrauch gemacht haben, viel weniger jedenfalls als die Römer. Die verhältnismäßig großzügige Freilassungspolitik der Römer mag auch damit zusammenhängen, daß die Familie des Freigelassenen und dessen Nachkommen in die Clientel des Freilassers aufgenommen wurden und darum immer eine Bindung und damit eine Kontrolle erhalten blieb, ferner das über die Stadt Rom hinauswachsende römische Territorium den Blick für weitere Perspektiven öff-

nete. Die Engherzigkeit der Athener und anderen Griechen dürfte umgekehrt damit zusammenhängen, daß man in der Enge der Stadt die Freigelassenen, die als Fremde zumindest nach dem Tode des Freilassers unabhängig waren, nicht zu stark werden lassen wollte. Keine griechische Stadt hatte - wenn wir von den Heloten Spartas, deren Status dern der athenischen Sklaven nicht vergleichbar ist, absehen - der absoluten Zahl nach so viele Sklaven wie Athen; nur wenige, wie vielleicht Korinth

und Chios, besaßen eine auch nur relativ große Anzahl. Es verwundert daher nicht, wenn in der modernen Forschung und nicht nur von marxistischer Seite die Frage gestellt worden ist, ob nicht die Wirtschaft Athens, ja ob nicht auch die

demokratische Verfassung, unter der die Sklavenzahl besonders stark zunahm, und die machtpolitische Stellung Athens von der Arbeit der Sklaven abhing. Daß die Sklaven diejenigen waren, welche die Arbeit machen sollten, hören wir

jedenfalls u.a. öfter auch bei Aristophanes, und das heißt, daß Aristophanes mit derlei Gedanken beim Publikum Resonanz fand. Konnte eine der politischen Grundideen der Demokratie, daß nämlich jeder Bürger seine politischen Rechte auch ausüben können sollte und er darum für das politische Geschäft bezahlt werden mußte, nicht nur dann verwirklicht werden, wenn der Sklave die Arbeit

auf dem Feld, in den Manufakturen und Bergwerken tat und er also die Produkte schuf, damit der Bürger dem politischen Geschäft nachzugehen vermochte? Konnte die gewaltige athenische Flotte, für deren Bemannung man oft den

letzten Mann brauchte, nicht nur deswegen in See stechen, weil es Sklavenhände gab, welche die lebensnotwendigen Produkte herstellten, und war darum nicht

die athenische Seebunds- und Großmachtpolitik auf die Sklaverei gegründet? Ist die Frage so allgemein und umfassend gestellt, läßt sie sich widerlegen: Auf jedem Arbeitsgebiet, ob nun in der Landwirtschaft, im Gewerbe oder im Han-

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

del, wären die Athener mit wenigen Ausnahmen auch ohne Sklaven ausgekommen, und in der Politik oder auf der Flotte und im Heer waren nıemals alle

Athener und selbst in Notlagen auch lediglich der größte Teil beschäftigt. Aber dieser Einwand ist doch nur bedingt richtig. Denn es ist gewiß nicht danach zu fragen, ob Athen der klassische Sklavenhalterstaat war, was sich eben leicht

widerlegen läßt, sondern ob der Gesamtwert der Sklavenarbeit so groß war, daß

die Richtung der inneren wie äußeren Politik von ihm nicht völlig unabhängig war. Man braucht nicht schon bis zu dem Postulat einer Abhängigkeit der Politik von

der Sklavenarbeit

zu gehen;

für das Urteil

über die athenische

Demokratie und ihre Außenpolitik ist es schon wesentlich, wenn die Sklaverei auch nur ein Agens unter anderen für die dynamische Entwicklung der Stadt gewesen wäre, etwa die Ausbildung der politischen Ordnung zu ihrer radikalen Form gefördert oder den Wahn der Macht ermöglicht hätte. Ist es nämlıch für die Demokratie einerlei, wenn ein kleiner Töpfer oder ein Bauer, der zur Volksversammlung gehen wollte, dies ohne Schaden an seinem Betrieb tun konnte, weil er einen oder mehrere Sklaven hatte? Spielt es keine Rolle, daß nicht die ganze, aber doch ein beträchtlicher Prozentsatz der Arbeit von Sklaven getan wurde, wenn die Mehrheit der Athener außer Landes war? Ist es unwichtig, daß

Vornehme und Wohlhabende sich gerade durch den Besitz von Sklaven größere Vermögen und völlige persönliche Unabhängigkeit erwarben? Es ist wohl kaum der Blick auf den einzelnen Berufszweig oder die einzelne, besondere Situation, der bedenklich stimmt, sondern die Summe der Möglichkeiten, die durch den

Tatbestand einer großen Anzahl von Sklaven in wichtigen Berufen gegeben ist. Die athenische Frau stand in einer rechtlichen Abhängigkeit zu einem Vormund, meist dem Vater bzw. nach dessen Tod dem ältesten Bruder oder dem

Ehemann. Sie unterschied sich darin nicht von den Frauen anderer griechischer Städte und Stämme. Die Unterordnung zeigte sich einmal darin, daß Frauen grundsätzlich an keinen politischen Entscheidungen teilhatten; dıe „Weibervolksversammlung“ (Ekklesiazusen) des Aristophanes, in der die Frauen die politischen Entschlüsse fassen, bestätigt durch ıhre lustige Umkehrung nur die Regel. Die rechtliche Superiorität des Mannes ist aus privatrechtlichen, insbesondere erbrechtlichen Regelungen deutlich erkennbar: Die Frau vermochte den

Ehemann nicht frei zu wählen, war nur durch ihren Vormund geschäftsfähig, vermochte folglich auch sondern lediglich durch Gericht auszusagen, war eines mánnlichen Erben

- außer vielleicht bei Blutprozessen - nicht selbst, ihren Vormund oder durch schriftliche Erklärung vor nicht erbberechtigt und konnte lediglich - bei Fehlen - zur Erhaltung des Gutes in der Familie und zur

Bewahrung der Familiensakra als Erbtochter (Interimserbin) das zu vererbende

Gut an ihre Söhne weitergeben. Auf der anderen Seite war sie persönlich frei, mußte versorgt und für die Ehe mit einer Mitgift ausgerüstet werden, die der Ehemann bei Scheidung wieder zurückzugeben hatte, und genoß einen Klageschutz bei schlechter Behandlung. Von dieser rechtlichen Stellung ist das soziale Ansehen zu trennen. Daß die Frau in das Haus gehöre und dort den Webstuhl zu bedienen habe, ist ein gern verbreitetes Klischee, das die Modernen manchen griechischen Autoren nachreden und das soviel wert ist wie der moderne

Il. Soziale und wirtschaftliche Grundlagen Athens

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Spruch, daß die Frau an den Kochherd gehöre. Auch das ebenso verbreitete Vorurteil, daß im öffentlichen Leben Athens die Hetäre die Rolle der Frau übernommen habe, läßt sich bis in die Handbücher und Lexika hinein verfol-

gen. An diesen Pauschalurteilen ist gewiß soviel richtig, daß die Frau nicht dieselbe Freizügigkeit in der Öffentlichkeit besaß wie der Mann - was allerdings

bis in die moderne Zeit hinein mehr oder weniger überall nicht anders gewesen

ist -, daß sie an den sportlichen Wettkämpfen nicht teilnahm und sie auch bei vielen Theateraufführungen nicht unter den Zuschauern sitzen durfte. Aber sie war keineswegs an das Haus gefesselt und spielte bei Kulten - und nicht nur solchen, die, wie die Thesmophorien, auf die Frau beschränkt waren - eine wichtige Rolle. Nach allem, was wir wissen, waren die Athenerinnen im Hin-

blick auf Bewegungsfreiheit in der Öffentlichkeit nicht schlechter gestellt als die Frauen anderswo, und man darf aus einer rechtlich festeren Bindung nicht einfach auf das soziale Leben zurückschließen. Die Denkmäler, insbesondere

die Vasen, die Komödie und die Tragödie wissen von hohem Ansehen und Einfluß der Frau sowie von einer gegebenenfalls auch innigen Beziehung der Geschlechter zu berichten. Weder die zu einem zänkischen Weib verunstaltete Xanthippe, die Frau des Sokrates, noch die zu einer geistvollen Halbweltdame ebenso verzerrte Aspasia, die zweite Frau des Perikles, sind die Prototypen der Frau in Athen; aber es ist bezeichnend, daß sich selbst in der Fachliteratur die

Verzerrungen so lange halten. Es ist eher das mangelnde Interesse an der atheni-

schen Frau als sozialem Typ denn die athenische Wirklichkeit, die das Klischee von einer besonders benachteiligten Athenerin geschaffen hat. Die allgemeine Forschungslage hat sich seit ca. zwei Jahrzehnten geändert. Das Frauenleben in der griechischen und römischen Antike ist ein zentraler Forschungsgegenstand geworden. Man hat die Aussagen unserer Quellen zu Frauen intensiver erforscht und vor allem die Ansichten und Meinungen antiker Gewährsleute schärfer ın ihrem jeweiligen Zusammenhang interpretiert und relativiert. Man wird nicht sagen können, daß das traditionelle Bild der griechischen Frau dabei umgestürzt wurde. Wir wissen zwar wenig über das Leben der Frau - dabei für Athen, worauf ich mich hier beschränke, mehr als für irgendeinen anderen Ort des alten Griechenland -, aber das Wenige reicht vollkommen hin, die untergeordnete Rolle der Frau, ja ihre Unterordnung unter den Mann zu konstatieren. Man

mag darüber streiten - und hat es getan -, ob die Frau in Athen noch schlechter gestellt war als anderswo, aber an dem Tatbestand der Unterordnung als solchem ıst nicht zu rütteln, und das hat wohl auch nıemand versucht. Man kann

diesen Tatbestand bedauern, und das geschieht heute nachhaltig, bisweilen verbunden mit Anklagen, aber vernünftiger ıst es, nach Erklärungen zu suchen. Sie liegen weit in der Vergangenheit und sind auf alle Griechen, nicht auf die Athener allein zu beziehen. Da mag man an die Bedeutung der Familie bzw. des Hauses (ofkos) in der Stammes- bzw. Polisgemeinschaft erinnern, deren physische Existenz und sakrale Unversehrtheit es zu erhalten galt und für die der Grieche die schon früher nicht gleichberechtigte Frau dann gleichsam in die Haft nahm. Für das demokratische Athen mag hinzukommen, daß das intensive politische Leben den Bürger mehr als in Orten mit oligarchischer oder monar-

chischer Verfassung in einer Männerwelt festhielt.

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Die attische Landschaft war sehr ungleich dicht besiedelt und die einzelnen Bevölkerungsgruppen nicht minder ungleich auf die verschiedenen Landstriche verteilt. Athen stellte bereits im 6. Jahrhundert als politischer und wirtschaftlicher Mittelpunkt einen Magneten für die umliegende Bevölkerung und für fleißige Handwerker von auswärts dar, und vollends seitdem der Piräus in den späten neunziger Jahren des 5. Jahrhunderts als neuer Kriegshafen ausgebaut worden war und bald auch als Handelshafen den bisherigen Haupthafen, das ungeschützte Phaleron, ablöste, gewann dieser Stadtkern Attikas an Gewicht. Die athenische Machtpolitik nach den großen Schlachten gegen die Perser ließ Stadt und Hafen ebenso weiterwachsen wie die Ausbildung der Verfassung zu einer Demokratie, welche die Anwesenheit vieler, bisweilen aller

Bürger in Athen verlangte und damit der Grund für ein ständiges Kommen und Gehen zwischen dem politischen Zentrum und selbst den entlegensten Dörfern Attikas wurde. Obwohl Athen und der Piräus noch nicht zu der heutigen unförmigen Steinmasse zusammengewachsen waren, sondern zwischen den beiden städtischen Gebilden offenes Land lag - die Wegstrecke von der Agora ın Athen bis zum Hafen betrug etwa 8 km -, wurden Athen und der Piräus doch durch eine einzige Mauer zusammengefaßt und bildeten damit jedenfalls fortifikatorisch eine Einheit (s.u. S. 125ff.).

War das Kephisos-Tal bereits in archaischer Zeit dichter besiedelt als die anderen Ebenen Attikas, genet das Verhältnis von Stadt und Land seit der

Mitte des 5. Jahrhunderts gánzlich aus dem Gleichgewicht. Athen und der Piráus waren nicht nur der Wohnsitz eines beträchtlichen Teiles der athenischen Bürger - es dürften mindestens 30% aller Bürger dort gewohnt haben -, sondern auch des größten Teiles der Metóken und Sklaven. Da die letzteren einen prozentual bedeutend stárkeren Anteil an der Stadtbevólkerung hatten - von beiden Gruppen dürften über 50% in Athen/Piräus gewohnt haben, von den Metóken sicher deutlich über 50% -, verschob sich in der Stadt zudem das Verhältnis von Bürgern zu Nichtbürgern zuungunsten der ersteren. In den ármeren Gegenden Attikas mochte sich hingegen, gemessen an älteren Zeiten, wenig geändert haben; die wirtschaftliche Blüte ging an ihnen vorüber, und es war hier an den gegebenen Bedingungen auch kaum etwas zu ándern. Auch die weiter abseits liegende kleine Ebene von Marathon blieb, wie heute auch, von den Veránderungen relativ unbe-

rührt. Eleusis hingegen hatte stárkeren Anteil an der allgemeinen Entwicklung, und besonders das Bergwerksgebiet von Laureion war durch die zahlreichen hier bescháftigten Sklaven und freien Lohnarbeiter eine dichter besiedelte Region.

2. Die wirtschaftlichen Grundlagen Die sozialen und politischen Verhältnisse Athens kónnen nicht ohne die wirtschaftlichen Bedingungen gesehen werden, unter denen Athen stand, und dies nicht nur deswegen, weil die besonderen wirtschaftlichen Môglichkeiten Attikas das soziale und politische Leben beeinflußt haben, sondern auch, weil

umgekehrt die Wirtschaft durch die besondere politische Verfassung der Stadt

geprágt und verándert worden ist.

Il. Soziale und wirtschaftliche Grundlagen Athens

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Bei der Betrachtung der allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnisse Attikas hat

man sich zu vergegenwärtigen, daß die hier zu beobachtenden Formen und Entwicklungen zu einem guten Teil sich in allen griechischen Städten mit mehr oder weniger starken Abwandlungen wiederfinden; Athen weist nur für besummte Bereiche und Einrichtungen besondere Formen auf und ragt durch das Volumen seiner Wirtschaftskraft heraus. Im folgenden sind die Parallelen zu anderen griechischen Staaten nicht im einzelnen aufgezeigt; doch ergeben sie

sich in aller Regel daraus, daß die athenische Sonderentwicklung jeweils ausdrücklich gekennzeichnet ist.

Unser Wissen über die wirtschaftlichen Verhältnisse bei den Griechen in klassischer Zeit setzt sich aus einer Unzahl von Einzeldaten aus Schriftstellern und Inschriften sowie aus einer sinngemäßen Interpretation von archäologischen Quellen und Münzen zusammen. Ein großer Teil dieses Materials stammt für die hier interessierenden Jahrhunderte aus Athen, so daß wir über die athenische Wirtschaft des 5. und 4. Jahrhunderts besser unterrichtet sind als über die irgendeiner anderen Stadt. In Athen beginnt in der ersten Hälfte des 4. Jahrhun-

derts auch bereits die ökonomische Literatur, die entweder vom philosophischtheoretischen Standpunkt her nach idealen oder auch von der Praxis her nach

den ökonomisch jeweils günstigsten Verhaltensmustern sucht und dabei nicht nur das Interesse des einzelnen, sondern immer auch und oft ausschließlich das

Interesse der Stadt ım Auge hat. Xenophon begegnet uns hier als der erste an Wirtschaft interessierte Schriftsteller und beweist hierdurch einmal mehr seine

Vielseitigkeit und Weitsicht; doch dürfte er kaum der Erfinder dieses Literaturzweiges gewesen sein, wie denn dessen Anfänge bis auf Hesiod zurückverfolgt werden können. Wer heute in das teils in eine Steinwüste verwandelte, teils kahle und baumlose Attika kommt, ahnt nicht, daß die Natur dieses Land zwar nicht mit allem,

aber doch mit dem meisten zum Leben Notwendigen und darüber hinaus mit

manch anderem in solchem Überfluß beschenkt hat, daß dies als eine wichtige Voraussetzung für den politischen Aufschwung Athens angesehen werden muß. Der größte Teil des Bodens ist allerdings nicht besonders fruchtbar, z. T. steinig und von geringer Schwere. In den Ebenen, die heute in dem Häusermeer kaum noch als solche kenntlich sind, gediehen die angebauten Produkte aber gut. So war das Land im ganzen reich an Getreide (fast ausschließlich Gerste) und

lieferte ferner - neben Wein - auch Oliven und Feigen. Vor allem die Olivenkultur blühte und wuchs, so daß der Ölbaum ein Charakteristikum des Landes

wurde. Da zudem das Land hinreichend Gemüse und das Meer Fisch zur Verfügung stellten und auch genügend Weidefläche für das in aller Regel wildweidende Kleinvieh - zum größten Teil Ziegen, doch waren auch Schafe und Schweine vorhanden - zur Verfügung stand, war die Stadt mit Lebensmitteln nicht schlecht versorgt. Von den beiden Grundnahrungsmitteln, Öl und Brot,

wurde Öl sogar mehr produziert als verbraucht, und auch das Getreide hatte ursprünglich einmal genügt. Aus den Getreideabgaben an die Demeter von Eleusis, die uns für das Jahr 329/28 inschriftlich erhalten sind, kónnen wir

Rückschlüsse auf den Gesamtertrag des Landes ziehen. Er betrug in diesem Jahr

100

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

ca. 11 350 t Gerste und 1 080 t Weizen, was bei sehr groRzügiger Berechnung und bei der Annahme eines in archaischer Zeit umfangreicheren Getreideanbaus für etwa 100 000 Menschen gereicht haben dürfte. Diese Menge wird die Bevölkerung des 8. und 7. Jahrhunderts noch ernährt haben; doch zeigt das Verbot der Ausfuhr von Getreide durch Solon (594), daß schon damals die Ernte

kaum noch den Bedarf gedeckt hat. Im 5. Jahrhundert genügte die einheimische Produktion dann keinesfalls mehr zur Versorgung der stark angewachsenen Bevölkerung Attikas. Es mußte seitdem Getreide eingeführt werden, und zur Sicherung der Versorgung wurden mannigfaltige staatliche Maßnahmen ergriffen; zu ihnen s.u. S. 115ff. - Neben den Früchten brachten die Bodenschätze des

Landes den Athenern großen Reichtum, nämlich die Marmorbrüche vom Pentelikon, Hymettos und Laureion sowie vor allem die Silbergruben von Laureion,

die zeitweise unerschöpflich zu sein schienen und die ergiebigsten des alten Griechenland waren. Das Silber von Laureion verschaffte den Athenern nicht nur regelmäßige Einnahmen, sondern war auch die Voraussetzung für eine durch die Reinheit des Korns in der ganzen Welt angesehene Münze; das spätere athenische Handelsimperium ist ohne das Silber von Laureion nicht vorstellbar. Da das Silber aus Bleiglanz (silberhaltigem Bleierz), in dem das Silber nur einen Bruchteil ausmachte, gewonnen wurde, war Athen auch überreich an Blei; doch

galt dieses gegenüber dem Silber nur als Nebenprodukt. Für die Herstellung qualitätvoller Tópferwaren war es ferner von großer Bedeutung, daß es in Attika ausgezeichnete Tonerde gab. Bei allem Reichtum fehlte jedoch manches. Am fühlbarsten war der Mangel an Kupfer- und Eisenerzen, an Zinn, das u.a. für die Herstellung von Bronze benótigt wurde, sowie an Holz und Holzprodukten (Teer, Pech, Holzkohle).

Erze finden sich in Attika überhaupt nicht. Wälder hat es hingegen im Gegensatz zu heute in zunächst hinreichendem Maße gegeben, so daß Bau- und Brennholz vorhanden waren und auch die Produkte des lebenden Waldes, wie

Honig und Beeren, nicht fehlten. Der Baumbestand nahm hingegen schnell ab. Dafür sorgte bereits damals die ausgedehnte Ziegenwirtschaft; denn die Ziege benagt besonders gern die jungen Bäume. Bei wachsender Bevölkerung verrin-

gerte auch die Köhlerei den Baumbestand. Aber selbst in der Zeit relativ guten Baumbestandes gab es doch wenig geschlossenen Wald mit Bäumen, deren Größe und Holzqualität sie zur Verarbeitung von Schiffsholz geeignet machten; die nächsten Lieferanten solcher Hölzer waren das Hinterland der ägäischen Nordküste und einige Gegenden Westkleinasiens sowie Zypern und der Liba-

non. Auch die Tierwelt deckte in Attika nach Umfang und Arten nicht den Bedarf an Häuten, Fellen und Wolle für die Herstellung von Lederwaren und Kleidung, und selbstverständlich mußten Artikel des gehobenen Bedarfs, wie Elfenbein, Gold und Papyrus, eingeführt werden, aber auch Farben, die nicht

lediglich für die Herstellung von Luxusgütern, sondern auch, wie der koische Rótel, für den Anstrich des Rumpfes der Trieren verwendet wurden. Ferner war Leinen für die Herstellung von Segeltuch, Tauen und Kleidung ein unentbehrlicher Rohstoff, der eingeführt werden mußte. Mit der Lebensmittelversorgung sah es, wie dargelegt, im ganzen gut aus. Wenn es wenig Rinder gab, muR man bedenken, daß Rindfleisch und Kuhmilch entbehrliche Nahrung waren; noch

II. Soziale und wirtschaftliche Grundlagen Athens

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bis vor nicht allzu langer Zeit waren es Schaf und Ziege, welche die Bevölkerung Griechenlands mit Milch, Käse und Fleisch versorgten. Immer nachhaltiger spürte man in Athen hingegen die Lücke in der Getreideversorgung. Mit wachsender Bevölkerung, vor allem mit der im 5. Jahrhundert beinahe explosionsartigen Vermehrung der Sklaven, wurde Athen von der Einfuhr großer Mengen

von Getreide abhängig. Da auch andere Städte daran Mangel litten, mußte es oft von weither, so von den Ländern am Schwarzen Meer, von Ägypten und Sizilien herangeschafft werden, und das Leben großer Teile der Bevölkerung hing davon ab, daß die Schiffe von den oft durch natürliche und menschliche Gewalten

gefährlichen Fahrten hinreichende Mengen der lebenswichtigen Nahrung heimbrachten.

Unter den verschiedenen Wirtschaftszweigen bildete die Landwirtschaft auch ın der Zeit der höchsten Blüte von Handel und Gewerbe stets die Grundlage des allgemeinen Wohlstandes. Der Bauer war bis zum Peloponnesischen Krieg auch noch der typische Repräsentant der Bürgerschaft. Die meisten Athener leben auf dem Lande, sagt Thukydides für die Zeit des Ausbruchs des Peloponnesischen Krieges. Erst die Verwüstungen und Menschenverluste in diesem Krieg, in dem zeitweise der größte Teil der Landbevölkerung zwischen den Langen Mauern der Stadt zusammengepfercht war, brachten einen Wandel.

Mancher Hof von Bürgern, die der Krieg oder die Pest dahingerafft hatte, blieb nach dem Krieg verwaist, und die meisten derjenigen, die zurückkehrten, mußten zu der gewohnten harten Landarbeit sich mit dem Aufbau des zerstörten Hofes abmühen und sich darüber hinaus um das Geld für die Wiederbeschaf-

fung von Vieh, Zugtieren und Gerät und nicht wenige von ihnen auch um das Saatgut und den Lebensunterhalt bis zur nächsten Ernte sorgen. Dabei waren die Verwüstungen zwischen 413 und dem Ende des Krieges, als sich der Feind mitten in Attika in einer Festung, Dekeleia, dauernd niederließ, viel schwerer

und nachhaltiger als die fünf Einfälle in der ersten Kriegsphase zwischen 431 und 425 v. Chr., als der Feind spätestens im Herbst das Land wieder verlassen hatte. Aber selbst in der schwereren Spätphase des Krieges mußte bei weitem nicht ganz Artika evakuiert werden, und vor allem sind die fruchttragenden

Bäume, insbesondere die Öl- und Feigenbäume, sowie die Weinreben größten-

teils nicht abgehauen und also die Wirtschaft damit nicht für lange Zeit oder gar auf Dauer geschädigt worden. So blieb es weitgehend bei dem Verlust der Ernten, der Häuser, mancher Gerätschaften und der Sklaven, die zu Tausenden davonliefen. So schmerzlich dies alles war, konnte es ersetzt werden, und tat-

sächlich hat sich das Land offenbar relativ schnell und gut erholt. Selbst im 4. Jahrhundert hat die Stadtbevölkerung die des Umlandes an Zahl nicht übertroffen, und viele von denen, welche die überwiegende Zeit des Jahres in der Stadt lebten, besaßen auch Land. Es scheint, daß noch im 4. Jahrhundert weni-

ger als ein Drittel aller Bürger keinen Grundbesitz hatte. Doch waren die meisten Höfe klein; ein Besitz von 20 ha dürfte bereits über dem Durchschnitt

gelegen haben. Die meisten Bauern bewirtschafteten ihren Hof allein mit ihrer Familie. Der oft kärgliche Boden eines durchschnittlichen Hofes erlaubte es oft nicht, sich einen Sklaven zu halten oder in der Erntezeit freie Lohnarbeiter

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

einzustellen. Mit dem Anbau von Getreide, mit Öl- und Obstbäumen, ferner

mit einigem Kleinvieh versorgte der Bauer sich selbst und tauschte mit seinem Überschuß auf dem nächsten Markt die fehlenden Güter, wie Salz, Geräte und

Artikel des gehobenen Bedarfs, ein. In den Ebenen gab es größere Güter, nicht selten auch Großgüter, die mit Sklaven und freien Arbeitern wirtschafteten oder

Land verpachteten. Neben reichen Privatleuten hatten auch religiöse und staatliche Körperschaften, Heiligtümer, Kultvereine und Demen, Grundbesitz, den

sıe an Bauern verpachteten. Die Eigentumsverhältnisse auf dem Lande waren also bunter, als man es sich gemeinhin vorstellt. Aber für den größeren Landbesitz war und blieb die Verpachtung die übliche Nutzungsart und darum der kleine oder auch etwas größere Bauernhof die herrschende Betriebsform. Eine

Großgüterwirtschaft römischen Stils, in der auf großen Flächen nach rationellen Methoden produziert wurde, finden wir in Attika hingegen nicht. Dazu waren die für die Landwirtschaft geeigneten Landstriche zu klein; kaum mehr

als ein Drittel des Bodens war für den Anbau geeignet und dieses Drittel zudem in viele kleine Bereiche zerrissen. Der Agrarsektor war also kleinteiliger, und die Betriebsformen waren gemischt. Der Kleinbauer aber überwog, und der Sklave stellte darum kein die attische Landwirtschaft charakterisierendes Element dar. Es läßt sich ebensowenig sagen, daß auf dem Lande der Sklave die typische bäuerliche Hilfskraft war, die, etwa im Sinne unseres ,,Knechtes", die Arbeit des

Bauern unterstützte oder ergänzte. Wenn auch wenige unter ihnen reine Hausarbeiten, wie in der Stadt, verrichtet haben dürften, waren doch viele in hand-

werklichen Berufen tätig, und als Hilfskräfte des Bauern kennen wir neben den Sklaven auch Freie, wie z.B. die Olivenpflücker, die sich als Saisonarbeiter

anwerben ließen.

Die handwerklichen Berufe erlebten seit der peisistratidischen Zeit einen großen Aufschwung und kamen in der Mitte des 5. Jahrhunderts zu einem glanzvollen Höhepunkt. Der Aufstieg des Handwerks war teils dadurch bedingt, daß breitere Schichten zu höherem Wohlstand kamen, teils war er eine

Konsequenz der sich entwickelnden athenischen auch förderlich aus, daß sich dieser Berufszweig nen Wohlwollens der Stadt erfreute, die sich von ein größeres Handelsvolumen erhoffen mochte

Machtstellung. Es wirkte sich zeitweise eines ausgesprocheeinem regen Handwerksgeist oder auch die Deckung ganz

bestimmter Eigenbedürfnisse, wie z. B. im Schiffsbau, erwartete. Athen zog

daher auch viele auswärtige Handwerker an, die aber nur im Ausnahmefall eingebürgert, in aller Regel als Metöken, als solche aber gern aufgenommen wurden. Die Erzeugnisse athenischen Handwerkerfleißes liegen uns in zahllosen Funden vor, die an den Küsten des ganzen Mittelmeerraumes und auch noch weit im

Hinterland entdeckt wurden. Wir besitzen zum athenischen Handwerk ferner eine ganze Reihe von literarischen Nachrichten sowie epigraphische und archäologische Zeugnisse aus dem 5. und 4. Jahrhundert und wissen daher relativ gut über diesen Wirtschaftszweig Bescheid. Die teils hektische Entwicklung des Gewerbes hat manchen Gelehrten veranlaßt, von einer „industriellen Produk -

tion“ zu sprechen. Das ist hingegen sowohl von der Arbeitsweise und den Betriebsformen als auch von dem mit dem Erwerb verbundenen Ziel her nicht

Sonde und wirtschaftliche Grundlagen Athens

nchig. Zwar haben

gb Hôtnhersteller, Schuhen, a sogar

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sich die Betriebe verhältnismäßig schnell spezialisiert; es Bettgestellmacher, Lampenfabrikanten, Hersteller von

Zulieferbetriebe z. B. im Lederhandwerk. Auch können wir

bisweileneine Arbeitsteilung innerhalb eines Betriebes beobachten, indem etwa in einer Tôpferei

der

malte. Auch haben

eine die Tonerde mischte, der andere formte, der dritte

viele Betriebe, wie die Schildfabrik des Redners Lysias,

offensichtlich nicht nur auf Bestellung, sondern auch auf Vorrat gearbeitet. Aber der Betrieb blieb doch immer eine Einheit mit einer übersichtlichen Anzahl von Personen, die sich kannten, und es arbeitete der Eigentümer meist auch mit. Die Arbeitskraft war auf diese Weise selbst dann, wenn der Betrieb groß und die Arbeitsteilung weit vorangetrieben war, nicht so sehr versachlicht, daß die Person dahinter zurücktrat, auch nicht die des Sklaven. Zudem waren die Betriebe, die in Athen

auch Werkstatt (ergastérion) genannt wurden, meist klein, in

aller Regel Familienbetriebe mit einigen Sklaven oder Lohnarbeitern. Es konnte auch ein einzelner Haushalt mit seinen Angehörigen und eventuell noch einem Sklaven gewisse Produkte, wie Brot, Mehl oder Kleidung, über den Bedarf des

eigenen Haushaltes hinaus für den Markt produzieren. Würden wir und auch wohl kaum die Athener solchen Teil- bzw. Gelegenheitsbetrieb als Handwerks-

betrieb, als ergastérion also, bezeichnen, waren die Übergänge doch fließend. Betriebe mit 15-20 Arbeitern waren schon groß; über 100 Arbeiter hat kaum jemand beschäftigt. In der Schildwerkstatt des Redners Lysias und seines Bruders arbeiteten am Ende des 5. Jahrhunderts gegen 100 Personen, und sie ist

schon der größte Betrieb, den wir kennen. Der Vater des Demosthenes hatte gut 30 Arbeiter in seiner Messerschmiede und weitere 20 in seiner Móbelwerkstatt,

Timarchos, ein Parteigänger des Demosthenes, zwischen 15 und 20 Lederarbeiter. Die Vermögensverhältnisse des Vaters des Demosthenes zeigen auch, daß reiche Leute eher mehrere kleine oder mittelgroße Werkstätten mit gegebenenfalls unterschiedlicher Produktion als sehr große Betriebe besaßen, dies ein deutlicher Hinweis darauf, daß der große Betrieb nicht üblich, vielleicht betriebswirtschaftlich nicht rentabel war oder nicht für organisierbar gehalten wurde. Die Neigung zu kleineren Betriebsformen zeigt sich auch darin, daß reiche Athener vielfach Freigelassene oder Sklaven als Leiter von kleineren Werkstätten einsetzten, die dem Eigentümer Rechnung legten oder auch in selbständiger Geschäftsleitung einen bestimmten Prozentsatz des Gewinns ablieferten (die Abgabe hieß apophorä; s.o. S. 93). Die Arbeiter in den Betrieben waren Bürger, Fremde (Metóken, Freigelassene) und Sklaven. Unter den Handwerkern, die nach den Abrechnungen zwischen 409 und 405 am Erechtheion arbeiteten, kônnen weniger als ein Viertel als Bürger identifiziert werden, etwa 40% waren Metóken und ca. ein Viertel Sklaven; allerdings haben wir bei diesen Zahlen die hohen Verluste an Bürgern seit 415 zu berücksichtigen. Bürger, Metóken und Sklaven unterschieden sich weder in der Kleidung voneinander noch nach den Arbeiten, die sie verichteten, und

dem Lohn, den sie dafür erhielten. Zwar wurden die Sklaven nicht danach gefragt, was sie zu arbeiten wünschten, und sie waren daher in den Bergwerken weit überrepräsentiert, aber es waren im Arbeitsleben keine formalen Schranken irgendwelcher Art zwischen diesen Personengruppen aufgebaut. Auch die

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Unternehmer,

wenn ich einmal diesen Ausdruck gebrauchen darf, gehörten

allen Schichten an. Der Großßunternehmer war Bürger oder Metóke, ein kleiner Unternehmer konnte jeder sein, denn auch der Sklave, der im apophorä-System für seinen Herrn arbeitete, war ja selbständig. Der Arbeitsmarkt war nach allem, was wir wissen, verhältnismäßig stabil. Wir erfahren jedenfalls nichts über große Arbeitslosigkeit. Das mag teils daran liegen, daß es in wirtschaftlich schlechteren Zeiten eine größere „stille“ Arbeitslosigkeit gab, die nicht auffiel, teils auch daran, daß unter den arbeitenden Handwerkern viele Fremde waren, die zu- und wieder abwanderten und, wenn sie länger in Athen blieben, als

fremde Arbeitslose nicht die Beachtung fanden wie ein arbeitsloser Athener. Der athenische Arbeitsmarkt besaß auch einen Mechanismus, durch den freie

Arbeitskräfte angeworben werden konnten. Er bestand darin, daß die Arbeitsuchenden sich an einem bestimmten Ort einfanden, an dem sie sich anwerben

lassen konnten; der lag in Athen beim Heiligtum des Eurysakes auf dem „Markthügel“ (Kolonós Agoraios) oberhalb der Agora.

Einen Handwerksbetrieb dürfen wir uns nicht zu modern vorstellen. Es gab, wie gesagt, für die Herstellung vieler Produkte eine Arbeitsteilung, wie etwa

auch im Bauhandwerk das Heraushauen der Steine im Steinbruch, der Transport zum Bestimmungsort und das Zuhauen der Blócke dort nicht nur von verschie-

denen Personen, sondern gegebenenfalls auch von verschiedenen Betrieben geleistet wurden. Aber die Arbeitsteilung ergab sich hier wie in vielen anderen

Herstellungsbereichen eher aus der Sache selbst, als daf sie um der Verbilligung der Ware ausgedacht worden war; sie war keine originelle Produktionsweise zur Herstellung von Massengütern. Es fehlte den griechischen, hier speziell den athenischen Betrieben nicht nur auf diesem, sondern auch auf anderen Gebieten

jede Dynamik; vor allem kónnen wir nirgends wirklich wichtige technische

Neuerungen im Handwerksleben erkennen. Um ein Beispiel zu nennen: Außer beim Transport wurde so gut wie alles durch die menschliche Muskelkraft bewegt. Handwerk war noch im eigentlichen Sinne Handarbeit, und sein Wesen und seine Qualität lagen in der handwerklichen Geschicklichkeit und Kunstfertigkeit, nicht im Produktionsvorgang. An Geschicklichkeit und Kunstfertigkeit haben die athenischen Handwerker aber in der Tat Gewaltiges geleistet, und dies beweisen nicht nur die Malereien auf Vasen, die Marmor- und Bronzeplastiken,

Reliefs Dinge mögen, ihnen,

und Schmuckstücke, die auf uns gekommen sind. Wir ordnen diese heute unter die Rubrik der Kunst. Aber so sehr sie das auch verdienen liegt die Kunstfertigkeit des athenischen Handwerkers eben nicht nur in sondern auch etwa in den Arbeiten an Marmorquadern oder Waffen.

Handwerker waren sie alle, und mochte man von Pheidias hóher denken, war

selbst er zunáchst einmal Handwerker. Der Künstler in Athen hatte nicht den Abstand von der Masse der Handwerker, den wir ihm heute unterstellen. Haben

die Athener wie auch die anderen Griechen dieser Zeit die Betriebsformen und Arbeitsvorgánge nicht revolutioniert, ja sie nicht einmal wirklich weiterent-

wickelt, sondern waren sie hier konservativ, eher an Hauswirtschaft und guter Arbeit als an Betriebswirtschaft und Rauonalisierung orientiert, haben sie doch großen Wert auf die Kontrolle der Arbeitsleistung der Lohnarbeiter und Sklaven gelegt. Bezeichnenderweise wurde vielfach nach Stücklohn gearbeitet, und dies

Il. Soziale und wirtschaftliche Grundlagen Athens

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nicht nur dann, wenn das Produkt aus Einzelstücken, wie z. B. Mänteln oder

Messern, bestand, sondern auch wenn es Teil eines komplexeren Arbeitsvorganges, wie das Bemalen eines Bauteiles oder Zerteilen größerer Bauteile, war; hier wurde dann nach Menge (Länge des bemalten Gegenstandes; Anzahl und Umfang der Teilungen) bezahlt. Das Handwerk hat nicht nur die Bedürfnisse der Bevólkerung Attikas in jeder Hinsicht befriedigen können, sondern auch einen großen Teil seiner Erzeugnisse exportiert. Die athenische Handelsbilanz war bei Produkten des Hand-

werks wohl eher positiv. Die meisten Werkstätten befanden sich naturgemäß in Athen und im Piräus, und es konzentrierten sich, wie noch heute im Orient, die

Handwerksbetriebe gleicher oder ähnlicher Art in bestimmten Straßen oder Vierteln, wie z. B. die Tópfer in dem nach ihnen benannten Quartier im Norden der Stadt beim Dipylon-Tor (Kerameikos, von keramos, „Tonerde“, ,,Tonkrug"). Eine schwere Einbuße erlitt das Gewerbe im Peloponnesischen Krieg, in dem

nicht nur der Handel stockte, sondern auch während der spartanischen Einfälle

in Attika viele Sklavenarbeiter fortliefen, so in der letzten Phase des Krieges 20 000 Sklaven, unter ihnen viele Handwerker. Im 4. Jahrhundert haben sich indessen die Betriebe wieder erholen können.

Große wirtschaftliche Bedeutung hatten auch die Bergwerke des Landes, nämlich die Marmorbrüche der sich östlich von Athen erhebenden Bergkette und die Silber/Blei-Gruben im Gebiet von Laureion. Allein letztere haben zeitweise wohl 25 000-30 000 Arbeiter beschäftigt. Obwohl es sich um eine ganz andere Arbeit handelt, war sie betriebswirtschaftlich nicht sehr viel anders als das Handwerk

organisiert. Die Gruben

standen im Staatseigentum, weil die

Eigentumsrechte von Privaten sich lediglich auf die Erdoberfläche, nicht hingegen auf die darunter liegenden Erze erstreckten. Die Schürfkonzessionen wurden von Beamten, den Poleten, vergeben und die Konzessionäre in jährliche

Listen eingetragen, von denen etliche auf uns gekommen sind. Es gab größere und kleinere Konzessionen, und es konnten auch Nichtbürger, vor allem also Metöken, sich am Grubengeschäft beteiligen. Die Pachtverträge waren für Gruben, die ın Betrieb und offensichtlich ergiebig waren, auf drei Jahre begrenzt; für Gruben, die neu erschlossen oder nach einer Zeit der Aufgabe wieder geöffnet wurden, war die Pachtzeit länger, nämlich sieben Jahre, und auch die Pacht

geringer. Das umfangreiche Bergwerksgebiet im Südosten Attikas war also auf

viele Pächter verteilt, doch gab es unter ihnen auch eine nicht ganz kleine Gruppe reicher Unternehmer, die über Generationen hinweg Konzessionen erstanden oder in irgendeiner anderen Weise, erwa als Eigentümer von Mietsklaven, im Bergwerksgeschäft tätig waren. Denn die Pächter wirtschafteten außer mit freien Lohnarbeitern vor allem auch mit Sklaven, die hier, wie ja auch in den Handwerksbetrieben, durchaus neben Freien arbeiteten, und wer keine eigenen

Sklaven hatte oder sich etwa bei neu zu erschließenden Gruben wegen des noch unsicheren Ertrages nicht durch den Kauf von Sklaven finanziell zu stark belasten wollte, konnte sich so von einem auf den Sklavenverleih spezialisierten

Mann die Arbeitskräfte leihen, um vielleicht später, wenn die Grube ergiebig zu werden versprach, u.U. selbst einen oder mehrere Sklaven zu kaufen. Es gab Athener, die ganze Herden von Sklaven besaßen, unter ihnen angesehene und

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

als integre Personen betrachtete Männer, wie z. B. Hipponikos, ein Neffe Kimons, und Nikias, der berühmte Feldherr des Peloponnesischen Krieges, von

denen der erstere 600, der andere 1 000 Sklaven an Grubenpächter verdingte. Für eine Bevorzugung des Sklaven als Bergwerksarbeiter sprach der Umstand, daß seine Arbeitskraft billiger war. Ein Unternehmer bezahlte für einen nicht besonders qualifizierten Mietsklaven dem Vermieter einen Obolos pro Tag und hatte für dessen Unterhalt noch weitere zwei Obolen aufzuwenden; eın freier

Lohnarbeiter kostete demgegenüber aber das Doppelte, also eine Drachme. Im 4. Jahrhundert sind die Sätze um ca. 50% gestiegen. Vorausgesetzt, daß die Lohnberechnungen richtig sind, hätte die Sklavenarbeit die freie Arbeit ersticken müssen. Wenn das nicht der Fall war, wird der Grund vor allem ın dem

Mangel an Sklaven für diejenigen Arbeitszweige, ın denen sie mit den Freien

konkurrierten, zu suchen sein. - Der expandierende Grubenberrieb verlangte schon bald nach genauen Regelungen, die sowohl die Anlage und Bewirtschaftung der Gruben selbst als auch die Streitigkeiten der Grubenbesitzer untereinander betrafen. Der ganze Regelungskomplex wurde als Bergwerksgesetz (metallikös nómos), die gerichtlichen Verfahren als Bergwerksprozesse (metallikaí dikaï) bezeichnet, denen die Thesmotheten vorsaßen.

Die Bergwerkswirtschaft war nicht ohne Risiko, denn sie war extrem abhängig von der Fündigkeit der Grube, die niemand berechnen konnte. Der Grubenpächter genoß darum auch Abgabenfreiheit (ateleia), doch wissen wir nicht seit wann, und gewiß schloß diese die Kriegssteuer (eisphora) nicht ein. Es litt das

gesamte Bergwerkswesen nach einer Blüte in der Mitte des 5. Jahrhunderts auch an den Verwüstungen und dem Verlust eines großen Teils der Sklavenschaft ın der letzten Phase des Peloponnesischen Krieges, als der Feind für viele Jahre von

Dekeleia aus seine Raubzüge ins attische Land unternahm. Erst Jahrzehnte nach diesem Krieg erholte sich die Grubenwirtschaft wieder, auch wenn sie wohl immer unter gewissen Schwankungen der Rentabilität gelitten hat. Aber erst

seitdem Alexander mit der Ausmünzung der ungeheuren persischen Beute an Edelmetallen begann und mit seinen auf attischem Fuß stehenden Münzen den gesamten griechischen Markt überschwemmte, ging mit dem Sinken des Silberpreises und der Konkurrenz der makedonischen Münzen zu den athenischen Silberstücken, die bisher die Weltwährung gewesen waren, das Interesse an dem Grubenbetrieb auf Dauer zurück.

Bei der Beurteilung des Stellenwerts von Handwerk und Bergbau im athenischen Wirtschaftsleben hat man zu bedenken, daß beide Erwerbszweige im Gegensatz zur Landwirtschaft in großem Umfang ın den Händen von Fremden oder Sklaven ruhten. Ein beträchtlicher Teil der Handwerker und der größte Teil der Bergarbeiter waren Sklaven; darüber hinaus waren vielfach auch die Unternehmer Fremde, nämlich Metöken oder Freigelassene. Unter den Eigentümern von Handwerksbetrieben und den Pächtern von Gruben mögen mehrheitlich

Athener gewesen sein; aber unter allen Beschäftigten dieses Wirtschaftsbereiches stellten sie eine Minderheit dar.

Schon ın der ausgreifenden Außenpolitik der Peisistratiden, verstärkt dann seit dem Sieg über die Perser und in der Zeit der Seebundspolitik hat der Handel die Wirtschaft Athens geprägt. Dabei geht es sowohl um den Export

IL. Soziale und wirtschaftliche Grundlagen Athens

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der reichen und vielfältigen Landesprodukte aus Landwirtschaft, Handwerk und Bergbau als auch um die Einfuhr von Massengütern und Stückgut aus allen Lindern des Mittelmeerraumes. Schon den Schriftstellern der Mitte des 5. Jahrhunderts erschien Athen als der Sammelplatz für alle Produkte der Welt, und diessowohl in dem Sinne, daß die Athener den Reichtum der Welt genießen, als auch in dem weitergehenden Sinne, daß alle Menschen die Güter dieser Welt am bequernsten in Athen kaufen könnten. Athen als der Stapelplatz von Produkten aus der ganzen Welt, wohin alle Waren und Händler, sei es von Sizilien und

Italien, sei es von Zypern und Ägypten oder auch vom Schwarzen Meer und Lydien zusammenströmten, war eine Vorstellung, in der sich der Stolz über die einzigartige Seegeltung der Stadt mit dem daraus fließenden Nutzen für sie und für den einzelnen verband. Welche Formen hatte dieser Handel, wer trug ihn,

und wie war sein wirtschaftlicher Stellenwert?

Der athenische Handel war Seehandel; der Binnenhandel über Böotien und

die Megaris war unbedeutend und auch durch die Feindschaft dieser Nachbarn

stets gefährdet. Man hat sich aber vor der - durch die Seegeltung Athens nahegelegten - Annahme zu hüten, daß der Handel, wie vielfach im Römischen Kaiserreich und auch heute in Griechenland, in den Händen einzelner mächti-

ger Schiffahrtsgesellschaften lag, welche die Geschäfte mehr oder weniger bei sich konzentrierten. Es wurde das Seegeschäft im Gegenteil in aller Regel von dem einzelnen Schiffsbesitzer (nasikleros) getragen, der auf eigene Rechnung Waren kaufte und absetzte; nicht immer aber war der Schiffseigner mit dem Händler (émporos), also dem Eigentümer der Handelsware, identisch. Die mangelnde Handelskonzentration hängt von vielerlei Faktoren ab, von denen der

wichtigste die Unsicherheit des Überseehandels war. Die Schiffe waren klein, den Unbilden der Natur ausgesetzt und darüber hinaus immer gefährdet durch Seeräuber und kriegerische Verwicklungen. Zudem war der Absatz unsicher; es gab keine Börse, die Angebot und Nachfrage geregelt hätte. Auch das Nachrichtenwesen war mangelhaft; der Schiffseigner war auf eigene Erfahrungen angewiesen und reiste in aller Regel los, ohne feste Bestellungen zu haben. Auch für die Rückfracht mußte er oft auf sein gutes Glück vertrauen. Weitere Unsicherheiten lagen in dem nicht selten minderen Wert des Geldes, das ihm in der Ferne für seine Ware angeboten wurde und ihn darum oft geradezu zum Kauf von Rückfracht zwang, wollte er nicht mit schlechtem Geld heimkommen. Die

schlechte Münze vieler Städte war in der Tat ein Problem. Athen, das peinlich auf das unverändert gute Korn seiner Münze achtete, bildete da eine rühmliche Ausnahme. Für den Händler aus Athen schlug aber sein gutes athenisches Geld - abgesehen von dem mit ihm verbundenen guten Ruf der Stadt in aller Welt nur zu Buch, wenn er einkaufte; beim Verkauf zwang ihm der fremde Käufer

meist sein eigenes Geld auf, so daß er es am liebsten auch dort gleich wieder loswurde, wo er es erhalten hatte. Eine weitere Beschwernis war die Rechtsunsicherheit im Ausland, wenn der Händler die Hilfe von Gerichten brauchte. Es

gab zwar überall das Institut der Proxenie, das in etwa unseren Konsulaten vergleichbar ıst, und mit einigen wenigen Städten hatte Athen sogar Rechtshilfeverträge abgeschlossen; und nirgendwo fehlte ein für ihn zuständiges Fremdengericht. Aber der Athener war doch in der Fremde auf ein größeres Wohlwollen

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

angewiesen und konnte weniger hart auf sein Recht pochen als zu Hause, und oft genug haben die Fremdengerichte den Einheimischen begünstigt. Ein ganz allgemeines Hemmnis des Handels, das manchen reichen Mann von diesem Erwerbszweig zurückgehalten hat, lag auch darin, daß in der schlechten Jahreszeit, zwischen Oktober und April, die Handelsschiffahrt praktisch ruhte; das

Risiko war bei ungünstiger Witterung für die kleinen Segelschiffe unabsehbar hoch. Die für die römischen Verhältnisse so typischen Seehandelssocietäten konnten sıch auf diese Weise nicht bilden. Der Händler hatte noch etwas von

dem Abenteurer und Glücksritter, und man mag ermessen, was es für ıhn und alle am Handel beteiligten und von ihm profitierenden Menschen bedeutete, als Athen in seinem Seereich den Frieden der Meere propagierte und zeitweise auch verwirklicht hat. Eine Barriere für die Ausbildung größerer Gesellschaften und für die Ent-

wicklung des Handels überhaupt bildete ferner der Mangel an Kapital bei den Schiffseigentümern. Das Risiko des Transports und des Absatzes hat viele ruiniert und manches in der Entwicklung begriffene Handelshaus zurückgeworfen. Das Bargeld war immer knapp. Es kam hinzu, daß die Stadt gerade von ihren reicheren Bürgern, zu denen die Händler ja gehórten, hohe Abgaben forderte, und zwar nicht nur die handelsüblichen Steuern, wie Zólle, die man

auf die Waren aufschlagen konnte, sondern vor allem die Übernahme staatlicher Leistungen (Leiturgien) auf eigene Kosten, wie z. B. den Bau von Kriegsschiffen

und die Stellung und Einübung von Festchóren, verlangte, die u.U. an der Substanz des Vermógens zehrten. In Zeiten der Not nahm sich die Stadt sogar

das Recht, ihre reichen Bürger bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit zur Deckung staatlicher Kosten heranzuziehen. Die Folge war, daß viele ihr Vermögen verheimlichten, andere, die weniger besaßen, sich Geld leihen mußten. So

wurde der Kredit das eigentliche Kernstück des Seehandels. Wenn überhaupt, dann war der Gläubiger der Gewinner des Handels; denn er hatte zwar auch ein

hohes Risiko, aber er konnte dem durch entsprechende Zinsen - der normale Zinssatz betrug 12% - vorbeugen. Es ist kein Zufall, daß die Seedarlehen, im Gegensatz zu den üblichen Handelskontrakten, schriftlich waren; denn die Schriftlichkeit gab dem Gläubiger größere Sicherheit, die er als der stärkere

Partner ın diesem Geschäft durchsetzen konnte. Entwickelten sich auch keine neuen, dem Umfang des Erwerbszweiges angemessenen Betriebsformen des Seehandels, war das Handelsvolumen doch so

groß, daß es die athenische Wirtschaft erheblich beeinflußt hat. Der Handelsplatz im Piräus (Emporion) und der Markt in Athen waren Anziehungspunkte aller Bevölkerungskreise, ob sie nun an dem Handelsleben im engeren Sinne teilhatten oder nicht. Man mochte das Gefühl haben, in der Mitte der Welt zu leben, und man braucht nur die Komödien des Aristophanes zu lesen, um an

diesem Gefühl selbst teilzuhaben. Von wem wurde der Handel getragen? Die am weitesten verbreitete und auch mit vielen, wenn nicht den meisten unserer Daten zur gesamten - Landwirtschaft, Handwerk und Handel zusammenschließenden - Wirtschaftsgeschichte

des klassischen Athen sich deckende Vorstellung geht davon aus, daß der typische Bürger Bauer war, sei es er war der Besitzer eines kleinen oder mittleren

Il. Soziale und wirtschaftliche Grundlagen Athens

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Hofes, sei es Inhaber eines größeren Gutes oder/und vieler kleiner Pachthöfe,

und daß weiterhin viele Athener über Landbesitz hinaus auch über Kapital in Form von Bargeld, Mietsklaven oder kleineren Betrieben sowie Bergwerkskonzessionen verfügten und sie alle mehr oder weniger unabhängig von den Erträgen ihrer Höfe und Kapitalanlagen lebten. Die große Masse der Handwerker und Händler aber waren nach dieser modellhaften Vorstellung Fremde (Metó-

ken), die, soweit sie Kapital benötigten - und dies war besonders im risikoreichen Seehandel der Fall -, sich es vornehmlich bei Bürgern liehen. Nun ist dies gewiß ein Idealbild, das nicht allein aus den konkreten Daten des athenischen Vinschaftslebens zusammengefügt ist, sondern auch Prämissen allgemeinerer Ant enthält, vor allem die Hochschätzung des Landlebens als das dem Bürger

zukommende Tätigkeitsfeld und die Vorstellung von dem Bürger als einem auch ım politischen Raum tätigen Menschen, der nicht vollständig ım Arbeitsleben gebunden sein darf, sondern jedenfalls zeitweilig abkömmlich sein muß, ın die

Vorstellung einbezieht. Die Kritik konnte nicht ausbleiben, und in der Tat lassen sich für alle Grundannahmen Beispiele bringen, die das Gegenteil sagen oder sogar für gewisse Bereiche aufzeigen, daß die Grundannahme falsch ist oder doch stark korrigiert werden muß. So wurde etwa das Seedarlehen, die bedeu-

tendste Form des professionellen Kreditgebens in Athen, offensichtlich sehr selten von Bürgern - eine Ausnahme bildet der Vater des Demosthenes - gegeben. Und natürlich gab es viele Athener, die Handwerker, z. B. Töpfer, waren.

Man wird bei dem heutigen Stand der Forschung aber sagen dürfen, daß zumindest das offene Land vom Bürger-Bauern geprägt war, wie denn ja auch nur er Grundbesitz haben und erwerben durfte, daß aber im Handelsleben und, wie

oben bereits dargelegt wurde, auch im Handwerk ein starkes nichtbürgerliches Element vertreten war, daß sich darunter aber auch wiederum sehr kapitalkräftige Personen befanden. - Von der Frage, wer der Träger des Wirtschaftslebens in Athen war, haben wir zu trennen die danach, wer die Arbeiten ausführte. Es

wurde bereits gesagt, daß im Landleben der Bürger selbst auch der Ausführende

war, dem der freie Lohnarbeiter und der Sklave lediglich zur Seite trat, im Handwerk hingegen neben dem Bürger viele, in manchen Sparten sogar überwiegend Fremde und vor allem Sklaven beschäftigt waren, insbesondere die abhängige Arbeit durch den Sklaven gekennzeichnet ist. Im Handelsleben haben wir ähnliche Verhältnisse anzunehmen wie im Handwerk. Aber es läßt sich wohl kaum sicher ausmachen, ob der Anteil an Bürgern im Handelsleben stárker war als im Handwerk. Es ist in der jüngeren Zeit viel über die Bedeutung der athenischen Einfuhr und Ausfuhr diskutiert und das jeweilige Ergebnis auch in den weiten Rahmen einer Entwicklung der antiken Wirtschaft gestellt worden. In Anlehnung an moderne Gedanken hat man in Athen den Prototyp eines auf Export ausgerichteten Industriestaates sehen wollen, der feste Absatzmärkte hat oder sich neue

sucht und der für seine Fertigwaren auf die Einfuhr von Rohstoffen angewiesen ist. Dem ist mit Hinweis auf die relativ wenig entwickelten Formen des Handels widersprochen worden, und in der Tat lassen unsere Zeugnisse nicht zu, in der aufblühenden Handelsmacht Athen einen gegenüber der älteren Zeit veränderten Wirtschaftstyp zu sehen, der vielleicht sogar so etwas wie eine neue Stufe der

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

wirtschaftlichen Entwicklung verkôrpert und zu den modernen Wirtschaftsformen der hellenistischen Zeit übergeleitet hätte. Das Volumen des Handels, nicht

dessen Formen hatten sich geändert. Athen war weder ein typischer Importeur von Rohstoffen - es führte selbst Rohstoffe, wie Bleı und Marmor, sowie Mas-

sengüter der Landwirtschaft, wie Öl und etwas Wein, aus - noch einseitiger

Exporteur von Fertigwaren, denn es führte gewiß kaum weniger Stückgüter ein, als es verkaufte; die Bedeutung des Exports feiner Keramik ist in der Forschung wohl eher überschátzt worden. Ein betráchtlicher Teil der Waren wurde zudem

nur nach Athen gebracht, um dort an andere Abnehmer weiterverkauft zu werden; die Stadt war also Handels- und Umschlagplatz zugleich. Der Umsatz war daher hoch. 401/00 und 400/399 betrug der zweiprozentige Zoll auf alle im Piráus ein- und ausgehenden Waren 30 bzw. 36 Talente und also der Umsatz unter Einbeziehung eines Verdienstes der Zóllner ca. 2 000 Talente, doch besagt

die Summe nichts über das Verhältnis von Ein- und Ausfuhr. Im ganzen gesehen, dürfte die athenische Auftenhandelsbilanz eher positiv gewesen sein oder, sofern sie leicht negativ war, der Export von Silber (in Form von Silbergeld) die

Bilanz ausgeglichen haben. Wir kónnen darüber allerdings wenig wissen, weil es keine staatliche Aufsicht über die Geldbewegungen gab und ein etwaiger Überschuß oft verheimlicht wurde; aber die Größe des Umsatzes dürfte doch zumin-

dest in den Zeiten lángeren Friedens und ungeschmälerter Macht den Athenern Vorteile gebracht haben. Größer aber war vielleicht noch der ideelle Nutzen, der darin bestand, daß Athen für alle Welt ein Zentrum bildete, die Menschen

überall von dem wußten, was dort geschah, und das Ansehen der Stadt durch die als eine Art Weltwáhrung anerkannte athenische Silbermünze gefórdert wurde.

Láfit sogar der Seehandel, der kráftigste Zweig des athenischen Wirtschaftslebens, keinen Vergleich mit modernen Verhältnissen zu, ist dies erst recht nicht

für die anderen Bereiche der Wirtschaft móglich. Es entwickelte sich in Athen kein Gescháftsgeist, der den Gelderwerb um seiner selbst willen betrieben, zu

diesem Zweck neue Vertrags- und Societátsformen und einen Berufsstand mit eigenem Ethos geschaffen hätte. Auch das Geldgeschäft vermochte sich

daher nur sehr bedingt zu einem in sich selbst ruhenden, unabhángigen Gewerbe zu entfalten, welches das Geld als ein Mittel der Vermógenssicherung oder -vermehrung betrachtet und zu diesem Zweck Kreditgescháfte betrieben

und Geld investiert hátte. Es nahm seinen Ausgangspunkt vom Geldwechseln, also dem Umtausch der zahllosen, oft nicht in einem kompatiblen Verhältnis zueinander stehenden Münzen in die gewünschte Währung, und der Prüfung von Münzen. Das aus der Unkenntnis über Münzfuß und Feingehalt stam-

mende Mißtrauen gegen den Geldwechsler (trapezítés, von trápeza, dem Wechslertisch) machte den Beruf nicht gerade zu einem allgemein angesehenen, aber der Unwille traf eher den einzelnen Mann als den Berufsstand, der sich eben in

der ganzen klassischen Zeit noch nicht so recht zu einem eigenen, in sich selbst ruhenden Berufszweig herausgebildet hatte. Geldwechsler konnte man neben einer anderen Tätigkeit sein, und das war auch durchweg der Fall, und dies auch dann noch, als zu dem Wechseln manches andere Geldgescháft hinzutrat, wie

die Übernahme

von

Bargeld und

Wertgegenständen

zur Aufbewahrung.

Il. Soziale und wirtschaftliche Grundlagen Athens

111

Das Depositengeschäft vermochte dann guten Gewinn zu bringen, wenn das deponierte Bargeld kurzfristig ausgeliehen werden konnte, und das Kreditgeschäft war es denn auch, das sich schnell zum gewinnbringenden Fundament des gesamten Geschäfts mit Geld entwickelte. Bei ihm wurde das Risiko durch das relativ hohe Zinsniveau ausgeglichen; es konnte von „normalen“ 12% bei erhöhtem Risiko bis auf 36% ansteigen, wie im Falle des Aischines, eines Anhängers des Sokrates, der, wohl ein schlechter Zahler, mit dem Kredit eine

Parfümerie aufmachen wollte. Seiner Funktion nach war der überhöhte Teil des

Zinssatzes hier nicht zusätzliche Rendite, sondern Risikoversicherung. An den risikoreichsten Geschäften, den Darlehen für Ferngeschäfte über See (Seedarle-

hen), beteiligten sich Trapeziten übrigens nicht, und dies wohl vor allem, um ıhr Ansehen nicht durch Kredite zu gefährden, die einer Lotterie ähnlicher sahen als einem Geschäft. Aus ähnlichem Grund oder wegen der Höhe der Summen dürften sie auch Kredite für die öffentliche Hand vermieden haben. Sie überlie-

fien sie anderen Personen oder auch Tempeln und auswärtigen Staaten. Trotz der wirtschaftlichen Blüte seit der beginnenden Seeherrschaft hielten sich die Geld-

geschäfte in Athen aber in Grenzen. Es gab überhaupt nur wenige Athener, die mit Geld Geschäfte machten, wie jener berühmt-berüchtigte Pasion (ca. 430-

370), der es vom Sklaven zum athenischen Bürger brachte und im frühen 4. Jahrhundert einer der reichsten Männer war. Es fehlte dem Gewerbe vor allem auch der institutionelle Rahmen,

den heute die moderne

Bank liefert. Denn die

Geldgeschäfte liefen nicht über unpersönliche Anstalten, wie unsere Banken es sind, bei denen die Eigentümer im Hintergrund bleiben, sondern waren Gescháfte unter Privaten, welche die Trennung von persónlicher und gescháftlicher Sphäre noch gar nicht vollzogen hatten. Schuldner und Gläubiger standen sich oft sehr nahe. Lag das Mouv für die Verleihung von Geld daher vielfach im

persönlichen Bereich, verfolgte auch der Schuldner nur selten rein wirtschaftliche Absichten, sondern nahm einen Kredit meist auf, um seinen sozialen Status

zu erhalten oder zu verbessern. Entsprechend wurden in der Mehrzahl der uns

aus dem 4. Jahrhundert bekannten Fille pfandrechtliche Sicherungen auch nicht für Kredite vorgenommen, die dem Kauf von Land oder Waren, sondern für

solche, die der Absicherung des sozialen Status, wie etwa der Sicherung des Vermógens eines Mündels oder der Mitgift einer Frau gegenüber dem Vormund bzw. Ehemann, dienten. Die Aufnahme von Krediten zur Errichtung eines

produktiven Unternehmens ist in klassischer Zeit außergewöhnlich selten. Aus Athen sind nur zwei solche Kredite aus dem 4. Jahrhundert bekannt, von denen

der eine, schon genannte, der Eróffnung eines Parfümerieladens, der andere zum Kauf eines Bergwerkes dienen sollte. Ferner war auch das Immobiliengeschäft

so gut wie vóllig unbekannt. Grund und Boden scheint nach athenischer (wie gemeingriechischer) Mentalitát nicht Gegenstand geschäftlicher Spekulation gewesen zu sein; es fehlt im Griechischen sogar ein Wort für „Immobilien“ oder

„Makler“. Der Grund und Boden galt offensichtlich als Fundament des bürgerlichen Daseins, wie er schon in der Adelszeit die unveräußerliche wirtschaftliche und gesellschaftliche Basis des adligen Geschlechts gewesen war, und stand darum im Prinzip nicht zur Disposition. Der Ausschlu aller Nichtbürger von dem Erwerb von Grund und Boden, der nur in wenigen Fällen durch beson-

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

dere Privilegierung seitens der Volksversammlung aufgehoben wurde, spricht für sich. Die aristokratische Tradition wirkte hier wie in manchen anderen Bereichen ungebrochen in der Demokratie fort. So macht denn das athenische Wirtschaftsleben des 5. und 4. Jahrhunderts den

Eindruck von archaischer Schwerfälligkeit und Unbeweglichkeit, die selbst der große Aufschwung des Handwerks und die enormen Warenumsätze ım Piräus nicht aufzubrechen vermochten. Barkauf und Kreditnahme zur Absicherung des sozialen Bereichs und ohne das Ziel der Gewinnmaximierung überwiegen; die Verkehrsformen ändern sich kaum. Der Durchschnittsathener ist auf Sicherheit aus; er scheint das Wirtschaftsleben eher als eine Last zu empfinden, von der er gern befreit wäre, um sich dem Dasein als Mensch und Bürger zu widmen;

nicht von ungefähr überließen die Athener große Bereiche von Handwerk und Handel den Metóken und Freigelassenen. Das Gewicht der Tradition, die Fixierung des ökonomischen Denkens auf den bäuerlichen Kleinberrieb, das Ideal des Rentners sowie das Gewicht der Fremden in Handel und Handwerk, das die

Entstehung starker wirtschaftlicher Interessenverbände von Bürgern verhinderte, standen so einer Entfaltung der Wirtschaft im Wege, verminderten aber auch die Gefahr, daß die Gesellschaft an einem Wandel der wirtschaftlichen Bedin-

gungen zerbrechen konnte. Selbstverständlich gab es Reiche und Arme, und die Reichen waren kaum weniger übermütig als anderswo und zu anderen Zeiten. Aber sie waren nicht organisiert, und dadurch daß das Land nicht Gegenstand von Spekulationen wurde, bewahrte die Gesellschaft ihren ursprünglichen bäuerlichen Charakter. Die kleinen Bauern wurden nicht von einer Klasse aggressiver Großgrundbesitzer verdrängt, und es bildete sich auf diese Weise kein Proletariat von Enteigneten. Vom Standpunkt der wirtschaftlichen Produktivität aus gesehen, war Athen unterentwickelt und blieb hinter den ihm durch seine Großmachtstellung gegebenen wirtschaftlichen Möglichkeiten zurück. Doch was dem Wirtschaftshistoriker als Mangel erscheinen könnte, wirkte sich im

rein politischen Bereich vorteilhaft aus: Die wirtschaftliche Dynamik bildete keine Kraft eigener Art und vermochte darum auch nicht aus sich heraus den gesellschaftlichen Grundkonsens zu zerstören. Die Entscheidungen in den Volksversammlungen sind von dem einzelnen gewiß nicht immer ohne Rücksicht auf seine persönliche wirtschaftliche Lage getroffen worden; doch es bildeten sich keine Interessengruppen, welche die Abstimmenden in dauerhafte Fraktionen gespalten hätten. Es gab keine „Parteien“ der „Kapitalisten“, der

Tagelöhner oder der Kaufleute. Einer Entscheidung zuzustimmen, sie abzulehnen oder die Teilnahme an einer Abstimmung zu verweigern, wurde nicht durch das wirtschaftliche Gruppeninteresse bestimmt. Die vorangehenden Überlegungen können auch unsere Kenntnisse über die Vermögensverteilung stützen. Reiche und Arme standen einander in Athen nicht, wie in manchen anderen griechischen Städten, in zwei mehr oder weniger festen sozialen Gruppen gegenüber. Selbstverständlich gab es auch in Athen eine Gruppe von sehr reichen Bürgern und Metöken; aber sie dürfte eher klein

gewesen sein, und Gestalten wie der schon genannte Pasion, der sich mit Geld-

geschäften und einer Schildfabrik ein sagenhaftes Vermögen erworben hatte, Kc.

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11. Soziale und wirtschaftliche Grundlagen Athens

113

waren ohne Zweifel eine Ausnahme. Es gab mit Sicherheit auch nicht wenige Tagelöhner, die von Gelegenheitsarbeit lebten. Sie fanden nicht nur in der Glanzzeit Athens meist eine Arbeit. Eine ungelernte Arbeitskraft konnte in den zwanziger Jahren des 4. Jahrhunderts 2 bis 2 1/2 Drachmen pro Tag verdienen, wie wir von Abrechnungen aus Eleusis wissen. Da im Jahre 363 der offenbar nicht gering veranschlagte Lebensunterhalt einer dreiköpfigen Familie mit jährlich 700 Drachmen angegeben wird (Dem. 27,36), konnte der Tagelöhner mit

seiner Familie existieren (im 5. Jahrhundert lag der Tagesverdienst, wie die Abrechnungen für den Bau des Erechtheions, 409/406, zeigen, mit 1 bis 1 1/2

Drachmen niedriger, doch waren auch die Lebenshaltungskosten entsprechend geringer). Die Masse der Bürger aber bestand aus kleinen Landbesitzern, und das Land war offensichtlich auf eine breite Bevölkerungsschicht verteilt. Der größte Teil der Bürger und selbstverständlich so gut wie alle Metöken waren wohl verhältnismäßig gut situiert, hatten Jedenfalls ihr Auskommen, und eine

gar nicht so kleine Gruppe konnte als wohlhabend gelten. Es gab im 4. Jahrhundert immerhin 800 Personen, die ein Vermögen von mindestens drei Talenten (1

Talent = 60 Minen = 6 000 Drachmen), das für die Trierarchie geforderte Mindestvermögen, aufweisen konnten, und noch einmal zusätzlich 400, die zur

Eisphora, der außerordentlichen Vermögenssteuer (s.u. S. 250f.), herangezogen

wurden und nicht sehr viel weniger gehabt haben dürften. Etwa 300 von diesen ca. 1 200 Personen hatten sogar ein Vermögen von mehr als zehn Talenten und durften als reich gelten. Unterhalb dieser Gruppe stand eine breite Mittelschicht von ca. 8 000 Athenern, die ein Vermögen von mindestens 20 Minen aufzuwei-

sen vermochten. Von den etwa 21 000 Bürgern gegen Ende des 4. Jahrhunderts gehörten demnach etwa 9 000 den mittleren und höheren Einkommensklassen an. Allen, insbesondere den ganz Armen, brachte ferner die politische Tätigkeit ın der Volksversammlung, bei den Gerichten, im Rat, als Beamter und Soldat

sowie das Theorikon einen nicht ganz unbedeutenden Zugewinn. Diese Verhältnisse würden, sofern sie richtig rekonstruiert sind, auch die relativ konservative

Einstellung des Durchschnittsatheners gut erklären. Die Demokratie hat selbst in sehr spannungsgeladenen Zeiten nicht an eine Neuaufteilung des Bodens oder an eine allgemeine Schuldentilgung gedacht; sie ist im Gegenteil zu allen Zeiten betont für Recht und Tradition eingetreten. Allerdings war das wirtschaftliche Interessedenken auch aus anderen Gründen kein Thema für die

Demokratie, worauf gleich noch etwas näher eingegangen werden soll. Auch die verhältnismäßig breite Vermögensverteilung hat aber auf jeden Fall dazu beige-

tragen, daß sich in Athen keine Interessengruppen der Wirtschaft zu bilden vermochten und Einfluß auf die Politik gewannen. Die Gedanken zur Vermógensverteilung führen zu der Frage nach dem Ver-

hältnis des Staates zur Wirtschaft ganz allgemein. Vorab ist festzuhalten, daß der Staat, und das heißt: die Bürgerschaft Athens, kein fixiertes Verhältnis zur Wirtschaft hatte. „Wirtschaft“ ist ihr als ein möglicher Gegenstand des Nachdenkens nicht einmal bewußt; sie ist in dem heute üblichen allgemeinen,

die verschiedenen Bereiche des Wirtschaftslebens und die Interessengruppen

zusammenfassenden Sinne kein Gegenstand von Politik, der von sich aus zu Aktivitát angeregt hátte. Das hat mannigfache Gründe. Einmal gibt es kein

114

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Budget, das von dem Zwang zum Ausgleich von Einnahmen und Ausgaben über

viele Jahre hinweg auf wirtschaftliche Überlegungen hätte hinführen können; die Stadt hatte ursprünglich überhaupt keine Einnahmen und beglich die notwendigen Ausgaben durch die Belastung einzelner Personen. Als man später höhere Ausgaben hatte, neigte man dazu, sie jeweils direkt mit bestimmten Einnahmeposten (Leiturgien; Einnahmen aus den staatlichen Bergwerken usw.) zu verbinden. Brauchte die Stadt mehr oder gar in einer Notsituation sehr viel Geld, mußten die Bürger, insbesondere die Reichen, mit einem guten Teil ihres

Vermögens für ıhre Stadt eintreten. Jacob Burckhardt hat für diese Einstellung der antiken Stadt den Begriff der „ökonomischen Tyrannıs“ geprägt. Der Gedanke, daß die Stadt ihre potentiellen Lastenträger schonen mußte, wurde nicht gefaßt. Es herrschte ein rein fiskalisches Denken vor, das nur die Deckung des jeweiligen öffentlichen Geldbedarfs im Auge hatte. Athen war in dieser Hin-

sicht unter den griechischen Städten kein Sonderfall. Aber es ist auch nach Ausbildung der Demokratie, die doch eine ganz neue politische Ordnung war und darum auch ein neues Verhältnis zur Wirtschaft und zum Geld hätte fassen können, von der traditionellen Denk weise nicht abgewichen; ja ganz im Gegenteil hat gerade die demokratische Staatsform dieses Denken noch gestärkt. Denn

die Demokratie hatte von der Phylenreform des Kleisthenes ihren Ausgang genommen, deren Grundgedanke gerade die „Mischung“ der verschiedenen sozialen Gruppen mit dem Ziele der politischen Gleichstellung aller Bürger

gewesen war, und der Gedanke der Losung aller Ämter und Richter, der diese Gleichheit sicherte und vervollkommnete, hat weiterhin dafür gesorgt, daß die

Interessen des einzelnen oder der Gruppe jedenfalls auf der Ebene der Politik ın der uniformen Masse der Bürger erstickt wurden. Die rigorose Durchsetzung

der politischen Gleichheit schloß Wirtschafts- und Interessenpolitik so weit aus, daß das Fehlen jeglicher wirtschafts politischer Aktivität als eine Bedingung der Demokratie bezeichnet werden kann. Es kommt, worauf bereits hingewiesen wurde, hinzu, daß sich auch außerhalb oder neben der Gemeinschaft der

Bürger keine Interessengruppen zu bilden vermochten, weil die wichtigeren Wirtschaftszweige, wie Handwerk, Bergbau und Handel, nicht von den Bür-

gern dominiert oder doch von so vielen Fremden mitgetragen wurden, daf sich keine Wirtschaftslobby von Bürgern gegen den demokratischen Gedanken zu bilden und durchzusetzen vermochte. Es spricht für sich, daß es in der Handels-

metropole der Welt keinen ausgesprochenen Kaufmannsstand gab. Das wirtschaftliche Denken war so wenig entwickelt, daf$ die Stadt auch dort,

wo sie selbst Eigentum hatte, nicht ergiebigen Bergwerke von Laureion, vate verpachtet. Und als Xenophon nern zu einem radikalen Wandel in

als Unternehmer auftrat. Die riesigen und die Staatseigentum waren, wurden an Priin der Mitte des 4. Jahrhunderts den Atheder Ausnützung der Gruben riet, geschah

dies auch nicht, um der Stadt die Ausbeutung selbst in die Hände zu legen,

sondern lediglich, um durch den Ankauf von 10 000 Staatssklaven und deren Vermietung an die Grubenpächter die Rendite zu erhóhen. Und es ist bezeichnend, was Xenophon mit diesen Einnahmen geschehen lassen móchte: Es sollte an die Athener verteilt werden. Es sollten folglich mit dem Geld nicht etwa notwendige Ausgaben bestritten, sondern dem Bürger zu einer kleinen Rente

Il. Soziale und wirtschaftliche Grundlagen Athens

115

verholfen werden. Im Grunde war Xenophon mit seinen Gedanken nicht weitergekommen, als die Athener schon in archaischer Zeit gewesen waren, die ebenfalls mit den auRerordentlichen Einnahmen nichts Besseres anzufangen gewußt hatten, als sie zu verteilen. Es versteht sich, daß bei allem Desinteresse an Fragen der Wirtschaft diese nicht einfach neben der Stadt, und das heißt: neben dem Verband der politisch berechtigten Bürger stand. Denn zum einen gewann die Stadt durch indirekte Steuern, vor allem durch die Zölle, große Summen; die zweiprozentige Steuer auf alle im Piräus ein- und ausgehenden Waren stellte einen der größten Einnahmeposten dar. Auch die am Markt erhobene Verkaufssteuer brachte nicht gennge Betráge. Vor allem aber griff die Stadt dort in das Wirtschaftsleben ein, wo lebenswichtige Interessen der Bürgerschaft auf dem Spiele standen, wohlgemerkt: nicht Interessen einzelner oder von Gruppen, sondern solche der gesamten Bürgerschaft. Hierbei ging es in erster Linie um die Sicherung der Lebensmittelversorgung der Stadt, über die wir jedenfalls für das 4. Jahrhundert einigermaßen gut unterrichtet sind. In der ersten ordentlichen Volksversammlung einer jeden Prytanie, d. h. zehnmal im Jahr, wurde in einem ein für alle Male festgesetzten Tagesordnungspunkt über das Getreidewesen verhandelt, und es sind zahlreiche Beschlüsse auf diesem Gebiet gefaßt worden, die nicht nur aktuelle Notlagen überbrücken, sondern auch für die Zukunft mógliche Engpisse verhindern wollten. So war gesetzlich festgelegt, daß 2/3 allen im Piráus ankommenden Getreides in Athen verkauft werden mußte, daß kein in Athen

ansässiger Schiffseigentümer Getreide anderswohin als nach Athen bringen und

niemand mehr als 50 Kórbe Getreide gleichzeitig einkaufen dürfe. Für die Durchsetzung dieser und zahlreicher anderer Bestimmungen sorgten zehn Ge-

treideaufseher (sitophyÿlakes), die in Athen und im Piräus den Markt beaufsichtigten, und zehn Hafenaufseher (Epimeleten des Emporions), die für die Einhal-

tung der Ein- und Ausfuhrbestimmungen verantwortlich waren. Selbstverständlich wurden gegebenenfalls Getreidekonvois durch Kriegsschiffe in den Piráus geleitet oder auf den Haupthandelsrouten Flottendemonstrationen zur Einschüchterung von feindlichen Stádten und Seeráubern unternommen.

Athen führte aus verschiedenen Überschuflgebieten Getreide ein, so aus Euböa, Ägypten, Thrakien, in spätklassischer Zeit gelegentlich auch aus Sizilien. Das mit Abstand meiste Getreide kam jedoch aus Südruflland, wo seit 438/37

die Spartokiden, die Herrscher des Bosporanischen Reiches beiderseits des Kimmerischen Bosporus (heute Straße von Kertsch), den Handel kontrollierten. Die

Athener schenkten darum auch dieser nórdlichen Handelsroute besondere Auf-

merksamkeit. Sie führte durch die Meerengen und die Ägäis entweder direkt zum Piráus oder auch den kürzeren Weg um die Nordspitze Eubóas herum nach Oropos und von dort auf dem Landweg nach Athen/Piräus. Seit den Anfángen des Peloponnesischen Krieges postierten sie sogar besondere Beamte, die „Be-

wacher des Hellesponts“ (belléspontophylakes) als Aufsichtsorgane für den Getreidehandel in den Meerengen, und sie zeigten ihren Willen nach Herrschaft über dieses Gebiet auch dadurch, daß sie jedenfalls zeitweise einen Transitzoll von einem Zehnten der durchgehenden Waren an den Meerengen erhoben, der nach dem Ende des Peloponnesischen Krieges natürlich wegfiel, aber im 4. Jahr-

116

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

hundert gelegentlich wieder eingeführt wurde. Athen hat im 5. Jahrhundert den gesamten Getreidehandel in der Ägäis beherrscht und auch seine eigenen Bundesgenossen rigoros in sein Handelsinteresse einbezogen und ihm unterworfen. Von den Getreideimporten Athens dürften 50% oder sogar mehr von der Nordküste des Schwarzen Meeres stammen, was die Sorge der Athener um die Sicherheit der Schwarzmeerroute und auch ihr Beharren auf dem Besitz der ihnen seit alters gehórenden Inseln Imbros, Lemnos und Skyros erklärt, die,

zwischen dem Eingang des Hellesponts und Eubóa gelegen, für die Sicherung dieser Route unentbehrlich waren. Blieben die guten Beziehungen zu den Spartokiden auch im 4. Jahrhundert durchweg bestehen, war der Getreidehandel in der Ägäis doch nun zeitweilig erheblich gestört, weil Athen hier nicht mehr die

unbeschränkte Seeherrschaft besaR und, ganz abgesehen von Zeiten offenen Krieges, auch das Seeräuberunwesen damals stark zunahm. Die Schwiengkeiten steigerten sich für Athen noch in der Zeit des aufstrebenden Makedonenreiches unter Philipp und Alexander. Im Jahre 340 kaperte Philipp, ohne schon mit

Athen sich im offenen Krieg zu befinden, am Bosporus kurzerhand eine große athenische Geztreideflotte, die dort auf athenische Begleitschiffe wartete. Die veránderte Sicherheitslage spiegelte sich auch im Getreidepreis wider, der stark schwankte und z. B. in den frühen dreißiger Jahren des 4. Jahrhunderts bis auf das Dreifache, von 5 auf 16 Drachmen für den Medimnos (52,5 l, knapp 33,5 kg), emporschnellen konnte. Bei aller Sorge des Volkes und seiner Organe um die

Versorgung der Stadt mit hinreichend Getreide und trotz allen Drucks, den Versorgungsengpässe und die damit verbundenen Preissteigerungen hervorbringen mochten, beschränkten sich die öffentlichen Maßnahmen doch grundsätzlich auf die gesetzliche Regelung des Handels mit Getreide und die Einrichtung von stándigen Aufsichts- und Kontrollorganen, die für die Einhaltung der ge-

setzlichen Normen zu sorgen hatten. Der staatliche Ankauf von Getreide (sitónía) und dessen Verteilung an die Bürger und Fremden - sei es nun zum Marktpreis, zu einem subventionierten Preis oder gar umsonst - wurde erst sehr spät eingeführt und blieb auch dann eine vereinzelte Maßnahme. Zum ersten Male hóren wir davon im Jahre 338, als nach der Schlacht von Chaironeia Getreide eingekauft und Demosthenes zum Einkäufer (sitónés) gewählt wurde.

Anders als im Rom der ausgehenden Republik und der Kaiserzeit hat Athen,

ebenso wie die anderen griechischen Städte, in dieser Zeit seine Bürger nicht alimentiert. Die kostenlose Verteilung von Getreide an Bürger dürfte sich auf Notsituationen, wie im Peloponnesischen Krieg, als ein großer Teil der Landbevólkerung über Jahre hinweg in den Mauern Athens eingeschlossen war (vgl. Aristoph. „Wespen“ 715ff.), oder auf die Weitergabe von Schenkungen auswärtiger Fürsten, wie die 30 000 oder 40 000 Scheffel Weizen des ägyptischen Prätendenten Psammetichos im Jahre 445/44, beschränkt haben. Die staatliche Aufsicht über den Getreidemarkt, durch die die Stadt sich

direkt in das Wirtschaftsgeschehen einschaltete, zeigt besonders kraß die Einstellung der Bürgerschaft zur Okonomie. Die Okonomie selbst war nicht Ausgangspunkt politischer Aktivitát. Soweit der ökonomische Bereich von der Politik berührt wurde, waren ganz außerhalb dieses Bereiches liegende Zwänge

dafür verantwortlich, und zwar in erster Linie das Bedürfnis nach Deckung

I. Soziale und wirtschaftliche Grundlagen Athens

117

öffentlicher Ausgaben und nach Versorgung der Bevölkerung mit Getreide und anderen für die Stadt lebenswichtigen Gütern (z. B. Materialien für den Schiffsbau, insbesondere Bauhölzer). Der Ausgleich der Bedürfnisse wurde dabei ohne Rücksicht auf die wirtschaftlichen Konsequenzen für den einzelnen oder für einzelne Gruppen betrieben, etwa ohne Rücksicht auf die Vernichtung einzelner oder vieler wirtschaftlicher Existenzen und auf die Blüte oder den Verfall ganzer Wirtschaftszweige. Konnte auf Grund der sozialpolitischen Gegebenheiten Athen keine Wirtschaftspolitik im Interesse einzelner Bevölkerungsgruppen, sondern lediglich zur Sicherung des Güterbedarfs der Stadt, insbesondere des Bedarfs an Getreide für die gesamte Bevólkerung betreiben, ist doch diese Versorgungspolitik auf

manchen Gebieten weiter getrieben worden, als es die begrenzten Ziele gefordert hátten, und so vermittelt Athen im 5. und 4. Jahrhundert bisweilen den Eindruck. eines Wirtschaftsgiganten und einer aggressiven Wirtschaftsmacht.

Die erweiterte ókonomische Perspektive entwickelte sich indessen nicht aus Veránderungen des innenpolitischen Raumes, die ein Umdenken erzwungen hätten, sondern war eine Folge der mannigfachen Möglichkeiten, die den Athe-

nern ihre nach den Perserkriegen zugewachsene Stellung zur See gab und die in dem Maße umfangreicher und realisierbarer wurden, wie der große Stádtebund unter Führung Athens sich in eine athenische Herrschaft verwandelte. Einmal im Besitz eines weiten Untertanengebiets, konnte es dann nicht mehr allein um die Getreideversorgung der Stadt gehen. Der Gedanke daran mag allenfalls den Ausgangspunkt dafür gegeben haben, daß bald weite Zweige des Handelslebens im Seebund Gegenstand allgemeiner Beschlüsse wurden. Wie diese Maßnahmen ihren Ursprung nicht in einem allgemeinen Interesse oder Bewußtsein von „Wirtschaft“ hatten, sondern dem Wandel der außenpolitischen Machtverhältnisse verdankt wurden, erfolgten sie ohne jede systematische Ordnung, waren abhángig von zufälligen Initiativen und entwickelten sich auch nicht im Laufe

der Jahrzehnte zu einer von der Stadt getragenen Wirtschafts- und Handelspolitik. Aber immerhin erhielt dieser Bereich, wenn nicht seinen wirtschaftspolitischen Unterbau, so doch allein durch sein wachsendes Volumen ein gewisses Gewicht. Schon sehr bald ist der Außenhandel offensichtlich aller bundesgenössischen Stádte durch Athen weitgehend reglementiert worden. So wurde z. B. den Stádten der Insel Keos in der Mitte des 4. Jahrhunderts, in der Zeit des Zweiten Seebundes, vertraglich untersagt, den dort gewonnenen Rôtel an einen

anderen Ort als nach Athen zu liefern, und entsprechende Bestimmungen hat es bereits im 5. Jahrhundert für viele oder sogar alle Bundesstádte gegeben. Daß die Athener den gesamten Handel ihres Seebundes nach Bedarf dirigieren zu dürfen glaubten, zeigt auch das folgenschwere „megarische Psephisma", durch das

Athen im Jahre 432 Megara das gesamte Seebundsgebiet für den Handel sperrte und damit die Stadt an den Rand des Zusammenbruchs brachte. Dieser Beschluß, der eine späte Reaktion auf den schon fast 15 Jahre zurückliegenden und längst vertraglich anerkannten Austritt Megaras aus dem Seebund war, sollte den letzten Anstoß zum Peloponnesischen Krieg geben. Alle diese handelspolit-

schen Maßnahmen brachten den Athenern und den in Attika ansässigen Fremden große Vorteile, verschafften zudem der Stadt zusätzliche Einnahmen aus

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Zöllen und Marktgebühren und sicherten die Lebensmittel- und Rohstoffeinfuhren. Trotzdem lagen die Anstösse für eine solche Politik weniger in einem erwachenden ökonomischen Denken als vielmehr in der Herrschaftspolitik: Die Triebkräfte kamen aus dem Gedanken der Herrschaft und waren nicht von den Interessen der Händler oder eines namenlosen Fiskus gelenkt. So diente denn

etwa die Bestimmung des Vertrages Athens mit dem makedonischen König Perdikkas II. vom Jahre 423/22, daß Ruderholz nur nach Athen ausgeführt werden sollte, der Sicherung der militärischen Ressourcen, ist - auf den Seebund

bezogen - ebenso das megarische Psephisma ein Akt der Macht-, nicht der Wirtschaftspolitik, und auch das berühmte Münzgesetz von 450/446, das im gesamten Seebundsgebiet allen Städten die Prägung von eigenen Silbermünzen untersagte und an ihrer Stelle die athenische Münze einführte - ein ungeheuerlicher, bislang in der griechischen Geschichte in dieser Weise nirgendwo vollzogener, weil dem Polis-Gedanken konträrer Akt der Entmündigung freier Städte -, ist zunächst als ein herrschaftlicher Akt anzusehen, der die Bundesgenossen wie in so vielem anderen, so auch im Münzwesen an Athen heranführen

sollte. Aber der Nutzen der Stadt ist andererseits von der reinen Herrschaftspolitik schwer zu trennen. - Von der Sorge um den Schutz des Handels bzw. von einer handelsfreundlichen Politik zeugen auch deutlich die uns für die Mitte des

4. Jahrhunderts bekannten besonderen Bestimmungen für Klagen, die aus Handelsverträgen resultierten. Vor allem die beschleunigte Abwicklung solcher Kla-

gen, die binnen Monatsfrist angenommen (wohl kaum auch schon erledigt) sein mußten, sind als Privilegierung eines bestimmten Bereiches des Rechts anzusehen. Bei aller Aufmerksamkeit, welche die Athener in der Zeit der Demokratie dem Handel schenkten, ist ihre den Handel und die Wirtschaft betreffende

Politik kaum über die Sicherung der Versorgung der Stadt und die Stárkung des Handelsvolumens hinausgekommen. , Wirtschaft" im modernen Sinne hatte man dabei nicht im Blick. Es ging um die Herrschaft der Stadt und um die Sicherstellung ihrer Ressourcen, auch um den reibungslosen Ablauf der Handelsgescháfte, nicht um Gruppeninteressen und Fórderung bestimmter Wirtschaftszweige.

III. Organisation von Heer und Flotte l. Das Heer Zum Wehrdienst war im Athen der entwickelten Demokratie jeder Bürger verpflichtet; doch dienten wegen des Gebots der Selbstausrüstung zunächst nur die Angehörigen der drei Zensusklassen als Schwerbewaffnete (Hopliten), die

übrigen als Ruderer auf der Flotte oder als Leichtbewaffnete. Neben den Bürgern leisteten auch die Metöken Kriegsdienst, und dies auch als Hopliten; ihr Einsatz war jedoch generell auf Besatzungsdienste in Attika und auf Kriege gegen Grenznachbarn beschränkt. Darüber hinaus wurden besonders für die Flotte Fremde, vor allem Personen aus dem Bundesgenossengebiet, angeworben;

manche Fremde meldeten sich auch freiwillig. Sklaven hingegen wurden lediglich im äußersten Notfall ins Heer eingereiht, zum ersten Male gegen Ende des Peloponnesischen Krieges.

Der athenische Bürger war vom vollendeten 18. bis zum 60. Lebensjahr wehrpflichtig. Die beiden ersten Jahrgänge leisteten wahrscheinlich bereits seit dem 5. Jahrhundert einen regulären Wehrdienst als Rekruten ab, in dem sie in dem Gebrauch der Waffen unterwiesen wurden. Diese im 5. Jahrhundert auch als periploi, dann allgemein als Epheben benannten Jahrgänge unterstanden besonderen Befehlshabern; sie mußten im ersten Jahr ohne Waffen das Kriegshandwerk üben und leisteten im zweiten Jahr, nachdem ihnen feierlich Schild

und Speer überreicht worden waren und sie den Fahneneid (Ephebeneid) abgelegt hatten, Wachdienst in den Grenzfestungen. Die Ephebie ist in ihrer für alle verbindlichen, auf zwei Jahre ununterbrochenen Dienstes festgelegten Form erst

in den Jahren nach Chaironeia ausgebaut und später auch - zu Lasten der militärischen Ausbildung - im Sinne einer kulturellen Erziehungsanstalt weiterentwickelt worden. Zum Dienst als Schwerbewaffnete waren seit dem Ende des 5. Jahrhunderts

auch die Unbemittelten zugelassen, denen dann - wie jedenfalls zum Teil auch den Angehörigen der Klassen - die Ausrüstung aus dem Zeughaus gestellt wurde. Die Hopliten waren in einer Liste (Katalog) erfaßt und wurden entweder phylen- oder jahrgangsweise ausgehoben. Naturgemäß zog man die älteren

Jahrgänge nur im Notfall zum aktiven Dienst heran und verwendete sie vor-

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

nehmlich für Besatzungsdienste. Die Phyle bildete auch für die Heeresverfassung die organisatorische Grundeinheit. Nach der Phylenreform des Kleisthenes stellte jede Phyle eine Kampfeinheit (Taxis, ,,Regiment“), die zunächst einem

Strategen, seit der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts dem Taxiarchos unterstellt war. Die Stärke eines jeden Phylenaufgebots betrug um 500 ca. 1 000 Schwerbe-

waffnete, das Gesamtaufgebot also 10 000, kurz vor dem Peloponnesischen Krieg ca. 13 000 Mann. Das athenische Heer war, wie alle Heere der griechischen Städte der klassischen Zeit, die Gemeinschaft der Bürger in Waffen. Solange die Unbemittelten noch keinen Kriegsdienst leisteten, also ın der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts,

war die Phalanx der Hopliten darum identisch mit der Gesamtheit der politisch aktiven Bürger (nach unserer Terminologie: mit dem Staat der Athener). Bei Marathon etwa, wo das gesamte Aufgebot kämpfte, stand also die ganze Stadt Athen in der Schlachtreihe. Mit den Vorteilen eines Milizheeres, nàmlich der

stándigen Verfügbarkeit einer starken Truppe, der Einsatzbereitschaft der für die eigene Sache kämpfenden Soldaten und dem, wenn nicht kostenlosen, so doch

verhältnismäßig billigen Unterhalt, teilte es dessen Nachteile: Der Soldat war kein routinierter Berufskämpfer, im Waffenhandwerk trotz der späteren Einrichtung einer Rekrutenausbildung in der Ephebie nur unvollkommen geübt und zu den auch in Athen besonders in Kriegszeiten angesetzten militárischen Übungen schon aus wirtschaftlichen Rücksichten nicht gern bereit. Als Milizen bezogen die Soldaten selbstverständlich keinen Sold im eigentlichen Wortsinn; vielmehr galt der auch dem Hopliten ausgezahlte Betrag als Entschádigung für entgangenen Arbeitsgewinn und war darüber hinaus für die nur zum Teil von städtischer Seite gestellte Verpflegung und u.U. für einen Diener, meist einen Sklaven, der das schwere Gepäck des Hopliten zu tragen hatte, bestimmt. Diese

Geldsumme betrug 3-4 Obolen (zum Vergleich: der Tagesverdienst eines Handarbeiters 2-3 Obolen), zeitweise auch 1 Drachme (= 6 Obolen). Als auch die

Theten zum Kriegsdienst herangezogen wurden, mußten gerade auch sie, die kein Vermógen hatten, selbst dann, wenn sie nur als Ruderer dienten, diesen

Sold erhalten. Der Reiter, dessen Unkosten sehr viel höher lagen - er mußte u.a. auch ein Reservepferd unterhalten -, bekam den doppelten Betrag, dazu ein Futtergeld (s.u. S. 121). Schon in der Zeit des Ersten Seebundes warben die

Athener Ruderer und Leichtbewaffnete, darunter mit speziellen Waffen ausgerüstete Soldaten fremder Herkunft, an, so daß seitdem das alte Milizsystem durch das Sóldnerwesen nicht unerheblich ergánzt wurde. Dies führte dann im 4. Jahrhundert, vor allem seit dem großen Heeresreformer Iphikrates, zu einer für das Bürgerheer nicht ungefährlichen Ausweitung des Sóldnerwesens. Trotz

allem ist bis zum Ende der griechischen Freiheit sowohl in Athen als auch in den anderen griechischen Stádten der Milizgedanke das für die militárische Organisation grundlegende Prinzip geblieben. Die Hopliten bildeten auch in der Zeit der größten Flottenrüstung die Basis der Armee, und dies nicht nur vom rein militárischen Gesichtspunkt her: Bei allem Engagement der Ruderer auf den Kriegsschiffen konnten doch nur sie

den Bürger in Waffen darstellen, und sie blieben auch in der Realität des Krieges das eigentliche Boll werk der Stadt. Der Hoplit war mit Helm, Beinschienen und

III. Organisation von Heer und Flotte

121

einem Panzer aus Leder oder Leinen, der meist mit Metallbeschlägen verstärkt

war, ausgerüstet; seine Hauptwaffe war in der ganzen klassischen Zeit der übermannshohe Spieß, also eine Stoßlanze, neben der dem kurzen, zum Hieb

und Stich geeigneten Schwert lediglich der Wert einer Reservewaffe zukam. Die Phalanx bildete eine ununterbrochene Linie von Soldaten, deren Prinzip in der

Deckung des Nebenmannes (die rechte Seite des Hopliten wurde durch den Schild des rechten Nachbarn gedeckt) und in der Wucht der auf den Gegner anstürmenden Reihe lag. Selbst eine eiserne Disziplin aber dürfte eine so lange Linie kaum zusammengehalten haben, wenn es nicht innerhalb derselben eine Gliederung gegeben hätte, an der sich der einzelne beim Vormarsch und bei eventueller Unordnung orientieren konnte. Diese Unterabteilung war im athenischen Heer der Lochos, eine etwa 300 Mann starke Einheit.

Neben den Hopliten besaßen die Athener auch eine Reiterei. Sie wurde von

kleinen Anfängen bis zum Vorabend des Peloponnesischen Krieges auf die Stärke eines Korps von 1 000 Mann gebracht, das zwei Hipparchen (Reiterobristen) unterstand. Da auch die Reiterei phylenweise ausgehoben wurde, unter-

standen jedem Hipparchos die Reiter von fünf Phylen; das einzelne Phylenaufgebot befehligte ein Phylarchos (Rittmeister). Der Reiter erhielt für die Anschaffung des Pferdes einen einmaligen Zuschuß und für den Unterhalt ein Futtergeld von 4-6 Obolen täglich; bei unverschuldetem Verlust des Pferdes wurde

ebenfalls eine Summe für die Neuanschaffung bezahlt. Da der Reiterdienst trotz des staatlichen Zuschusses kostspielig war, versahen ihn die Reicheren, vor allem die Angehörigen der ersten beiden Zensusklassen. Die Reiter wurden regelmäRig vom Rat, der auch Musterungsbehórde war, gemustert. Das von der Erinne-

rung an die Adelszeit genáhrte Ansehen des Reiterdienstes, ferner das in aller Regel nicht geringe Vermögen der Reiter und schließlich ihr im öffentlichen Leben, insbesondere auf Festzügen wie den Panathenäen glänzendes Auftreten schufen einen Korpsgeist, der auch institutionellen Niederschlag fand: Die Ge-

samtheit der Reiter bildete eine Kórperschaft mit BeschluRfähigkeit für interne Angelegenheiten. - Die Bewaffnung der Reiter bestand aus leichten Wurflanzen, gelegentlich auch einer Stoßlanze, und aus einem kurzen Schwert oder Dolch.

Der militärische Wert der Reiterei war allerdings gering, da Steigbügel und Sattel unbekannt waren und der Reiter also, lediglich auf einer Wolldecke sitzend, bei Angriff und Verteidigung keine Durchschlagskraft besaf$; er konnte allzuleicht vom Pferd fallen. Es kam hinzu, daß die athenische Reiterei, obwohl

der Stolz der Stadt, nicht die allerbeste war; jedenfalls galten manche Stádte bzw. Stámme, vor allem die Thessaler und Thebaner, als in dieser Kampfesgat-

tung bedeutend erfahrener. Von nicht unwesentlicher Bedeutung war auch die schon in dem groften Perserkrieg verwendete, dann besonders in der Seebundszeit weiter ausgebildete Truppe der Bogenschützen (nach ihrer Hauptwaffe, dem Bogen, tóxon, To-

xoten genannt). Diese Truppe war schließlich 1 600 Mann stark und wurde ebenfalls phylenweise ausgehoben. Sie wurde zeitweise nicht unerheblich aus Fremden, die diese Waffe besonders gut beherrschten, vor allem aus Thrakern,

Skythen und Kretern, rekrutiert. Die berittenen Bogenschützen (Hippotoxen), deren Zahl 200 betrug, setzten sich gar überwiegend aus Fremden zusammen.

122

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Die kleine Truppe der Hippotoxen wurde wahrscheinlich in der ersten Hälfte

des 4. Jahrhunderts aufgegeben und durch eine Truppe von leichtbewaffneten Plänklern bzw. Kundschaftern, den Prodromoi (pródromoi, d.ı. „Vorausläufer“), ersetzt.

Die Bogenschützen zeigen bereits den Übergang zur eigentlichen Söldner-

truppe an. Spezialeinheiten aus Leichtbewaffneten wurden zum größten Teil aus Fremden zusammengestellt, und zwar alle drei Hauptbereiche der leichtbewaffneten Truppe: Neben den Bogenschützen auch (nach ihrer Spezialwaffe, dem aköntion, Akontisten genannt), mit einer Handschlinge versehene Speere verwendeten, und (nach ihrer Waffe, der sphendôné, Sphendoneten genannt), die

die Speerwerfer die leichte, z. T. die Schleuderer Steine oder Blei-

kugeln schleuderten. Da die Eignung zu diesen Spezialdiensten landschaftlich unterschiedlich war, überwogen in den einzelnen Kampfgattungen bestimmte Nationalitäten, z. B. bei den Schleuderern die Kreter und Rhodier, bei den

Speerwerfern die Thraker und Akarnanen. - Iphikrates schuf Anfang des

4. Jahrhunderts aus Athenern und Fremden ein besonderes Korps von Fußsoldaten, deren Bewaffnung schwerer als die der Leichtbewaffneten und leichter als die der Hopliten war: Sie besaßen den leichten Rundschild (pélté, danach Peltasten benannt) und den Wurfspeer, daneben aber Spieß, Schwert und Harnisch.

Diese Truppe sprengte sowohl durch ihre Mischbewaffnung als auch durch den

Umstand, daß für ihre Aufstellung die Zugehörigkeit zu bestimmten Stämmen nicht maßgeblich war, den üblichen Rahmen der leichtbewaffneten Verbände. Obwohl nicht unwichtig, war ihr jedoch keine große Zukunft vergónnt. Die Kommandoverhältnisse waren insoweit klar gegliedert, als den Einsatz und die Aushebung der Truppe grundsätzlich die Volksversammlung bestimmte. Das Aufgebot befehligten die Strategen, später die Taxiarchen als Truppenführer (Regimentskommandeure). Die Heeresleitung, also die strategische Führung, hatten einer oder mehrere, seltener auch alle zehn Strategen inne; gegebenenfalls verlieh die Volksversammlung einem Strategen besondere Vollmachten, die zu eigenem Entschluß berechtigten. Der athenische Feldherr war jedoch in seiner Entschlußfreudigkeit außergewöhnlich stark durch die ihm nach oder schon während des Feldzuges stets drohende Rechenschaft vor dem Volk gebremst. Selbst bei engster Fühlungnahme mit dem Rat, dem er Bericht zu erstatten hatte, mußte er bei Fehlschlägen eine Anklage befürchten, die ihn

mit Tod oder Verbannung bedrohte. Manche Feldherren sind daher nach einer Niederlage, ohne überhaupt die Reaktion des Volkes abzuwarten, nicht mehr nach Athen zurückgekehrt. Da die Volksversammlung nicht nur vor, sondern auch während eines Unternehmens die militärische Operation lenkte, war es für eine verantwortliche Führung bisweilen schwer, sich zwischen dem Volksbeschluß und den u.U. ganz offensichtlichen militärischen Notwendigkeiten hindurchzulavieren. Die für die athenische Demokratie so typische Tendenz zur Schwächung der Regierung verschonte die militärische Führung nicht, auch

wenn die Strategen nicht gelost, sondern gewählt wurden und obwohl die militärische Situation oft eine größere Selbständigkeit der Amtsführung verlangte. Aber selbst erfolgreiche Feldherren, wie die Strategen der Schlacht bei den Arginusen (406), konnte das Strafgericht des Volkes treffen, wenn irgend

Ill. Organisation von Heer und Flotte

etwas nicht so abgelaufen

war, wie man

123

es sich vorgestellt hatte, und der

rückschauende Betrachter ist darum nicht wenig darüber erstaunt, daß die Athener angesichts dieser Kommandoverhältnisse so viele tüchtige Personen für das Strategenamt fanden und daß sie bei allen Pannen so viele bedeutende Siege

errangen. Die Kampfesweise in der Schlacht war in ihrer Struktur einfach und für ille griechischen Stádte gleich. Die beiden gegnerischen Phalangen unterschieden sich im Prinzip lediglich durch ihre Tiefe, die normalerweise 8 Mann, aber auch weniger oder mehr (3, 12, sogar 25) betrug, und durch ihre Länge vonein-

ander, was beides wiederum vor allem von der Stárke des Aufgebots abhing. Die Strategie einer Schlacht erschópfte sich in dem gleichzeitigen Gegeneinanderrennen der Schlachtreihen, und angesichts der gleichen Ausrüstung und Kampfweise wurde der Kampf durch die größere Tapferkeit, Geschicklichkeit, Erfahrung und Ausdauer entschieden; hier stand nicht der Feldherr, sondern der

Kneger im Mittelpunkt. Nichtsdestoweniger gab es auch bei dieser Kampfesform, bei der nicht Taktik und Strategie, sondern die vorgegebene Formation selbst den Kampf bestimmte, schlachtenentscheidende Faktoren, die auch von den Kämpfenden bedacht wurden: Die Tiefe der Phalanx gab Wucht, die Linge die Móglichkeit, einen Flügel des Gegners zu umfassen. Ferner versuchten die Hopliten mancher Phalangen zusätzliche Kraft für den Zusammenprall dadurch zu gewinnen, daß sie das letzte Stück liefen (drómos, kaum mehr als 50 m); die Spartaner unterließen bewußt diesen Lauf, weil sie ihre Linie fester zusammen-

halten und auf diese Weise ihre größere Übung im Nahkampf besser zur Geltung bringen wollten. Solche Schlachten verlangten ebenes Gelände, und alle Hoplitenschlachten fanden denn auch in Ebenen statt. Hier war kein Raum für

Manóver um die bessere Ausgangsposition im Gelände. Man suchte vielmehr zum Messen der Kráfte in mehr oder weniger stillschweigendem gegenseitigen Einvernehmen den Kampfplatz. Bei dieser Kampfes- und Denkart war die Schlacht mit dem Zurückwerfen der gegnerischen Reihen entschieden. Verfolgungen fanden so gut wie niemals statt; es fehlten den schwergerüsteten Kämpfern nach einer Schlacht auch in aller Regel die physischen Kräfte dazu. So endete die Schlacht mit dem Aufstellen des Siegeszeichens (tropaíon) auf dem Kampfplatz und der unter einem Waffenstillstand vollzogenen Beisetzung der Gefallenen. Leichte Truppen und die Reiterei hatten in der Schlacht nur untergeordnete Funktionen. Die Reiterei zumal, die in makedonischer Zeit eine so wichtige Truppe werden sollte, besaß nur geringen taktischen Eigenwert; es gab

keine Reiterschlachten bzw. Überflügelungen durch Reitereinheiten, wie sie uns z. B. aus dem 2. Punischen Krieg oder vor allem aus dem 18. Jahrhundert bekannt sind. Reiter und Leichtbewaffnete kämpften entweder gegeneinander oder einzeln gegen Hopliten, eróffneten bisweilen den Kampf und schützten die Hopliten. Ihre Funktion war durchaus sekundärer Natur, und dies galt unbeschadet der Tatsache, daf insbesondere den Leichtbewaffneten gelegentlich eine stárkere, in die Schlacht integrierte Rolle zugewiesen worden ist. Die Entwicklung der Schlacht von dem einfachen Zusammenstoß der Fronten zu einer Schlachtentaktik, in der die planvolle, überlegte Aufstellung der

Truppe deren bloße Kraft ergänzte, nahm ihren Ausgang von einer besonderen

124

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Eigentümlichkeit des Kampfes in der Phalanx. Da nämlich jeder Phalangit für seine offene rechte Seite den Schutz des Schildes seines rechten Nebenmannes suchte, verzog sich die Phalanx von selbst nach schräg rechts, so daß beim Zusammenprall die Fronten nicht gerade, sondern in erwas schräger Aufstellung

und dazu mit jeweils die andere Phalanx überkragendem rechten Flügel standen. Die Folge war, daß meist die jeweiligen rechten Flügel siegten und bisweilen erst ein zweites Treffen der rechten Flügel, die beide unbesiegt waren, die Entscheidung brachte. In der Schlacht von Delion im Jahre 424 haben die Böoter gegenüber den Athenern aus dieser Eigenheit, die im Grunde ein „Fehler“ war bzw. auf einem „fehlerhaften“ Verhalten der Hopliten beruhte, eine besondere

Taktik entwickelt. Sie verstärkten nämlich bewußt den an sich schon stärkeren rechten Flügel zusätzlich dadurch, daß sie ihn 25 Mann tief staffelten. Die Athener, die sich mit der üblichen Tiefe von 8 Mann begnügt hatten, wurden auf

diese Weise auf ihrem linken Flügel verhältnismäßig schnell geschlagen und ihre Linie von dorther teilweise aufgerollt. Der geniale thebanische Feldherr Epaminondas hat dann diese Taktik weiterentwickelt, indem er in der Schlacht bei

Leuktra gegen die Spartaner (371 v. Chr.) seinen linken Flügel stärkte (er war 50 Mann tief gegenüber 12 Mann bei den Spartanern!), ihn durch die Reiterei in der Flanke sicherte und ıhm die Rolle des Angreifers gab, die bisher der rechte Flügel gehabt hatte.

Schema der Schlacht von Leuktra

Spartaner

Bóoter

Da der rechte Flügel der von der natürlichen Bewegung der Phalanx her schwer besiegbare Flügel war, entschied Epaminondas mit dem Sieg seines

linken Flügels (bei hinhaltend kämpfendem rechten Flügel) über den feindlichen rechten Flügel die Schlacht. Diese Taktik wird als die der ,schiefen

Schlachtordnung" bezeichnet. Denn war man bisher trotz schrág nach rechts

verzogener Schlachtreihe lediglich mit etwas im entgegengesetzten Uhrzeiger-

III. Organisation von Heer und Flotte

125

sinn verdrehter Ordnung, aber frontal aufeinandergetroffen, stieß jetzt der lin-

ke, angreifende Flügel (bei zurückgehaltenem rechten) in einem spitzen Winkel, also „schief“, gegen den feindlichen rechten Flügel. Mit Epaminondas begann die Schlachtentaktik im engeren Sinne. Auch die großen athenischen Feldherren der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts haben manche taktische Neuerungen geschaffen.

So

baute

Iphikrates

die

Leichtbewaffneten

(Peltasten)

zu

einer

besonderen Waffengattung aus und gab ihnen eine wichtige Funktion in der

Schlacht. Im Prinzip aber blieb die Hoplitenphalanx das entscheidende Kampfinstrument und hat sich bis zum Ende der klassischen Zeit, also bis auf die

Hegemonie Makedoniens, an dem Charakter der Schlacht als eines Gegeneinanderrennens der Schwerbewaffneten nichts geändert. Erst die Makedonen haben

tiefergreifende Veränderungen im Aufbau und in der Kampfesweise des Heeres geschaffen, durch die dann auch die Reiterei eine tragende Rolle erhielt.

Die athenischen Hopliten begründeten ıhren Ruhm durch die Schlacht von Marathon, in der sie, allein auf sich gestellt, die persische Invasionsarmee geschlagen hatten, und sie erneuerten ihn bei Platää, wo sie mit den verbündeten

Griechen gemeinsam gegen die Perser kämpften. In der Zeit der entwickelten Demokratie waren sie nicht immer so erfolgreich; schon in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts mußten sie mehrere schwere Niederlagen hinnehmen. Die athenische Phalanx war nicht nur der spartanischen nicht ebenbürtig, was bei keinem Griechen als eine Schande galt; sie war etwa auch den Böotern deutlich

unterlegen, die die Athener in zwei blutigen Schlachten- bei Koroneia (447) und Delion (424) - besiegen konnten. Wenn auch der Hoplit weiterhin das Funda-

ment der Verteidigung blieb, sahen die Athener doch mehr und mehr in der Flotte das eigentliche Instrument ihrer Militärpolitik, dies jedenfalls besonders dann, wenn diese offensiver Natur war.

Ein befestigtes Lager, dem die Römer einen großen Teil ihres Erfolges verdankten, haben die Griechen gewöhnlich nicht angelegt. Aber selbstver-

ständlich wählte man für das Lagern einen geeigneten Platz, und es gab auch eine auf Gewohnheit beruhende Lagerordnung. Die Marschordnung war demgegenüber schärfer reglementiert, weil es bisweilen notwendig war, sich aus dem Marsch heraus zur Schlachtordnung zu entfalten. Wie sonst im Kriegshandwerk

waren die Spartaner auch hierin am besten geübt. Gegen Angriffe von Land und See auf Athen/Piräus bzw. auf Attika hatten

sich die Athener auch durch Befestigungsanlagen geschützt, die von ihrem Umfang her in der griechischen Welt ihresgleichen suchen und wohl nur mit den Befestigungen von Syrakus, wie sie Dionysios I. in der Zeit seiner Herrschaft über die Stadt (406-367) errichtet hatte, vergleichbar sind. Gleich nach

dem Abzug der Perser haben die Athener auf Drängen des Themistokles ihre zerstörten Mauern wieder aufgebaut (479/78). Diese 6 km lange Mauer bestand aus einem Steinquadersockel mit darauf gesetzter Lehmziegelmauer. Zwischen 460 und 445 ist sie durch die Einbeziehung des bereits seit 493/92 mit einer eigenen Mauer befestigten Piräus in einen einzigen großen Mauerkreis eingebunden worden (s. Karte auf S. 126). Dabei wurde Athen zunächst durch eine nördliche Mauer mit dem Piräus (Nordmauer) und durch eine südliche mit dem alten Hafen Phaleron (Phalerische Mauer) verbunden, wodurch nun beide Hä-

126

fen zusammen

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

mit Athen

innerhalb eines riesigen Festungswerkes

lagen.

SchlieRlich wurde in einem Abstand von einem Stadion (164 m) südlich der

Nordmauer und parallel zu ihr eine dritte Mauer gebaut, so daß nunmehr Athen mit seinem Hafen zusätzlich durch eine breite, ca. 6,5 km lange und von zwei Mauerschenkeln (die „Langen Mauern“) geschützte Straße auf dem kürzesten

Wege verbunden war. Die Binnenstadt Athen war damit gleichsam zur Seestadt geworden, und in dem gewaltigen Areal zwischen den Mauern konnte im Pelo-

ponnesischen Krieg ein großer Teil der ländlichen Bevölkerung vor den Einfällen der Spartaner und ihrer Bundesgenossen Schutz suchen. Versorgungsprobleme gab es dabei kaum; Athen hatte die Seeherrschaft. Aber es konnten doch von

den auf relativ kleinem Raum zusammengedrängten Menschen politische und gesundheitliche Gefahren für die Stadt ausgehen, wenn die Flüchtlinge längere

Zeit zwischen den Mauern ausharren mußten: Die Verwüstung des Eigentums auf dem Lande durch die Feinde und die Enge des Raumes konnten bei den Massen unerwartete Emotionen erzeugen und die Ausbreitung von Krankheiten fördern. Die schreckliche Pest der Jahre 430/26 raffte allein von den wehrdienst-

fähigen athenischen Bürgern 4 700 Männer hinweg, das war ein Sechstel der damaligen Bevölkerung im Wehrdienstalter. - Die Befestigungen von Athen mußten, einschließlich der „Langen Mauern“, nach der Niederlage von 404

v. Chr. geschleift werden, doch wurden sie schon 394/95 von Konon wiederhergestellt. Endgültig zerstórte Sulla das gesamte Befestigungssystem im Jahre 86

Das Mauerwerk von Atben/Pirdus (nach: Jean-Pierre ADAM, L'Architecture militaire grecque, Paris 1982, S. 201)

Ill. Organisation von Heer und Flotte

127

v. Chr., und zumindest die Mauern des Piräus und die „Langen Mauern“ sind

danach nicht wieder aufgebaut worden. Nicht nur Athen, auch das attische Land schützten Befestigungen, nämlich an srategisch wichtigen Stellen errichtete Forts und etliche Wehr- und Signaltürme, die untereinander durch Straßen verbunden waren. Diese Befestigungen sicherten die Zugänge nach Attika und nach Athen sowie die Küstenregionen gegen Einfälle von Land und See. Im 4. Jahrhundert gab es neben zahlreichen Einzeltürmen acht größere Festungen, nämlich Panakton, Oinoë und Phyle an der Landgrenze sowie Eleusis, Anaphlystos, Sunion, Thorikos und Rhamnus an der Küste. Die Masse dieser Bauten, insbesondere die Forts, gehören ın die

Jahrzehnte nach dem sogen. Korinthischen Krieg (395-387), als Athen nach dem Zusammenbruch von 404 wieder zu Stärke und Selbstvertrauen gekommen war. Mit diesem umfangreichen Befestigungswerk zogen die Athener damals die

Konsequenzen aus den Erfahrungen des Peloponnesischen Krieges, in dem der Feind lange Zeit Jahr um Jahr ins Land gekommen und sich schließlich sogar mitten in Attika niedergelassen hatte, um das offene Land zu verheeren. Es mag zu dieser Politik einer „Festung Attika" auch beigetragen haben, daß mit dem

Wandel der Kriegstaktik in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts die leichten und beweglicheren Waffengattungen an Bedeutung gewonnen hatten und dadurch die Gefahr von kleinen oder auch grófteren Plünderungszügen im Kriege

größer geworden war. In den Festungen taten der zweite Jahrgang der Epheben (s.0.) sowie die älteren Jahrgänge und auch Metóken Dienst.

2. Die Flotte Der militärische Stellenwert der athenischen Flotte war dem des Heeres im 5.

und 4. Jahrhundert gleichrangig, zeitweise sogar deutlich übergeordnet.

Kriegsschiffe waren in der Antike stets Ruderschiffe, weil der Erfolg des

Kampfes in erster Linie von der Beweglichkeit des Schiffes abhing. Zwar besaß

jedes Kriegsschiff auch einen Mast und Segelwerk; doch wurde nur für die Fortbewegung auf längeren Strecken, niemals im Seekampf gesegelt. In der

Schlacht wurde der Mast abgebaut, um die Bewegung von Ruderern, seemännischem Personal und Soldaten nicht zu beeintráchtigen. In der klassischen Zeit besaßen die Athener die mit Abstand größte Flotte unter den Griechen. Noch im 6. Jahrhundert waren Korinth, die Insel Ágina, Samos und Milet die großen seefahrenden Städte gewesen, die auch starke Knegsflotten unterhielten. In der Schlacht von Salamis im Jahre 480 hingegen

stellten die Athener bereits knapp die Hälfte aller Schiffe der griechischen Bundesgenossen, nämlich 180 von insgesamt 378 Schiffen; die nach Athen

stärksten Kontingente, die der Korinther und Ägineten, waren lediglich 40 bzw. 30 Schiffe stark. Die athenische Flotte war seit der Mitte der achtziger Jahre durch Themistokles gegen die Seeherrschaft der Ägineten im Saronischen Golf, vielleicht auch bereits von Anfang an, jedenfalls seit dem Vorabend des großen Perserkrieges dann eindeutig gegen die Persergefahr systematisch vergrö-

128

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Rert und nach den großen See-Erfolgen der Jahre 480/479 und der Befreiung der griechischen Städte auf den Inseln und an der Westküste Kleinasiens zum Aufbau eines hegemonialen Seebundes eingesetzt und weiterentwickelt worden. Die Flotte oder große Teile derselben liefen zeitweise Jahr für Jahr aus und bildeten die Grundlage der Macht und des Ansehens der Athener. Nach Ausbildungsstand, Erfahrung und Größe suchte sıe ihresgleichen in der Welt. Am Anfang des Peloponnesischen Krieges zählte die athenische Flotte 300 Kriegsschiffe, und sie ist auch nach schwersten Verlusten immer wieder auf einen hohen

Schiffsbestand gebracht worden. Obwohl die Flotte nach dem unglücklichen Ausgang dieses Krieges bis auf zwölf Schiffe ausgeliefert werden mußte, erreichte sie doch bald erneut eine ansehnliche Stärke und konnte seit der Mitte

des 4. Jahrhunderts wieder 250-350 kampffähige Einheiten aufweisen. Um die Schlagkraft der Flotte auf gleicher Höhe zu halten, wurden mehrmals Programme zu einem regelmäßigen Ersatz von älteren Schiffen entwickelt und

bisweilen auch längere Zeit durchgehalten. So bauten die Athener vor den großen Perserschlachten, dann wieder auf Drängen des Perikles bei Beginn des Peloponnesischen Krieges und noch einmal in der Mitte des 4. Jahrhunderts jährlich 20, 15 bzw. 10 neue Schiffe.

Die besondere Eigenart des griechischen Kriegsschiffes der klassischen Zeit war das Ergebnis einer langen Entwicklung, in der menschliche Erfindungsgabe den militärischen Nutzen dieser Waffe so weit gebracht hatte, daß die Flotte zu

einem kriegsentscheidenden Faktor werden konnte. Noch in der homerischen Zeit war das Kriegsschiff ein oben offenes Schiff gewesen, ın dem die Ruderer auf einer Ebene und ın einer Reihe entlang der Bordwand saßen und die Soldaten von der Mitte des Schiffes aus gegen die gegnerische Mannschaft kämpften oder auch überzuspringen versuchten. Die verschiedenen Schiffstypen wurden nach der Anzahl der Ruderer (20, 30, 40, 50) benannt. Der in der spätarchai-

schen Zeit am häufigsten benutzte Typ war ein Fünfzigruderer (Pentekontere). Im 6. Jahrhundert vollzog sich nun dadurch eine Revolution in der Entwicklung

des Kriegsschiffes, daß die Zahl der Ruderer vor allem durch den Einbau zusätzlicher Decks erhöht und so das Schiff von mehreren Rudereihen vorwärts getrieben wurde. Da dabei der Rumpf des Schiffes nicht merklich vergrößert wurde, erhielt das Schiff eine bedeutend höhere Geschwindigkeit. Das Endprodukt dieser Entwicklung war ein von drei Ruderreihen bewegtes Schiff, die Triere (nach dem lateinischen Namen für Dreiruderer in der modernen Litera-

tur auch Trireme genannt), die aber wohl erst nach einer langen Zeit des Suchens gefunden worden ist. Denn mit dem „Dreiruderer“ ergab sich das Problem, wie

die nun sehr zahlreich gewordene Rudermannschaft ım Schiff untergebracht werden konnte, ohne daß es zu breit oder zu hoch und damit für ein schnelles

Manövrieren in der Schlacht zu unbeholfen wurde. Die Entwicklung zu dem

ausgereiften Typ, den wir dann im 5. Jahrhundert vor uns haben, hat gewiß weit über hundert Jahre gedauert. Wem das größere Verdienst daran zukommt, ob Phönikern oder Griechen, wissen wir nicht. Es scheint jedoch, daß das Samos

der Zeit des Tyrannen Polykrates (538-522), dessen Flotte die Ägäis lange Jahre

hindurch durch Seekrieg und Seeraub beherrscht hatte, für die Ausbildung dieses Schiffes zu dem wichtigsten Kriegsschiffstyp eine bedeutende Rolle ge-

111. Organisation von Heer und Flotte

129

spielt hat. Bei der Triere war alles auf Schnelligkeit und Manóvrierfáhigkeit abgestellt, und in diesen Eigenschaften - nicht mehr in der Zahl und Ausrüstung der mitgeführten Soldaten - lag somit die Stärke des Schiffes. In Konsequenz dessen wurde die militärische Leistung künftig von der Rudermannschaft, nicht mehr von den auf Deck befindlichen Hopliten oder Bogenschützen erbracht. Der Kampf wurde nicht mehr durch Beschuß von Bord zu Bord oder durch Entern, sondern durch Rammstoß ausgetragen; das Schiff selbst war zur Waffe geworden. Da der neue Schiffstyp und die von ihm diktierte Kampfesweise nıcht nur militärische Bedeutung, sondern auch einen nicht zu überschätzenden Einfluß auf die soziale und politische Entwicklung der griechischen Städte, insbesondere aber Athens, gehabt haben, soll etwas ausführlicher auf ihn eingegangen werden.

Die Triere ist ein 32-36 m langes und nur 4,50 m (mit Ausleger für die Ruder ca. 5,50 m) breites, zunächst nur mit Vorder- und Achterdeck, dann mit einem um die Bordwand umlaufenden Deck versehenes Schiff, das drei Reihen von

Ruderern besaß. Wegen der Notwendigkeit, zahlreiche Ruderer unterzubringen, die natürlich über der Wasserlinie sitzen mußten, durfte das Schiff über der Wasserlinie nicht zu niedrig gebaut sein; es maß hier bei einem Tiefgang von gut einem Meter (bei voller Besatzung) bis zur oberen Rumpfkante, dem Dollbord,

gut drei Meter. Die Gesamtverdrängung betrug mit Ballast ca. 45 Tonnen. Da sich keine Triere erhalten hat (es gibt an den Mittelmeerküsten keine Moorflächen, in denen Schiffe hätten konserviert werden können), sind wir für die

Rekonstruktion der Triere auf Relief- und Vasenzeichnungen angewiesen. Der vor wenigen Jahren unternommene Nachbau einer Triere brachte weitere Aufklärung. Danach hat sich zunächst die außergewöhnliche Schnelligkeit der Triere bestätigt. Es konnten auf Kurzstrecken - und nur diese waren für den Kampf relevant - (bei einer Frequenz von 30-40 Schlägen pro Minute) ca. 7 Knoten (13 km/h) gefahren werden, und diese Hóchstgeschwindigkeit war in

etwa einer halben Minute zu erreichen; andere Berechnungen gehen von noch hóheren Geschwindigkeiten aus. Ferner ergaben die Probefahrten, daR das Schiff trotz seiner gegenüber Hóhe und Breite relativen Lánge (für den Griechen war das „Langschiff“, makrá naus, daher gleichbedeutend mit „Kriegsschiff“)

bei ruhiger See zwar ganz gut im Wasser lag, bei etwas Seegang aber durch Topplastigkeit gefährdet war. Die Triere war um ihrer neuen militárischen Funktion willen einseitig auf Schnelligkeit konstruiert und dabei bis an die Grenze zur Seeuntüchugkeit gebaut worden. Da das Schiff wegen der drei Ruderreihen eine im Verhältnis zu seiner Größe hohe Bord wand haben mußte (2,20 m) und geringen Tiefgang hatte (1 m), lag sein Schwerpunkt unverhältnismäßig hoch über dem Wasserspiegel, und darum war die Gefahr des Kenterns immer groß. Das hohe, lange und schmale Schiff war besonders in schwerer See gefährdet. Wenn die Triere trotzdem zwei Jahrhunderte hindurch der beherrschende Kriegsschiffstyp blieb und noch über diese Zeit hinaus Bedeutung

hatte, lag das an ihrer ungemeinen Kampfkraft während der Schlacht. Da die Triere den Gegner durch Rammstoß kampfunfáhig machen sollte, war der Rammsporn (émbolon) am Bug des Schiffes das eigentliche Kampfinstrument. Er bestand aus einem von Bronzeblech umkleideten Holzbalken von ca.

130

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

200 kg Gewicht und war unmittelbar unterhalb der Wasserlinie angebracht. Wegen der wertvollen Bronze achtete man darauf, aus dem Wrack eines Schiffes

wenigstens den Rammsporn, der trotz des Bronzebeschlages schwimmfähig blieb, zu bergen. Jede Triere hatte auch Segelwerk, denn auf weiten Strecken

wurde selbstverständlich nicht gerudert. Es bestand aus einem Großsegel und einem Vorsegel, und es wurde beim Rudern im Schiffsbauch untergebracht. Bei ca. 200 Mann Schiffsbesatzung (s.u.) war es auf diesen Schiffen eng. Nicht nur

während des Ruderns bot der bis an die Grenze der Ertráglichkeit (und darüber hinaus) rauonell ausgenutzte Raum keinerlei Bewegungsspielraum; selbst in der Zeit, in der gesegelt wurde, war der Aufenthalt auf dem Schiff eine Qual. Es

konnte auf ihm weder gekocht noch geschlafen werden. Jeden Abend wurde das Schiff daher an Land gezogen - was verhältnismäßig einfach war -, und die Mannschaft übernachtete auRerhalb des Schiffes. Das war übrigens auch schon deswegen notwendig, weil das Schiff trotz Abdichtung Wasser zog, dadurch schwerer wurde und auf die Dauer das Holz zu faulen begann; man bevorzugte nämlich für den Rumpf (außer für den Kiel) meist leichteres, anfälligeres Holz, wie z. B. Fichte. Das tägliche Schiffslager gefährdete indessen die ganze Flotte; sie konnte durch Überfall von der Land- oder Seeseite leicht vernichtet werden,

wie es denn dem persischen Schiffslager im Jahre 479 beim kleinasiatischen Vorgebirge Mykale von seiten der Griechen und dem athenischen im Jahre 405 bei Aigospotamoi/Hellespont von seiten der Spartaner und ihrer Bundesgenossen widerfuhr.

Trierenrelief von der Akropolis zu Athen (Lenormant-Relief).

II. Organisation von Heer und Flotte

131

À bar

I

I

]

Rechts und rechts unten: Sicht eines Ruderers der

obersten und der untersten Reihe (Thranit und Tbalamit).

Links unten: Querschnitt mit der Anordnung der Ruderreihen. (Rekonstruknonen

aus: MORRISON/COATES,

581; Zeichnungen von John F. Coates, dem Desi-

gner der Triere Olympias, Trireme Trust, England)

Î

Li

1



132

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Der wichtigste Teil der Triere war das Ruderwerk. Damit die Bordwand nicht zu hoch und die Ruder nicht zu lang wurden, haben die Ruderer nicht auf drei übereinanderliegenden Decks gesessen. Da keine genauen Beschreibungen des Ruderwerks einer Triere auf uns gekommen sind und auch keine Triere gefunden wurde, ist die genaue Anordnung der Reihen noch heute ein Forschungsproblem. Auch hier hat aber der moderne Nachbau weitere Klarheit gebracht, und man wird daher bei dem heutigen Kenntnisstand mit Sicherheit sagen dürfen, daß die drei Reihen sowohl seitlich und nach vorn bzw. hinten als auch in der Höhe (durch die Anbringung eines gegenüber der Ruderbank höheren Sitzes und durch die Einrichtung eines zweiten Ruderdecks) versetzt waren (s. Skizze S. 131). Damit die drei Ruderreihen sich nicht störten, mußte

ferner für die oberste Reihe an der Bordwand ein Ausleger (Riemenkasten, parexeiresia) angebracht werden; er war in Höhe des Dollbords (Rumpfende)

angebracht, und die obersten Ruderer saßen auf seiner Innenverlängerung unmittelbar am Rumpf. Die beiden anderen, seitlich und tiefer gestaffelten Ruderreihen, die weder den Ausleger noch die Bordwand als Ruderauflage benutzen konnten, bedienten ıhre Riemen mittels in der Bordwand angebrachter Luken,

die bei Seegang geschlossen werden konnten. Die Riemen waren trotz der verschiedenen Sitzlage alle gleich lang (4 m), lediglich das Ruderblatt wegen des jeweils unterschiedlichen Eintauchwinkels der drei Reihen anders geformt. Leichte Unterschiede in der Länge scheinen darauf zurückzuführen zu sein, daß an Bug und Heck wegen der dort größeren Enge des Schiffes kürzere Riemen verwendet worden sind. Die Athener gaben den Ruderern der drei Reihen verschiedene Namen, die - wenn auch umstrittene - Rückschlüsse auf ihre

Aufstellung erlauben. Die Ruderer der obersten Reihe hießen „Thraniten“ (von thränos, ,Schemel", „Dachbalken“ = das Dollbord?), die der mittleren „Zygier“ (von zygön, „Joch“ = die Querversteifung, also Ducht, auf der sie saßen?), die der untersten Reihe „Thalamier“ (von thalamos, „Wohnung“, „Schlupfwinkel“, bei

Trieren = der Schiffsbauch?). Die Anzahl der Ruderer betrug auf den athenischen Trieren ziemlich einheitlich 170 Mann; die oberste Reihe hatte 62, die

zweite und dritte je 54 Ruderer; die höhere Anzahl der Thraniten ergab sich daraus, daß sie, die höher saßen, bei der zum Bug und Heck hin abnehmenden

Tiefe und Breite des Schiffes mehr Platz hatten als die unter ihnen Sitzenden. Zur Rudermannschaft gehörten auch der für den Ruderschlag verantwortliche Rudermeister (keleustés), der nach dem Steuermann (kybernétés) der zweithöchste Offizier auf dem Schiff war, und ein Flötenbläser (triérasélés, aulétés), der mit

seinem Instrument für einen gleichmäßigen Schlag sorgte. Neben der Rudermannschaft (nastai, pléróma) steht die Schiffsmannschaft im engeren Sinne (Deckmannschaft, das seemännische Personal, griech.

hyperesia). Sie war nicht sehr groß. Der Schiffsführer, der Trierarch, gehörte nicht zum seemännischen Personal; unter seiner Leitung war das Schiff gebaut, ausgerüstet und die Mannschaft eingeübt worden, und er ist somit eher als

Bauherr, Verwaltungschef und Kommandeur ın der Schlacht denn als Kapitän anzusehen. Die navigatorische Leitung hatte der Steuermann inne. Ihm unterstand, gleichsam als 2. Offizier, ein insbesondere für die Beobachtung der Wind-

und Wasserverhältnisse verantwortlicher Seemann auf dem Vorderdeck. Zusam-

IIl. Organisation von Heer und Flotte

133

men mit zwei weiteren Chargen, dem Zahlmeister und dem Schiffszimmermann, bildeten sie die hôheren Dienstgrade des Schiffspersonals. Daneben gab es noch etwa zehn Matrosen, so daß dieser Teil der Mannschaft (einschließlich

des Rudermeisters und Flötenspielers) aus etwa 16 Mann bestand. Bewaffnete

Soldaten

(Marineinfanteristen; die Griechen

nannten

sie

epibatai, d.h. „die Dazugestiegenen“) wurden auf den Trieren je nach dem

Einsatzzweck und den Vorstellungen der Feldherren von dem Nutzen der zu verwendenden Taktik in unterschiedlicher Anzahl mitgeführt. War die Flotte

dazu ausersehen, Seeoperationen mit kurzfristigen Landungen in feindlichen Gebiet zu verbinden, war die Anzahl der Epibaten größer, als wenn in einer Seeschlacht mit der feindlichen Flotte eine Entscheidung gesucht werden sollte. In älterer Zeit hatten die Epibaten auch im Seegefecht eine wichtige, zeitweise

bestimmende Rolle gespielt; denn damals war das Gefecht in erster Linie als ein Kampf der gegnerischen Schiffsbesatzungen ausgetragen worden. Als man zu emer anderen Kampfestaktik übergegangen war, in der das Schiff als Ganzes als Waffe eingesetzt wurde (s.o.), benötigte man nur noch wenige Epibaten, meist

nur so viele, um beim Heranfahren die gegnerische Deck- und Rudermannschaft durch Speere und Pfeile zu verunsichern oder womöglich zu dezimieren.

Die Athener hatten noch bei Salamis 14 Hopliten und 4 Bogenschützen auf jeder ihrer Trieren gehabt; im späteren 5. Jahrhundert gehörten in der Regel nur noch 10 Hopliten zum Stammpersonal einer Triere. Gelegentlich kehrte man aber auch „zur alten Kampfesweise“ zurück, wie denn überhaupt das jeweilige

Operationsziel und die Phantasie des Strategen die Zusammensetzung der Mannschaft bis zu einem gewissen Grade bestimmt haben. Die Trieren dienten auch als Transportschiffe für das Übersetzen größerer Truppenverbände auf feindliches Gebiet. Meist benutzte man dafür Trieren von besonderer, für diese Dienste berechneter Bauart; sie waren selbstverständlich

breiter und entsprechend langsamer. Solche „Soldatenschiffe“ genannten Trie-

ren vermochten etwa 100 Hopliten zu befördern; für die Reiterei benutzte man Spezialschiffe. Die für die Schlacht bestimmten schmalen Trieren, also nach unserem Sprachgebrauch die Linienschiffe, wurden demgegenüber „Schnell-

schiffe“ genannt. Von den ca. 200 Mann einer jeden Triere waren, wie gesagt, 170, das sind 85%,

Ruderer. Die Athener verpflichteten für den Ruderdienst zunächst alle diejenigen, die sich nicht selbst als Schwerbewaffnete auszurüsten vermochten. Diese

Gruppe war seit der Einführung der timokratischen Ordnung zu Solons Zeiten bereits dadurch negativ bestimmt worden, daß sie nicht zu den drei Vermögensklassen gehörte und also alle Personen unterhalb dieser Klassen (infra classem) umfaßte. In Athen hieß dieser Personenkreis Theten. Ihr politischer Aufstieg begann mit dem Bau von großen Flotten seit den Perserkriegen. Denn da mit dem militárischen Dienst, als welcher auch der Ruderdienst auf den Kriegsschif-

len angesehen wurde, der Anspruch auf aktive politische Mitsprache verbunden war, erwuchs den Theten bald ein ausgeprägtes politisches Bewußtsein. Es ermunterte sie, die sich früher dem politischen Geschehen gegenüber wohl weitgehend passiv verhalten hatten, noch nicht sofort in den Perserkriegen, aber doch in den Jahrzehnten nach der Schlacht von Salamis, als Athen seine Hege-

134

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

monie über den Seebund ausbaute und zur führenden Seemacht der damaligen Welt wurde, zu aktiver Teilhabe an der Politik und führte schließlich zu der

Umformung der politischen Ordnung in eine Demokratie. Daß die Ruderer das dynamische Element der politischen Entwicklung waren und die neue politische Ordnung, nämlich die Demokratie, vor allem von ihnen getragen wurde,

war allen Athenern durchaus bewußt und folglich schöpfte der ärmere Athener sein politisches Selbstbewußtsein gerade aus dem Ruderdienst. Die schwere körperliche Arbeit auf der Ruderbank konnte daher im nachhinein einen Athe-

ner mit Stolz erfüllen und in ideologischer Überhöhung als Dienst an der Demokratie erscheinen, die wiederum gleichbedeutend mit Freiheit war. Es war hingegen ein nicht geringes Problem, für die Flotte immer genügend Ruderer aufzutreiben. In den Seeschlachten der Perserkriege, als unter dem Druck der militärischen Lage faktisch alle Athener in Heer und Flotte eingereiht worden waren, mochte man noch genug Mannschaften finden; aber selbst damals dürften bereits Lücken aufgetreten sein. Als sich das Leben in Attika nach dern Abzug der Perser wieder normalisiert hatte, war es dann unmöglich, für die großen, teils 100 Schiffe und mehr betragenden Flotten, ja selbst für

kleinere Kontingente von 40-60 Schiffen die Rudermannschaft in Artıka zusammenzubekommen. Denn eine Flotte von 100 Schiffen benötigte 17 000, ein Geschwader von nur 40 Schiffen immerhin noch 6 800 Ruderer. Bei einer Gesamtzahl von 30 000 waffenfähigen Athenern, von denen zudem ca. 12 000-

14 000 Hoplitendienst leisteten, konnten immer nur einige Tausend als Ruderer abgestellt werden. Da nicht jeder für den seemännischen Dienst geeignet und viele für den oft langwierigen Flottendienst nicht abkömmlich waren, ist zunächst, außer wohl in Notsituationen, die Rudermannschaft nicht regulär ausgehoben, sondern aus Freiwilligen angeworben worden. Durch den Schwung, den der machtpolitische Aufstieg Athens gab, mitgerissen und gewiß auch durch den Sold herbeigelockt fanden sich auch viele Bürger ein; erst in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts ging man auch zur Aushebung über. Aber die Freiwilligen deckten doch nur einen Teil, bisweilen vielleicht sogar nur einen

Bruchteil der benötigten Mannschaft. Die athenischen Ruderer besetzten soweit wie möglich die oberste Ruderreihe der Thraniten, die besonders geschickt und

erfahren sein mußten. Zur Auffüllung des Fehlbestandes stellte man schon sehr früh auch Metóken als Ruderer ein bzw. warb sie an. Außer Metóken standen in Attika dann nur noch die Sklaven als mögliches Rekrutierungsreservoir zur

Verfügung. Von ihnen machten die Athener nur in äußerst dringenden Fällen Gebrauch, wie in den letzten Jahren des Peloponnesischen Krieges und damals insbesondere zur Bemannung der letzten großen Flotte vor der Schlacht bei den Arginusen (406). Das eigentliche Rekrutierungsgebiet für den Ruderdienst wurde daher sehr schnell das Ausland, und hier ın erster Linie das Gebiet des

Seebundes. Aus den bundesgenössischen Städten ließen sich zumindest in der Glanzzeit Athens schon wegen des Soldes viele zum Ruderdienst anwerben. Die

Zahl der vor allem im Seebundsgebiet angeworbenen Ruderer war z. Zt. des Peloponnesischen Krieges erheblich, in dem zumindest zeitweise die Ruder-

mannschaft einer Flotte zu einem großen Teil, bei Gelegenheit wohl sogar mehr als die Hälfte aus Seebundsgenossen bestanden hat; aber sie waren nicht immer

Ill. Organisation von Heer und Flotte

135

zuverlässig und desertierten in Phasen der Schwäche Athens in Scharen. Sold

wurde selbstverständlich schon von Anfang an auch den athenischen Ruderern gezahlt, die wegen ihrer Armut für sich und ihre Familien auf eine Entlohnung angewiesen waren. Der Sold betrug im 5. Jahrhundert drei Obolen pro Tag, was das Existenzminimum einer kleinen Familie kaum sicherte, im 4. Jahrhundert

vier Obolen; gelegentlich wurden auch höhere Beträge gezahlt. Bei der Menge der benötigten Ruderer wird deutlich, daß jede Seeoperation viel Geld verschlang. Jede Triere kostete allein an Sold 100 Drachmen pro Tag, ein Geschwader von 60 Schiffen demnach pro Tag ein Talent. War eine Flotte von 120 Schiffen nur zwei Monate unterwegs, verbrauchte sie über ein Viertel der Seebundsbeiträge eines Jahres. Die Triere ist als Schiffstyp Ausdruck einer völlig veränderten Art des Seekampfes. Dienten die schwerfälligeren Kriegsschiffe der älteren Zeit vor allem dazu, die Krieger aufzunehmen, die mit Speeren, Pfeilen und Schleudern

die Soldaten des feindlichen Schiffes bekämpften und womöglich das Schiff enterten, war nun die schnelle Triere selbst das Kampfinstrument. Das ganze Schiff war die Waffe, die das feindliche Schiff entweder durch Rammen oder

durch Absäbeln der Ruderreihen im Vorbeifahren gefechtsunfähig machte bzw. in den Grund bohrte. Für das Rammen kam es dabei auf die Festigkeit des spitz oder auch ın dreizackähnlicher Weise stumpf zulaufenden Schiffsschnabels an; für die Zerstörung des Ruderwerks durch paralleles Vorbeifahren (bei auf der Feindseite selbstverständlich eingezogenen Rudern) verstärkten die Athener später (wohl nach dem Vorbild korinthischer Schiffe) eigens den Bug noch mit einem Querbalken, der „Ohrenbalken“ (epötis) hieß, weil er gleichsam die Oh-

ren des einem Tierkopf ähnlichen Bugs bildete. Bei aller guten Ausrüstung der » Waffe" hing der Erfolg doch vor allem von der Kraft der Rudermannschaft sowie ihrer Geschlossenheit und Reaktionsfáhigkeit beim Manóvrieren ab. Die

Schnelligkeit des Schiffes, die große Zahl der Ruderer und deren Erfahrung waren die Konstituanten des Erfolges, und von ihnen ist die Erfahrung wohl am schwersten zu erwerben und wog mit zunehmender Zeit schon deswegen immer mehr, weil die Gegner, soweit sie noch keine Trieren besaßen, diese nun auch

bauten und den athenischen entsprechend ausrüsteten und umbauten. Insbesondere im Kampf gleicher Schiffstypen bedeutete in der Tat Erfahrung alles, und diese erforderte stándigen Umgang mit dem Schiff und viel Zeit. Denn man hat zu bedenken, daß 170 Ruderer, von verschiedenen Sitzpositionen her, alle im

Gleichtakt ihre Ruder eintauchen und den Takt wechseln, bei schnellen Wende-

manóvern ferner die Reihen backbords und steuerbords getrennt arbeiten mußten; insbesondere von den drei jeweils gestaffelt und übereinander sitzenden Ruderern der drei Reihen, die auf dem engen Raum mit ihren Kórpern beim

Rudern fast aneinanderstießen, war verlangt, daß sie so gleichmäßig arbeiteten, daß ihre nahstehenden Ruder nicht aneinanderstießen und damit die Schnelligkeit des Schiffes herabsetzten oder es gar aufter Kurs brachten. Wie wichtig das Training war, zeigte bereits die in die Anfánge der Trierenzeit gehórende Schlacht bei der Insel Lade im Jahre 494. Vor der Schlacht hatte der erfahrene Flottenführer, der Phoker Dionysios, die bunt zusammengewürfelten Schiffe

der ionischen Stádte üben lassen; doch verweigerten die durch die Übungen

136

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

erschôpften und belästigten Ioner nach sieben Tagen das Exerzieren und mußten dies mit der schweren Niederlage büßen. Die Athener veranstalteten regelmäßig Probefahrten zum Einüben einer Mannschaft, und man lehrte Neulinge auch das Rudern an Geräten auf dem Trockenen; unter Perikles sind sogar in jedem Jahr 60 Trieren ausgefahren, um das Manövrieren im Verband zu exerzieren. Die langen Kriegszüge brachten darüber hinaus hinreichend Erfahrung, so daß selbst neu zusammengestellte Rudermannschaften ihr Handwerk beherrschten. Die Athener galten allen Griechen als glänzende Praktiker des Mannschaftsruderns, und auch die für die athenische Flotte im Ausland ange-

worbenen Ruderer werden ohne Zweifel gemäß ihrer Kraft und Geschicklichkeit eingestellt worden sein.

Wurde eine Seeschlacht an der Küste geführt, wie beim Kap Artemision und bei Salamis, spielte selbstverständlich die Beschaffenheit der Küste eine aus-

schlaggebende Rolle für die Kampfestaktik. Auf offener See stellten sich im Normalfall die Schiffe in einer langen Reihe parallel einander gegenüber auf (Dwarslinie); hatte man genug Schiffe, wurde ein Flügel über die feindliche Linie hinaus verlängert und halbkreisförmig vorgezogen; fühlte man sich schwächer, nahm man die Flügel zurück. Dann stürmten die beiden Reihen wie Phalangen aufeinander los, und es kam darauf an, beim Durchfahren der feindlichen Linie (danach hieß diese Taktik „Durchbruch“, diékplous) die Ruderreihe

eines Schiffes zu beschädigen und danach, wenn das Schiff wieder gewendet war, möglichst ein feindliches Schiff durch Rammstoß zu versenken. Die Ge-

schlossenheit des Ruderschlags war ebenso kampfentscheidend wie ein schnelles Hineinnehmen und Wiederherausfahren der Ruder. Ein anderes taktisches Manóver bestand in der Umzingelung (periplous) der feindlichen Flotte. Auf diese Weise brachte etwa der athenische Stratege Phormion im Jahre 429 bei Naupaktos einer um mehr als das Doppelte überlegenen spartanischen Flotte, die wegen ihrer langsameren Schiffe einen diékplous der Athener fürchtete und sich darum in einem Kreis eingeigelt hatte, eine vernichtende Niederlage bei, indem er die feindlichen, dicht gedrángten Schiffe immer enger umkreiste, eine frische Brise, welche die feindlichen Schiffe durcheinanderbringen mußte, abwartete und dann seine Schiffe wie Habichte in das Knäuel hineinstoßen ließ. Auch in der großen Seeschlacht bei den Arginusen (406) praktizierten die Athener den perfplous mit großem Erfolg. Meist waren die Seeschlachten verwickelter und lósten sich nicht selten in Teiloperationen auf. Man suchte einzelne Geschwader der feindlichen Flotte von der Hauptmacht zu trennen, vor

allem einen Flügel vom Zentrum loszulósen und mit überlegenen Kráften anzugreifen. Die beiden Grundelemente des Seekampfes, diékplous und periplous,

kamen auch ófter in ein und derselben Schlacht gleichzeitig zur Anwendung. Diese wie andere taktische Überlegungen wirkten darüber hinaus in aller Regel nur in der - allerdings meist schlachtentscheidenden - Eingangsphase des Kampfes. Nach dem Eingangsmanöver war die weitere zentrale Lenkung schon wegen der Schwierigkeiten der Nachrichtenübermittlung oft nicht mehr möglich und daher der einzelne Schiffsführer weitgehend auf sich selbst und die eventuell in Rufweite operierenden eigenen Schiffe gestellt. Die ungewöhnliche Schnelligkeit und Kraft der Triere in der Schlacht soll

III. Organisation von Heer und Flotte

137

nicht vergessen lassen, daß ihre Stoßkraft um den Preis der Seerüchtigkeit erkauft war. Das lange, schmale Schiff lag eigentlich nur beim schnellen Rudern gut im Wasser; es war hingegen ein miserables Segelschiff und einem schweren Unwetter kaum gewachsen. So vermochte nach der Schlacht bei den Arginusen (Sommer 406) die siegreiche athenische Flotte wegen der stürmischen See nicht einmal die Schiffbrüchigen ihrer eigenen im Kampf untergegangenen Schiffe zu

bergen, was die darüber von Trauer und Wut aufgebrachten Athener dann anstatt den ihnen wohlbekannten Schwächen ihrer Kriegsschiffe - den an dem Unglück ganz unschuldigen Strategen ankreideten und sie zum Tode verurteilten. Zahlreiche Schiffe gingen im Sturm unter. Nicht von ungefähr fanden viele

Operationen in Küstennähe statt. Dies war auch schon deswegen geboten, weil man auf den schmalen Schiffen ja weder schlafen noch kochen konnte. Bei allen Nachteilen blieb die Triere wegen ihrer ungemeinen Kampfkraft die

gesamte klassische Zeit hindurch das Kriegsschiff schlechthin, gegenüber dem sich erst nach ganz zógernden Anfángen in den ersten Jahrzehnten des 4. Jahrhunderts gegen Ende dieses Jahrhunderts, also bereits in hellenistischer Zeit,

Schiffe mit vier und fünf, später dann mit noch mehr Ruderreihen durchsetzten. Da diese Schiffe viel mehr Ruderer haben mußten - die Quadrireme benötigte weit über 200, die Quinquereme knapp 300 Mann auf den Ruderbänken - waren sie breiter, daher stabiler, aber trotz der vermehrten Rudermannschaft langsa-

mer als die Triere. Das größere Schiff konnte jedoch nun viele Soldaten, auch Katapulte aufnehmen, und so entwickelte sich eine ganz andere Kampfesweise

zur See. Die großen Schiffe scheinen sich deswegen durchgesetzt zu haben, weil

sie der Gefahr des Rammsporns in irgendeiner Weise (durch Katapulte?) Herr geworden waren. Auf die Dauer jedoch erwiesen sich diese immer größer und kampfkráftiger, aber damit auch schwerfälliger werdenden Schiffe gegenüber den leichteren und schnelleren als unterlegen. In der Schlacht von Actium, in der Kleopatra und Antonius mit den in der gesamten hellenistischen Zeit übli-

chen übergroßen Schiffen gegen die wendigeren des Octavian und seines Feldherrn Agrippa kämpften (31 v. Chr.), erlebte das große Kampfschiff seine Kata-

strophe. Da das Mittelmeer seitdem als ein befriedetes Meer gelten konnte, lebte das Seekriegswesen erst seit den Einbrüchen germanischer, mit kleineren Schiffen operierender Stámme im 3. Jahrhundert n.Chr. wieder auf. Der Bau und die Instandhaltung einer so großen Flotte wie der athenischen verursachten Kosten in einer Hóhe, die bis dahin keine Stadt auch nur

annähernd zu bestreiten in der Lage gewesen war. Darüber hinaus wurden Organisationsvermógen und technisches Kónnen verlangt, ohne die der Unterhalt einer Flotte nicht denkbar ist. Als die Flotte noch klein war, hatten beson-

dere Personenverbände, die Naukrarien, für den Schiffsbau gesorgt. Mit dem Aufschwung des Flottenwesens unter Themistokles mußte man nach neuen

Wegen suchen. Es ging dabei nicht nur darum, für einen einmaligen großen Flottenbau, wie z. B. vor der Invasion Griechenlands durch den persischen Großkönig, den organisatorischen und finanziellen Rahmen zu schaffen. Nachdem die athenische Flotte einmal stand, galt es, auch die Verluste durch Feindeinwirkung und Sturm auszugleichen sowie die álteren Schiffe durch Neubauten zu ersetzen, und gerade dies letztere war eine dauernde, auch in Friedenszei-

138

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

ten zu bewältigende Aufgabe, die umfangreiche Rüstungen verlangte. Denn die Lebensdauer einer Triere betrug höchstens 20-25 Jahre. Es kam hinzu, daß auch die älteren, noch fahrtauglichen Schiffe oft für die Verwendung im Kampf nicht mehr geeignet waren und mithin die eigentlichen Kampfschiffe eine noch geringere Lebensdauer hatten. Die ältesten Schiffe wurden, soweit man sie nicht

abwracken mußte, zu Transportern umgebaut, für die Schnelligkeit nicht unabdinglich war. Wie wichtig das Alter einer Triere und wie notwendig darum der Ersatz war, ersieht man daraus, daß alle Kriegsschiffe nach ihrem Alter klassifi-

ziert wurden.

Für den Bau, die Reparatur und den Unterhalt der Schiffe mußte der Aufwand möglichst gering gehalten werden, und daher benutzte man für den Schiffsbau die Leiturgie, das heißt, es wurden die reichen Bürger mit dem Bau und dem Unterhalt der Schiffe belastet. Die Leiturgie wurde in Athen wie ın anderen griechischen Städten für die Besorgung einer ganzen Reihe öffentlicher Aufgaben verwendet; die für den Bau und Unterhalt von Schiffen übertragene Leiturgie hieß Trierarchie, und sie ist in ıhrer besonderen Ausprägung eine rein athenische Einrichtung. Sie wurde schon für den Bau der ersten großen Flotte unter Themistokles verwendet. Damals erhielten die 100 reichsten Athener ein Talent von der Stadt, um mit dieser Summe, zu der der einzelne gegebenenfalls noch einen Fehlbetrag dazuzulegen hatte, je ein Schiff zu bauen und auszurüsten. Dieses System ist dann vervollkommnet worden. Der Zweck der Trierarchie lag später aber nicht mehr in erster Linie in dem Bau, sondern in dem Unterhalt der Schiffe. Ihrer Bedeutung wegen seien das Wesen und die Entwicklung der Einrichtung kurz beschrieben. Den Schiffsrumpf und die Ausrüstungsgegenstände, wie Segel und Takelage,

stellte die Stadt. Für den Trierarchen war es daher im Grunde von geringer Bedeutung, ob er nun ein neues oder ein über den Winter in einem Schiffshaus abgestelltes älteres Schiff zu versorgen hatte. Seine Leistung bestand darin, den Schiffsrumpf mit dem übernommenen Gerät auszurüsten, letzteres u.U. zu vervollständigen, das dienstbereite Schiff zu Wasser zu lassen, eine Mannschaft einzuüben und das Schiff für das Jahr, in dem er die Trierarchie übernommen

hatte, zu unterhalten; nach dem Ende der Seeoperationen, wenn die Triere wieder in ein Schiffshaus gebracht wurde, hatte er sie in ordentlichem Zustand

abzuliefern. Für Beschädigungen, die nicht durch Feindeinwirkung oder Sturm verursacht worden

waren, hatte er selbst aufzukommen.

Im Laufe der Zeit

kamen manche anderen Leistungen hinzu. So übernahm der Trierarch die Auszahlung des Soldes (nicht auch den Sold selbst) und warb schließlich auch selbst die Mannschaft an. Selbstverständlich konnte er auch mehr, als verlangt war,

tun, etwa das gesamte Schiff aus eigener Tasche bezahlen; der Opferbereitschaft

waren keine Grenzen gesetzt. Aber die Last der Trierarchie war an sich schon groß genug; sie dürfte ein Talent pro Jahr betragen haben. Da die Trierarchie mit außergewöhnlich hohen Ausgaben verbunden war, suchte man nach Wegen zur Entlastung des einzelnen von ihr Betroffenen. So wurde die Trierarchie auf ein Jahr begrenzt. Eine allgemeine Erleichterung brachte auch eine Beschränkung der Anzahl der zu unterhaltenden Schiffe:

Zwar wurde der Umfang der Flotte nicht verringert, aber doch nur für die

Ill. Organisation von Heer und Flotte

139

jeweils für eine Operation zur See bestimmten Schiffe Trierarchen bestellt, nicht mehr, wie im 5. Jahrhundert bis zum Ende des Peloponnesischen Krieges, für

alle vorhandenen seetauglichen Schiffe. Die wichtigste Änderung aber bestand darin, daß sich zwei oder seltener sogar drei Bürger eine Trierarchie teilen durften (Syntrierarchie). Das war in der Zeit des ausgehenden Peloponnesischen Kneges eingeführt worden, als die Mittel auch der reichen Bürger erschópft waren; doch blieb die Trierarchie einzelner noch daneben bestehen. Im Jahre 358/57 hat dann Periandros das System bei im Prinzip gleichem Personenkreis insoweit reformiert, als er die 1 200 (da nicht wenige von der Pflicht befreit

wurden, tatsáchlich knapp 800) reichsten Bürger, die zur Trierarchie verpflichtet waren, in 20 Verbánde (Symmorien) zu je 60 Personen gliederte und die jeweils

in dem Jahr für den Seedienst bestimmten Schiffe gleichmäßig auf diese Ver-

binde verteilte. Der einzelne Verband bildete dann aus seiner Gruppe so viele Unterabteilungen (Synteleis), wie er Schiffe übernommen hatte; die Anzahl der

Personen einer derarugen Unterabteilung schwankte natürlich nach ihrem Vermógen (in der Regel 4-6). Diese Reform machte die Trierarchie für den einzelnen

erträglicher; waren in den ersten Jahren des Peloponnesischen Krieges noch ca. 400 Personen zur Trierarchie verpflichtet worden, waren es jetzt bei ungefähr gleichbleibenden Gesamtkosten etwa doppelt so viele. Durch die Trierarchie waren die Organisation, der Unterhalt und die Instandhaltung der gesamten Flotte auf die Schultern der Reichen gelegt. Der Stadt blieb - neben dem Geschäft der Auswahl derjenigen, die eine Trierarchie über-

nehmen sollten - nur noch die Aufgabe, die Schiffe nach Instandsetzung bzw. bei Ablieferung abzunehmen und gegebenenfalls sáumige Trierarchen zur Rechenschaft zu ziehen. Die Lagerung der Flotte war Sache der Stadt, und sie war teuer. Da die Schiffe nicht dauernd im Wasser liegen durften, konnten sie für die

Zeit, in der sie nicht gebraucht wurden, nicht einfach nebeneinander vertáut im Hafen liegen. Es mußten für sie geschlossene Schiffshäuser (neósoikoi, auch

neória, Sg. neórion; das letztere Wort kann auch den Schiffsbauplatz, also die Werft, bezeichnen) gebaut werden, und zwar für jje ein oder auch zwei Schiffe

(diese Schiffshäuser hießen neósoikoi homotegets) ein Haus in den Ausmaßen des Schiffsrumpfes. Denn nur letzterer wurde in diesen Lagerhallen aufgeschleppt; die Ausrüstung, vor allem die Takelage und die Ruder, bewahrte man in einem Gerätehaus (skewothéké) gesondert auf. Die lange Reihe von Schiffshäusern sáumte das Ufer der beiden kleineren, nur für Kriegsschiffe bestimmten Hafenbecken Munichia und Zea im Osten der Piráus-Halbinsel Akte und einen Teil des Ufers des großen Kantharos-Hafens im Westen der Halbinsel, der im übrigen Handelshafen war. Im Zea-Hafen standen 196 Schiffshäuser, von denen

eine ganze Anzahl in Resten noch heute festgestellt werden konnte, im Munichia-Hafen 82 und ım Kantharos-Hafen weitere knapp 100 Häuser. Die Häfen waren bereits zu Beginn des 5. Jahrhunderts ausgebaut worden. Nach der Kapitulation Athens im Jahre 404 wurden die Anlagen wahrscheinlich vollstándig oder doch weitgehend abgerissen, um dann im 4. Jahrhundert bald wieder aufgebaut, danach stándig erneuert und erweitert zu werden. Die Oberaufsicht über das Marinewesen lag beim Rat; die Schiffsbauten überwachte ein Kollegium von zehn ,,Irierenbauern“ (triéropoiof); die Verwaltung der liegenden

140

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Anlagen, insbesondere der Schiffshäuser, besorgten besondere Beamte, die im 5. Jahrhundert Neoroi (neörof), danach „Epimeleten (epimelétat, „Aufseher“) der

Schiffshäuser“ hießen. Das gesamte Kriegshafengelände wurde von einer Sondereinheit scharf bewacht.

Die Macht Athens beruhte auf seiner Flotte. Von den großen Perserkriegen am Anfang des 5. Jahrhunderts bis zur Niederlage von Chaironeia gegen den Makedonenkönig Philipp (338) hatte sie Athen trotz schwerster Rückschläge eine herausragende Stellung unter den Griechen geschaffen und erhalten. Als nach dem Tod Alexanders des Großen die makedonische Herrschaft ın Frage gestellt zu sein schien, rüstete sich die Stadt noch einmal, ihre alte Seegeltung wiederzugewinnen. Doch in der Seeschlacht von Amorgos unterlag die athenische Flotte dem Admiral des Antipatros, des makedonischen Reichsverwesers von Europa (322). Als Antipatros auch zu Lande Sieger geblieben war, gewann

die Makedonenpartei in der Stadt die Oberhand, die dann unter makedonischem Druck die Demokratie durch eine timokratische Ordnung ersetzte und zugleich mit der Demokratie die Flottenpolitik aufgab. In die Festung Munichia im Piráus legte Antipatros eine Besatzung, und Athen ist niemals mehr, auch nicht, als die Stadt nach dem Abzug der Makedonen im Jahre 229 von fremder Besat-

zung auf Dauer verschont blieb, zu politischer Bedeutung gekommen. Es ist bezeichnend, daß die Demokratie und die große Seepolitik zugleich verschwanden; sie hatten von Anfang an zusammengehórt.

IV. Stadt und Religion Jede griechische Stadt war im politischen Sinne gleichbedeutend mit der Summe ihrer Bürger, und diese war gleichzeitig immer auch eine Kultgemeinschaft. Der

Bürger ıst durch die Zugehörigkeit zu ihr geradezu definiert; er kann sie nicht ohne Aufgabe seines Bürgerstatus kündigen. An den städtischen Kulten nahmen jedoch nicht nur die politisch Berechtigten, sondern ebenso die Frauen, Fremden und sogar die Sklaven teil; den Bürgern kam allerdings bei der Durchführung der Kulte eine besondere Rolle zu. Wie es im öffentlichen Leben keine

Trennung zwischen dem Weltlichen und dem Religiösen gab, durchdrang der Kult auch das gesamte private Leben, ja es wurden die verschiedenen privaten

und öffentlichen Organisationseinheiten vielfach erst durch den Kult konstituet, und ihre Vorsteher vertraten die in ihnen zu einer Gruppe vereinigten Menschen vor der Gottheit. So wurde für die Familie, das Geschlecht und den

ganzen Staat das Opfer vom Hausvater, Geschlechtsoberhaupt und König vollzogen, und die genannten Verbände bestanden vor allem auch durch den von ihrem Oberhaupt vollzogenen Kult. Insbesondere in der Adelszeit war der

Geschlechterkult das die adligen Familien begründende und sie erhaltende Prinzip, und jemand gehörte nur insoweit zur adligen Gemeinschaft, als er an einem Geschlechterkult Anteil hatte. Die breite Masse der Bauern, Handwerker, Frem-

den und Sklaven, die als Nichtadlige keine eigenen Kulte besaften, war in dieser Zeit nur indirekt, über die Geschlechterkulte, in die politische Organisation integriert. Nachdem

Kleisthenes die Bürgerschaft in lokalen, von den alten

Personenverbánden unabhángigen Bezirken organisiert hatte, verloren die tradiuonellen Kulte der Adelszeit an politischer Bedeutung, und manche verschwanden auch. Aber es blieb das Bedürfnis, die neuen Formen auch in den Gótterkult zu integrieren, und so entstanden neben den alten neue, jetzt auf lokaler Ebene

errichtete Kultgemeinschaften. Zum Teil in engem Anschluß an ältere Formen finden wir nun vor allem in den Demen und Phylen Kulte, welche die Bürger in

die neuen Organisationsformen einpassen und gleichzeitig diesen Formen ihr institutionelles Gewicht geben sollten. In den Phylen wurden z. B. Heroen verehrt, die ihrer Phyle auch den Namen gaben. Die griechische Religion ist eine Naturreligion; die Mächte der Natur und die im Menschen vermuteten Kräfte sind in ihr zu göttlichen Gewalten sublimiert.

142

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Eine Vielzahl von Göttern unterschiedlicher Kraft und Bedeutung stehen nebeneinander oder in abhängiger Beziehung zueinander; manche Götter werden vielerorts, andere

in manchen

Landschaften

und Orten

weniger stark, viele

allein an einem bestimmten Ort verehrt. Bei allen Beziehungen und Gegensetzlichkeiten, die zwischen den Göttern gesehen werden können, sind die Götter im Prinzip keine Konkurrenten. Jede Gottheit ruht als Kraft der Natur in sich

und „neidet“ der anderen nicht ihre Kraft. Die bunte Welt der griechischen Götter spottet jeder Systematik; wenn man sie suchen wollte, hat man sie nicht in ihnen, sondern in den Formen der Reaktion des Menschen auf das Übersinn-

liche aufzuspüren. So wie wir sie in archaischer Zeit vor uns sehen, ist diese Gótterwelt denn auch alles andere als aus einem Guß. Sie hat in dem Übergang von der archaischen zur klassischen Zeit, also ca. 500 v. Chr., denn auch bereits eine sehr lange Geschichte hinter sich, und es ist uns heute kaum mehr möglich,

in jedem Fall die einzelnen Schichten der Entwicklung voneinander zu trennen; nur selten vermögen wir die Geschichte einer Gottheit über die Zeit der Einwanderung hinaus sicher zu verfolgen. Überall, wo Griechen lebten, sind vorgriechische, rein mediterrane, zu einem nicht geringen Teil auch aus dem kleinasiatischen und thrakischen Raum stammende Gottheiten mit solchen, welche

die einwandernden griechischen Stämme einst mitgebracht hatten, vermengt worden.

Da

die Griechen

keine scharfen Trennungslinien

zwischen

dem

menschlichen und dem göttlichen Bereich zogen, sind ferner zu allen Zeiten auch historische Personen aus heroisierten älteren Epochen in für uns im einzelnen schwer rekonstruierbarer Weise in das göttliche Pantheon aufgenommen worden, und so hat sich zwischen die mächtigeren göttlichen Gestalten eine

Vielzahl von Klein- und Halbgöttern geschoben, die als Heroen oder niedere Götter ın unendlich vielfältigen Formen das religiöse Leben mitbestimmten. Die Phantasie der Griechen machte dieses bunte Bild noch vielfältiger; bisweilen wurden Götter und Geschichten von Göttern sogar mehr oder weniger bewußt neu geformt, um etwa für eine neue Stadt einen besonderen religiösen Hintergrund oder eine besondere Legitimation zu schaffen. Die Durchdringung des gesamten Lebens mit immer neuen Varianten göttlicher Mächte hat bis in das 5. Jahrhundert hinein die Intensität der Religiosität durchaus nicht geschwächt; sie ist eher als Ausdruck tiefen religiösen Empfindens denn als religiöser Indifferentismus zu verstehen. Ein wesentlicher Zug griechischer Religiosität ist deren lokale Gebunden heit. An zahlreichen natürlichen Örtlichkeiten, wie Quellen, Grotten, Hainen,

Bäumen und Bergen, an vorgeblichen oder tatsächlichen Gräbern oder auch an

Orten ohne sichtlichen Bezug wurden Götter oder Heroen verehrt, und die Mannigfaltigkeit der Kultstätten korrespondiert mit der Buntheit der politischen Welt. Der Ursprung eines Kultes reicht meist in die Vorzeit, in die vorgriechische oder mykenische Welt, zurück. Gerade in jüngster Zeit sind durch die rege Ausgrabungstätigkeit viele Verbindungen hellenischer Gottheiten zur my-

kenischen Zeit festgestellt oder bestätigt worden. So geht z.B. der Kult der Athena auf der Akropolis auf eine minoisch-mykenische Schlangengóttin zu-

rück. Die Mykener, wie nach ihnen auch die Dorer und Nordwestgriechen, haben die bei ihrer Einwanderung mitgebrachten Gottheiten in vielfältiger, für

IV. Stadt und Religion

143

uns nicht immer klar durchschaubarer Weise mit den Gottheiten, die sie vorfan-

den, verbunden. In diesem Prozeß der Verschmelzung waren die Kultorte feste Bezugspunkte; soweit nicht das Grab einer historischen oder als historisch

gedachten Person den Anknüpfungspunkt für einen Heroenkult bot, sind so gut wie alle Kultorte uralte Stätten religiöser Verehrung. Eine besondere Bedeutung hatte für alle Griechen der Heroenkult. Er ist von

seinem Ursprung her Totenkult, nämlich die kultische Verehrung der Ahnen,

und blühte folglich besonders in der Adelszeit; er zog gerade aus seinem konkreten historischen Bezug und der strengen lokalen Bindung sein Ansehen und seine Kraft. Wenn sich im Laufe der Zeit ein Kult dann aus seinen angestammten familiären Bindungen löste und verselbständigte, wurde es möglich, ıhn u.U. mit anderen, älteren oder Jüngeren Traditionen zu verbinden, ihn gegebenenfalls auch als religiösen Mittelpunkt neuer politischer Organisationsformen, wie der

Demen und Phylen, zu benutzen und ihm so eine veränderte religiös-politische Bedeutung zu geben. Wir können uns das religiöse Leben der griechischen Frühzeit genug vorstellen. Die Phase nach der Einwanderung der Dorer und griechen am Ende des 2. Jahrtausends (wie wohl auch die Phase griechischen Einwanderung am Anfang dieses Jahrtausends, als die loner nach Griechenland kamen) war eine Zeit der politischen gleichzeitig religiösen Zersplitterung der Stämme gewesen, und dies

kaum bunt Nordwestder ersten Achäer und und damit war ja auch

gerade die Blütezeit der Adelswelt, in der das politische Gewicht bei dem

einzelnen Geschlecht lag. In dieser Zeit bildeten sich die lokalen Kulte unter den Schüben der Wandernden und unter dem Einfluß der mit den Verschiebun-

gen eindringenden neuen religiösen Ideen und Kräfte um, wurde Altes mit Neuem verbunden, etablierten sich auch wohl einzelne neue Kulte und erhielten

einige wenige durch günstige politische Konstellationen größeren Einfluß, unter denen wiederum einzelne nicht nur bei einem Stamm bzw. einer Stadt,

sondern bei mehreren Stämmen/Städten soweit zu Ansehen kamen, daß sie diese als Schutzstaaten (Amphiktyonen) ansehen und zu einer religiösen Schutzorganisation (Amphiktyonie) ausbilden konnten. Stiegen auf diese Weise lokale Gottheiten wie der delphische und der delische Apollon zu überregionalen Gottheiten auf und erwuchs damit der zersplitterten griechischen Welt aus der Religion ein gemeinsames Band, hat die Religion bzw. haben die Götter die

Griechen noch in anderer Weise zusammengeführt. Denn seit der früharchaischen Zeit, für uns faßbar in den griechischen Epen, hat der griechische Geist die Götter in zunehmendem Maße intellektualisiert, in diesem Prozeß der Ver-

geistigung auch menschliche Problematik in sie gelegt und diese dadurch den Menschen ansprechbar gemacht. Das Epos und in klassischer Zeit vor allem auch die Tragödie sowie etwa die Historiographie eines Herodot haben dahin

gewirkt, in den Góttern und in den Erzählungen von ihnen (Mythen) die gesamte Breite menschlicher Empfindsamkeit zu legen und in ihnen sich selbst zu verstehen, durch sie die Werthaftigkeit menschlichen Verhaltens zu manifestieren und eine Sinnhaftigkeit der Welt zu erkennen. In diesem Prozeß der Aneignung und Rationalisierung des Übersinnlichen, dessen Medium der Mythos war, haben sich viele Gótter aus ihrer lokalen Gebundenheit gelóst und

144

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

sind durch ihre geistige Abstraktion zu überlokalen, für alle Griechen oder doch große Teile von ihnen anerkannten Göttern geworden, sind aber gleichzeitig mit der Lösung aus den festen Bindungen eines Kultes auch dem Form- und Gestaltungswillen des Menschen unterworfen worden, der sie in immer neuen Bildern

und Erzählungen erscheinen lassen konnte. Im Zentrum dieser vergeistigten Götter bildete sich ein Kanon höherer Götter heraus, die olympischen Götter,

die wir wegen der Bedeutung des Epos für diesen Prozeß auch die homerischen nennen. Außerhalb der Erzählungen vom Leben und Wirken der großen Göttergestalten ın den Epen und Tragödien, also ım praktischen Kultleben, mußten diese nunmehr als höher gedachten olympischen Götter aber doch mit festen Orten verbunden werden, und so sind manche lokalen Kleingötter im Zuge politischer Entwicklungen zu höherem Rang aufgestiegen, sei es zu der zentralen Gottheit eines für viele Stämme und Städte bedeutsamen Heiligtums, wie in Delphi, Olympia und auf Delos, sei es zu der Schutzgottheit einer Stadt. In Attika nahm in dem Maße, wie die Akropolis politisches Zentrum der Landschaft wurde, Athena den Platz der Stadtgottheit ein. Aus einer zunächst nur auf der Akropolis verehrten Gottheit wandelte sie sich unter mancherlei Namen - als Pallas Athena (Pallas heißt „Mädchen“), als die jungfräuliche Athena (Athena Parthenos) oder als die „Stadtherrin“ (Athena Polias) - zu der

die ganze attische Landschaft beherrschenden Góttin. Mit dem Tempelbau und der Kultstatue, die überall in Griechenland zu dem Aufbau zentraler Gottheiten

viel beigetragen haben, erhielt die Stadtgóttin auch ihre sichtbare Hóherstellung. Das zeigte sich auch rein äußerlich darin, daß neben das alte hölzerne Kultbild der Göttin (xóanon) die (ohne Basis) zehn Meter hohe GoldElfenbeinstatue der Athena des Pheidias (Gold und Elfenbein waren um einen

Holzkern gelegt) im Parthenon, dem gewaltigen neuen Tempel der perikleischen Zeit, trat. Eine ebenfalls von Pheidias geschaffene weitere Kolossalstatue der Athena aus Erz (ca. 9 m hoch) stand im Freien zwischen der Rückfront des

Parthenon-Tempels und den Propyläen auf der Akropolis. Sie war wie die Tempelstatue in aufrechter Haltung, aber neben dem Schild zusätzlich mit einer Lanze bewaffnet dargestellt und trug seit der hohen Kaiserzeit den Beinamen Promachos („Vorkämpferin“; andere Darstellungen dieses Typs zeigen die Göttin mit hocherhobenem Schild und geschwungener Lanze). Die vergoldete Lanzenspitze der in Bronze gearbeiteten Statue war das erste, was der von See heimkehrende

Athener von

seiner Stadt erblickte; ihr Funkeln

konnte man

bereits am Kap Sunion wahrnehmen. Die Akropolis als Sitz Athenas war in der Zeit der Demokraue, aber wohl auch schon in archaischer Zeit ein ausschließlich sakraler Ort, und es ent-

wickelte sich Athena neben den anderen hier verehrten Góttern, wie Poseidon, Erechtheus und Zeus Herkaios, immer ausschließlicher zur beherrschenden

Burggottheit. Die Demokratie hat sie in besonderer Weise gegenüber allen anderen Góttern herausgehoben. Das zeigte sich zum einen in den Bauten für die Gôttin auf der Akropolis, wo sie nicht nur in dem noch lange stehenden alten, im Perserkrieg halb zerstórten Tempel der vordemokratischen Zeit, nach dessen Aufgabe dann im Erechtheion als Polias und in dem bereits genannten C uczed

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IV. Stadt und Religion

145

Riesenbau des Parthenon als Parthenos, sondern auch in dem kleinen Tempel über den Propyläen als Athena Nike, also als die den Sieg verkörpernde Athena, verehrt wurde. Zum anderen drückt sich die Enge des Verhältnisses von Göttin und Staatsform in dem unaufhörlichen, teils ritualisierten Bezug der verschiedenen öffentlichen Urkunden in Wort und Bild auf sie aus. Athena war für die

Athener mehr als nur die Burggöttin oder Stadtgöttin: Sie repräsentierte auch die Demokratie, und so erscheint sie denn etwa auf der Inschrift aus dem

vorletzten Jahr des Peloponnesischen Krieges, durch die den einzig den Athenern noch treu gebliebenen Samiern das athenische Bürgerrecht verliehen wurde und sich so die beiden damals allein noch übrig gebliebenen Demokratien zu einer Einheit zusammenfanden, als Reliefbild (neben Hera, der Stadtgötun von Samos) über dem Beginn des Textes. Athena ist hier nicht Stadtgöttin allein; in ihr ist untrennbar die Demokratie mitgedacht. Und insoweit Demokratie und Herrschaft im 5. Jahrhundert zusammengehóren, hat Athena in der Zeit der Seebundsherrschaft auch die Funktion, die Macht der Athener zu

versinnbildlichen, und folglich wird ihr Kult in dem Maße, wie die Bundesgenossen nach dem Willen der Athener mit Athen zusammenwachsen sollen, auch

in bundesgenössischen Städten - nicht etwa als ein einheimischer, sondern als ein athenischer Athena-Kult - heimisch. Athena ist Stadtgöttin (Polias), Tyran-

nenhasserin (tyrénnous stygossa) und die über die Feinde der Stadt Siegreiche (Nike) zugleich.

Athena hat sich ihre Vorrangstellung in Attika erst erkämpfen müssen. Mit ihr konkurrierte anfangs vor allem noch Poseidon, der auf der Akropolis eine uralte Kultstátte besaß, an der er zusammen mit Athena und Erechtheus, einer

später zu einem mythischen König Athens umgeformten Gottheit, verehrt wurde. Diese wichtige, auch noch mit anderen göttlichen Wesen verbundene Stätte wurde in klassischer Zeit von dem zwischen 421 und 406 erbauten Erechtheion

überbaut; man zeigte dort u.a. den der Überlieferung nach von Athena selbst gepflanzten heiligen Olbaum und das Dreizackmal, das Poseidon geschlagen haben soll. Das Nebeneinander der beiden Gottheiten haben die Griechen später in dem Mythos von dem Streit zwischen Athena und Poseidon um Attika rationalisiert, der übrigens auch Thema des Westgiebels des Parthenon ist. Neben Athena und Poseidon genoß an verschiedenen Stellen Attikas vor allem Dionysos große Verehrung. Aber während die beiden ersteren von Anfang an auf der Burg, dem späteren politischen Zentrum, saßen und sich ihre religiöse Bedeutung für die ganze Landschaft daraus von selbst ergab, haben von den vielen lokalen Kultgottheiten Attikas doch nur diejenigen auch eine für alle

Athener bedeutsamere Rolle gespielt, die auf irgendeine Weise ihren Weg in das politische Zentrum fanden, sei es, sie genossen schon früh ein über den lokalen

Rahmen hinausgehendes Ansehen, sei es, einem Adligen gelang es, den von ihm bevorzugten Kult nach Athen zu ziehen. So ist Dionysos, der allerdings in der Stadt selbst wohl seit sehr alter Zeit eine Stätte der Verehrung besaß, dadurch zu einer zentralen Gottheit der ganzen Stadt geworden, daß der Tyrann Peisistratos dem lokalen Kult des Dionysos von Eleutherai ein gemeinattisches Fest in Athen widmete (die sogenannten „Städtischen“ Dionysien). Die Artemis von Brauron an der Ostküste Attikas besaß sogar eine Dependance auf der Akropo-

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

lis, die vielleicht ebenfalls Peisistratos eingerichtet hatte. - Für das öffentliche Leben waren ferner die Göttin Hestia und Zeus Herkeios von Gewicht, beide

ursprünglich den häuslichen Herd und damit das Wohl der einzelnen Familien schützende Gottheiten, deren Funktion dann auf die ganze Stadt als ein symbolisches Haus übertragen wurde. Funktionalen Charakter haben auch die Marktund Versammlungsgötter; die Volksversammlung auf der Pnyx etwa unterstand dem Schutz des Zeus Agoraios (von Agora: „Markt“, ,, Versammlung"), der in

klassischer Zeit dort einen Altar hatte. Eine Sonderstellung nimmt das Heiligtum der Demeter in Eleusis ein.

Demeter ist eine alte bäuerliche Fruchtbarkeitsgôttin, von der das Gedeihen der Ernte, insbesondere der Getreideernte, abhing; sie galt den Griechen als die

Lehrerin des Getreideanbaus. Mit ihrem Kult in Eleusis waren schon in früher Zeit Mysterien verbunden gewesen, also eine Kultform, die durch den Ritus der

Einweihung und durch die Geheimhaltung der in ihr vermittelten Lehre einen festeren Rahmen besaß. Die Griechen kannten eine ganze Reihe von Mystenenkulten; die eleusinischen gehórten zu den angesehensten in der ganzen griechischen Welt. Die Mysterien gaben dem Mysten - und dies haben wir durchaus als eine Besonderheit innerhalb des im übrigen ganz der Natur verhafteten religiósen Denkens der Griechen anzusehen - eine Jenseitsvorstellung, vermittelten ihm also das Wissen von einem Dasein nach dem Tod und darüber hinaus auch das Versprechen, durch die rituelle Weihe in der anderen Welt bevorzugt behan-

delt zu werden. Eleusis ist erst spät an die attische Landschaft angeschlossen worden; auch das benachbarte Megara hatte sich um das Heiligtum bemüht. Die Athener suchten den von allen Griechen so hoch geschátzten Kult dadurch fester an ihre Stadt zu binden, daß sie - außer daß sie den Besitz der Göttin

verwalteten und deren Feste ausrichteten - der eleusinischen Demeter am Abhang der Akropolis eine Kultstätte stifteten und an dem Hauptfest der Göttin im Oktober eine große Prozession von der Stadt über die „Heilige Straße“ bis nach Eleusis veranstalteten. Die Sonderstellung des Kultes fand u.a. darin ihren Niederschlag, daf$ die Mysterien, also der zentrale Teil des Kultes, stets dem eleusinischen Priestergeschlecht der Eumolpiden reserviert waren. Die Mysterien waren in der Tat auch von ihrem Wesen her in den staatlichen Kult nicht voll zu integrieren. Denn sie sind Kulte von Menschen, die sich in vólliger

Freiheit zu einem besonderen religiösen Ziel zusammenschließen und ihren Charakter als eine Sondergemeinschaft durch einen Einweihungsakt, der den einzelnen Mysten von der Auftenwelt abgrenzt, besonders herausstellen. Sie stehen damit den anderen Kulten, an denen alle Anteil haben, in einer gewissen

Spannung gegenüber, und nicht nur den óffentlichen, sondern ebenso den Kulten der Familien, Geschlechter, Demen, Phylen und anderen Organisations-

formen. Denn an allen diesen haben zwar nur bestimmte Personengruppen

Anteil, doch ist mit ihnen kein Spezialwissen verbunden, und es werden vor allem diese Gruppen wie auch die Kultgemeinschaft des Gesamtstaates nicht durch den freien Willen des Menschen, sondern durch die sozialen und politischen Gemeinschaften gebildet, in die der einzelne hineingeboren wird.

IV. Stadt und Religion

147

Waren für die Mysterien mit ihrem geschlossenen Kreis von Kultgenossen, dem

Geheimwissen und dem durch die besonderen Jenseitserwartungen erhöhten religiösen Empfinden die Priester ein bedeutsamer, wenn nicht gar konstituuver Faktor des Kultes, verlangten alle anderen Kulte nicht den mit Spezialwissen und religiöser Autorität ausgerüsteten Priester. Weder die Athener noch die übrıgen Griechen kannten einen besonderen Priesterstand. Die heilige Handlung vollzog die jeweils höchste Autorität der Kultgemeinschaft, also im Hause der Familienvater, im weiteren Rahmen des Geschlechts das adlige Oberhaupt, in der Stammesphyle der gewählte „Stammeskönig“ und für die ganze Stadt ursprünglich der König, nach seiner Verdrängung an seiner Stelle ein jährlich gewählter Beamter, der wegen der Bindung mancher Kulte an den Königsnamen gleichsam in der Nachfolge des Königs dessen Titel (basiles) trug, oder auch andere Beamte. War für einen sakralen Akt Fachwissen, z. B. Kenntnisse

über die positive oder negative Beurteilung eines Opfers (Opferbeschau), verlangt, wurden die dafür kompetenten Personen befragt; doch gab ihnen das Wissen keine religiöse Autorität. Jeder Athener nahm im privaten Bereich alle von ihm rituell geforderten oder aus freien Stücken vollzogenen religiösen Handlungen ın eigener Verantwortung und ohne Vermittlung eines Priesters wahr. Darüber hinaus war er

Glied der städtischen Kultgemeinde und zur Teilnahme an den Opfern und Festen der Stadt für ihre Gottheiten nach Maßgabe seiner Möglichkeiten und der naturgemäß unterschiedlichen Gewichtung der Anlässe aufgerufen. Wie sehr auch dem Bürger bei dem Vollzug seiner Religion - im Rahmen des von

der Tradition Geforderten - die Eigenverantwortlichkeit belassen war, ihn kein Priesterstand etwa auf Grund eines besonderen Wissens oder einer besonders geheiligten Stellung zu bestimmtem Handeln zwang, sondern er selbst seine religiösen Bedürfnisse befriedigte, war die städtische Kultgemeinschaft, in der er stand, doch eine feste religiöse Bindung:

Die Götter, welche die Stadt

schützten, waren seine Götter; sie gingen ıhn an, wie ihn die Stadt, der er zugehörte, anging. Mochten bei manchen religiösen Anlässen auch nur Bürger - an manchen auch nur Frauen - zugelassen sein, schloß die Kultgemeinschaft vor allem auch die Metöken ein, und ebenfalls waren die Sklaven von ıhr nicht

ausgeschlossen. Der Bürger (und Metöke) war in sie auf die vielfältigste Weise

verflochten, und war seine Anwesenheit bei entsprechenden Anlässen auch nicht in einem formalen Sinne verpflichtend, konnte er sich, auch wenn sein

religiöses Empfinden nicht oder wenig angesprochen wurde, doch der Gemeinschaft nicht entziehen, und selbstverständlich wollte er das in aller Regel auch nicht, denn die kultische Gemeinschaft war zugleich die politische Ge-

meinschaft. Im Mittelpunkt aller religiösen Handlungen stand das Opfer

für den Gott

bzw. die Göttin, das zu festgelegten Zeiten und in vorgeschriebenen Formen als Tier- und Trankopfer dargebracht wurde. Von dem Tierfleisch wurden die nicht oder nur bedingt zum Verzehr geeigneten Teile (Eingeweide!), nur selten auch Fleisch, für die Gottheit verbrannt, das Fleisch in der Regel nach festgesetzten Quoten an die Priester, Beamten und Besucher bzw. Festteilnehmer verteilt. Da Fleisch teuer war und sich der Athener nur selten eine Fleischspeise erlauben

148

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

konnte, bedeutete das gemeinsame Mahl nach dem Opfer sowohl Kulthandlung als auch ersehnten Festschmaus.

Im Zentrum des religiösen und öffentlichen Lebens zugleich aber standen die Feste zu Ehren der Götter. Nach ihnen gliederte sich der Rhythmus des Jahres. Das bürgerliche Jahr war im Unterschied zu dem in zehn Prytanien eingeteilten Amitsjahr in zwölf Monate unterteilt (Festkalender), die jeweils nach einem in sie

fallenden Fest benannt waren. Das Jahr begann mit dem Hekatombaiön nach dem letzten Neumond vor der Sommersonnenwende, also im Juli. Gegen Ende des ersten Monats, am 28.Hekatombaiön, wurde das athenische Hauptfest zu Ehren der Athena, die Panathenäen, gefeiert, die schon seit dem frühen 6. Jahrhundert alle vier Jahre als „Große Panathenäen““ - die drei anderen Panathenäen dieser Vierjahresperiode hießen „Kleine Panathenáen"* - begangen wurden. Das Fest, das als Geburtstag der Göttin galt, bestand aus einer Nachtfeier vor Festbeginn, der Übergabe eines neuen, von vornehmen Athenerinnen gewebten Gewandes (Peplos) und einem großen Opfer für die Göttin auf der Burg; doch lag der besonders herausragende und alle Athener bewegende Teil des Festes in der großen Prozession, in der Priester, Opferdiener, Beamte, unter ihnen die Demarchen, ferner Reiter und Hopliten sowie die "Träger und Trägerinnen von Gaben für die Góttin und andere unter reger Anteilnahme aller

Athener das Gewand, die anderen Gaben und die Opfertiere vom Dipylon-Tor (Kerameikos) auf die Burg brachten, wo der Zug vor dem Altar des alten Athena-

Tempels endete. Die Prozession ist auf dem berühmten Fries des Parthenon dargestellt. An dem Zug beteiligten sich übrigens auch Nichtathener, nàmlich Metóken und Freigelassene, die dadurch als Glieder der athenischen Kultgemeinschaft ausgewiesen waren, und ferner vor allem im 5. Jahrhundert die Vertreter der Seebundsstádte, die zur Teilnahme am Fest und zu Weihgaben für

die Göttin, nämlich ein Rind und eine Rüstung (Panhoplie), verpflichtet waren und damit ihre enge Bindung an den Hegemon Athen ausdrückten. An den Großen

Panathenäen,

die sich über mehrere Tage erstreckten, fanden auch

athletische Wettkämpfe statt: Lauf, Fünfkampf, Ringen, Boxen und Pankration (ein aus Ringen und Boxen kombinierter Kampfsport), ferner Pferde- und Wagenrennen, weiter ein nur aus Athen bekannter Mannschaftswettbewerb in „Mannhaftigkeit“ (ewandría), bei dem es (wir wissen wenig darüber) vor allem

um die Darstellung von Größe und Kraft, mithin um Schönheit im griechischen Sinne, ging (es handelte sich also um eine Art Schónheitswettbewerb), und

schließlich einer im Waffentanz sowie musische Vorträge (Rhapsodenvortrag von Partien aus Homer, Darbietungen von Sángern und Instrumentalsolisten). Für sie waren eine Vielzahl von gestaffelten Preisen ausgesetzt. Die absolut hóchsten Preise erhielten die Kitharóden (Sánger zur Kithara); die Sieger in den

athletischen Kämpfen erhielten Amphoren, gefüllt mit Olivenöl, von denen uns

viele erhalten sind (panathenäische Preisamphoren). Das Fest wurde durch einen Wettlauf mit Fackeln (lampadédromía) beendet, der vom Altar des Eros in

der Akademie, also außerhalb der Mauern, bis zur Akropolis führte und in dem

der Sieger ebenfalls einen Preis erhielt. Die Panathenäen waren das große festliche Ereignis des Jahres und besonders die Groften Panathenäen mit ihren zahl-

IV. Stadt und Religion

149

reichen Wettkämpfen ein für jeden unvergeßliches Erlebnis. Für das reibungslose Funktionieren und die ordnungsgemäße Beschaffung und Verteilung der

Preise an ıhnen war ein besonderes Beamtenkollegium von zehn Agonotheten (agönothetas) zuständig, die zur Durchführung ihrer vielfältigen Aufgaben für vier Jahre, von den Großen Panathenäen zu den nächsten, vom Rat phylenweise erlost worden waren. Die Kleinen Panathenäen besorgte ein Kollegium von zehn phylenweise erlosten Jahresbeamten, die „Opferer“ (hieropoiof).

In der Mitte des Monats Boëdromiôn (September) begingen die Athener ein anderes großes Fest, die mehrtägigen Eleusinischen Mysterien zu Ehren der Demeter von Eleusis; sie wurden im Unterschied zu den Mysterien des

Demeterheiligtums in Athen, die im Monat Anthesteriön gefeiert wurden (Februar), die „Großen Mysterien“ genannt. Wie bereits dargelegt, betraf das

Fest im strengen Sinne nur den Kreis der rituell in die Mysterien Eingeweihten (Mysten) und die jeweils neu Einzuweihenden. Doch war die Zahl der Mysten groß - es scheinen bis zu 1 000 Personen jeweils neu hinzugekommen zu sein -, und darüber hinaus machte das Ansehen des Kultes in der ganzen griechischen Welt das Fest zu einem gesamtstädtischen Ereignis. Denn das besondere an diesem Fest war, daß nicht nur Frauen und Sklaven zur Initiation zugelassen waren, sondern auch Fremde; es war lediglich die hellenische Herkunft

bzw. die griechische Muttersprache Bedingung für die Zulassung, also „Barbaren“ ausgeschlossen. Die Eleusinischen Mysterien waren folglich nicht nur ein

städtisches, sondern auch ein gemeingriechisches Fest. Das Fest begann in der Monatsmitte mit einer Prozession von Eleusis nach Athen, bei der die heiligen

Gegenstánde mitgeführt wurden, und hatte seinen Hóhepunkt am fünften Tag in der Prozession zurück nach Eleusis, an der auch die neu Einzuweihenden

teilnahmen, und in der Initiation selbst am folgenden Tag im Telesterion, dem riesigen Initiationssaal des eleusinischen Heiligtums. In dem darauf folgenden Monat Pyanopsión (Oktober) fiel ein anderes Demeter-Fest, nàmlich die dreitägigen Thesmophorien, an denen, wie an manchen anderen athenischen Festen auch, nur Frauen teilnehmen durften. Sie waren ein Fruchtbarkeitsfest

und bezogen sich auf die in der Zeit des Festes vorgenommene Aussaat des Getreides.

Zahlreich waren die Feste zu Ehren des erst verhältnismäßig spät in Attika heimisch gewordenen Dionysos. Das Dionysos-Fest der Lenäen in der Mitte des Monats Gamélión (Januar) war älter als das der bedeutenderen „Städtischen

Dionysien", durch deren Einführung es litt. Nichtsdestoweniger hatte auch dieses Fest noch Aufführungen von Tragódien und Komödien; im Jahre 425 hatte an ihnen Aristophanes mit seinen ,,Acharnern" den Sieg davongetragen. Eine Besonderheit des Festes lag darin, daß an ihm nur Bürger, nicht einmal

Metóken, teilnehmen durften. Auch die Anthesterien (,,Blütenfest") im Monat Ansthestérión (Februar) waren ein Dionysos-Fest. An ihnen wurde der letztjáh-

nge Wein, der inzwischen gereift war, geprüft. Sie waren auch ein Kinderfest, an denen u.a. die Lehrer bezahlt wurden, wie denn überhaupt die Feste in vielfältiger Weise mit Terminen des privaten und óffentlichen Lebens verbunden waren, und an diesem Fest etwa auch die Geister der Verstorbenen beschwichugt

wurden. Die Anthesterien aber ragen vor allem dadurch heraus, daß sie ein

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

echtes Dionysos-Fest waren; der zweite Festtag war ein fröhliches Weinfest mit starkem Weingenuß, bei dem man auch Wetttrinken veranstaltete. Das größte Dionysos-Fest und nach den Panathenäen das bedeutendste Fest Athens überhaupt aber waren die bereits genannten mehrtägigen „Städtischen Dionysien“ in der Mitte des Elaphébolión (Mitte März), die auch eine große Prozession u.a. mit Phalloı und einem Komos (kömös), also einem ausgelassenen Zug dionysischer Schwärme, als Abschluß hatten. Bereits seit dem 6. Jahrhundert fanden an dem Fest Aufführungen statt; zunächst waren es Männerchöre,

die mit Gesang verbundenen Tanz darboten, dann dramatische Schauspiele, die eben an diesen Dionysien sich zu ihrer Bedeutung entwickelten. In der Mitte des 5. Jahrhunderts wurden am zweiten Festtag (seit 486) fünf Komódien und am

dritten bis fünften Tag Tragódien (seit ca. 534), und zwar je eine Triologie pro Tag, aufgeführt und der Sieger der als Wettstreit (agón) aufgefaftten Aufführungsreihe ermittelt. Die Aufführungen fanden unter Leitung des Archon im Dionysos-Theater am Südabhang der Akropolis statt, das aber erst durch Lykurgos im Jahre 330 zu einem Stein-Theater ausgebaut wurde; der Besuch

kostete ein Eintrittsgeld von zwei Obolen táglich. Es waren neben den Bürgern auch Metóken und Fremde, als Begleitpersonal sogar Sklaven zu dem Fest

zugelassen. Da zur Zeit der Dionysien die Seefahrt wieder einsetzte, waren die Fremden zahlreich vertreten. Die Städte des Ersten Athenischen Seebundes hatten in dieser Zeit auch ıhren Tribut zu entrichten, der von den Behörden an

den Tagen der Aufführungen auf der Tanzfläche des Theaters (Orchestra) zur Schau gestellt wurde. Das Fest war ferner mit einer Art „Freisprechung“ der erwachsen gewordenen Söhne von im Krieg gefallenen Athenern verbunden, welche von der Stadt unterstützt worden waren und nun als Mündige vorgestellt wurden. Die große Öffentlichkeit machte das Fest auch für Bekanntmachungen besonders geeignet. So verkündeten an ihnen im 4. Jahrhundert Herolde die von

der Stadt an Beamte und andere verliehenen goldenen Kränze und wurden Freilassungen bekannt gemacht, die damit Öffentlichkeitscharakter erhielten. Die zweitägigen Thargelien, von denen der Monat Thargélión (Mai) seinen Namen hat, waren in erster Linie dem Apollon geweiht, doch galten sie auch Artemis. Sie waren ein Reinigungsfest, bei dem symbolisch zwei Athener als „Sündenböcke“ aus der Stadt getrieben wurden. Der zweite Tag war ein auf die

Ernte bezogener Opfertag. Auch an den Thargelien gab es Aufführungen, nämlich Wettkämpfe von Männer- und Knabenchören. Im Thargéliôn wurde im Jahre 429 eine neue Göttin aus Thrakien, Bendis, nach Attika gebracht, wo sie im Piräus eine Kultstätte erhielt. Thrakien war seit dem ersten Feldzug des

Kimon im Jahre 475 dorthin für Athen von zentraler politischer Bedeutung; viele Athener siedelten dort und ebenso hielten sich nicht wenige Thraker in Athen auf. Es hatte die Góttin daher in Attika einen nicht kleinen Kreis von

Anhängern unter Thrakern ebenso wie unter Athenern. An dem Fest zu Ehren der Bendis im Monat Thargélión, den Bendideia, gab es, für Athen neu, u.a. einen Fackellauf zu Pferde. In den Thargélión fielen auch die Plyntherien („Waschfest“), an denen das hölzerne Standbild der Athena Polias (xóanon) im

Meer gereinigt wurde. Alle bisher genannten Feste waren solche der Stadt Athen. Darüber hinaus

IV. Stadt und Religion

151

gab es jedoch noch eine Fülle von lokalen Festen, die in den Demen, Phylen und Phratrien gefeiert wurden. Sie hatten für die Angehörigen dieser Bezirke bzw.

Vereine u.U. große Bedeutung und wurden von denen, die sie angingen, auch unter großer Beteiligung besucht. Wegen seiner Bedeutung auch für das gesamtstädtische Leben sind aber lediglich die Apaturien, die im Pyanopsiön (Oktober) gefeiert wurden, besser bekannt. Sie waren ein Fest der Phratrien, das von

den einzelnen Phratrien an jeweils verschiedenen Tagen des Monats begangen wurde. An ihnen, und das machte sie für die Stadt besonders wichtig, wurden

die (männlichen) Neugeborenen in das Register ihrer Phratrie eingetragen und damit offiziell als künftige Bürger und Soldaten zur Kenntnis genommen. Die

Opfergötter des Festes waren Zeus Phratrios und Athena Phratria, daneben Dionysos. Die feste Verbindung von sakralem und öffentlichem Bereich zeigt sich weiter darin, daß alle Versammlungen und Behörden ihre Beratungen mit einem Reinigungsopfer und einem Gebet, in dem die wichtigsten Gottheiten auch nament-

lich genannt wurden, begannen. Fiel das Opfer ungünstig aus, wurde die betreffende Handlung verschoben. An mindestens zwei der vier ordentlichen Volksversammlungen einer Prytanie wurden in einem ersten Tagesordnungspunkt

alle anstehenden Fragen zu den Kulten der Stadt erörtert. Da die Stadt für die Verwaltung und Instandhaltung der Tempel sowie für die Wahrung des Tempelbesitzes verantwortlich war, hatte sie in Wahrnehmung dieser Pflichten alljähr-

lich eine Fülle von Aufgaben zu bewältigen. Unter sie fiel selbstverständlich auch der Schutz der Götter gegen Angriffe von Sakralverbrechern, mochten sie sich nun an dem Eigentum einer Gottheit vergangen oder die Gottheit durch Schmähungen oder auf andere Weise entwürdigt haben. Die Anklage wegen Gottlosigkeit (Asebie) konnte einem Verurteilten in besonders schweren Fällen

die Verbannung oder gar die Todesstrafe einbringen. Die Einheit von staatlichem und sakralem Bereich wird ferner auch aus dem Gebrauch des Eides für die mannigfaltigsten öffentlichen Geschäfte deutlich. In dem Eid wurden zur Bekräftigung des damit gegebenen Versprechens meh-

rere Schwurgötter, in aller Regel drei und unter ihnen in Athen vor allem Zeus, Apollon und Demeter, angerufen und für den Fall der Eidesübertretung eine Selbstverfluchung ausgesprochen. Durch Eide verpflichteten sich die Bürger als Epheben, Richter, Ratsherren und Beamte bei Antritt ihres Dienstes und darüber hinaus bei mancherlei Gelegenheiten des óffentlichen Lebens zu ordentlicher Erfüllung ihrer Aufgaben. Selbstverständlich war der Eid als Beweismittel

vor Gericht und als Versicherung einer ordnungsgemäßen Pflichterfüllung auch im Privatleben gebräuchlich. Für die Demokratie jedoch war gerade die eidliche Bindung des im Dienste der Stadt politisch tátigen Bürgers eine der wesentli-

chen Stützen der gesamten Ordnung, und nicht zu Unrecht hat der Redner Lvkurg in seiner Rede gegen Leokrates ($ 79) im Jahre 331/330 gesagt, daß der Eid das sei, was die Demokratie zusammenhalte.

V. Die politische Gliederung Attikas Die Gemeinschaft der athenischen Bürger bildete die Stadt Athen oder, wie wir heute auch sagen, den athenischen Staat. Die staatlichen Organe ruhten jedoch auf kleineren, sich selbst verwaltenden Organisationseinheiten, die als die Basis des stádtischen/staatlichen Daseins anzusehen sind. Zum Verständnis der politischen Verfassung Athens ist darum eine genaue Kenntnis dieses Unterbaus erforderlich.

Die bürgerliche Organisation unterhalb der großen staatlichen Behörden ist eine grundsätzlich doppelte; die eine ist ein reiner Personenverband, die andere nach lokalem Prinzip aufgebaut. Die letztere ist von Kleisthenes geschaffen worden und war die Voraussetzung für die weitere demokratische Entwicklung. Sie ist o. S. 36ff. im Zusammenhang der Entwicklungsgeschichte der athenischen Demokratie bereits dargestellt worden, bedarf aber hier noch der Ergänzung durch einen systematischen Überblick, der die Funktion innerhalb der

demokratischen Gesamtordnung beschreibt. Der auf persönlichen Bindungen aufbauende Zusammenschluß der Athener ist die ältere, der Adelszeit angehórige Organisationsform, der Kleisthenes durch seine Reform die politische Bedeutung nahm. Sie wurde jedoch von Kleisthenes nicht aufgehoben und hatte auch in der Zeit der Demokratie noch eine, wenn auch beschränkte, Bedeutung.

Sie soll zuerst dargestellt werden.

Die Grundeinheit der alten personalen Ordnung, die durch die Beziehungen und Abhängigkeiten von Personen (Adlige, Freie) zueinander bzw. untereinander bestimmt wird und also einen reinen Personenverband darstellt, ist die

Phratrie (phratrta; die Mitglieder aller Phratrien heißen phräteres und alle Phratrie-Angehórigen insgesamt démotiônidai). Die Phratrie ruht auf der Idee der Verwandtschaft, die allerdings in historischer Zeit eine fiktive ist, und ihre eigentliche Funktion besteht darin, den ganzen Stamm, die Phyle, mit den einzelnen Familien zu verbinden; denn jede Phratrie faßt mehrere Familien

zusammen, und alle Phratrien bilden den Stamm. In Athen gab es früher vier Stämme, deren Vorsteher noch in historischer Zeit Phylenkónige hießen. Die vier Stämme sind sehr wahrscheinlich in nach Phratrien geordneten Geschlechterverbánden in Attika eingewandert; allerdings dürfte die besondere Ausgestal-

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

tung des Phratrien- und Geschlechterwesens erst mit dem durch die Seßhaftwerdung sich verstärkenden Zwang zur staatlichen Organisation erfolgt, vieles, was wir für uralt halten, also erst später geschaffen worden sein. In der Adelszeit waren jedenfalls die Phratrien und Geschlechter diejenigen Organisationsformen, durch welche die adligen Familien ihren beherrschenden Einfluß auf die freien und abhängigen Bewohner Attikas ausübten. Noch in der Zeit der Demokratie, als der nichtadlige Bürger dem Adligen gleichstand, hatte letzterer in der

Phratrie großes Gewicht, wie denn in den Phratrien und Geschlechtern naturgemäß das aristokratische Prinzip der Abkunft sich seinen Einfluß am ehesten erhalten konnte. Aber mit der Zeit organisierten sich neben den adhgen Geschlechtern auch nichtadlige Familien in besonderen Verbänden. So war die Phratrie schließlich mehr ein Verband von Personen, die durch die Tradition und die alten Kulte miteinander verbunden waren, als ein Verband alter Familien,

mochten auch noch so viele alte personale Bindungen vorhanden sein. Gegen-

über den traditionellen und fiktiven Verbindungen unter den Mitgliedern einer Phratrie erhielt denn auch im Laufe der Zeit die tatsächliche Verwandtschaft ein immer größeres Gewicht und wurde sie, nicht die tatsächliche oder fiktive

Tradition der Adelszeit, die Grundlage personenrechtlichen Denkens. Jede Phratrie wurde von einem jährlich wechselnden Phratriarchos geleitet und hatte eine eigene Versammlung, die Agora, in der verbindliche Beschlüsse über die der Phratrie zukommenden Aufgaben gefaßt werden konnten. Eine wesentliche Aufgabe der Phratrie bestand in der Wahrnehmung und Verwaltung religiöser Angelegenheiten, insbesondere in der Pflege des von allen Phratrien ausgeübten Kultes des Zeus Phratrios und der Athena Phratria. Obwohl reine Personenverbände, waren die Phratrien doch durch den Grundbesitz der ehe-

mals herrschenden Adelsgeschlechter und durch die örtlich gebundenen Kulte auch mehr oder weniger fest abgegrenzte lokale Einheiten. Neben der Sorge für die alten Lokalkulte lag die wichtigste Aufgabe der Phratrien ın der Aufnahme und damit Anerkennung der Kinder von Bürgern und der Adoptierten. Diese aus der Adelszeit überkommene familienrechtliche

Funktion war deswegen, weil sie ein Präjudiz für die spätere Aufnahme des erwachsenen Mannes in die Bürgerschaft war, auch für das demokratische Athen wesentlich. Sie hat die Phratrie wohl nur deswegen behalten, weil die

Aufnahmezeremonie an dem Hauptfest der Phratrien, den Apaturien, vorgenommen und von dieser heiligen Tradition nicht gelöst werden konnte; aber es spielte dabei gewiß auch eine Rolle, daß die Anerkennung von Kindern zunächst

einmal als eine Sache der Familie bzw. der Verwandten und erst die Aufnahme des Erwachsenen in den Kreis der politisch Berechtigten als Sache der ganzen Stadt angesehen wurde (weswegen letztere dann auch nicht bei den Phratrien, sondern bei den Demen erfolgte). In der Zeremonie führte der Vater oder

Vormund den etwa drei- oder vierjährigen Sohn ein; nach dem Bürgerrechtsgesetz vom Jahre 451/50, das die Bürgerschaft an die Abkunft eines Atheners und

einer Athenerin band, wurde auch die reine Abstammung geprüft. AnschlieRend wurde der Knabe in das Phratrie-Register eingetragen. Für das Mädchen genügte die Erklärung des Vaters, daß er es anerkenne und die bürgerliche Herkunft auch der Mutter gegeben sei. Das Verfahren bei der Adoption war im

V. Die politische Gliederung Attikas

155

Prinzip dasselbe. Auf jeden Fall ist in klassischer Zeit - und sehr wahrscheinlich schon seit dem Ende des 7. Jahrhunderts - jeder Athener auch Mitglied einer Phratrie und diese also wie der Demos eine Organisationseinheit der ganzen

Bürgerschaft. War die Phratrie eine absterbende, politisch nur noch für die Anerkennung der Kinder wichtige Organisationseinheit, bildete seit Kleisthenes, also seit dem Ende des 6. Jahrhunderts, dessen große Gebietsreform die Grundlage der

politischen Organisation. Sie soll wegen ihrer Bedeutung für das politische Leben Athens nach Idee und Form etwas ausführlicher vorgestellt werden. Kleisthenes fand vier Phylen vor, die als reine Personenverbände ursprünglich einmal geschlossene Personengruppen („Stämme“) gewesen sein dürften. Jede von ihnen war unterteilt in drei Trittyen (d. h. Drittel) zu je vier Naukrarien. Insgesamt hatten die vier Phylen also 12 Trittyen und 48 Naukrarien. Alle diese Einheiten waren Personenverbände. Aber da die einflußreichen Familien ihren Grundbesitz und ihre Kultstátten auf feste Gebiete konzentriert hatten, stellten diese Einteilungen

doch

gleichzeitig

auch

lokale

Bezirke dar; der

Bezugspunkt der Organisation blieb allerdings die Person, nicht die Lokalität. Kleisthenes legte demgegenüber seiner Ordnung das rein lokale Prinzip zugrunde. Dies wäre gewiß auch auf Grund der alten Ordnung möglich gewesen; aber damit hätte er seine mit der Reform verbundenen Ziele, nämlich einerseits

die Stärkung der neuen politischen Kräfte durch die Institutionalisierung der Gleichheitsidee und andererseits die Schwächung der Macht der alten Geschlechter (s.o. S. 36ff.), kaum verwirklichen können. Diesem Ziel dienten nun

die beiden Grundgedanken der Reform: die Territorialisierung der Phylen und die „Mischung“, wie Aristoteles sagt, der verschiedenen Landschaften inner-

halb der territorialisierten Phylen. Die institutionelle Verwirklichung der Reform, die übrigens bis in die römische Zeit gültig blieb, sah nun folgendermaBen aus: Kleisthenes teilte ganz Attika zunächst in drei landschaftliche Bereiche, die Stadt (ästy), das Binnenland (mesögaion) und die Küste (paralta). Diese Bereiche waren

keineswegs

auch

nur annähernd

mit den Wohnsitzen

von Händlern,

Kleinbauern, Großbauern oder irgendwelchen anderen Gruppierungen identisch. Mochten etwa auch in den großen Ebenen der Stadt viele Großgrundbesitzer und im Binnenland mehr kleinere Bauern wohnen als anderswo, waren

die Bezirke doch zu groß und landschaftlich zu sehr gegliedert, als daß sie eine soziale Schichtung hätten repräsentieren können. Jeden der drei Bereiche teilte Kleisthenes wiederum in zehn Trittyen und erloste dann je eine Trittys der drei Bereiche, um sie zu einer neuen, nunmehr auf rein lokalem Prinzip ruhenden

Phyle zu vereinigen. Da die Phyle neuer Art sich aus einer städtischen Trittys, einer vom

Binnenland und einer von der Küste zusammensetzte, war sie im

Prinzip kein geographisch zusammenhängendes Gebilde, sondern bestand aus drei oder, wenn gerade zwei Trittyen aneinandergrenzten, zwei räumlich getrennten Gebieten. Entsprechend den jeweils zehn Trittyen eines jeden landschaftlichen Bereiches gab es dann zehn Phylen. Damit war aber nur die Dachorganisation eingerichtet worden. Das eigentliche Leben der Menschen spielte sich hingegen in den kleinen Städten und Dörfern Attikas, den Demen

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

(démos), ab. Diese wurden nun dergestalt auf die Trittyen verteilt, daß jede

Trittys eine ungefähr gleiche Anzahl erwachsener Männer hatte. Da Kleisthenes bei der Einrichtung der Demen - es waren insgesamt 139 - auf gewachsene

Verhältnisse Rücksicht zu nehmen hatte, waren die Demen verschieden groß und folglich die Anzahl der Demen einer Trittys nicht einheitlich. Wie man sieht, ist die Grundeinheit der gesamten Organisation die Siedlung

bzw. die Gruppe von Kleinsiedlungen, nämlich der

Demos. Als gewachsene

Siedlungen sind aber die Demen einerseits von sehr unterschiedlicher Größe, andererseits von ihrer Natur her nicht willkürlich veränderbar oder teilbar und darum als Wahl- bzw. Losungsbezirk ungeeignet. Ihre politische Funktion für den Gesamtstaat können sie nur dadurch erhalten, daß sie zu höheren Einheiten

zusammengefaßt werden, die ihrerseits dann gleich große Bürgerzahlen repräsentieren. Diese höhere Einheit ist die Phyle, die danach eine im Prinzip gleiche Anzahl von Bürgern, aber unterschiedlich viele Demen umfaßt. Diese arıthmetische Gleichheit haben die insgesamt zehn Phylen nun in der Tat besessen. Z. Zt. des Kleisthenes hat jede Phyle ca. 1000 Hopliten gestellt. Das System wird

jedoch dadurch noch komplexer, daß, wie bereits gesagt, auch die Trittyen, die ja zunächst lediglich die „Mischung“ der Bürger aus den drei verschiedenen

Landschaftsbereichen bewirken sollen, deswegen ebenfalls eine gleiche Anzahl von Bürgern haben müssen, weil sie neben der Mischung auch als Aushebungs-

bezirk für Heer und Flotte eine eigene Funktion besaßen. Aber 30 geographische Bezirke mit möglichst gleicher Bürgerzahl bei Unteilbarkeit der Demen von denen der größte Demos Acharnai schon von seinem Umfang her mehr Bürger hatte, als einer ganzen Trittys zuzuordnen war, und daher jede Berechnung sprengen konnte - zu schaffen, kommt fast der Quadratur des Kreises gleich. Die Athener haben sich damit geholfen, daß sie zur Ausgleichung der

Zahlenverhältnisse gelegentlich einen Demos aus einer mit der Trittys geographisch nicht zusammenhängenden Gegend, gleichsam als Trittys-Exklave, in die Trittys hineinnahmen.

Diese aus verschiedenen Landschaften gemischte Phylenordnung garantierte sowohl die zahlenmäßige Gleichheit der einzelnen Phyle (und Trittys) als auch die gleichmäßige Vertretung aller, auch der entferntesten Bezirke Attikas, in den zentralen Gremien. In ihr war der Bewohner der Stadt Athen nicht vor dem

Bewohner des über 40 km von Athen entfernten Demos Marathon bevorzugt. Die Phylenordnung ist Ausdruck der Gleichheit und dies sowohl in dem Sinne, daß alle Bürger darin der Idee nach gleichen politischen Rang haben, als auch

darin, daß sie für die politische Praxis alle gleichmäßig erfaßt sind. Die Phylenordnung war nun die Basis für die Wahl bzw. die Losung der Mitglieder aller politischen Gremien und für die Aushebung des Heeres und der Flottenmannschaften. Für den Rat der Fünfhundert etwa stellte jede Phyle 50

Mann, die gleichzeitig der für 1/10 des Jahres geschäftsführende Ratsausschuß, die Prytanie, war. Da jede Phyle aus drei Trittyen der drei Basislandschaften zusammengesetzt war, stellten auch die Trittyen eine möglichst gleiche Anzahl von Ratsherren (idealer Weise 17, 17 und 16). Allerdings war, wie bereits dargelegt, deswegen, weil die Trittys aus gewachsenen Siedlungen, den Demen, aufge-

baut war und diese nach der Anzahl ihrer Bürger anteilmäßig jeweils eine

V. Die politische Gliederung Attikas

157

verschieden große Zahl von Ratsherren stellten, eine völlige Gleichheit der jeweils von den Trittyen gestellten Ratsherren nicht zu erreichen; aber die Gleichheit der Zahl gab doch die Orientierung an, nach der alles gebaut war.

Schematisch dargestellt, setzten sich die z. B. von einer Phyle zu stellenden Ratsherrensitze wie folgt zusammen: Trittys des Binnenlandes

der einzelne Demos mit der Anzahl der in den Rat

zu entsendenden Mitglieder Lenken wir unsere Aufmerksamkeit noch einmal auf die Demen zurück. Sie bildeten die untersten und kleinsten Einheiten einer Organisationspyramide, in

der die Phylen und Trittyen die oberen Einheiten bildeten. Obwohl die kleinste Einheit, war aber der Demos doch deswegen das Fundament des Ganzen, weil er

die gewachsene Siedlung darstellte, in der die Bürger in einer lebendigen Gemeinschaft zusammenlebten, registriert und verwaltet wurden. Der Demos ent-

spricht etwa den Kreisen und kreisfreien Städten moderner Staaten. Phylen und Trittyen haben demgegenüber eher den Charakter rein funktionaler, nur in der Idee existierender Bezirke, die den Bürger für das Geschäft auf gesamtstaatlicher Ebene organisieren sollen; sie sind nur sehr bedingt auch Gemeinschaften. Es werden ım folgenden nacheinander Demos, Trittys und Phyle, die bisher ledig-

lich als Organisationsformen zur politischen Aktivierung der Bürger, eben als kleisthenische Phylenordnung, gesehen wurden, in ihrem Charakter als Wohn- und Verwaltungsbezirke vorgestellt. Dabei soll dem Demos, seiner Bedeutung entsprechend, größere Aufmerksamkeit geschenkt werden.

Der Demos besaß eine eigene Organisation, die in vielem der gesamtstaatlichen ähnlich, teilweise mit ihr deckungsgleich war; in eingeschránktem Make ist daher der Demos ein Abbild der Stadt Athen. An der Spitze des Demos steht

158

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

ein Demarchos (démarchos), der von allen Demos-Angehörigen, den Demoten

(démótés), gewählt, später erlost wird; lediglich der Demarchos des Piräus wird wegen seiner Bedeutung für die Sicherheit der Stadt aus allen Athenern von der Volksversammlung bestimmt. Der Demarchos ist der oberste Verwaltungschef des Demos, besitzt auch polizeiliche Aufgaben und sitzt der Gemeindeversammlung (Agora) vor. Letztere besteht aus allen erwachsenen Bürgern des Demos und faßt für den Bereich ihrer Zuständigkeit Beschlüsse; uns ist eine ganze Reihe von ihnen erhalten. Daneben gibt es für die verschiedenen Aufgaben des Demos eine Anzahl weiterer Beamter, die von der Gemeindeversamm-

lung bestellt und wie die Beamten der Stadt bei der Bestellung geprüft und während sowie nach der Amtsperiode durch wieder andere Beamte kontrolliert werden. Die Aufgaben des Demos betreffen teils die Verhältnisse des Demos selbst,

wie kultische und finanzielle Fragen, teils sind sie politischer Natur und berühren die ganze Stadt. Unter den ersteren nimmt die Sorge für die verschiedenen, im Demos-Gebiet bestehenden Kulte, insbesondere für den Kult des jeweiligen Heroen des Demos, eine herausragende Rolle ein. Auch der Erhalt der demosei-

genen Baulichkeiten gehórt in diesen Aufgabenbereich; der Demos Piräus hatte sogar ein eigenes Theater. Der Demos besaß auch Vermögen, das, soweit es

Grundbesitz war, verpachtet wurde. Die Einnahmen wurden in eine TempelKasse, in aller Regel die des Demos-Heroen, eingezahlt, die hier, wie auch sonst,

die Funktion einer óffentlichen Kasse hatte, und aus ihr wurden die Ausgaben des Demos, wie die Kosten des Kultes und die Aufstellung von Ehreninschriften, bestritten.

Die wichtigste politische Aufgabe des Demos bestand in der Aufnahme des Erwachsenen unter die Bürger und die Eintragung desselben in die Bürgerliste des Demos. Sie erfolgte mit dem vollendeten 18. Lebensjahr, und mit diesem

Akt wurde der Athener vollberechtigtes Mitglied der Bürgerschaft. Nachdem man die Ephebie eingerichtet hatte, in welcher der Athener seinen zweijährigen Wehrdienst ableistete, wurde das politische Recht aber erst nach Beendigung des Wehrdienstes aktiviert, so daß es fortan zwei Listen gab, eine Bürgerliste für die

18jährigen und eine Liste für den Besuch der Volksversammlung, in welche die nunmehr gerade 21jährigen nach Abschluf ihrer Ephebie eingetragen wurden. Unter den Aufgaben, welche die ganze Stadt betrafen, ist die Auswahl von

Demoten für die Behórden der Stadt die bei weitem wichtigste: Aus jedem Demos wurde eine feste Anzahl von Personen für den Rat, die zentrale Behörde

der Stadt, ferner im 5. Jahrhundert auch wohl die dem Demos zustehende Anzahl von Richtern für die Geschworenenhófe erlost und wurden schließlich

für das Archontat Kandidaten vorgewählt, aus denen dann phylenweise die Archonten erlost wurden. Auch sonst sind die Demen an der Bestellung vor

allem außerordentlicher Beamter beteiligt. Im 4. Jahrhundert geht ihr Einfluß auf die Zusammensetzung der Behórden allerdings zurück; gegen Ende des Jahrhunderts werden die Behórden in aller Regel aus der Phyle ohne Rücksicht

auf die Demen erlost, und den letzteren bleibt mit wenigen Ausnahmen nur die Losung der Ratsherren. - Abgesehen von der Beamten- und Richterbestellung

ist der Demos Hilfsorgan für zahlreiche Obliegenheiten, bei denen die Stadt die

V. Die politische Gliederung Attikas

159

Unterstützung des Demos als die die Bürgerliste führende Behörde braucht. So stellt er die Liste von Demoten für die Bemannung der Flotte auf, treibt Forderungen der Stadt an Demenangehörige ein und hilft bei der Umlage von Vermö-

genssteuern. Die Rolle des Demos als eines Grundsteins für den politischen Aufbau der

Stadt blieb während des 5. Jahrhunderts im großen ganzen bewahrt, schwächte sich jedoch später ab. Offenbar war das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit des Demos

nicht mehr so stark, wie etwa deutlich der schließliche Verlust der

Mitwirkung bei der Beamtenbestellung zeigt. Der Grund hierfür ist wesentlich darin zu suchen, daß die Zugehörigkeit zu einem Demos erblich war, also der Demote auch dann in seinem alten Demos eingeschrieben blieb, wenn er an einen anderen Ort Attikas zog. Mit der Zeit mußten die Verbindungen des abgewanderten Demoten aber lockerer werden und dürfte sich der Demote dort, wo er tatsáchlich wohnte, besser ausgekannt haben als in seinem Heimatdemos. Es kam hinzu, daß der Demote nach der Idee der Demenverfassung, wonach die grundbesitzenden Bauern einer Gegend (neben den nichtbesitzenden Freien) die Gemeinschaft der Demoten bildeten, nur in seinem Heimatdemos Grundeigentum haben konnte. Wenn er nun wegzog und anderswo Grundbesitz erwarb, wurde ihm dies zwar gestattet, doch wurde er damit nicht Demote des anderen

Demos, sondern mußte wie ein Fremder eine besondere Steuer zahlen. Damit gab es zwei Klassen von Bürgern in den Demen: Demoten und im Demos nur Wohnhafte. Da aber auch die letzteren im Demos lebten, sich u.U. besondere Verdienste schufen, gab es andererseits wieder das Bedürfnis, solche Personen den Demoten gleichzustellen; so wurden sie wie Demoten angesehen, ohne aber

selbst dann den anderen formal gleichzustehen. All dies trug zur weiteren Differenzierung bei und hat das politische Gewicht der Demen nicht gestärkt.

Gegenüber dem Demos als dem Lebensraum der Bevölkerung ist die Phyle vor allem die Organisationseinheit zur Bestimmung der Beamten und zur Aufstellung des Heeres. Sie ist als solche zunächst eine lokale Größe; man kann sie als einen Wahlbezirk im modernen

Sinne oder eher, weil sie sich aus drei

landschaftlich verschiedenen und dabei in der Regel geographisch getrennten Bezirken zusammensetzt, als eine Summe von Wahlbezirken bezeichnen. An-

ders als in den personenbezogenen Phylen der alten Ordnung, in der die Phy-

lengenossen durch gewachsene persönliche Bindungen zusammengehalten wurden, sind die Phylengenossen der kleisthenischen Ordnung ein aus allen Teilen Artikas gemischter Verband, und gerade diese Mischung war - neben der Terntorialisierung der Phyle - das Prinzip der neuen Einheit. Als eine lokale Einheit, durch die alle in ihr wohnenden Bürger Phylengenossen sind, ist die

Phyle aber vor allem eine funktionale Größe, welche die Bürger eher politisch organisieren bzw. aktivieren als den Rahmen für ein Gemeinschaftsleben bilden will. Nichtsdestoweniger hatte die Phyle auch als lokaler Verband der Phylengenossen ein nicht geringes Gewicht. Das zeigt sich auch darin, daß sie eigene Heroen

und somit einen eigenen Kult und eine eigene Verwaltung besaß. Die

Phylenverwaltung bestand aus einem Dreimännerkollegium, den Epimeleten, als Vorstand, ferner aus einem Kassenwart und der Phylenversammlung, eben-

160

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

falls Agora genannt. Wir besitzen eine Anzahl von Phylenbeschlüssen, aus denen wir über die Arbeit der Phyle manches Wissenswerte erfahren. Abgesehen von den sie selbst betreffenden Angelegenheiten war die Phyle auf drei Gebieten mit Aufgaben betraut, welche die ganze Stadt betrafen, und in ihnen zeigt sich deutlich die funktionale Bedeutung der Phyle. Einmal war sie die wichtigste Einheit für die Bestellung der städtischen Behörden. Der Rat, die Beamten und Geschworenen wurden phylenweise erlost, so daß z.B jede Phyle 50 der 500 Ratsmitglieder und einen der neun Archonten stellte (die leer ausgehende Phyle bestellte den Schreiber der Thesmotheten). Nicht minder wichtig war die Rolle der Phyle bei der Aushebung. Das Gesamtaufgebot gliederte sich nämlich nach Phylen, die Schwerbewaffneten - ursprünglich bestand das Aufgebot einer jeden Phyle aus ca. 1 000 Schwerbewaffneten - ebenso wie die Reiter und Bogenschützen. Die dritte Aufgabe betraf das Finanzwesen. Ein großer Teil der staatlichen Lasten wurde in der Weise auf die reichen Bürger abgewälzt, daß von ihnen bestimmte staatliche Leistungen auf eigene Kosten durchgeführt werden mußten. Das als Leiturgie bezeichnete System wurde auf regelmäßig wiederkehrende (enkyklische) und auf außerordentliche Lasten angewandt (s.u. S. 25 1f.). Die Phylen übertrugen nun insbesondere für drei größere Sachbereiche Leiturgien, nämlich für die Aufstellung, Ausrüstung und Einübung von Chören für lyrische und skenische Wettkämpfe (Choregie), für die Ausstattung und Einübung der an Fackelwettläufen beteiligten Personen (Gymnasiarchie) und für die Speisung der Phylenangehörigen (Hestiasis). Alle genannten Leistungen stehen im Zusammenhang mit öffentlichen Festen. Die außerordentlichen Leiturgien, für deren Zustandekommen die Phyle zu sorgen hatte, betrafen die Errichtung von Mauern und Gräben für die Stadtverteidigung und den Bau von Kriegsschiffen. Demgegenüber waren die Trittyen, obwohl natürlich auch sie lokale Ein-

heiten, an der Verwaltung und politischen Organisation kaum beteiligt. Sie waren sozusagen nicht mit derselben „Körperlichkeit‘ ausgerüstet wie die De-

men und Phylen. Waren die letzteren als Siedlungen bzw. Verwaltungseinheiten nicht nur in ihrer politischen Funktion erkennbar, sondern auch, insbesondere

die Demen, als politische Institutionen und Gemeinschaften sichtbar und in ihrer Wirkung spürbar, trat der Verbandscharakter der Trittyen weniger in den Vordergrund. Die Funktion der Trittys bestand in erster Linie darin, die Mischung zu verwirklichen, und sie war daher eher rechnerische Einheit als lebendiger Bezirk. Das trat auch darin hervor, daß die Trittyen keine ihnen eigenen Heroen-Kulte besaßen, an die sich Opfer, Feste und eventuell auch Kassen für Einnahmen und Ausgaben als Manifestationen wirklichen menschlichen Zusammenlebens hätten anschließen können. Die Trittyen wurden daher auch nicht, wie die Phylen, nach Heroen benannt; sie hatten rein lokale Namen, wie

z. B. Dekéleia oder Eleusis. Ihre Beteiligung an der Verwaltung ist folglich auch rein funktionaler Natur, so, wenn sich bei der Aushebung für den Dienst im Heer und auf der Flotte die Bürger nach Trittyen versammelten oder ın dem Ratsausschuß, der Prytanie, die Angehörigen derselben Trittys eine Einheit bildeten.

VI. Die politischen Organisationsformen (Institutionen) 1. Die Volksversammlung (ekklésta) Zusammensetzung; Ort, Zeit und Häufigkeit der Versammlungen Die Volksversammlung ist in Athen nicht, wie es in Rom der Fall war, nur eine

unter anderen wichtigen Institutionen. Sie ist als die Gesamtheit aller politisch berechtigten Athener mit dem athenischen Staat identisch. Aber die Volksversammlung steht nicht nur stellvertretend für den Staat oder die Stadt; sie ist auch

gleichbedeutend mit der politischen Ordnung dieser Stadt, der Demokratie. So läßt denn auch Aristophanes in den „Acharnern“ (v.618) den Lamachos das Volk als demokratia anrufen, und in den „Rittern“ (v.42) hat der Herr Demos

den Beinamen Pyknites, wird also mit der (auf der Pnyx tagenden) Volksver-

sammlung identifiziert. Wir kónnen nach moderner Terminologie die Volksversammlung als Souverän bezeichnen, und dieser Begriff hat in der Tat in dem

griechischen Wort für die politische Stellung der Volksversammlung eine angemessene Entsprechung: Man sprach von dem Volk als dem Inhaber der Gewalt bzw. Entscheidungsgewalt (démos kyrios). Die Vorstellung, daß beim Volk bzw. bei der Menge (plétbos) alle Gewalt liegt, kónnen wir bereits in unseren ältesten Zeugnissen zur Demokratie, wie in der Verfassungsdebatte bei Herodot, deut-

lich greifen. Zur Volksversammlung hatte jeder athenische Mann Zutritt, der mündig, also 18 Jahre alt und damit als Angehóriger eines Demos (Demote) in die dort geführte Liste der politisch Berechtigten eingetragen war. Auf Grund des Bürgerrechtsgesetzes von 451/50 mußte jeder Athener, der in diese Liste eingeschrieben werden wollte, nachweisen, daß sowohl sein Vater als auch seine

Mutter Athener sind bzw. waren. Der Kreis der Bürger war damit für die Zukunft genau bestimmt und abgegrenzt. Seit die jungen Athener als Epheben vom 18. bis zum 20. Lebensjahr einen aktiven Wehrdienst von zwei Jahren ableisten mußten und sie in dieser Zeit meist in den Grenzfestungen lagen, konnten sie faktisch nicht an den Volksversammlungen teilnehmen und wurden daher auch erst nach ihrer Dienstzeit in die Liste der zur Volksversammlung

162

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Berechtigten eingetragen. - Die Frauen waren zwar Bürger, aber von der politischen Tätigkeit ausgeschlossen. Von den 30 000-35 000 erwachsenen Bürgern in der Blütezeit der Demokratie besuchte selbstverständlich jeweils nur ein Bruchteil die Versammlungen. Die Athener hielten bereits eine Versammlung von 6 000 Personen für gleichbedeutend mit der Masse des Volkes („Volk in Fülle“). Für bestimmte wichtige Ab-

summungen, wie die über einen Ostrakismos (s.o. S. 40f.) und gewisse Beschlüsse, die einen einzelnen Mann betrafen, wie z. B. die Bürgerrechtsverleihung, war die Beschlußfähigkeit der Versammlung an die Anwesenheit mindestens dieser Zahl gebunden (Quorum). Für die Zusammensetzung der Volksversammlung war von großem Gewicht, daß faktisch nicht alle Bevölkerungsgruppen relativ gleich stark vertreten waren. Die ın der Stadt oder auch im Piräus Wohnenden waren naturgemäß

überrepräsentiert. Aber nicht nur die großen Entfernungen hielten viele von dem Gang zur Volksversammlung ab; manche konnten nicht kommen, weil ihre

Arbeit eine längere Abwesenheit nicht zuließ. So hat bereits Euripides in seinen „Hiketiden“ um 424/421 ausgesprochen, daß der Bauer schon wegen seines

Tagewerkes sich nicht um das politische Geschäft zu kümmern vermochte. Selbstverständlich war der Besuch vor allem auch von dem Gegenstand der

Verhandlung und von den besonderen Zeitumständen abhängig. In der Zeit des Peloponnesischen Krieges, als viele Bauern zwischen den Langen Mauern Schutz vor den Einfällen der Spartaner suchten, war z. B. die Bauernschaft in der Volksversammlung sehr stark vertreten; ein beabsichtigter Feldzug gegen Böotien mochte besonders Bürger aus den Gebieten an der böotischen Grenze nach Athen ziehen, und eine Debatte über den Ausbau der Flotte lockte ohne

Zweifel viele Bewohner des Piräus dorthin. Aber gewöhnlich besuchten die Volksversammlung neben Bauern aus der Umgebung der Stadt und den sich

zufällig in der Stadt Aufhaltenden vor allem Handwerker, Kaufleute und Händler, die in Athen wohnten. Ferner kamen in relativ großer Zahl die aus dem Arbeitsprozeß Ausgegliederten, also die Arbeitslosen und Alten. Als die Bürgerzahl durch die Verluste im Peloponnesischen Krieg stark zurückgegangen und nach dem Krieg auch vielen die Lust am Politisieren vergangen war, hatte man Mühe, die Versammlungen zu füllen. Erst dann dachte man daran, auch für den

Besuch der Volksversammlung Tagegelder zu zahlen. Es wurde zunächst ein Obol angeboten; doch erst als drei Obolen gezahlt wurden, ein Betrag, der etwa das Minimum an Lebenshaltungskosten für eine Kleinfamilie abdeckte, hatte man Erfolg (392 v. Chr.). Seit Tagegelder gezahlt wurden, dürfte die ärmere

Bevölkerung weit in der Überzahl gewesen sein, wie denn auch schon vorher

dieser Teil der Bürger eher die Mehrheit hatte. Der Reiche kam schon deswegen

ungern, weil er in der Masse der Besucher nicht unter seinesgleichen saß. Die Kritiker der Demokratie, wie etwa Platon (Pol. 565a), haben in der Volksver-

sammlung den besitz- und bildungslosen Póbel gesehen. Tatsächlich zeigen uns die Komödien des Aristophanes, und nicht nur sie, daß der politisch aktive

Mann vielfach mit dem Ruderer auf der Flotte, der ja in aller Regel ein wenn

nicht ganz armer, so doch nicht vermógender Mann war, gleichgesetzt wurde, und bei gewissen Themen, insbesondere solchen, welche die politische Ord-

VI. Die politischen Organisationsformen: Volksversammlung

163

nung selbst oder die Seebunds- bzw. Flottenpolitik betrafen, wird gewiß auch das, was wir heute wie schon die antiken Kritiker der Demokratie etwas geringschätzig „die breite Masse“ nennen, das Übergewicht gehabt haben. Im 4. Jahrhundert, besonders seit der Mitte dieses Jahrhunderts, dürften, wie manche

Hinweise bei den Rednern vermuten lassen, die Angehörigen der Mittelschicht stärker vertreten gewesen sein. Die Volksversammlung trat ursprünglich auf dem Marktplatz (Agora) nörd-

lich der Akropolis zusammen. Nachdem der Kreis der politisch Berechtigten größer und der Marktplatz zu eng geworden war, zogen die Athener auf den Nymphenhügel, wo sıe auf einem Pnyx genannten Ort, einem sanft nach Südwesten abfallenden Halbrund ım natürlichen Fels, tagten; die Pnyx, die zwi-

schen 400 und 330 zweimal erweitert und zu einem fast perfekten TheaterHalbrund ausgebaut wurde, faßte weit über 6 000, zuletzt wohl etwa 15 000

Menschen. Nicht selten versammelte man sich auch im Dionysos-Theater am

südlichen Akropolis-Abhang, und gelegentlich, wie bei der Behandlung von Marineangelegenheiten, auch in den beiden Theatern des Piráus. Der Versamm-

lungsplatz wurde, wenn er nicht schon durch den Theaterraum abgegrenzt war, genau abgesteckt. Die Besucher saßen auf dem nackten Fels, später teilweise

wohl auch auf Holzbänken. Ordner sorgten dafür, daß nur Bürger den Platz betraten und daß Ruhe und Ordnung herrschten. Die Versammlung wurde von den Prytanen durch öffentlichen Anschlag auf dem Markt vier Tage vor dem Sıtzungstermin mit Angabe des Verhandlungsgegenstandes angekündigt. Selbstverständlich konnte auch der Rat oder die Volksversammlung eine Sitzung anberaumen. Sie begann morgens bei Sonnenaufgang und endete spätestens bei Sonnenuntergang. Viele Versammlungen benötigten indessen nicht den ganzen Tag.

Die Volksversammlung trat verhältnismäßig häufig zusammen. Es gab im 4. Jahrhundert allein 40 gesetzlich vorgeschriebene Sitzungen im Jahr. Da das Amtsjahr entsprechend den zehn jeweils amtierenden Ratsausschüssen, den Prytanien (s.u.), in zehn Teile gegliedert war, wurden die ordentlichen Versamm-

lungen statt auf die zwólf Monate des Kalenders auf die zehn Prytanien verteilt. In jeder Prytanie mußten vier Versammlungen abgehalten werden, von denen je eine besonders herausgehoben war und als eine Art Hauptversammlung galt. Von diesen gab es demnach alljáhrlich zehn, und sie werden in vordemokrati-

scher Zeit einmal die einzigen gesetzlich vorgeschriebenen gewesen sein. Mit Ausnahme einiger weniger, durch den Verhandlungsgegenstand gekennzeichneter Versammlungen waren die Sitzungstermine innerhalb einer Prytanie nicht genau festgelegt. Außer in ganz dringenden Fällen wurden an Festtagen keine

Versammlungen abgehalten, ebenso nicht an Tagen mit schlechter Vorbedeutung (bémérai apophrädes, wörtl. „verbotene Tage"), wie z. B. an den Plynthe-

rien, dem Fest der Reinigung der ehrwürdigen hólzernen Athena-Statue, die zu diesem Zweck verhüllt und ans Meer getragen wurde, und das heißt: für diesen Tag nicht in der Stadt war. Ferner durften Sitzungen der Volksversammlung und der Geschworenengerichte nicht zusammenfallen, weil angesichts der Identität der Personengruppen hier und dort der Bürger von einer dieser Versammlungen gleichsam ausgeschlossen worden wáre und vor allem die Volksversammlung

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

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164

Pnyx der 1. Periode,

S. 106).

5. Jh. v. Chr.,

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Rekonstruktion der 2. Periode (nach 404/03)

Pnyx, Querschnitt. Oben: Rekonstruktion der 1. Periode; unten: Rekonstruktion der 2. Periode, nach 404/403 (nach: ebd., Tafel IV).

VI. Die politischen Organisationsformen: Volksversammlung

165

kaum ihr Quorum und die Gerichte nicht die für das Einzelgericht erforderliche Zahl von Richtern erreicht hätten. Für die ordentlichen Sitzungen gab es feste, nach Gegenständen gegliederte Tagesordnungen; über sie wird noch ausführli-

cher zu reden sein. Zu den ordentlichen traten die außerordentlichen, durch aktuelle Ereignisse der inneren und äußeren Politik veranlaßten Versammlungen; ihre Zahl war nicht beschränkt. In kriegerischen Zeiten konnte der regelmäßige Besuch der Volksversammlungen für den arbeitenden Bürger eine große Belastung sein. Willensbildung

Die Bedeutung einer jeden Versammlung innerhalb des politischen Ganzen eines Staates bemifit sich nicht nur nach dem Umfang ihrer inhaltlichen Zuständigkeit, sondern vor allem auch nach dem Grad der Unabhängigkeit, in dem sie

diese wahrnimmt. Die Unabhängigkeit des Willens aber ist an den Modalitäten des Verfahrens, nach denen die Entscheidungen ablaufen, und das heißt an den

besonderen Formen des Willensbildungsprozesses ablesbar. Im demokratischen Athen war die Volksversammlung die zentrale Institution. Der besondere Charakter und die Intensität des demokratischen Gedankens müssen darum an den Normen, nach denen dort die Verhandlungen abliefen, zu erkennen sein. Die Unabhängigkeit des Willens einer Versammlung kann u.a. vor allem auch

an der Struktur des Vorsitzes dieser Versammlung abgelesen werden. Die athenische Volksversammlung besaß kein eigenes Präsidium, wie wir es von unseren Parlamenten her kennen. In der Zeit vor der Losung und der durch sie bewirkten Schwächung des Archontats hat ohne Zweifel der Archon, der dem Jahre den Namen gab (eponymer Beamter) die Volksversammlung einberufen und geleitet. Entsprechend seiner starken Stellung dürfte auch das Gewicht der

Volksversammlung damals gering gewesen sein; vielleicht hat sie nicht einmal

das Initiativrecht besessen. In der entwickelten Demokratie wird der Vorsitz vom Rat gestellt. Dem Rat stand jeweils für 1/10 des Jahres ein geschäftsführender Ratsausschuß, die Prytanie, vor, und sie war es, die mit ihrem täglich wechselnden Vorsitzenden, dem Epistates (das heißt „Vorsteher“), auch den

Vorsitz in der Volksversammlung übernahm. Die Volksversammlung hatte demnach, wie die Prytanie, an jedem Tag einen anderen Präsidenten. Der Vorsitz im

Rat und in der Volksversammlung waren bei dieser Regelung in Personalunion miteinander verbunden. Die Verbindung wurde aber zwischen 403/02 und 379/

78 gelockert, als man jeden Tag für die anstehenden Sitzungen des Volkes und Rates aus den neun jeweils nicht geschäftsführenden Prytanien neun Prohedroi (das heißt „Vorsitzer“) erloste und ihnen unter Leitung eines Epistates, der wiederum aus ihnen erlost wurde, den Vorsitz gab. Durch diese Neuerung

wurde zum einen die allgemeine Geschäftsführung des Rates, die nach wie vor die Prytanie wahrnahm, von dem Versammlungsvorsitz bei Volk und Rat und damit die Vorbereitung der Anträge von der Leitung der Beratung über sie getrennt, zum anderen die Kontinuität des Vorstandes von Volk und Rat, die

wenigstens für jeweils eine Prytanie, also 1/10 des Jahres bestanden hatte, aufge-

löst. In der Praxis sah das seitdem so aus, daß der Epistates und die Prohedroi

166

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

nach Sonnenaufgang in einer kurzen Ratsversammlung aus den 450 Ratsmitgliedern der nicht regierenden Prytanien erlost wurden, darauf der Epistates der Prohedroi von dem Epistates der regierenden Prytanie die Geschäftsordnung der Volksversammlung übernahm und jener dann der inzwischen einberufenen Volksversammlung präsidierte. Sofern die Versammlung schon am Mittag zu Ende war, konnte bei Bedarf noch nachmittags eine Ratssitzung stattfinden. Alle diese Regelungen verraten das Bemühen darum, das Präsidium der Volksversammlung schwach zu halten. Aber die Schwäche allein charakterisiert es nicht hinreichend. Die Reform zeigt nämlich deutlich, daß das Volk selbst noch einem Vorsitzenden mißtraute, der täglich wechselte und zudem aus einer Gruppe erlost wurde, die zehnmal im Jahre wechselte. Das Mißtrauen wurde offensichtlich vor allem auch durch den Umstand genährt, daß die Gruppe, die den Vorsitzenden stellte (und ihm auch während der Verhandlungen zur Seite stand), eine geschlossene, die Geschäftsführung des zweitwichtigsten Gremiums beherrschende Gruppe, eben die Prytanie, war, die u.U. in sich eine, wenn

auch kurze Kontinuität aufrechtzuerhalten vermochte. Das Ziel war demgegenüber die möglichst völlige Loslösung des Vorsitzenden in der Volksversammlung vom regierenden Ratsausschuß und damit die Verhinderung jeglicher Machtkonzentration beim Vorstand. Der Vorsitz konnte dann in der Tat seit der Reform kein Eigengewicht mehr haben, und das war selbstverständlich auch

deren Sinn. Allerdings war der Einfluß der Prytanie, verglichen mit dem der Prohedroi, nicht sehr viel größer gewesen. Im Grunde waren alle Vorsitzenden und die sie unterstützenden Prytanen und Prohedroi nichts als ein Ebenbild derjenigen, die vor ihnen in der Versammlung saßen. Die Beklommenheit oder

gar Angst eines solchen aus 50, später 450 Ratsleuten erlosten und für einen Tag

an die Spitze der Demokratie gehobenen Mannes - der Epistates war ja eine Art Staatspräsident für einen Tag - vor der unruhigen und gelegentlich tobenden Masse, die Furcht, etwas verkehrt zu machen, und das Bemühen, es allen oder

mindestens der Mehrheit recht zu tun, dürfte jede andere Regung unterdrückt haben. Natürlich mußte der Epistates bzw. mußten die Prytanen/Prohedroi verhindern, daß offensichtlich unsinnige Anträge überhaupt zur Debatte gestellt wurden; das Volk hätte eine andere Handlungsweise möglicherweise als

Nichtachtung seiner Würde auffassen können. Auch mußte er darauf achten, daß er keine gesetzwidrigen Anträge annahm bzw. sie als solche kenntlich machte. Aber das waren keine Entscheidungen von Gewicht, und wenn sie es

doch einmal waren, vermochten sie dem Vorsitzenden keinen Einfluß zu geben. Denn ihm fehlte wegen der doppelten Losung (erst zum Ratsmitglied, dann zum Epistates) nicht nur jede persönliche Autorität, sondern auch jede Amtsautorität, die wegen der besonderen Konstruktion des Vorsitzes so gering wie das „Amt“ unbedeutend war: Insoweit der Vorsitzende von der Form seines „Amtes“ her und der subjektiven Einstellung zu ihm nur irgendeiner aus der Masse war, hob sıch seine Autorität ın ıhr auf. Der Vorsitzende der Volksversammlung war darum nicht nur schwach, er war, jedenfalls der Tendenz nach,

eın Stück der Masse selbst, der er vorsaß. In der Frage des Vorsitzes der souverä-

nen Versammlung wird, wie kaum irgendwo sonst in der politischen Ordnung Athens, der Wille der Menge deutlich, jede Form von Regierung oder lenkender

167

VI. Die politischen Organisationsformen: Volksversammlung Verhilitnis von Volksversammiung und Rat im 5. Jahrhundert

|

Epistates

(Vorsitzender des Rates und der Prytanie;

täglich wechseind)

« Vorsitz

(36 bzw. 39 Tage)

Volksversammlung (ekklésia)

7

Rat (boule)

seit 403/378 Epistates (Vorsitzender der Prytanie; täglich

wechseind) 0

Vorsitz geschäftsführende

Prytanie

(36 bzw. 35 Tage)

Volksversammlung (ekklésia)

Rat (boulé)

Graphik: Verhältnis von Volksversammlung und Rat im 5. und 4. Jahrhundert

168

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Verwaltung von sich fernzuhalten und sich selbst als Menge/Masse die Unabhängigkeit der Entscheidung zu erhalten. Dieselbe Tendenz wird eine nähere Betrachtung des Willensbildungsprozesses zeigen. Der Prozeß der Willensbildung in der athenischen Volksversammlung ist von zwei, mit ganz seltenen Ausnahmen streng durchgehaltenen Grundsätzen bestimmt, die in einer gewissen Spannung zueinander stehen. Der eine besagt, daß jeder Antrag im Rat vorberaten und dann dem Volk vorgelegt werden muß. Jeder Beschluß führt also über den Rat, und es ıst demnach die

Vorlage des Rates, das Probuleuma (probosleuma, das heißt „vorweg gegebener Ratschlag“, „Vorbeschluß‘“), für jeden Volksbeschluß ein konstitutives Element.

Der andere Grundsatz geht davon aus, daß jeder Athener die freie Initiative zu einem Antrag jeden Inhalts hat. Von diesen beiden Pfeilern der Entscheidungs-

findung soll die folgende Darstellung ausgehen. Die Kombination von Probuleuma des Rates und Initiativrecht eines jeden

Bürgers brachte verschiedene Möglichkeiten, die von einem Antrag zur Abstimmung führten. Zunächst einmal konnte der Rat aus sich heraus einen Antrag einbringen, und dabei konnte er entweder einen bereits durchformulierten, abstimmungsbereiten Text vorlegen oder die Formulierung der Debatte in der Versammlung überlassen; gelegentlich formulierte er einen Antrag durch und schlug nur diesen oder jenen Punkt für eine Debatte vor. Enthielt das Probuleu-

ma einen fertigen Antrag, wurde in einer Vorabstimmung (procbeirotonía) darüber entschieden, ob man das Probuleuma annehmen wolle oder nıcht; ging diese Abstimmung positiv aus, war das Probuleuma ohne weiteres rechtskräftig, also Gesetz. Die Procheirotonie erleichterte die Abwicklung einer langen Tagesordnung erheblich, räumte aber dem Rat u.U. einen unverhältnismäßig großen

Einfluß ein. Sie kam indessen offensichtlich häufig vor, und sie hat in der Tat die Debatte auch vor allem bei Routineangelegenheiten ohne Zweifel stark entlastet. Insofern die Procheirotonie die Volksversammlung für wichtigere Fragen funktionsfähig hielt, diente sie der Verwirklichung der demokratischen Idee;

demgegenüber ist der mit ihr verbundene Machtgewinn des Rates von sekundä-

rer Bedeutung. - Der Entscheidungsprozeß konnte aber trotz der Verbindlichkeit des Probuleumas für jeden Volksbeschluß nicht nur vom Rat in Gang gesetzt werden. Es war auch möglich, daß ein Bürger als Privatmann oder als Beamter (denn auch die Beamten durften nicht direkt an die Volksversammlung herantreten) eine schriftliche Bitte an den Rat richtete, in der Volksversammlung

einen Antrag stellen zu dürfen. Schließlich war es auch gestattet, in der Volksversammlung selbst einen Antrag einzubringen, sei es im Anschluß an einen gerade besprochenen Gegenstand, sei es auch ohne jede Verbindung mit ihm;

doch durfte ein so gestellter Antrag nicht in derselben Sitzung zur Abstimmung gebracht werden, sondern er mußte über den Rat laufen, der ihn bei der nächsten Sitzung mittels eines Probuleumas dem Volk vorlegte. Obwohl auf diese Weise die freie Antragsinitiative aller Bürger gesichert war, wäre das Gewicht des Rates zu groß gewesen, wenn das Probuleuma in der Volksversammlung nur hätte angenommen oder abgelehnt werden dürfen. Der freie Wille der Menge zeigte sich gerade auch darin, daß das Probuleuma in der Debatte reformiert,

das heißt in einzelnen Punkten abgeändert oder/und mit Zusätzen versehen

VI. Die politischen Organisationsformen: Volksversammlung

169

oder auch durch einen Gegenantrag (der aber zunächst einmal dem Rat zugeleitet werden mußte) ersetzt werden konnte. Das Volk war demnach zu jedem Zeitpunkt und bei jeder Form der Antragstellung Herr über seinen Willen; innerhalb des Entscheidungsprozesses hinderte es kein Zeitpunkt und keine vorgegebene Formulierung daran, sich den Gegenstand zu unterwerfen. War der Wille des Volkes die Basıs eines jeden Volksbeschlusses, zeigt doch

nach den obigen Ausführungen der Gang des Verfahrens deutlich die konstitutive Mitwirkung des Rates: Dem Volksbeschluß ging immer ein Ratsbeschluß voraus. Die Diskussion im Rat wird auf die Vorlagen der Prytanen hin zwar

nicht immer sehr ausführlich gewesen sein. Bei der Überprüfung der Amtsführung der Archonten (Epicheirotonie) und Anfragen an das Volk, ob wegen gewisser Straftaten (Eisangelie und Probole, also Anklagen wegen Straftaten

gegen das Volk bzw. Täuschung des Volkes) Anklage erhoben werden sollte, scheint die Vorlage der Prytanen den Rat ohne jede Diskussion passiert zu haben. Aber außer bei solchen Anfragen an die Volksversammlung, die nach

eventueller Bejahung die Sache dann ja gleich an ein Geschworenengericht weitergab, war der Rat u.U. sogar intensiv sowohl an der Initiative zu dem Beschluß als auch an der Formulierung des Antragstextes beteiligt. In den auf uns gekommenen Volksbeschlüssen ist denn auch an dem Wortlaut und an dem Aufbau des Textes die Mitwirkung des Rates deutlich abzulesen. So werden in einem Volksbeschluß, dem ein vom Rat durchformuliertes Probuleuma zugrunde liegt, in der einleitenden Formel Rat und Volk zugleich genannt („es

schien dem Rat und dem Volk gut ...“) und darauf das Probuleuma wörtlich aufgenommen,

und nur dann, wenn das Probuleuma

nicht durchformuliert

worden war oder der Rat ohne Diskussion die Vorlage weitergegeben hatte, erscheint der Rat in der Eingangsformel nicht. Das Gewicht des Rates in dem Beschlußverfahren der Volksversammlung ist selbstverständlich nicht als eine Einschränkung des Volkswillens zu verstehen, sondern macht gerade die Herr-

schaft des Volkes erst möglich: Durch die Einbindung des Rates in den Prozeß der Willensbildung wird dem jeder Demokratie anhaftenden Mangel, nämlich einerseits die Sprachunfähigkeit und andererseits die latente Disziplinlosigkeit und Undurchsichtigkeit des Entscheidungsgremiums, soweit als möglich abgeholfen: Das Probuleuma und der strenge Ablauf des gegliederten Willensbildungsprozesses macht die Menge entscheidungsfähig und schirmt sie gleichzei-

tig vor Überraschungen ab, ohne ihr doch zu irgendeinem Zeitpunkt die Verfahrensherrschaft zu nehmen. In der politischen Wirklichkeit ermöglichte das geschilderte Verfahren indessen manche Einflußnahme, welche die hinter den klaren Normen steckende Idee zwar nicht aufhob, aber doch einschränkte. Eine einflußreiche Persönlich-

keit mochte sich eines oder mehrerer Ratsmitglieder als gefälliger Antragsteller oder Befürworter von Probuleumata vergewissern. Da die Tagesordnung vier Tage vorher durch Anschlag bekanntgemacht wurde, war es möglich, rechtzei-

tig Diskussionsredner zu bestellen, die Anträge befürworteten, Änderungen vorschlugen oder einfach nur störten. Der Rat konnte andererseits einen Antrag für unvernünftig erklären und ihn unterdrücken. Aber im ganzen gesehen,

waren gerade seine Möglichkeiten begrenzt, und sie wurden durch die Reform

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

von 379/78, die der geschäftsführenden Prytanie den Vorsitz in der Volksversammlung nahm, weiter eingeengt. Zudem war der Rat ja auch eine Masse von 500 Personen, und die Prytanie zählte immerhin noch 50 Mitglieder, unter denen angesichts ihrer Einsetzung durch das Los keine Einmütigkeit vorausgesetzt werden darf. So blieben die Entscheidungen den in der Versammlung selbst

wirkenden Kräften überlassen, und sie lagen letztlich nicht in der Kraft der Institutionen (Rat, Prytanie, Vorsitz der Volksversammlung), sondern bei der

Menge. Es ist daher nicht von ungefähr, wenn bei besonders wichtigen politischen Fragen, wie bei der Diskussion um den Frieden mit Philipp von Makedonien im Jahre 346 (Philokrates-Friede), wohl gar kein ordentliches Probuleuma

vorgelegt, sondern als dessen Surrogat lediglich das zur Debatte stehende Thema aufgerufen wurde, und es charakterisiert die politische Rolle der Masse nicht minder, wenn Aristophanes seine beiden ins Komische verzerrten, aber

nichtsdestoweniger die Lebendigkeit des politischen Lebens atmenden Schilderungen zweier Volksversammlungen mit den Worten beginnen läßt: „Wer will das Wort ergreifen“. Der Wille des Bürgers war entscheidend, und ihn zu jeder

Zeit formulieren und um seine Durchsetzung kämpfen zu können, ist eine Grundbedingung der Demokratie, die auch jedem Athener als die Basis der politischen Ordnung bewußt war. Redefreiheit (parrhesia) und das jedem gleiche Recht auf Rede (iségoría) sind daher gleichbedeutend mit Demokratie. Die älteste uns erhaltene Reflexion auf die demokratische Ordnung, die anonyme Schrift über den Staat der Athener von ca. 430 v. Chr., bestimmt „das Reden“ -

und als Konsequenz der Rede die Teilhabe an Rat und Volksversammlung - als die Grundlage der politischen Tätigkeit. In der rückschauenden Betrachtung sahen die Athener die Redefreiheit nicht erst seit der Zeit des Ephialtes, sondern

schon seit Kleisthenes verwirklicht, und sie haben den Anfang dieses freiheitlichen Lebensgefühls auch mit dem Zeitpunkt gleichgesetzt, als sie zum ersten Male, vor allen Griechen

sichtbar, als eine Menge

von Freien und Gleichen

auftraten: Bei Marathon haben sich die Athener das Recht erkämpft, mit der Zunge zu streiten, sagt Aristophanes in den „Rittern“ (v.782, 424 v. Chr.), und er

spricht damit ohne Zweifel das aus, was alle seine Zuhörer dachten. Eine wesentliche Bedingung für den ordnungsgemäßen Ablauf der Entscheidungsfindung war eine gute Disziplin der oft mehr als 6 000 Personen zählenden Versammlung. Die nicht selten lange Tagesordnung mit teils kompli-

zierten oder lebenswichtigen Gegenständen hat es gewiß nicht leicht gemacht, eine über viele Stunden dauernde Debatte mit Konzentration und Besonnenheit zu verfolgen. In der Tat wissen wir von tumultuarischen Verhandlungen; sıe waren aber nicht die Regel, und wir haben im Gegenteil mit einer für heutige Verhältnisse schwer verständlichen Selbstdisziplin der Teilnehmer zu rechnen.

Gab es doch einmal Störungen, hatte der Vorsitzende das Recht, die Störer zur Ordnung zu rufen und sie gegebenenfalls aus der Versammlung zu entfernen. Es

stand ihm für diese Arbeit auch ein Ordnungsdienst zur Seite, der zunächst aus einer Truppe von skythischen Staatssklaven, später aus Bürgern bestand. Im Jahre 346/45, nach einem besonders großen Tumult ın der Volksversammlung,

wurde für jede Sitzung eine Phyle ausgelost, die vorn vor allen anderen Besuchern saß und so den Redner von den Besuchern trennte und ihn damit vor

VI. Die politischen Organisationsformen: Volksversammlung

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handgreiflichen Belästigungen schützte. Für die Kontrolle der Teilnehmer waren besondere Beamte zustándig, in demosthenischer Zeit war es ein Ratsausschuß von 30 ,, Versammlern" (syllogeis) des Volkes, je drei aus einer Phyle. Sie händigten den Besuchern auch die Marken für den Empfang der seit Anfang des 4. Jahrhunderts für den Besuch der Volksversammlung gezahlten Diäten aus. Es war auch festgelegt, daß der Sprecher nicht schimpfen oder beleidigen, jeweils lediglich einmal zu demselben Gegenstand sprechen und insbesondere stets nur zu der gerade verhandelten Sache selbst Stellung nehmen, sein Rederecht also nicht zu Erörterungen, die abseits lagen, benutzen durfte. Einem von Einsicht,

Sachkenntnis und Besonnenheit getragenen Verhandlungsablauf sollte auch die auf Solon zurückgeführte Vorschrift dienen, daß zuerst die über 50 Jahre alten Bürger zu befragen seien; spätestens in der Mitte des 4. Jahrhunderts hat man sich jedoch nicht mehr daran gehalten, und es war auch wohl schwierig, das durchzusetzen. Die Abstimmung erfolgte mittels Handheben (cbeirotonía, von cheir, die Hand, und ténein, strecken); es entschied die einfache Mehrheit. Stimmenthal-

tung gab es nicht; wer die Hand nicht zur Zustimmung erhob, zählte faktisch zu den Ablehnenden. Man hat sich wohl durchweg mit einer rohen Schátzung der Summen durch den Vorsitzenden bzw. das vorsitzende Gremium zufrieden gegeben. War aber das Ergebnis nicht ganz klar, konnte die Abstimmung wiederholt werden, und sie mußte wiederholt werden, wenn ein Bürger dies in

einem formellen, beeideten Protest (bypómosía) verlangte. Lag zu demselben Gegenstand nicht nur ein Antrag, der lediglich anzunehmen oder abzulehnen war, sondern lagen zwei oder noch mehr vor, mußte durchgestimmt, das heißt

zwecks Mehrheitsfeststellung über jeden Antrag einzeln abgestimmt werden (diacheirotonta). Über einige Gegenstände wurde doppelt abgestimmt, indem zunächst nur die Frage gestellt wurde, ob man überhaupt den Gegenstand behandeln wolle, und, hatte man das bejaht, ihn dann in einer zweiten Volksver-

sammlung endgültig entschied. So wurde z. B. beim Ostrakismos und bei der Bürgerrechtsverleihung verfahren. Eine geheime Abstimmung mit Stimmsteinen war nur üblich, wenn das persónliche Interesse eines einzelnen berührt war,

und für diese war ein Quorum von 6 000 Stimmen erforderlich. Sie wurde beim Ostrakismos, bei der Verleihung des Bürgerrechts, bei Gewáhrung von Strafer-

laß und bei einigen gerichtlichen Urteilen angewandt, und allein bei ihr legten die Bürger ihren Stimmstein nach Phylen getrennt in Urnen. Bei allen anderen Abstimmungen saß jeder Athener, wie er kam oder wollte, und also war die

Abstimmung stets eine der ganzen, ungeteilten Menge. Soweit man in Sitzblókken saß - archäologische Untersuchungen des Felsenbodens auf der Pnyx haben gewisse Hinweise darauf gegeben, daft der Platz durch Markierungen gegliedert war -, dienten diese einer leichteren Auszáhlung der Stimmen durch den Vorstand. Alle Volksbeschlüsse wurden vom Schreiber des Rates protokolliert und im Archiv aufbewahrt. Die Stellung des Schreibers war wegen des Vertrauens, das man in ihn setzen mußte, äußerst exponiert, und er wurde darum jedenfalls bis in die sechziger Jahre des 4. Jahrhunderts auch nicht erlost, sondern vom Rat oder der Volksversammlung gewählt. Die Beschlüsse wurden veröffentlicht,

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

meist auf geweißten Holztafeln, manche auf Steinen. In der Eingangsformel der Volksbeschlüsse, die mit der Wendung beginnt, „das Volk hat beschlossen“ bzw. „Rat und Volk haben beschlossen“, erscheinen ferner alle für den Beschluß besonders Verantwortlichen, nämlich die geschäftsführende Prytanie des Rates,

unter welcher der Beschluß zustande gekommen war, und deren Vorsteher (später der Vorsteher der Prohedroi) sowie der Antragsteller und der protokollierende Schreiber.

Für ein Urteil über den Prozeß der Entscheidungsfindung hat man sich auch zu vergegenwärtigen, daß die institutionalisierte Leitung der Volksversammlung, nämlich die jeweiligen Prytanen bzw. später die Prohedroi mit ihrem Vorsitzenden (Epistates), keinerlei Einfluß auf die Auswahl der Beratungsgegen-

stände, den Gang der Diskussion und die Formulierung des Wortlauts für die Abstimmung hatte. Ihre Aufgabe war auf die formale Einberufung der Versammlung und die Leitung der Diskussion und Abstimmung beschränkt. Für

die Thematik der Versammlung waren der Rat und die Menge der Bürger selbst, für den inhaltlichen Verlauf der Diskussion allein die Menge zuständig. Aber wie sie keinen gemeinsamen Mund hatte, kam es doch auf den einzelnen Bürger an, der in der Versammlung für die Menge formulierte und für eine von ihm für gut befundene Sache warb. Für den Prozeß der Willensbildung ist darum der Redner ein konstitutives Element. Insofern nicht jeder sich nach Charakter,

Intellekt und Redegewandtheit für einen Auftritt vor dem ganzen Volk eignete, war die Zahl der Redner klein, auf jeden Fall überschaubar. Die Redner sind nach unseren Begriffen als „Politiker“ anzusehen. Als solche berieten sie durch

ihre Rede die Volksversammlung (daher heißt die politische Rede vor dem Volk „beratende Rede“, /6gos symbouleutikés), sind aber nicht einfach mit denjenigen

gleichzusetzen, welche die Gesetzesanträge formulierten und einbrachten. Einen Antrag formulieren konnte jeder einfache Bürger, der eine Sache, etwa eine

Anklage, beim Rat vortrug, oder ein Ratsherr, der im Rat als formeller Antragsteller auftrat. Vielfach stammten die Antragsteller auch aus dem Umfeld eines

Redners; bisweilen waren sie einfache Strohmänner, die gegebenenfalls auch den Redner vor einer Anklage wegen Gesetzeswidrigkeit abschirmten. In demosthenischer Zeit scheint es eine mehr oder weniger feste Gruppe „kleiner Redner“

gegeben zu haben, die für solche Geschäfte mit einer mehr oder wohl häufiger weniger großen politischen Eigenständigkeit zur Verfügung standen. Der im Volksbeschluß regelmäßig genannte Antragsteller ist also durchaus nicht immer ipso facto auch zu dem Kreis der Politiker im engeren Sinne zu zählen.

Der jeweils Redende war rein äußerlich gegenüber den anderen Besuchern dadurch herausgehoben, daß er auf einem etwas erhöhten Platz, dem Rednerstein (béma), stand und, wie bei gewissen Tätigkeiten die Priester und Beamten,

einen Myrtenkranz trug. Seit dem ausgehenden 5. Jahrhundert nannten die Athener den häufiger auftretenden, eine bestimmte Politik vertretenden Redner Demagoge (démagógós, wörtlich „Volksführer“), wobei sie dieses Wort zunáchst nicht pejorativ, sondern durchaus im neutralen Sinne gebrauchten. Wo-

her gewann dieser Mann nun Autorität, so daß viele oder gar die Mehrheit seinem Rat folgten? Von dem Grundgedanken der Demokratie her konnte er

keine bestimmte Gruppe vertreten, denn nach Ausweis der politischen Organi-

VI. Die politischen Organisationsformen: Volksversammlung

173

satıon (Phylenordnung) gab es keine Gruppierung der Bürger nach Interessen,

sondern war die Bürgerschaft durch die (politische) Gleichheit aller charakterisiert. Faktisch mochte der einzelne zwar besondere Interessen vor allem wirt-

schaftlicher Art haben, und es gab ja stets und im 4. Jahrhundert vielleicht noch deutlicher als früher die Vorstellung von Armen und Reichen. Aber wie sollten

sich etwaige Interessen realisieren? Manche Gelehrte haben in deutlicher Anlehnung an moderne Vorstellungen geglaubt, daß manche Redner einzelne Gruppen - man sprach sogar von Parteien oder Parteiungen - repräsentierten, und sie

glaubten etwa eine oligarchische Partei der Besitzenden sowie eine demokratische der Armen zu erkennen, und manch einer machte auch einen Mittelstand

aus. Diese Gruppen hätten dann ihrem sozialen Stand entsprechend auf die Anträge reagiert. Der Bauer etwa wäre wegen der Sicherheit seines kleinen Hofes für den Frieden, der Thete wegen des zu erwartenden Soldes für eine

geplante See-Expedition und der Kaufmann für die Erweiterung des atheni-

schen Einflußgebietes und die Sicherheit der Meerengen eingetreten. Aber solchen Vorstellungen fehlt schon die Voraussetzung, nämlich - außer dem bereits

genannten Mangel eines organisierten Rahmens - die Okonomie als (Haupt-) Gegenstand der Politik. Die Masse der Entscheidungen betraf die Außenpolitik, und sowohl hier als auch bei anderen Gegenstánden kónnen wir hinter der Entscheidung kaum je eine feste soziale Gruppe und einen bestimmten Redner als den Führer dieser Gruppe glaubhaft machen. Selbst wenn einmal hinter einem Redner eine Interessengruppe, etwa eine Gruppe von Reichen oder ein Adelsclub stand, mußte er es daher besser verbergen. Der Redner mochte Spezialwissen haben und etwa dann, wenn es um einen Feldzug ging, auf seine

Erfahrungen verweisen, die er früher als Soldat und vielleicht sogar als Feldherr erworben hatte; er mochte ferner besondere Kenntnisse in Fragen des Kultes

oder auf dem Gebiet der Finanzen besitzen und diese herausstreichen. In der Tat legte die Versammlung auf gute und korrekte Informationen Gewicht und ließ sich bei Gelegenheit durch Strategen und andere Beamte, bei außenpolitischen Fragen auch durch Gesandte die näheren Details berichten. Aber als Fachmann sprach der Redner im Prinzip nicht; sein Fachwissen trat lediglich als sekundä-

res Element zu seiner Überzeugungskraft hinzu.

Es ist oft behauptet worden, daf$ in diesem Vakuum politischer Macht in der Volksversammlung das Kollegium der Strategen oder ein Stratege Macht an sich gezogen habe, weil die Strategie unter den wenigen verbliebenen Wahlämtern das größte Ansehen hatte, und man hat dabei stets auf Perikles verwiesen, der dieses Amt viele Male und lange Zeit auch ohne Unterbrechung innegehabt hatte. Aber Perikles hat nicht mit Hilfe des Strategenamtes regiert und Autorität gewonnen, sondern er wurde so oft Stratege, weil er bei den Athenern so lange Zeit hindurch Autoritát hatte, und er ist auch schon dadurch, daf$ er mit den

Anfängen der Demokratie verbunden ist, eine ganz exzeptionelle Figur, die für die Stellung des Redners untypisch ist. In einem Punkte nur läßt er sich neben die anderen stellen. Er war ein hervorragender, wahrscheinlich sogar der beste Redner seiner Zeit, dessen Kunst darin bestand, aus dem Stegreif heraus zu

sprechen und zu überzeugen. Die Fähigkeit, reden zu können, das heißt, die

richtigen Worte für die richtige Sache zu finden, sachlich vernünftig erschei-

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

nende Vorschläge machen und die Stimmung der Masse sowie deren Vorwissen oder Vorurteile richtig einschätzen zu können, waren in der Tat eine Vorbedin-

gung für den Vortrag vor dem Volk. Darüber hinaus mußte der Redner auch ein gutes, kräftiges Organ haben; manche Redner, wie Demosthenes, mußten sich dies erst durch langes Training erarbeiten. Ein Mann mit leiser Stimme, stottern-

der Rede und dem Jargon des kleinen Mannes wurde selbst und gerade von seinesgleichen ausgelacht.

So versteht es sich, daß nicht jeder auf den Rednerstein trat und es weitgehend sogar immer dieselben waren, die dazu den Mut aufbrachten. In den Anfängen der Demokratie taten sıch auf diesem Gebiet selbstverständlich vor allem Angehörige des Adels, wie Perikles und Thukydides, des Melesias Sohn, und reiche Männer, wie Nikias, hervor. Auch ein angesehener Feldherr konnte auf Gehör

hoffen wie jener Demosthenes, der im Peloponnesischen Krieg im Felde Bedeutendes geleistet hat; der eben bereits genannte Nikias, der ein nicht minder geschickter General war, ist bei Gelegenheit sogar direkt aufgefordert worden,

einen militärischen Lagebericht vor der Volksversammlung und daraufhin einen Ratschlag zu geben (dem man - es ging um die Expedition nach Sizilien im Jahre 415 - dann aber nicht folgte). Die Menge verfolgte indessen die Adligen und Reichen auch mit Mißtrauen, und zumal nach dem oligarchischen Umsturz von 411 waren Adel und Reichtum nicht immer mehr eine gute Empfehlung. Sowohl wegen des wachsenden Mißtrauens gegen die Adligen und Reichen

als auch unter dem Druck des großen Krieges, dessen Lasten die Masse trug, kam schon vor 411 ein anderer Typ von Rednern auf, den als erster in verhältnismäßig reiner Form Kleon (gefallen 422), nach ihm Hyperbolos (ostrakisiert ca. 417), Kleophon (hingerichtet 404) und viele andere vertraten. Sie waren meist Handwerker, besaßen einen eigenen Betrieb - Kleon hatte eine Gerberei, Hyperbolos stellte Lampen, Kleophon Leiern her - und konnten, ohne sehr wohl-

habend zu sein, als finanziell unabhängig gelten. Sie besaßen indessen keine Autorität auf Grund von Herkommen, Reichtum, Bildung und Wissen, und sie

hatten oft auch keine gewinnende persönliche Ausstrahlung. Sie erwarben viel-

mehr Autorität dadurch, daß sie es verstanden, die jeweilige Stimmung des Volkes in die Form einer politischen Meinung zu bringen, die sıe dann als die ihre ausgaben. Sie taten das alle ohne ein schlechtes Gewissen, weil sie sich mit

dem Volk eins fühlten und ihnen der Mangel an eigener Meinung und Verantwortung meist gar nicht bewußt war. Sie verkörperten die Stimmung, Laune, Emotion des Volkes oder was sie gerade dafür hielten. Viele von denjenigen Bürgern, die sich von der Masse nicht einfach mitreifsen ließen, sahen in diesen

Männern, die zwischen der Stimmung des Volkes und ihrer eigenen keinen Unterschied zu machen schienen, „Radikale“. Und obwohl die Radikalität dieser Leute meist gar nicht darauf zielte, eine extrem demokratische Position, sondern eher die jeweiligen Wünsche der Mehrheit, die nicht im Sinne demokratischer Ideologie „radikal“ zu sein brauchten, durchzusetzen, konnte ein derar-

tiger Stil politischer Führung in der nachperikleischen Zeit allen besonnenen

Bürgern Angst machen. Beherrschten námlich solche Mánner die Versammlung, und in der Zeit des ausgehenden Peloponnesischen Krieges war das zeitweise der Fall, war jede vernünftige Planung der Politik unmóglich und konnte

Vl. Die politischen Organisationsformen: Volksversammlung

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die Stadt in die schwersten Krisen, ja Katastrophen geführt werden. Die sizilische Expedition gilt als eines der Unternehmen, in das Athen durch eine von Stimmungen beherrschte und durch Einpeitscher hochgebrachte Menge getrieben wurde, obwohl die Maßlosigkeit, ja der Wahnsinn der dahinterstehenden Politik offenkundig war. Was diese Art von Politik auch für auswärtige Staaten bedeuten konnte, lehrt ein anderer Fall: Als in der Volksversammlung die Frage diskutiert wurde, in welcher Form die Bewohner der Stadt Mytilene/Lesbos, die vom Seebund abgefallen und dann von Athen niedergezwungen worden war (427), bestraft werden sollten, forderte Kleon die Hinrichtung aller männlichen

Einwohner von Mytilene und setzte dies auch durch; doch am nächsten Tag schlug die Stimmung um, und es gelang darauf den Gegnern Kleons, ın einer schnell neu einberufenen Volksversammlung zu erreichen, daß nur die wirklich

Schuldigen (deren Zahl auch noch sehr hoch war) getötet wurden. Die Mytilenäer entkamen nur dadurch dem Untergang, daß das Schiff mit der Todesnachricht für alle von dem am folgenden Tag hinterhergesandten Schiff mit dem milderen Urteil noch gerade rechtzeitig eingeholt wurde. Es überrascht wenig, wenn die Kritik, insbesondere die politische Komödie, diese Verhältnisse heftig geißelte. Aristophanes hat in so gut wie allen seinen Komödien, vor allem aber in dem gegen Kleon gerichteten Stück - in den „Rittern“, 424 v. Chr. - die Redner als Schmeichler, Betrüger und Verführer vorgestellt und ihnen Herrschsucht vorgeworfen. Die Demagogen dieser Jahrzehnte sind von Aristophanes

und anderen Kritikern aber ohne Zweifel im negativen Sinne überzeichnet worden; hinter manchen Aktionen eines Kleon und Kleophon mochte, für uns

heute schwer noch erkennbar, eine vernünftige, auch vielleicht eigenständige politische Idee stecken. Die mangelnde Distanz dieser Männer zu den Massen und damit auch ihre innere Abhängigkeit von deren Launen war aber gegeben, und sie machte die Politik in kritischen Situationen unberechenbar. Aber wie problematisch der Demagoge auch immer gewesen sein mag, wer sollte in einer politischen Ordnung, in der die zentrale Regierung bewußt ausgeschaltet und

alle Beamten zu kleinen Funktionären geworden waren, die Meinung des Volkes in Worte fassen, wenn nicht einer, der sich traute, in der Volksversammlung

aufzustehen und zu sprechen? Der Redner war für den Augenblick seiner Rede der Kopf der Menge, der die Stimmung so oder so interpretieren und formen,

der gegebenenfalls beschwichtigen konnte und dem man, selbst dem übel Beleumdeten, persönliches Verantwortungsgefühl nicht oder doch nur sehr selten einfach absprechen darf. Auch Arıstophanes weiß sehr genau von der Bedeutung, ja der Unentbehrlichkeit des Redners, weil er selbst die Leichtgläubigkeit und Wankelmütigkeit des Volkes erfahren hat. Der Redner bietet immer die Chance, eine richtungslos gewordene Menge zu korrigieren, und vor allem: Es

gibt zu ıhm in Athen keine Alternative. Ist daher Aristophanes und anderen

Kritikern, unter ihnen vor allem Thukydides, darum auch die Abhängigkeit des Volkes von dem Demagogen klar und wissen sie alle davon, daß der Demagoge wie ein Vormund, ja wie ein Herr des Volkes wirken und großen Schaden anrichten kann, wird doch von niemandem, auch nicht von den beiden Genannten, die Institution des Redners als solche abgelehnt und geht es nur darum, den guten Redner, der das Vernünftige rät, zu suchen.

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

In dem Make, wie die Vermögenden als Redner zurücktraten oder sie doch nicht mehr allein als Sprecher auftraten, wurde das Reden zu einem Beruf, der den nun oft nicht mehr vermögenden Mann auch ernähren mußte. Die Rednertätigkeit erforderte zudem viel Zeit und den Besitz von Kenntnissen über die politische Gesamtordnung und über die aktuellen Vorgänge, die wiederum auch nur durch ständiger: Umgang mit politischen Fragen erworben werden konnten. Der Typ des professionellen Redners begegnet uns vor allem seit dem Beginn des 4. Jahrhunderts. Wie der „Redenschreiber“ (Logograph) bei Privat- und Strafprozessen, der für die Prozeßparteien gegen Honorar Reden schrieb, verfertigten auch manche Redner, die in der Volksversammlung zu politischen Fragen Stellung nahmen, gegen Bezahlung Reden, nur daf sie - umgekehrt wie die Logographen, die deswegen, weil die Prozeßparteien vor Gericht ihre Stellungnahmen selbst vortragen mußten, nicht in der Öffentlichkeit auftraten - die von ihnen verfaßten Reden als die eigene Ansicht selbst vortrugen und die wahrhaft Interessierten oft aus gutem Grund hinter den Kulissen blieben. Die Annahme von Honoraren hat die Demokratie mit der uns heute etwas banal klingenden Einschränkung, daß die Rede stets den Vorteil des Volkes im Auge haben solle, geduldet. Wollte sich das Volk nicht ganz in die Hände der Reichen geben, war die Toleranz in der Honorarfrage aber notwendig. Gegen radikalere oder leicht beeinflußbare Personen sicherte man sich lediglich dadurch ab, daß von dem „Sprecher“ Grundeigentum in Attika und der Nachweis ehelicher Kinder verlangt wurde. Sowohl diese Bestimmung als auch die Duldung der finanziellen Honorierung und schließlich die unausgesprochene, aber darum nicht weniger anerkannte Forderung, daß der Redner in der Redekunst ausgebildet sein mußte, ließen seine berufsmäßige Stellung immer schärfer hervortreten, und es war gleichzeitig damit einem Kreis fähiger Bürger aus den wenig besitzenden Schichten die Môglichkeit des politischen Aufstiegs gegeben. Sehr viele unter ihnen waren nicht einfach nur der lange Arm irgendwelcher Interessenten, sondern verfolgten eine selbständige Politik, und manche von ihnen, wie Aischines und Hypereides, aber vor allem Demosthenes, gehórten zu den führenden Persónlichkeiten ihrer Zeit. Weil sie durch Honorare oder auch durch eigenes Vermógen finanziell abgesichert waren, konnten sie sich ganz der Politik hingeben und waren so weit unabhängig, daß sie, wie übrigens gelegentlich schon die Redner des 5. Jahrhunderts, gegen die immer einflußreicher werdenden Reichen aufzutreten in der Lage waren. Ganz unproblematisch war das Rednerwesen dieser Zeit hingegen nicht. Denn zum einen war es dem Redner vom System her erlaubt, seine Tätigkeit rein geschäftsmäßig zu betreiben und also jedem, der dafür bezahlte, zu dienen; bezeichnenderweise war in dieser Zeit der Vorwurf

der Bestechlichkeit immer schnell zur Hand und angesichts der Honorierung der Redetätigkeit auch oft schwer zu widerlegen; zum anderen wurde die Zahl derjenigen, die Politik machten, auf eine geringe Anzahl von ausgebildeten Rednern beschränkt.

Und dies letztere war für die Demokratie besonders gefáhrlich. Denn mit dem Berufspolitiker verkümmerte die politische Energie der Masse; künftig fühlte sich nicht mehr jedermann wie selbstverständlich zur Initiative aufgerufen, und

es ging auf diese Weise der demokratische Geist verloren, von dem der Aufstieg

VI. Die politischen Organisationsformen: Volksversammlung

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Athens im 5. Jahrhundert getragen gewesen war. Auch die griechische Sprache enthüllt die veránderte Gesinnung: Das Wort für die sich politisch betáugenden Bürger (polite«ómenoi), das sich früher ganz selbstverständlich auf alle Athener bezogen hatte, verkürzt sich zur Zeit des Demosthenes immer mehr auf die Berufsredner. Demosthenes selbst, der einer von den Berufspolitikern war, hat

diesen Zustand gesehen und beklagt; aber zu seiner Zeit war die Entwicklung nicht mehr rückgángig zu machen. In der Tat war der neue Rednertyp auch nicht durch die Energie und den Ehrgeiz einzelner Politiker, sondern als die Konsequenz einer veränderten Einstellung des Bürgers zur aktiven politischen Tätigkeit entstanden: Die Masse der Bürger hielt sich mehr und mehr zurück und lieR sich gern von anderen vertreten. Bis zu einem nicht geringen Grade hat das allerdings auch schon für die ältere Zeit gegolten. Nicht jeder Athener fühlte sich aufgerufen, das Wort in der Versammlung zu ergreifen. Die meisten folgten der Autorität einzelner Politiker, und die persönlichen Verbindungen, die der einzelne hatte, spielten dabei zu jeder Zeit eine sehr große Rolle. Die Neigung zur Personalisierung der Politik bildete sich demnach nicht erst in der Spätzeit der Demokratie, sondern nahm als Folge einer zunehmenden Passivität der Bürger lediglich noch zu. Die Wandlung des Sprechers in der Volksversammlung zum Berufspolitiker wie auch die oft sehr harte Kritik schon des 5. Jahrhunderts an den Demagogen, die uns bei Aristophanes und Thukydides begegnet, soll nicht vergessen lassen, daß die Demokratie von ihrer eigenen Idee her den Demagogen verlangte und ihn ohne den Verzicht auf einen ihrer tragenden Grundsätze, nämlich die Abwehr einer starken Regierungsgewalt, gar nicht entbehren konnte. Tatsächlich waren

es denn

auch

vor allem

die Redner,

die Athen

zu der Hóhe

seiner

politischen Macht geführt und die Stadt nach der Katastrophe erneut zu großem Ansehen

gebracht haben, und sie haben all dies erreicht, ohne die Stadt mit

schweren inneren Unruhen zu belasten, von denen alle anderen griechischen Städte so gequält wurden. Dies letztere vor allem ist eine kaum zu unterschätzende Leistung. Denn es erforderte Zurückhaltung, Maß und Einsicht, vor allem aber eine relative Toleranz gegenüber den politisch Andersdenkenden und den Vermógenden. Die Athener haben von den Anfängen der Demokratie bis zu der makedonischen Herrschaft, also rund 150 Jahre hindurch, nur zwei Umstürze erlebt, die von 411 und 404, und bei beiden haben die am Ende siegreichen

Demokraten die oligarchischen Drahtzieher nicht mit blutiger Rache, sondern

in dem gesetzlich für politische Delikte vorgeschriebenen Rahmen verfolgt. Wem verdankten die Athener diese Einstellung, wenn nicht denen, die ihnen in

der Volksversammlung Ratschláge erteilten und Antráge stellten? Gegenstand der Beschlüsse Die Frage nach der Zustándigkeit der Volksversammlung kann man mit dem Satz abtun, daß die Volksversammlung als Souverän über alles beschließen kann, was sie will, und dabei auf Zeugnisse in unseren Quellen verweisen, die ebendies aussprechen. Aber mit dieser Antwort, die gar nicht einmal falsch ist, ist nichts geklärt. Denn sie gibt keine Auskunft darüber, über was die Athener

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

tatsächlich in ihren Versammlungen diskutierten, was sie der politischen Erörterung für wert hielten und was sie überhaupt nicht behandelten, weil es nicht üblich war oder von ihnen als möglicher Gegenstand einer Verhandlung gar nicht erkannt wurde. Es ist ebenfalls wenig sinnvoll, bei einem Überblick über die Beschlußtätigkeit der Volksversammlung von festen Kompetenzbereichen auszugehen, wie wir es für die Tätigkeit der Volksversammlungen in der rómischen Republik gewohnt sind, und also die drei großen Bereiche der Gesetzge-

bung (psephismata), der Urteilsfindung im politischen Strafprozeß (kriseis) und der Wahlen (archairesiai) zugrunde zu legen. Dieses Einteilungsprinzip kann die Gegenstände der athenischen Volksbeschlüsse so wenig erfassen, daß es ein Urteil über sie eher erschwert oder sogar vóllig unmóglich macht. Denn während es für die Verháltnisse der rómischen Republik berechtigt ist, weil dort

diese drei Bereiche tatsächlich breit ausgefüllt waren und die Römer selbst diese Einteilung für zweckmäßig erachtet haben, trifft das für Athen nicht zu. Diese

Einteilung war nàmlich nicht nur den Athenern gänzlich unbekannt, es hat vor allem die normative Gesetzgebung der Ekklesie im 5. Jahrhundert wenig Gewicht und wird nach dem Peloponnesischen Krieg sogar gänzlich einem anderen Gremium, den Nomotheten, zugewiesen, ist ferner der politische Straftatbestand nicht durchgángig, seit der Mitte des 4. Jahrhunderts überhaupt nicht mehr Sache der Volksversammlung, sind schließlich die Wahlen auf wenige,

wenn auch wichtige Beamte beschránkt worden und ist zudem die demokratische Form der Ernennung der Geschäftsträger gerade nicht die Wahl, sondern die Losung. Diese Einteilung erfaßt daher zwar einige wichtige, im 4. Jahrhundert aber teils gar nicht mehr ausgeübte Zuständigkeiten und läßt die ganz überwiegende Zahl der athenischen Volksbeschlüsse einfach beiseite.

Was den Athenern der wesentliche Inhalt politischer Tätigkeit war, können wir deutlich an den gesetzlich vorgeschriebenen Tagesordnungen für die

ordentlichen Volksversammlungen ablesen. Von den vier ordentlichen Versammlungen einer Prytanie im späten 4. Jahrhundert waren für eine, die als Hauptversammlung gelten kann, vier feste Tagesordnungspunkte vorgesehen. Im ersten wurde die Frage gestellt, ob die Beamten ihr Amt gut verwaltet hätten; wurde das für einen Beamten verneint, mußte dieser sofort von seinem Amt

abtreten und sich vor einem Geschworenengericht verantworten. Da der Tages-

ordnungspunkt für diejenigen Beamten, die nicht genannt wurden, eine Bestätigung in ihrem Amt bedeutete, erschien das Verfahren den Athenern als eine erneute Wahl und wurde auch so genannt (epicheirotonta, „Zusatzwahl“, „Nach-

wahl“). Im zweiten Punkt ging es um die Frage, ob die Stadt hinreichend mit

Getreide versorgt und alles das Getreidewesen Betreffende gut geregelt war. Daran anschließend wurden Fragen der Verteidigung erörtert und in einem vierten Punkt schließlich Gelegenheit gegeben, Anklagen wegen schwerer politischer Verbrechen einzubringen. In diesen vier Punkten treten uns deutlich zwei Problemkreise vor Augen: Es geht einmal um die Sicherung der Demokra-

tie gegen den unredlichen oder politisch unzuverlässigen Beamten oder (bei der Anklage) Privatmann, zum anderen um den Schutz der Stadt vor dem Landes-

feind und vor Versorgungsmängeln. Es sind denn auch diese Themen, die uns außerhalb der Hauptversammlungen am häufigsten begegnen: Die Außenpoli-

VI. Die politischen Organisationsformen: Volksversammlung

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uk und die Absicherung der politischen Ordnung haben die Athener als den zentralen Inhalt von Politik angesehen. Von den anderen drei ordentlichen Versammlungen einer Prytanie war eine der Annahme und Verhandlung von Bittgesuchen einzelner Bürger, die private, aber auch öffentliche Gegenstände betrafen, vorbehalten. Hier wurde den Klagen und Beschwerden des einzelnen Bürgers Raum gegeben und der Tatsache Rechnung getragen, daß die Stadt, und das heißt die Volksversammlung, auch für die Nöte des einzelnen zuständig war. Es konnte bei so einer Verhandlung u.a. auch Gnade vor Recht gestellt, etwa eine Strafe oder eine öffentliche Geldschuld erlassen werden, womit das Volk sich als wahrer Souverän, der allein

gegen das Recht Milde walten lassen darf, zu erkennen gab. Die beiden restlichen Versammlungen waren für Gegenstände jeglicher Art reserviert, doch mußten sie nach drei inhaltlichen Gesichtspunkten hintereinander verhandelt werden, zuerst alle Fragen, die den Kult betrafen, dann alle auswärtigen und zuletzt alle anderen profanen Angelegenheiten. Während die genannten Themen regelmäßig in jeder Prytanie wiederaufgenommen wurden- also innerhalb eines Jahres in insgesamt zehn Hauptversammlungen, zehn Versammlungen für Bittgesuche und 20 Versammlungen mit gemischten, aber nach drei Gesichtspunkten geordneten Gegenständen - fanden andere regelmäßig wiederkehrende Versammlungen nur einmal im Jahr statt, wie z. B. diejenigen für die Wahl der Strategen und anderen durch Wahl bestellten Offiziere gewöhnlich bereits in der 7. Prytanie im März abgehalten wurden, weil vor Amtsantritt am Beginn des athenischen Amtsjahres am 1. Hekatombaiön (Juli) noch die Überprüfung der Gewählten auf ihre Eignung (Dokimasie) vorgenommen werden mußte (s.u.

S. 273ff.).

Von den genannten Themen seien noch einmal diejenigen besonders herausgehoben, welche die Strafjustiz betreffen. Bei der Entgegennahme und Behandlung von Anklagen tritt das Volk als Richter auf, und dies in doppelter Weise, einmal als Richter gegenüber Beamten, denen vorgeworfen wird, ihr Amt nicht ordentlich verwaltet zu haben, zum anderen gegenüber Beamten und Privatleuten, die einer Gesetzwidrigkeit beschuldigt werden. Das richtende Volk

fällt dabei meist nicht selbst das Urteil, wie regelmäßig nicht bei Vorwürfen gegen Beamte, die in einer der Hauptversammlungen erhoben werden; es nimmt

hier lediglich die Anklage an und verweist dann die Untersuchung an ein Geschworenengericht von 501 oder mehr Personen. Bei manchen Anklagen, wie bei der wegen gesetzwidriger Handlungen, enthält der Beschluß der Volksversammlung auf Überweisung an ein anderes Gericht jedoch ein Präjudiz, dies jedenfalls dann, wenn die Volksversammlung die Annahme der Anklage auch hätte ablehnen können. Unter den von der Volksversammlung zu behandelnden, eventuell auch abschließend zu entscheidenden Anklagen verdienen ihrem Gegenstand nach zwei besondere Aufmerksamkeit, die sich auch durch eine besondere Klageform auszeichnen. Die eine ist die sogenannte EisangelieKlage (eisangelía heißt eigentlich „Anzeige“), die schwere Vergehen gegen die Stadt (Hochverrat, Umsturz der politischen Ordnung, gemeingefährliche Täu-

schung des Volkes durch Redner) betraf und schriftlich in der obengenannten Hauptversammlung der Prytanie oder jederzeit beim Rat eingereicht werden

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

mußte. Die unmittelbare Zuständigkeit der Volksversammlung ist durch den politischen Charakter der Anklagen ohne weiteres verständlich. Die Straftatbestände waren bunt und sind im 5. Jahrhundert begrifflich noch nicht genau abgegrenzt gewesen. Im 4. Jahrhundert, vielleicht schon bald nach der Wiederherstellung der Demokratie im Jahre 403, sind die Tatbestände dann schärfer

gefaßt worden, und seitdem hat die Volksversammlung auch nur noch selten selbst entschieden, sondern die Sache meist gleich an ein Geschworenengericht weitergeleitet; seit der Mitte des Jahrhunderts kennen wir keine Eisangelie-

Klage mehr, die vor der Volksversammlung verhandelt wurde. Richtete sich diese politische Klage gegen den offenen oder arglistigen Angriff von Staatsfeinden, sollte die andere hier zu nennende Anklage, die ın der Volksversammlung

angenommen wurde, die Stadt gegen die Einbringung gesetzwidriger Anträge schützen; hier geht es also um Verfassungsschutz im engeren Sinne. Diese

»Schriftklage

wegen

Verfassungswidrigkeit“

(grapbé paranómón,

Paranomie-Klage) ist uns zuerst für das Jahr 415 überliefert, aber sicher schon früher, vielleicht im Zusammenhang mit den Unruhen unter Ephialtes, die zur Demokratie führten (462/61), geschaffen worden. Sie konnte jeder Bürger in der Volksversammlung oder im Rat gegen jedes Gesetz und jeden Gesetzesantrag erheben, den er für gesetzwidrig hielt, weil es z. B. ohne ein Probuleuma des Rates eingebracht worden war oder sein Inhalt gegen ein vorhandenes Gesetz

verstieR. Die Anklage selbst wurde vor einem Geschworenengericht verhandelt; aber schon die Ankündigung in der Volksversammlung und im Rat, daf man die Anklage erheben wolle, suspendierte die Abstimmung über den kritisierten Antrag bzw., wenn die Abstimmung bereits erfolgt war, die Rechtsgültigkeit des Gesetzes. Die Anklage konnte sich nicht nur gegen einen etwaigen gesetzwidrigen Inhalt, sondern auch gegen ein gesetzwidriges Verfahren bei der Antragstellung richten. Diese Schriftklage wurde als eines der Bollwerke der Demokratie angesehen. Über sie wird dort, wo das Problem des Verfassungsschutzes in der Demokratie näher untersucht wird, ausführlicher zu reden sein.

So wichtig die richtende Tätigkeit der Volksversammlung auch war, stand sie

doch nicht im Mittelpunkt der Zustándigkeiten und wurde zudem in immer stärkerem Maße an die Geschworenengerichte überwiesen; seit der Mitte des 4. Jahrhunderts richtete das Volk sogar nur noch in Ausnahmefällen. Die Au-

Ren- und Sicherheitspolitik war und blieb darum das Kernstück dessen, was vor dem Volk verhandelt wurde. Etwa ein Drittel aller Volksbeschlüsse war dieser Thematik gewidmet. Auch über Einnahmen und Ausgaben wurde verhandelt; doch stellte die Bewilligung von Geldern und deren Verwendung keine reguläre, gesetzlich für bestimmte Versammlungen vorgeschriebene Thematik dar und war schon gar nicht, wie in den modernen Demokratien, Basis und Ausgangspunkt der Kompetenz. Dieser uns heute merkwürdig anmutende Umstand ist aus der Geschichte der athenischen Demokratie zu erklären, in der es zunächst

und vor allem um die Gleichheit des politischen. Rechts gegangen und die Finanzierung staatlicher Leistungen anfangs deswegen nicht als Problem bewußt geworden war, weil der Krieg von den sich selbst ausrüstenden Bürgern

getragen, die Beamtenstellen von den Wohlhabenden und Reichen, die kein Salär verlangten, besetzt und etwaige andere Leistungen ebenfalls von den

VI. Die politischen Organisationsformen: Volksversammlung

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Wohlhabenden durch Leiturgien übernommen worden waren. Das Geldbedürfnis der Demokratie entwickelte sich erst allmählich und ist zudem gerade in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens zu einem nicht geringen Teil von den Matrikelbeiträgen der Bundesgenossen abgedeckt worden, was wiederum eine grundsätzliche Regelung des Komplexes nicht zu erfordern schien. Die Notwendigkeit eines ständig regulierenden Eingriffs der Ekklesie in das Budgetwesen wurde seit dem beginnenden 4. Jahrhundert schließlich dadurch entbehrlich gemacht, daß eine feste Summe Geldes für die Ausgaben der verschiedenen Behörden festgesetzt und jährlich an sie überwiesen wurde (merismös), wie denn auch die Volksversammlung selbst für ihre Ausgaben, z. B. für die Kosten der

Veröffentlichung von Beschlüssen oder für die Anfertigung eines Ehrengeschenkes in Form eines goldenen Kranzes, eine Summe von zehn Talenten zur Verfügung hatte. Die Volksversammlung hat sich seitdem nur in besonderen Fällen,

wie z. B. bei der Umdisposition von Kassen, bei Schuldenaufnahme und -tilgung oder auch für die Umlage einer Eisphora, also einer Sondersteuer, mit dem Finanzwesen beschäftigt. Das gesamte Finanzwesen ist in einem besonderen Kapitel dargestellt (u. S. 246ff.), und es genügt daher hier der Hinweis, daß die Volksversammlung oftmals mit der Regelung der Finanzen befaßt war und ihr

seit der Mitte des 4. Jahrhunderts sogar in einer bestimmten Versammlung des Jahres eine Abrechnung aller Einkünfte vorgelegt wurde. Den mit Abstand größten Anteil an den Volksbeschlüssen aber haben die Ehrungen von Bürgern und Auswärtigen; sie machen weit über die Hälfte aller uns für das 4. Jahrhundert bis zum Ende der Demokratie (403-322 v. Chr.) erhaltenen Beschlüsse aus. Es handelt sich dabei sowohl um Ehrungen von Bürgern und Metöken als auch von Ausländern; die letzteren betreffen auch die

zahlreichen Bürgerrechtsverleihungen. Die meisten Ehrenbeschlüsse sind jährlich fällige Ehrungen von einzelnen Bürgern und von Behörden, wie denn in demosthenischer Zeit Jahr um Jahr der beste Redner, die beste Prytanie und die besten Prohedroi sowie der Rat, der sein Amt ordnungsgemäß verwaltet hatte, mit einem goldenen Kranz geehrt wurden. Ihn gab es erst seit dem späten 5. Jahrhundert; früher war ein grüner Kranz, meist aus Olivenzweigen, üblich

gewesen. Eine andere Ehrung bestand in der Speisung auf öffentliche Kosten im Prytaneion, die u.a. siegreichen Strategen und erfolgreichen Gesandten sowie Bürgern, die sich in irgendeiner Weise um die Stadt besonders verdient gemacht hatten, zuteil wurde. Auch Privilegien, wie die Befreiung von Abgaben (ateleta),

sind unter die Ehrungen zu zählen. Ausländer konnten außer durch die Bürgerrechtsverleihung ebenfalls durch Kränze oder Speisung auf Staatskosten geehrt werden. Die Ehrungen wurden öffentlich verkündet und in aller Regel in Stein gehauen. Sie sind ihrem Wesen nach nicht Ausdruck eines fürsorglichen Wohlwollens, sondern haben eine wichtige öffentliche Funktion: Sie dienen der

Kontrolle der für die Stadt als Geschäftsträger der verschiedensten Art tätigen Bürger und der Metóken sowie der Absicherung des Wohlverhaltens von außenpolitischen Partnern. Bei den bisher vorgestellten Zustándigkeiten der Volksversammlung ging es durchweg um Beschlüsse über aktuelle politische Ereignisse, durch die bestimmte Situationen der Tagespolitik bewältigt, z. B. ein Feldzug, die Einfuhr

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

von Getreide oder die Verleihung des Bürgerrechts an einen einzelnen beschlossen wurde. Es war hingegen noch nicht die Rede von der Gesetzgebungstätigkeit der Volksversammlung, also von denjenigen Beschlüssen, die nicht lediglich eine vorübergehende Situation (Krieg, Bündnis, Getreidemangel) bewältigen oder einen einzelnen ehren, unterstützen oder auch strafen, sondern immer

geltende Normen als Teil der allgemeinen Lebensordnung aller aufstellen wol-

len. Obwohl die Athener selbstverständlich den Unterschied gesehen haben und im allgemeinen für den generellen Beschluß den Begriff nömos, für den situationsbedingten psephisma (das heißt „durch Abstimmung herbeigeführter Beschluf$^) verwendeten, haben sie doch den Unterschied nicht so scharf hervor-

gehoben. Auf die Beschlüsse generellen Inhalts und auf das Geschworenenver-

fahren, das die Athener dafür nach dem Peloponnesischen Krieg entwickelt haben, soll im folgenden Abschnitt gesondert eingegangen werden. Der Überblick hat gezeigt, daß die Beschlußgegenstände deutliche Schwerpunkte haben, aber wir auch manches vermissen, was nach unserer Vorstellung in die besondere Kompetenz des „Souveräns“ fällt. Das ist nun nicht darin

begründet, daß das Volk bestimmte Zuständigkeiten nicht besessen oder im Laufe der Zeit verloren hátte, sondern hängt damit zusammen, welche politischen Ziele es verfolgt und wie es die Herrschaft seines Willens organisiert hat.

Was die Ziele anbelangt, so wird u. S. 315ff. darüber besonders gehandelt werden. Hier genügt die Feststellung, daß die Außen- und Militärpolitik im Zentrum steht, daneben es vor allem um die Ehrung und Belohnung von Bürgern,

Metóken und Auswärtigen, Beamten wie Privatpersonen, athenischen Behórden wie ausländischen Herrschern, geht, Beschlüsse zu wirtschaftlichen Fragen oder zur Erziehung selten sind oder ganz fehlen. Das Haupttätigkeitsfeld hier wie auch in anderen Bereichen, wie Kult, Finanz- und Bauwesen, betrifft also die

unmittelbar sich aus dem Gang der politischen Ereignisse ergebende aktuelle Situation: Die athenischen Volksbeschlüsse sind deutlich der jeweiligen Situation verhaftet, ihre Beschlußtätigkeit durch sie charakterisiert. Das soll nicht heißen, daß das Volk keine normativen Beschlüsse gefaßt hätte oder gar dafür nicht zustándig gewesen wäre. Wir besitzen etliche Dekrete zu Fragen des Kultes, der Finanzen und anderer Bereiche, die Normen setzen, und ebenso sind

natürlich die Gesetze, welche die demokratischen Institutionen und die Regeln, nach denen sie ablaufen, einrichteten - etwa die Gesetze nach dem Umbruch

von 462/61, nach der Beseitigung der Oligarchie im Jahre 411 oder nach dem Zusammenbruch von 404/03 sowie die nicht wenigen Gesetze aus dem 4. Jahr-

hundert, welche die Organisation der Volksversammlung selbst betrafen - normativen Inhalts. Aber das Volk, das die Herrschaft hat, muß gerade um der

Erhaltung dieser Herrschaft willen mit der Zahl und dem Umfang seiner Beschlüsse haushalten. Es kann nicht, wie der Monarch, täglich unbeschränkt

befehlen, sondern muß gerade dann, wenn möglichst viele Bürger an möglichst vielen Versammlungen teilnehmen sollen, die Gegenstánde auf die Notwendig-

keit eines Volksbeschlusses hin sorgfältig prüfen. Der Gegenstand der Volksbeschlüsse und deren Zahl ist also auch durch den Zwang bestimmt, die Volksver-

sammlung funktionsfähig zu erhalten. Noch nicht seit den Anfángen der De-

VI. Die politischen Organisationsformen: Nomothesie

183

mokratie, aber dann mit der durch die Erfahrung gewonnenen Sensibilität für dieses Problem, für uns erkennbar seit dem späten 5. Jahrhundert, wird daher die Tendenz stárker, die anfallenden normativen Entscheidungen entweder durch Festlegung eines ein für allemal geltenden Ablaufs sich selbst zu überlassen und den Eingriff auf die notwendige Korrektur des Mechanismus zu beschränken, wie es beim Finanzwesen geschehen ist, oder sie auf Gremien zu

übertragen, die ihrem personellen Umfang nach einen Eindruck von der Prásenz des ganzen Volkes vermitteln kónnen und in denen gleichzeitig eine gegenüber dem Verfahren in der Volksversammlung bessere Kontrolle gewährleistet ist, wie wir es an dem gleich zu behandelnden Verfahren für die normative Gesetzgebung im 4. Jahrhundert sehen werden. Bei alledem bleibt selbstverstándlich der Volksversammlung die Verfahrensherrschaft erhalten und kann sie also zu jeder Zeit die betreffenden Agenda an sich ziehen. Aber indem sie es nicht tut, entlastet sie sich und macht sich frei für die Entscheidung der laufenden Gescháfte, die sie keiner anderen Behörde, etwa einem mit großer Vollmacht ausgerüsteten Magistrat, ohne Verlust ihrer Souveránitát überlassen kann, unter

ihnen vor allem diejenigen über äußere und militärische Angelegenheiten sowie über Belohnungen und Bestrafungen von Personen, insbesondere von Bürgern. Denn die Auftenpolitik ist das erste Ziel aller demokratischen Politik in Athen,

und die Ehrungen und Bestrafungen sind das unentbehrliche Korrektiv für die mangelnde Fähigkeit des Volkes, als Ganzes, d. h. als Volksversammlung, präsent zu sein: Sie demonstrieren die Allgewalt des Volkes bei allen Geschäften, bedeuten Kontrolle in einem Gemeinwesen, das zu direkter Kontrolle wegen des mangelnden bürokratischen Apparates weitgehend unfähig ist.

2. Das Gesetzgebungsverfahren des 4. Jahrhunderts (Nomothesie) Der Nomos bzw. die Nomoi als die Summe der gesamten sozialen und politischen Lebensordnung erschienen in ältester Zeit dem Zugriff menschlicher Satzung entzogen. Als die Krise der Adelswelt im 7. und 6. Jahrhundert das Bedürfnis nach Korrektur übermächtig werden ließ, wurde die Reform der

Ordnung Schiedsrichtern anvertraut, die als über der Stadt und ihren Organen stehend gedacht waren. In Athen hatte Solon diese Aufgabe übernommen (594 v. Chr.). Da er in besonders umfassender Weise die geltende Ordnung reformiert, ja ganz neue Bereiche menschlichen Lebens unter die als Satzung bewußte staatliche Ordnung gezogen hatte, erhielten die Athener durch ihn wohl stärker als die Bewohner anderer Stádte eine Vorstellung von der Verfügbarkeit der Ordnung. Die Umformung und Erweiterung des staatlichen Bereichs durch die peisistratidische Tyrannis und die nach deren Sturz einsetzenden Bemühungen um eine Erneuerung und Stärkung der bürgerlichen Gemeinschaft haben das Gefühl von der Machbarkeit der menschlichen Lebensverháltnisse ohne Zweifel weiter gestärkt. In dieser Zeit hat die Volksversammlung als das oberste Organ des politischen Willens gewiß ohne Reflexion auf die Problematik, die in der Verfügungsgewalt über die eigene Ordnung liegt, die großen Gesetze, die zur Demokratie führten, beschlossen, wie z. B. das Gesetz über die Einrichtung

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

des Ostrakismos (Ende des 6. oder Anfang des 5. Jahrhunderts), das über die Losung des Archontats aus Vorgewählten (487/86) und das über das Rechenschaftsverfahren der Beamten (462/61). Obwohl zwischen dem Nomos als dem

allgemeinen, auf Dauer geltenden Gebot oder Verbot und dem situationsbedingten Beschluß durchaus unterschieden wurde, gab es keine getrennten Entscheidungsverfahren; vielmehr wurde über eine Änderung oder Erweiterung des Nomos wie über jeden anderen Antrag durch Mehrheitsbeschluß in der Volksver-

sammlung abgestimmt. Wie es scheint, hat man dabei zwischen den Begriffen nómos und psephisma faktisch kaum unterschieden, bei der Wahl von pséphisma für den Volksbeschluß wohl eher an die Abstimmungsform durch Stimmstein (pséphos; die andere Form bestand im Handaufheben, cheirotonia) als an einen Unterschied von generellem und situationsbedingtem Beschluß gedacht. In der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts modifizierten die Athener das Verfahren für die Volksbeschlüsse insoweit, als sie sich für die allgemeine Gesetzgebung der Hilfe von „Aufzeichner“ (syngrapheis) genannten Mánnern bedienten, die einzeln oder als Mitglieder einer Kommission von der Volksversammlung mit der Vorlage eines Gesetzes über eine bestimmte Angelegenheit betraut wurden und nach Beratung ihren Entwurf über den Rat an die Volksversammlung leiteten. Mit der Einsetzung dieser Zwischeninstanz war dem Gesetzgebungsverfahren eine erhóhte Aufmerksamkeit geschenkt. Es sind unseres Wissens jedoch weder alle normativen Beschlüsse in dieser Weise behandelt worden, noch beschränkte sich dieses Verfahren auf sie; es wurden offensicht-

lich auch Gegenstände aktueller Art durch Syngrapheis erledigt. Eine Voraussetzung für die scharfe Trennung des Gesetzgebungsverfahrens von der Beschlußfassung über situationsbedingte Gegenstánde brachten erst die innenpolitischen Krisen von 411/10 und 404/03, in denen die Demokratie für jeweils kurze Zeit aufgehoben und durch ein oligarchisches System ersetzt worden war. Die Athener empfanden die Situation nach den Umbrüchen von 411 und 404 offensichtlich als einen neuen Anfang, bei dem sie sich nach den inneren Wirren der vorangegangenen Jahre ihrer eigenen Ordnung fórmlich versichern wollten und dabei in stárkerem Maße als früher alles, was zu dieser gehörte, als zusammengehôrig betrachteten. Mit der Notwendigkeit der Wiederaufrichtung der Demokratie wurde vor allem das Bewußtsein von dem höheren Wert der normativen Gesetze geschärft und erwachte das Bedürfnis, die normative Satzung in einer großen Sammlung schriftlich zu fixieren. Nun besaßen die Athener in den Gesetzen Drakons und Solons bereits solche Sammlungen, die in ihrer Vorstellung das normative Recht auch weitgehend abdeckten. Es ging daher zunächst einmal darum, diese Gesetze, die zweihundert Jahre und mehr alt waren, zu

korrigieren und zu ergänzen; manche, die in Abusus gekommen oder gänzlich durch neue ersetzt worden waren, mußten auch gestrichen werden. Die Erneuerung der alten Gesetze brachte ohne Zweifel auch die Frage auf, wieweit Gesetze, die im späten 6. und im 5. Jahrhundert von der Volksversammlung beschlossen worden waren, hinzuzufügen seien; manche von ihnen mochten eng mit der Thematik solonischer Gesetze zusammenhängen. Vor allem hatte sich sehr vieles in der Gerichtsverfassung geändert, zahlreiche Beamtenstellen waren dazugekommen und die seit alters bestehenden nach Form und Kompetenz verän-

VI. Die politischen Organisationsformen: Nomothesie

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dert worden. Wieweit die Gesetze, die sich nicht ohne weiteres auf Drakon oder

Solon zurückführen ließen, bei dieser Sammlung berücksichtigt werden sollten, ist umstritten; doch haben sie nicht gefehlt, wie uns denn ein Bruchstück über

den Rat erhalten ist und überhaupt bei dem engen Zusammenhang von materiellem und prozessualem Recht diese Sammlung ohne Berücksichtigung der verän-

derten Gerichtsstrukturen gar nicht vorstellbar ist. Man begann jedenfalls gleich nach der Beseitigung der Oligarchie im Jahre 410, eine Kommission von Aufzeichnern der Gesetze (anagrapbeís tôn nómón) einzurichten. Wie es bei einem solchen Vorhaben, das kein Beispiel hatte, nicht anders sein konnte, begann man

nicht mit einem umfassenden Plan. Man scheint sich zunächst darauf beschränkt zu haben, die Gesetze Solons, soweit sie noch Gültigkeit hatten, aufzu-

schreiben. Für solonisch galten indessen nicht nur die Gesetze Solons selbst, sondern offensichtlich alle, die schriftlich fixiert waren, wie denn Andokides im

Jahre 399 das von Demophantos 410 beantragte Gesetz zum Schutz der Demokratie als solonisch bezeichnet. Mafistab für die Erfassung war auf jeden Fall die Schnftlichkeit, und damit war dann allerdings die Arbeit der Kommission latent

auf alle schriftlich fixierten normativen Gesetze erstreckt worden und mußte einen Umfang erreichen, über den man sich zu Beginn des Unternehmens wohl noch nicht ganz klar gewesen war. Auf jeden Fall scheint die Kommission entweder gleich zu Beginn oder doch kurz darauf auf die Publikation auch des Mordgesetzes Drakons, das heißt auf das von Drakon ausgehende und seitdem

korrigierte und ergänzte Mordgesetz, hingewiesen worden zu sein. Die für gültig erachteten Gesetze sollten an der Wand des Amtslokals des für religiöse Angelegenheiten zuständigen Basileus, der „Königshalle“ (Stoa Basileios) in der

Nordwestecke der Agora, verôffentlicht werden. Uns sind von der Arbeit dieser Kommission ein großes Bruchstück über das drakontische Mordgesetz und einige Bruchstücke über die Zustándigkeiten des Rates der Fünfhundert erhalten. Großen Einfluß hatte in dieser Kommission ein Nikomachos, aber trotz

emsiger Tätigkeit ist die Kommission insbesondere mit der Aufzeichnung der solonischen Gesetze bis zu dem erneuten Umsturz im Jahre 404 nicht fertig geworden. Nach der Beseitigung der Tyrannis der Dreißig und der Wiederaufrichtung der Demokratie im Jahre 403 wurden die Arbeiten jedoch sogleich

weitergeführt. Die Grundlage für die Weiterarbeit bildete ein von Teisamenos beantragter Volksbeschluß, nach dem festgelegt wurde, daß die Athener die

Gesetze Drakons und Solons anwenden und zwei große Kommissionen von je 500 „Gesetzgebern“ (nomothetai) gebildet werden sollten, von denen die eine

von dem Rat der Fünfhundert gewählt und mit der Aufzeichnung der Gesetze beauftragt wurde, die andere, welche die Demoten und Phylen wáhlten, zusam-

men mit dem Rat die von der ersten Kommission übergebenen Gesetze prüfen sollte. In Zukunft sollte über die so aufgezeichneten, geprüften und an der Wand der Stoa Basileios bzw. auf Stelen veröffentlichten Gesetze der Areopag wachen. Dem Konvolut von Gesetzen wurde noch eine Liste aller von Staats wegen zu

vollziehenden Opfer und ein Opferkalender beigefügt, wofür insbesondere wieder Nikomachos sich verantwortlich zeigte. Das so aufgezeichnete normative Recht war selbstverständlich kein Rechtsko-

dex im modernen Sinne. Es fehlte vor allem jede im modernen (bzw. rómischen)

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Sinne juristische Durchdringung der Materie und jeder Ansatz zu dem Willen, die geprüften Gesetze in einem qualitativen Sinne verändern, etwa eine „neue Ordnung“ schaffen zu wollen. Woher hätten denn auch die für ein solches Unternehmen notwendigen Grundentscheidungen und Direktiven kommen sollen? Es ging hier nicht um die Reform des Rechts, sondern um die Restauration des Vorhandenen, um die Sammlung von Gesetzen, ın der Vorstellung der Athener um die Wiederaufzeichnung der Gesetze ihrer großen Gesetzgeber

Drakon und Solon. Das sind sie bei aller Korrektur und Ergänzung für die Athener auch immer geblieben, insofern eben alles normative Recht mit ihnen ein für allemal verbunden blieb. Das Neue daran lag nicht in einer qualitativen Veránderung des Vorhandenen, sondern eben gerade in der Sammlung selbst, aber damit war gegenüber dem früheren Zustand doch dreierlei erreicht. Zum einen war das Bewußtsein von der Normativität menschlicher Satzung und also von dem Unterschied zwischen einem normativen und einem nur situationsbedingten Beschluß geschärft worden. Das fand dann auch darin seinen Niederschlag, daß künftig in formeller Weise zwischen dem normativen Beschluß, für den der Begriff nómos reserviert blieb, und dem nicht auf Dauer geltenden, der

jeweiligen Situation verhafteten Beschluß, für den man den Begriff pséphisma verwendete, scharf unterschieden und gleichzeitig der nómos über das pséphisma gesetzt wurde. Der nómos wurde dabei zusätzlich in doppelter Weise bestimmt: Er war das geschriebene, das heißt in der Sammlung der aufgezeichneten Gesetze enthaltene Gesetz, von dem das ungeschriebene Gesetz (dgraphos nómos), das heißt die nicht in der Sammlung befindliche, nur als Gewohnheit existierende, zwar nicht ungültige, aber für die Urteilsfindung ausdrücklich disqualifi-

zierte Norm, deutlich abgegrenzt war. Und es war das allgemeine, für alle geltende Gesetz, das von dem nur für den einzelnen Mann geltenden insoweit getrennt wurde, als das letztere lediglich mit einem Quorum von 6 000 Bürgern und in geheimer Abstimmung Gültigkeit erlangen konnte. Der Gesetzesbegriff war auf diese Weise klar definiert. Zum anderen war durch die Sammlung und Aufzeichnung eine gewisse Ordnung in die Masse der Gesetze gebracht worden. Das Ordnungsprinzip lieferten dabei keine durch Abstraktion gewonnenen Bereiche des Rechts, wie Strafrecht, Privatrecht usw. Solche Einteilungen blie-

ben den Athenern immer fremd. Sie gliederten die Materie vielmehr nach den Behórden, welche die jeweilige Sache, z. B. die Anklage wegen Mord oder wegen Erbangelegenheiten, einzuleiten hatte. Bei der jáhrlichen Überprüfung der Gesetze, von der gleich die Rede sein wird, wurden denn auch die Gesetze

nach vier großen Gruppen durchgegangen, nämlich den Gesetzen, die den Rat betrafen, den allgemeinen Gesetzen, den Gesetzen, welche die neun Archonten,

und denjenigen, welche die übrigen Beamten betrafen. Schließlich war die Sammlung der Gesetze nun nicht mehr nur auf die Bereiche beschränkt, die wir heute als Privat- und Kriminalrecht bezeichnen, sondern umfaßte auch den

Aufbau der óffentlichen Institutionen und die Regeln, nach denen diese arbeiteten. Das óffentliche Recht, das in den Gesetzen Drakons und Solons nicht

enthalten gewesen zu sein scheint, wurde nun konstitutiver Teil der als normativ bewußt gewordenen Gesetzesmasse. Es war ein junger Teil des Gesetzesrechts und bestand so gut wie ausschließlich aus Normen, die erst in demo-

VI. Die politischen Organisationsformen: Nomothesie

187

kratischer Zeit geschaffen worden waren. Es bildete als öffentliches Recht dabei selbstverständlich kein geschlossenes Ganzes, war nicht als „Verfassung“ be-

wußt und schon gar nicht gegenüber dem übrigen Recht herausgehoben. Zwar wußten die Athener zu jeder Zeit nach 462/61, was die Demokratie bedeutete und welche Institutionen und Normen für sie unverzichtbar waren. Aber das,

was wır als demokratische Verfassung bezeichnen könnten, lag in den zahlreichen Gesetzen verstreut und stand dort ungeschieden neben Privatrecht, Strafrecht und Verfahrensrecht. Neben der Sammlung, Aufzeichnung und Überprüfung der im Jahre 404/03

vorhandenen normativen Gesetze wurde für den Beschluß neuer oder der Abänderung bereits bestehender Gesetze ein neues Gesetzgebungsverfahren eingerichtet. Es ging davon aus, daß der Bürger für die Änderung bzw. Ergänzung der Gesetze selbst die Initiative ergriff. Da dies offensichtlich nicht immer vorausgesetzt werden konnte, wurde er auf das Problem direkt angesprochen. Das geschah einmal dadurch, daß der Volksversammlung in der ersten Versammlung eines jeden Jahres, am 11. Hekatombaiön (etwa Ende Juli), die

Frage vorgelegt wurde, ob die bestehenden Gesetze genügten oder nicht, und danach die einzelnen Gruppen von Gesetzen, also alle, die sich auf den Rat, alle,

die sich auf die Archonten bezogen usw., nacheinander aufgerufen wurden (epicheirotonta tôn nómón, d. h. „Abstimmung über die Gesetze‘). War die Frage für ein oder mehrere Gesetze mehrheitlich verneint worden, wurde sofort der

Rat angewiesen, für die 4. ordentliche Versammlung derselben Prytanie ein Probuleuma über die Einsetzung von „Gesetzgebern“ (Nomotheten) einzubrin-

gen. Die jährliche Epicheirotonie der Gesetze wurde dann noch ergänzt durch ein Gesetz, das jedem Bürger gestattete, zu jeder Zeit, also nicht nur bei der

fórmlichen Epicheirotonie, ein bestehendes Gesetz durch die Vorlage eines anderen zu ändern. Auch dieser, von der alleinigen Initiative des Bürgers getragene Antrag auf die Änderung eines Gesetzes sollte nach dem neuen Gesetzgebungsverfahren vor die Nomotheten gebracht und dort entschieden werden. Darüber hinaus waren z. Zt. des Aischines, also in der Mitte des 4. Jahrhunderts,

die Thesmotheten gesetzlich verpflichtet, sich insoweit um die Gesetze zu kümmern, als sie darauf zu achten hatten, ob ein Gesetz einem anderen widersprach,

ob sich unter den Gesetzen ein ungültiges befand oder ob über dieselbe Sache es

mehr als ein Gesetz gab. Hatten sie solche Unzulänglichkeiten entdeckt bzw. waren sie von anderen darauf aufmerksam gemacht worden, hatten auch sie zur Abstellung der Mängel für die Einsetzung einer Nomotheten-Kommission zu sorgen. Die drei genannten Möglichkeiten einer Gesetzesänderung sind durch

die jeweils anders geartete Initiative unterschieden: Im ersten Fall ergreift der Bürger innerhalb der Volksversammlung und nach fórmlicher Aufforderung

dazu die Initiative, im zweiten Fall ebenfalls der Bürger, aber unabhängig von dem fórmlichen Verfahren in der Volksversammlung, und im letzten Fall sind Beamte (Thesmotheten) die Initiatoren. Das dann folgende Gesetzgebungsver-

fahren ist aber immer das gleiche. War die Einsetzung von Nomotheten zur Abánderung eines Gesetzes beschlossen worden, setzte das Volk 501, 1 001 oder auch mehr Bürger aus der Liste der Geschworenen und unter Leitung von Prohedroi als „Gesetzgeber“

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

(nomothetai) ein, wählte gleichzeitig mehrere Anwälte als Verteidiger der Gesetze (syndikoi, synégoroi) und ließ dann diese Kommissionen bzw. Gerichte in einem fórmlichen Verfahren, in dem die Antragsteller auf Ánderung eines Gesetzes als Ankläger und die vom Volk gewählten Anwälte als Verteidiger auftraten, über das zur Debatte stehende Gesetz abstimmen. Es wurde zuerst über die

alte, dann über die beantragte neue Fassung abgestimmt, und zwar durch Handaufheben, also in offener Abstimmung. Es entschied die absolute Mehrheit. Der Beschluß der Nomotheten hatte Gesetzeskraft, bedurfte also nicht der Bestäti-

gung durch die Volksversammlung. Das neue Gesetzgebungsverfahren, die Nomothesie, hat die Volksversammlung als ein gesetzgebendes Organ gewiß nicht ersetzt; vor allem neue Gesetze dürften weiterhin vor sie gebracht und von ihr entschieden worden sein. Auf jeden Fall hat das Volk nicht die Verfahrensherrschaft über die normativen Gesetze verloren. Das zeigte sich nicht nur

darin, daf$ die Volksversammlung die Nomotheten-Kommissionen einsetzte, sondern ergibt sich vor allem auch aus dem Charakter dieses Gesetzgebungsverfahrens selbst. Es war überhaupt nicht für gänzlich neuartige Gesetzesmaterien, sondern nur für die Korrektur bereits bestehender Gesetze eingerichtet worden, und als ein neues Gesetz der Nomotheten war das zu bezeichnen, was eine

alte gesetzliche Materie ganz oder weitgehend änderte. Daher war auch der Antrag auf Abänderung eines Gesetzes stets mit der Verpflichtung verbunden, für den abzuschaffenden einen neuen Wortlaut vorzuschlagen. Wenn ich hier einen Unterschied zwischen neuartigen und schon bestehenden Gesetzesmaterien mache, ist das indessen zu relativieren. Die Athener scheinen davon ausgegangen zu sein, daß in den bestehenden Gesetzen die gesamte private und ôffentliche Lebensordnung enthalten war und es in einem Gesetzgebungsverfahren darum immer nur um Korrektur gehen konnte. Insofern ist die Nomothesie auch nicht ein Gesetzgebungsverfahren, neben dem ein anderes, eben das der Volksversammlung für neuartige Materien, steht, sondern es ist das Gesetzgebungsverfahren schlechthin. Es liegt indessen in der Natur der Sache, daß bei der Notwendigkeit der Regelung von Verháltnissen, die in bestehenden Geset-

zen keinen Niederschlag gefunden hatten und darum auch nicht geändert werden konnten, die Volksversammlung zu entscheiden hatte. Insofern jedes neue Volksgesetz aber bei der nächsten ersten Versammlung des Amtsjahres zu der gegebenen Ordnung gehórte, war es auch sofort dem Nomothesie- Verfahren

unterworfen. Die von den Nomotheten beschlossenen Gesetzesánderungen wurden übrigens nicht mehr alle an der Wand der Stoa Basileios, sondern auf Einzelstelen veróffentlicht bzw. dann, wenn die inschriftliche Publikation nicht

vorgesehen war, auf Papyrus geschrieben und im Archiv, dem Metroion, verwahrt. Im Nomothesie-Verfahren zeigt sich das Bedürfnis der Athener nach einer starken Absicherung der allgemeinen politischen und sozialen Lebensordnung. Die unaufhörliche Überprüfung hatte nicht den Sinn, immer zu ändern und zu

reformieren, sondern wollte gerade umgekehrt das Gegebene im Bewußtsein der Masse ständig neu verankern und es durch ein fórmliches Verfahren, das wie

ein Gerichtsverfahren ablief, vor dem Zugriff durch politisch Unzuverlässige oder durch Emotionen der Masse in der Volksversammlung schützen. Die No-

VI. Die politischen Organisationsformen: Nomothesie

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mothesie ist daher als eine Institution aufzufassen, welche die gegebene Ordnung bewahren möchte. Aber sie legt gleichzeitig doch auch Zeugnis davon ab, daß die Gesamtordnung - bei Wahrung ihres politischen Grundgedankens - als verfügbar gedacht wurde. Die Praxis zeigt, daß die Athener von der Möglich-

keit, über ihre Ordnung zu verfügen, tatsächlich aber kaum Gebrauch machten, und wenn doch, dann nur ganz selten für Fälle, welche die politische Ordnung

im engeren Sinne tangierten, wie es z. B. bei dem von Demosthenes initiierten Gesetz über die Zuständigkeit des Areopags für die Aburteilung von kapitalen Verbrechen (338/37) der Fall war. Mehreren Hundert uns inschriftlich überlieferten Volksbeschlüssen aus der Zeit von 403/02 bis zum Ende der Demokratie

im Jahre 322 stehen nur sieben nómoi der Nomotheten gegenüber. Die Zahl spricht für sich. Die Nomothesie zeigt noch ein Weiteres: Die Athener haben offensichtlich die Übertragung des Gesetzgebungsverfahrens von der Volksversammlung auf eine Nomotheten-Kommission von 501 oder mehr Personen für unbedenklich gehalten. Sie dürften für die Wahl des neuen Verfahrens an die Entlastung der Volksversammlung gedacht haben, und in der Tat haben in den gut hundert Jahren seit Kleisthenes die normativen Volksgesetze zahlenmäßig zugenommen. Aber insofern man die normative Ordnung als weitgehend festgelegt ansah, sie nur noch korrigieren zu müssen glaubte und auch tatsáchlich, wie dargelegt

wurde, nur relativ wenige nómoi die Nomotheten-Kommission passiert haben, dürfte der tiefere Grund für das neue Verfahren und seine Beibehaltung vor allem darin zu suchen sein, daß es mit seinen verschiedenen Stufen (Antrag vor der Volksversammlung - Veróffentlichung des Antrags - Probuleuma des Rates - Beschluß der Volksversammlung auf Niedersetzung einer Nomotheten-Kommission - Verhandlung in der Nomotheten-Kommission) und der prozeßförmigen Behandlung des Antrags bei den Nomotheten eine gróftere Rechtssicherheit bot, als es die oft von Stimmungen abhängige Volksversammlung hätte gewährleisten kónnen. Auch das hóhere Alter der Nomotheten, die ja aus den Ge-

schworenen und damit aus den über 30 Jahre alten Bürgern bestimmt wurden, mochte das Gefühl einer hóchstmóglichen Sicherheit in diesem Verfahren gestárkt haben. War das Verfahren vielleicht ursprünglich einmal nur für die Sammlung und Überprüfung der überlieferten normativen Gesetze nach 410

und dann wieder nach 403 gedacht gewesen - eine Aufgabe, welche die Volksversammlung unter keinen Umständen hátte übernehmen kónnen -, hatten die

guten Erfahrungen damit zu seiner Übernahme auch für alle künftigen Korrek-

turen der bestehenden Gesetze geführt. Was immer der Grund war: Man sah in der Einrichtung der Nomothesie keine „Entmachtung des Souveräns“; der Beschluf$ der Nomotheten war im Prinzip eine andere Form des Volksbeschlusses. Daß er als Volksbeschluß - und nicht etwa als Gerichtsurteil - angesehen wurde, kann man schon daran erkennen, daß über ihn in offener Abstimmung entschieden wurde und der Beschluß, anders als das Gerichtsurteil, durch eine

besondere óffentliche Klage, welche die beschlossene Anderung als für das Volk unzweckmäßig, schädlich oder im Widerspruch zu anderen Gesetzen stehend hinstellte, angefochten werden konnte: Wie gegen den Volksbeschluf die Klage wegen Verfassungswidrigkeit, so konnte gegen den Nomotheten-Beschluß die

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Klage wegen Unzweckmäßigkeit erhoben und er, bei erfolgreicher Klage, aufgehoben werden. Der Nomotheten-Beschluß war also der Form nach zwar kein Volksbeschluß, diesem aber der Sache nach gleichzusetzen. Unser von scharf definierten Begriffen und Institutionen geprägter Sinn kann das nur schwer begreifen, und es wird den modernen Menschen noch mehr verwirren, wenn er sieht, daß die Nomotheten im 4. Jahrhundert nicht nur über generelle Normen, sondern auch über situationsbedingte Sachfragen, wie z. B. über Maßnahmen zur Beseitigung falscher bzw. minderwertiger Münzen oder die Ergänzung von Kultgerät entschieden haben und folglich die entsprechenden Beschlüsse nómo:i

waren wie die allgemeinen privatrechtlichen und öffentlichrechtlichen Normen auch. An dieser nach unserem Gefühl etwas laxen Auffassung von der verfassungspolitischen Bedeutung einer angemessenen Verteilung von Sachkompetenz, wonach manche Gegensstände nicht-genereller Art auch von den Nomotheten entschieden werden konnten, kann man zum einen ablesen, daß die

Athener die Nomotheten als das Volk in einem anderen Aggregatzustand ansahen, sie jedenfalls keinen qualitativen (wenn auch selbstverstándlich institutionellen) Unterschied zwischen ihnen und der Volksversammlung machten. Zum

anderen haben sie den Rang von Sachfragen nicht so starr wie wir nach generellen und situationsbedingten Gegenstánden abgestuft. Der Rang einer Sache ergab sich oft erst aus der Situation; man dachte im ganzen pragmatischer und vermied es, die Erledigung von Sachfragen in den starren Rahmen eines begrifflichen Systems einzuzwángen.

3. Der Rat (boulé) Der Rat ist diejenige Behörde, welche die Volksversammlung, und das heißt den Souverän, funktionsfähig machen soll: Der Volksbeschluß bedarf der Initiative des Rates. Neben dieser wichtigsten Aufgabe des Vermittlers zwischen dem

Souverán und den mannigfaltigen Gegenstánden der Politik beaufsichtigt und kontrolliert der Rat die zahlreichen Beamten. Für eine ganze Reihe von Aufga-

ben ist er auch selbst zuständig und entscheidet über die dabei zu treffenden Mafinahmen in eigener Verantwortung. Obwohl der Rat trotz dieser selbständigen Aufgaben eine dienende Behórde ist, kann er - zwar nicht von seiner

politischen Bedeutung, aber - von dem organisatorischen Aufbau der demokratischen Staatsordnung her als das Zentrum des Staates angesehen werden. Denn

anders als die Volksversammlung und die Geschworenengerichte, die nur für den bestimmten Fall einer Entscheidungsfindung zusammentreten, ist er eine ständig tagende Behörde und diejenige Instanz, die bei allen Fragen von öffentlichem Interesse von den Beamten, den Privatleuten und Fremden angegangen wird. Die demokratische Willensbildung wird - außer für die meisten Gerichts-

sitzungen - von ihm eingeleitet und koordiniert. In seiner Eigenschaft als Vermittler zwischen dem Volk einerseits und den Bürgern und Auswärtigen ande-

rerseits sowie als Aufsichtsorgan über die Beamtenschaft vertritt er die Regierung bzw. das, was die Demokratie von ihr übriggelassen hat. Daher führt sein

jeweiliger, täglich wechselnder Vorsitzender auch das Staatssiegel und die

VI. Die politischen Organisationsformen: Rat

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Schlüssel für die Gebäude und Tempel, in denen das Archiv und die Kasse der Stadt aufbewahrt werden. Areopag (Äreios págos) und Rat der Fünfhundert (boulé) In klassischer Zeit wird unter dem Rat schlechthin (bos/e) immer die aus 500

Mitgliedern bestehende (deswegen bisweilen auch „die Fünfhundert“ genannte) und aus Personen aller Bezirke Attikas gleichmäßig zusammengesetzte Behörde verstanden. Dieser Rat ist erst zusammen mit der Phylenreform des Kleisthenes kurz vor 500 v. Chr. ins Leben getreten (s.o. S. 37ff.). Vielleicht hat er in einem Rat von 400 Personen, den Solon geschaffen haben soll, einen Vorläufer gehabt;

doch hätte ein solcher Rat neben einer ganz anderen Zusammensetzung auch völlig andere Aufgaben besessen (s.o. 5. 24). Die Entwicklung des Rates der Fünfhundert von Kleisthenes bis zur Mitte des 5. Jahrhunderts, in der der Rat schon schärfer vor uns steht, können wir nicht überschauen. Es spricht manches für die Annahme, daß zumindest die Prytanenverfassung des Rates und die Losung der Ratsmitglieder erst in die Zeit nach 462/461 gehören, als der Rat durch Ephialtes neue Aufgaben erhalten hatte. Neben dem Rat der Fünfhundert blieb der alte Rat aus der Adelszeit weiter bestehen, der deswegen, weil er für seine Gerichtssitzungen auf dem AreopagHügel westlich der Akropolis tagte, „der Rat vom Areopag“, kurz Areopag, hieß. Er war längst kein Adelsrat mehr, sondern eine Versammlung der gewesenen Archonten, zu denen zunächst nur die höchste Schätzungsklasse, bis zur

Mitte des 5. Jahrhunderts alle Bürger mit Hoplitenzensus und schließlich alle Athener gelost werden konnten. Mit seiner Entmachtung im Jahre 462/61 (s.o. S. 44f.) verlor der Areopag an politischer Bedeutung, genoß aber sowohl wegen seines Alters als auch deswegen, weil ihm ein Teil der Gerichtsbarkeit

über kriminelle Delikttatbestánde, auf die die Todesstrafe stand, gelassen worden war, hohes Ansehen. Er urteilte über Mord, insbesondere Giftmord, ferner

über Kôrperverletzung mit Tótungsabsicht und gefáhrliche Brandstiftung. Daneben waren ihm manche sakrale Obliegenheiten, wie die Sorge um die heiligen

Ölbäume, geblieben. Der Areopag versammelte sich unter Vorsitz des Archon Basileus zur Gerichtssitzung auf dem Areopag-Hügel; für die Erledigung seiner sonstigen Aufgaben tagte er im Amtslokal des Archon Basileus, in der „Königs-

halle“ an der Nordwestecke der Agora. Zusammensetzung des Rates; Ort und Zeit der Sitzungen Der Rat setzte sich aus je 50 Angehórigen der zehn Phylen zusammen. Da jede

Phyle aus drei landschaftlich verschiedenen Bezirken, den Trittyen, bestand und jeder Trittys wiederum eine Anzahl von Demen mit insgesamt etwa gleicher Bevölkerungszahl zugewiesen war (zum System s.o. S. 155ff.), repräsentierten die 500 Ratsmitglieder alle Wohngebiete Attikas im Verhältnis zu der Dichte der

Bevölkerung. Er war die einzige Behörde, in der nicht nur die zehn Phylen, sondern auch alle Demen im Verhältnis zu ihrer Größe vertreten waren; auch

dies ein Zeichen seiner besonderen Bedeutung. Da spáter viele Athener den

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Wohnsitz ohne Aufgabe ihres alten Demos wechselten, verschob sich das ursprünglich gewiß ziemlich richtige Verhältnis zugunsten oder zuungunsten dieses oder jenes Demos, doch ging niemals die hinter dem System stehende Absicht nach einer möglichst genauen Repräsentation aller Teile Attikas verloren. Der Bezug des Rates auf die Phylenreform hatte weiterhin zur Folge, daß es im Rat keine Interessengruppen bestimmter Bevölkerungskreise gab, sondern die Idee seiner Zusammensetzung ın dem demokratischen Ideal der Gleichheit lag, das die soziale und ökonomische Ungleichheit der Athener zugunsten des

rein politischen Aspekts außer acht ließ. Diese Idee wurde ferner dadurch weiter abgesichert, daß alle Ratsmitglieder aus den Kandidaten, die sich meldeten, erlost wurden. Zur Losung durften sich nur Bürger melden, die das 30.

Lebensjahr vollendet hatten. Die Losung wurde unter der Leitung der Thesmotheten im Theseus-Heiligtum (Theseion) am Markt durchgeführt. Der erloste

Ratsherr hatte vor Amtsantritt einen Eid abzulegen, dessen Wortlaut in seinem

Kern auf die kleisthenische Zeit zurückging. Das Ideal eines aus Gleichen und aus allen Bezirken gleichmäßig zusammengesetzten Rates wurde durch die politische Wirklichkeit relativiert. Es gab keinen Zwang zum Dienst im Rat, und da die Ratstätigkeit zeitraubend war -der Rat tagte beinahe täglich -, scheuten alle das Amt, die durch ihre Arbeit festgehalten und selbst durch Zahlung eines guten Tagegeldes nicht ohne grofien wirtschaftlichen Schaden über längere Zeit abkómmlich waren. Auch weit entfernt Wohnende wird die Ratstáugkeit nicht angezogen haben, ebenso nicht

die sehr Reichen, die als einfaches Ratsmitglied nicht viel EinfluR hatten. Es dürften wiederum vor allem die Bewohner Athens und seiner Umgebung, die

etwas vermógenden, besonders die aus dem Arbeitsprozeß ausgegliederten, also

die älteren Athener überrepräsentiert gewesen sein, aber auch die ármeren Bürger, für die der nicht geringe Tagessold Bedeutung haben mochte, nicht gefehlt haben. Im ganzen gesehen ist es wohl nicht immer leicht gewesen, stets eine so große Anzahl von Kandidaten zu haben, daß 500 Personen und weitere 500 als deren Ersatzmänner - denn auch die mußten gestellt werden - erlost werden konnten. Wenn auch, wie wir zufällig wissen, im Jahre 330 ein Jahrgang Epheben der Hoplitenklasse 500 Mann betrug und also im 30. Lebensjahr doch wohl

400 von ihnen für den Ratsdienst zur Verfügung gestanden haben, kamen diese nicht alle als Kandidaten in Frage; denn viele wollten gar nicht Ratsherr werden,

andere konnten wegen der Entfernungen oder aus arbeitstechnischen Gründen nicht kandidieren, selbst wenn sie es gewollt hätten. Manche mag auch die mit der Ratsmitgliedschaft verbundene starke Arbeitsbelastung (s.u.) von einer Kan-

didatur abgehalten haben. So mag denn eine nicht geringe Anzahl gerade auch aus der wenig vermógenden oder nichts besitzenden Gruppe der Theten gekommen sein. Die Rekrutierung von Ratsherren wurde weiter dadurch erschwert, daß selbst der Athener, der das Amt nicht scheute oder es sogar erstrebte, wegen des hohen Ansehens und der komplexen Zuständigkeiten des Rates es doch lieber erst in fortgeschrittenerem Alter übernahm, wie denn im 4. Jahrhundert das Durchschnittsalter derjenigen, die zum ersten Male Ratsherr waren, vierzig

Jahre betrug. Manche Demen werden ihre Not damit gehabt haben, die ihnen zustehende Anzahl von Ratsherrensitzen mit Kandidaten und Ersatzkandidaten

VI. Die politischen Organisationsformen: Rat

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für die Losung zu präsentieren, und sie werden ohne Zweifel zur Sicherung ihrer Präsentation Demengenossen, die sich zu drücken suchten, zur Kandidatur gedrängt haben. Nichtsdestoweniger konnten bisweilen nicht einmal so viele Demengenossen als Kandidaten zur Losung gemeldet werden, wie dem Demos Plätze zur Verfügung standen, ganz zu schweigen von den Ersatzkandidaten. Eine Erleichterung brachte die vielleicht nicht schon bei der Einrichtung des Rates, sondern erst nach einem offenbar gewordenen Kandidatenmangel einge-

führte Bestimmung, daß jeder Athener zweimal Ratsmitglied werden durfte. Nach Ausweis unserer allerdings dürftigen Zeugnisse kam die zweimalige Mitgliedschaft aber nur relativ selten vor: der Redner Demosthenes z. B. war zweimal Ratsmitglied. Damit aus der zweimaligen Mitgliedschaft kein gegenüber

den anderen Mitgliedern erhöhter politischer Einfluß erwuchs, durfte man nicht in aufeinanderfolgenden Jahren Ratsherr sein. Die starke Beanspruchung brachte es mit sich, daß jedenfalls in der Mitte des 4. Jahrhunderts der Besuch des Rates zeitweise recht flau war.

Jeder zum Ratsmitglied erloste Bürger mußte sich vor Antritt des Dienstes der Prüfung seiner Qualifikation (dokimasia) unterziehen, die der vorangehende Rat vornahm; seit dem 4. Jahrhundert konnte gegen das Urteil des Rates bei einem Geschworenengericht Berufung eingelegt werden. Bei den Prüfungen wurde neben den gesetzlichen Voraussetzungen für die Mitgliedschaft im Rat, wie Bürgerstatus, Alter und Freiheit von jeglicher Staatsschuld, auch der allgemeine Lebens-

wandel untersucht; jeder Bürger konnte hier seine Bedenken geltend machen. Der Rat war eine Behörde (arché), das einzelne Ratsmitglied aber, obwohl es

den Myrtenkranz des Beamten und Priesters trug, deswegen nicht schon Beamter im strengen Sinne des Wortes. Denn der Ratsherr besaß keine für den Beamten typische Anordnungsbefugnis und entsprechende Verantwortlichkeit, sondern stimmte im Kollektiv ab und konnte folglich für Beschlüsse, denen er u.U. gar nicht zugestimmt hatte, auch nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Er war andererseits auch nicht einfach Privatmann. Seine Zwischenstellung zeigte sich u.a. bei der Diskussion über die Amtsführung des Rates, die anfangs noch der alte Rat selbst, seit der Mitte des 4. Jahrhunderts der neue Rat auf die Tagesordnung der Volksversammlung setzte. Die Debatte war keine Rechenschaft im eigentlichen Sinne; es wurde dem scheidenden Rat bei guter Amtsführung lediglich ein goldener Ehrenkranz überreicht. Der ın dieser Verhandlung liegende Charakter der Prüfung trat aber darin zutage, daß bei Versagung der Ehrung der ganze Rat vor dem Volk getadelt war und ferner in der Diskussion u.U. auch konkrete Vorwürfe gegen einzelne Ratsherren erhoben worden waren, die dann einem ordentlichen Rechenschaftsverfahren unterzogen werden

konnten. So ein Verfahren gegen ein Ratsmitglied erfolgte jedoch immer auf Grund einer bestimmten Handlung, nicht allein auf Grund der Mitgliedschaft im Rat. Soweit aber Ratsmitglieder während des Geschäftsjahres besondere Aufträge und damit Anordnungsbefugnis und individuelle Verantwortung er-

halten hatten, waren sie selbstverständlich automatisch rechenschaftspflichtig. Beim Rat zeigt sich besonders deutlich der fließende Übergang vom Beamtenzum Bürgerstatus; man konnte das Ratsmitglied als Beamten sehen, aber man konnte auch davon absehen.

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Die Agora gegen Ende des 4. Jh. v. Chr. (nach TRAVLOS, 259, S. 22) I. Zwólfgótter-Altar 2. Altes Bouleuterion 3. Dreiseitiges Heiligtum

4. 5. 6. 7, 8.

Theseion Enneakrounos Panathenäischer Weg Hephaistos- Tempel Stoa des Zeus Eleutherios

9. Neues Bouleuterion 10. Tholos 1. Strategeion 12. Südwest-Brunnenhaus 13. Stoa mit Bankettráumen 14. Münze 15. Stoa Poikile 16. Hermen-Stoa

17. Tempel des Zeus Phratrios und der Athena Phratria 18. Tempel des Apollon Patroos 19. Eponymen

20. Propylon des Bouleuterion 21. Quadratisches Perisryl

VI. Die politischen Organisationsformen: Rat

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Jeder Ratsherr erhielt eine Aufwandsentschádigung von einer Drachme (einschl. Verpflegungsgeld) pro Sitzungstag. Er war für die Dauer seiner Tátigkeit vom Militärdienst befreit und saß im Theater auf für ihn reservierten Ehrenplät-

zen. Der Rat trat außer an Festen und Tagen mit schlechter Vorbedeutung täglich zusammen. Selbst wenn die Volksversammlung tagte, mit welcher der Rat nicht kollidieren durfte, konnte jedenfalls dann, wenn die Volksversammlung gegen

Mittag beendet war, noch am Nachmittag der Rat zusammengerufen werden. Da das Jahr gut 70 Festtage hatte, gab es bei einem Amtsjahr von 366 bzw. im 4. Jahrhundert von 354 Tagen (s.u.) gut 290 bzw. 280 Sitzungstage, in Schaltjah-

ren mehr. Die Sitzungen waren im Prinzip öffentlich; doch konnte der Rat bei Bedarf den Ausschluß der Öffentlichkeit beschließen. Das Publikum war bei den Sitzungen vom Rat durch Schranken getrennt. Man tagte im eigens für den Rat erbauten Rathaus (bowleutérion) an der Südwestseite des Marktplatzes. Wohl noch in kleisthenischer Zeit wurde ein älterer Bau durch ein überdachtes Ge-

bäude ersetzt. Als gegen Ende des 5. Jahrhunderts das Urkundenmaterial so angewachsen war, daß man ein vergrößertes Archiv benötigte, wurde dieser Bau

Archiv, und der Rat zog in einen anliegenden Neubau, in dem die Ratsherren in einem theaterartigen Halbrund saßen. Der geschäftsführende Ratsausschuß, die 50 Prytanen (s.u.), hatte gesonderte Plätze, die wahrscheinlich gegenüber dem

Halbrund der übrigen 450 Ratsherren lagen. Für den jeweiligen Sprecher gab es einen erhöhten Tot (béma). Da der Rat unter dem besonderen Schutz des

Góttervaters und der Stadtgóttin stand, waren dem Zeus Bulaios und der Athena Bulaia innerhalb des Buleuterions Altäre geweiht, und insofern er als ein immer anwesendes Gremium die staatliche Mitte verkórperte, stand im Buleuterion auch der staatliche Herd (Hestia Bulaia). Der gescháftsführende Ratsausschuß,

von dem gleich zu reden sein wird, tagte in einem benachbarten Rundbau, der Tholos (auch Skias) genannt wurde. Bei bestimmten Gelegenheiten wurde der Rat an anderen Orten zusammengerufen, so bei Flottenfragen im Piräus und nach dem Fest der Eleusinischen Mysterien im Monat Bo&dromiön (September) ım Eleusinion von Eleusis. Gescháftsgang

Das besondere Problem des Rates liegt darin, daß er, der die Volksversammlung zu politischer Entscheidung aktivieren soll, ein großes Maß von Initiative ent-

falten muß, aber daran durch die große Zahl seiner Mitglieder eher gehindert wird. Er soll die Anstöße zu politischen Entscheidungen bei sich sammeln und an die Volksversammlung, an Beamte und Gerichte weitergeben; aber wenn für

diese Aufgabe 500 Personen immer gleichzeitig tätig sein wollen, kann kaum eine Anregung zustande kommen oder wird doch das politische Geschäft auRergewôhnlich schwerfällig. Der Rat, der gerade wegen seiner wichtigen Funktionen nach demokratischer Doktrin möglichst viele Mitglieder haben mußte,

bedurfte, um wirklich geschäftsfähig zu sein, eines Vorsitzes und eines ge-

schäftsführenden Ausschusses. Da Vorsitz und Ausschuß andererseits nicht den Gedanken, daß die Entscheidungen dieser Behörde von einer Masse von Fünf-

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

hundert getragen werden sollten, gefährden durften, ist die besondere Art ihres Aufbaus ein Musterbeispiel demokratischen Organısationswillens. Der Rat gliederte sich entsprechend seiner Zusammensetzung aus zehn Phylen in zehn Teile; jeder dieser Teile bestand demnach aus den 50 Ratsleuten einer

Phyle. Jeweils ein Teil wurde nun für 1/10 des Jahres zum geschäftsführenden Ausschuß, der Prytanie (prytaneia), bestellt; die 50 Mitglieder des Ausschusses hießen Prytanen (prytáneis). Die jeweilige Prytanie wurde erlost, und damit

nicht die potentiellen Ratsherren einer Phyle schon vor ihrem Amtsantritt für bevorstehende Geschäftsvorgänge Absprachen untereinander treffen konnten, wurde die neue Prytanie erst am Ende der Amtsperiode der jeweils geschäftsführenden Prytanie erlost. Die zehn Prytanien bildeten die amtliche Gliederung des Jahres. Die Athener besaßen also neben ihrem „bürgerlichen“ oder, weil von den sakralen Festen geprägt, „religiösen“ Kalender von zwölf Monaten, der am 1. Hekatombaiön (ca. Ende Juli) begann, einen amtlichen oder „Prytanen“-Kalender. Da dem „Prytanen“-Kalender ım 5. Jahrhundert ein Sonnenjahr von 366

Tagen zugrundelag, waren zur Verteilung voller Tage auf die zehn Prytanien die sechs ersten Prytanıen 37, die restlichen vier 36 Tage im Amt. Seit 408/07 glich man jedoch das Amtsjahr des Rates dem athenischen Mondjahr an, das 354, ın Schaltjahren 384 Tage hatte; von da an amtierten die ersten vier Prytanien 36, die

folgenden sechs 35 Tage (in Schaltjahren 39 bzw. 38 Tage) und begann künftig

auch die erste Prytanie mit dem Beginn des bürgerlichen Jahres, dem 1. Hekatombaiön. Die Prytanen sollten jedermann jederzeit zur Verfügung stehen und besaßen zu diesem Zweck ein eigenes Amtslokal, die Tholos, in dem sie auch

gemeinsam aßen. Ein Drittel der Prytanen mußte sogar nicht nur tagsüber, sondern auch nachts ständig in dem Amtslokal anwesend sein. Die Prytanie ist

sowohl durch diese ständige Verfügbarkeit als auch dadurch ausgezeichnet, daß sie als Körperschaft, also gemeinsam handelt. Auch die Prytanie bedurfte, obwohl erheblich kleiner als der Rat, noch eines Vorsitzes, um geschäftsfähig zu sein. Der Vorsitzende hieß „Vorsteher der

Prytanen“ (epistätes tön prytanéôn). Er wurde aus den Prytanen jeden Tag bei Sonnenuntergang neu erlost. Als Vorsteher der Prytanie war er im 5. Jahrhundert gleichzeitig auch Vorsteher des gesamten Rates, und da er ein zwar nicht durch seine Macht, aber doch durch seine Stellung außergewöhnlich herausgehobener Geschäftsträger war, durfte er das Amt nur ein einziges Mal in seinem

Leben bekleiden. Die Vorsteher der Prytanie waren selbstverständlich gleichzeitig auch die Leiter der Volksversammlungen, die ın der Zeit ihrer Prytanie zusammentraten. Nach 403/02 und vor 379/78 ıst der Vorsitz im Sinne einer weitergehenden Demokratisierung erheblich geschwächt worden. Künftig wurden für jede Ratssitzung und für jede Volksversammlung aus den jeweils nicht geschäftsführenden neun Phylenabteilungen des Rates je ein pröhedros genannter ,, Vorsitzer" und aus den neun Prohedroi wiederum ein Vorsitzender (Epista-

tes; epistätés tôn prohédrôn) ausgelost (s. Graphik S. 167). Seitdem war die Geschäftsführung der Prytanie von der Leitung der Sitzungen des Gesamtrates und der Volksversammlung getrennt. Es durfte, wie vor der Reform, niemand mehr als einmal im Jahr Epistates und auch nur einmal in der Prytanie Prohedros sein.

Die Tendenz der Reform ist klar: Es sollte jeder besondere politische Einfluß,

VI. Die politischen Organisationsformen: Rat

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der sich aus der Einheit des Vorsitzes von Rat und Volksversammlung und aus der Kontinuitát der vorsitzenden Gruppe (Prytanie) móglicherweise bilden konnte, im vorhinein verhindert werden. Es sollten der Vorsitzende und die ihm

als Helfer beigegebenen Prohedroi reine Handlanger sein, die gleichsam automatisch das, was auf Grund des Gesetzes und des Herkommens zur Aktivierung der Volksversammlung zu tun war, erledigten. Erforderte die Situation einmal eine Eigeninitiative, teilte das, was richtig war, dem jeweils zur Aktion aufgeru-

fenen Epistates bzw. Prohedros, den ja nicht sein Ansehen oder Spezialwissen, sondern der Zufall des Loses an seinen Platz gestellt hatte, sozusagen das kollektive Gewissen mit. Die Neigung, das individuelle zugunsten des kollektiven

Denkens zu unterdrücken, zeigte sich ferner darin, daf seit 410/09 auch die Sitzordnung des Rates erlost wurde: Die Ratsherren erlosten sich (vielleicht nicht einzeln, aber zumindest phylenweise) am Anfang des Jahres einen Buchstaben, der auf dem Sitz stand, den sie einzunehmen hatten. Gleichgesinnte

(zumindest solche aus fremden Phylen), die sich während der Debatten hätten zusammentun kónnen, wurden somit getrennt. Die neue Sitzordnung war die Konsequenz der schlechten Erfahrungen, welche die Athener im Jahre 411 gemacht hatten, als sich im Rat Gruppen zum Sturz der Demokratie gebildet und gemeinsam agiert hatten. Absprachen waren nun zumindest während der Sitzungen nicht mehr móglich. Nach der Trennung der Gescháftsführung der Prytanie von dem Vorsitz in der Volksversammlung und im Rat blieb den Prytanen, neben der Einladung zur Volksversammlung, selbstverstándlich die Aufstellung der Tagesordnung für die letztere. Mit der Aufgabe des Vorsitzes durch die Prytanen sollte lediglich deren Einfluß auf den Gang der Verhandlungen in der Volksversammlung beseitigt, nicht auch die Zustándigkeit der Prytanen und des Rates, die Volksversammlung funktionsfáhig zu machen, beschnitten und ebensowenig die zentrale Aufgabe eingeschränkt werden, in sämtlichen Fragen von öffentlichem Interesse für alle Beamten, Privatleute, Fremde und vor allem auch für die Gesandten fremder

Staaten die kompetente Behórde zu sein, an die sie sich wandten, und die auch von sich aus Beamte, Privatleute und Fremde vorlud, um dann die sich daraus

ergebenden Fragen zunächst an den Rat und, soweit dieser nicht selbst entscheiden konnte, an die beiden großen demokratischen Entscheidungsinstitutionen, die Volksversammlung und die Geschworenengerichte, weiterzuleiten. Die Prytanie und durch sie der Rat waren die Vermittler der Politik, und wenn auch

diese Gremien durch ihren zahlenmäßigen Umfang und durch ihre besondere Organisationsform keinen oder nur einen geringen individuellen oder gruppenbezogenen Willen besaften und ja auch gerade nicht besitzen sollten, stellten sie doch diejenige Behörde dar, die das souveräne Volk entscheidungsfähig machte. Sie ist, wenn nicht Regierung, so doch das, was in der athenischen Demokratie an Regierung móglich war. Sosehr die Demokratie auch den individuellen Willen im Rat auszuschalten wünschte, damit aus dem Vermittler nicht ein Herr

würde, hat sie ihn doch gleichzeitig gegenüber den anderen Beamten und der Masse der Bürger unabhängig gehalten: Abgesehen von den Strategen, die jederzeit im Rat Antráge stellen durften, konnten nur Ratsmitglieder etwas vor den Rat bringen. Der Rat wurde also nicht durch die Antráge anderer lahmgelegt

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oder in seiner Entscheidung gelenkt. als ganzem, sondern jedem einzelnen anzunehmen oder abzulehnen, liegt aber kann kein Staat funktionsfähig Behörde mit dieser Macht ausrüsten.

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

In dieser Regelung, die nicht nur dem Rat Mitglied das Ermessen gibt, Anregungen eine große Macht. Ohne dieses Ermessen sein, und die Athener mußten darum die Aber sıe verfolgten sie deshalb auch mit

großem Mißtrauen und bemühten sich, die Gefahr dadurch zu bannen, daß sie

den Rat durch besonders ausgeklügelte Verfahrensformen an einer eigenständigen Politik hinderten.

Die Abstimmung im Rat erfolgte durch Handaufheben, war also offen. Lediglich wenn der Rat über die Annahme von Anklagen gegen Beamte, von Eisangelie-Klagen wegen Hochverrats gegen Bürger oder gegen unwürdige Mitglieder aus den eigenen Reihen entschied, wurde mit Stimmsteinen (psépbos) abgestimmt. Die geheime Abstimmung weist darauf hin, daß der Rat hier als Gericht entscheidet, sein Beschluß hier mithin Urteil ist. Der Beschluß des

Rates hieR pséphisma.

Zur Bewältigung der umfangreichen Schreibarbeiten, wie Protokoll und Abfassung der Ratsbeschlüsse, besaß der Rat einen Sekretär, den „Schreiber des

Rates“ (grammateus tes boulés). Er wurde im 5. und in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts aus den Ratsmitgliedern für je eine Prytanie gewählt und erscheint regelmäßig in den Volksbeschlüssen als der verantwortliche Protokollant; der Schreiber der ersten Prytanie diente dem Rat auch zur Jahresdatierung. In arıstotelischer Zeit - der Wandel fand zwischen den Jahren 368/67 und 363/62 statt - war er, der nun „Schreiber der Prytanie“ (grammateüs katá prytaneían) hieß, ein nicht mehr dem Rat angehöriger Beamter und wurde als solcher,

wie die anderen Beamten auch, für das ganze Amtsjahr erlost. Neben ihn traten dann noch zwei weitere Schreiber, die für die Beschlüsse der Volksversammlung (grammateüs epí tous pséphismata) und der Nomotheten (epf tous nömous) zuständig waren und wie der Schreiber der Prytanie nicht dem Rat angehörten, sondern für das ganze Jahr durch das Los bestimmt wurden. Der „Schreiber der

Prytanie“ blieb aber der maßgebliche Sekretär, der für das Protokoll und die Publikation verantwortlich war und in den Präskripten der Beschlüsse genannt

wird. Mit dem Wandel des Ratsschreibers vom gewählten Ratsmitglied zum gewöhnlichen, nicht mehr dem Rat angehôrigen Losbeamten ging dem Amtsinhaber das persönliche Ansehen, das die Wahl verliehen hatte, verloren. Aber was

der Amtsinhaber verlor, gewann das Amt: Die Stelle weist den Amtsinhaber nun als einen sachkundigen Schreiber aus, und die Vervielfältigung der Stelle zeigt die wachsende Spezialisierung an, die nicht den angesehenen, sondern den kundigen Mann benötigt. Der Grund für den Wandel in dem Bestellungsmodus

des Ratsschreibers ist darum zum einen gewiß in dem Wunsch nach Besetzung der Stelle mit einem „Fachmann“ zu sehen; zum anderen liegt er auch in dem

Bemühen um eine weitere Schwächung der einflußreichen Prytanie, wie sie uns schon aus der Trennung des Vorsitzes in der Prytanie von der im Rat und ın der

Volksversammlung im ersten Viertel des 4. Jahrhunderts deutlich geworden ist (o. S. 196f.).

Der Rat setzte neben dem Hauptausschuß, der Prytanie, auch eine Reihe weiterer Ausschüsse ein, die besondere, feste Aufgaben, für die der Rat zu-

VI. Die politischen Organisationsformen: Rat

199

ständig war, erledigten. Da der Rat sowohl für den militärischen als auch für den

zivilen Bereich eine musternde und prüfende Behörde war, ihm insbesondere

die Sorge um die Marineangelegenheiten und die Überwachung der Beamten oblag, wurden solche Ausschüsse vor allem für diese Aufgaben regelmäßig aufgestellt. Es gab einen Ausschuß von zehn Mann für die Erneuerung der Flotte (trieroipoiot, „Trierenbauer“), einen weiteren für die Beaufsichtigung der

im Hafen liegenden Schiffe und der Marineanlagen, ferner einen Ausschuß von zehn Mann für die Überprüfung der Rechnungen der Beamten (Logistai) und

einen weiteren für die allgemeine Aufsicht über sie (Euthynoi) und schließlich Ausschüsse für Feste und Opfer. Politische Funktion

Die politische Funktion des Rates bestand darin, den Souverän entscheidungsfä-

hig zu machen. In Athen hatte in älterer Zeit das Kollegium der Archonten diese Aufgabe wahrgenommen, und nach ihrer Entmachtung hat der Rat sie allmählich an sich gezogen. Die oberste Exekutive, welche die Entscheidungen des Volkes anregte und ausführte, ist also von einer Beamtengruppe auf eine vielköpfige Körperschaft übertragen worden, die nur sehr beschränkt den Status eines Amtes besaß, ja ihrem Wesen nach dem ungegliederten Volk näherstand als dem Amt. Wie dem obersten Beamten neben der Einleitung und Durchführung von Entscheidungen des Volkes noch weitere Aufgaben zugekommen waren, welche die Lenkung des Staates nun einmal überall mit sich bringt, hatte auch der Rat eine große Anzahl von Pflichten, welche die allgemeine Staatsver-

waltung betrafen. Es handelt sich dabei vornehmlich um die Prüfung und Überwachung der Beamten und Amtskandidaten, die Entgegennahme von Anzeigen, Bitten und Berichten sowie um die allgemeine Aufsicht und eventuell auch

Verwaltung der Finanzen und Liegenschaften der Stadt. Diese vielfältigen Geschäfte erledigte der Rat teils selbst, teils verwies er sie an den Souverän oder

auch an zuständige Beamte. In der Rolle desjenigen, der dem Souverän die Entscheidungen vorlegte, deren Ausführung überwachte und darüber hinaus überall als kontrollierende und initiierende Behörde auftrat, erfüllte der Rat weitgehend die Aufgaben einer Regierung. Die in dem Begriff „Regierung“ liegende Bedeutung einer selbstän-

dig lenkenden Spitze, die nicht nur Politik einleitet und deren Ausführung

überwacht, sondern auch verantwortlich mitdenkt und anregt, wird man aber dem Rat nicht zuweisen dürfen. Daran hindert nicht nur sein Umfang, der eher den Gedanken an „Volk“ denn an „Regierung“ aufkommen läßt, sondern auch

seine Organisation und Arbeitsweise, die im vorigen Abschnitt dargestellt wur-

de. In ihm war jede Blockbildung bewußt und konsequent ausgeschaltet worden: Die Losung und die gleichmäßige Berücksichtigung aller lokalen Bezirke erstickten jede Interessenbildung im Keim und machten aus dem Rat ein Abbild der gesamten Bürgerschaft. Der jährliche Wechsel der Ratsmitglieder und die Bestimmung, daß jeder Athener höchstens zweimal (aber nicht in aufeinanderfolgenden Jahren) Ratsherr sein durfte, verstärkte den Eindruck, daß der Rats-

herr sich von den jeweils nicht im Rat sitzenden Athenern so gut wie nicht

200

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

unterschied. Die Erfahrung, welche die Ratsherren besaßen, war kaum größer als die der anderen Athener, von denen zudem sehr viele, ja die meisten bereits

einmal Ratsherr gewesen waren. Die Ratsherren waren auch nicht durch die Solidarität der kollegialen Gemeinschaft herausgehoben, die gemeinhin alle etablierten Versammlungen und sogar die nach politischer Weltanschauung so

unterschiedlichen Abgeordneten unserer modernen Parlamente von allen anderen Bürgern abgrenzt. Der Rat hatte demnach ein denkbar geringes korporatives Gewicht. Er erscheint uns eher wie ein mit Aufgaben gefütterter Automat denn wie eine verantwortliche Behörde. Trotz seines geringen institutionellen Eigengewichts arbeiteten die Athener immerfort daran, ihn weiter zu schwächen; ihr Mißtrauen gegenüber dieser Behörde blieb stets wach. Wie an dem Wandel in der Organisation des Vorsitzes gezeigt wurde (o. 5. 196f.) und auch an anderen

Reformen der Ratsverfassung, wie an der des Schreiberamtes, nachgewiesen werden kann, ist der Rat mehrere Male im Sinne einer perfekteren Demokratisierung umgestaltet worden. Darüber hinaus wurden ihm nach und nach auch etliche Aufgaben abgenommen oder beschnitten. So ist z. B. die Strafgerichtsbarkeit des Rates, die in der Mitte des 5. Jahrhunderts in gewissen Fällen noch die Verhängung der Todesstrafe eingeschlossen zu haben scheint, auf die Volksversammlung bzw. die Geschworenengerichte übergegangen. Die letzteren ha-

ben, abgesehen vom Areopag, nicht nur allein noch Todesurteile fällen dürfen, sondern wurden für viele Urteile, wie für Geldstrafen bis zu einem Maximum

von 500 Drachmen, für die der Rat abschließend zuständig gewesen war, zur Berufungsinstanz. Der Rat war seinem eigentlichen Wesen nach Regierung, und es war seine Regierungsfunktion unentbehrlich, sollte der Wille des Volkes überhaupt Gestalt bekommen. Aber gerade weil das so war, mußte er schwach gehalten und

sein Wille soweit als möglich mit dem der großen Menge gleichgesetzt werden. Platon, der Kritiker der Demokratie, nennt in seiner „Politeia“ (558c) die Demo-

kratie darum auch eine ,regierungslose" (änarchos) Verfassung. Ist das auch überspitzt, durfte es jedoch in der Demokratie jedenfalls keine starke Regierung geben. Für die Demokratie war der Widerspruch gegen ,, Regierung" im strengen Wortsinn eine ihrer tragenden Ideen: Der Souverän, also die Volksversammlung und die Volksgerichte, sollte regieren, sollte selbstándig und stark sein. Die

Athener haben es jedoch fertiggebracht, den um eines starken Souveräns willen bewußt schwach gehaltenen Rat dennoch als eine Behörde zu erhalten und auszubauen, welche die von ihrem Wesen her zur Exekutive unfáhige Masse zur

Aktion befähigte. Dem demokratischen Ideal entsprach ein Rat, der funktionierte wie eine reine Maschine, ohne Eigenwillen und ohne Autorität. Tatsäch-

lich war der Rat mehr. Sowohl der Zwang der Umstände, der vom Rat bei Gelegenheit Initiative und den Entschluß zur Auswahl und Gewichtung der

anstehenden Themen verlangte, als auch das einer jeden Institution innewohnende Schwergewicht haben ihm ein zeitweilig nicht unerhebliches politisches Gewicht gegeben. Aber es bedeutete schon viel, wenn er dem Ideal nur nahekam. Denn nichts ist schwieriger, als einer Institution die in ihr liegende Neigung zur Verselbständigung, Stärkung und Konsolidierung zu nehmen oder zu beschneiden. Die Ratsverfassung ist ein Kunstprodukt der Demokratie, die

VI. Die politischen Organisationsformen: Rat

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sowohl die Begabung der Athener bezeugt, ihre politischen Ideen in angemessene rechtliche Formen zu kleiden, als auch die Bedeutung solcher Organisationsformen für die Stabilität der demokratischen Verfassung beweist: Die Or-

ganisationsformen sind nicht lediglich ein formaler Rahmen, sondern sie sind konstitutiver Bestandteil der Demokratie selbst.

Zuständigkeit Da der Rat als diejenige Behörde, die dem Souverän Anträge zur Entscheidung vorlegte, die den Staatsapparat kontrollierte und von allen Bürgern Anträge und Berichte entgegennahm, für alle denkbaren Gegenstände politischen Handelns zuständig war, kann man seine Bedeutung nicht von den konkreten Zuständigkeiten her erfassen. Wenn er auf einem Gebiet selbst entschied, auf einem anderen

sogar besonders umfassend, auf einem weiteren schließlich so gut wie überhaupt nicht tätig war, sondern hier Beamte ohne die Hilfe des Rates arbeiteten, hatte das

teils sachliche, in der Mehrheit der Fälle dagegen eher historische Gründe, und man beließ es dabei, weil der Gedanke einer systematischen Ordnung den Athenern fremd war und keine Notwendigkeit zu einer Änderung zwang.

Das wichtigste Geschäft des Rates lag ohne Zweifel darin, daß er das Volk versammelte und ihm Anträge vorlegte. Jeder Antrag ging über den Rat, und diese probuleutische

Tätigkeit war das Kernstück des politischen Ent-

scheidungsprozesses. Da über sie im vorigen Kapitel gesprochen worden ist, genügt hier der Hinweis. Nachdem am Ende des 5. Jahrhunderts für die allgemeine Gesetzgebung die Nomotheten zuständig geworden waren, wurde der Rat auch für sie diejenige

Behörde, die das Gesetzgebungsverfahren vor den Nomotheten in Gang setzte und einleitete. Diese Aufgabe ergab sich aus der Logik des Verhältnisses von Rat und Volksversammlung. Denn die Nomotheten hatten ihre Zuständigkeit für die allgemeine Gesetzgebung von der Volksversammlung; die Nomotheten-Kommis-

sion kann, wie dargelegt wurde (o. 5. 188f.), als eine besondere Form der Volksversammlung angesehen werden. Entsprechend galt die probuleutische Funktion des Rates auch für sie und wurde der Rat nicht nur bei der solennen Abstimmung über die Gesetze an jedem 11. Hekatombaiön (Epicheirotonie) aufgefordert, für die 4. ordentliche Versammlung derselben Prytanie ein Probuleuma über die Einsetzung einer Nomotheten-Kommission vorzulegen, sondern hatte er auch dann ein Probuleuma für die Einberufung einer Nomotheten-Kommission zu verfassen, wenn der einzelne Bürger außerhalb der Epicheirotonie eine Gesetzesänderung wünschte oder die - für die Prüfung der allgemeinen Gesetze auf Unzulänglichkeiten eigens bevollmächtigten - Thesmotheten mit einem Vorschlag auf Gesetzesänderung an den Rat herangetreten waren. Von großer Bedeutung ist auch die Arbeit des Rates auf dem Gebiet der Rechtspflege. Es liefen bei weitem nicht alle, ja auf einigen Rechtsgebieten sogar nur sehr wenige Klagen oder Anklagen über den Rat; die meisten Klagen wurden direkt vor die Vorsitzenden der Gerichtshöfe oder an Schiedsrichter gebracht. Der Rat war vielmehr dort zuständig, wo das staatliche Interesse besonders angesprochen und nicht durch besondere Gesetze die Einleitung

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

einer Strafverfolgung geregelt war. So verhängte er Ordnungsstrafen bis zu 500

Drachmen gegenüber Beamten und nahm vor allem Anzeigen gegen Beamte wegen Hochverrats (Eisangelie-Klagen) entgegen und urteilte hier auch selbst. Aber während er über die Ordnungsstrafen selbständig entschied, waren die

Urteile ın Eisangelie-Angelegenheiten wie auch die über Vergehen von Ratsmitgliedern in letzter Instanz von Geschworenengerichten zu entscheiden. Der Rat

durfte auch die beschuldigten Straftäter verhaften, doch ist dieses Recht später eingeschränkt worden. Auf dem Gebiet der Strafrechtspflege zeigt sich auch die - neben der probuleutischen Tätigkeit für Volksversammlung und Nomotheten

- andere zentrale Aufgabe des Rates: Die Aufsicht über die Beamten. Sie hat der Rat mit der Entmachtung des Areopags durch Ephialtes übernommen und war mit dieser Aufgabe sozusagen ins demokratische Zeitalter Athens eingetreten. Die Beratung und Beaufsichtigung der Beamten zeigte sich auf sehr vielfältige Weise. Sie ging so weit, da man von einer Mitverwaltung des Rates sprechen kann. Die gesamte Beamtenschaft war auf den Rat als die beaufsichti-

gende und kontrollierende Behörde ausgerichtet. Das ist besonders an den zwei Ratsausschüssen ablesbar, von denen der eine in jeder Prytanie die Rechnungen der Beamten prüfte (die Prüfer hießen logistat, „Rechnungsprüfer“), der andere

die Rechnungslegung für das ganze Jahr entgegennahm (sie hießen exthynoi, „Rechenschaftsbeamte“).

Der Rat prüfte ferner die Qualifikation künftiger

Amtstráger, nämlich die der erlosten Ratsmitglieder des nächsten Jahres und der Archonten (Dokimasıe), ebenso die körperliche Verfassung der Reiter und den Zustand ihrer Pferde; zur Zeit des Arıstoteles entschied er auch ın letzter Instanz darüber, ob die von den zehn Katalogeis („Musterern“) jährlich zur Ergänzung

der Reiterliste gemusterten jungen Männer in das Verzeichnis der Reiter einzu-

tragen seien oder nicht. Seit Einrichtung der Ephebie nahm er auch die Dokimasie der Epheben vor, desgleichen die der Behinderten, die bei einem Verdienst von weniger als 300 Drachmen im Jahr eine staatliche Rente von zwei Obolen täglıch erhielten. Die Aufsicht des Rates über die Beamten war gleichzeitig eine über deren administrative Tätigkeit. Der Rat regierte überall mit. So übte er auch eine Aufsicht über alle öffentlichen Gebäude, insbesondere auch über den Zustand

der Befestigungsanlagen aus. Typisch riende Kompetenz des Rates ist seine Da es in Athen keine zentrale Kasse splittert. Im 4. Jahrhundert war man

für die mit den meisten Beamten konkurRolle auf dem Finanzsektor der Stadt. gab, war die Finanzverwaltung sehr zerdazu übergegangen, den einzelnen Behör-

den nach einem gesetzlichen Schlüssel (merismös, das heißt „Verteiler“) jährlich feste Summen zuzuweisen, die ihnen die Apodekten („Einnehmer“) aus den

eingegangenen Geldern übergaben (s.u. $. 255ff.). Die Rolle des Rates beschränkte sıch zunächst darauf, der Deklarierung der Einnahmen und der Ver-

teilung der Gelder durch die Apodekten an die verschiedenen Behörden in zwei Sitzungen zweier aufeinander folgender Tage beizuwohnen und damit für alle Geldbewegungen der öffentlichen Hand auf der Habet- wie auf der Debet-Seite die staatliche Öffentlichkeit herzustellen. Doch war diese passive Rolle nur der eine Teil der Aufgabe. Die andere bestand darın, daß er einerseits, im Hinblick

auf die Einnahmen, wenn nach dem Bericht der Apodekten fällige Gelder nicht

VI. Die politischen Organisationsformen: Geschworenengerichte

203

eingekommen waren, die Schuldigen mit einer Buße oder mit Haft bestrafte, und andererseits, im Hinblick auf die Ausgaben, wenn einem Beamten oder

Privatmann in der Verhandlung Unregelmäßigkeiten bei der Verteilung der Gelder vorgeworfen worden waren, diesen aburteilte.

Nicht minder wichtig war die prüfende und beaufsichtigende Tätigkeit des Rates in der militärischen Administration. Wie bereits erwähnt, wurden von

ihm die Reiter gemustert, aber vor allem nahm er vielerlei Aufsichtspflichten gegenüber der Flotte wahr. So überwachte ein Ausschuß die Herstellung von Schiffsrümpfen, wurden vom Rat die Schiffe gegebenenfalls den einzelnen Trierarchen zugewiesen, half er bei der Aushebung der Mannschaften für die Flotte und den die Ausfahrt der Flotte begleitenden Geschäften mit. Auch an der Außenpolitik wirkte der Rat mit, indem er Gesandte empfing, Berichte entgegennahm usw.; doch entschied er hier in aller Regel nicht selbständig, sondern gab seine oder die Ansichten anderer in Form von Probuleumata an die Volksversammlung weiter. In den auswärtigen Angelegenheiten repräsentierte der Rat den Staat der Athener; er beschwor zum Beispiel Verträge mit anderen Städten, doch entschied über sie selbstverständlich die Volksver-

sammlung. Die Gesandten, die von Athen in fremde Staaten abgingen, bestimmte in aller Regel die Volksversammlung, doch hat sie die Wahl der Gesandten oft an den Rat delegiert. Auch in den Fragen des Kultes war der Rat meist nur Vermittler; die allgemeine Aufsicht über die Verwaltung der Heiligtümer und deren Schätze sowie über etliche Feste übte er indessen routinemäßig in eigener Regie aus.

Der Rat ist die Mitte aller staatlichen Geschäfte. Von ihm wird zu staatlicher Aktion angeregt, und zu ihm tragen Athener und Fremde ihre Anliegen, Wünsche und Berichte. Nicht weniges erledigt er selbst, aber alle wichtigeren Gescháfte verweist er an den Souverän, die Volksversammlung oder die Volksge-

richte. Der Rat ist darum das Zentrum der staatlichen Gescháftigkeit; aber er ist kein Zentrum der Macht.

4. Die Geschworenengerichte (dikastéria) Problemstellung - Begriff In seiner Schrift über den Staat der Athener stellt Aristoteles Solon als den Begründer der Demokratie vor und führt unter den drei wichtigsten demokratischen Einrichtungen, die von diesem geschaffen worden seien, die Berufung an die Geschworenengerichte als dasjenige demokratische Element an, durch das die Menge die meiste Macht gewonnen habe, und er unterstreicht diese Interpretation mit der einem Regelsatz gleichstehenden Feststellung: „Denn wenn das Volk (démos) Herr ist über den Stimmstein (bei der Abstimmung im Gericht), ist es Herr über die staatliche Ordnung“ (AP 9,1), und Demosthenes spricht in seiner Rede gegen Meidias (21,223) vom Jahre 349/48 die Richter als „Herren

über alle Belange der Stadt“ an. Wie Aristoteles dachten bereits die Athener in

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts. Die Komödien des Aristophanes sind voll von Wendungen, die in die gleiche Richtung weisen; so kämpft etwa in den „Wespen“ der Chor der Richter für die Freiheit und Macht der großen Menge (666f. u.pass.). Die moderne Forschung ist sich darüber einig, daß die Geschworenengerichte in der uns aus späterer Zeit vertrauten Form noch nicht in die Zeit Solons gehören. Es ist allerdings heute kaum mehr möglich, die genaue Ge-

schichte dieser Gerichte zu rekonstruieren. Aber es scheint, daß ihre endgültige Ausbildung der letzte oder einer der letzten Schritte zur Demokratie gewesen ist; auf jeden Fall ist die Dynamik, das heißt die umfangreiche, in alle Bereiche

des Prozeßwesens hineingreifende Tätigkeit der Geschworenengerichte erst der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts und damit der entwickelten Demokratie zuzuweisen. Gehören nach dem Bewußtsein der Athener Demokratie und Geschworenengerichte zusammen, stellt sich sogleich die Frage nach ihrem Verhältnis zum Volk bzw. zur Volksversammlung, dem Souverän des Staates. Wodurch wurden die Volksgerichte zum Prototyp der demokratischen Idee? Was machte aus dem Richter ın ihnen den klassischen Demokraten? Eine vorläufige Antwort wird am Ende dieses Abschnittes versucht werden; eine tiefergehende Interpretation

kann jedoch nur eine Analyse der Gerichte innerhalb des staatlichen Ganzen ergeben, die einem späteren Kapitel vorbehalten ist (s.u. S. 35 1ff.). In der griechischen Sprache heißen die Geschworenengerichte, soweit nicht noch der ältere Begriff Heliaia, d. ı. „Versammlung“, für sie verwendet wird,

schlicht „Gericht“ /„Gerichtshöfe“ (dikastéria), der einzelne Geschworene „Heliast'* (heliastes) oder „Richter“ (dikastes). Die deutschen Übertragungen „Geschworenengerichte“ und „Volksgerichte“ treffen die Sache nur unvollkommen.

„Volksgericht“ ist bzw. war in unserem Jahrhundert vor allem ein politisches Kampfwort. Auch wenn man es ohne jede ideologische Färbung benutzt und darunter einfach ein Gericht von Menschen aus dem Volk versteht, können sich

leicht Mißverständnisse einstellen. Denn der Gegensatz zu Volk kann von der Entwicklung der modernen Rechtssysteme her heute nur der juristisch ausgebildete Berufsrichter sein, und gerade diese Assoziation ist ungriechisch: In Athen gab es wie in allen griechischen Städten keine Berufsrichter. Die Richter der athenischen Dikasterien sind aber auch keine Geschworenen im heutigen Sinne. Denn wenn die Geschworenen der modernen Schwurgerichte als unabhängige Geschworenenbank allein, also ohne Berufsrichter entscheiden (wie bis 1924 im

Deutschen Reich), stimmen sie lediglich über die Schuldfrage ab und sind nicht Richter im eigentlichen Sinne, weil das Urteil mit der Strafsentenz von Berufs-

richtern gefällt wird; sind sie aber Richter im eigentlichen Sinne und entscheiden also ın dem Schlußurteil über Schuld und Strafe (wie heute in der Bundesrepublik die Schöffen), richten sie nicht allein, sondern zusammen mit Berufsrich-

tern. Die Richter der athenischen Dikasterien aber entscheiden als ein selbständiges Richtergremium ohne jede „fachliche“ Hilfe über Schuld und Strafe; sie sind Laienrichter, aber als solche Richter im vollen Sinne des Wortes. Ich habe,

soweit ich nicht das griechische Wort verwende, den Begriff „Geschworenengericht" vorgezogen, weil er die auch für die Athener richtige Vorstellung enthält, daß

in ihm

nichtbeamtete

Laienrichter

urteilen.

Wenn

man

sich

Vl. Die politischen Organisationsformen: Geschworenengerichte

205

als Gegensatz zu Laie nicht den professionellen Juristen, sondern den (nichtpro-

fessionellen) Beamten denkt, kommt man den athenischen Verhältnissen ganz nahe.

Die Bedeutung der Geschworenengerichte innerhalb der Demokratie kann nicht ohne eine umfassende Kenntnis des gesamten athenischen Rechtssystems, nicht nur der Prozeßverfahren, sondern auch des materiellen Rechts und der

Rechtsanschauung der Zeit, begriffen werden. Es müssen darum zum besseren Verstándnis der teils schwierigen Fragen der Rechts- und ProzeRordnung einige wichtige, die Geschworenengerichte betreffenden Besonderheiten vorweg dargestellt werden. Das Gerichtswesen des 5. und 4. Jabrbunderts

Bei Rechtsstreitigkeiten dachten die Athener wie übrigens auch die Rómer stärker vom Prozeßverfahren als vom materiellen Recht her; der Kläger oder

Ankläger hatte zur Durchsetzung seines Anspruchs zunächst eine bestimmte Prozeßkategorie vor Augen, z. B. den Prozeß für Mord, die Klage wegen Diebstahls oder wegen Schädigung, nicht in erster Linie die abstrakte Norm des materiellen Rechts, die uns heute in den Paragraphen unserer Gesetzbücher zuerst in den Sinn kommt. Wenn auch die Verfahrensformen der Prozesse sich nicht sehr unterschieden, war doch der Rechtsuchende durch die ihm vertraute

prozessuale Gliederung des ganzen Rechtssystems zunächst an die bestimmten Gerichte verwiesen, die sich jeweils mit der besonderen Klage befaßten und die

durch den zuständigen Beamten und in aller Regel auch durch den festen Ort (Genchtsstätte) gekennzeichnet waren. Der Klagegegenstand präjudizierte also das besondere Gericht, und es waren etwa Familien- und Erbsachen beim Ar-

chon (eponymos), Tótungsdelikte bei dem von Basileus präsidierten Areopag,

Angelegenheiten der Fremden und Metóken beim Polemarchos und politische Strafklagen bei den Thesmotheten anhängig zu machen. Wie im modernen Recht waren auch in Athen die Klagen grob in private (fdiai dikai/agönes) und öffentliche (démosíai dikai/agönes) gegliedert; für die letztere sagte man auch ,Schriftklage" (graphé), doch war die schriftliche Fixierung der

Klage ebenfalls bei Privatprozessen vorgeschrieben. Die Bereiche des Privatund Strafrechts deckten sich durchaus nicht mit unseren heutigen Vorstellungen. So gehórte der einfache Diebstahl zu den Privatklagen, wenn er auch durch die Buße als eine im öffentlichen Interesse geschärfte Privatklage anzusehen ist; ebenso führten die schweren Kriminalverbrechen wie der Mord nicht zu óffentlichen Prozessen. Das Kriterium der Unterscheidung bildete die Klageberechtigung: Eine Privatklage durften nur der oder die unmittelbar Interessierten, bei Mord z. B. die nächsten Verwandten, anstrengen, die öffentliche Klage konnte hingegen jeder Athener erheben (Popularklage). Die óffentlichen Klagen schied man weiterhin in solche, für die das Strafmaß durch Gesetz oder Vereinbarung feststand, und solche, für die die Richter das Strafmaß erst festsetzen mußten.

Die óffentliche Klage ist gegenüber der privaten weiter dadurch herausgehoben, daß die Vollstreckung des Urteils durch die Beamten erfolgte (bei Privatklagen hatte das die obsiegende Partei selbst zu besorgen) und der Ankläger seine

206

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Klage nicht einfach, wie es bei der Privatklage môglich war, zurückziehen konnte; tat er es doch, mußte er eine Buße von 1 000 Drachmen zahlen und

durfte niemals wieder eine Klage der gleichen Art erheben. Die öffentliche

Klage ist danach die Klage, die den ganzen Demos berührt und für die darum auch jeder Bürger, z. B. durch das Recht der Klageerhebung, zuständig ist. Sie ist die politische Klage, nämlich diejenige, die den Tätigkeitsbereich des Bürgers (polités) betrifft. An dem, was die Athener als eine öffentliche Klage ansahen,

können wir daher auch den Umfang des politischen Raumes im demokratischen Athen abmessen. Er deckt sich nicht mit dem, was wir heute als der Politik

zugehörig ansehen; er ist in Athen auf jeden Fall umfangreicher. Die öffentliche Klage umfaßte z. B. nicht die vorsätzliche, unvorsätzliche und (etwa gegenüber dem auf frischer Tat ertappten Ehebrecher) erlaubte Tótung, die zwar von einem sehr angesehenen Beamten, dem Basileus, abgeurteilt wurde, aber Privatklage war, denn sie ging nur die Verwandten an und wurde nur von ihnen angestrengt. Sie umfaßte aber z. B. Hochverrat, Veruntreuung öffentlicher Gelder, betrügeri-

sche Durchführung einer Gesandtschaft (parapresbeta), Drückebergerei (astratefa), Tempelraub, kurz jede Art von Schädigung des staatlichen Vermögens und von Untreue und Ungehorsam gegenüber dem Volk und seinen Beschlüssen, aber auch die schlechte Behandlung der Eltern durch ihre Kinder und von Waisen, ferner Gottlosigkeit (asébeia) oder Faulheit, und sie konnte sowohl ganz

feste, konkrete Tatbestánde, wie z. B. Drückebergerei, als auch sehr abstrakt formulierte Handlungsweisen, wie z.B. „Täuschung (apáté) des Volkes“ oder „Unrecht gegenüber dem Volk begehen“ (adikefn ton démon), erfassen, worunter

dann sich alles Denkbare subsumieren ließ. Für die meisten öffentlichen Klagen waren die Thesmotheten zuständig, die als die alten Gerichtsbeamten auch die gesamte Organisation der Geschworenengerichte (Einberufung; Losung der Richter; Vorsitz) innehatten, für die öffentlichen Klagen des Familienrechts der Archon, für solche des Metöken- und Fremdenrechts der Polemarchos, für

Gottlosigkeit der Basileus und für Drückebergerei und andere, den Kriegsdienst betreffende Klagen die Strategen. Im Prinzip gehörten in Athen alle Rechtshändel, soweit sie nicht schiedsrichterlich erledigt wurden, vor ein vielköpfiges Laiengericht (Geschworenengericht) und war der Beamte, mochte er auch in vordemokratischer Zeit selbst-

ständig gerichtet haben, lediglich Funktionär des Massengerichts. Den selbständigen Einzelrichter, wie ihn der für Rom so typische Magistrat in Gestalt des Prätors darstellt, gab es im demokratischen Athen nicht mehr. Er war überall zu einem die Gerichtssitzung nur noch einleitenden und dieser vorsitzenden Beamten geworden. Lediglich in Bagatellsachen unter einem Wert von zehn Drach-

men konnte er noch selbständig entscheiden. Insbesondere fehlte im Athen der demokratischen Zeit eine selbständig strafende Polizeibehörde, die u.a. auch kapitale Strafen (im Sinne der römischen kapitalen Coercition) verhängen konnte. Der athenische Beamte durfte lediglich leichtere Übertretungen innerhalb seines Amtsbereichs mit einer Buße (epibolé) von 50 Drachmen ahnden. Leib und Leben des Bürgers waren also vor behördlicher Willkür geschützt. Auch die „Elfmänner“, die früher alle auf frischer Tat ertappten Übeltäter (kakosirgoi, z. B. Diebe, Einbrecher, Beutelschneider) ohne Richterspruch hatten abführen

VI. Die politischen Organisationsformen: Geschworenengerichte

207

und hinrichten dürfen, mußten in der Demokratie die Entscheidung eines Geschworenengerichtes einholen, es sei denn der Ertappte war geständig. In dem sich seit der Frühzeit nur sehr allmählich entfaltenden Gerichtswesen

hatten die verschiedenen Beamten und Behörden ihre bestimmten Aufgaben erhalten und waren auch neue Beamte für neue Zuständigkeiten geschaffen worden. In dem Prozeß der Wandlung Athens zu einer Demokratie wurde den Geschworenengerichten ein immer größerer Anteil an der gesamten, privaten

wie öffentlichen, Gerichtstätigkeit eingeräumt. Der Weg, auf dem die Dikasterien die Masse der Prozesse an sich zogen, war die Berufung. Das bereits mit Solon einsetzende Berufungswesen rückte das Geschworenengericht, das diese Berufungsinstanz zumindest seit dem 5. Jahrhundert wurde, in das Zentrum,

demgegenüber die früher selbständig urteilenden Beamten und anderen Gerichtsbehörden, wie der Rat, zu erstinstanzlichen Behörden absanken und damit

an Gewicht verloren. Manche Prozesse wurden auch bereits in erster Instanz

von den Geschworenengerichten erledigt. Da es von ihnen keine Berufung gab, wurden sie für immer weitere, schließlich für beinahe alle Rechtsstreitigkeiten die letzte, vielfach auch die erste und letzte Instanz zugleich. Die Tendenz ging durchaus in die Richtung, den Geschworenengerichten immer mehr, der Idee nach alle Rechtshändel zuzuweisen. Schon im 5. Jahrhundert erzwang die Überlastung der Geschworenengerichte, zumindest bei den meisten Privatprozessen

auf das erstinstanzliche Urteil zu verzichten. Es wurde eine neue Kategorie von öffentlichen, aber in freiwilliger Übereinkunft der Prozeßparteien gewählten Richtern aus den älteren Bürgern (Diäteten) eingerichtet, vor die bald so gut wie alle Privatklagen kamen. Aber natürlich war von ihnen Berufung an das Geschworenengericht zulässig. Die Geschichte des athenischen Prozeßwesens läuft auf die Monopolisierung aller Prozesse bei den Geschworenengerichten hinaus. Alle Änderungen des athenischen Gerichtssystems zielen in monotonem Einerlei auf die Stärkung dieser Gerichte. Was den anderen Gerichtsbehörden bleibt, erscheint von unter-

geordneter Art, hat zuleitende oder entlastende Funktion. Zusammensetzung und Organisation der Geschworenengerichte Richter konnte in Athen jeder über 30 Jahre alte Bürger sein. Im 4. Jahrhundert wurden alljährlich alle diejenigen, die sich für das Richteramt meldeten, zum

Richter bestellt. Im 5. Jahrhundert war die Anzahl der zum Richteramt Be-

rechtigten und zu seiner tatsächlichen Ausübung auch Willigen so groß, daß aus der Menge der Bewerber jährlich 6 000 Personen als Richterkollegium, aus dem die Gerichte zusammengestellt wurden, erlost werden konnten; die Losung

erfolgte selbstverständlich unter gleichmäßiger Berücksichtigung aller zehn Phylen. Da die Zahl von 6 000 Bürgern als die Gesamtheit der Athener angesehen wurde (s.o. 5. 162), repräsentierten die jeweils aktiven Richter im 5. Jahr-

hundert der ideellen Vorstellung nach alle Athener. Im Verhältnis zur tatsächlichen Bürgerzahl stellten die 6 000 Richter indessen nur einen Bruchteil dar, ım 5. Jahrhundert erwa den fünften, im folgenden Jahrhundert den vierten Teil, und

auch dieser Teil erfaßte nicht alle Bevölkerungsgruppen so gleichmäßig, daß er

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

die soziale Gliederung der Athener widergespiegelt hätte. Denn die Tätigkeit als Richter erforderte sehr viel Zeit, und es überwogen daher unter den Richtern die aus dem ArbeitsprozeR Ausgegliederten, und unter ihnen wieder vor allem die Bewohner der Stadt Athen. In den „Wespen“ des Aristophanes

(422 aufgeführt), in denen die Kritik an dem Richterwesen das Hauptthema bildet, ıst bezeichnenderweise der Chor der Richter ein Chor von Alten. Dar-

über hinaus werden die Richter insbesondere aus kritischer Sicht gern als Männer aus dem einfachen Volk gesehen; Aristophanes setzt sie öfter mit den Ruderern der Kriegsschiffe, also den Theten, gleich. Aristoteles (AP 27,4) sieht die Ursache dafür, daß sich eher die breite Masse als die Vornehmen zum Richter losen lief, in der bereits von Perikles eingeführten Zahlung von Diäten.

Sie betrugen zunächst zwei Obolen für jeden Tag, an dem der Bürger als Richter tátig war, und wurden von Kleon im Peloponnesischen Krieg auf drei Obolen, also die den Lebensunterhalt einer Person deckende Summe, erhóht; die Kosten

für die Richter waren erheblich; nach Aristophanes (Wespen 661ff.) betrugen sie 150 Talente im Jahr. In der Tat dürfte die Richterschar sich mehrheitlich aus unbemittelten Stádtern rekrutiert haben, und unter diesen haben wohl wie-

derum die älteren Jahrgänge überwogen. Gewisse Hinweise bei den Rednern erlauben indessen die Annahme, daß in der Mitte des 4. Jahrhunderts auch nicht wenige Wohlhabende, vielleicht sogar eine größere Anzahl aus dem „Mittelstand" unter den Richtern gesessen hat. Alle 6 000 für das Richteramt des Jahres bestimmten Bürger hatten, wie die Ratsherren, nach ihrer Auswahl einen Eid (Richtereid, Heliasteneid) zu leisten.

Sie versammelten sich zu diesem Zweck auf dem außerhalb der Mauern im Südosten der Stadt gelegenen Ardettos-Hügel und schworen u.a., in Übereinstimmung mit den Gesetzen sowie den Beschlüssen von Volk und Rat, nur im Hinblick auf den vorliegenden Gegenstand und ohne Parteilichkeit zu richten. Gegenüber dem Buleuteneid hebt sich der Heliasteneid durch die große Zahl

der Schwórenden heraus: Die große Mehrheit der Bürger über 30 Jahre waren vereidigte Bürger. Damit sollte aber keine Abgrenzung gegenüber den anderen Insututionen der Demokratie, etwa gegenüber der Volksversammlung, erreicht werden, was schon deswegen nicht bezweckt sein konnte, weil die Mehrheit der dort Abstimmenden ja auch Richter waren. Der Heliasteneid hatte keinen insti-

tutionellen Bezug, wollte nicht die Dikasterien gegenüber anderen Institutionen herausheben. Er bedeutete vielmehr Kontrolle. Er ersetzte die angesichts der geheimen Abstimmung in den Dikasterien nicht mógliche direkte Kontrolle

und eventuelle Bestrafung des Übertreters durch die im Eid für den Fall eines Eidbruchs ausgesprochene Selbstverfluchung und damit durch die góttliche Sanktion. Über die óffentliche Stellung der Richter haben sich schon die Athener selbst, vor allem Redner und Philosophen, Gedanken gemacht. Der Anstoß zu

derlei Überlegungen kam daher, daß der Richter bis zum Ende des 6. Jahrhunderts Beamter - z. B. Archon - und das Gericht eine amtliche Behörde (arché)

gewesen, der Richter der Dikasterien aber offensichtlich kein Beamter bzw. — sofern man den Begriff des Beamten (dazu u. S. 228ff.) hier, wo er besonders schlecht paßt, vermeiden will - kein Geschäftsträger im eigentlichen Sinne war,

V]. Die politischen Organisationsformen: Geschworenengerichte

209

er aber auch nicht als ein - im rómischen Sinne - privatus richtete. Die Schwienigkeit, den Status des athenischen Richters/Heliasten zu bestimmen, ergab sich sowohl aus der Vermassung des Gerichts als auch daraus, daß dem Richter des Geschworenengerichts keine weiteren Amtsaufgaben und auch keine Vollzugsgewalt zukam. Seine Mittelstellung haben die Alten bereits konstatiert; doch hatten sie bei der Erórterung des Problems nicht die begrifflichen Skrupel, die wir heute haben, und bezeichnenderweise behandelten solche Fragen vor allem Platon und Aristoteles, also Philosophen, und auch sie nur beiläufig. Die Stel-

lung des Richters wie auch die des Ratsherrn, die ähnliche Probleme aufwirft, wurde durch die Feststellung faktischer Konsequenzen des Richteramtes, die dessen Besonderheit heraushoben, eher umschrieben als definiert. Wenn

hier

trotzdem eine Überlegung über den Status des Richters angestellt wird, dann nicht, um

eine von den Griechen offensichtlich nicht entbehrte Definition

nachzuliefern, sondern um etwas über den Charakter des Richters und seine Stellung innerhalb des staatlichen Ganzen zu gewinnen. Entsprechende Hinweise lassen sich aus den zahlreichen, kritischen oder lobenden Bemerkungen über das Richterwesen oder den Richter in Athen entnehmen, und hier über-

wiegt die Vorstellung, daß der Richter nicht nur Macht hat und seine Stellung der einer unabhängigen Behörde entspricht, sondern auch niemandem über sein Tun rechenschaftspflichtig ist (Aristoph. Wespen 587). Rechenschaft aber muß Jede Amtsperson in Athen ablegen; die Rechnungslegung der Beamten ist sogar eine für die Demokratie typische Einrichtung. Wer von ihr befreit ist, gilt als Herr im Staat, und eben das sind die Richter: Sie repräsentieren das Volk von Athen. Die Befreiung von der Rechenschaft und die in ihr liegende Verbindung zum souveränen Volk zeigt aber noch ein anderes, nämlich daß der Richter als einzelner keine meßbare Funktion hat: Er ist Richter nur innerhalb der Masse,

mit der er richtet. Die Menge der Richter wurde auf eine Anzahl von Gerichtshöfen verteilt. Wir kennen die genaue Zahl der Höfe nicht; doch dürften es etwa zehn gewesen sein. Die Gerichtshófe tagten unter Vorsitz eines Beamten, in aller Regel desjenigen, der in älterer Zeit einmal die Zuständigkeit für die in dem betreffenden Gerichtshof verhandelten Klagen besessen hatte. Daraus ergibt sich, daß die verschiedenen Streitgegenstände den einzelnen Gerichtshof bestimmten. Der vorsitzende Beamte und der vor ihm verhandelte Gegenstand war meist auch mit einem festen Ort verbunden. So leiteten die Thesmotheten, die früher

einmal die obersten Gerichtsbeamten gewesen waren, ihren Gerichtshof in einem Gebäude am Ostrand des Marktes, das Heliaia hıeß, also in älterer Zeit

einmal das Versammlungsgebäude aller Richter gewesen war. Vor diesem Gerichtshof fanden die meisten öffentlichen Klagen statt. Auch die meisten anderen Gerichtsstátten lagen am Markt. Gerichtssitzungen konnten an allen Tagen, die nicht Festtag oder aus anderen Gründen für die Abhaltung óffentlicher Geschäfte untauglich waren, abgehalten werden. Es konnten selbstverständlich auch mehrere Gerichtshófe gleichzeitig tagen. Angesichts der Flut der vor den Dikasterien verhandelten Prozesse, die zudem eher zu- als abnahm, bedeutete

die Richtertátigkeit eine große zeitliche Belastung für den Athener; Aristophanes spricht übertreibend von 300 Gerichtstagen, an denen bei Gericht verhan-

210

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

delt werden konnte (Wespen 661ff.). Da an den großen Jahresfesten (ca. 60 Tage ım Jahr) und an Tagen mit schlechter Vorbedeutung (wohl kaum mehr als zehn)

keine Sitzungen stattfinden durften und man Kollisionen der Dikasterien mit der Volksversammlung (allein 40 ordentliche Sitzungen im Jahr) schon zur Erreichung des Quorums in dieser und der erforderlichen Richterzahl in jenen vermeiden mußte, dürften tatsächlich aber kaum mehr als 200 Tage für Gerichtssitzungen zur Verfügung gestanden haben. Die einzelnen Gerichtshöfe waren von unterschiedlicher Größe. Für die öffentlichen Prozesse wurden jeweils 500 Richter bestimmt, und dies kann als die

Normalzahl eines Dikasterions angesehen werden. Bei besonders wichtigen öffentlichen Prozessen wurden mehrere solcher Einheiten von 500 zusammengezogen, so daß dann 1 000, 1 500 oder noch mehr Richter tagten. Es kam auch vor, daß alle 6000 Richter zu einem einzigen Gerichtshof zusammentraten; doch ist uns das nur für einen einzigen Fall überliefert. Für Privatprozesse begnügte man sich mit einem Kollegium von 200 oder 400 Richtern. Zur Herstellung einer ungleichen Anzahl von Richtern wurde zeitweise ein Richter mehr in das Kollegium erlost, so daß die Anzahl dann 201, 401 usw. betrug; notwendig war dies nicht, weil bei Stimmengleichheit Freispruch erfolgte und also dieser Fall geregelt war. Innerhalb der Organisation der Geschworenengerichte kommt dem Problem

der Verteilung der Richter auf die Gerichtshöfe die größte Bedeutung zu. Denn die Zusammensetzung des einzelnen Gerichts ist u.U. ein Präjudiz für das Urteil; die Masse allein sicherte die Unparteilichkeit noch nicht: Das Dikasterıon repräsentierte zwar das Volk von Athen, aber es war doch faktisch eine Auswahl aus ihm, und um die Bestimmung dieser Auswahl ging es bei jeder Etablierung eines einzelnen Gerichtshofes. Wie beim Rat offenbart sich auch bei den Geschworenengerichten die demokratische Idee ganz besonders in den Modalitäten der Bestellung. Auf sie haben die Athener nun in der Tat ein

scharfes Augenmerk gerichtet, und da sie wie kaum etwas anderes die athenische Demokratie charakterisieren, sollen sie und ihre Entwicklung trotz ihrer teils schwierigen Formen vorgestellt werden. Die Verteilung der Richter auf die Gerichtshöfe Das System der Zuweisung der Richter an die einzelnen Geschworenenhófe hatte zum Ziel, die Richter in möglichst gerechter Weise auf die jeweils anstehenden Prozesse zu verteilen; insbesondere sollte die Bevólkerung aller Gebiete Attikas angemessen beteiligt und jeder Versuch der Beeinflussung oder gar Bestechung verhindert werden. Das erstere wurde durch die gleichmäßige Berücksichtigung der zehn Phylen, das letztere durch ein ausgeklügeltes System von Losungen erreicht. Der Verteilungsmechanismus wurde wegen schlechter Erfahrungen mehrfach Veránderungen unterworfen, die alle von dem Willen

zeugen, bei der Besetzung der Gerichtshófe von vornherein jeden Mißbrauch des Richteramtes auszuschalten. Wir kónnen drei Entwicklungsphasen erkennen. Aus der Schrift des Aristoteles über den Staat der Athener sind wir besonders genau über das Verfahren unterrichtet, das in der Zeit des Demosthenes

VI. Die politischen Organisationsformen: Geschworenengerichte

211

üblich war. Auch für das Verfahren der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts sind wir vergleichsweise gut unterrichtet. Am schwierigsten ist es, die Verhältnisse in der Anfangsphase der Geschworenengerichte, also in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts, zu überblicken. Richter waren in Athen alle, die sich bei den Archonten für das Richteramt

meldeten. Besonders in der Glanzzeit der Demokratie dürfte die Anzahl der potentiell Interessierten die Zahl der tatsáchlich Benótigten so weit überstiegen haben, daß eine Maximalzahl aus den sich Meldenden erlost wurde. Es weisen

einige Angaben deutlich darauf hin, daß es diese Zahl gab und sie 6 000 Personen betrug. Standen die für das Amtsjahr erlosten Richter fest, mußten sie an den Gerichtstagen auch den einzelnen Gerichtsstätten (Prozeßverfahren) zugewiesen werden. Der Vorgang der Zuweisung fand auf der Agora statt und stand unter der Leitung der neun Archonten und des Schreibers der Thesmotheten, die jeweils für eine Phyle zustándig waren. Im 5. Jahrhundert wurden nun die erschienenen Richter so auf zehn Richtersektionen verteilt, daß in jeder von

ihnen alle Phylen gleichmäßig vertreten waren. Die zehn Sektionen erhielten die Buchstaben Alpha bis Kappa; sie hießen danach grámmata, also „Buchstaben“. Diese Sektionen sind dann jeweils für das ganze Jahr einer festen Gerichtsstätte, die von einem bestimmten Beamten geleitet wurde, zugewiesen worden, also etwa eine Sektion dem Archon (eponymos), eine andere dem Archon Basileus, eine weitere dem Gericht der Thesmotheten usw. Da jedes Gericht damals in

aller Regel höchstens 501 Richter hatte, jede Sektion aber 600 potentielle Richter besaß, war die geforderte Anzahl stets gesichert; diejenigen aus der Sektion, die jeweils für einen bestimmten Prozeß richten sollten, wurden ohne Zweifel

aus den 600 zur Verfügung stehenden Sektionsmitgliedern erlost. Dieses Verfahren, das jeder Sektion eine feste Gerichtsstätte zuwies, war übersichtlich; aber es hatte den Nachteil, daß dieselben Richter ein Jahr lang stets gleiche Prozeßgegenstände, die ja von der bestimmten Gerichtsstätte abhängig waren, aburteilten, z. B. eine Sektion stets für alle wichtigen Strafklagen, die bei dem Polemarchos anhängig gemacht wurden, zuständig war. Dieser

Umstand hatte zur Folge, daß den Richtern die jeweilige Prozeßmaterie, die an ihrem Gericht anhängig gemacht wurde, im voraus vertraut war (die Sache war ihnen bereits von der Annahme der Klage durch den Archon, möglicherweise auch von einem erstinstanzlichen Verfahren her bekannt) und sie sich ein Vorur-

teil bilden, Intrigen spinnen und eventuell sich sogar bestechen lassen konnten. Ferner störte bei dieser Prozedur auch, daß das Richterkollegium durch die

verhältnismäßig gleiche Prozeßmaterie fachkundig wurde und damit seinem Wesen nach nicht mehr ein Ausschuß des Volkes war. Zudem benötigte man für dieses System alle 6000 Richter, da ja jede Sektion jederzeit zur Verfügung stehen mußte. Vor allem die schweren Menschenverluste im Peloponnesischen Krieg, aber gewiß auch Unregelmäßigkeiten im System führten jedenfalls dazu, daß nach dem Krieg und der Wiederherstellung der Demokratie, also nach 404/03, eine einschneidende Reform stattfand. Es wurden die zehn Sektionen

beibehalten; aber künftig durfte sich der Richter in mehrere Sektionen eintragen lassen, so daß, falls eine Sektion nicht die genügende Anzahl von Richtern

aufbrachte, aus anderen Sektionen Ersatzleute zur Verfügung standen. Außer-

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

dem wurden für Privatprozesse kleinere Gerichtshöfe von 201 (bei einem wert unter 1 000 Drachmen) oder 401 Richtern (über 1 000 Drachmen) richtet. Damit war dafür gesorgt, daß alle anstehenden Prozesse eine chende Anzahl von Richtern erhielten. Gleichzeitig aber wurde das alte

StreiteingehinreiSystem

der festen Verbindung der Sektionen mit einzelnen Gerichtsstätten aufgegeben und künftig den Sektionen erst an dem Prozeßtag die Gerichtsstätte zugelost.

Damit wurden nicht mehr lediglich einmal am Beginn des Amtsjahres, sondern nun an jedem Tag, für den Gerichtssitzungen notwendig waren und an denen sie auch stattfinden durften, die Richter aus allen Sektionen erlost und ihnen

dann sektionsweise eine Gerichtsstätte zugelost. Die Richter derjenigen Sektionen, die keinen Prozeß erhalten hatten, konnten wieder nach Hause gehen. Von

jetzt an gibt es demnach die tägliche Richterlosung, und es war mithin jede Möglichkeit, sich für den anstehenden Prozeß zu präparieren, sich u.U. gar bestechen zu lassen, ausgeschlossen und darüber hinaus das Richterkollegium wieder ein Ausschuß aus dem Volk, nicht mehr ein Fachgremium, zu dem es der Tendenz nach früher geworden war. Aus dieser Reform ergab sich schnell eine weitere: Da die Verbindung von Sektion und Gerichtsstätte aufgegeben worden war, brauchten die Richter künftig nicht mehr am Anfang eines jeden Jahres erneut den Sektionen zugelost zu werden; denn der Gerichtshof stand ja noch nicht fest. So kam es dann dahin, daß jeder Athener, der einmal in eine Richter-

sektion gelost worden war, für sein ganzes Leben in dieser blieb. Es mußten künftig nur noch diejenigen in eine Sektion gelost werden, die noch niemals Richter gewesen waren, also die neu in den Kreis der Bürger eintretenden Epheben und Neubürger. Es ist zu dieser Zeit auch sicher aufgegeben worden, in jedem Jahr zunächst 6 000 Athener zu Richtern zu bestimmen; man hatte ja

jetzt Mühe, jedes Jahr eine so große Anzahl zusammenzubekommen. Außerdem war dies bei der lebenslänglichen Zuweisung an eine Sektion auch unnötig: Künftig wurde eben dann, wenn sich in einem Jahr für eine Sektion mehr als 600

meldeten, jeweils die benótigte Zahl ausgelost. Meist werden sich aber weniger gemeldet haben, und man mußte aus den anderen, für den jeweiligen Tag nicht benótigten Sektionen Ersatzleute heranziehen. Die nach dem neuen Verfahren fakusch lebenslängliche Zugehórigkeit aller Richter, und das heißt aller über 30 Jahre alten Athener, zu einer bestimmten

Richtermarke (pindkion). Griechischer Text: Γ TIEAIEYE 8EOSE (vou) EAEYZINIOZ T (Richtersektion), Pedieus (Name), Sohn des Theoxenos (Patronymikón), Eleusinier (aus dem Demos Eleusis, Demotikön). Athen, Nationalmuseum (aus: KROLL 1972, 698, S. 302, Fig. 48).

Vl. Die politischen Organisationsformen: Geschworenengerichte

213

Sektion brachte es übrigens mit sich, daß jeder Bürger seine Richtermarke (pinakion), die ihn mit Namen,

Vatersnamen,

Demotikon

und

Buchstaben

(grámma) seiner Sektion als Athener und Angehóriger einer bestimmten Sektion auswies und also ein ,,Identitátsausweis" war, nach dem Losvorgang bzw. nach

dem Ende der Gerichtssitzung nicht wieder abgab, sondern sie zeitlebens behielt. Von dem ideellen Wert, den der Athener dieser Marke als Ausweis seiner

Richtertätigkeit und damit der Richtertätigkeit überhaupt zumaß, zeugen etliche als Grabbeigaben gefundene Marken, die allerdings nicht, wie Aristoteles bemerkt (AP 63,4), aus Buchsbaum, sondern aus Bronze sind. Nicht mehr die Lanze, wie in archaischer Zeit, sondern der Richterausweis wird hier als Symbol

des Bürgers gesehen. Der Wandel der Bürgerauffassung kann nicht deutlicher ausgedrückt werden: Als Zentrum des politischen Daseins gilt nicht der Kampf, sondern die bürgerliche Tätigkeit auf der Agora, und unter allen politischen Aktivitäten kommt der richterlichen Tätigkeit die höchste Bedeutung zu. Das Richten ist Ausdruck der politischen Macht des Bürgers und damit ein Symbol der Demokratie (s.u. S. 224ff.).

Dieses Verfahren hat etliche Jahrzehnte gegolten. Vor der Mitte des 4. Jahrhunderts (378/77) ging man dann zu jenem über, das uns Aristoteles mitteilt. Die wichtigste Neuerung war die, daß die Phyle jetzt wieder das entscheidende Knterium der Auswahl bildete. Offenbar war bei dem älteren System die Phylenzugehórigkeit nicht immer angemessen berücksichtigt worden. Jetzt wurden die Richter - ohne Aufgabe des Sektionssystems - aus den Phylen erlost; die Sektion, der ein Athener lebenslänglich angehörte, blieb jedoch weiterhin die

Einheit, die den Gerichtshof bildete, und dieser wurde wie früher täglich ausgelost. Das im einzelnen sehr geschachtelte Verfahren, in dem mehrere Losungen hintereinandergeschaltet sind, ist ein schónes Beispiel für den Willen, alle Athener gleichmäßig am Richteramt zu beteiligen und jedes Sonderinteresse im vorhinein zu beseitigen. Es war indessen so arbeitsaufwendig, daß man zur Bewältigung dieses ja beinahe täglich zu leistenden Geschäftes sich der Hilfe von Losmaschinen bediente, von denen etliche auf der Agora in Athen gefunden worden sind. Dieses letzte Verfahren zur Richterauslosung ist u. S. 268f. dargestellt worden. Das Verfahren zur Bestimmung der Richter und zur Auslosung der Gerichtsstáàtte wurde von den Thesmotheten geleitet und fand auf dem Marktplatz, wahrscheinlich in dem Heliaia genannten Gebäude an der Ostseite des Marktes, statt. An ein und demselben Tag wurden entweder nur private oder öffentliche Prozesse verhandelt. Das einzelne Geschworenengericht, das einer Gerichtsstätte zugelost war, konnte hintereinander mehrere, vielleicht vier private Klagen, aber durfte nur eine öffentliche erledigen. Jeder Prozeß mußte an dem Tag, an dem er begonnen worden war, auch abgeschlossen werden; das war schon deswegen notwendig, weil angesichts der táglichen Auslosung der Gerichtsstätten sonst jeden Tag andere Richter demselben ProzeR vorgesessen hätten. Für manche óffentliche Klagen wurden mehrere Sektionen zu einem Geschworenengericht zusammengezogen; so sind z. B. Fragen des Bürgerrechts, Klagen wegen falschen Zeugnisses und die Entlastung der Beamten im Rechenschaftsverfahren vor 500, Eisangelie-Klagen, die ja Hochverrat, Umsturz der inneren

214

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Ordnung und Täuschung des Volkes betrafen, jedoch regelmäßig vor mehr Richtern (1 000, 1 500, 2 000 und 2 500) verhandelt worden; die gesetzgebenden Kommissionen der Nomotheten (s.o. S. 187ff.) bestanden meist aus 1 000 Rich-

tern. Prozeßablauf; Anzahl der Verfahren In dem Prozeßwesen Athens wirkt das alte Selbsthilfeverfahren noch nach; es hat sich, wie das materielle Recht auch, aus seiner archaischen Bindung nicht oder nur unvollkommen gelöst: Der Prozeß, die diké, soll seiner Natur nach vor

allem den Zugriff des Geschädigten ermöglichen, der früher selbst und eigenmächtig vollstreckt hatte, jetzt - nach Ladung des Gegners - beim zuständigen Beamten um einen solchen Zugriff nachsucht. Ist ihm durch das Urteil der Zugriff gewährt, vollstreckt er beim Privatprozeß das Urteil selbst, soweit er es nicht allein kann, unter Zuhilfenahme von Beamten. Der Staat oder richtiger: die Athener exekutieren also im Prinzip nicht ihr Urteil, sondern entscheiden

lediglich über die Zulässigkeit der Vollstreckung und garantieren diese. Im Prinzip ist es auch beim öffentlichen Prozeß so, nur daß hier an die Stelle des geschädigten Privatmannes alle Athener rücken: Eine öffentliche Klage/Anklage kann jeder Athener erheben. Die Vollstreckung liegt allerdings angesichts der Natur der hier verhandelten Straftatbestände bei den Beamten. Das Gewicht der Privatinitiative im Prozeßverfahren hat weiterhin zur Folge, daß der von der Partei erhobene Klaganspruch vom Gericht nicht verändert

werden kann. Das Gericht antwortet in seinem Urteil lediglich auf das Klagebegehren; es reformiert das Begehren nicht und entwickelt folglich keine eigene Ansicht zu der von den Parteien vorgetragenen Rechtslage des Falles: Das Gericht ist ganz passiv; es hört nur zu. Es sind darum auch die Parteien, welche die

Gesetze vortragen und die Beweismittel vorlegen, auf Grund derer gerichtet werden soll. Das Gericht ist also nicht, wie der Prätor in Rom, an der Gestaltung

der Rechtsgrundlage für die strittige Sache beteiligt. Auf Grund welcher Rechtssätze gestritten werden soll, bestimmen die Parteien, und die Richter können der

vorgelegten Rechts- und Beweislage nur zustimmen oder nicht. Selbst die Einschätzung der Entschädigungssumme, Buße oder Kapitalstrafe, die nicht durch

Parteienübereinkunft, durch Gesetz oder Volksbeschluß im vorhinein festgelegt worden sind, nehmen die Parteien vor: Das Gericht kann nur unter den Vor-

schlägen der Parteien auswählen. Dieser starre Formalismus erzwang z. B. im Prozeß gegen Sokrates die - von dem störrischen Alten in Kauf genommene Hinrichtung: Das Gericht konnte nur zwischen der vom Ankläger geforderten Todesstrafe und der von Sokrates vorgeschlagenen lächerlichen Buße von 30 Minen wählen - und entschied sich angesichts der in der Geringfügigkeit der Buße liegenden Provokation für die erstere (hätte Sokrates als Alternative die

Verbannung genannt, dürfte das Gericht auf die mildere Strafe plädiert haben). Die mangelnde Prozeßinitiative von seiten der Richter und Beamten zeigt sich auch darin, daß es bei öffentlichen Prozessen keinen von Staats wegen erstellten Anwalt gibt; in die Lücke tritt „jedermann“, das heißt, jeder Athener, der will,

kann in diesen Prozessen Anklage erheben.

VI. Die politischen Organisationsformen: Geschworenengerichte

215

Nach diesen allgemeineren Vorbemerkungen soll im folgenden der Ablauf des Prozesses, der im Prinzip für alle privaten wie óffentlichen Prozesse der gleiche war, dargestellt werden. Jeder Prozeß begann mit einer Vorladung (próklésis, „Herbeirufung“) vor den für die betreffende Prozeßmaterie zuständigen Beamten, die der Kläger gegenüber dem Beklagten selbst vorzunehmen hatte. An dem vereinbarten Termin prüfte der Beamte lediglich die ProzeRunterlagen und stellte die formelle Zulässigkeit, etwa seine eigene Zuständigkeit für das Verfahren, fest. Zu den Unterlagen gehórte eine schriftlich eingereichte Klageschrift (graphé) und eine ebenfalls schriftliche Antwort (antigraphé) des Beklagten. Letzterer durfte hier auch eine formelle Einrede gegen die Zulässigkeit der Klage (paragraphé) vorbringen. Wurde dieser stattgegeben, fand der Prozeß nicht statt. War dies nicht der Fall, forderte der Beamte von den Parteien die Prozeßgebühren (prytaneía),

die für Fälle mit einem Streitwert zwischen 100 und 1000 Drachmen drei Drachmen, für Fälle mit hóherem Streitwert 30 Drachmen betrugen und die die Stadt kassierte (der im Prozeß unterlegene Teil hatte dem siegreichen Gegner die Gebühr zu ersetzen). Danach bestellte er die Parteien zu der nächsten Etappe des Verfahrens, der „Befragung“ (anákrisis), und veröffentlichte das Klagebegehren. In der anäkrisis bestand die Aufgabe des Beamten darin, den Prozeß vorzu-

bereiten. Zu diesem Zweck erórterte er mit den Parteien den Hergang des anhángigen Tatbestandes und die Beweiserhebung und forderte sie zur eidlichen Bekräftigung ihrer schriftlich fixierten Prozeßbehauptungen auf. Dieser einleitende Teil sollte den Prozeß entlasten. Die weitaus meisten Privatklagen wies der Beamte darauf einem Schiedsrichter zu, seit dem Ende des 5. Jahrhunderts einem der damals geschaffenen Diaiteten, die aus der letzten Jahrgangsklasse der Wehrfähigen genommen wurden. Konnte vor ihm kein Vergleich erzielt werden, sprach er ein Urteil. War eine Partei mit dem Urteil nicht einverstanden, ging der Fall an ein Geschworenengericht. Alle óffentlichen Klagen hingegen kamen sofort vor ein Geschworenengericht. Der Beamte, vor dem die Sache anhángig gemacht worden war, saß auch dem

Geschworenengericht vor, in dem sie verhandelt wurde. Das Gericht tagte in einem abgeschlossenen, in aller Regel auch gedeckten Raum. Das Publikum war durch Schranken von den Richtern und Parteien getrennt. Der vorsitzende Beamte saß auf einem erhöhten Tribunal (béma), von dem aus auch die Redner

und Zeugen sprachen. In demosthenischer Zeit hatten die Parteien ebenfalls erhöhte Bühnen. Die Richter saßen auf Holzbänken; ein steinerner Tisch diente

der Auszahlung der Stimmen. Hatte der vorsitzende Beamte die Sitzung durch die Verlesung der Klageschrift und der Antwort auf sie eróffnet, hielten der Kläger und darauf der Beklagte ihre Reden. Bisweilen zogen die Beklagten, selten die Kláger, von ihnen gewählte Freunde und andere Fürsprecher (synégoroi, syndikoi) als Beistand hinzu. Bisweilen sprach der Beklagte nur die einleitenden Sátze und lief

den Hauptteil einen oder auch mehrere einfluftreiche und redegewandte Helfer vortragen, oder er überlie dem bzw. den letzteren besonders wichuge Partien der Argumentation

und

ein

Schlußwort.

Für

Unmündige,

Frauen,

Skla-

216

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

ven und zumindest auch für die weiblichen Metöken sprach der Vormund bzw. Eigentümer oder Patron. Da die Parteien bzw. deren Beistand meist weder rechtskundig noch wortgewandt waren, bedienten sie sich oft der Hilfe von gewerbsmälligen Verfassern von Gerichtsreden (Logographen), deren Produkte sie auswendig lernten und selbst vortrugen. In den Reden waren die Gesetze und Volksbeschlüsse, auf die man seinen Rechtsstandpunkt stützte, sowie die Beweismittel, insbesondere die Zeugenaussagen, durch die man die Tatsachenbe-

hauptungen belegte, enthalten. Im 5. Jahrhundert machten die Zeugen ihre Aussagen noch selbst und wurden danach von den Parteien fórmlich verhórt;

seit dem Anfang des 4. Jahrhunderts beschränkte man sich darauf, die Aussagen zu verlesen und sie von den anwesenden Zeugen bestätigen zu lassen. Die Zeugen waren bei ihrer Aussage gesetzlich an das gebunden, was sıe selbst gesehen oder in Erfahrung gebracht hatten; die Auslassungen eines Dritten durften sie nur berücksichtigen, wenn dieser verstorben war. Als Beweismittel galten neben der Zeugenaussage die einem Sklaven durch Folter abgenommene Aussage und der vom Gegner abgeforderte Eid, was beides nur mit Zustimmung des Prozeßgegners zu erreichen war und tatsächlich so gut wie nie zur Ausführung kam (amtlich auferlegte Eide gab es im 4. Jahrhundert nur bei Mordklagen), und natürlich war es möglich, sich selbst oder Angehörige zur Eidesleistung auf die eigene Aussage anzubieten. In den privaten Prozessen durfte jede Partei nach den beiden Reden einmal auf den Vortrag der Gegenseite antworten. Für alle Reden und Repliken war eın bestimmtes Zeitmaß festgesetzt, das nach Gießeinheiten der Wasseruhr berechnet wurde. Die Zeitmaße waren für die einzelnen Klagegattungen verschieden und natürlich auch davon abhängig, wieviel Zeit an einem Tage überhaupt zur Verfügung stand; denn jeder Prozeß mußte ja an dem Tag auch beendet werden, an dem er begonnen hatte. Für die Berechnung der gesamten Gerichtszeit eines Tages wurde, damit die zur Verfügung stehende Zeit immer gleich und nicht etwa der im Winter Prozessierende durch die kürzere Tageszeit benachteiligt war, der kürzeste Tag des Jahres, der

im Monat Poseideön (Dezember) lag, zugrundegelegt. Er betrug ca. 9 1/2 Stunden. Für die einzelnen Klagegattungen war die Prozeßzeit natürlich verschieden lang. Eine öffentliche Klage erforderte die gesamte zur Verfügung stehende Zeit; mit ihr war also eine Richtersektion den ganzen Tag beschäftigt. Bei einer öffentlichen Klage wurden dem Ankläger und Verteidiger für ihre Reden höchstens je drei Stunden zugestanden, die restlichen Stunden für die Eröffnung, die Repliken und die Abstimmung verwendet. Privatprozesse mit geringem Streitwert mußten in kürzerer Zeit erledigt werden. Die Gerichtsordnung sah, wie

gesagt, vor, daß bis zu vier von ihnen in einer Richtersektion an einem Tag

bewältigt werden konnten, und entsprechend kürzer war in dem einzelnen Prozeß die Redezeit. Der Parteienvernehmung schloß sich sogleich die Abstimmung an; eine De-

batte der Richter untereinander gab es nicht. Die Abstimmung stellte das Eigentumsrecht bzw. die Sie war geheim. Als steine, die in Urnen dem 4. Jahrhundert

Schuldfrage fest und folgte den Anträgen der Parteien (s.o.). Stimmsteine verwendete man Muschelschalen oder Kieselfür negative und positive Stimmen geworfen wurden. Seit erhielt der Richter zur besseren Geheimhaltung der Stimm-

VI. Die politischen Organisationsformen: Geschworenengerichte

217

abgabe zwei kleine Bronzescheiben, von denen die verurteilende durchbohrt war, die freisprechende nicht; sie wurden in Urnen für „gültig“ und „ungültig“ geworfen und konnten dabei mit den Händen gegen fremde Neugier verdeckt werden. Es entschied die einfache Mehrheit; Stimmengleichheit führte zum Freispruch des Beklagten. Da das ganz auf die private Initiative abgestellte Prozeßwesen in Athen besonders bei den öffentlichen Klagen und Anklagen, bei denen sich jeder in die Angelegenheit des Nächsten mischen durfte, zu einer unerträglichen Aufblähung der Prozeßtätigkeit führen konnte, waren dem Ankläger gewisse Barrieren aufgerichtet, die ihn zu einem verantwortungsvollen Handeln zwingen sollten. Hatte ein Kläger in einem öffentlichen Prozeß nämlich weniger als ein Fünftel der Stimmen

erhalten, mußte er 1000 Drachmen

Strafe zahlen und durfte

künftig keine Klagen derselben Art mehr anstellen. Bei manchen Privatklagen hatte der Kläger bei demselben Ausgang der Abstimmung eine Buße (epibolía) in der Höhe von einem Sechstel der Summe zu zahlen, die der strittige Gegenstand

wert war.

Eine Wiederaufnahme desselben Verfahrens war lediglich gestattet, wenn in

einem anderen Prozeß nachgewiesen worden war, daß die Gegenseite falsche Tatsachenbehauptungen aufgestellt hatte. Die Sitzungen von Geschworenengerichten, sowohl die wegen privater als auch die wegen öffentlicher Klagen waren zahlreich, und wenn man bedenkt, daß jede Sitzung Hunderte von Athenern beschäftigte, kann man sich eine Vorstellung von dem Ausmaß der richterlichen Tätigkeit und von der Inanspruchnahme des Bürgers machen, insbesondere des ın der Stadt und seiner Umgebung

wohnenden, der ja ohne Zweifel in den Gerichten überrepräsentiert war. Vor allem der öffentliche Prozeß kostete Zeit, und dies nicht nur deswegen, weil für ıhn 501, 1 001 oder gar noch mehr Richter benötigt wurden, sondern auch, weil

er nicht, wie im privaten Prozeß möglich, in einer Vorverhandlung schiedsrichterlich erledigt werden konnte, sondern immer vor dem Geschworenengericht stattfinden mußte und weil er, anders als die Privatprozesse, einen ganzen Tag

dauerte. Für das politische Leben spielten die öffentlichen Prozesse aber eine nicht leicht zu unterschätzende Rolle, und sie hatten auch eine ungleich höhere

Anziehungskraft für den Bürger als die Privatprozesse. Im folgenden sollen ın einer Übersicht die mannigfaltigen Anlässe, seien es nun Strafklagen, Überprüfungen oder Untersuchungen, welche die Niedersetzung eines Geschworenengerichts von mindestens 501 Bürgern erzwangen, zusammengestellt werden, um

eine Vorstellung von der Vielfalt und dem Umfang der „politischen Gerichtsbarkeit“ im weitesten Sinne zu vermitteln. Geschworenengerichte (Dikasterien) von 501 und mehr Richtern wurden einge-

setzt für die

1. Überprüfung der Tauglichkeit für ein Amt (Dokimasie), vorzunehmen von Geschworenengerichten für gut 700 Beamte und für diejenigen Archonten

und Ratsherren, die vom Rat nach Überprüfung ihrer Tauglichkeit negativ votiert worden waren und dagegen an ein Geschworenengericht appelliert hat-

218

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

ten. Die Dokimasie war unumgänglich, aber in den weitaus meisten Fällen eine reine Routineangelegenheit, die wenig Zeit in Anspruch nahm (vgl. u. S. 273ff.). 2. Verhandlung über die von den Rechnungsprüfern (Logistai) in jeder Prytanie monierten Rechnungen derjenigen Beamten, die mit Geldsachen be-

faßt worden waren, und über die von den ebenfalls Logistai genannten Rechnungsprüfern nach Schluß des Amtsjahres zusammen mit deren Helfern (synégoroi) geprüften Schlußabrechnungen. Da jährlich sehr viele ordentliche und

außerordentliche Beamte zu prüfen waren, war die Zahl derartiger Verhandlungen sehr hoch. 3. Verhandlung aller von den Rechenschaftsbeamten (Euthynoi) während

des Amtes oder nach Amtsniederlegung entgegengenommenen Anzeigen gegen Beamte, darunter auch außerordentliche Beamte (Priester, Gesandte), wegen

Delikte, die zu einem öffentlichen Prozeß führten; Privatsachen gingen von den Euthynoi an die „Vierzig Männer“ (s.u. S. 277f.).

4. Verhandlung von Anzeigen gegen Beamte, die bei der zehnmal im Jahr von der Volksversammlung vorgenommenen Überprüfung der Beamten (Epicheirotonie) gemacht und von dieser an ein Geschworenengericht verwiesen worden waren. Die Anklage konnte auch eine Eisangelie sein (s.o. S. 179f.). 5. Verhandlung von Anzeigen gegen jeden Bürger, ob nun Beamter oder nicht, die der Rat entgegengenommen und bei denen er in einer ersten Verhandlung für eine höhere Strafe, als er selbst zu verhängen befugt war (500 Drachmen), entschieden hatte.

6. Verhandlung von Anklagen wegen verfassungswidriger Anträge vor der Volksversammlung (graphé parandmön). Seit 415 häufig, insbesondere gegen politische Führer angestrengt und oft nicht gegen wirkliche Rechtsbrüche, sondern (z. B. mittels Klagen gegen die Verleihung von Ehrungen) gegen eine bestimmte Politik gerichtet (s. S. 180.327f.).

7. Verhandlung von Anklagen wegen Anträgen auf einen nutzlosen, von den Nomotheten zu beschlieRenden Nomos (grapbé mé epitédeion thefnai, der vor den Nomotheten selbst verhandelt wurde. Seit 403/02. Sehr selten (s.u.

S. 189f.).

8. Verhandlung von Eisangelie -Klagen wegen Umsturzes der Demokratie, Hochverrat und Bestechung, im Rat gegen Beamte und in der Volksversammlung gegen jederman vorgebracht und an ein Geschworenengericht verwiesen. Bis 355 hat die Volksversammlung die Verhandlung auch selbst übernommen. Diese Klage wurde oft erhoben. Es sind 130 Klagen aus der Zeit der Demokratie

bekannt, besonders gegen Strategen (34 Fälle) und führende Sprecher in der Volksversammlung (14 Fälle) gerichtet (s.u. S. 179f.).

9. Verhandlung wegen Táuschung des Volkes und Sykophantie sowie Verletzung der Heiligkeit gewisser Feste konnte von jedermann mittels probolé („Vorwurf“) über den Rat in die Volksversammlung zur Vorentscheidung ge-

bracht und bei zustimmendem Votum an ein Geschworenengericht unter Leitung eines Thesmotheten verwiesen werden. 10. Verhandlung von Anzeigen wegen Nichterscheinens bei der Aushebung und Verlassen der Schlachtreihe/Flotte während des Kampfes bzw. Feigheit, die von den Strategen an ein Geschworenengericht gingen.

VI. Die politischen Organisationsformen: Geschworenengerichte

219

11. Verhandlung von Anzeigen gegen Bürger wegen Tempelraubs, Bestechung, betrügerischer Gesandtenführung, Münzfälschung, qualifizierten Diebstahls, Sykophantie und anderer Delikte, die mittels einer Schriftklage bei den Thesmotheten angezeigt und von ihnen an ein Geschworenengericht verwiesen wurden. 12. Verhandlung von Anzeigen wegen Gottlosigkeit (asébeia), anhängig gemacht beim Basileus, und wegen schlechter Behandlung der Eltern und von Waisen sowie wegen Faulheit und anderer Delikte, anhängig gemacht beim

Archon, und von beiden an ein Geschworenengericht verwiesen. 13. Verhandlung von kriminellen und politischen Strafklagen gegen einzelne Bundesgenossen oder bundesgenössische Städte des Ersten Athenischen Seebundes, die entweder von Rechts wegen in Athen stattfinden mußten oder unter politischem Druck, sei es von Anfang an, sei es mittels Berufung, nach Athen gingen (zu den Straftatbestánden vgl. Schuller, 401, S.48ff. und Koch, 404, S.449f£.), und von Bundesgenossen aus abgefallenen Städten des Zweiten Athenischen Seebundes (wie z. B. aus keischen Stádten nach 363/62).

Faktoren der Urteilsbildung

Der ProzeR vor dem Geschworenengericht, insbesondere die für ihn typische Initiative der Parteien nicht nur zum Prozeß, sondern auch zur Gestaltung des

Prozesses selbst, wirft die Frage nach der Rolle auf, die in dem Prozeß dem Recht zugewiesen wurde. Vertraten die Parteien oder die Richter das Recht? Welche Kräfte wirkten bei der Urteilsfindung außerdem noch mit? Gab es außer dem positiven Recht des Gesetzes und Volksbeschlusses noch weitere Rechtsquellen? Diesen Fragen soll im folgenden noch etwas náher nachgegangen werden. Jeder Richter leistete vor Antritt seines Amtes einen Eid, daß er sein Urteil auf Grund der allgemeinen Gesetze (n6moi) und der Beschlüsse von Volk und Rat

fällen werde. Konnte er das überhaupt bei der passiven Rolle, die er im Prozeß spielte? Und falls es móglich war, tat er es auch? Fühlte er sich nicht vielleicht eher als ein über dem Parteienstreit und dem Recht stehender Richter, der den

Nutzen des Staates oder den ihm richtig erscheinenden politischen Standpunkt eines Redners dem von den Parteien vorgetragenen Rechtsstandpunkt vorziehen mußte oder durfte? Schon bei Aristophanes, besonders in den gegen Kleon gerichteten „Rittern“ (424 v. Chr.), können wir häufig den Vorwurf lesen, daß die Heliasten mit den Demagogen zusammenarbeiten und aus Neid oder Gier

gern die Reichen verurteilen. Und mit unverhohlener Schárfe im Ton sagt der Autor der um 430 zu datierenden Schrift vom Staat der Athener (Ps.-Xenophon), ein Kritiker der Demokratie, daf das Volk in den Gerichten nicht so sehr

das Recht (dikaion) als seinen eigenen Nutzen (sympheron) im Auge habe

(1,13).

Auf den ersten Blick scheint in der Tat das Recht in Athen einen schweren Stand zu haben. In dem Prozeligang ist die Rechtsmaterie in einen starren

Formalismus eingezwángt. Nur die Parteien dürfen das Recht zitieren; das

220

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Gericht kann lediglich von der Rechtsdarstellung der Parteien her urteilen. Das Gericht ist weiterhin auch darin ganz unbeweglich, daß es das Vorgetragene nicht frei abwägen kann, sondern der einen oder der anderen Darstellung der Parteien folgen muß. Die Starrheit des Rechtssystems zeigt sich ferner auch darin, daß zur Urteilsbildung allein das positive Recht (nómor) und die sie

ergänzenden Beschlüsse von Volk und Rat als die einzige Rechtsquelle, welche die Athener kannten, herangezogen und von den Parteien zitiert werden

durften. Die Gewohnheit hat in Athen wie in fast allen griechischen Staaten nicht die Bedeutung eines subsidiären Rechts, und auch die Rechtsprechung besitzt - anders als bei den Römern und in den modernen Rechtssystemen eben auf Grund der rein positiven Gesetzesauslegung keine rechtsbildende Kraft. Manche Gelehrte haben geglaubt, daß das Recht durch das Prinzip der Billigkeit ergänzt, also dem normativen Recht eine ausgleichende Gerechtigkeit beigegeben worden sei; als Vermittler des Gedankens der Gerechtigkeit werden neben Gorgias, dem großen Begründer der Rhetorik, vor allem die Philosophen

genannt. Aber das ist mit Sicherheit falsch. Sowohl die Philosophen als auch die Dichter haben ohne jede Einschränkung die Gültigkeit der athenischen Gesetze anerkannt und den Gesetzesgehorsam gepredigt. So hat Sokrates bekanntlich das von ihm als unrichtig empfundene Gesetz, nach dem er verurteilt worden war, nichtsdestoweniger respektiert und um des Gehorsams gegenüber diesem Gesetz willen die ihm angebotene Flucht aus dem Gefängnis unterlassen, und

Platon und Aristoteles, die das Problem des möglichen Gegensatzes zwischen positiver Norm und der Gerechtigkeit durchaus gesehen haben, wollten das Recht ihrer Zeit doch nicht durch eine Gerechtigkeitslehre bessern. Soweit Philosophen oder andere Autoren Erwägungen der Gerechtigkeit oder Billig-

keit anstellten, dienten sie rein philosophischen Überlegungen, insbesondere der Darstellung eines Erziehungsideals, das die städtische Rechtsordnung ganz unberührt ließ; Platon und Aristoteles haben sich in keiner ihrer Schriften als

Reformer des in ihrer Stadt geltenden Rechts aufgespielt. Der Sinn des Rechts, auf den sie in ihren Gedankengebäuden zielen, ist von moralischen und politi-

schen Wertvorstellungen getragen, die von der Rechtswirklichkeit der Stadt, in der sie lebten, absehen. In der athenischen Rechtspraxis, beim Kampf um das

Recht vor den Geschworenen, steht hingegen die Sinnfrage nicht zur Debatte; die Rechtssätze werden nicht im Hinblick auf den Zweck im Recht interpretiert und ausgelegt. Sie werden lediglich zitiert, und die Schnur der Rechtsanwendung ist die Übereinstimmung der behaupteten Tatsachen mit dem Gesetzestext. Die uns heute so befremdlich erscheinende Unbeweglichkeit des Gerichts ist eine Konsequenz der Vermassung des Laiengerichts: Die Idee, daß alle Athener bzw., da dies praktisch undurchführbar ist, möglichst viele Athener richten sollten, erzwang dieses System. Mochte auch früher, in vordemokratischer Zeit,

der Einzelrichter eine andere Urteilspraxis geübt haben: In der Demokratie

konnte die große Anzahl von Laienrichtern kein Urteilsgespräch über die Rechtsmaterie führen, da dies sowohl von der Masse der Richter als auch von

ihrer Vorbildung her nicht möglich war. Die Richter konnten nur nach den von den Parteien vorgetragenen Argumenten ihre Meinung bilden und dabei mufète

VI. Die politischen Organisationsformen: Geschworenengerichte

221

das Gesetz, und das heißt das geschriebene Gesetz, das entscheidende Gewicht haben. Was nicht aufgezeichnet war, das „ungeschriebene Gesetz“ (ágraphos nómos), wozu auch die in den Gesetzesredaktionen von 410-399 (s.o. S. 186) nicht aufgenommenen Gesetze gehórten, durfte, mochte es auch sonst im zwi-

schenmenschlichen Leben durchaus Geltung haben, bei Gericht nicht als Beweismittel berücksichtigt werden, weil es angesichts seiner Beliebigkeit im Hinblick auf den verhandelten Gegenstand den Richtern das Maß nahm, an das sie sich halten konnten und sollten. Konsequenterweise wurde denn auch bei der Neuordnung oder richtiger: bei der Restauration des Gesetzeswesens 403/02 die

Anwendung des ,ungeschriebenen Gesetzes" von Amts wegen ausdrücklich untersagt. Es herrschte daher ein ausgesprochener Gesetzespositivismus in der Urteilspraxis der athenischen Geschworenengerichte vor. Zeigt somit das Normengefüge, nach dem der Richter zu urteilen hat, eine gewisse Starre, stand es mit der Würdigung der von den Parteien behaupteten oder bestrittenen Tatbestände nicht viel anders. Wie konnte der Richter den Wahrheitsgehalt der von den Parteien aufgestellten Behauptungen und der Zeugenaussagen überprüfen? Angesichts des starren Verfahrens, in dem es keinen Discours zwischen den streitenden Parteien und vor allem auch nicht zwischen ihnen und den Richtern gab und ferner der Zeuge lediglich eine ihm von einer der streitenden Parteien vorgelegten Aussage bestátigen oder verneinen, sie also nicht im Sinne einer Wahrheitsfindung qualifiziert beantworten durfte, mußten für den Richter die Persónlichkeit des Zeugen ebenso wie die aller anderen Personen, die in dem anhángigen Sachverhalt eine Rolle spielten, insbesondere natürlich der Kläger und der Beklagte, für die Beurteilung des Wahrheitsgehaltes der Aussagen unverhältnismäßig großes Gewicht erhalten und dabei notwendigerweise sachfremde Faktoren, wie sie die Prozeßparteien auch selbst vorbringen mochten (Moral des Prozefigegners oder Zeugen, sein Verháltnis zur Polis usw.) die Entscheidung stark beeinflussen. Es versteht sich, daf$ dabei die

rednerische Begabung bzw. Erudition der Redner, die auch um den Preis der Wahrheit überzeugen bzw. überreden wollen, für den Erfolg der Sache bestimmend sein konnte. Der Glanz der Rhetorik verdunkelt die Sache. War die Richterpraxis in Athen durch einen Gesetzespositivismus charakteri-

siert, braucht es deswegen - das Wort ist ja heute durch die politische Ideologie übel beleumdet - nicht schon zu einer Urteilspraxis zu führen, in der die Verbindung mit der Realitát und der Gerechtigkeitssinn verlorengegangen wa-

ren. Aber es fehlte doch die geistige Durchdringung der Rechtsmaterie und das aus der Bescháftigung mit ihr sich ergebende Interesse, das Recht als einen in

sich ruhenden Bereich menschlichen Daseins zu durchdenken. Denn das positive Recht hatte neben den Parteien, die nach ihm griffen, keinen Adressaten. Der Gerichtsvorsitzende oder der Richter konnte dieser nicht sein, weil sie im

Prozeßgang nicht innerhalb des Rechtsstreits agierten, sondern lediglich auf die Parteienvortráge reagierten. Einen außerhalb von Parteien, Richtern und Beamten stehenden Kreis, der am Recht interessiert gewesen wäre, stellten zwar die Philosophen dar; Aristoteles etwa hat auch für die Rechtspraxis fruchtbare Ideen entwickelt. Aber es führte von ihnen kein Weg zu den Gesetzemachern

oder zur forensischen Praxis. Die Philosophie stand isoliert neben dem prakti-

222

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

schen Recht, ganz abgesehen davon, daß sie selbst, antidemokratisch wie sie war, keinen Weg dorthin suchte. Es fehlte folglich jede für die richterliche Praxis relevante Rechtsliteratur und damit das, was die Römer Jurisprudenz nannten. Den Juristen gab es in Athen ebensowenig wie in den anderen griechischen Städten. Aber es gab den Redenschreiber (Logographen), den wir so gut aus den

uns erhaltenen Prozeßreden des späten 5. und vor allem des 4. Jahrhunderts kennen. War er vielleicht ein Ersatz? Der Schreiber der Prozeßreden hatte nun von allen am Prozeßleben Beteiligten gewiß das geringste Interesse am Recht. Dazu war er weder von seiner Herkunft noch von dem Gegenstand seiner Arbeit her geeignet. Was seine Person anbetrifft, so war er ein womöglich gebildeter, auf jeden Fall geistig beweglicher, aber dabei doch völlig unselbständiger Mann, der lediglich ım Auftrage anderer für ein Honorar Reden schrieb. Die Abhängigkeit vom Geld, die ihn zur Übernahme auch ungelegener oder sogar gegen seine innere Überzeugung stehender Aufträge zwang, wog dabei ebenso schwer wie der Umstand, daß er vor Gericht nicht selbst auftrat; an letzterem hinderte ihn sowohl die Vorschrift, daß die Prozefbeteiligten selbst oder unbezahlte Helfer, meist Freunde,

sprechen

sollten, als auch

die Annahme

eines Honorars,

das den

Auftritt vor Gericht ausschloß. Der Logograph stand darum immer im Hintergrund, hatte nicht die Chance, seine Rednerbegabung und seine Gedanken vor einer Offentlichkeit vorzutragen, mit ihnen zu glänzen und vielleicht durch bestimmte von ihm vertretene Prinzipien sich einen Namen zu machen. Und der Gegenstand seiner Arbeit konnte das Recht als einen selbstándigen Wert auch nicht fórdern. Da der Logograph von seiner beruflichen Situation her in erster

Linie den Erfolg vor Augen haben mußte, ging es ihm eher um die Durchsetzung des Anspruchs seines Auftraggebers durch Überredung als darum, von der Rechtslage her überzeugen zu wollen, dies besonders dann, wenn der Anspruch seines Geldgebers rechtlich nicht gut abgesichert war. Er mußte die Rechtssätze herausstreichen, die ihm vorteilhaft erschienen, andere unterdrücken, mußte,

falls er in Bedrángnis war, die rechtliche Lage verschleiern kónnen und durfte in Notlagen auch vor der schlichten Rechtsverdrehung nicht zurückscheuen. Die schöne, richtige und einprágsame Wortwahl mußte ihm ebenso wichtig sein wie die Kunst des Schmeichelns, des Erweckens von Mitleid oder von Empörung. Es traf sich, daß die Kunst des Redens als eine Kunst des Überredens gerade in jener Zeit ıhre Anfänge hatte, als die Demokratie ins Leben trat, und diese Kunst, die Rhetorik, ist dann durch die Demokratie, in erster Linie durch den Zwang, vor

Gericht und vor der Volksversammlung argumentieren zu müssen, schnell zur höchsten Blüte gekommen. Auf die Rhetorik als einer formalen Schulung war der Logograph am ehesten angewiesen. Das Recht hatte an ihm keine Stütze. Hatte das Recht es bei dieser Sachlage schwer, sich durchzusetzen, wurde es

in der Beweisführung gegebenenfalls sogar mit Bedacht verzerrt und zurechtge-

bogen. Man versuchte, den Wortlaut eines Gesetzes in einem für sich vorteilhaften Sinne umzubiegen, den Sachverhalt nicht oder nur ungefähr berührende Gesetze bei Zurückdrängung des wesentlichen, aber dem verfolgten Prozeßziel

wenig günstigen Gesetzes zu zitieren, den strittigen Sachverhalt an das Gesetz anzupassen, Gesetzeslücken zu konstatieren, sogar ein Gesetz einfach falsch zu

VI. Die politischen Organisationsformen: Geschworenengerichte

223

interpretieren in der Hoffnung, daß der Prozeßßgegner, der ja einmal antworten durfte, und die Richter derlei mehr oder weniger verschleierte Tricks nicht

merkten. Darüber hinaus versuchten die Parteien, zur Stärkung ihrer Position auch Beweismittel nichtrechtlicher Natur vorzubringen. Es sind also die Parteien, dıe selbst bzw. unter Zuhilfenahme eines Redenschreibers die oben bereits

erwähnten sachfremden Faktoren vortragen, die durch das unbewegliche Ver-

fahren begünstigt und von den Richtern gleichsam als Urteilshilfe geradezu erwartet werden. Es lag dabei nahe, die Richter als Mensch und Bürger anzusprechen und sie dazu aufzufordern, bei ihrem Urteil in der vorliegenden Sache

die moralischen und vor allem auch bürgerlichen Tugenden oder auch Untugenden, je nachdem ob der Verteidiger oder der Ankläger sprach, mitzubedenken. Das hatte - außer bei der Überprüfung der Amtsqualität (s.u. S. 273f.) - zwar keinen Bezug zur Sache, aber wer wollte denn bestreiten, daß alles, was vor Gericht vertreten wurde, einen allgemeinen Hintergrund besitzt, vor dem sozu-

sagen jede Sache sich zu bewähren habe? Gerade ein mit der Rechtsmaterie wenig vertrauter Bürgerrichter wird sich hier einen „Freiraum“ genommen haben, ohne daß sein Gewissen dabeı belastet worden wäre; vielleicht fühlte er

sich bei Berücksichtigung solcher ausdrücklichen Aufforderungen der Redner sogar gehoben, auf jeden Fall brauchte er sich darob nicht zu rechtfertigen, denn man stimmte ja ohne Aussprache geheim ab. So wird denn in den Reden das persönliche und gegebenenfalls politische Leben des Klägers bzw. Beklagten

durchleuchtet, die Person auf Grund geltender Verhaltensnormen abgewertet oder aufgewertet und auf diese Weise eine unter Umständen schwache Rechtsposition gestützt. Kaum ein Redner verzichtete auf die möglichst wirkungsvolle Charakterisierung der angegriffenen bzw. verteidigten Person als Teil seiner Beweisführung. Der Richter mußte bei dieser Argumentationstechnik, so

scheint es, von Emotionen und sachfremden Argumenten so bewegt und in den Plädoyers hin- und hergerissen werden, daß das Recht nur geringe Chancen hatte, sich durchzusetzen.

Die dargelegten Voraussetzungen für die Urteilspraxis in Athen geben ein

düsteres Bild. Und doch ist in Athen das Recht nicht durch Rhetorik und Politik oder durch den starren Positivismus unterdrückt worden, jedenfalls nicht oder nicht sehr viel mehr als heutzutage. Athen ist eher das Beispiel für ein funktionierendes System des reinen Gesetzespositivismus. Bei aller Schwáche, die in der

Môglichkeit der willkürlichen Handhabung der Gesetze durch die vortragenden Parteien lag, ist es nämlich unübersehbar, daf die Parteien wie die Richter in

diesem System von Gesetzen dachten, daß sie sich nach den Gesetzen richteten

und die zutreffenden Gesetze zitierten. Es ist nicht einfach, dies angemessen zu begründen. Aber die Basis dieser Einstellung gab ohne Zweifel das Bewußtsein, von einer dichten Ordnung umgeben zu sein, von der ein jeder abhängig war

und die ihm Sicherheit gab. Aber das Rechtsbewußtsein allein hätte nicht genügt, wenn es nicht durch die Gewißheit ergänzt worden wäre, daß diese Rechtsordnung nicht nur allen auferlegt sei, sondern sie auch von allen getragen wurde: Die bestehenden Gesetze wurden laufend ergänzt; in jeder ersten Pryta-

nie eines Jahres wurde an die Volksversammlung die Frage nach einer Korrektur

oder Ergänzung der Gesetze gerichtet. Nicht nur das private, auch das öffentli-

224

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

che Leben war auf Gesetze gestellt. Kein antiker Staat hat wie Athen eine solche beinahe manische Neigung gekannt, die gesamte Lebensordnung auf Gesetze zu gründen. Jeder Athener besaß darum eine ungefähre Vorstellung von der positiven Regelung der meisten Lebensbereiche, und hatte er sie nicht, so durfte er hoffen, daß bei einem Prozeß die Parteien seine Wissenslücke füllten. Mi£-

brauch des Gesetzes war möglich, aber die personale Dichte auch wiederum so groß, daß der Rechtsbeuger seine Bestrafung erwarten durfte, und wenn dies auch nicht in allen Fällen so war, mochte doch die Furcht davor die am Prozeß

Beteiligten vor den gröbsten Verstößen zurückschrecken. Auf offensichtlichen Mißbrauch waren schwere Strafen gesetzt; so stand auf die Zitierung nicht existierender Gesetze die Todesstrafe (Dem. 24,26). Die Härte der Strafe ist

bezeichnend; sie weist deutlich auf die Mängel der Rechtspraxis: Die Strafe ersetzt die fehlende administrative Kontrolle und die unzureichende Rechtskenntnis der Laien-Richter. Aber hinter ihr steht auch der Wille, trotz aller

Unzulänglichkeiten das Gesetz durchzusetzen. Und dieses Gesetz hatte alle Bereiche des Lebens, die als der staatlichen Rechtssetzung zugänglich galten, ın ein Raster normativen Rechts eingebettet, und gerade diese Situation, die eine Lebensbedingung aller Athener war, zwang etwa einen Logographen, der eine schlechte Beweislage mit allerlei Verschleierungstaktiken zu vertuschen suchte,

vor den Richtern, und das heißt vor allen Athenern, doch so zu argumentieren, daß beı allen der Eindruck von einer subjektiv ehrlichen Rechtsüberzeu-

gung entstand. Auch wenn er außerrechtliche Argumente, also etwa private und politische Gesinnung, ins Spiel brachte, durfte er daher nicht das Gesetz als die Grundlage seiner Beweisführung verlassen, sondern mußte solche Gedanken

an das positive Gesetz anschließen, indem er z. B. dessen politische Seite hervorhob oder ihm einen moralischen Sinn unterstellte. Mit rhetorischen Tricks allein kam man vor den Richtern nicht aus; die positive Ordnung mußte aus allen Argumentationen durchscheinen. Denn jeder Redner, der vor Gericht einen Sachverhalt vertrat oder bestritt, hatte sıch stets zu vergegenwärtigen, daß die

gesamte Gesetzesordnung nicht nur allen jedenfalls in Umrissen bekannt war, sondern auch von allen vertreten wurde: Das Volk war Gesetzgeber und Richter zugleich; das Recht war die ihm eigene Ordnung und der Mißbrauch oder die Nichtachtung daher immer ein Akt gegen den Souverän. Politische Bedeutung Aristophanes läßt in seinem der Kritik an den Geschworenengerichten gewidmeten Stück, den „Wespen“, diejenige Figur, die den klassischen Typus des

athenischen Richters verkórpert, einen von herzhafter Komik getragenen Preis auf die Allmacht des Richters sprechen (548-630). Bei allem Bemühen,

die

politische Bedeutung der Geschworenengerichte herauszustreichen, hat es der Dichter hier doch nicht darauf abgestellt, deren Macht über das Recht aufzuzeigen; die Unabhängigkeit der Gesetze setzt er vielmehr durchweg voraus und beschränkt sich darauf, die überstarke Macht der Richter in der Ausübung des Rechts offenzulegen, die sich in der beinahe schrankenlosen Zustándigkeit der Gerichte, in der strengen Anwendung,

bisweilen auch in der willkürlichen

VI. Die politischen Organisationsformen: Geschworenengerichte

225

Auslegung und gelegentlich sogar in der Beugung des Rechts äußert. Erheblich schärfer als Arıstophanes formuliert der Autor der Schrift über den Staat der Athener um 430 (Ps.-Xenophon), wenn er sagt, daß die Gerichte - er nennt sie:

das Volk (démos) - in Athen die Bedeutung des allgemeinen Gesetzes (nómos) haben (1,18). Beide Autoren aber vermitteln die Vorstellung eines nicht nur sehr

großen, sondern auch politisch nicht angemessenen, tendenziell den Rahmen sprengenden Einflusses der Richter, und beide, auch Aristophanes, identifizie-

ren dabei direkt oder indirekt die Richter mit dem Volk von Athen oder mit den für die Demokratie besonders engagierten Bürgern. Entsprechende Gedanken mit z. T. noch deutlicheren Formulierungen finden wir bei den Rednern und Philosophen des 4. Jahrhunderts. Den Stimmstein des Richters im Geschworenengericht nennt Lysias in einem Privatprozeß am Anfang des Jahrhunderts „die größte Macht im Staate“, und ein anderer Redner, Deinarchos, tituliert in

der Rede gegen Demosthenes im Jahre 324 die Richter schlicht als , Herren über alles“ (106). In der Form korrekter, aber in der Sache gleich urteilt Aristoteles in seiner Schrift vom Staate der Athener; in der radikalen Demokratie, meint er, verwaltet „das Volk alles durch seine Beschlüsse und durch die Geschworenengerichte, in denen es die Macht hat" (41,2). Das Bild des richtenden Volkes,

das Herr über das Gesetz oder doch wenigstens Herr über dessen Anwendung ist, wird weiter ergänzt durch das der prozeßwütigen Athener: Mit Spott karikiert Aristophanes zu wiederholten Malen, daß die typische Tätigkeit des Volkes das Richten für drei Obolen pro Tag sei (z. B. „Ritter“, 50f.255), und die

Prozeßwut der Athener ist in unseren Quellen sogar zu einem Gemeinplatz geworden. In den „Vögeln“ (414 v. Chr.) läßt Aristophanes seine phantastische Geschichte ihren Ausgang von der Flucht zweier Bürger aus Athen nehmen, welche die Prozeßlust der Athener vertrieb (v. 27-48), und wie die Kritiker in Athen dachte man erst recht bei den anderen Griechen (Thuk. 1,77,1): Der

Athener ist immer zugleich auch ein Richter (Heliast, Aristoph. Vögel 109). Es ist auch die Prozeßlust, die gerade den Außenstehenden, also den Kritikern der

Demokratie und den Fremden, den Eindruck von Vielgeschäftigkeit (polypragmosyné) der Athener vermittelte. Die Unruhe, die Neigung zu Veránderungen und die hektische Betriebsamkeit im demokratischen Athen, die diesem Perso-

nenkreis Sorge, ja Angst machte, wurde vor allem auf die Tätigkeit der Geschworenengerichte zurückgeführt, in denen täglich Hunderte, bisweilen Tausende urteilten und eine unaufhórliche Bewegung im óffentlichen Bereich erzeugten.

Laiengerichte gab es auch in anderen griechischen Stádten. Aber in keiner Stadt ist das Gerichtswesen in einer so umfassenden Weise auf sie konzentriert worden wie in Athen, und nirgendwo ist gleichzeitig das richtende Gremium in solcher Vermassung aufgetreten wie dort. Das antike Urteil über den Umfang und die Macht der Dikasterien kann der moderne Interpret bestätigen: Der Idee nach sollen alle Athener über alles urteilen; in der Praxis urteilen móglichst viele

Athener über so viel wie möglich. Die Bedeutung der Geschworenengerichte wirft verschiedene Probleme auf.

Eines liegt in der Frage nach dem Verháltnis zwischen den Geschworenenge-

226

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

richten und der Volksversammlung. Beide Institutionen werden von den Zeitgenossen bisweilen in eins gesetzt: Die Gerichte sind der Demos; Demosthenes nennt in seiner Rede gegen Timokrates die 500 richtenden Nomotheten sowohl „Richter“, $ 1) als auch „ihr, die Menge“ (Poi pollot, das heißt „Demos“, 37), und der Wechsel der Anrede von „Richter“ zu „Athener“ ist vielfach fließend. Das

ganze Volk sind die Richter natürlich nicht in einem formellen Sinne; denn formell ist das Volk als Ganzes nur in der Volksversammlung erkennbar. Auf

eine faktische Identität weisen indessen nicht nur der Umfang der Tätigkeit und die Vermassung des Gerichts. Auch der Umstand, daß das Urteil der Geschworenengerichte von der Volksversammlung nicht abgeändert werden kann, daß sogar umgekehrt die Gerichte bei der Klage wegen Verfassungswidrigkeit Volks-

beschlüsse umstürzen oder Anträgen, die dieser Klage unterworfen wurden, die Kraft von Volksbeschlüssen verschaffen können (auf die Bestätigung des inkriminierten Antrags durch die Volksversammlung verzichtete man in diesem Fall, s.u. S. 520), unterstützen den Eindruck von Gleichrangigkeit. Die Richter sind also nicht die „dritte Gewalt“, die um der Kontrolle willen als Gegengewicht

gegen die Legislative eingesetzt ist; die Gewaltenteilung ist in Athen unbekannt und die große Masse der Richter darum entweder (der Idee nach) das Volk oder ein Ausschuß desselben. Die Vorstellung der Identität mit dem Volk ist weiter

darin enthalten, daf die Gesamtzahl der Richter auf 6 000 festgelegt und damit der Zahl gleichgesetzt ist, die in der Volksversammlung als das ganze Volk gilt (s.o. S. 162). Das Volk ist mithin in zwei, rechnet man die seit dem Ende des

5. Jahrhunderts eingerichteten Nomotheten-Kommissionen hinzu (o. S. 187ff.), sogar in drei staatlichen Institutionen prásent; es vermag in zweierlei (dreierlei)

Gestalt aufzutreten. Der Dichotomie (Trichotomie) der Herrschaftsausübung entsprechen notwendigerweise auch zwei (drei) verschiedene Formen der Entscheidungsfindung ein und desselben Herrschers. Das hat normalerweise das politische Leben wenig gestórt, und tatsáchlich war der Gegenstand der Verhandlungen bei Gericht ja meist auch ein anderer als in der Volksversammlung. Aber bisweilen deckte er sich eben auch, und dies war gerade dann der Fall, wenn die Politik strittig war. Schon Aristophanes schildert in seinen Komódien, besonders in den „Rittern“, die Demagogen als Politiker, die ebenso routiniert

die Gerichte wie die Volksversammlung in den Dienst ihrer Politik stellen. In der Tat waren die Eisangelie-Klagen und die Klagen wegen Verfassungswidrigkeit politische Klagen, durch die eine bestimmte Politik entschieden werden

konnte. Die bekannteste Klage dieses Charakters ist die des Aischines gegen den

Antragsteller eines Gesetzes, das die óffentliche Ehrung des Demosthenes mit einem goldenen Kranz wegen dessen Verdiensten um den Mauerbau vorsah und angeblich nicht den bestehenden Gesetzen entsprach; tatsächlich ging es in diesem 330 ausgefochtenen Streit um die Entscheidung über die Grundlinien

der damaligen Politik, nämlich darum, ob man der von Aischines vertretenen makedonenfreundlichen oder der von Demosthenes verkórperten Politik der Unabhängigkeit Athens folgen solle. Ein anderes Problem, das die Geschworenengerichte stellen, liegt in dem

Verhältnis dieser Gerichte zum Recht. Die Richterqualifikation lag in dem Bürgerstatus; es wurden von dem Richter keine Rechtskenntnisse verlangt, und

VI. Die politischen Organisationsformen: Geschworenengerichte

227

in der Regel war er rechtsunkundig. Der durchschnittliche Richter wurde erst im Laufe des Jahres, in dem er zum ersten Male richtete, und danach in seinem weiteren Leben, in dem er wieder und wieder richtete, mit der Rechtsmaterie

allmählich vertraut; aber auch dann sorgte er sich nicht selbst um den Erwerb von Wissen, sondern ließ es sich jeweils von den Parteien vortragen. Bestenfalls

hatte er am Ende seines Lebens von diesem und jenem Gegenstand eine Ahnung, aber nicht einmal das konnte bei der Natur dieses Gerichtssystems als

ein besonderer Vorzug gelten; denn Rechtskenntnis war für den Richter nicht notwendig und das Streben nach Wissen auf diesem Gebiet keine politische

Tugend. Die Konsequenz war eine doppelte: Zum einen vermochte sich das Recht auf diese Weise nicht zu einem selbstándigen geistigen Bereich zu entwickeln. Es mochten die bestehenden Gesetze noch so zahlreich sein und von

Jahr zu Jahr durch das spáter perfektionierte Gesetzgebungsverfahren noch so sinnreich ergänzt werden (s.o. S. 187ff.): Es konnten sich keine tragenden Ideen bilden, nach denen das Recht gebaut wurde, ebenso kein fruchtbarer Streit um den richtigen Weg des Rechts, mithin auch keine Rechtsliteratur und kein Juristenstand entstehen, iin dem Gedanken dieser Art einen sicheren Hort

hatten. Denn eine Masse ist unfáhig, Tráger rechtstheoretischer und rechtspolitischer Ideen zu werden. Von der auf vielen Gebieten so wirksamen geistigen Kraft der Athener hat darum das Recht nicht profitiert. Es gab nicht ein

einziges Handbuch des Rechts und keine Rechtsschulen in Athen. Das Recht war kein selbstándiger geistiger Bereich wie die Mathematik, die Geographie,

die Rhetorik, Philosophie und Politik; es war identisch mit den bestehenden Gesetzen und als solches lediglich Zulieferer für andere Bereiche, insbesondere für die Politik. Auf Grund dieses Sachverhalts konnte sich das Recht nicht zu einer hóheren Entwicklungsstufe fortbilden. Es erstarrte in seinen teils noch archaischen Formen. Zwar fand das Volk als Gesetzgeber viele Wege, das alte Recht den veränderten Verhältnissen anzupassen; aber es hat in diesem Prozeß des allmáhlichen Wandels doch nicht das starre Gewand der Frühzeit

wirklich aufgebrochen. Das Verhältnis von Geschworenengericht und Recht brachte eine andere, viel folgenschwerere Problematik hervor. Wenn die Richter das Volk waren und sie sich als solches fühlten, konnte sich leicht die Grenze zwischen dem Richten

und dem Gesetzemachen verwischen: Bei der Identität von Richter und Volk

konnte ein Richter das Gesetz doch gar nicht übertreten! Er war demnach in seinem Urteil gegebenenfalls frei, ungebunden und souverän. Nun hat dies allerdings ın Athen niemand so formuliert. Mag man auch die eine oder andere

Wendung unserer Gewährsleute in dieser Richtung interpretieren, wurden doch die aus solchen Formulierungen möglichen Konsequenzen von keinem Athener gezogen. Die politische Leidenschaft mochte diesen oder jenen zu einem solchen Ausspruch führen, und es mochte im praktischen Gerichtsleben in der Tat

das Gesetz einmal unbeachtet geblieben sein. Typisch war dies für die athenischen Gerichte nicht. Die mögliche Gefahr einer Herrschaft über das Gesetz war jedoch bewußt; sie wurde u.a. durch den Hinweis auf die Unverantwortlichkeit des Richters signalisiert (z. B. Aristophanes, Wespen 587), der durchaus

kritisch zu verstehen ist. Das Problem ist vielschichtig und bedarf einer

228

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

besonderen Überlegung. Es wird daher in einem weiteren Zusammenhang, der verschiedene Aspekte aufnimmt, näher behandelt werden (u. S. 351ff.).

5. Die Beamten

Es werden zunächst die allgemeinen, für die athenische Demokratie typischen Merkmale der Beamtenschaft, anschließend die wichtigsten Beamten im einzelnen behandelt. Diejenigen Strukturelemente der Beamtenschaft, die in dem Kapitel über die Verfahrensformen zur Sicherung des demokratischen Gedan-

kens besonders hervorgehoben und beschrieben sind, wie die Besoldung, Losung usw. (u. S. 265ff.), werden zur Vermeidung von Wiederholungen hier nur kurz gestreift. - Für „die Beamten“

hatten die Athener keinen eindeutigen

generellen Begriff, wohl aber für den von ihnen vertretenen „Geschäftsbereich“, also das „Amt“ (arche). Sämtliche Ämter umfaßten sie mit dem Begriff hai archat, und er konnte auch die Amtsträger selbst meinen. Das Partizip Präsens des diesem Begriff zugrundeliegenden Verbs, nämlich ärchontes, wurde zwar auch gelegentlich für alle Beamten (allerdings nur für die Jahresbeamten, nicht auch für Gesandte und Opferer) benutzt, eignete sich aber deswegen nicht gut als genereller Begriff, weil es von den alten, hóchsten Beamten, den neun Archonten (Archon, Basileus, Polemarchos, Thesmotheten), besetzt und also nicht

eindeutig war. Für die Kollegen desselben Amtes wurde der Begriff synérchontes verwendet. Der Begriff des Beamten

Aristoteles hat in dem 6., dem Wesen der Organisation von Demokratie und Oligarchie gewidmeten Buch seiner „Politik“ dem Beamten in der Demokratie besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Da er als das Ziel einer jeden Demokraue die Freiheit erkannt und dieser als ihr Wesensmerkmal die Gleichheit zugeordnet hat, sieht er das die Beamtenschaft einer Demokratie konstituierende

Prinzip in dem „Reihumgehen“ von Regieren und Regiertwerden. Aus diesem Grundgedanken heraus bestimmt Aristoteles dann das Wesen des Beamten in der Demokratie im einzelnen, nämlich daß er aus allen Bürgern genommen und mit wenigen Ausnahmen durch das Los bestellt wird, er ferner dasselbe Amt möglichst nur einmal und dazu möglichst kurze Zeit bekleiden sollte (1317b). In diesen Überlegungen hat Aristoteles die Beamten der Demokratie weitgehend in der Menge der Bürger aufgehen lassen: Die Idee der Demokratie verlangt, daß

der Bürger sich überhaupt nicht regieren läßt; die politische Wirklichkeit erzwingt indessen die Regierung, taucht sie aber durch den möglichst schnellen

Wechsel vieler Losámter in die ganze Bürgerschaft ein. Diese Gedanken enthüllen zugleich die Schwierigkeit, die jeder hat, wenn er den athenischen Beamten beschreiben soll. Er ist schwer von den anderen, , nur“ politisch aktiven Bürgern abzugrenzen. Denn in jedem Jahr sind, wenn nicht alle, so doch sehr viele oder

sogar die meisten Athener in irgendeiner Weise im politischen Bereich als Richter, Ratsherr, Besucher der Volksversammlung oder eben als Funktionsträ-

VI. Die politischen Organisationsformen: Beamte

229

ger tätig, der irgendwelche, oft nur kurzfristige und unwichtige Aufgaben zu erledigen hat. Aristoteles hat das Problem selbst gesehen und kommt an anderer Stelle der „Politik“ auch ausdrücklich darauf zu sprechen (1299a). In der für ıhn

typischen Neigung zur Gliederung und Definition macht er hier den Versuch, den Beamten zu bestimmen und ihn von denjenigen Bürgern, die Geschäfte geringeren Gewichts wahrnehmen, abzugrenzen. Er findet die Lösung darin,

daf der Beamte in öffentlichen Dingen raten, entscheiden und befehlen darf, und insbesondere das letztere zeichne ihn aus. Aischines hat in seiner Rede gegen Ktesiphon vom Jahre 330 v. Chr. (13-15.29) als érchontes diejenigen definiert, die erwählt oder erlost waren, sich der Dokimasie unterzogen hatten und mindestens 30 Tage ihr Amt versahen oder auch als Vorsteher eines Gerichtshofes bestimmt worden waren. Es ist dies wohl ein von Aischines selbst für den Zweck der Rede zusammengestelltes Schema, in dem etwa das Mindestalter von 30 Jahren und auch die Fähigkeit zur Verhängung von Bußen, die doch für das Amt als charakteristisch angesehen werden muß, fehlen, weil sie für ihn hier keine Rolle spielten. Danach waren immerhin etwa Priester, Herolde und vor allem auch Gesandte, die wichtige Funktiuonen erfüllen mochten, nicht als

öffentliche Geschäftsträger angesehen. Es war mithin der Übergang von den Geschäftsträgern im eigentlichen Sinne, die teils auch wenig gewichtige Aufgaben zu erfüllen hatten, zu denen, die öffentliche Geschäfte wahrnahmen, ohne doch unter die ärchontes gezählt zu werden, nicht sehr scharf, von der jeweiligen

Aufgabe her gesehen eher fließend. Der Begriff „Amt“ (arche), mit dem die Tätigkeit der offiziellen Geschäftsträger in Athen bezeichnet wurde, hatte ganz offensichtlich nicht die Schärfe, welche die antike und moderne Staatstheorie vermißt, und dies ist kaum ein Zufall. Der athenische Demokrat hatte zwar eine

Vorstellung von einem Amt: Die großen Ämter der Vergangenheit, wie der Archon und der Polemarchos, gaben ihm noch in dem wenigen, was die Demokratie von ihnen gelassen hatte, eine Idee davon, und selbstverständlich vor

allem auch die Strategen. Aber die Vermassung der Beamtenschaft und die Einrichtung kleiner und kleinster Geschäftsbereiche hatte doch die Arbeit der Inhaber öffentlicher Funktionen demjenigen politischen Tätigkeitsfeld, in dem sich der Durchschnittsbürger durch den Besuch von Volksversammlungen, gegebenenfalls als Ratsherr, Richter oder auch nur Zuhörer gemeinhin und ohne

besonderen Auftrag bewegte, weitgehend angenähert. Und selbst wenn er eine genaue Vorstellung von dem Wesen und den Aufgaben des Ratsherrn, des Richters und der einzelnen Beamten hatte, vermochte er doch nicht oder nur müh-

sam, den institutionellen Charakter dieser verschiedenen Stellungen scharf von-

einander abzugrenzen. Aber es bestand für ihn auch nicht das Bedürfnis danach. Die politische Wirklichkeit verlangte die Bestimmung der jeweiligen Aufgabe, die jemand übernahm, nicht die Abgrenzung des Aufgabenträgers von den anderen Bürgern, die vielmehr gerade verschwommen und im Hinblick auf die demokratische Grundidee eher unangebracht war. Die vorangehenden Überlegungen haben die Schwierigkeiten gezeigt, einen den athenischen Verhältnissen angemessenen Begriff für diejenigen zu finden, welche die öffentlichen Geschäfte ausführen, zumal sie auch untereinander an

Gewicht und Ansehen stark differieren. Neben den einflußreichen, gewählten

230

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Strategen und den zwar nun machtlosen, aber mit einer aus der Tradition kommenden Würde ausgerüsteten und durch die ihnen verbliebenen hochrangigen Geschäfte ausgezeichneten Archonten stehen die kurzfristigen und durch-

weg gänzlich einflußlosen Opferer und Gesandte. Ich habe hier den Begriff des Magistrats gänzlich vermieden, weil er die römische Vorstellung von einem selbständigen, mit starker Macht versehenen

Beamten

enthält. Der deutsche

Begriff des Beamten eignet sich besser, weil er im Hinblick auf den politischen

Einfluß neutral ist und die Vorstellung von der Verpflichtung gegenüber der ganzen Bürgerschaft enthält; doch er erzeugt gegenüber dem in Athen die öffentlichen Geschäfte exekutierenden Bürger darin eine Spannung, daß er einer von den übrigen Bürgern in gewisser Hinsicht abgeschlossenen und privilegierten Gruppe lebenslänglich angehört. Mir schien dieser Nachteil weniger schwer zu wiegen als der Vorteil, einen allgemeinen Begriff für eine deutlich zusammengehörige Gruppe, nämlich die die öffentlichen Geschäfte ausführenden Organe, zu gewinnen. Man sollte den hier verwendeten Begriff des Beamten indessen stets relativieren. Wo der Begriff weniger greift, etwa bei den Gesandten und Opferern, habe ich gelegentlich auch von „Geschäftsträgern“ gesprochen.

Die allgemeinen Grundlagen der Beamtenschaft Angesichts des fließenden Übergangs zwischen dem Bürger und den Beamten versteht es sich von selbst, daß im Prinzip alle Bürger zur Übernahme eines Amtes befähigt waren. Die Bestimmungen über die Qualifikation für ein Amt sind darum auch nicht als Einschránkungen dieses Grundsatzes zu verstehen; denn sie betreffen lediglich die Feststellung des bürgerlichen Status oder besondere Voraussetzungen für einige Ämter, wie z. B. den Nachweis von Vermögen,

die von ihrer Natur her nicht alle Bürger erfüllen kónnen. Alle mit dem Bürgerstatus zusammenhängenden Fragen werden in einer offiziellen Anhórung des gelosten oder gewählten Kandidaten, in der Dokimasie, geprüft (s.u. S. 273ff.).

In ihr muß der Kandidat seine bürgerliche Abstammung von beiden Elternteilen, seine durch keine Verurteilung geschmälerte bürgerliche Existenz, die Teilnahme an dem Staatskult des Apollon Patroos und Zeus Herkeios sowie den Besitz einer Familiengrabstätte belegen. In der Dokimasie konnte unter Um-

ständen auch die allgemeine Lebensführung des Kandidaten zur Sprache kommen, so vor allem, ob er seinen Pflichten gegenüber den Eltern nachgekommen

und die von ihm geforderten Feldzüge mitgemacht habe. Es scheint für alle Ämter auch ein Mindestalter von 30 Jahren, das für die Ratsherren und Geschworenen festgesetzt war, gefordert worden zu sein. Wenn das so ist, war in Athen jede óffentliche Tátigkeit, die mit der Übernahme irgendeiner speziellen Funktion verbunden war, an dieses Mindestalter gebunden und nur der Besuch der Volksversammlung auch den jüngeren mündigen Bürgern gestattet worden. - Für einzelne Ámter galten Sonderbestimmungen, die sich aus dem besonderen Charakter des Amtes ergaben. Die wichtigsten Finanzbeamten, die zehn „Schatzmeister der Göttin“ (Athena), wurden aus der höchsten Schatzungsklasse, den Pentakosiomedimnen, gelost, dies natürlich deswegen, damit die Stadt

VI. Die politischen Organisationsformen: Beamte

231

sich bei Verfehlungen gegebenenfalls an ihrem Vermögen schadlos halten konnte. Für das Archontat war seit 458/57 nur noch der Zensus der dritten Vermögensklasse, der Zeugitenzensus, gefordert, und dies noch bis ın die Zeit des

Arıstoteles. Anders als bei den Schatzmeistern, deren Vermögen gleichsam ein Pfand ihrer ordentlichen Geschäftsführung war, wurde jedoch bei der Prüfung der Qualifikation für das Archontat (und eventuell noch für andere Ämter, die den Zeugitenzensus verlangten) die Zugehörigkeit zu der verlangten Vermögensklasse nicht weiter überprüft; nach Aristoteles (AP 7,4) sagte kein Kandidat

bei der Dokimasie, daß er keiner der drei Zensusklassen angehörte und also Thete war. Danach ist mit Ausnahme der hohen Finanzämter für alle Ämter die Zugehörigkeit zu einer Zensusklasse als Qualifikation faktisch aufgegeben worden. Für die Kandidatur zum Strategenamt bedeutete die Forderung nach Grundbesitz in Attika und nach in rechtmäßiger Ehe gezeugten Kindern eine weniger scharfe Einschränkung, band den Kandidaten aber an die seit alters her staatstragende Mittelschicht, schuf einige Sicherheiten für das Wohlverhalten und hielt Randexistenzen von dem Amt fern. Die Zahl der Ämter war hoch. Aristoteles spricht für das 4. Jahrhundert von 700 Beamten, nicht eingerechnet die außerhalb Athens im athenischen Herr-

schaftsgebiet tätigen Amtspersonen und die Träger kleiner und kleinster Funk-

tionen, die den Begriff des Beamten nicht verdienen. Wenn wir zu den 700 Beamten die 500 Ratsherren hinzuzählen, hatten im 4. Jahrhundert ca. 5% aller Bürger in jedem Jahr einen Beamtenposten inne, unter den über Dreißigjährigen waren es sogar 8% und bei Berücksichtigung auch der Bürger, die kleinere Geschäfte übernommen hatten, noch mehr. Kein anderer antiker und auch kein

moderner Staat hat sich einen solchen Aufwand an Beamten geleistet. Ein Amt durfte grundsätzlich nur ein Jahr lang verwaltet werden. Diese Amtsdauer galt für viele kleinere Geschäftsbereiche allerdings nicht. So übten Gesandte, die Architekten öffentlicher Gebäude, die Aufseher von Mauer- und

Schiffsbauten und vor allem viele für Opferhandlungen bestellte Bürger ihr Amt

nur bis zur Erledigung ihrer Aufgabe aus, und das konnte bisweilen weniger als ein Monat sein. Mit Einschränkung sind zu den Geschäftsträgern mit kurzer Amtszeit auch diejenigen zu zählen, die innerhalb eines größeren Jahreskollegiums auf befristete Zeit eine besondere Stellung erhalten haben, wie vor allem die Prytanen, Prohedroi und Epistatai des Rates und nach 379/378 die Prohedroi und Epistatai des Rates und der Volksversammlung (s.o. S. 165) sowie bis Mitte des 4. Jahrhunderts die Schreiber des Rates, die jeweils nur für die Zeit

einer Prytanie bzw. eines Tages ihr Sonderamt innehatten. Einige Geschäftsträger im Bereich des Kult- und Finanzwesens wurden auch für mehrere, meist vier Jahre bestellt. So hatten die Verwalter des eleusinischen Heiligtums im 5. Jahrhundert und dann wieder in demosthenischer Zeit eine vierjährige Amtszeit, ebenso der Verwalter (Tamias) des Staatshaushaltes z. Zt. Lykurgs. Dieses Amt gehórt wie auch das des Verwalters (Tamias) der Schaugelder (Theorikon) und

der Kriegskasse (Stratiotika) in die Spátzeit der Demokratie und fällt schon

deutlich aus dem Rahmen der demokratischen Ámterordnung. - Der

Amtsan-

tritt war für die Jahresämter im Prinzip mit dem Beginn des Amtsjahres, dem

1. Hekatombaión (Ende Juli), identisch. Einige wenige Geschäftsträger des

232

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Kultbereiches und auch die zentralen Finanzämter nach 354/53 verwalteten ıhr Amt entweder einjáhrig von dem Fest der Kleinen Panathenäen (28. Hekatombaiön) bis zu dem des nächsten Jahres oder vierjährig von den Großen bis zu den nächsten Großen Panathenäen. Für Geschäftsträger, die innerhalb eines Amts-

Jahres mit kurzfristigen Aufgaben betraut worden waren, wie etwa Gesandte und Opferer, deckte sich natürlich die Amtsfrist mit dem Beginn und Ende des Auftrags. Es war ferner untersagt, in einem Jahr zwei ordentliche Ämter zugleich zu versehen; das Verbot der Kumulation von Ämtern blieb lediglich für kleinere, aufterordentliche Geschäftskreise, wie etwa das des Gesandten, unbeachtet. Die

Kontinuation von Âmtern war praktisch schon deswegen nicht móglich, weil sich niemand vor der Rechenschaftslegung, die nach Niederlegung des Amtes erfolgte, für ein neues Amt bewerben durfte. Desgleichen war die Iteration von zivilen Ämtern strikt untersagt; nur Ratsherr konnte man zweimal werden,

weil wegen der Größe des Rates sonst kaum in jedem Jahr genügend Kandidaten zur Verfügung gestanden hätten. Militärische Ämter durften hingegen öfter übernommen

werden, und tatsächlich ist auch das höchste Militáramt, die

Strategie, von denselben Personen oft und sogar in aufeinanderfolgenden Jahren bekleidet worden. Perikles war seit 443 fünfzehn Jahre lang ununterbrochen Stratege, Phokion hat es seit 365/64 sogar auf 45 Strategien gebracht. Die Beamten wurden in vordemokratischer Zeit durch Wahl bestellt; das

demokratische Prinzip der Bestellung des Beamten ist hingegen die Losung. Als im Jahre 487/86 für die höchsten Beamten, die neun Archonten, die Losung

eingeführt wurde - damals noch in der maßvollen Form der Losung aus einer Gruppe vorher gewählter Personen (prökritoi) -, bedeutete die dadurch bewirkte Schwächung der ursprünglich starken Beamtengewalt einen wesentlichen

Schritt zur Demokratisierung der Verfassung. Nach dem Durchbruch zur demokratischen Staatsform in der Mitte des 5. Jahrhunderts ıst dann für alle bestehenden und neu hinzutretenden Beamtenstellen des zivilen Bereichs

durchweg die Losung eingeführt worden. Die Losung erfolgte im 4. Jahrhundert für alle Beamten an einem einzigen Tag unter der Leitung der Thesmotheten im Theseion (im südöstlichen Teil der Agora gelegen; der heute Theseion genannte,

gut erhaltene dorische Tempel an der Westseite der Agora wurde schon seit dem 15. Jahrhundert fälschlich auf Theseus bezogen; er war höchstwahrscheinlich

dem Hephaistos geweiht). Auch die Archonten, für die zunächst noch die aus Wahl und Los gemischte Form der Bestellung beibehalten worden war, wurden nach 458/57, wahrscheinlich noch ım 5. Jahrhundert, zu reinen Losbeamten; da man in ıhrem Fall an dem Gedanken festhielt, daß sie aus einem vorher bestimmten Personenkreis gelost werden sollten, bestand der Wandel darin, daß

auch dieser Personenkreis gelost wurde und somit nun zwei Losungen hinter-

einandergeschaltet wurden. - Für eine ganze Reihe von Beamten hielt man jedoch aus sachlichen Gründen an der Wahl fest. Vor allem alle militärischen

Chargen, insbesondere Demokrat wollte sein anvertrauen, der durch ein gutes Gelingen des

die Strategen, wurden gewählt; denn auch der eifrigste Leben nicht jedem Beliebigen, sondern nur dem Mann sein persönliches Ansehen und durch Fachkenntnisse für kriegerischen Unternehmens eine gewisse Garantie gab.

VI. Die politischen Organisationsformen: Beamte

233

Auch die Wahlbeamten des zivilen Bereiches betreuten Aufgaben, die ein besonderes Maß an Vertrauen und/oder Spezialkenntnisse verlangten. So ist der Schreiber des Rates jedenfalls noch bis in die sechziger Jahre des 4. Jahrhunderts

gewählt worden, ebenso die Architekten und Aufseher für den Bau der Kriegsschiffe und die hohen Finanzbeamten, die seit der Mitte des 4. Jahrhunderts den

Finanzsektor leiteten. Auch zahlreiche kleinere Beamte und Geschäftsträger,

wie die Gesandten, Aufseher von Bauten und Kultbeamte, deren Spezialwissen sich schon meist aus der Art ihres Auftrags ergab, wurden gewählt. Die Wahl erfolgte selbstverständlich durch die Volksversammlung, für deren Wahlsitzung ein Probuleuma des Rates erforderlich war, bei einigen wenigen Beamten, wie

den Aufsehern für den Bau von Kriegsschiffen, durch den Rat. Die Volksversammlung wählte durch Handaufheben; es entschied die benen Stimmen. - Die Wahlzeit lag in der 7. Prytanie, also bis zum Amtsantritt im Juli/August reichlich Zeit für die ten verblieb. Bei der großen Zahl der in jedem Jahr durch Los oder

Mehrheit der abgegeetwa im März, so daß Prüfung der KandidaWahl zu bestellenden

Beamten - ca. 600 Losbeamte, 100 Wahlbeamte und 500 Ratsherren - kann es

bei bestenfalls gut 30 000 Bürgern, davon ca. 20 000 über dreißig Jahre alt, nicht immer leicht gewesen sein, für alle Stellen Kandidaten und dazu noch jeweils einen Ersatzkandidaten zu finden, also 6% bzw., einschließlich der Ersatzkan-

didaten, 1296 aller Bürger jáhrlich für irgendwelche Stellen zu aktivieren. Die

Ratsherren waren, wie die Inschriften zeigen, immer vollständig. Wie man daran erkennt, haben die Athener auf die volle Funktionsfähigkeit des Rates

großes Gewicht gelegt, und es war trotz des Arbeitsaufwandes die Mitarbeit in dieser Behörde für viele Athener auch wohl anziehender als in irgendeinem

anderen Amt. Selbst in Zeiten größter politischer Aktivität dürften indessen für manche Ämter Kandidaten zur vollständigen Besetzung auch der Ersatzstellen

gefehlt und vielleicht sogar die Zahl der Kandidaten für das Amt jeweils nicht groß, bisweilen möglicherweise wenig mehr, als Amtsinhaber benötigt wurden, zur Stelle gewesen sein. Inschriften der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts, die alle Inhaber eines Amtes aufführen, zeigen, daß z. B. bei den Schatzmeistern der

Göttin die Mehrzahl der Kollegien nicht vollständig war. Wahl wie Losung verlieren aber an Gewicht, wenn es keine angemessene Auswahl - móglicher-

weise unter vielen, aber zumindest unter mehreren - gibt. Andernfalls gehört das Gemeinwesen den „Aktivisten“, deren Zusammensetzung verschieden sein

kann, sich aber gewi nicht am Gleichheitsprinzip orientiert. Tatsáchlich sah es in Athen wohl nicht so schlimm aus, weil die „Aktivisten“ doch augenschein-

lich immer einen hohen Prozentsatz der Bürgerschaft darstellten, in einem Zeitraum von fünf Jahren schon etwa die Hälfte der Bürgerschaft ausmachten. Es fehlen auch Klagen über mangelnde Amtskandidaturen, von denen wir auf wirkliche Engpässe schlieRen kónnten. In einer face-to-face-Gesellschaft, welche die Bürger Athens trotz der Größe Attikas darstellten und die in den Demen

besonders deutlich wird, gab es ohne Zweifel auch soziale Zwänge für die Übernahme politischer Aufgaben. Eine Pflicht zur Bewerbung gab es zwar nicht, doch war es gewiß nicht immer leicht, auf Dauer dem Drängen von Demengenossen zu widerstehen. Blieb einer trotzdem bei seiner Zurückhal-

234

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

tung, konnte ihn ein Bürger einfach benennen, und war der Benannte nicht anwesend, was in einem solchen Falle wohl die Regel war, mochte der Vorsitzende der Losung den Vorschlag wegen eines etwaigen Kandidatenmangels nichtsdestoweniger aufnehmen; verweigerte sich der Vorgeschlagene trotzdem, hatte er seine Unabkömmlichkeit mit einer eidlichen Versicherung zu rechtferti-

gen. Mochten auch für die politische Abstinenz leicht Gründe gefunden werden, war doch die Verweigerung der Kandidatur eine unangenehme Prozedur,

die u.U. auch soziales Ansehen kostete. Eine gewisse Erleichterung bedeutete für die Kandidaturen, daß bei der Vorschrift, daß jeder Bürger dasselbe Amt nur einmal (nur der Ratsherr zweimal und die militärischen Beamten beliebig oft) im Leben bekleiden durfte, ein Athener doch für zahlreiche Ämter, die er noch

nicht bekleidet hatte, zur Verfügung stand. Ein wichtiges Prinzip demokratischer Amtsführung lag auch in der durchweg eingehaltenen Kollegialität des Amtes; abgesehen von vielen außerordentlichen Beamten und kleineren Funktionsträgern hat die Demokratie stets daran festgehalten, daß Amtsgeschäfte von einem Gremium gleichrangiger Personen zu führen seien. Die Kollegialität ist keine Erfindung der Demokratie; es gab bereits früher Kollegien (Thesmotheten, Strategen), aber ihre Erstreckung auf die nun mit der Entmachtung der großen Einzelbeamten und der Vermehrung

der öffentlichen Aufgaben vervielfachte Beamtenschaft und die dadurch bewirkte Vermassung des gesamten Beamtenapparates ist doch ein Charakteristikum der Demokratie. Was ist der Grund für die rigorose Durchführung der kollegialen Struktur der Beamtenschaft? Sollte auf diese Weise Inkompetenz

ausgeglichen werden? Wohl kaum, denn die Kollegien teilen durchweg ihre Aufgaben untereinander auf. Das Motiv ist zunächst einmal ohne Zweifel dasselbe, das zur Umwandlung der alten zentralen Ämter zu Losämtern führte: Die Entmachtung der Amtstráger und die Aufsplitterung der früher zentrierten

Macht in zahllose Einzelkompetenzen zahlloser Gremien. Darüber hinaus bedeutete die Kollegialität Kontrolle (Intraorgankontrolle). Das Kollegium haftete zwar nicht kollektiv, doch wurde nach Anzeige von Verfehlungen, sei es durch

einen Kollegen, sei es durch Außenstehende, jeder gerichtlich überprüft. Damit wie in allen übrigen Institutionen (Rat, Heer) so auch in den Beamten-

kollegien alle attischen Landschaften möglichst gleichmäßig vertreten waren, bildete die Grundlage ihrer Bestellung die Phyleneinteilung, und folglich bemaß sich die zahlenmäßige Stärke der Kollegien auch nach der Zahl der Phylen. Die meisten Kollegien bestanden daher aus zehn Personen (von ihnen oft fünf für die Stadt Athen, fünf für den Piräus bestimmt), aber auch aus 20 oder 30, seltener

aus fünf Personen; in letzterem Fall erlosten jeweils zwei Phylen einen Beamten. Die Beamtenkollegien bestellten sich einen Vorsitzenden, der entweder die

gesamte Amtszeit über Obmann war oder aber unter den Kollegen wechselte. Trotzdem blieb im Kollegium grundsätzlich die Gleichrangigkeit gewahrt, und es waren auch alle Kollegen, sofern sie gemeinsam gehandelt hatten, gemeinsam

für ihre Geschäftsführung verantwortlich. Die Einzelbeamten der älteren Zeit, die in die Demokratie hinübergenommen worden waren, nämlich der Archon (eponymos), der Basileus und der Polemarchos (die sechs Thesmotheten bildeten ein Kollegium), bewahrten auch gegenüber der Forderung nach Kollegialität

VI. Die politischen Organisationsformen: Beamte

235

ihre Sonderstellung; doch wirkte sich der neue Grundsatz insofern auf sie aus,

als ihnen je zwei Beisitzer (párbedroi) zur Seite gestellt wurden, die durch die Dokimasie und Rechenschaftsablegung, die auch von ihnen verlangt wurde,

eine amtsáhnliche Qualifikation und damit eine dem Kollegen angenäherte Stellung erhielten. Wenn die Archonten, wie z. B. bei der Richterlosung, ge-

meinsam handelten, wurden sie übrigens auch als ein Kollegium angesehen; in diesem Fall trat zu den neun Archonten als zehnter Kollege der Schreiber der Themotheten. Die vor allem mit der Reorganisation und Verwaltung des Finanzwesens betrauten Einzelbeamten der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts

hingegen sprengten auch im Hinblick auf das Prinzip der Kollegialitát den Rahmen demokratischer Amtsführung und gehóren daher eher in eine Darstellung der Krise der Demokratie als in die der Demokratie selbst. Mit Ausnahme weniger Spezialbeamter, wie z. B. der Schatzmeister der Góttin, deren Amtsdauer an das Hauptfest der Athena, die Panathenäen, und der vielen Geschäftsträger, deren Amtstätigkeit an die kurze Zeit ihrer Aufgabe gebunden war, traten die Beamten ihr Amt mit dem Beginn des athenischen Jahres, dem1. Hekatombaión (etwa Ende Juli), an. Bei

A mtsantritt hatten sie

einen Eid zu leisten, der sie auf die ordentliche Durchführung ihrer Dienstgescháfte, insbesondere auf die Beachtung der allgemeinen und der in ihren Táugkeitsbereich fallenden speziellen Gesetze verpflichtete. Jeder Beamte bzw. jedes Kollegium hatte, soweit es sich nicht um außerordentliche Beamte oder um Geschäftsträger kleiner und vorübergehender Aufgaben handelte, ein eigenes, festes Amtslokal, in dem das Kollegium gewöhnlich auch gemeinsam speiste. Als Kennzeichen seiner gegenüber den anderen Bürgern herausgehobenen Stellung und als Zeichen der Würde trug der Beamte einen Myrtenkranz. Viele, aber sicher nicht alle Beamten wurden besoldet; doch war der Sold

keine Entlohnung für geleistete Dienste, sondern ein Entgelt zur Begleichung der mit dem Amt unmittelbar zusammenhängenden Unkosten, insbesondere

zum Ausgleich des Verdienstausfalls und der durch die Trennung von der Famihe erhöhten Unterhaltskosten. So erhielten die neun Archonten in der Zeit des Aristoteles vier Obolen täglich, was gewiß nur gerade das Notwendigste abdeckte, andere, insbesondere die außerhalb Attikas tätigen Geschäftsträger, eine

Drachme. Viele Beamte aber haben anscheinend nicht einmal dieses Kostgeld erhalten. Vor allem die großen Wahlämter, wie die Strategie, wurden niemals entlohnt. Das mit ihnen verbundene Ansehen verbot die Bezahlung und hebt sie darum auch aus der demokratischen Ordnung etwas heraus. Die Diäten der Beamten sind nach der Wiederherstellung der Demokratie im Jahre 403/02 wahrscheinlich nicht in dem vorherigen Umfang wieder aufgenommen, zumindest auf die Tage, an denen der Beamte wirklich tátig war, beschránkt worden. Für manche Beamte brachte das Amt auch kleinere materielle Vorteile. So erhielten Kultbeamte Anteil an dem Opferfleisch und vor allem im Ausland operierende Beamte dürften kleinere Geschenke erhalten und Bevorzugungen entgegengenommen haben, die, wenn sie sich in Grenzen hielten, toleriert wur-

en. Die demokratischen Grundideen werden besonders deutlich aus der Art, in

welcher die Kompetenz

der verschiedenen Beamten in der Demokratie gestal-

236

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

tet wurde und sich entwickelte. Die älteren großen Ämter, vor allem die neun

Archonten, verloren nach und nach jede selbständige Entscheidungsgewalt; es blieben ıhnen viele kleine, vielfach sakrale Funktionen, und von der Gerichts-

barkeit, die ganz in ihren Händen gelegen hatte, behielten sie lediglich die formale Einleitung des Verfahrens und den Vorsitz im Prozeß selbst. Viele

wichtige Funktionen wurden ihnen auch einfach genommen, wie z. B. dem Polemarchos seine zentrale Aufgabe, die militärische Befehlsgewalt, gänzlich entzogen wurde. Soweit wir die Entwicklung der einzelnen Beamtenkategorien verfolgen können, ist sie durch die zunehmende Schwächung der Beamtengewalt gekennzeichnet. So verlieren etwa die als Nachfolger des Polemarchos geschaffenen zehn Strategen ım Laufe des 4. Jahrhunderts das Recht auf die Verhängung der Todesstrafe im Felde, das sie im späten 5. Jahrhundert noch gehabt hatten. Auch dürfen die Beamten Ordnungsstrafen nur noch in begrenzter Höhe auferlegen, und es wird durch die Möglichkeit der Appellation an ein

Geschworenengericht der Summe, bis zu der sie solche Strafen weiterhin verhängen können, der Charakter einer selbständigen Polizeistrafe genommen. Die Aufgaben, die den älteren Beamten abgenommen wurden, und die zahlreichen neuen Aufgaben gingen auf ein Heer von Beamtenkollegien mit kleinem und kleinstem Geschäftsbereich über. Diese Beamten sınd vor allem durch die Begrenztheit der Aufgabe gekennzeichnet, die etwa nur die Erledigung einer be-

stimmten Opferhandlung oder die Aufsicht über eine ganz bestimmte Baumaßnahme betreffen konnte. Die Spezialisierung von Ämtern ist in Athen so weit wie in keinem antıken Staat vorher und nachher getrieben worden. Nicht minder charakterisiert die Beamtenschaft, daß kein Beamter einen direkten Zugang zum Souverän, der Volksversammlung, besaß, sondern lediglich mit dem Rat verhandeln durfte, der dann gegebenenfalls die Sache an das Volk weitergab. Jeder Athener, der ein öffentliches Geschäft verwaltete, hatte ferner nach Erledigung seines Auftrags Rechenschaft (esthyna) über sein Amt abzule-

gen. Die Rechnungslegung betraf sowohl die anvertrauten Gelder als auch die allgemeine Geschäftsführung, und sie erfaßte ohne Ausnahme alle Geschäftsträger, also auch etwa Priester und Gesandte, die vielleicht nur kurze Zeit tätig

gewesen waren. Die Beamten und übrigen Inhaber öffentlicher Aufträge wurden auch während ihres Amtes beaufsichtigt; es gab sogar in einer der ordentlichen Volksversammlungen einer jeden Prytanie einen feststehenden Tagesord-

nungspunkt, der sich mit der Amtsführung der Beamten befaßte und jedem Athener die Möglichkeit einräumte, Beschwerden vorzubringen. Ebenso kontrollierte der Rat alle von den zahlreichen Geschäftsträgern ausgeübten Tätig-

keiten. Aber erst die Rechenschaft am Ende des Amtes bzw. Auftrages brachte die volle Entlastung, und bevor sie nicht abgelegt worden war, durfte der Rechenschaftspflichtige weder Attika verlassen noch über sein Vermögen verfügen. Die Rechnungslegung erfolgte im 4. Jahrhundert getrennt nach denjenigen Geschäften, die mit der Verwaltung von Geldern zu tun hatten, und der übrigen

Amtsführung. Die erste besorgten zwei zu unterscheidende Kollegien von Logistai („Rechnungsprüfer“), von denen das eine aus einem in jeder Prytanie neu

erlosten Ratsauschuß von zehn Ratsherren bestand, der für diese Prytanıe das

finanzielle Gebaren aller Beamten überprüfte, und das andere sich aus zehn Lo-

VI. Die politischen Organisationsformen: Beamte

237

gistai und zehn Helfern (synégoroi), die aus allen Bürgern erlost worden waren,

zusarnmensetzte und die Schlußprüfung nach dem Ende des Amtsjahres vornahm. Die endgültige Entlastung sprach dann ein Geschworenengericht aus. Die allgemeine Amtsführung wurde von Euthynoi genannten Rechenschaftsbeamten

kontrolliert; doch erfolgte diese lediglich auf Antrag. Im 5. Jahrhundert sind beide Geschäftsbereiche wohl zusammen geprüft worden. Der Beamte haftete mit seiner Person und seinem ganzen Vermögen für seine Amtsführung. Kontrolle des Beamten im 4. Jahrhundert regelmäßige

auf Antrag erfolgende Kontrollen

vor Antritt des

Überprüfung der

Amtes

Qualifikation (Dokimasie)

allgemeine und ständige

jeder Athener kann jeder-

Aufsicht durch den Rat

zeit beim Rat gegen jeden Beamten Klage erheben

während der Amtszeit

in jeder Prytanie, d. ἢ. zehnmal im Jahr, Abstim-

scharfe Kontrollen der Kollegien untereinander

mung in der Volksversammlung über die ordentliche Amtsführung

(kollektive Haftung)

(Epicheirotonie) und eben-

nach der Amtszeit

falls in jeder Prytanie Überprüfungen der Rechnungen durch Logistai Rechnungslegung über

Prüfung der allgemeinen

die anvertrauten Gelder

Amtsführung durch die

bei den Logistai

Euthynoi

Die Verantwortlichkeit für die im öffentlichen Dienst ausgeübte Tätigkeit ist eines der wesentlichen Kennzeichen der Demokratie. Sie unterwarf alle Ge-

schäftsträger den Gerichten als der letzten über die Amtsführung entscheidenden Instanz und schránkte damit ihre Eigeninitiative ein oder erstickte sie auch gänzlich. Für die Athener war die Freiheit von der Rechnungslegung gleichbedeutend mit Herrschaft, und folglich waren nur das Volk und die Richter (Aristoph., Wespen 586f.), deren Gleichstellung mit dem Volk sich darin beson-

ders deutlich zeigt, nicht rechenschaftspflichtig. Der einzelne hingegen, der die Überprüfung der von ihm im óffentlichen Interesse vollzogenen Handlungen ablehnte, galt als Tyrann.

Der Charakter von Amt und Verwaltung In kaum einem Bereich tritt das Wesen der Demokratie deutlicher hervor als in

dem Charakter von Amt und Verwaltung. Bis zum Anfang des 5. Jahrhunderts

238

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

hatten die neun Archonten und unter ihnen vor allem der Archon, nach dem das

Jahr benannt wurde, eine zentrale Stellung in der Stadt gehabt. In ihren Händen hatte die allgemeine Staatsführung, also die Festlegung und Ausführung der

Politik, ferner die Kriegführung, die Aufsicht über das Sakralwesen und die Rechtsprechung gelegen. Wir dürfen das Archontat der vordemokratischen Zeit

als die Regierung der Stadt ansehen, die durch den Areopag als die Versammlung der ehemaligen Archonten eher kontrolliert als gelenkt worden war. In der

Demokratie besaßen die Archonten demgegenüber so gut wie keinen Einfluß mehr. Ihre einst kompakten Zuständigkeiten waren auf zahlreiche Beamte sowie auf den Rat und die Geschworenengerichte verteilt worden, ihnen selbst nur viele kleine Zuständigkeiten meist repräsentativer oder formeller Natur geblieben. Die umfangreichen staatlichen Aufgaben, die als Konsequenz der Demokratie im Laufe der Zeit hinzugekommen waren, übernahmen, neben dem Rat

und den Geschworenengerichten, neue Beamte, und sıe alle übten ihre Tätigkeit nicht mehr allein, sondern innerhalb von Kollegien aus, in denen der einzelne an

den Willen des Kollektivs gebunden war. Die große Menge der (ohne den Rat) ca. 700 Beamten wechselte zudem jährlich, und gerade dieser Wechsel, der immer andere Bürger zu Ämtern oder zu anderen Ämtern, als sie bisher innegehabt hatten, führte, erweckt den Eindruck, daß im Verlauf einer Reihe von

Jahren mehr oder weniger alle Athener an der Verwaltung beteiligt waren. Die abwechselnde Übernahme der Ämter, die weiterhin auch durch das Verbot,

dasselbe Amt mehr als einmal bekleiden zu dürfen, abgesichert war, haben die Athener selbst als ein tragendes Prinzip der Demokratie angesehen und in dem

Begriff des „Reihumgehens“ verdichtet. Die Ämter sind nicht lediglich dadurch charakterisiert, daß der Idee nach alle an ihnen teilhaben; sie sind vor allem auch dadurch bestimmt, daß sie weder

einzeln noch in ihrer Summe die Regierung verkörpern. Zwar war der Beamte durch ein äußeres Rangabzeichen, den Myrtenkranz, vor den nichtbeamteten

Mitbürgern ausgezeichnet, und er war gegenüber den übrigen Bürgern auch dadurch herausgehoben, daß Ungehorsam, Beleidigung und körperliche Angriffe auf ihn bei Ausübung seiner Amtspflicht härter geahndet wurden als die gleichen Delikte gegenüber einem Privatmann; wer sich derlei zuschulden kommen ließ, konnte mit Geldstrafen, in schweren Fällen auch mit dem Entzug der

bürgerlichen Rechte (Atimie) bestraft werden. Aber der Beamte besaß weder auf

Grund seines Amtes noch seiner individuellen Persönlichkeit irgendeine nennenswerte Autorität, und hatte er sie im Einzelfall doch, besaß er sie durchaus

gegen den Sinn, der der Gestaltung des Beamtenwesens in der Demokratie zugrunde lag. Das persönliche Element sollte die fast totale Anwendung des

Prinzips der Losung auslöschen und hat es auch getan. Das Los verstreute die Ämter unter beliebige Athener, und wenn es auch nicht zu jedem Zeitpunkt unter allen, sondern nur unter denen die Entscheidung fällte, die sich jeweils als

Kandidat für ein Amt gemeldet hatten, bleibt sein Sinn doch immer auf die Entpersönlichung des Amtes gerichtet. Die Kleinheit, die Kollegialitàt und Jáhrlichkeit des Amtes verhinderten darüber hinaus, daß der Inhaber eines Amtes von den ihm übertragenen Aufgaben her zu Einfluß kam. Insbesondere

die geringfügigen Kompetenzen führten zu einer Spezialisierung, die den einzel-

VI. Die politischen Organisationsformen: Beamte

239

nen Beamten innerhalb der gesamten Beamtenschaft isolierte und ihn an das beaufsichtigende und kontrollierende Organ, den Rat, verwies; die verschiede-

nen Sparten von Beamten hatten kaum Verbindung zueinander. Die Masse der

auf kleine und kleinste Aufgabenkreise beschränkten Funktionsträger stand demnach beziehungslos nebeneinander; es gab keine Über- und Unterordnung (mit Ausnahme von manchen Bereichen der militärischen Exekutive) und keine Karrıere. Es konnte folglich von den Beamten oder einzelnen Gruppen unter

Ihnen keine Dynamik ausgehen. Sie waren durch ihre Masse, ihre Spezialisierung und Isolierung zugleich geláhmt.

Zu den durch die besondere Form des Amtes selbst gegebenen Kontrollen, welche die Möglichkeit des Einflusses und der Eigeninitiative auf ein Minimum beschränkten (Intraorgankontrolle), kam noch die von außen über die Amtsinhaber gesetzte Aufsicht (Interorgankontrolle), die von einzelnen Rechenschaftsbeamten, von der Volksversammlung und vor allem vom Rat als dem zunächst

für die Kontrolle der Beamten zuständigen Gremium ausgeübt wurde. Die Rechenschaft, die der Beamte während seines Amtes und nach diesem abzulegen hatte, band ihn mit eisernem Griff an die Masse bzw. deren Repräsentanten,

den Rat, und erstickte jede Eigenwilligkeit schon im Ansatz. Der Typ des athenischen Beamten ist daher nicht lediglich durch sein Amt gekennzeichnet, das ihn klein und einflußlos machte, sondern vor allem auch

durch die Summe der Faktoren, die jede noch mögliche Einflußnahme oder den Mißbrauch des Amtes verhindern sollten. Schon die Eignungsprüfung vor An-

tritt des Amtes (Dokimasie), insbesondere aber die ständigen Überwachungen während des Amtes verhinderten, daß sich irgend jemand als Kandidat aufstellen ließ, der nicht zur völligen Unterordnung unter die Normen, auf Grund derer er tátig sein sollte, bereit war; es trat niemand zu einem Amt an, der sich

nicht von vornherein als ein Rädchen im großen Getriebe fühlte. Der Umstand, daß das Amt nicht mehr die auf einen kleinen Personenkreis

beschránkte Fáhigkeit zur Bewältigung umfangreicher óffentlicher Aufgaben, sondern nur noch die Durchführung sehr begrenzter, übersichtlicher Einzelaufgaben erforderte, hielt einerseits die Ámter klein, schuf aber andererseits auch

die Voraussetzung dafür, daß jeder Athener von seinen intellektuellen Móglichkeiten her jedes Amt zu übernehmen imstande war. Die Demokratisierung der Exekutive war so móglich geworden und auch deren Effektivität durch die Konzentration auf eine begrenzte Aufgabe bis zu einem gewissen Grade gesi-

chert. Vor unwilligen oder geschäftsunfähigen Personen war man schon durch die der Amtsübernahme vorausgehende Dokimasie geschützt, da sich kaum

jemand als Kandidat gemeldet haben dürfte, der nicht von seinen Fáhigkeiten her das von ihm Geforderte auch zu leisten vermochte, und drángte sich doch einmal jemand trotz offensichtlicher Mängel der Person vor, war die Chance nicht sehr hoch, daß er die Hürde der Kontrolle nahm. War somit im Rahmen

der durch die demokratische Grundidee gesteckten Bedingungen einerseits eine ordentliche Amtsführung gesichert, konnten andererseits von dieser Beamtenschaft auch keine besonderen Anregungen ausgehen. Es herrschte unter den Beamten im ganzen ein Klima der Passivitát und Anpassung. Wir kónnen das auch an den Wahlen bzw. Kandidatenaufstellungen ablesen. Weder bei den

240

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Losungen, die an einem einzigen Tag vorgenommen

wurden, noch bei den

Wahlen der Strategen und hohen Finanzbeamten scheint es trotz gelegentlicher Versuche der Einflußnahme zu großen Streitigkeiten gekommen zu sein. Der Kampf um das Amt, der die archaische Zeit gekennzeichnet hatte, lohnte sich nicht mehr. Die Politik wurde nicht von den Beamten bestimmt; es konnte nicht

einmal Initiative von ihnen ausgehen: Die Beamten waren reine ger. Sie erscheinen uns heute eher entpolitisiert und der ganze als ein rein ausführender Mechanismus. In der Tat waren die über die politische Richtung und die Ausführung der Politik in

VerwaltungsträBeamtenapparat Entscheidungen der Demokratie

scharf voneinander geschieden. Das Volk machte die Politik; die Beamten waren

nichts als seine Diener, die im Interesse einer unverfálschten Ausführung der gefällten Entscheidungen scharf kontrolliert werden mußten. Da das Volk zur Aufsicht über die Beamten nicht oder nur bedingt fähig war, traten hier der Rat und, durch dessen Vermittlung, auch die Gerichte an seine Stelle.

Von der Bedeutungslosigkeit der Beamten bilden nur die hohen militärischen Chargen, besonders die Strategen, und einige Finanzbeamte eine Ausnahme. Über die Stellung der letzteren wird in dem Kapitel über das Finanzwesen gesondert gehandelt werden. Die Strategen besitzen durch das Gewicht ihrer in der gesamten klassischen Zeit zentralen Aufgabe der Heerführung in der Tat eine Sonderrolle. Aber abgesehen von dem Umstand, daß seit der Mitte des 4. Jahrhunderts auch die militärischen Ämter an Einfluß einbüßten, war der General in Athen durch die ständige Drohung der Anklage wegen Hochverrats bzw. Ungehorsams (Eisangelie-Klage) in den Willen der Masse eingebunden. Niemandem brachten die Athener größeres Mißtrauen entgegen als ihren Feldherren. Für eine Anklage war noch nicht einmal immer Ungehorsam notwendig; oft genügte es, erfolglos zu sein, und eine Verurteilung brachte meist Tod oder Verbannung. Die Konsequenz der Kontrolle war weder hier noch bei den

übrigen Beamten immer die Durchsetzung der von dem Beamten verletzten Norm; sie war oft nur Ausdruck der Unzufriedenheit mit dem, was von dem Beamten erreicht war, oder auch die Folge einer besonderen, von der jeweiligen

Situation abhángigen Summung. Die Kontrollen scheinen darum nicht immer dem Recht und der Gerechtigkeit zu dienen. Bisweilen vermitteln sie den Eindruck des Terrors der Menge über die Ausführenden, der von der Masse der Beamten nur deswegen nicht so unmittelbar empfunden wurde, weil von ihm in erster Linie die hohen Amtstráger - diejenigen, die, weil nicht erlost, gleichsam

außerhalb der demokratischen Idee standen - betroffen waren. Die einzelnen Ämter

In älterer Zeit waren alle wesentlichen staatlichen Funktionen von den neun Archonten wahrgenommen worden; von ihnen hatte der Archon, der schon durch das Fehlen jedes spezialisierenden Zusatzes sıch als der ranghöchste und ursprünglich wohl einmal einzige Beamte auswies, die nominelle Oberleitung besessen und unter ihm der (Archon) Basileus den sakralen, der (Archon) Polemarchos den militärischen und die sechs Thesmotheten den jurisdiktionel-

len Bereich selbständig geleitet. Nachdem die Archonten 487/86 zunächst noch

VI. Die politischen Organisationsformen: Beamte

241

aus Vorgewählten erlost, zu einem unbekannten Zeitpunkt nach 458/57, aber wahrscheinlich noch im 5. Jahrhundert dann auch die Kandidaten für die Vor-

wahl durch das Los bestimmt wurden, verlor das Amt seine politische Bedeutung, und es wurde zusätzlich noch dadurch geschwächt, daß die wichtigsten Kompetenzen allmählich auf andere Gremien oder Beamte übergingen oder

eingeschränkt wurden. So übernahm der Rat vom Archon die allgemeine Oberaufsicht über die Verwaltung und die nominelle Staatsleitung, das Strategenkollegium vom Polemarchos die militärischen Funktionen und die Geschworenengerichte von allen Archonten die Jurisdiktion, von der diese lediglich die Voruntersuchung und den Vorsitz im Prozeß behielten. Das Archontat hatte sich demnach in der Demokratie zu einem noch angesehenen, aber gänzlich einflußlosen Amt entwickelt. Nach 458/57 war es auch der niedrigsten der drei Zensus-

klassen, den Zeugiten, zugänglich gemacht worden, wurde aber faktisch sogar von Theten bekleidet. Eine Erinnerung an die einstige Bedeutung erhielt sich darin, daß die Archonten zweimal, im Rat und in einem Dikasterion, auf ihre

Qualifikation hin überprüft wurden. Die ehemals zentral Stellung des Archon

weiterhin dem Jahr seinen Namen gab; Archon

ist daran zu erkennen, daß er

eponymos

wird er hingegen

erst in der Kaiserzeit genannt. Auch der Umstand, daß er den bedeutenderen Festen und Wettkämpfen, die nicht seit alters her vom Basileus geleitet wurden, insbesondere den neu hinzugekommenen Festen vorstand, weist auf seine frühere Bedeutung hin. So stand er den groften (Stádtischen) Dionysien vor und

hatte als solcher u.a. die Aufgabe, den reicheren Athenern die Aufstellung der zunächst drei, dann fünf Chöre für die Tragódien und Komödien (Choregie) aufzuerlegen. Neben den sakralen Verpflichtungen stand als zweiter wichtiger

Tätigkeitsbereich des Archon (eponymos) die Sorge um familienrechtliche und erbrechtliche Fragen. Sie umfaßt die Fürsorge für alle Schwachen und Verlassenen, insbesondere für Waisen, Erbtöchter und Witwen, die schwanger zurückgelassen worden waren; sie alle schützte er vor Übervorteilung und Kränkung.

Auch Fragen der Vormundschaft und Adoption gingen an den Archon, ebenso der Schutz von altersschwachen Personen. Obwohl der Archon nicht für das gesamte Familienrecht zuständig war, sondern vornehmlich das, was schon seit alters her von ihm entschieden worden war, auch in der Demokratie behielt,

erschien er doch durch die mannigfachen Kompetenzen auf diesem Gebiet den Athenern als der Hüter der Familie. Es versteht sich, daß der Archon bei den

meisten Prozessen und selbstverständlich bei allen Strafklagen lediglich die Voruntersuchung in eigener Regie führte, er ın der Hauptverhandlung dagegen nur Vorsitzender eines Geschworenengerichts war. Der Basileus hatte als Nachfolger des Königs im sakralen Bereich alle alten

Opferhandlungen zu verrichten; er leitete auch die älteren Feste und beaufsichtigte die heiligen Bezirke der Stadt. Als die oberste Verwaltungsinstanz im sakralen Bereich schlichtete er ferner die Streitigkeiten von Priestern untereinander, soweit sie sakrale Gegenstände betrafen, und verpachtete das Grundver-

mögen der Götter. In das Rampenlicht des städtischen Lebens rückte er vor allem durch die ihm verbliebenen jurisdiktionellen Kompetenzen. Er saß näm-

lich weiterhin dem alten Adelsrat, dem Areopag, und also auch den vor diesem

242

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Rat geführten Prozessen vor, und ebenfalls wurden alle Anklagen wegen Gottlosigkeit (asebeia), unter die jede Art von sakralem Delikt fallen konnte, sowie

sämtliche Tötungsdelikte unter seiner Leitung verhandelt. Insbesondere hinter der Asebie-Klage konnte sich seit der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts auch eine politische Klage verbergen. Da der Basileus indes lediglich den Verhandlungsvorsitz hatte, war seine Einflußmöglichkeit bei diesen Prozessen begrenzt. Der Polemarchos hatte in der Demokratie keinerlei militärische Funktion mehr; an ıhm ist die Demontage des Archontats besonders deutlich zu erken-

nen. An seine alte Aufgabe erinnert neben seinem Titel noch der Umstand, daß er in Kriegszeiten die alljährliche Feier zu Ehren der Gefallenen, auf der auch eine Rede gehalten wurde (Epitaphios, d. i. „Rede auf die Gefallenen“), leitete.

Daß sein Tätigkeitsfeld einst außerhalb der Landesgrenzen gelegen hatte, zeigt auch noch seine Hauptaufgabe, die Fremdengerichtsbarkeit. Sie umfaßte alle Prozesse unter Metöken und Freigelassenen sowie die von Bürgern gegen Metöken (aber nicht umgekehrt), betraf aber nur die Einleitung des Verfahrens. Für die übrigen Fremden war er in älterer Zeit nur sehr beschränkt, später überhaupt nicht mehr zuständig. Die vor dem Polemarchos geführten bzw. vorbereiteten Prozesse waren fast ausschließlich Privatprozesse und betrafen vor allem Personenstandsangelegenheiten. Die bei ihm wie auch bei den anderen Archonten oft verwirrenden Zuständigkeitsabgrenzungen, die jeder Systematik entbehren, sind allein von der historischen Entwicklung her zu verstehen, in deren Verlauf

dem Beamten dieses übertragen, anderes wieder genommen worden war. Den Thesmotheten blieb als den ehemaligen Gerichtsherren in der Demokraue die Oberleitung der Rechtspflege. Als solche setzten sie für alle Prozesse die Gerichtstage fest, bestimmten die Anzahl und u.U. die Größe der von den einzelnen Beamten jeweils angeforderten Gerichtshófe und wickelten das schwierige Gescháft der Verteilung der Richter auf sie ab (s.o. S. 210ff.). Entsprechend ihrer Bedeutung in der Rechtspflege lag auch die Einleitung und der Vorsitz bei den meisten „öffentlichen Klagen" (das sind die Klagen von öffentlichem Interesse) in ihren Händen.

Neben den Thesmotheten finden wir in der Demokratie noch eine ganze Reihe von anderen Beamten in der Rechtspflege tätig. Unter ihnen nehmen die „Elfmänner“ wegen der Schwere der von ihnen verhängten Strafe, der Todesstrafe, einen besonderen Rang ein. Sie waren zustándig für die Aburteilung aller Verbrecher, die bei einem todeswürdigen Delikt auf frischer Tat ertappt worden waren. Ursprünglich hatten die „Elfmänner“ selbst das Urteil gefällt; in der Demokratie behielten sie lediglich noch den Vorsitz des mit der Tat befaßten

Geschworenengerichts. Als den mit der Verhängung der Todesstrafe besonders

befaßten Beamten oblag ihnen auch der Vollzug der Todesstrafe sowie die Leitung des Gefängnisses, das in Athen, wo man keine Gefängnisstrafen kannte, lediglich Untersuchungsgefängnis war. Für den Durchschnittsbürger waren jedoch diejenigen Prozesse wichtiger, in denen die privaten, insbesondere vermögensrechtlichen Streitigkeiten verhandelt wurden, und entsprechend fiel die Mehrzahl der Klagen den dafür zuständigen Behörden zu, und das waren vor allem zwei Gruppen von Richtern. Da sind zunächst die seit der Mitte des 5. Jahrhunderts in den verschiedenen Landschaf-

VI. Die politischen Organisationsformen: Beamte

243

ten Attikas richtenden 30 Demenrichter, die nach 403 von den ,,Vierzig“ abgelöst wurden. Diese ,,Vierzig^ wurden aus den zehn Phylen gelost und bildeten

zehn Gerichte, die aus jeweils vier derselben Phyle zugehörigen Richtern bestanden. Vor sie kamen so gut wie alle vermögensrechtlichen Streitigkeiten. Die „Vierzig“ entschieden bei Klagen mit einem Streitwert unter zehn Drachmen

selbst; bei höherem Streitwert verwiesen sie die Sache nach 403/02 regelmäßig an Diäteten genannte Schiedsrichter. Diese Richtergruppe bildeten alle Bürger, die im 60. Lebensjahr standen. Hatte der Diätet seinen Spruch verkündet, mußten ihn die Parteien sogleich annehmen; konnten sie sich auf die Annahme des Urteils nicht einigen, ging die Sache an ein Geschworenengericht, das dann in letzter Instanz entschied. Wurde die Masse der Privatprozesse von den „Vierzig“ und den Diäteten erledigt, lagen doch viele Prozesse in den Händen von Beamten, die aus irgend-

welchen, meist sich aus der álteren Entwicklung des betreffenden Amtes ergebenden Gründen für die zur Verhandlung anstehende Sache eigens zustándig

waren; und daneben gab es noch einige Prozeßkategorien, für die man wieder besondere Beamte eingesetzt hatte. Zu letzteren gehórten vor allem auch die uns

im 4. Jahrhundert bekannten fünf Schnellrichter für Klagen, die binnen eines Monats angenommen werden mußten. Diese eisagögets (,,Einleiter") genannten

Richter brachten die Sache an ein Geschworenengericht und standen ihm auch vor. Anfangs betrafen diese „Monatsklagen“ nur vermögensrechtliche Fragen; später wurde die Klage auf mannigfache Gegenstände ausgedehnt, und es konnte etwa auch eine Körperverletzung vor diesem Gericht verhandelt werden. - Nicht Richter, sondern Justizbeamte müssen wir diejenigen Personen nennen, die mit der Einziehung der von den Behórden verhángten Geldstrafen beauftragt waren (Gerichtsvollzieher); sie hießen Praktores.

In einer Stadt von der Größe und der wirtschaftlichen Kraft Athens hatte die polizeiliche Aufsicht und Kontrolle über das städtische Leben beson-

deres Gewicht. Mit dem Gedanken der Ordnung und Sicherheit verband sich für die Athener wie für die Bewohner aller anderen griechischen Stádte auch die Sorge um die Versorgung der Bevólkerung mit einer hinreichenden Menge von

Brotgetreide und mit sauberem Wasser (tropbé, „Ernährung“). Unter den nicht wenigen Beamten dieses Bereichs ragen die Astynomen und die Agoranomen heraus. Beide Beamtengremien bildeten ein Kollegium von jeweils zehn Personen, von denen fünf für den Bereich der Stadt Athen, fünf für den des Piráus

zuständig waren. Die Astynomen sorgten für die Reinhaltung der Straßen und die Einhaltung der baupolizeilichen Vorschriften; neben ihnen war vielleicht schon im 5., sicher dann im 4. Jahrhundert eine speziell für den StraRenbau zuständige Behörde, die fünf hodopoiof („Wegebauer“), tätig. Die Agoranomen hatten die allgemeine Aufsicht über den Markt; sie sorgten für die Aufrechterhaltung der Ordnung, zogen die Marktabgaben ein und überprüften die Maße und Gewichte. Das letztere wurde in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts besonderen Eichbeamten, den Metronomen, auch sie je fünf für Achen und den

Piräus, übertragen.

Die Sorge für hinreichend Getreide und Wasser hatten ursprünglich die Agoranomen gehabt. Als dann in den Jahren nach dem Zusammenbruch der atheni-

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

schen Herrschaft gegen Ende des 5. und zu Beginn des 4. Jahrhunderts die Engpässe in der Ernährung bedrohlicher wurden, haben die Athener eine besondere Behörde für die Getreideversorgung geschaffen. Es waren dies die anfangs zehn - fünf für Athen, fünf für den Piräus -, gegen Ende des Jahrhunderts auf 35 Personen angewachsenen „Getreideaufseher“ (sitophylakes). Ihre

Aufgabe bestand darın, für die Beachtung der Gesetze über den Getreidehandel, insbesondere über den Stapel- und Verkaufszwang des im Piräus ankommenden

Getreides und über die Beschränkung der Ankäufe durch die Kleinhändler, zu sorgen und den Höchstpreis für Getreide festzusetzen. Gegen Ende des 4. Jahr-

hunderts übernahmen sıe auch die Aufsicht über die Verarbeitungsprodukte des Getreides und überwachten also zusätzlich die Preise für Mehl und Brot. Es zeugt von den anhaltenden Schwierigkeiten der Lebensmittelversorgung, wenn in der Mitte des 4. Jahrhunderts die Aufsicht über den Getreidehafen, das Em-

porion, und die mit ıhr verbundene Sorge um die Einhaltung der Ein- und Ausfuhrgesetze den Sitophylakes genommen und auf ein besonderes Kollegium, die zehn „Aufseher über das Emporion“ (epimelétat tou emporíou), übertragen wurde. - Für die óffentlichen Brunnen und Wasserleitungen war bereits im 5. Jahrhundert ein Brunnenaufseher zuständig, der gewählt wurde. Von größter Bedeutung war naturgemäß die Einziehung und Verwaltung der mannigfachen Steuern und anderen Abgaben sowie die ordnungsgemäße Verteilung und Überprüfung der Ausgaben. Entsprechend zahlreich waren die mit

diesen Geschäften betrauten Beamten. Aber da das gesamte Finanzwesen ım nächsten Kapitel dargestellt ist und dort auch die Finanzbeamten worden sind, sei hier lediglich auf die dortigen Ausführungen

behandelt verwiesen

(u. S.253ff.).

Eine große Anzahl von Athenern hatte Aufgaben im kultischen Bereich zu erledigen. Denn abgesehen von den Priestern und Priesterinnen wurden viele

Opfer von eigens dafür von der Stadt bestellten Personen vollzogen, und es war auch die Stadt, welche die zunächst wohl von den Priestern selbst verwalteten

Heiligtümer beaufsichtigte. Die hier tätigen Personen waren teils ein Jahr, teils über eine Reihe von Jahren, öfter aber auch nur sehr kurze Zeit tätig. Die ın aller Regel lediglich für die Erledigung eines bestimmten Auftrags ernannten Personen waren reine Geschäftsträger. Die meisten der im kultischen Bereich tätigen Personen wurden für den Vollzug bestimmter Opfer bestellt (hieropoiot, „Opfe-

rer“), und es endete ihr Auftrag gleichzeitig mit der Erfüllung dieser Aufgabe. Eine andere Gruppe waren die Gesandten (theörot), die als offizielle Vertreter der Stadt zu den alljährlichen oder periodisch gefeierten Festen der großen panhellenischen Heiligtümer nach Delos, Olympia, Delphi, Nemea und an den Isthmos reisten. Für den Bau oder die Ausbesserung der Heiligtümer wurden jeweils Sonderkommissionen gebildet; in der Zeit des Aristoteles gab es sogar

eine zentrale Behórde für die Instandhaltung der Heiligtümer. Zahlreich waren auch die Kommissionen, welche die allgemeine Verwaltung der Heiligtümer besorgten, insbesondere die den Tempeln gehôrigen Kassen abrechneten.

Grofte Sorgfalt haben die Athener selbstverstándlich der Heeres- und Flottenverwaltung gewidmet. Das zentrale Kommando über Heer und Flotte lag in den Händen von zehn Strategen, die vom Volk einzeln oder in

VI. Die politischen Organisationsformen: Beamte

245

Gruppen mit den anstehenden kriegerischen Unternehmungen betraut wurden. In der Mitte des 4. Jahrhunderts bürgerte es sich ein, einzelnen Strategen für die ganze Amtszeit feste Aufgabenkreise zu übertragen; gegen Ende des Jahrhunderts gab es bereits fünf solcher speziellen Zuständigkeiten, nämlich je einen Strategen für die Feldzüge (epf tous hoplitas), für die Landesverteidigung (epf ten

chöran) und für die Bestimmung der Trierarchen (epf tas symmorías) sowie zwei für die Schiffshäuser und den Hafen (epf ton Peiraiéa). Seitdem standen nur noch

fünf Strategen zur freien Disposition. Neben dem militärischen Kommando selbst oblag den Strategen auch die Durchführung der Aushebungen, und sıe führten bei militärischen Vergehen, wie z. B. bei Desertion und Kriegsdienstverweigerung, auch den Vorsitz in den betreffenden Prozessen; für sie wurden die Geschworenen nicht wie bei den anderen Prozessen aus allen Athenern, sondern

lediglich aus den Männern erlost, die an dem zur Debatte stehenden Feldzug teilgenommen hatten. Die Strategen wurden, wie alle anderen Offiziere auch, nicht erlost, sondern gewählt, und für sie galt ebenfalls nicht das Verbot der Wiederwahl. Seit dem Ende des 4. Jahrhunderts entfiel für die Strategenwahl auch der Zwang, bei der Kandidatenaufstellung alle zehn Phylen zu berücksichtigen. Man wählte seitdem, vielleicht wegen des Mangels geeigneter Kandidaten, die Strategen aus allen Athenern.

Unter den Strategen führten Taxiarchen genannte Offiziere das Aufgebot der schwerbewaffneten Fufisoldaten, Hipparchen und Phylarchen die Reiter der zehn Phylen. Von ihnen und von den Flottenoffizieren ist im Zusammenhang der Darstellung des athenischen Heeres- und Flottenwesens bereits gesprochen worden (S. 119ff.), und es kann darum hier auf das dort Ausgeführte verwiesen werden.

Viele Athener waren auch als Gesandte unterwegs. Sie wurden selbstverstándlich ad hoc bestellt. Die Gesandtschaft galt nicht als Amt (arché) und

konnte daher ófter übernommen werden, was wegen der teils persónlichen Verbindungen der Gesandten mit den Auswärigen, zu denen sie geschickt wurden, und wegen der im Ausland gewonnenen Erfahrungen für die Heimatstadt günstig und erwünscht war. Aus demselben Grund wurden die Gesandten auch nicht erlost, sondern gewählt, und zwar in der Regel durch die Volksversamm-

lung. Die ausgedehnte auftenpolitische Aktivitát der Athener in klassischer Zeit hat den diplomatischen Verkehr auftergewóhnlich anschwellen lassen und viele Athener gewiß nicht unerheblich belastet. Die Gesandtschaften umfaßten ein bis zehn Mitglieder, öfter waren es zwei, drei, fünf oder zehn Personen. Der

Gesandte erhielt keinen Sold, aber natürlich ein Reisegeld, das in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts zwei bis drei Drachmen täglich betrug. Die Gesandtschaft endete mit der Erledigung des Auftrags, also nach der Berichterstattung der zurückgekehrten Gesandten in Athen. Aristoteles hat in dem 2.Buch seiner „Politik“ ein umfangreiches Kapitel den

Ämtern in der Polis gewidmet, in dem er nach einer langen Auflistung der Ämter die Sachbereiche, die von ihnen betreut werden und also Gegenstand

öffentlicher Fürsorge (epiméleia) sind, in folgende sieben Gruppen zusammen-

faßt (1322b29-37):

246

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Kult Kriegswesen Finanzwesen Sorge um die öffentlichen Baulichkeiten Gerichtswesen (Leitung, Vollstreckung, Bewachung der Gefangenen)

Rechnungslegung Sitzungsleitung ın den politischen Gremien

Gesondert von diesen Bereichen führt Aristoteles dann einige Ämter und Zuständigkeitsbereiche - vor allem solche der Kinder- und Jugenderziehung sowie den der Gesetzeswächter (nomophylakes) - auf, die nach ihm durchweg keinen demokratischen Charakter haben. Die oben aufgeführten Bereiche sind daher

mit den Kompetenzbereichen der Demokratie zu identifizieren, und in der Tat decken sie sich auch mit denen, die wir in Athen finden. Die Übersicht zeigt aber gleichzeitig, wofür sich die Demokratie - etwa im Gegensatz zur Oligarchie nach Aristoteles - nicht zuständig fühlt: für die Erziehung der Kinder. Es gibt in Athen denn auch tatsächlich etwa keinen amtlichen Gymnasienaufseher, wie er für die hellenistische Stadt so typisch ist. In Athen werden lediglich die Epheben betreut. Für sie finden wir nach 333 v. Chr. 30 Kosmetai (kosmétés, „Ordner“), die charakteristischerweise nach Phylen von den Vätern der Ephe-

ben gewählt werden, und seit etwa derselben Zeit für jede Phyle einen Sophronistes (söphronistes, „Lehrer, Zuchtmeister“), welche die Volksversammlung aus

den Kosmeten wählt. Die Ausnahme ist bezeichnend: Es ging hier um militärische Ausbildung.

6. Das Finanzwesen der Stadt Grundlagen Manche Bereiche des staatlichen Lebens sind selbst bei grundsätzlich verschie-

dener Verfassungsform doch gleich oder ähnlich organisiert, wie etwa das Kriegswesen oder der Gótterkult bei dem Wechsel von einer oligarchischen zu einer demokratischen Regierungsform keiner oder nur geringfügiger Änderungen der diesen Bereichen zugrunde liegenden Organisationsprinzipien bedür-

fen. Andere Gebiete staatlicher Tätigkeit sind hingegen so eng mit der jeweiligen politischen Grundordnung verbunden, daf sie deren Wesen in ihrem forma-

len Aufbau widerspiegeln und darum auch eine Änderung dieser Ordnung nicht unbeschadet überdauern. Das öffentliche Finanzwesen gehört zu den letzteren, und wir könnten daher erwarten, daß es in der Demokratie durchaus anders als

in vordemokratischer Zeit beschaffen war und wir in dem Wandel der Formen den Geist der Demokratie besonders klar erkennen können. Wie die meisten griechischen Städte war auch Athen in archaischer Zeit ein

Adelsstaat, in dem die für die Gemeinschaft notwendigen finanziellen Leistungen von den Adligen erbracht wurden und also eine Finanzverwaltung nicht erforderlich war. Die Ämter wurden ehrenamtlich übernommen und folglich die mit ihnen verbundenen Kosten, wie Hilfspersonal, Aufwendungen für Rei-

VI. Die politischen Organisationsformen: Finanzwesen

247

sen und sakrale Opfer, von den Amtsinhabern selbst getragen. Auch für das Kriegswesen benötigte die Stadt zu dieser Zeit keine Einnahmen, da der Adlige sich selbst ausrüstete, und ebenso entfielen alle öffentlichen Aufwendungen für

die Versorgung unbemittelt und in Not geratener Menschen, die hier wie in

allen patriarchalischen Gesellschaftsformen vielmehr von den Familien- und Geschlechterhäuptern getragen wurden. In Athen fehlte somit zunächst völlig derjenige öffentliche Bereich, den wir „die Finanzen“ nennen, und die Stadt

besaß folglich auch keine öffentliche Kasse. Lediglich die Tempel hatten Kassen, die durch Abgaben und Spenden der Besucher, durch die Verpachtung tempeleigenen Landes sowie durch den der Göttin Athena bzw. allen Göttern der Stadt zustehenden Zehnten (dekäte) aus der Kriegsbeute, der in dem großen Perser-

krieg ohne Zweifel eine erhebliche Summe ergab, gefüllt und deren Gelder für die laufenden Ausgaben, für den Ausbau oder zur Verschönerung der Tempelan-

lagen verwendet wurden. Benötigte man einmal eine größere Summe, die der einzelne Adlige nicht bezahlen konnte oder wollte, lieh man sie sich daher von einem Tempel, meist von dem der Hauptgöttin Athena auf der Burg, und zahlte den Kredit mit einem sehr mäßigen, eher rein nominellen Zinssatz von gut einem Prozent wieder zurück. Schon in der Zeit der Aristokratie wurde die Benutzung der Tempel als Geldgeber zu einer so selbstverständlichen Praxis,

daß die Tempelkassen wie öffentliche Kassen behandelt und demzufolge auch Beamte für die Verwaltung der Tempelgelder bestellt wurden. Dadurch wurde in Attika eine Sonderpolitik der Tempel mit Hilfe des bei ihnen angesammelten Kapitals, wie sie das Heiligtum von Delphi betrieb, verhindert, aber andererseits

auch eine bei veränderten Bedingungen angemessene Entwicklung des öffentli-

chen Finanzwesens abgeschnitten. Denn die bloße Existenz von Tempelkassen und die durch sie gegebene bequeme Möglichkeit der Kreditnahme mußte eine Reform, die etwaigen Veränderungen der allgemeinen Finanzlage Rechnung getragen hätte, unnötig erscheinen lassen. Ein Umdenken schien um so weniger notwendig zu sein, als die meisten außerordentlichen Ausgaben, und unter

ihnen auch solche, die der Stadt im Zuge ihres politischen Ausbaus allmählich neu hinzuwuchsen, durch die direkte Übertragung der entsprechenden Lasten auf die Adligen beglichen wurden. Diese ,,Leiturgie“ genannte Form der Finan-

zierung traf alle Adligen in einer angemessenen Reihenfolge, und sie wurde z. B. für den Schiffbau und für die Bereitstellung von Chóren der skenischen Aufführungen angewandt. Das System der Leiturgie entsprach arıstokratischem Denken, wonach der Vornehme das Staatswesen trágt, und war darum in der älteren Zeit das angemessene Instrument zur Bewältigung neu entstehender ordentlicher oder auRerordentlicher Ausgaben. Die Vorstellung einer zentralen öffentlichen Kasse und Finanzverwaltung war dieser Zeit so fern, daß man nicht einmal mit den Geldern, die der Stadt als auRerordentliche Einnahme zuflossen,

von Staats wegen etwas anzufangen wußte. Als die Athener zu Beginn des 5. Jahrhunderts durch die Silbergruben von Laureion zu viel Geld kamen, fiel ihnen zu diesem Silbersegen zunächst nichts Besseres ein, als ihn an die Bürger zu verteilen. Andere ordentliche staatliche Einnahmen, wie Handelszólle oder

Marktabgaben, waren so gering, daß sie sich mit diesem System vertrugen; sie konnte der einzelne adlige Beamte mit seinem Gesinde nach Maßgabe des

248

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Adelsrates verwalten. Und die aus Strafgeldern einkommenden Summen gingen zum größten Teil an eine Gottheit, verschwanden also in den Tempelkassen. War trotzdem einmal Geld vorhanden, das nicht sofort ausgegeben wurde, boten sich ebendiese Kassen als Verwahrer an, und so bildete sich die Gewohnheit, daß

dort nicht nur der Privatmann, sondern auch die Stadt Deposite hatte. Die Demokratie schuf auf dem Finanzsektor demgegenüber völlig veränderte Bedingungen. Mit ıhr entfiel vor allem die Grundlage, auf der bis

dahin die Finanzierung staatlicher Leistungen geruht hatte: der ökonomisch unabhängige und leistungsfähige Adlige. Die Amter wurden jetzt auch von weniger vermögenden Bürgern verwaltet, und es mußten darum nicht nur die

mit dem Amt verbundenen Kosten (z. B. Geld für Opfertiere oder Gesandtenreisen), sondern gegebenenfalls auch der Unterhalt des Amtsinhabers selbst von der Stadt vergütet werden. Da die Demokratie nicht nur den Wohlhabenden, sondern gerade auch den Armen die Ausübung der politischen Rechte ermóglichen wollte, wurden künftig nicht nur für die Übernahme von Ämtern, sondern

auch für die Tátigkeit als Ratsherr und Richter, mit dem Beginn des 4. Jahrhunderts auch für den der Volksversammlungen und seit der Mitte dieses Jahrhunderts sogar für den Besuch von Theaterveranstaltungen Diäten gezahlt. Noch viel hóher waren diejenigen Beträge, die künftig für den Kriegsdienst bereitgestellt werden mußten. Denn das Gebot der Selbstausrüstung konnte unter den neuen politischen Verhältnissen, unter denen auch die armen Leute dienen sollten, keine absolute Geltung mehr haben. Vor allem verschlang die Flotte große Summen, und sie war, weil mit der Demokratie auf das engste verbunden,

selbst für kurze Zeit nicht aus dem Ausgabenetat zu streichen. Es war mithin nicht nur der Sold für Schwerbewaffnete, Leichtbewaffnete, Reiter und Schiffs-

mannschaften, sondern auch das Kriegsgerät einschließlich der Kriegsschiffe zu

finanzieren. Viel Geld erforderte schließlich der Neubau der Akropolis und vieler anderer Bauwerke, unter ihnen vor allem der Langen Mauern zwischen

Athen und dem Piräus sowie der Hafenanlagen. So wuchs der Geldbedarf der Demokratie von zwei Seiten her in eine für damalige Verhältnisse schwindelhafte Höhe. Zum einen stand mit dem Wechsel der politischen Ordnung die einst führende Schicht der Adligen für die Finanzierung der gesamten öffentlichen

Bedürfnisse nicht mehr zur Verfügung, zum anderen war der Geldbedarf der Demokratie um ein Vielfaches höher als der des aristokratischen Regiments. Aber nicht nur der wachsende Geldbedarf der Demokratie hat das Finanzwesen der Stadt so stark verändert. Der Bedarf brachte nämlich nun von sıch aus die Notwendigkeit der Organisation der Einnahmen und Ausgaben hervor, und dies sowohl wegen der gegenüber früher veränderten Größenordnung der benötigten Mittel als auch deswegen, weil die Leistungen nun von einer großen Anzahl von kleinen Beamten verwaltet werden mußten: Mit der Beseitigung der alten Regierungsform, in der der Adlige alles selbst erledigt hatte, war der durch

die persönliche Leistung des Adligen eher verdeckte Finanzsektor gleichsam in den öffentlichen Raum eingetreten, war seitdem als ein besonderer Bereich staatlicher Aufgaben überhaupt erst sichtbar geworden. Er verlangte nun für die Einnahmen und Ausgaben, die bis dahin, weıl im adligen Haushalt eingeschlossen, als öffentliche Posten nicht erkennbar gewesen waren, eine Organisation,

VL Die politischen Organisationsformen: Finanzwesen

249

das heißt die Verwaltung der Gelder und die Kontrolle der mit ihr befaßten Personen. Die Finanzverwaltung wuchs den Athenern erst als eine Folge der Demokratie zu. Wie sind sie mit diesem ganz neuartigen Problem fertig geworden? Zur Beantwortung der Frage müssen zunächst die Einnahmen und Ausgaben und erst daran anschließend die Verwaltung der Gelder in der Demokratie dargelegt werden.

Einnahmen und Ausgaben Da der Gedanke der Besteuerung in der frühen und hohen Adelszeit noch nicht vorhanden war, bestanden die Einnahmen der Stadt zunächst ausschließlich aus

der Nutzung des städtischen Vermögens und aus Strafgeldern. Die Stadt selbst besaß nur wenig Land, umfangreicher war der Landbesitz von

Heiligtümern und für den Haushalt noch wichtiger die Silbergruben von Laureion, die deswegen, weil unabhängig vom Eigentum der Erdoberfläche alle

Bodenschätze der Stadt gehörten, staatliche Domäne waren. Alle Einnahmen aus städtischem Eigentum wurden in Ermangelung einer Finanzbürokratie an Private verpachtet. Die Verpachtung nahmen die zehn Poleten (pólétat, Sing. pôlétés, „Verkäufer“) in Anwesenheit des Rates und nach dessen Beschluß vor.

Die Pachtdauer betrug bei den Grubenpachten drei Jahre, Pachten zur agrarischen Nutzung waren in der Regel länger. Die Poleten verkauften auch die konfiszierten Güter der zum Tode Verurteilten und der Verbannten in einer

Auktion, die ebenfalls vor dem Rat erfolgte. Die Einnahmen aus Konfiskationen, von denen ein Zehntel an die Göttin gingen, konnten beträchtlich sein; das

Vermögen des von Lykurgos angeklagten und zum Tode verurteilten Grubenbesitzers Diphilos erbrachte 160 Talente, wovon damals jeder Bürger 50 Drachmen erhielt. Die Einnahmen aus Pachtungen waren auch nicht gering, und sie hatten

den Vorteil, daß sie regelmäßig kamen. Die Poleten führten über die Pachtungen und Verkäufe von eingezogenem oder sonstigem städtischen Eigentum genau

Buch. Die von ihnen angefertigten Listen wurden archiviert, gegebenenfalls auch auf Stein veröffentlicht; sie dienten nicht nur einer öffentlichen Kontrolle,

sondern auch der Dokumentation von Zahlungsterminen. Neben konfiszierten Gütern fielen auch Strafgelder an, die von Gerichten oder Beamten verhängt worden waren. Sie wurden von Praktores (präktör, „Verrichter“, „Exekutor“)

genannten Beamten eingetrieben. Eine beträchtliche Summe erbrachten ferner die Gerichtsgebühren (prytaneta), die von den Parteien vor Prozeßbeginn bei dem vorsitzenden Beamten zu hinterlegen waren. Alles was die Poleten und Praktores einnahmen, gaben sie sogleich an die Apodekten (apodéktés, „Einnehmer“) weiter. Vor allem die Pachtgelder und die Gerichtsgebühren bildeten einen relativ festen und zudem nicht ganz geringen Posten unter den Einnahmen, und zählt man die nicht unbeträchtlichen Summen aus Verkäufen und

Strafgeldern Kriegsbeute, hinzu, stand Verfügung.

sowie bei Gelegenheit eine nicht unbetráchtliche Einnahme durch unter die auch das Lösegeld für Kriegsgefangene zu zählen ist, der Stadt eine für antike Verhältnisse nicht ganz kleine Summe zur Angesichts des wachsenden Geldbedarfs in demokratischer Zeit

genügten diese Einnahmen jedoch bei weitem nicht zur Deckung der Ausgaben,

250

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

und man mußte daher zur Ergänzung der traditionellen Einnahmequellen sich etwas Neues einfallen lassen.

Die neue Einnahmequelle beruhte auf dem Gedanken der Besteuerung aller Bürger. Die Tyrannen waren die ersten gewesen, die in etlichen Städten Griechenlands eine allgemeine Abgabe eingeführt hatten, die entweder vom Einkommen

(Einkommensteuer) oder von der Personenzahl (Kopfsteuer) er-

rechnet worden war. Auch den Athenern war in der Zeit der peisistratidischen

Tyrannis eine zehnprozentige Einkommensteuer auferlegt worden; doch wurde diese als „Tyrannensteuer“ in Verruf gekommene Abgabe nach der Vertreibung

des letzten Tyrannen abgeschafft und später nicht wieder erhoben. Die Demokratie kannte demzufolge keine Einkommen-, ebenso keine Gewerbesteuer, ja,

sie kannte - wohl auch in Reaktion auf die Tyrannen - überhaupt keine regelmäßig erhobene direkte Besteuerung der Bürger. Lediglich die Gruppe der Metóken zahlte eine direkte, von den Poleten alljáhrlich verpachtete Regelsteuer, das Metoikion (metofkion, eine Kopfsteuer), deren Erlös die nicht

unbetráchtliche Summe von ca. 20 Talenten im Jahr erbrachte. Die nunmehr eingeführte Steuer war vielmehr eine Vermógensteuer, die Eisphora (eisphora, „Beitrag“), die als eine

außerordentliche

Abgabe lediglich bei Bedarf erho-

ben wurde. Aus der älteren Zeit wissen wir über die Form der Umlage und den Kreis der zu ihr Verpflichteten so gut wie nichts. Im Peloponnesischen Krieg haben vielleicht die drei solonischen Zensusklassen der Pentakosiomedimnoi, Hippeis und Zeugiten den organisatorischen Rahmen für die Erhebung der

Steuer gebildet und war die Steuerpflicht auf diese Gruppen beschränkt gewesen; die Theten blieben demnach steuerfrei. 378/77 wurde das Besteuerungssystem geändert. Man gab die Zensusklassen als Rahmen der Steuereinziehung auf, bestimmte eine verhältnismäßig kleine Anzahl von Bürgern, nämlich 1 200,

als für die Eisphora steuerpflichtig und verteilte sie auf 20 Steuerverbände (Symmorien) zu je 60 Mann. Die Steuer bestand in der Abgabe eines bestimmten

Prozentsatzes des Vermógens, der bei jeder Umlage besonders festgesetzt wurde, meist aber ein oder zwei Prozent des steuerpflichtigen Vermógens ausmachte. Der Steuerpflichtige schátzte sich selbst ein. Das gesamte zur Eisphora herangezogene Vermógen betrug z. Zt. des Demosthenes ca. 6 000 Talente; die einprozentige Eisphora brachte demnach ca. 60 Talente (bei ca. 400 Talenten aus den ordentlichen Einnahmen). In diesem System war die Steuerlast auf einen noch kleineren Kreis von Personen verteilt als vorher. Außer den Bürgern zahlten auch die Metóken die Eisphora, und zwar eine hóhere, nàmlich sechsprozentige Steuer (nicht ein Sechstel der jeweils aufzubringenden Gesamtsum-

me, wie die meisten Gelehrten meinen). Die Eisphora wurde nur in Kriegszeiten erhoben und zeigt schon durch den Anlaß ihrer Erhebung, daß der Krieg die größte finanzielle Belastung war: In der Demokratie wurde der Krieg nicht

mehr in erster Linie durch die Selbstausrüstung des Bürgers, sondern durch eine allgemeine Besteuerung finanziert. Da die Eisphora stets der Deckung eines außerordentlichen und in aller Regel dringlichen, weil militärischen Bedarfs

diente, wurden zur möglichst unmittelbaren Bereitstellung des benötigten Geldes die reichsten Athener zur Vorauszahlung des Gesamtbetrages (proeisphora, etwa „Vorschuß“) verpflichtet. Die Bestimmung derjenigen, die zu dieser außer-

VI. Die politischen Organisationsformen: Finanzwesen

251

ordentlichen Leiturgie heranzuziehen waren, oblag zunächst den Ratsherren der einzelnen Demen, welche die reichsten Demoten ihres Demos vorschlugen;

die endgültige Auswahl nahm dann ein Stratege vor. Später hatten die 300 reichsten Bürger der Symmorien diese Leiturgie zu übernehmen. Die zur Proeisphora Verpflichteten hatten ihren Vorschuß bei den zur Eisphora Verpflichteten selbst wieder einzutreiben. Eine wichtige Einnahmequelle war der im Piräus auf alle ein- und ausgeführten Waren gelegte Zoll von 1/50 des Warenwertes (pentékosté), der, wie die Bergwerkskonzessionen, verpachtet wurde, doch war die Pacht hier auf jeweils

ein Jahr begrenzt. Die Pentekoste erbrachte 401/00 und 400/399, von welchen Jahren wir eine Angabe haben (Andok. 1,133f.), immerhin 30 bzw. 36 Talente

pro Jahr. Ferner gab es eine Verkaufssteuer für die zum Markt gebrachten Waren, deren Höhe nach den verschiedenen Waren abgestuft war, und eine

ebensolche Steuer für alle Käufe und Pachtungen von Staatsbesitz. Alle diese Einnahmen haben der Demokratie bei sparsamer Haushaltspolitik

wohl in Friedenszeiten ein Auskommen gesichert, genügten aber keineswegs der Großmachtpolitik des 5. Jahrhunderts. So wurden denn auch mehr und mehr die Matrikelbeitráge der Seebundstaaten (phéros) zur wichtigsten Einnahmequelle, die in dem Maße, wie die Athener den Seebund zu einer Herr-

schaft ausbauten, ihren ursprünglichen Charakter als Beitrag zur Kriegführung gegen die Perser verloren und zu einer Tributzahlung von Untertanen wurden. Sowohl die dadurch vollzogene Verschmelzung der bundesgenóssischen Beitráge mit den athenischen Einnahmen als auch vor allem deren Hóhe - der

phóros überstieg bereits in den Anfángen des Seebundes mit 460 Talenten die Gesamtsumme aller übrigen Einnahmen der Stadt und machte nach der Erhóhung der Beitráge im Jahre 425 schon mehr als das Doppelte aus - veránderten das athenische Finanzwesen grundlegend, machten es aber auch vom Seebund abhángig. Bei der im Jahre 413 erfolgten Umstellung der Matrikelbeitráge von einer direkten Abgabe auf einen 5%igen Zoll von allen bei den Bundesstädten ein- und ausgehenden Waren erhóhte sich die Einnahme aus dem Seebund noch einmal um ein beträchtliches. Die Bundeskasse, der die „Schatzbeamten der

Griechen“ (bellénotamía:) vorstanden, wurde nun zur Hauptkasse der Stadt. Mit dem Zusammenbruch

des athenischen Seereiches entfiel der Phoros, und es

wurde auch die Kasse der Hellenotamiai aufgelóst. Seitdem waren die Athener wieder auf ihre eigenen Einnahmen angewiesen, und da der Bedarf der Demokratie nicht unbeschránkt zurückgeschraubt werden konnte, weil viele Ausgaben eine Konsequenz der politischen Verfassung waren, begannen jetzt die großen Finanzmiseren und die Reformen, durch die man die Einnahmen dem

jeweiligen Bedarf anzupassen suchte. Zu den Einnahmen sind auch die Leistungen zu zählen, die wohlhabende Privatleute für bestimmte staatliche Aufgaben übernehmen mußten. Diese Lei turgie (leitourgia, „öffentliche Dienstleistung“) genannte Verpflichtung war gemeingriechisch und bezog sich in einem allgemeineren Sinne auf jeden Dienst, den ein Bürger für seine Stadt leistete, mochte er nun mit finanziellen

Aufwendungen verbunden sein oder nicht. Im engeren Sinne meinte er ganz bestimmte finanzielle Leistungen, vor allem die Übernahme von Kosten für

252

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

religiôse Feste und Leistungen für die militärische Ausrüstung, die dem zur

Leiturgie Verpflichteten oft nicht unerhebliche Lasten aufbürdeten. Die Leiturgien waren teils regelmäßige, jährliche bzw. in periodischen Abständen wiederkehrende (enkyklische), teils außerordentliche Belastungen. Die ersteren dien-

ten der Sicherung religiöser Feste und umfaßten in Athen vor allem die Aufstellung und Einübung von Chören für die Aufführungen (Choregie), die Übernahme der Kosten für die Fackelwettläufe (Gymnasiarchie) und die Speisung der Phylengenossen an bestimmten Festen der Stadt (Hestiasis) sowie die Leitung der Gesandtschaft zu dem alljährlichen Apollonfest auf Delos (Architheorie).

Außerordentliche Leiturgien waren insbesondere die Ausrüstung und Leitung eines Kriegsschiffes (Trierarchie; 5.0. S. 138f.) und seit dem 4. Jahrhundert auch die Vorauszahlung der außerordentlichen Kriegssteuer (proeispborá, vgl. ο. 5. 250f.). Die Leiturgien waren in der Adelszeit und vielleicht auch noch im

beginnenden 5. Jahrhundert freiwillige Leistungen gewesen; in der Demokratie wurden sie zu einer Sondersteuer für die Vermögenden. Der Kreis der zu ihr

Verpflichteten richtete sich nach einem Mindesteinkommen. Die Übernahme von Leiturgien erfolgte in einer geordneten und gerechten Reihenfolge, und zwischen jeder lag in aller Regel ein Jahr; zwei Leiturgien gleichzeitig brauchte

niemand zu übernehmen. Eine Befreiung von der Leiturgie wurde ausschließlich auf Grund gesetzlicher Ausnahmeregelungen gestattet, wie sie z.B. den Archonten und den minderjährigen Waisen eingeräumt wurden. Darüber hin-

aus konnte ein Bürger sich der Leistung nur dann entziehen, wenn er einen Mitbürger benennen konnte, der seiner Meinung nach zur Übernahme der Leistung eher verpflichtet war; übernahm der so Benannte darauf nicht von sich aus die Leiturgie, mußten beide ihre Vermögensverhältnisse offenlegen und einem Gericht die Entscheidung überlassen (antfdosis). Die Belastungen waren für die reicheren Bürger zeitweise sehr hoch. Allein für die Ausrichtung der

religiösen Feste mußten in der Mitte des 4. Jahrhunderts jährlich knapp hundert Leiturgien übertragen werden, in Jahren größerer religiöser Aktivität sogar fast

120. Jede Leiturgie erforderte zudem nicht unbeträchtliche Mittel; die Kosten für einen einzigen Chor beliefen sich z. B. auf 1 500-5 000 Drachmen (zum

Vergleich: der Tageslohn eines ungelernten Arbeiters betrug im 4. Jahrhundert 2-2

Drachmen). Die Stadt nahm indessen auf die besondere finanzielle Situa-

tion des einzelnen oder die allgemeine schlechte wirtschaftliche Gesamtsituation, welche die Erfüllung der Verpflichtungen gelegentlich zusätzlich erschweren mochte, keine Rücksicht. Athen wie alle griechischen Stádte verlangten von dem wohlhabenden Teil der Bürgerschaft eine für heutige Verhältnisse nicht leicht verstándliche, weil bis an die Grenze der Leistungsfähigkeit gehende Unterstützung der Stadt. Unter den Ausgaben nahmen die Kosten für Heer und Flotte den weitaus größten Teil ein. In Kriegszeiten verschlang das Militär durch Soldzahlungen und militärische Ausrüstung Summen, die oft die ordentlichen Jahreseinnahmen weit überstiegen; allein der Unterhalt einer Flotte von 100 Trieren kostete

monatlich 50 Talente. Aber auch in Friedenszeiten waren regelmäßige Militärkosten zu bestreiten, wie der Unterhalt der Kriegsschiffe, die Ergänzung und

VI. Die politischen Organisationsformen: Finanzwesen

253

Ausrüstung von Schiffen, das Futtergeld für die Reiter und berittenen Bogenschützen sowie der Sold für die Bogenschützen und die skythische Polizeitrup-

pe, die beide stehende Truppen waren. Der zweitwichtigste Ausgabeposten waren die den Ratsherren, Richtern, später auch den Besuchern der Volksver-

sammlungen und den Festbesuchern sowie einem Teil der Beamten gezahlten Tagegelder (Diäten), auf die unten $. 280ff. näher eingegangen ist. Obwohl die Tagegelder für die Besucher der Feste und Volksversammlungen nicht gering

waren (jeweils ca. 30 Talente jährlich), überstiegen die der Richter diese gewiß um das Doppelte; demgegenüber fielen die Aufwendungen für die Ratsherren

und Beamten nicht so stark ins Gewicht. Nächst den genannten Ausgaben standen die Kosten für die Instandhaltung und den Neubau von Tempeln und anderen öffentlichen Gebäuden. In der perikleischen Zeit hat der Neubau der

Gebäude auf der Akropolis bedeutend mehr gekostet als das Sechzigstel, das der Athena von den Marrikelbeiträgen der Bundesgenossen (phéros) zustand, und

erforderte also Zuschüsse. Ebenso konnten die Aufwendungen für die Opfer, sakralen Feste und die bei ihnen verteilten Preise bei weitem nicht alle durch Leiturgien gedeckt werden; die von Jahr zu Jahr bewilligten Summen für die

einzelnen Opfer und Feste waren erheblich, und an ihnen konnte gegebenenfalls wenig gespart werden. Ferner kosteten die Bewilligung von Ehrengaben, die Anfertigung von Inschriften und manche anderen kleineren Aufwendungen

Geld, von denen nur noch das Unterstützungsgeld von einem, später zwei Obolen (Diobelie) genannt sei, das im 4. Jahrhundert bedürftigen Bürgern, ins-

besondere Invaliden, gezahlt wurde. Die Verwaltung der Gelder Eine Finanzverwaltung im modernen Sinne, die, zentral gelenkt und mit einer

Gerichtsbarkeit ausgerüstet, die fälligen Einnahmen und Ausgaben besorgt hätte, kannten die Athener nicht. Sie hatten zwar zahlreiche Finanzbeamte, doch

bildeten diese keine zusammenhängende Verwaltung, sondern waren in viele voneinander unabhängige Kollegien mit meist kleinen und übersichtlichen Auf-

gaben gegliedert. Da sie zudem vom Rat und anderen Kontrollinstanzen scharf überwacht wurden, verkörperten sie den Typ des demokratischen Beamten, der ın einem eng begrenzten Bereich ohne Eigeninitiative und also als rein ausfüh-

rendes Organ seinen Pflichten nachkam, besonders klar. Alle Finanzbeamten lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen. Die einen

waren Verwalter von Kassen, für die sie neben der allgemeinen Sorge für die Sicherheit der anvertrauten Gelder auch Einzahlungen entgegennahmen und

Auszahlungen leisteten; die anderen waren ausschließlich für den Einzug und die Ausgabe von Geldern zuständig. Zunächst zu ersteren. Die wohl ältesten Kassenbeamten sind die „Schatzmeister der Göttin“ (Athena) und die der übrigen Götter; die letzteren wurden 434 zu dem Kolle-

gium der „Schatzmeister der anderen Götter“ zusammengefaßt; beide Kollegien

waren zwischen 406/05 und 386/85 und endgültig seit Mitte der vierziger Jahre des 4. Jahrhunderts miteinander vereinigt. Beide Gremien besorgten neben der Einziehung der für die Götter fälligen Gelder - die Athena erhielt u.a. 1/60 der

254

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Marrikelbeiträge der Bundesgenossen - vor allem die Verwaltung der Kasse und übrigen Wertgegenstände (Weihgeschenke). Neben den Tempelkassen gab es zumindest seit dem Anfang des 5. Jahrhunderts auch eine staatliche Kasse unter

Leitung von ,,Kolakreten“ genannten Beamten, welche die allmählich anwachsenden Einkünfte der Stadt verwalteten, und mit der Gründung des Seebundes

traten die als Bundesbeamte fungierenden zehn „Schatzmeister der Hellenen“ (bellénotamía:) hinzu, deren Kasse zunächst in Delos, seit 454 in Athen stand.

Diese Bundeskasse hatte die mit Abstand größten Einnahmen; doch galt nicht sie, sondern die Kasse der Göttin als die zentrale Kasse der Stadt. Die Kasse der

Kolakreten wurde im Jahre 411 mit der der Hellenotamiai vereinigt, und diese vereinigte Kasse verschwand mit dem Zusammenbruch des Seebundes am Ende

des Peloponnesischen Krieges. Von den vier großen Kassen waren somit im Jahre 404 nur die beiden Tempelkassen übriggeblieben. Von den Finanzbeamten, die keine Kasse hatten, waren die Apodekten

(„Einnehmer“) das bei weitem wichtigste Kollegium. Bei ihnen gingen alle fälligen Gelder, darunter auch die Tribute der Bundesgenossen, ein, doch holten

sie sie sich nicht selbst bei den Abgabepflichtigen, sondern empfingen sie von anderen Beamten, die ihrerseits die fälligen Gelder eingezogen hatten. Das waren insbesondere die bereits erwähnten Poleten („Verkäufer“) und Praktores („Exekutoren“),

an welche die Summen

verkauften

städtischen Eigentums,

Pachten und Strafgelder gezahlt wurden. Auch sie sind beim Einzug der Gelder durchaus nicht immer mit den Abgabepflichtigen selbst konfrontiert, sondern dann, wenn die Einnahmen pauschal verpachtet worden waren, wie das Metoikion und die zweiprozentige Zollabgabe, über den Steuer- bzw. Zollpächter nur indirekt mit dem zahlenden Bürger, Metöken oder Fremden verbunden. - Soweit sie nicht Kassenvorsteher waren, sind also die Finanzbeamten im engeren Sinne durchweg „Einnehmer“ von Geldern. „Einnehmer“ waren übrigens zu

einem nicht geringen Teil auch die Vorsteher der Kassen, nur gaben sie die

Gelder, die sie selbst einzogen, nicht an die Apodekten weiter, sondern leiteten sie in ihre eigene Kasse. So haben etwa die Vorsteher der einzelnen Tempelkassen die Pachten aus tempeleigenem Land, das der Basileus unter Mitwirkung der Poleten verdingt undan die letzteren abgeliefert hatte, sowohl selbst eingezogen

als auch in ihre jeweilige Kasse geleitet. Die Finanzverwaltung in Athen bestand also wie die heutige aus Kassenverwaltung und Eintreibung der Abgaben. Die Ausgabe der Gelder ist eine Sache für sich. Sie erfolgt heute durch die politischen Beamten, die sich dafür einer eigenen, von den Finanzámtern getrennten Bürokratie bedienen. Auch in Athen

ist die Einnahme von der Ausgabe der Gelder institutionell scharf geschieden. Das System der Ausgabe der Gelder ist für das 5. Jahrhundert nicht leicht zu überschauen. Es hat sich auf jeden Fall um die Wende vom 5. zum 4. Jahrhundert geándert. Im 5. Jahrhundert hat die Volksversammlung selbst die Ausgaben

festgelegt und etwaige besondere Abweichungen genehmigt, und innerhalb der von ihr verfügten Ausgabenpolitik hat der Rat sämtliche Finanzbewegungen, seien es nun eingehende oder abgehende Gelder, überwacht. Die bei den beiden Hauptkassen, der der Kolakreten und der der Hellenotamiai, eingegangenen

VI. Die politischen Organisationsformen: Finanzwesen

255

Gelder wurden nach Maßgabe der Volksbeschlüsse und unter Kontrolle des Rates von den Kassenvorstehern ausgezahlt. Es herrscht dabei der Eindruck einer zentralisierten bzw. zentral gesteuerten Finanzverwaltung vor. Waren die

Hauptkassen leer, konnte man Kredite bei Tempelkassen aufnehmen, und war die Sache sehr eilig, hat man auch einmal die Gelder direkt von den Apodekten an den Verbraucher, z. B. an die Bauer von Trieren, geleitet; um jedoch ein Durcheinander zu vermeiden, galten solche Gelder nur als geliehen und mußten möglichst bald wieder „zurückgezahlt“ werden, so daß also die hier um einer

schnellen Erledigung der dringenden Aufgabe willen umgangene Kasse der

Kolakreten dann mit einem zeitlichen Verzug schließlich doch zu den in der Abrechnungsliste der Apodekten stehenden Geldern kam.

Wahrscheinlich schon bald nach der Wiedereinrichtung der Demokratie im Jahre 403/02 wurde diese Praxis der Ausgabe der Gelder geändert. Die Apodekten sind weiterhin die Einnehmer, aber sie führen die Gelder jetzt nicht mehr an

die Kasse der Kolakreten ab, sondern geben sie direkt an die verbrauchenden Behörden weiter, und dies in folgender Weise. Sie stellen alljährlich unter Mitwirkung und Kontrolle des Rates einen Finanzplan über die Verteilung von

Geldern an alle Behörden auf, die Geld benötigen. Bei dieser „Zuweisung“ (merismó s) erhalten die Behörden pauschalierte Summen, welche die Ausga-

ben erfahrungsgemäß decken und in aller Regel auch über Jahre dieselben

bleiben. Es gab nun also viele kleine Kassen bei den verschiedenen Beamtenkollegien bzw. Institutionen, die im Idealfall das Geldbedürfnis aller Behörden

befriedigten. So besaß z. B. die Volksversammlung im 4. Jahrhundert eine recht knapp bemessene Kasse von zehn Talenten, die einen eigenen Kassenwart hatte (,Tamias des Volkes“), besaßen ferner die „Ausbesserer der Heiligtümer“ (epi-

skenastaf hierön), welche die notwendigsten Reparaturen an Tempeln vornahmen, die kleine Summe von 30 Minen und konnte das Aviso-Schiff Paralos im

Jahre 357/56 über die beträchtliche Summe von zwölf Talenten verfügen. Der Vorteil dieses Systems lag darin, daß jede Behörde im vorhinein den Betrag, den sıe erfahrungsgemäß im Jahr brauchte, auch sofort zur Verfügung hatte. Darüber hinaus konnten bei dem von den Apodekten alljährlich vorgeschlagenen

und vom Rat gebilligten Merismos auch alle bei Beginn des Amtsjahres vorausschaubaren außerordentlichen Ausgaben, die den für die einzelne Behörde im allgemeinen hinreichenden „Normalsatz“ überstiegen, berücksichtigt werden, wie denn die hohe Summe für das Aviso-Schiff Paralos ohne Zweifel in

besonders umfangreichen Aufgaben dieses ereignisreichen Jahres des „Bundesgenossenkrieges“ begründet war. Das hier sichtbar werdende Etat-System, das

unseren modernen Haushaltsansätzen sehr ähnlich ist, brachte derjenigen Behörde, die darüber entschied, sehr viel Macht, und das war selbstverständlich

nicht das Kollegium der Apodekten, obwohl es jetzt an Profil gewann, sondern der Rat, der den Merismos letztlich entschied. Denn anders als heute wurde der Etat, wenn ich das Wort benutzen darf, nicht vom Souverän, der Volksversamm-

lung, bestätigt. Daraus wird man nicht entnehmen dürfen, daß die Volksversammlung hier Kompetenz abgab und der Rat für einen wichtigen Bereich in ihre Rolle schlüpfte. Abgesehen davon, daß auch hier die Volksversammlung

nicht die Verfahrensherrschaft verlor, entschied sie zugleich mit den politischen,

256

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

System der Einnahmen und Ausgaben im 5. Jahrhundert (ohne Leiturgien und Eisphora)

Abgabepflichtige der Polis Athen

Art der Abgabe

Metoikion Zölle

private und

Steuer- bzw. Zollpächter

staatliche

Verkäufe Pachten

NN

Einnehmer

abgabepflichtige Bundesgenossen

Strafgelder

i

Poleten

Kassen

Matrikelbeiträge/ Tribute

Praktores

Kasse der Kolakreten

4

|

Kasse der Hellenotamiai

seit 411 vereinigte Kasse unter 20 Hellenotamiai —

entscheidende





| ee







Volksversammiung

Behórden

(unter Kontrolle des Rates)

Verbraucher der Mittel

ausgebende

Behórden

Merismos und Eisphora in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts (ohne Leiturgien) Abgabepflichtige der Polis Athen Art der

Metoikion

Verkäufe

Abgabe

Zölle

Pachten

private und

staatliche

Strafgelder

Steuer- bzw. Zolipächter

i Praktores

Poleten

x

N

Apodekten

|

entscheidende

Merismos

Behórden

Eisphora

N

|

\

Symmorien \

^S.

Einnehmer

— Proeisphora

\ \

\ \

\

Volksversammiung

(Beschluß durch Apodekten u. Rat)

Verbraucher

Kassen von Kollegien und

ausgebende

Institutionen

Behörden

der Mittel





— on «>

Zahlung Anordnung

Vl. Die politischen Organisationsformen: Finanzwesen

257

vornehmlich außenpolitischen Entscheidungen auch über deren Finanzierung, und diese außerordentlichen, insbesondere militärischen Entscheidungen verschlangen die mit Abstand größten Summen. Was durch das neue Svstem geregelt wurde, war nıcht die Finanzierung der Kosten für die große Politik, sondern

die relativ reibungslose Begleichung der immer wiederkehrenden täglichen Ausgaben, die den Ablauf des demokratischen Alltags sicherten. Wenn hier die

Volksversammlung nicht mehr tätig wurde, geschah das nicht nur zum Besten eines ordentlichen Ablaufs der täglichen Verwaltungsarbeit, sondern auch zum Besten der Volksversammlung selbst. Ihre Funktionsfähigkeit für das Geschäft der politischen Leitung, nämlich dafür, Rahmenordnungen zu erstellen und über die AufSen- und Sicherheitspolitik zu entscheiden, wurde auf diese Weise außergewöhnlich gestärkt. Die Volksversammlung war aus Mangel an Erfahrung mit demokratischer Praxis in den ersten Jahrzehnten der Demokratie ohne Zweifel mit vielen Gescháften belastet worden, die von ihrer Bedeutung her der Souverän selbst gar nicht entscheiden, sondern besser delegieren sollte. Dies zu ändern, diente neben anderen Reformen, wie die Einrichtung eines Gesetzgebungsverfahrens ohne die Volksversammlung (s.o. S. 183ff.), auch die Neuord-

nung der Ausgabenpraxis. Diese ist daher als Reform zur Erhaltung der Effizienz des Souveräns zu verstehen; sie bedeutet nicht Abbau, sondern im Gegenteil

Stärkung der Demokratie. Als nach dem Abfall der wichtigsten Bundesgenossen des Zweiten Athenischen Seebundes und dem mißlungenen Versuch, sie gewaltsam in den Bund zurückzubringen („Bundesgenossenkrieg“, 357-353), die athenischen Staatsfinanzen zusammenbrachen, wurde der Finanzsektor noch einmal reformiert. Die Reform ist

durch die Schaffung zentraler Kassen gekennzeichnet. Von Eubulos und seinen Helfern wird bald nach dem Ende des Bundesgenossenkrieges die TheorikonKasse (ta theôrikä) eingerichtet, in die wohl neben einer Zuweisung aus dem

Merismos alle Überschüsse und Sondereinnahmen flossen. Die Kasse unterstand einem zwar Jährlich gewählten, aber (unbeschränkt?) wiederwählbaren Beamten.

Der Umfang der Kasse und die Wiederwählbarkeit des Kassenverwalters gaben dem Amtsinhaber (ho epi to theörikön) großen Einfluß und sprengten den demokratischen Rahmen. Seine Macht wurde noch zusätzlich durch den eigentlichen Sinn der Kasse gestärkt. Sie sollte, wie ihr Name sagt, Unterstützungsgelder für

den Besuch der Schauspiele sammeln und austeilen; vielleicht hat Eubulos diese Art von Diäten überhaupt erst eingeführt (s.u. 5. 283). Der Kassenverwalter war damit der geborene Vertreter einer solchen Unterstützungspolitik, auch wenn aus dieser Kasse wohl von Anfang an nicht nur Schaugelder gezahlt, sondern auch andere öffentlichen Projekte finanziert wurden. Die Kasse stand in einer nicht

geringen Spannung zu einer anderen, wahrscheinlich über zwei Jahrzehnte älteren neuen Kasse, nämlich der „Heereskasse“ (ta stratiótiká, „Kasse für Soldaten-

angelegenheiten“), in die vor Schaffung der Theonkon-Kasse alle überschüssigen Gelder eingezahlt worden waren. Die beiden zentralen Kassen gaben ihren Vor-

stehern so viel Macht, daß die jeweilige Verwendung der Gelder durch sie in den vierziger und frühen dreißiger Jahren für eine pro- bzw. antimakedonische Politik stehen konnte, und entsprechend war die Theorikon-Kasse ganz besonders der Begehrlichkeit

von

Befürwortern

einer Politik der Stárke

gegenüber

dem

258

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

makedonischen Kônig Philipp ausgesetzt. So hat etwa Demosthenes, der kompromißlose Gegner des Königs, 349/48 daran gedacht, für den großen Feldzug nach Olynth die Theorikon-Kasse anzuzapfen, was er dann zehn Jahre später, nach dem Einbruch Philipps in Mittelgriechenland 339/38, für die anstehenden Rüstungen auch tatsächlich durchsetzte. Eubulos, der die letztere Kasse ja eingerichtet hatte und ihre Interessen vertrat, war aber darum kein Vertreter eines Friedens um jeden Preis, wie er denn im Jahre 346 bei der Diskussion der

Friedensbedingungen mit Philipp dafür eintrat, daß u.U. die Theorikon-Kasse in die Stratiotikon-Kasse übergeführt werden müsse. Aber die Verbindung einer Kasse mit der großen Politik zeigt schon, wohin man in Athen gekommen war. Im Jahre 330 bemerkt Aischines kritisch (3,25), daß zur Zeit des Eubulos die

Verwalter der Theorikon-Kasse etliche Kollegien von Finanzbeamten, darunter die Apodekten, beherrscht und damit fast die gesamte städtische Administration in ihrer Hand gehabt hätten. Immerhin aber wurde mit der Konzentration der Finanzverwaltung das erreicht, weswegen sie nach 355 vorgenommen worden war: Die finanzielle Lage der Stadt besserte sich zunehmend. Eubulos konnte die städtischen Einnahmen von 130 auf 400 Talente steigern! Nach der Niederlage von Chaironeia wurde die Theorikon-Kasse in einer für uns nicht völlig durchsichtigen Form, vor allem wohl durch das Verbot einer Wiederwahl des Kassenvorstehers, stark geschwächt. Aber an ihre Stelle trat sehr schnell eine neue Zentralkasse, die von Lykurgos eingerichtete Kasse unter einem Sonderbeamten (ho epi téi dioikéséi, „Verwaltungschef“) mit vierjähriger Amtszeit. Lykurgos selbst hat das Amt über drei vierjährige Zyklen (338-327 oder auch 334-323; da er 324 starb, wäre er bei der Annahme des zweiten Datums vor dem Ende des

letzten Zyklus gestorben), sei es in eigener Person, sei es durch Strohmänner, leitet. Mit den großen Finanzämtern, die von Eubulos und Lykurgos geschaffen von ihnen selbst oder durch Mittelsmänner auch gelenkt wurden, geht Finanzverwaltung faktisch und in einem gewissen Rahmen auch formal

geund die von

dem demokratischen Rat auf erfahrene und fähige Staatsmänner über. Die Finanzmisere der Demokratie hat, wie sich hier zeigt, den starken Mann und mit ihm die „Regierung“ wieder zurückgeholt, und wenn man auch versuchte,

die alten Formen, so gut es ging, zu wahren, leiteten diese aufterordentlichen Finanzressorts doch schon zu den zentralen Ámtern der Zeit nach dem Sturz

der Demokratie durch die Makedonen über. Das System der Ausgabendeckung vor Errichtung der großen Finanzámter (Zusammenfassung)

Das System der Kassen und Ämter sagt lediglich etwas über den Einzug, die Ausgabe und die Verwahrung der öffentlichen Gelder aus. Wie aber wurden nun die immer wiederkehrenden und die außerordentlichen Ausgaben verteilt und

etwaige Defizite ausgeglichen? Wer organisierte und dirigierte den Fluß der Gelder? Die Vorstellung von einem Jahreshaushalt mit der Forderung des Ausgleichs von Einnahmen und Ausgaben war unbekannt; es gab keine zentrale

Vorsorge für die Gesamtfinanzierung des öffentlichen Bedarfs. Es fehlte auch

VI. Die politischen Organisationsformen: Finanzwesen

259

der zentrale Finanzminister, und ihn durfte es mit Rücksicht auf die demokrati-

sche Grundidee, nach der eine zentrale Regierung gerade unerwünscht war, ja auch nicht geben. Die athenische Demokratie ist mit dem Problem, wie ohne Haushalt und

ohne zentral gelenkte Finanzbürokratie die Ausgaben abgedeckt und mit den Einnahmen ausgeglichen werden kônnten, durch ein System nebeneinander stehender Praktiken ganz gut zurechtgekommen. Die erste und wichtigste dieser Praktiken war, feste Ausgaben mit festen Einnahmen zu verbinden. Das wird

besonders deutlich an den Leiturgien, durch die seit alters her eine Reihe von sehr hohen Ausgaben des militärischen und sakralen Bereichs abgedeckt wurden (s.o. S. 251f.); die Einnahmequelle ist hier der wohlhabende Bürger, dem die

Verpflichtung aufgebürdet wird. Für die Versorgung der einzelnen Behórden mit einem festen Jahresbudget, das den voraussichtlichen Bedarf deckte, diente

das System des Merismos, durch das die Apodekten unter Mitwirkung des Rates alljährlich an zahlreiche Beamtenkollegien und Institutionen Gelder verteilten und dabei offensichtlich auch für das Jahr anstehende, durch die Volksversammlung bereits beschlossene zusätzliche Ausgaben berücksichtigten. Der Merismos wurde erst nach der Restauration der Demokratie 403/02 eingeführt und

war gewiß aus der Erfahrung geboren, daß die Effizienz der Volksversammlung die Abschiebung der kleineren und immer wiederkehrenden Ausgaben verlangte. Die ständige Furcht vor Unterschlagungen oder Mißwirtschaft sollte dabei der Rat, die andere große demokratische Institution, beseitigen. Er erhielt dadurch zwar ein noch größeres Gewicht, doch war das angesichts seiner betont demokratischen Struktur unbedenklich. Hatte man auf diese Weise für die

Deckung der fixen Ausgaben gesorgt, blieb doch die Frage, wie unvorhergesehene große Kosten, insbesondere solche für militärische Unternehmungen, zu

finanzieren seien oder wie etwa auch bei Erschöpfung der durch Merismos versorgten Kassen zu verfahren sei. Es war selbstverständlich immer möglich, daß die Volksversammlung so, wie sie es im 5. Jahrhundert in aller Regel getan

hatte, hier organisierend eingriff, indem sie die bestimmte Kasse oder Einnahme nannte, aus der der fällige Betrag zu zahlen sei. Das war aber bei einem unerwar-

tet anfallenden größeren Finanzbedarf nicht möglich. In diesem Fall mußte man die außerordentliche Ausgabe auch mit einer außerordentlichen Einnahme, nämlich durch die Erhebung einer außerordentlichen Vermögenssteuer, der Eisphora, abdecken, und damit das Geld auch sofort bereitstand, mußte es

durch die 300 reichsten Bürger vorgeschossen werden (Proeisphora). „Geld ist

dann da, wenn es wirklich gebraucht wird, früher nicht“, beschreibt Demosthenes im Jahre 354 mit eindrucksvoller Klarheit diese Praxis der Geldbeschaffung

(14,26). Als geschmeidiges Gelenkstück zwischen diesen beiden recht starren Systemen der Ausgabendeckung fungierten die Tempelkassen. Bei Engpässen der Finanzierung dienten sie, die z. T. hohe eigene Einnahmen hatten, als Kre-

ditanstalt. Da die Tempelkassen wie öffentliche Kassen behandelt und verwaltet

wurden, erfolgte die Rückzahlung nach den Möglichkeiten der öffentlichen Hand, gegebenenfalls auch überhaupt nicht. Umgekehrt wurden auch eventuelle Überschüsse bei diesen Kassen verwahrt, sei es als jederzeit verfügbare, sei es

als für bestimmte Zwecke zurückgestellte Reserve, wie der Reservefonds von

260

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

1 000 Talenten, der durch einen Beschluß des Jahres 431 nur bei dem Erscheinen einer feindlichen Flotte vor dem Piräus angegriffen werden durfte. Die Tempelkassen vermochten die Starre des Systems nicht ganz aufzuheben, und auch der Rat, der den Fluß der Gelder und deren Verwaltung überwachte, konnte trotz seiner Übersicht über den gesamten Finanzsektor nicht immer

einen reibungslosen Ablauf garantieren. Denn war auch so das Notwendigste organisiert, blieb doch immer das Problem der Deckung bei Engpässen. Zu der für diesen Fall in dem System vorgesehenen Praxis der Umlage einer außerordentlichen Steuer (Eisphora) konnte man

nicht zur Deckung jedes kleinen

Finanzloches greifen; sie war ja auch nur für militärische Notlagen gedacht, und manche Engpässe entstanden zudem nicht aus einem allgemeinen Mangel an Geld, sondern weil viele ordentliche Einnahmen, wie z. B. die Pachtgelder aus

Staatsvermögen, zu festen Terminen eingingen, die sich nicht mit dem Jahresan-

fang oder dem Zeitpunkt des besonderen Bedarfs deckten. Im 5. Jahrhundert war man bisweilen auf den Ausweg verfallen, bei dringendem Geldbedarf die

fehlenden Gelder bei den Apodekten, also den Empfängern der staatlichen Abgaben, kurzfristig zu leihen (s.o. S. 255). Aber Engpässe konnten natürlıch auch nach Einrichtung des Merismos eintreten. Wenn dann einmal durchaus kein Geld aufzutreiben war, was naturgemäß besonders in Kriegszeiten vorkam,

konnte es passieren, daß gelegentlich manche Opferpriester keine Gelder zuge-

wiesen erhielten oder, wenn die Kasse der Volksversammlung erschöpft war, Versammlungen ausfielen oder verschoben bzw. die aus Volksbeschlüssen resul-

tierenden Ausgaben aufgeschoben wurden; bisweilen mußten auch Sitzungen der Geschworenengerichte wegen des Mangels an Geld für die Diäten vertagt werden. Umgekehrt konnte es geschehen, daß bei manchen Kassen Geld übrig blieb oder die Einnahmen unerwartet hoch ausfielen. Diese Gelder wanderten nach Einrichtung der großen Kassen in diese; es war aber auch möglich, sie in

dem Heiligtum der Athena oder dem der anderen Götter auf der Akropolis zu deponieren, wie man es in älterer Zeit gemacht hatte. Das sind in unseren Augen

Provisorien; aber da sie in Athen für die ordnungsgemäße Finanzierung der öffentlichen Ausgaben unentbehrlich waren, müssen wir in ihnen eher einen konstitutiven Bestandteil des gesamten Finanzsystems sehen. Bei aller Unbe-

weglichkeit und aller scheinbaren Unübersichtlichkeit der eher nebeneinanderstehenden als ineinandergreifenden Zuständigkeiten ist es erstaunlich, daß das

öffentliche Finanzwesen der Demokratie recht gut funktioniert hat. Veruntreuungen hielten sich in Grenzen; die zahlreichen uns überlieferten Anklagen wegen Unterschlagung von Geldern sind eher Ausdruck einer wirksamen Kontrolle als etwaiger Mängel des Systems. Die Oberaufsicht des Rates dürfte viel zu der relativ guten Finanzverwaltung beigetragen haben, aber auch die übersichtlichen Verhältnisse der direkten Demokratie, in denen die Zuständigkeiten auf dem Finanzsektor und die Geldbewegungen infolge der Vertrautheit mit den

Gegenständen und der persönlichen Nähe zu den Verwaltern der Gelder durchschaubar blieben.

VI. Die politischen Organisationsformen: Finanzwesen

261

Das Finanzwesen in der Demokratie

Gegenüber der vordemokratischen Zeit hatten sich die Bedingungen, unter denen das Finanzwesen stand, grundlegend geändert; vor allem war der Geldbe-

darf der öffentlichen Hand um ein Mehrfaches gestiegen und war die Schicht von Vornehmen, die bis dahin die Hauptlast in mehr oder weniger persönlicher Regie übernommen hatte, entmachtet worden. Die jedem Athener offensichtlichen Veränderungen hätten eigentlich zu einer durchgreifenden Finanzreform oder sogar zu der ersten Grundlegung eines durchdachten Finanzsystems füh-

ren müssen, welche die aristokratisch-patriarchalische Finanzpraxis durch eine gegliederte Finanzbürokratie und eine wirksame Kontrolle der für die öffentli-

chen Gelder zuständigen Beamten ersetzte. Sie kam indessen nicht zustande, und in der Tat mußte jeder Ansatz in dieser Richtung an der Abneigung der

Demokratie gegen jede Konzentration von Macht scheitern. Denn der allmächtige Finanzminister hätte die auf einen Mann zugespitzte Machtfülle der früheren Zeit wieder zurückgebracht. Anstelle eines Durchbruchs zu neuen Organisationsformen wurden daher die alten Ansätze lediglich weiter ausgebaut: Die Leiturgien, Tempelkassen und das System der Verbindung von Einnahmen mit Ausgaben wurden erweitert und statt einer zentralen Finanzverwaltung gerade deren Gegenteil eingerichtet: eine Fülle von nebeneinanderstehenden Zustän-

digkeiten, die durch den Rat nur mühsam miteinander in Einklang gebracht werden konnten. Der tiefere Grund für die Starre des Finanzsystems liegt auf der Hand: Dezentralisierung und Schwächung der exekutiven Gewalt war die Devise der Demokratie. Der Spielraum der mit Geldern befaßten Beamten sollte klein und die Kontrolle gegenüber Verschwendung oder gar Unterschlagung scharf sein. Ist der Grund klar, stand doch diese Unbeweglichkeit und Umstándlichkeit der Finanzverwaltung in einer deutlichen Spannung zu der erhóhten Bedeutung, welche die öffentlichen Mittel in der Demokratie hatten: Die Diäten und die Flotte, um nur die beiden wichtigsten Ausgabeposten zu nennen, sind unverzichtbare Bestandteile der Demokratie, und sie erforderten jedes Jahr hohe Summen. Es liegt auf der Hand, daß selbst bei guter Verwaltung der Gelder -

und es wurde schon darauf hingewiesen, daß wir im allgemeinen von dieser Voraussetzung ausgehen dürfen - die nötigen Summen nicht immer rechtzeitig zur Verfügung standen und sich sogar große Finanzierungslücken auftaten, die

durch eine außerordentliche Besteuerung der Reichen (Eisphora) oder auf irgendeine andere Weise, und darunter auch durch gezielte Anklagen gegen wohl-

habende Bürger und Metóken, auf deren Vermógen man es abgesehen hatte, gedeckt werden mußten. Seit dem Anfang des 4. Jahrhunderts ging man sogar dazu über, zunächst in Kriegszeiten, dann auch bei Getreideteuerung und anderen akuten Finanznóten der Stadt, óffentlich zu Spenden (Geld, Waffenlieferun-

gen, leiturgische Leistungen) aufzurufen; trotz grundsätzlicher Freiwilligkeit standen die Reichen dabei unter dem Druck der Erwartungen und Hoffnungen, welche die ärmeren Bürger an den Aufruf knüpften. Die weitgehende Zentrali-

sierung der Finanzen in einem außerordentlichen, von fähigen Politikern geleiteten Amt seit der Mitte des 4. Jahrhunderts, durch die der öffentliche Haushalt

ganz offensichtlich saniert werden konnte, zeigt, daß die zentrale Finanzbüro-

262

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

kratie mehr vermochte als die zersplitterte Finanzverwaltung der Demokratie; wenn nicht Korruption, so hat doch das träge und in seinen einzelnen Zweigen isolierte System die vorhandenen Geldquellen nicht voll ausschöpfen können. Das zentrale Finanzamt aber ist ein Widerspruch gegen die Demokratie, und so bleibt die Feststellung, daß die Demokratie mit ihrem Finanzsystem zwar einigermaßen zu leben vermochte, es aber schwer hatte, außerordentliche Belastungen zu finanzieren, und sie jedenfalls im 5. Jahrhundert darum gern, vielleicht zu gern auf den bequemen Ausweg der Finanzierung ihrer Defizite durch die Marrikelbeiträge der Bundesgenossen ausgewichen ist.

Die absoluten Zahlen der eingenommenen und ausgegebenen Gelder können uns wegen der gegenüber heute schwer vergleichbaren Preis- und Wertverhältnisse nur nach einem eingehenden Studium der Details etwas sagen. Die auf uns

gekommenen Zahlen über die Gesamteinnahmen und -ausgaben sprechen aber dann für sich, wenn sie die Höhe der Defizite oder das Verhältnis der städtischen

Einnahmen zu den von der Stadt eingezogenen Matrikelbeiträgen der Bundesgenossen nennen oder einzelne bestimmte Ausgabeposten aufschlüsseln. Im ersten Jahr des Peloponnesischen Krieges (431 v. Chr.) beliefen sich die Gesamteinnahmen auf ca. 1 000 Talente, von denen 400 aus städtischen, 600 aus bundes-

genössischen Zahlungen stammten. Diese Summe stieg im Laufe des Krieges durch eine Erhöhung der bundesgenössischen Zahlungen auf bis zu 1 500 Talente an, um dann nach dem Krieg stark abzusinken. Erst durch die Konzentrierung des Finanzwesens in außerordentlichen Ämtern seit der Mitte des 4. Jahrhunderts kam man wieder annähernd auf die alte Höhe der Einnahmen. In Kriegszeiten deckten die Einnahmen die Ausgaben nicht. Jedes Kriegsjahr erforderte allein für militärische Zwecke 1 300 Talente und mehr; dazu kamen die

anderen Ausgaben, unter denen die Diäten am Ende des 5. Jahrhunderts etwa

200 Talente jährlich ausgemacht haben dürften. Zu einer Schatzbildung konnte es bei diesen Verhältnissen allenfalls in Friedenszeiten kommen. Bei der außen-

politischen Anspannung Athens während der gesamten klassischen Zeit war im Gegenteil die Finanznot die Regel. Anleihen bei den Tempelkassen und außerordentliche Umlagen (Eisphorai) mußten die Löcher decken. Die außergewöhn-

liche Belastung der Athener macht auch das - angesichts der spärlichen und teilweise mehrdeutigen Angaben allerdings mit viel Unsicherheit behaftete Verhältnis des gesamten Volksvermógens zu den der Stadt zur Verfügung stehenden Geldern deutlich. Das Volksvermógen der Stadt Athen betrug in der Zeit vor Ausbruch des Peloponnesischen Krieges nach hôchster Schätzung 30-

40 000 Talente; in dieser Zeit lagen in dem Staatsschatz auf der Burg ca. 6 000 (431 v. Chr.), in der besten Zeit sogar 9 700 Talente (vor 437 v. Chr.). Die Bauten

auf der Akropolis und der Krieg zehrten den Schatz schnell auf; aber die Zahlen zeigen deutlich, mit welchen Einsätzen die Stadt ihre Kriege führte und was ein verlorener Krieg für ihr Wirtschaftsleben bedeutete. Es ist denn auch die im Vergleich zu der Summe aller wirtschaftlichen Güter bedenkliche Ausgabefreudigkeit der Athener, die von so vielen Historikern und unter ihnen auch von dem Begründer einer wissenschaftlich betriebenen griechischen Geschichte und Kenner der athenischen Finanzen, August Boeckh, als die Ursache für die Unter-

drückung der Bundesgenossen und damit letztlich für den Untergang der Frei-

VI. Die politischen Organisationsformen: Finanzwesen

263

heit angesehen wurde. Ob die Demokratie indessen wirklich an der Frage der Finanzierung der demokratischen und hegemonialen Politik gescheitert ist, soll in einem anderen Zusammenhang gesondert erörtert werden (u. S. 318ff.

393f.).

VII. Verfahrensformen zur Sicherung der demokratischen Idee In diesem Kapitel sollen einige Verfahrensformen der Demokratie, von denen in den obigen Ausführungen schon die Rede war, noch einmal herausgestellt werden, weil sie für die demokratische Idee der Athener besonders bezeichnend

sind. Es handelt sich um das Losverfahren, die Prüfung der gewählten oder gelosten Beamten, die Rechnungslegung während und nach dem Amt sowie um das System der Verteilung von Tagegeldern für die Tätigkeit im öffentlichen Bereich. Mit Ausnahme der Verteilung von Tagegeldern sind die genannten Verfahren schon in vordemokratischer Zeit bekannt, doch werden sie erst ın der

Demokratie zur Absicherung des demokratischen Gedankens voll entwickelt und können seitdem als für sie typische Einrichtungen gelten.

1. Losung Bereits in den ältesten Quellen zur Demokratie wird die Losung als ein für sie typisches Verfahren bezeichnet. So hat Herodot in seiner Analyse der demokratischen Staatsform - neben der Rechenschaftspflicht der Beamten und der Be-

schlußkompetenz des Volkes - die Losung zu den Fundamenten der Demokratie gezählt, und denselben Wert geben ihr Platon und Aristoteles. Sie haben

dabei vor allem die Losung der Ämter, aber auch die der Ratsherren und Richter im Auge und sie messen dieser Bestellungsform eine größere Bedeutung für die

Demokratie zu als etwa der - in aller Regel jährlichen - Rotation der Ämter. Denn diese verteilt durch den schnellen Umlauf die Ämter zwar auf möglichst viele Bürger und dient auf diese Weise auch einer breiten Streuung der öffentli-

chen Funktionen und damit der politischen Gleichheit aller Bürger; aber insofern sich diese Gleichheit immer auf diejenigen bezieht, die jeweils zu dem Kreis der Bürger gehören, gilt sie auch in Aristokratien und Oligarchien als poliu-

scher Wert, und entsprechend ist das Rotationsprinzip auch in diesen Verfassungsformen üblich und für sie typisch. Das Losverfahren ist hingegen in dem Bewufitsein der Athener fest als eine demokratische Einrichtung verankert, welcher der andere mögliche Bestellungsmodus, nämlich die Wahl (von der

266

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Ernennung sei hier abgesehen), als eine oligarchische Form geradezu gegenübergestellt wird. Es muß ihnen also mehr bedeutet haben als nur die Garantie

für eine möglichst breite Verteilung der Ämter, die auch in Oligarchien erwünscht ist.

Ein Blick auf die Entwicklungsgeschichte des Losverfahrens in Athen bestätigt dessen politische Bedeutung. War es in älterer Zeit insbesondere für die Bestellung von Priestern und anderen Funktionären des sakralen Bereichs, wo

das Los die Rolle des göttlichen Zeichens innehatte, üblich, wurde es zugleich mit den ersten Reformen, die auf die Demokratie hinführten, für die wichtigsten

Ämter eingeführt und dann in der entwickelten Demokratie auf die meisten Ämter ausgedehnt sowie in seinen Formen perfektioniert. Kleisthenes nämlich

ließ die Mitglieder des neuen, demokratischen Rates von Anfang an durch das Los bestellen, und nicht viel später (487/86) wurden dann auch die Archonten erlost. Letzteres bedeutete die Entmachtung der Regierung und ist ohne Zweifel auch mit diesem Ziel ins Werk gesetzt worden (s.o. S. 41). Damals ging man allerdings nicht schon so weit, die Archonten aus allen Athenern zu losen, sondern verband Wahl und Losung in der Weise miteinander, daß in einem ersten Verfahren 100 (so auch im 4. Jahrhundert) Kandidaten, die zudem noch

der ersten oder vielleicht schon den beiden ersten Schätzungsklassen angehören mußten, in den Versammlungen der zehn Phylen gewählt wurden (prókritoi, „Vorgewählte“). Aus ihnen wurden dann in einem zweiten Verfahren, das im

Zentrum der Stadt stattfand, aus jeder Phyle ein Archont und als Zehnter der

Schreiber der Thesmotheten erlost (später sind auch die bis dahin gewählten Kandidaten erlost worden, und es gab seitdem für die Archontenwahl zwei Losvorgänge, den ersten in den Phylenversammlungen, den zweiten im Zen-

trum). In der folgenden Zeit sind die meisten neuen Ämter gleich als Losämter eingerichtet und auch viele der schon bestehenden Wahlämter ın Losämter umgewandelt worden. Die Losung der Beamten war in der Vorstellung der Athener so fest mit der Demokratie verbunden, daß sie zugleich mit ihr stand und fiel. So wurde bei dem oligarchischen Putsch von 411 und unter der Herr-

schaft der Dreißig 404/03 die Losung beseitigt und umgekehrt nach der Wiederherstellung der Demokratie sofort wieder eingeführt. Ob ein Amt Losamt werden oder Wahlamt bleiben sollte, war in der ent-

wickelten Demokratie nicht von dem Belieben der Parteiungen oder von dem

Gewicht der Tradition abhängig, sondern war eine Frage des Grundsatzes. Danach sollten alle Ämter Losämter sein und nur diejenigen davon ausgenom-

men werden, die spezielle Erfahrung und Kenntnisse erforderten. Daft es hier um das Verhältnis von Regel und Ausnahme geht, wird auch nicht durch gelegentliche Abweichungen, bei denen es trotz der Entbehrlichkeit von besonderen Fähigkeiten bei der traditionellen Wahl blieb, widerlegt; denn die allgemeine

Tendenz zugunsten der Losung ist eindeutig. Es sind daher im folgenden nicht die Losámter aufzuzählen, die vielmehr die Regel sind, sondern die Wahlämter,

welche die Ausnahme bilden. Zu ihnen gehórten vor allem sámtliche militárischen Beamten, insbesondere die Strategen und Hipparchen, deren Bestellung selbst nach der Meinung extremer Demokraten von der Befáhigung zu dem Amt abhängen sollte, ferner die Vorsteher und Erzieher der Epheben, also der militä-

VII. Sicherung der demokratischen Idee

267

rischen Jungmannschaft, weiter der Ratsschreiber, etliche Festbeamte, Opfer-

priester und andere Funktionäre des sakralen Bereichs, schließlich Architekten und Kommissionen zur Überwachung von Bauten sowie die Verwalter der Seebundskasse (Hellenotamiai) und die Vorsteher der großen Finanzämter der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts; letztere stehen allerdings bereits weitgehend jenseits der Demokratie im engeren Sinne (s.o. S. 257f.), wie denn gegen Ende

dieses Jahrhunderts die Wahl als Bestellungsmodus vordringt und damit einen politischen Wandel signalisiert. Der Charakter und die Bedeutung der Losung für die Demokratie wird auch aus dem Losverfahren deutlich. Zunächst einmal erfolgte die Losung unter Berücksichtigung aller lokalen Bezirke Attikas, wodurch das Übergewicht der beiden Siedlungszentren Athen/Piräus, wenn nicht ausgeschlossen, so doch

wesentlich eingeschränkt wurde. Man loste dabei entweder nach Phylen oder nach Demen. Von den drei großen Gruppen der durch Los bestellten Amtsträger, den Beamten der zahlreichen Kollegien, den Ratsherren und Richtern, wurden die Beamtenkollegien (s.o. S. 232ff.) und Richter (o. S. 210ff.) nach Phy-

len, die Ratsherren (o. S. 191ff.) nach Demen ausgelost. Bei der Losung nach

Demen ist das Verhältnis der Reprásentation der Bürger noch besser als bei der nach den größeren Phylen, und es zeigt sich darin erneut die herausragende Bedeutung des Rates. Angesichts der in jedem Jahr benötigten Geschäftsträger

und Richter war es wichtig, daß sich stets genügend Kandidaten zur Losung einfanden. Hatten sich nicht genügend Kandidaten eines lokalen Bezirks für die zu erlosenden Ämter gemeldet, füllten Kandidaten anderer Bezirke die Lücke;

das ist zumindest für die Bestellung der Ratsmitglieder, für die manche Demen nicht immer ihre oder ihren Kandidaten aufzustellen vermochten, sicher belegt. Der gelegentliche Kandidatenmangel verweist auf ein weiteres Prinzip: Die

Kandidatur war freiwillig; es gab keinen Zwang zur Übernahme einer óffentlichen Tätigkeit. Die Verzerrungen, die sich daraus für die lokale und soziale

Repräsentation der politisch Berechtigten ergaben, zeigen, daß auch die Losung und die Rotation der Ámter, mochten sie noch so perfektioniert sein, die Disso-

nanz von politischer Idee und Wirklichkeit nicht vóllig zu überbrücken vermochten. Allerdings war der soziale Druck von seiten der Demengenossen unter Umständen groß und konnte ein bei der Losung durch Zuruf ausgesprochener Vorschlag von dem Betroffenen nicht leicht ignoriert werden.

Die Losung selbst war anfangs ein sehr einfacher Vorgang. Sie erforderte selbstverstándlich aus der Natur des Verfahrens die persónliche Anwesenheit des Bewerbers. Die Kandidaten versammelten sich auf der Agora, wo alle Losungen vorgenommen wurden, und zogen, getrennt nach lokalen Bezirken, ein Los in Form einer Bohne (,,Bohnenlos') aus einem Gefäß, in dem so viele weiße

und schwarze Bohnen lagen, wie es Kandidaten gab. Die Anzahl der weiften Bohnen entsprach der Zahl der zu besetzenden Amtsstellen; wer eine weiße

Bohne gezogen hatte, war gewählt. Dieses Verfahren ließ hingegen manche Manipulationen des Vorsitzenden oder der Losenden zu, und es war zudem für

die Losung großer Gremien, wie der Geschworenenhófe mit ihren 200, 400, ja 500 oder 1 O00 Richtern und des 500köpfigen Rates, zu langwierig und unübersichtlich. Es zeugt von der Bedeutung, die die Athener der Losung beimaßen,

268

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

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Losmaschinen (klérôtéria) für die Richterbestellung (nach: DOW,

741, S. 1).

Alle Athener waren im 4. Jahrhundert auf Lebenszeit in eine von zehn Richterabteilungen eingegliedert, welche die Buchstaben A-K (was den griechischen Zahlzeichen für 1-10 entspricht) trugen; in arıstotelischer Zeit waren die Richterabteilungen den Phylen zugeordnet und also jeder der zehn Buchstaben mit einer Phyle verbunden. Die Richter wurden täglich für alle Prozesse, die an dem betreffenden Tag anstanden und am selben Tag auch beendet werden mußten, in einem einzigen Verfahren ausgelost. Da die einzelnen Gerichtshöfe mindestens 201 Personen, bei Strafprozessen 501 - 1501 und mehr Mitglieder hatten, war die Anzahl der jeweils für einen Tag zu ernennenden Richter sehr hoch. Losungsvorgang: Auf Grund der Zahl und Art der anstehenden Prozesse setzte der dem gesamten Losvorgang vorsitzende Beamte, ein Thesmothet, die Gesamtzahl der zu losenden Richter fest. Wer sich für den Tag als Richter zur Verfügung stellen wollte, begab sich morgens auf die Agora zu dem Losungsplatz, wo an zehn Eingängen zum Gerichtsort für jede der zehn Phylen zehn Kästen aufgestellt worden waren, welche die Nummern der zehn Richterabteilungen trugen. An jedem Eingang saß einer der neun Archonten, am zehnten der Schreiber der Thesmotheten, die den

Losvorgang leiteten und überwachten. Die Kandidaten begaben sich nun jeweils zu den Kästen mit

VII. Sicherung der demokratischen Idee

269

den Nummern ihrer Phyle und warfen ihre viereckige Ausweismarke, die ihren Namen, ihr Patronymikon, Demotikon und einen der Buchstaben von A bis K trug, in den Kasten mit ihrer Nummer. Außer diesen zehn Kästen waren für jede Phyle zwei Losmaschinen aufgestellt, wie sie auf S. 268

abgebildet sind. Der Vorsitzende des Verfahrens zog nun aus jedem Kasten eine Ausweismarke und wies den Inhabern dieser Marken die Aufgabe zu, jeweils aus „ihrem“ (d. ἢ. mit ihrer Abteilungsnummer identischen) Kasten die Marken in die mit „ihrem“ Buchstaben versehene senkrechte Reihe

der Losmaschinen zu stecken. Zur besseren Haftung waren die Schlitze der Losmaschinen schräg nach unten ın den Stein eingemeißelt worden. Das Bestecken erfolgte in der Reihenfolge der Nummern

A-K, so daß zuerst der „Einstecker“ des Kastens A, dann der des Kastens B usw. tätig

wurde. Da naturgemäß nicht alle Buchstaben gleichmäßig vertreten waren, waren nach Abschluß des Besteckens die senkrechten Reihen ungleich lang; bei dem folgenden Losvorgang wurden dann nur die vollen, also die oberhalb der kürzesten Reihe liegenden (waagrechten) Reihen herangezogen. Nachdem alle Marken in die Maschinen gesteckt worden waren, folgte der eigentliche Losvorgang. Der Vorsitzende füllte den Trichter der Tube, die seitlich an der Maschine angebracht war, mit weißen und schwarzen Würfeln, später Kugeln, die bis an das Ende der Tube rutschten, wo sie an der

Tubenöffnung durch einen Haken festgehalten wurden. Die weißen Kugeln standen für die anzunehmenden Kandidaten, die schwarzen für die abzulehnenden, und sie bezogen sich jeweils auf alle fünf Marken einer waagrechten Reihe. Die Anzahl der weißen und schwarzen Kugeln richtete sich nach der Zahl der benötigten Richter und der Anzahl der vollen (waagrechten) Reihen. Wurden also an einem Tag 1 000 Richter gebraucht und hatte demnach jedes der 20 Kleroteria 50 Richter zu benennen, mußten zehn weiße und soviele schwarze Kugeln in die Tube gefüllt werden, wie es an den einzelnen Kleroterien volle waagrechte Reihen minus 10 gab. Fiel nach Lösung des Verriegelungsmechanismus nun als erste eine weiße Kugel heraus, waren die Inhaber aller Ausweismarken der ersten horizontalen Reihe gewählt; fiel eine schwarze heraus, waren die Inhaber dieser Reihe durchgefallen, und so ging es die horizontalen Reihen herunter fort, bis alle weißen Kugeln erschienen und also die erforderliche Richterzahl bestimmt war. Dieser Vorgang erfolgte in den Eingangsräumen aller zehn Phylen, so daß insgesamt 100 Kästen mit 100 „Einsteckern‘“ gebraucht wurden und beim Losvorgang 20 Losmaschinen arbeiteten. Nur auf diese Weise war es möglich, daß an

jedem Tag die große Zahl der Richter in verhältnismäßig kurzer Zeit bestimmt und trotzdem der Grundsatz gewahrt werden konnte, daß jeder Einfluß auf den Vorgang der Auswahl ausgeschaltet blieb und alle Phylen und Richterabteilungen gleichmäßig berücksichtigt wurden. Nach der Richterbestellung schloß sich ein weiterer Losvorgang an, durch den die nun erlosten Richter ıhren Gerichtshof zugewiesen erhielten. Es sollte demnach nicht nur kein Athener vorher wissen, ob er an einem bestimmten Tag Richter sein würde; auch der, der zum Richter erlost worden war, wußte nicht ım voraus, in welchem Prozeß er tätig werden sollte.

Nach der Losung der Gerichtshöfe erfolgte eine weitere, dritte Losung, die den zuständigen Beamten den Vorsitz ın den anstehenden Verfahren zuwies. Denn auch der vorsitzende Beamte sollte nicht im voraus wissen, welchen Prozeß er zu präsidieren hatte. Die Losung wurde mittels der Tuben zweier Losmaschinen durchgeführt und von zwei, natürlich dazu erlosten, Thesmotheten geleitet. Die eine Tube füllte man nun mit Würfeln, welche die verschiedenen Beamten anzeigten, die andere mit den Gerichtshöfen, die zu präsidieren waren. Die jeweils als erste herauskommenden Würfel bestimmten dann den Beamten und den Gerichtshof, und so wurde weiter verfahren, bis alle Höfe mit einem Vorsitzenden versehen waren. Eine letzte Losung fand ın den einzelnen Gerichtshöfen selbst statt. Durch sie wurden aus den Richtern

des einzelnen

Dikasterions zehn Personen

erlost, von denen

einer die Wasseruhr zu

kontrollieren, vier die Stimmen auszuzählen und die restlichen fünf nach Abschluß der Verhandlung die Auszahlung der Diäten vorzunehmen hatten.

270

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

daß sie darum das Verfahren in einem auch für heutige Verhältnisse erstaunlichen Umfang rationalisierten und perfektionierten. Die Schnelligkeit und Übersichtlichkeit des Verfahrens sowie der Schutz vor Unregelmäßigkeiten oder Irrtümern wurden vor allem durch die Erfindung von Losmaschinen (kleröteria) erreicht, die anfangs wohl aus Holz, später aus Marmor in verschiedenen Aus-

fertigungen, die dem jeweils zu erlosenden Gremium angepaßt waren, hergestellt wurden. Für die Erlosung der Richter hat uns Aristoteles ın seiner Schrift vom „Staat der Athener“ eine genaue Darstellung des komplizierten Verfahrens

gegeben, und etliche Fragmente von Losmaschinen, die auf der Agora ın Athen

gefunden worden sind, lassen sich mit dem aristotelischen Bericht verbinden. In der Abb. $. 268 sind auf der Grundlage der Funde und des aristotelischen Textes zwei Losmaschinen, wie sie für die Richterbestellung benutzt wurden, dargestellt und in dem Begleittext ıhre Benutzung erklärt. Die Athener konzentrierten die Losungen für die Beamten und den Rat auf einen oder mehrere Tage am Ende des Amtsjahres. Sie fanden unter der Leitung der Thesmotheten im Theseus-Heiligtum (Theseion), wahrscheinlich südöstlich

der Agora gelegen, statt. Die Gerichtshöfe wurden, ebenfalls unter der Leitung der Thesmotheten, aber auf der Agora selbst, selbstverständlich an dem Tag erlost, an dem sie zusammentraten, also an den meisten Tagen des Jahres. Die

Menge der Losungen machte den Athener mit dem Verfahren, das uns so

kompliziert erscheint, tatsächlich aber verhältnismäßig einfach und leicht verständlich war, gut vertraut. Sowohl die Menge als auch die Tendenz nach Erweiterung und Vervollkommnung der Losungen geben aber auch einen Hinweis darauf, für wie wichtig und nützlich die Losung für die Demokratie angesehen wurde. In der Tat wurden nicht nur die im óffentlichen Leben tátigen Bürger durch das Los für ein Amt, einen Ratsherren- oder Geschworenensitz ausgelost;

das Los ersetzte auch die mannigfachsten Entscheidungen anderer Art. So wurde für den gesamten Rat die Sitzordnung erlost. Man erloste auch die Reihenfolge, in der die zehn Prytanien des Rates die Gescháftsleitung übernahmen, ferner das dem Ratsausschuß vorsitzende Gremium der Prohedroi und

dessen táglich wechselnden Vorsteher (Epistates) dieses Gremiums. Bei manchen Verfahren wurden sogar mehrere Losungen hintereinander- bzw. ineinandergeschachtelt. So sind wohl schon im 5. Jahrhundert auch die von den Phylen vorgewählten Kandidaten (prékritoi), aus denen die Archonten gelost wurden,

ebenfalls erlost und also eine Losung hinter die andere gesetzt worden, anstatt daß man bei dem Entschluß, das Archontat zu einem reinen Losamt zu machen,

auf die Vorwahl ganz verzichtet hátte. Auch etwa die Losung der Schiedsrichter (kritai) für die Preisverleihung bei den dramatischen Agonen (Tragödie, Komódie) bestand aus einem doppelten Losakt: Vor dem Fest wählte der Rat aus jeder

Phyle mehrere Kandidaten. Aus ihnen wurden dann am Festtag (bei mehrtägigen Agonen wohl erst am letzten Tag) zunächst je ein Richter pro Phyle erlost. Diese zehn Richter schrieben nach dem Ende der Aufführungen ihr Urteil auf Täfelchen, aus denen dann noch einmal fünf ausgelost wurden, so daß kein

Richter wissen konnte, ob seine Stimme überhaupt gewertet werden würde. Bei der Richterbestellung wurden ferner die Losmaschinen durch erloste Mánner mit den Identitátsmarken der Bewerber gefüttert, die sie, wie es der Zufall gab,

VII. Sicherung der demokratischen Idee

271

aus eınem Kasten nahmen, und erst dann von der Maschine die Geschworenen

bestimmt (s. Abb. mit Erklärung); hier ist vor dem eigentlichen Losvorgang die Reihenfolge der Ausweismarken noch einmal durch den Zufall gemischt, und

damit sind etwaige Manipulationen noch schwerer gemacht worden. Bei dieser

und allen anderen Losungen wurde der Wille von Menschen durch den blinden Mechanismus des Loses ersetzt. Was bedeutet dies für die Demokratie? Welchen Sinn oder welches Ziel verbanden die Athener damit?

In älterer Zeit war das Los ein Mittel zur Feststellung des göttlichen Willens gewesen, und im religiösen Bereich ist es auch in jüngerer Zeit noch als Gottesurteil verwendet worden. Im profanen Bereich hingegen steht hinter seiner Anwendung, auch wenn in dem Sinne von Zufall (tycbe) oder Schicksal gegebe-

nenfalls ein abgeschwächtes religióses Element mitspielen mochte, von Anfang an ein konkreter politischer Gedanke: die Ausschaltung der persónlichen Autontät aus der Regierung. Die mit der Losung verbundene politische Absicht

beherrschte bereits die Anwendung des Loses für die Bestellung der Archonten im Jahre 487/86, in der das Los bewußt als Instrument zur Schwächung einer althergebrachten Institution eingesetzt wurde. Der gleiche Gedanke steht hinter

der nur wenige Jahre vorher durchgesetzten Phylenordnung des Kleisthenes, die durch die Zusammenfassung von jeweils verschiedenen Landschaften zu zehn

lokalen Phylen jegliches ókonomische Sonderinteresse aufhob und damit die Beamten und Ratsmitglieder, die nach diesen neuen lokalen Einheiten bestellt wurden, ,gleichschaltete“. Der Sinn der Losung liegt in Athen immer darin,

persónliche Autoritát aufzuheben bzw. ihr Entstehen im vorhinein zu verhindern. Es ist klar, da& die Athener mit dieser Absicht auf allzu ehrgeizige,

möglicherweise sogar nach der Tyrannis strebende Häupter der großen aristokratischen Familien zielten, gegen die sie während und nach der Vertreibung der Peisistratiden, also gerade in diesen Jahrzehnten der Reformen im Kampf lagen. Die Losung als ein demokratisches Prinzip ist ein Produkt des Ringens mit dem politisch aktiven Teil des Adels um eine isonome Gesellschaft. In der weiteren Entwicklung Athens zu einer Demokratie wurden andere alte Ämter in Losämter umgewandelt und neue gleich als solche eingerichtet. Soviel Wahlämter auch blieben, war doch die hinter der Demokratie stehende Idee auf

das Losverfahren ausgerichtet, und gleichzeitig damit verloren die einst zentralen Ämter an Ansehen und Attraktivität. Mit dem Verlust der Amtsautorität

gingen Hand in Hand die Auflösung der einst kompakten Zuständigkeiten der ehemals großen Ämter und die Schaffung immer neuer kleiner und kleinster Zuständigkeitskreise, die das Amt zu einer Funktion degradierten. Man könnte sich fragen und hat es auch getan, ob die Losung wirklich die Ursache für die Entwicklung zum kleinen Amt oder nicht eher deren Folge gewesen und also das kleine Amt dem Prinzip der Losung vorausgegangen sei. Man könnte sich ja vorstellen, daß erst die Menge der unwichtigen Funktionen den Gedanken hervorgebracht hat, daß sich die Wahl nicht mehr lohne. Nun wird man diese Frage kaum so stellen dürfen. Denn zum einen sind gerade die ursprünglich höchsten Ämter, die Archonten, sehr früh Losämter geworden (s.o. S. 41). Zum

anderen ist sicher, daß die Losung als politisches Instrument zur Schwächung des Amtes am Anfang der Entwicklung steht und also auch die Folgezeit von

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

der politischen Konzeption geprägt gewesen sein muß, daß die Losung ein demokratischer Wert sei. Schließlich haben die Vermassung der Ämter und die Masse der für sie anstehenden Bewerber zu der weiteren Zersplitterung der Zuständigkeiten und der Schaffung kleinster Funktionen viel beigetragen, und somit haben die sich aus der Losung für die Ämterstruktur ergebenden Konsequenzen ihrerseits ein Eigengewicht entwickelt, die auf die Beschleunigung der einmal eingeschlagenen Richtung wirkte. Es kam hinzu, daß das Amt, das nicht mehr auf den Fähigen, sondern auf jeden beliebigen und also ın gleicher Weise auf Fähige und Unfähige fiel, in dem Maße, wie sich die Losung weiter durchsetzte, dem Leistungsstand seiner potentiellen Inhaber immer weniger entsprach und von daher eine Verminderung der mit einem Amt verbundenen Aufgaben und deren Anpassung an das intellektuelle Durchschnittsniveau na-

helag. So wirkte die Idee der quantitativen Gleichheit, die jeden Amtsbewerber zu seinem Recht kommen lassen wollte, nun ihrerseits auf eine weitere Aufsplitterung der Amtsaufgaben und dadurch auf die Ausdehnung des Losprinzips hin. Das Problem der Dissonanz von den durch das Amt gestellten Anforderungen

und dem Leistungsvermógen seiner Inhaber ergibt sich uns nicht erst heute, sondern wurde bereits in. Athen erbittert diskutiert. Unter anderen hat auch Sokrates das Losprinzip kritisiert, weil es bestimmte, mit fachlichen und cha-

rakterlichen Fáhigkeiten verbundene Aufgaben jedem Beliebigen übertrug und dadurch der Gemeinschaft großen Schaden zufügen konnte. Gerade die Abwehr

dieser Kritik dürfte zu einer noch stárkeren Beschránkung der durch das Amt übertragenen Funktion geführt haben, so daß die von dem Amtsinhaber geforderte Leistung eher unter dem Durchschnitt lag und der eventuell doch angerichtete Schaden klein blieb.

Der Grundsatz der Losung wirft Licht auf den Charakter des demokratischen Gedankens in Athen. Denn so sehr er durch die Beschränkung der Macht der an der Regierung Beteiligten einem heutigen Verstándnis von Demokratie begegnet, befremdet er doch gleichzeitig durch den Umfang seiner Anwendung. Denn es wird durch den allseitigen Gebrauch der Losung nicht nur jede potentielle persönliche Autorität und jeder Machtmißbrauch ausgeschaltet; es wird auch der Wille des Souveráns eingeschränkt: Die Menge kann bei Anwendung des Losverfahrens nicht durch Mehrheitsentscheid den Mann ihrer Wahl bestimmen, und desgleichen werden viele andere Einzelentscheidungen, wie die Be-

stimmung der Reihenfolge, in der über irgendwelche Personen, Gruppen oder Gremien abgestimmt werden soll, vom Los getroffen. Die Menge hatte durch das Prinzip der Losung zwar für sich gesorgt - das Los konnte jeden Beliebigen aus dem Demos treffen -, aber in diesem „Für-sich-Sorgen“ hatte sie auch ein

für alle Mal ihren Willen begrenzt. Das, was nach Umfang und Bedeutung heute das wichtigste Geschäft in der Demokratie darstellt, die Wahl von Personen, sahen die Athener nicht als einen demokratischen Wert an. Gewählt wurde nur,

wenn es aus sachlichen Gründen unausweichlich war, und das heißt: gegen den Sinn der hinter der politischen Ordnung stehenden Idee. Man wird die athenische Demokratie nicht verstehen können, wenn man nicht begreift, daß den Athenern die Ausschaltung der persönlichen Autorität wichtiger war als die Möglichkeit, ihnen erwünschte Personen zu wählen und unerwünschte abzu-

VII. Sicherung der demokratischen Idee

273

lehnen oder abzuwählen. Die durch das Los gegebene quantitative Gleichheit

hatte für sie einen höheren Rang als die Qualifikation der Person.

2. Überprüfung der Person vor Antritt des Amtes (Dokimasie) Jeder Beamte, dessen Amtszeit länger als 30 Tage währte, mußte sich, ob gewählt oder erlost, nach der Wahl bzw. Losung und vor dem Amtsantritt einer Prüfung seiner Person unterziehen. Die prüfende Behörde war für die Ratsherren der alte Rat, für die übrigen Beamten ein Geschworenengericht unter Leitung eines Thesmotheten, nur die neun Archonten wurden als einzige sowohl vom Rat als auch von einem Geschworenengericht überprüft. Das Verfahren heißt dokimasia („Prüfung“), die Zurückweisung des Kandidaten apodokimázein („abqualifizieren“). Den Abgewiesenen traf weiter keine Strafe oder ein anderer Rechtsnach-

teil, doch war sein Ansehen naturgemäß stark angeschlagen. Das Verfahren ist uns von Aristoteles in seiner Schrift vom Staat der

Athener für die Archonten beschrieben worden und lief nach Ausweis anderer Quellen für alle Beamten in denselben Formen ab. Der Prüfling wurde vom Vorsitzenden der Prüfungskommission, also vom Epistates, wenn der Rat, und

von einem Thesmotheten, wenn ein Geschworenengericht prüfte, gefragt, ob er über drei Generationen von des Vaters und der Mutter Seite her athenischer

Bürger sei, ob er den Kult des Apollon Patroos und Zeus Herkeios, der traditionellen Familiengötter, ausübe, ob er eine Familiengrabstätte habe, seine Eltern gut behandelt, seine Steuern gezahlt und die von ihm verlangten Feldzüge mitgemacht habe. Bei manchen Beamtengruppen wurden zusätzlich die von dem Amtsinhaber geforderten speziellen Voraussetzungen, wie bei den Strategen die Forderung nach Grundbesitz in Attika und Kindern aus einer gesetzlichen Ehe, überprüft. Der Prüfling mußte seine Antworten durch Zeugen bestätigen lassen. War dies geschehen, richtete der Vorsitzende an alle Anwesenden

die Frage, ob jemand gegen den Prüfling als Ankläger auftreten wolle. Geschah das nicht, wurde abgestimmt, im Rat offen durch Handaufheben, im Geschwo-

renengericht geheim. In letzterem hatte früher einmal ein einziger Richter für alle die Stimme abgegeben; in aristotelischer Zeit wurde jedoch durchgestimmt.

Waren die Antworten nicht befriedigend oder trat ein Ankläger auf, wurden die Vorwürfe in einem fôrmlichen, dem ProzeR analogen Verfahren, in dem der Ankläger und der Angeklagte reguläre Plädoyers hielten, untersucht. Das Urteil des Geschworenengerichts war selbstverständlich endgültig, in einer älteren

Phase auch das des Rates. Später, wahrscheinlich in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts, wurde gegen den Spruch des Rates Berufung an ein Geschworenengericht zugelassen. Uns sind in dem Corpus der Reden des Lysias drei Anklagen und eine Verteidigung im Dokimasieverfahren erhalten. Die Dokimasie mußte vor dem Amtsantritt abgeschlossen sein. Erst nach ihr leistete der Beamte seinen Amtseid. Den besonderen Charakter der Prüfung erhellen die Fragen, die dabei

gestellt wurden. Bei ihnen geht es zum einen um die Feststellung der bürgerlichen Abkunft, welche die selbstverständliche Voraussetzung für die Übernahme

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

eines Amtes war. Auch die Fragen nach dem Apollon- bzw. Zeus-Kult sowie nach der Erbgrabstätte, welche die langjährige Ansässigkeit einer Familie auf

attischem Boden belegten, dienten der Identitätsfeststellung. Zum anderen wurde nach der Erfüllung der wichtigsten bürgerlichen Pflichten gefragt, nämlich nach der Zahlung der Steuern und der Ableistung des militärischen Dienstes. Da auf die Versäumung dieser Pflichten, also auf Schulden gegenüber der öffentlichen Hand und auf unentschuldigtes Fernbleiben von Feldzügen der Verlust der bürgerlichen Rechte (Atimie) stand, war diese Frage gleichzeitig eine

nach dem Vollbesitz der bürgerlichen Rechte. Die Erforschung des Verhältnisses zu den Eltern endlich zeigt, daß die Sorgepflicht der Kinder gegenüber den

Eltern in Athen nicht dem rein moralischen Bereich zugehörte, sondern öffentliche Pflicht war, deren Verletzung ebenfalls mit Atimie bestraft wurde. Man hat gemeint, daß alle diese Fragen nur auf die Feststellung von konkreten Tatbeständen zielten und man darüber hinaus das persönliche Leben des Prüflings nicht weiter habe durchleuchten wollen. Dagegen spricht aber nicht nur das ausdrückliche Zeugnis des Lysias, daß man in der Dokimasie über das ganze Leben Rechenschaft ablegen müsse (16,9), sondern auch die Frage nach dem Verhältnis zu den Eltern, das von seiner Natur her nicht oder doch nicht allein durch

Tatsachenbehauptungen beschrieben werden kann, und vor allem die Ausführungen in den uns erhaltenen Reden zu Dokimasie-Klagen selbst. In ihnen geht es stets um die ganze Person und das ganze Leben des Prüflings. Eine Grenze

zwischen dem privaten und dem öffentlichen Bereich wird dabei nicht sichtbar. In Verteidigungsreden wird vor allem immer wieder herausgestellt, welchen guten Bürgersinn der angehende Funktionsträger in seinem Leben gezeigt, wie

sehr sein Herz für die Demokratie geschlagen und er in kritischen Stunden seine richtige politische Gesinnung unter Beweis gestellt habe; in Anklagereden bemühte man sich selbstverständlich um den Beweis des Gegenteils. Es geht meist gerade nicht um die Feststellung von Tatbeständen, sondern um die Darlegung

einer Gesinnung. War der Prüfling ein guter Demokrat? War er ein politisch aktiver Mensch oder vielleicht eher ein Querulant? Hat er als Soldat seinen Mann gestanden oder ist er ein übler Drückeberger? Im rein persönlichen Bereich geht es ebenfalls weniger um den Beweis von Tatsachenbehauptungen als um die Zeichnung von Charakteren: Der sorgende Fanilienvater, der gute Bru-

der oder Sohn, der maßvoll lebende Bürger, der wenig auffällt, ein Gleicher unter Gleichen ist die erwünschte Figur; der Egoist und Verschwender, der

arrogante Geck, Saufkumpan und illoyale Bürger das Gegenbild. Es spielt für die Interpretation der Reden selbstverständlich eine Rolle, daß allgemeine Redewendungen oft Ersatz für eine mangelnde Basıs von Anklage oder Verteidigung sind und gerade sie die Schwächen der jeweiligen Position verschleiern wollen. Aber die breiten und immer wiederholten Formulierungen in der angegebenen Richtung zeigen doch, daß in der forensischen Wirklichkeit so argumentiert werden konnte, daß die Ratsherren bzw. Richter als für solche Gedanken empfänglich angesehen werden konnten und nach ihnen auch geurteilt wurde.

Die Dokimasie war mehr als nur eine Überprüfung der Identität und der nachweisbaren Pflichten eines Bürgers, der ein Amt antreten wollte. In ihr konnte das ganze Leben ausgebreitet werden, und es ist bezeichnend, daß dabei

VII. Sicherung der demokratischen Idee

275

wie bei einer Strafklage jeder Bürger mit einer Anklage auftreten durfte (Popularklage). Die Menge der potentiellen Ankläger und die gewiß nicht geringe

Anzahl von Zeugen, die von Anklage und Verteidigung gegebenenfalls aufzubieten waren, lassen ahnen, wie viele Bürger in einer Dokimasie mitwirken und

wie vielfältig die jeweils behandelten Gegenstände sein konnten. Ankläger, welche die Antworten des Prüflings mit konkreten Tatsachenbehauptungen zu widerlegen trachteten, und solche, denen es unter Vorschiebung vager Behauptungen eigentlich auf die Offenlegung einer politischen Gesinnung ankam, eine ähnlich argumentierende Verteidigung, Beweiszeugen und Leumundszeugen traten nacheinander auf. Wenn man ferner bedenkt, daß die Verhandlung in der Öffentlichkeit vor einem Richtergremium von 500 Personen geführt wurde, ermißt man das Ausmaß der Politisierung der im öffentlichen Bereich tätigen Personen. Es fällt uns, die wir dazu neigen, in den liberalen Schutzrechten einen höhe-

ren Wert als in der aktiven Mitgestaltung des politischen Lebens zu sehen, nicht

sehr leicht, die Form und den Inhalt der Dokimasie mit unserer Vorstellung von Demokratie zu vereinbaren. Sie mag manchen als unangemessene Schnüffelei, unter Umständen sogar als Terror einer Volksjustiz totalitärer Provenienz erscheinen. Die Athener sahen das nicht so; wir besitzen keine grundsätzliche Kritik an der Dokimasie. Die persönliche Nähe der unmittelbaren Demokratie, aber auch die mangelnde Erfahrung mit einem Terrorregime moderner Prägung

ließen diese Überprüfungen, die so gut wie jeder Athener einmal, viele mehrere Male und nicht wenige viele Male in ihrem Leben über sich. ergehen lassen mußten, nicht als eine Zumutung oder gar Demütigung erscheinen. Die aller-

meisten Verfahren sind auch gewiß ohne jeden Widerspruch über die Bühne gegangen; die Masse der in jedem Jahr anstehenden Dokimasie-Verfahren läßt eine andere Annahme gar nicht zu. Bei 500 Ratsherren und ca. 700 Beamten hat

der größte Teil der Prüfungen kaum mehr Zeit gekostet als die, welche die Fragen des Vorsitzenden an den zu Überprüfenden und an das Publikum dauerten. Es stellt sich jedoch die Frage, was die Athener mit dem Verfahren letztlich bezweckten. Sein Sinn liegt naturgemäß einmal in der Feststellung der bür-

gerlichen Identität und des durch keine Atimie eingeschränkten Bürgerrechts. Aber der Aufwand der ganzen Prozedur - man denke auch an die doppelte Dokimasie der Archonten! - rechtfertigt dies allein noch nicht. Ein Rückblick auf die Geschichte der Dokimasie kann zu einer Beantwortung der Sinnfrage

beitragen. Wir wissen über die Entwicklung des Verfahrens nicht viel; doch verweist die doppelte Prüfungskommission für die Dokimasie der Archonten darauf, daß der Rat, vor dem zuerst geprüft wird und der mit großer Sicherheit eine ältere Institution als das Geschworenengericht ist, einmal die einzige Prü-

fungskommission gewesen ist. Als später die Geschworenengerichte eingerichtet wurden, ist dann vom Rat (für die neuen Ratsherren) eine Berufung ermöglicht und daneben (für die Archonten) eine zweite Dokimasie vor einem Ge-

schworenengericht eingerichtet worden. Man möchte daher die Einrichtung der Dokimasie gern mit Kleisthenes, der auch den neuen Rat schuf, verbinden und

erhielte für Kleisthenes auch ein Motiv: Die Vermassung der öffentlichen Geschäftsträger, zuerst sichtbar an den Ratsherren, mag in einer Zeit, die noch

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

ganz in aristokratischen Traditionen dachte, eine Barriere für ungeeignete politische Funktionäre wünschenswert gemacht haben. Da die mangelnde Eignung in der Regel aber nicht die Identität einer Person oder konkrete Pflichtversäumnisse betraf - solche Mängel hätten ja a limine von der Bewerbung abgehalten -, ging es gewiß von Anfang an vor allem auch um die Überprüfung von Charakter

und intellektuellen Mindestvoraussetzungen. Es versteht sich, daß der eigentliche Effekt der Dokimasie dann darin lag, daß sich ungeeignete Personen gar

nicht erst einfanden oder, wenn sie doch zu einem Amt drángten, von Verwandten oder Freunden zurückgehalten wurden. Die Dokimasie wáre danach von Anfang an eine Konsequenz der Vermassung der Exekutive gewesen, welche die

in jeder Gesellschaft vorhandenen Personen mit geistigen und charakterlichen Schwächen von der öffentlichen Tätigkeit fernhalten sollte. Ein weiterer Grund,

der ebenfalls zu Kleisthenes passen würde, liegt in der Überprüfung der politischen Zuverlässigkeit: Die isonome, demokratische Gesellschaft wünschte den gesinnungstüchtigen Demokraten und angepaßten Bürger in die Ämter zu brin-

gen, da nur er die Erhaltung der politischen Ordnung garantierte. Neben den Beamten und Ratsherren mußten auch andere Personengruppen sich einem Dokimasie-Verfahren unterziehen, nämlich die Reiterdienst

leistenden Athener, die Empfänger von Unterstützungsgeld und seit der Einrichtung der Ephebie auch die Epheben. Erst seit dem 3. Jahrhundert kennen

wir auch eine Dokimasie derjenigen, die das Bürgerrecht erhalten sollten; sie ist für die Zeit der Demokratie nicht sicher überliefert. Alle diese Dokimasien

haben mit der der Beamten gemeinsam, daß sie eine physische oder (im politischen Sinne) moralische „Tauglichkeit“ (epitédeia) überprüfen wollten. Um die

erstere ging es bei den Reiterdienst leistenden Athenern, die neben ihrer finanzi-

ellen Leistungsfáhigkeit vor allem ihre kórperliche Gesundheit, bei den Unterstützungsempfángern, die ihre Gebrechlichkeit, und bei den Epheben, die, nachdem die Demengenossen die freie Herkunft überprüft hatten, jetzt lediglich noch auf ihr für den Eintritt in die Ephebie gefordertes Alter von 18 Jahren wonach diese Dokimasie „für die Aufnahme unter die Männer“ (eis ándras) hieß

- überprüft wurden. Bei den Beamten hatte - neben der rein physischen Seite

(Herkunft) -, wie wir gesehen haben, die moralisch/politische Seite stárkeres Gewicht. Diese beherrschte auch die Dokimasie der (berufsmäßigen) Rhetoren,

von der Aischines (1,28ff.) spricht. Da die letztere aber vóllig aus dem Rahmen der übrigen Dokimasien herausfállt - die Aufforderung zur Dokimasie kam hier formal einer Eisangelie-Klage gleich und sie unterscheidet sich auch dadurch von allen anderen Dokimasien, daß bei ihr nicht alle Personen eines fest bestimmbaren Kreises (Beamte, Reiter, angehende Epheben usw.), sondern jeweils

einzelne aus einer ihrem Umfang nach unbestimmten Gruppe, wie sie die Redner nun einmal darstellen, herausgegriffen werden -, dürfte Aischines den Begriff hier in übertragenem Sinne gebraucht haben und kónnen wir von einer Dokimasie der Rhetoren im eigentlichen Sinne nicht sprechen. Über die Zeit der Einrichtung der einzelnen Dokimasien läßt sich nicht leicht etwas sicheres sagen. Die Dokimasie der Ratsherren und Beamten dürfte, wie ausgeführt, Kleisthenes eingeführt haben. Ist das richtig, hat sie zunächst der Areopag als die Behórde, die damals die Beamten überwachte, wahrge-

VII. Sicherung der demokratischen Idee

277

nommen, und sie ging, als der Areopag z. Zt. des Ephialtes die Aufsicht über die Beamten verlor (462/61, s.o. 5. 44ff.), an den Rat bzw. die Geschworenenge-

richte über. Auch die Prüfung der in das Mannesalter eintretenden Athener muß unabhängig davon, wie wir die Einrichtung der Ephebie datieren, früh angesetzt werden, zumindest nicht später als das Bürgerrechtsgesetz des Perikles (451/50),

weil die Festsetzung des Kreises der Bürger durch dieses Gesetz die genaue Überprüfung der in den Kreis Eintretenden voraussetzt. Auch die Dokimasie

der Reiter gehört jedenfalls nicht in die Spätzeit der Demokratie, denn sie war immer aktuell. - Die Dokimasie der Reiter, Unterstützungsempfänger und

Epheben nahm der Rat vor. 3. Rechenschaft Bereits in der ältesten uns erhaltenen Diskussion über die Vor- und Nachteile von Verfassungen bei Herodot ist unter den Grundsätzen, durch welche die Demokratie bestimmt wird, die Rechenschaftspflicht des Beamten genannt. Wie sie ein Zeichen der Demokratie ist, bedeutet ıhr Fehlen die Tyrannis. Rechenschaft (eéthyna, das heißt eigentlich: das Gerademachen) legen in Athen

alle Personen ab, die im öffentlichen Bereich tätig gewesen sind, also in erster Linie die Beamten und der Rat der Fünfhundert, aber auch Gesandte, Priester

und Priesterinnen, die im öffentlichen Auftrag opfern oder den sakralen Bereich verwalten, ferner alle Funktionäre mit außerordentlichem Auftrag. Von allen im öffentlichen Dienst Tätigen sind allein die Richter von der Rechenschaft befreit; sie werden sogar ausdrücklich als nicht rechenschaftspflichtig bezeichnet. Daran ist zu erkennen, daß sie mit den Besuchern der Volksversammlung, die selbstverständlich ebenfalls keine Rechenschaft ablegen, gleichzusetzen, und das heißt nach moderner Terminologie, als Souverän anzusehen sind.

Die Rechenschaft erfolgte in dem Monat nach der Niederlegung des Amtes, soweit die Tätigkeit mit dem Amtsjahr zusammenfiel, also im Hekatombaión (Juli/August). Die Beamten und Funktionäre wurden gemeinsam mit den Kollegen geprüft, mit denen sie zusammengearbeitet hatten, doch haftete niemand

für die Verfehlungen eines Kollegen. Vor Ablegung der Rechenschaft durfte man nicht ins Ausland reisen, nıcht über sein Vermögen durch Schenkung, Weihung an eine Gottheit, Testament oder auf andere Weise verfügen, kein neues Amt

übernehmen oder eine Ehrung entgegennehmen, dies alles, um die gegebenenfalls fällige Buße zu sichern oder die Überprüfung nicht durch eine vorweggenommene Ehrung zu präjudizieren. Wer sich der Rechenschaftslegung entzog, hatte mit einer besonderen, eigens für dieses Delikt geschaffenen Klage zu

rechnen, die ihn mit schweren Strafen bedrohte. - Die im folgenden beschriebenen Verfahren haben im wesentlichen seit der Mitte des 5. Jahrhunderts bestan-

den, sind jedoch zunehmend perfektioniert worden; das Euthynie-Verfahren gehört in der hier beschriebenen Form wohl erst dem 4. Jahrhundert an. Die Rechenschaftslegung erfolgte in zwei deutlich voneinander geschiedenen Etappen. In der ersten und wichtigeren hatte der abgetretene Beamte vor den sogenannten

Logisten

(„Abrechnern“,

von /ögos, „Rechnung“,

„Rechen-

278

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

schaft“) über die ihm anvertrauten Gelder Rechnung zu legen und sich gegebenenfalls auch schon hier gegenüber Vorwürfen einer unsauberen Amtsführung in Geldangelegenheiten (Diebstahl, Bestechung, mißbräuchliche oder nur falsche Geldausgabe) zu rechtfertigen. Die Logisten, zunächst 30, im 4. Jahrhundert zehn Beamte mit zehn Helfern (synegoro:), die aus dem ganzen Volk erloste

Beamte waren, stützten sıch bei ihrem Geschäft auf die Tätigkeit einer Ratskommission von zehn Mann, die ebenfalls Logisten hießen und bereits während des Jahres in jeder Prytanie die Rechnungen der Beamten, die Gelder verwalteten, überprüft hatten. Ohne sie hätten die Logisten, welche die abgetretenen Beamten prüften, angesichts der großen Zahl der in jedem Jahr anstehenden Prüfungen kaum eine ordentliche Kontrolle garantieren können. Die Logisten selbst waren keine Richter. Sie prüften die Belege, befragten die Rechenschaftspflichtigen (anákrisis, ,,Befragung") und verwiesen dann die Sache, mochten sie nun

Anlaß zu einer Klage gefunden haben oder nicht, an ein Geschworenengericht von 501 Richtern. In ıhm führten sıe selbst den Vorsitz, und ihre Helfer traten,

falls Vorwürfe laut wurden, als Ankläger auf. Schon bei der Voruntersuchung und dann wieder in der Gerichtsverhandlung wurden durch Herold alle Athe-

ner, die Einwände gegen die Amtsführung der gerade zur Entlastung anstehenden Beamten hatten, aufgefordert, diese vorzubringen; die Rechenschaftsklage

zählte also zu den Popularklagen. Etwaige Verfehlungen wurden mit Geldstrafen belegt. Bei Unterschlagungen und Bestechungen betrug die Strafe das Zehnfache der unterschlagenen oder als Bestechung angenommenen Summe, für nur widerrechtlich oder mißbräuchlich verwendete Gelder wurde der einfache Er-

satz gefordert. Waren schwere Vergehen, die nicht mehr mit Bußgeldern geahndet werden konnten, zum Vorschein gekommen, trat eine Eisangelie-Klage an die Stelle des Rechenschaftsverfahrens. Die zweite Stufe der Rechenschaft war zehn Rechenschaftsbeamten des Rates,

den Euthynoi (eithynos), und deren 20 Helfern anvertraut: jeder Euthynos war für die Beamten einer Phyle zuständig. Diese Rechenschaftslegung betraf die allgemeine

Amtsführung

und trat nicht, wie die Rechenschaft vor den

Logisten, automatisch, sondern lediglich auf Antrag eines Bürgers ein. Denn während der Umgang mit Geldern die Rechnungsprüfung unter allen Umständen erzwang, konnte dies nicht für die allgemeine Amtsführung gelten. Die Euthynoi, die schon während der ganzen Ratsperiode die Tätigkeit aller Beam-

ten und Funktionäre überwacht hatten, saßen nach Abschluß des von den Logisten geleiteten Rechenschaftsverfahrens drei Tage lang während der Marktzeit an einer bestimmten Stelle des Marktplatzes, um Klagen entgegenzunehmen. Es wurden hier vor allem Klagen wegen Bestechung, Amtsmißbrauch, Verrat oder Nichtbeachtung von Gesetzen vorgebracht. Die Euthynoi durften Klagen, die ihnen nichtig oder ganz unbegründet erschienen, abweisen; die Flut der Prozesse wäre wegen der Neigung der Menschen, ihren Unmut an den Beamten auszulassen oder private Querelen in ihre Klagen einzubringen, anders kaum einzudämmen gewesen. Hielten sie eine Klage für stichhaltig, verwiesen sie Privatsachen an die „Vierzigmänner“

(s.o. S. 243), öffentliche Sachen

an

einen Gerichtshof. Für manche Ämter waren Sonderregelungen notwendig, vor allem für die Strategen, die im Gegensatz zu den zivilen Beamten sich wieder-

VII. Sicherung der demokratischen Idee

279

wählen, ja Amt an Amt anschließen konnten und bei dem Übergang von einem zum anderen Amtsjahr oft nıcht in Athen waren. Sie haben nichtsdestoweniger jährlich über die von ihnen verwalteten Gelder Rechnung legen müssen; die allgemeine Rechenschaft (exithyna) wurde von ihnen dagegen nur einmal, näm-

lich nach dem letzten Amt, abgelegt. Die Rechenschaftspflicht ist die für die athenische Demokratie typische Form der Beamtenkontrolle. An ihr ist einerseits bemerkenswert, daß jeder kleine

Funktionär ihr unterworfen ist, andererseits die Vielfórmigkeit, in der sie er-

scheint. Denn mit den genannten Formen sind bisher nur die Rechenschaftsverfahren im eigentlichen Sinne, nämlich diejenigen, die während und insbesondere nach dem Amt den Amtsinhaber entlasten, genannt worden. Eine nicht

minder wirkungsvolle und oft genutzte Möglichkeit der Beamtenkontrolle liegt aber auch in der ständigen Aufforderung an die Athener, Unregelmäßigkeiten

der Amtsführung zur Anzeige zu bringen. Es wurde bereits vermerkt, daß bei der Rechnungslegung vor den Logisten und Euthynoi, ferner auch während des förmlichen Prozesses der Entlastung im Gerichtshof alle Athener ausdrücklich

aufgerufen wurden, etwaige Beschwerden vorzutragen. Der Aufruf zur Beschwerdeführung ist zumindest im 4. Jahrhundert zusätzlich dadurch fest in den geschäftlichen Ablauf des Amtsjahres eingebettet worden, daß in der ersten Volksversammlung einer jeden Prytanie und also zehnmal im Jahr dem Volk die Frage vorgelegt wurde, ob die Beamten ihr Amt gut verwaltet hätten; wurde

Kritik laut und ging die Abstimmung zuungunsten des Beamten - oft waren es naturgemäß Strategen - aus, wurde der Betreffende sofort seines Amtes enthoben und vor Gericht gestellt. Neben diesem eigens zur Klageerhebung eingerichteten Verfahren war es selbstverständlich jedem Athener unbenommen, je-

den Beamten zu jeder Zeit anzuklagen. Die wichtigste Klage war hier die Eisangelie, die vor allem bei schweren Verbrechen gegen die Stadt, wie Verrat,

Bestechung und Täuschung des Voikes, erhoben wurde. Da alle diese das Gemeinwohl betreffenden Klagen von jedermann angestrengt werden konnten (Popularklage) und zudem im Fall einer Verurteilung dem Ankläger, der die

Sache angezeigt und vertreten hatte, ein Teil des eingezogenen Vermögens des Delinquenten zustand, wurden viele Beamte und unter ihnen besonders die mit

wichtigen Aufträgen beschäftigten vor Gericht gezogen. Da das Anzeigegeschäft zeitweise berufsmäßig betrieben wurde - man nannte die Berufsankläger abwertend „Sykophanten‘“ -, war es nicht ungefährlich, ein wichtiger Beamter zu sein. Der Beamte war, wie man erkennt, eingezwängt in ein engmaschiges Netz von Kontrollen, das ihn während der gesamten Amtszeit fest an Auftrag und

Gesetz band. Kontrolle bedeuteten die Rechenschaftsverfahren im engeren Sinne ebenso wie die Klagen, die von jedermann zu jeder Zeit erhoben werden konnten. Zwar sind die letzteren nicht im formalen Sinne, aber doch faktisch Rechenschaft, und tatsächlich ıst in den außerhalb der besonderen Rechen-

schaftsverfahren erhobenen Klagen auch der Begriff „Rechenschaft“ oft verwendet worden. Und es war in der Tat für die Sache selbst auch gleichgültig, ob jemand etwa während einer Voruntersuchung der Logisten oder außerhalb des Verfahrens Anklage erhob. Die Rechenschaftsverfahren im engeren Sinne, die

280

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Klageerhebung gegen Beamte außerhalb dieser Verfahren und die Möglichkeit der Klageerhebung für alle Bürger (Popularklage mit dem aus ihr geborenen Exzeß, der Sykophantie) bilden eine Einheit, die in ihren verschiedenen Formen

alle für die Demokratie typisch sind. Sie wurden von ihren Gegnern gehaßt, bei Umstürzen beseitigt und auch von ihren Anhängern nicht immer geliebt, aber als Bollwerke der Demokratie stets hochgehalten. Es ist nicht von ungefähr, daß

das Kernstück der Beamtenkontrolle, die Überwachung durch formalisierte Verfahren, nicht nur zugleich mit der Demokratie geboren wurde, sondern sogar den Auftakt bildete, durch den die isonome Gesellschaft der Hopliten

(Isonomie) sich zur demokratischen Gesellschaft wandelte: Die sogenannte »Revolution des Ephialtes" war im wesentlichen die Übertragung der Beamtenkontrolle vom Areopag auf das Volk, nämlich auf die oben beschriebenen Rechenschaftsverfahren, in denen Beamte, der Rat und die Geschworenenge-

richte zusammenwirkten (vgl. o. S. 44ff.). Die Rechenschaftspflicht erscheint so

als die Konsequenz eines der Grundgedanken der Demokratie, nämlich der Schwáchung der Regierung zugunsten einer Entscheidung durch alle.

4. Entgelt für die Tätigkeit im óffentlichen Bereich (Sold, Diäten) Ein Entgelt für die der Stadt geleisteten Dienste war in aristokratischer Zeit unbekannt. Sowohl die Tätigkeit als Beamter oder Priester als auch der Militärdienst waren unentgeltliche Leistungen gewesen, die der Adlige auf Grund

seines hóheren sozialen Prestiges und im Wettstreit mit seinen Standesgenossen erfüllt hatte. Nachdem der Grundsatz der politischen Gleichheit für alle Athe-

ner durchgesetzt worden war, änderte sich an der Vorstellung, daß alle politisch Berechtigten auch alle Leistungen zu erbringen hatten, im Prinzip zwar nichts: Die Demokraten traten als Nachfolger der Aristokraten auf und gingen daran, das gesamte politische Gescháft auf die verbreiterte Basis der politisch Berechtigten zu übertragen. An der Verwirklichung des Grundsatzes hinderte indessen die Armut vieler Athener. Bei weitem nicht alle konnten ihre Arbeit im Such lassen, um dem poliuschen Geschäft nachzugehen. Der Gefahr, daf$ auch nach dem Durchbruch zur Demokratie die Politik eine Sache der Reichen bleiben würde, wurden sich die Athener schnell bewußt, und es zeugt von der Lebendig-

keit der demokratischen Idee, daß sie ihr energisch entgegentraten. Dies geschah in doppelter Weise. Zum einen suchten sie sich die politische Tätigkeit als einen hohen Wert begreiflich zu machen. Thukydides läßt Perikles in seiner berühmten Rede auf die im ersten Jahr des Peloponnesischen Krieges Gefallenen sagen, daß allein die Athener einen Bürger, der sich im politischen Raum nicht

engagierte, nicht etwa nur für untätig, sondern für nutzlos hielten. Die politische Abstinenz war zwar móglich - auch diese Móglichkeit galt bezeichnenderweise als ein Stück demokratischer Freiheit -, aber sie war im Sinne der demo-

kratischen Idee unerwünscht. Man predigte jedoch nicht nur eine politische

Moral, man wollte auch ihre faktische Ausübung ermóglichen. Das war nur durch die Gewährung eines Entgelts zu erreichen, das die Mindestkosten eines Unbemittelten und eventuell auch den Unterhalt für eine Kleinfamilie abdeckte.

VII. Sicherung der demokratischen Idee

281

Es ist bezeichnend, daß die Idee solcher Zahlungen bereits in dem Augenblick verwirklicht wurde, in dem die Demokratie sich vollendete und die Demokra-

ten sich der Besonderheit der neuen politischen Ordnung bewußt wurden, also bald nach dem Sturz des Areopags durch die „Revolution“ des Ephialtes (462/

61). Es war Perikles, der die ersten Zahlungen, nämlich die für die Richter und Ratsherren, wohl auch schon für etliche Beamte einführte. Sie sind dann später durch die Zahlungen für den Besuch der Volksversammlung und der Feste (tbeóriká) ergänzt worden. Bevor alle diese politischen Tätigkeiten entlohnt wurden, ist jedoch bereits der Militärdienst honoriert worden, und dies schon

vor dem Durchbruch zur Demokratie. Denn in dem großen Perserkrieg, welcher der Demokratie unmittelbar vorausging, hat man nicht nur die in der Phalanx kämpfenden Hopliten auf eine hohe Zahl bringen und Verluste mög-

lichst vollstándig ersetzen müssen, sondern benótigte auch die Massen der Armen für den Dienst in der Flotte. Der in der Demokratie selbstverstándliche Soldatenlohn ist darum einige Jahrzehnte älter als die entwickelte Demokratie.

Die Bezahlung der politischen Tátigkeit hat bei den Griechen stets als eine spezifisch demokratische Einrichtung gegolten. Bei den beiden oligarchischen Umstürzen von 411 und 404 in Athen sind denn auch die Zahlungen sofort

eingestellt, nach Wiederherstellung der Demokratie ebenso prompt wiederaufgenommen worden. Die Endohnung der Soldaten und der im zivilen oder sakralen Bereich tätigen Bürger wurde mit demselben Begriff misthös (,, Lohn",

»Sold"), bezeichnet. Die Zahlung erfolgte tageweise und wurde nur für die wirklich ausgeübte Tätigkeit geleistet: Ein Ratsherr, der bei einer Sitzung nicht anwesend war, empfing keinen Sold und der Richter konnte erst unmittelbar vor der Abstimmung eine Diäten-Marke (sÿmbolon) entgegennehmen, die er dann nach der Sitzung einlóste. Auch ein Beamter ist nur für die Zeit seiner Aktivitát bezahlt worden; die Archonten waren wohl die einzigen, die jeden Tag des

Jahres, und die Prytanen die einzigen, die jeden Tag ihrer 35- bzw. 36tágigen Amtsperiode Sold und also eine Art Jahres- bzw. Monatsgehalt erhielten. Nie-

mand durfte doppelten Lohn, z. B. gleichzeitig als Richter und Ratsherr, annehmen. Den Tagessatz bekam der Berechtigte ohne Rücksicht auf seine Vermógensverhältnisse. Die Einführung der Entlohnung ging von den besonderen Táugkeitsbereichen (dem Richten, Raten, Verwalten in den Gerichten, im Rat

und als Beamter usw.) aus. Im folgenden sollen zunächst die Zahlungen für die

einzelnen Bereiche vorgestellt, darauf der Gesamtumfang der „Diäten“, wie sie heute nach moderner Gewohnheit auch genannt werden, erórtert und abschlieRend die Kritik an ihnen gewürdigt werden.

Der Soldatensold ist uns erst für die zweite Hälfte des 5. Jahrhunderts genauer bekannt. Er wurde seit der Mitte des Jahrhunderts allen im Feld und auf

der Flotte dienenden Bürgern ausgezahlt und betrug im späten 5. und im 4. Jahrhundert vier Obolen (einschließlich Verpflegungsgeld), selten mehr; der Ruderer erhielt drei Obolen, gelegentlich auch das Doppelte. Der Betrag ent-

sprach dem Tageslohn eines Handarbeiters, und wenn das Soldatendasein auch als , Vierobolenleben“ bezeichnet wird, äußert sich darin ein Urteil über die

schlechte Bezahlung einer Tátigkeit (spáter auch Beruf), die einen Mann über

282

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

längere Zeit unter nicht nur gefährlichen, sondern auch ärmlichen Bedingungen

vom bürgerlichen Leben fernhielt. Im 4. Jahrhundert ist die Bezahlung teils schlechter gewesen. Man hat dabei noch zu berücksichtigen, daß der Soldat mit dem Geld nicht nur sein Leben fristen mußte, sondern u.U. auch eine Familie zu

ernähren hatte. Ein besserer Sold aber war wegen der großen Summe, welche die Stadt selbst bei dieser geringen Entlohnung für einen Feldzug auszugeben hatte, nicht môglich. Der Richtersold (Heliastensold) galt als Kernstück des gesamten Diätensy-

stems und folglich auch der Demokratie überhaupt. Perikles hat ihn eingeführt. Nach seiner Beseitigung durch die Oligarchen im Jahre 411 ıst er nach deren Sturz wahrscheinlich zunächst einige Jahre als Diobelie (zu ihr s.u.) und erst

nach 403 in alter Weise weitergezahlt worden. Er betrug anfangs zwei Obolen, wurde von Kleon 425 auf drei Obolen erhöht, was dem Unterhalt einer Kleinfamilie entsprach, und in dieser Höhe bis zum Ende der Demokratie im Jahre 322

beibehalten.

Über die den Ratsherren und Beamten geleisteten Zahlungen sind wir nur lückenhaft unterrichtet. Die Ratsherren haben wohl zugleich mit den Richtern, also bald nach 462/61, Sold erhalten. Er war hóher als der der Richter,

nàmlich fünf Obolen; dazu kam für die Mitglieder des gescháftsführenden Ausschusses des Rates, die Prytanen, noch ein Obol an Verpflegungsgeld hinzu,

weil sie sich den ganzen Tag im Ratsgebäude zur Verfügung halten mußten. Unsere Kenntnisse über den Beamtensold sind so unzureichend, daß manche

ihn als eine generelle Einrichtung abstreiten. Das ist aber kaum richtig. Mit Sicherheit sind jedenfalls, neben einigen wenigen kleineren Beamten und Priestern, die Archonten entlohnt worden; sie bekamen sogar vier Obolen, doch hatten sie von diesem Geld zwei Hilfsbeamte, einen Herold und einen Flóten-

bläser, zu bekóstigen. Ferner erhielten auch die Gesandten Sold.

Für den Besuch der Volksversammlungen sind erst spät, nämlich einige Jahre nach der Wiederherstellung der Demokratie im Jahre 403, Zahlungen geleistet worden

(ekklésiastikón, ,,Ekklesiastensold").

In der modernen

For-

schung gilt die Einführung dieser für die Stadt nicht ganz billigen Diáten bald nach dem außenpolitischen Zusammenbruch als Beweis dafür, daß die Demo-

kratie von den Seebundzahlungen unabhängig und also finanziell selbständig

war. Als Grund für die Einführung des Ekklesiastensoldes nennt Aristoteles die schwachen Besucherzahlen. In der Tat dürfte nach dem unglücklichen Ausgang des Peloponnesischen Krieges und den inneren Spannungen, die ihm folgten, das Interesse an Politik bei vielen Athenern erlahmt und es schwer geworden sein, insbesondere für die Abstimmungen, die ein Quorum von 6 000 Stimmen erforderten, eine beschlußfähige Versammlung zusammenzubringen. Zunächst

wurde ein Obol gezahlt, dann, als diese Summe nicht den gewünschten Erfolg brachte, wurden zwei und schließlich (wahrscheinlich 395/94) drei Obolen gegeben; in aristotelischer Zeit wurden sogar sechs Obolen, also eine Drachme,

für die ordentlichen Versammlungen einer jeden Prytanie (ekklésíai kyria:) sogar neun Obolen gezahlt. Wegen der Hóhe der für den Ekklesiastensold erforderli-

chen Mittel wurde für jede Versammlung nur eine bestimmte Summe, wohl derjenige Betrag, der für das Quorum von 6 000 Stimmen ausreichte, ausgewor-

VII. Sicherung der demokratischen Idee

283

fen; wer zu spät kam, erhielt keine Diäten-Marke mehr und mußte, sofern er

dann noch Lust am Zuhören hatte, seine bürgerliche Aktivität gratis einsetzen. Wenn, wie anzunehmen ist, die Einführung und folgende Erhöhung des Ekklesiastikon auf einen lauen Besuch der Volksversammlungen zurückzuführen ist, legt das die Annahme eines schwächer werdenden Interesses zumindest von Teilen der Bürger nahe. Die Erhöhung mag aber teils auch in dem im 4. Jahrhundert fühlbar werdenden Wertverlust des Geldes begründet gewesen sein.

Die Einführung des Soldes für den Besuch von Festveranstaltungen (tbeórikón, „Schaugeld‘) wird ebenfalls Perikles zugeschrieben, dürfte hingegen wohl erst zu Beginn oder noch wahrscheinlicher sogar erst in der Mitte des

4. Jahrhunderts eingeführt worden sein. Es bleibt dabei unklar, ob sein Zweck stärker in der Versorgung der ärmeren Bevölkerung oder in dem Wunsch gelegen hat, allen Athenern den Besuch der zentralen Theaterveranstaltungen, für

die jedenfalls in der Mitte des 4. Jahrhunderts ein Eintrittsgeld erhoben wurde, zu ermóglichen. Der Sold betrug zwei Obolen für einen Tag, das sind eine

Drachme allein für die dreitägigen Tragódienaufführungen der Dionysien, sofern auch für die Panathenäen gezahlt wurde, dieselbe Summe noch einmal;

zumindest zeitweise scheinen sogar jährlich pro Person mindestens fünf Drachmen gezahlt worden zu sein. Auch wenn das Geld nur die bedürftigen Bürger erhalten haben sollten, belastete es die Staatskasse nach dem endgültigen Zusammenbruch der athenischen Seebundspolitik in der Mitte des 4. Jahrhunderts so stark, daß man zur Finanzierung des Theorikon eine besondere Behörde

schuf und gesetzlich festlegte, daf alle Überschüsse, sofern sie nicht für militärische Zwecke verwandt werden mußten, dem Theorikon zugute kommen sollten. Es sieht so aus, als ob das Theorikon aus einer Notsituation heraus entstand

und seine Zahlung sich zu einem Anspruch entwickelt hat, in dem soziale und politische Motive unentwirrbar ineinander verschlungen waren. Nicht alle Gelder, die in die Kasse des Theorikon flossen, wurden als Tagegeld an die Bürger ausgezahlt. Es wurden auch ôffentliche Arbeiten und in Kriegszeiten Militärausgaben daraus bestritten. Der zentrale Aspekt der Kasse dürfte indessen jedenfalls ursprünglich in der Versorgung der Bürger gelegen haben und, im ganzen gesehen, auch durchgehalten worden sein. Der strenge Bezug des Theorikon auf den ármeren, gegebenenfalls unterstützungsbedürftigen Teil der Bürgerschaft gab ihm einen besonders deutlichen demokratischen Hintergrund,

wie denn der einflußreiche Redner Demades, der sich nach der Schlacht von Chaironeia zu einem Makedonenfreund und dann zum Kritiker der Demokratie mauserte, das Theorikon spóttisch ,,den Leim der Demokratie" nannte (Plut.Mor. 1011 B). Es ist nicht leicht, von den genannten Zahlungen, insbesondere vom Richtersold, die sogenannte Diobelie, also den Zwei-Obolen-Sold, zu scheiden. Sie

wurde nachweislich von dem einflußreichen Demagogen Kleophon nach dem Sturz der Oligarchie 410 eingeführt und sollte jedem Athener zukommen, der

nicht gerade Soldatenlóhnung erhielt; die Zahlungen sind bis 406/05 nachweisbar. Sie wäre danach eine Art Staatsrente für alle Athener gewesen, die ihnen in der Not dieser Jahre, als die Spartaner das offene Land in Attika beherrschten,

den Kauf von Lebensmitteln auf dem städtischen Markt, der über See versorgt

284

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

wurde, ermôglichte. Wahrscheinlich haben jene Athener, die als Richter, Ratsherr oder Beamter Sold bezogen, die Diobelie nicht erhalten, und es gingen demnach zumindest alle Diäten, die das Minimum von drei Obolen betrugen, in

der Diobelie auf. Ist das richtig, wäre die Diobelie eine pauschale Diätenzahlung in der Notzeit des ausgehenden Peloponnesischen Krieges gewesen, die einerseits die Diäten auf Grund der katastrophalen Finanzsituation der Zeit herabgesetzt, andererseits den Ärmsten und unter ihnen insbesondere den sich inner-

halb der Mauern drängenden Bürgern aus den von den Spartanern verwüsteten Gebieten Attikas, die ohne jedes Einkommen waren, ein Existenzminimum

gesichert hätte. Über die Gesamthöhe der Aufwendungen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für den Gesamthaushalt der Demokratie lassen unsere Quellen keine völlig gesicherten Erkenntnisse zu; doch ist es noch möglıch, den ungefähren Rahmen zu bestimmen, in dem sich die Zahlen bewegten. Zunächst ist

festzuhalten, daß die Neigung zur Erhöhung der Zahlungen und zur Erweiterung des gesamten Zahlungssystems - wenn man von den Perioden politischen Umsturzes oder vorübergehender Notlagen, in denen nichts oder weniger gezahlt wurde, absieht - im Laufe der Zeit zunahm: Der Richtersold z. B. wurde

erhöht, für den Besuch von Volksversammlungen eine Besoldung neu eingeführt und erhöht sowie die für das Theorikon benötigten Geldmittel besonders abgesichert. Die Erhöhung der Tagessätze und Erweiterungen des Diätensystems scheinen dabei, wie gesagt, ohne Rücksicht auf die außenpolitische Situation erfolgt und die Demokratie also auf dem finanzpolitischen Sektor von auswärtigen Tributen unabhängig gewesen zu sein. Da Athen im 4. Jahrhundert jedoch oft mit großen finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, wird man eher

sagen müssen, daß die Athener den Kosten für die Soldzahlungen eine Priorität gegenüber anderen Ausgabeposten eingeräumt und sie trotz anderer unverzichtbarer Leistungen, wie z. B. für Heer und Flotte, auch in Zeiten großer außen litischer Schwäche an den Diäten festgehalten haben. Sie sind dabei auch wohl

recht und schlecht über die Runden gekommen, dies allerdings nach dem Bundesgenossenkrieg von 357-355, der dem Zweiten Seebund den Todesstoß versetzte, um den Preis der Errichtung außerordentlicher, die Idee der Demokratie gefährdender Finanzämter (s.o. S. 257f.).

Die absoluten Summen der für die Soldzahlungen aufgewendeten Gelder sind schwer zu bestimmen. Für die Richter sollen nach einer Angabe des Aristophanes (Wespen 661ff.) jährlich 150 Talente gezahlt worden sein. Aber hier hat Aristophanes einfach für sämtliche 6 000 potentiellen Richter 300 Verhandlungstage angesetzt, während weder an jedem Tag alle 6 000 gebraucht wurden noch an 300 Tagen im Jahr gerichtet worden ist. Die Hälfte dieser Summe ist schon ein hoher Ansatz. Dazu mögen für Rat und Beamte knapp 50 Talente gekommen sein, später für das Theorikon nach einer schon von Beeckh angestellten, aber eher überhöhten Berechnung weitere 30 bis 90 Talente. Die Lei-

stungen für den Besuch der Volksversammlungen sind schwer einzuschätzen; aber es sind wohl mindestens 40 Talente gewesen. Alles in allem macht das knapp 200 Talente bei Einnahmen der Stadt von 400 Talenten (ohne Tribute der

VII. Sicherung der demokratischen Idee

285

Bündner) in guten, von 130 Talenten in sehr schlechten Zeiten. Niemand wird selbst dann, wenn die Summe aller Soldleistungen erheblich niedriger anzusetzen ist, diesen Haushaltsposten geringschätzen. Er war ökonomisch äußerst bedenklich, aber politisch unverzichtbar.

Das politische Gewicht der verschiedenen Soldzahlungen war unterschiedlich hoch. Der Richtersold wird in allen Quellen als ein besonderes Charakteristikum der Demokratie angesehen, und der Eindruck, den die an den

meisten Tagen des Jahres zu den Gerichtssitzungen strómenden Athener hinterließen, hat dieses Urteil ohne Zweifel mitgeprägt. Der ganze Demos erscheint

Aristophanes wie ein einziger Richter, das Richten ein Fundament der demokratischen Idee, und in der Tat tritt darin die Vorstellung von der Regierung und der Herrschaft aller über alle am deutlichsten hervor. Auch der Ratsherrensold,

der einem breiten Kreis von Bürgern die allgemeine Aufsicht über die Beamten und die Regie über die Versammlungen des Volkes sicherte, hatte deswegen großes Gewicht, weil durch ihn der verbleibende und nicht weiter auflósbare

Teil der Regierungsgewalt in der Hand aller blieb. Das Schaugeld scheint demgegenüber stárker mit dem Gedanken der Versorgung von Unbemittelten verbunden, jedenfalls seine politische Rolle nicht so deutlich gewesen zu sein.

Ganz unabhängig von der politischen Bedeutung der Soldzahlungen war indessen deren Gewicht für den einzelnen Bürger. Für ihn ging es nicht nur um die Demonstration demokratischer Gesinnung, sondern auch darum, was der Sold ihm brachte und in welchem Umfang ihn der mit ihm verbundene Dienst belastete. Denn die politische Tátigkeit war freiwillig und darum die Bevorzugung dieser und der Verzicht auf jene Aktivitát oft von anderen als politischen Interessen bestimmt. Die richterliche Tätigkeit hatte nun ohne Zweifel die

größte Anziehungskraft, und dies aus mehreren Gründen. Sie konnte beliebig oft ausüben, bedeutete darum für Personen, die keine Arbeit hatten aus Altersgründen von ihr freigestellt waren, einen nicht geringen Gewinn vermochte sie vielleicht über die gróbste Not hinwegzuhelfen. Der Dienst

man oder und war

ferner nicht schwer, verschaffte darüber hinaus Ansehen und vermittelte ein

Gefühl von Macht. Wenn uns Arıstophanes in den „Wespen“ glauben machen will, daß das ganze Volk fast jeden Tag zu Gericht sitzt, geht das gewiß nicht völlig an der Wahrheit vorbei. Schließlich hatte man als Richter auch die Freiheit, an einem Tag zu kommen,

an einem anderen fernzubleiben; denn die

Prozesse wurden alle an demselben Tag abgeschlossen, an dem sie begonnen hatten. Das Richten war eine Tätigkeit für einen einzelnen Tag, und so konnte jeder sie nach Belieben in seine persönlichen Geschäfte eingliedern. Der Rats-

herr hatte es demgegenüber schwerer. Zumal wenn er dem geschäftsführenden Ausschuß (Prytanie) angehörte, war er den ganzen Tag an das Rathaus gebunden, das er nicht verlassen durfte, und auch in den Prytanien, in denen er nur ein

gewöhnlicher Ratsherr war, fanden viele Sitzungen statt und war die Verantwortung groß, so daß selbst der doppelte Lohn, den der Ratssitz einbrachte, für einen Handwerker oder Kaufmann keine Zugkraft haben mochte und sogar der Arbeitslose sich wohl gern nach einer Alternative umgesehen hat. Wenn der

Athener allein die Mitgliedschaft im Rat zweimal in seinem Leben innehaben durfte, ist diese Ausnahmeregelung nicht nur durch die große Zahl der in jedem

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Jahr benôtigten Ratsherren, sondern auch in der zôgernden Bewerbung für dieses Amt begründet. Der Ekklesiastensold muß wiederum eher wie der Richtersold beurteilt werden. Allerdings konnte man ıhn nicht so häufig beziehen wie diesen,

und man mußte für ihn einen großen Teil des Tages in der prallen Sonne auf der Pnyx sitzen. Auch ein Beamter war u.U. sehr beschäftigt; jedenfalls war seine Anwesenheit von der jeweiligen Aufgabe abhängig, die nicht immer genau im voraus zu berechnen war, die oft ständige Aufmerksamkeit verlangte und den Amtsinhaber auch dann, wenn nicht jeden Tag etwas zu tun war, das ganze Jahr hindurch ın Atem halten konnte. So war die politisch wichtigste Soldzahlung, der Richtersold, gleichzeitig auch die von allen begehrteste, und in dieser Hinsicht deckten sich Idee und Wirklichkeit der Demokratie. Nicht nur wegen der Höhe der Summen, sondern auch deswegen, weil die

Soldzahlungen einen großen Teil der Athener zum Kostgänger der Stadt machten, ist das gesamte Diätensystem schon im 5. Jahrhundert der heftigsten Kritik ausgesetzt gewesen. Man hat dabei zwei Gruppen von Kritikern zu unter-

scheiden: Die einen sind die politischen Gegner der Demokratie, nämlich die Oligarchen und ihre Sympathisanten. Sie haben den Politikern, welche die Diäten einführten oder sich für sie einsetzten, unlautere Motive unterstellt; so

soll Perikles sich durch sie ein Gegengewicht gegen die Freigebigkeit seines

politischen Gegners Kimon, der zu den reichsten Athenern gehörte, habe schaffen wollen. Diese Unterstellung entlarvt sich ebenso als politische Polemik wie

die von Xenophon dem Theramenes in den Mund gelegte Behauptung, daß die Massen für den Sold ihre politische Meinung an die Demokraten verkauften. Wichtiger als die oligarchische Propaganda sind die Äußerungen von Komö-

diendichtern, vor allem des Aristophanes, die vor dem demokratisch gesonnenen Publikum sprechen. Ihre kritischen Bemerkungen erfolgen auf dem Boden der Demokratie und betreffen entweder Auswüchse oder wollen ohne grundsätzliche Ablehnung des Prinzips dessen Konsequenzen karikieren. Diese Kriti-

ker irritiert offensichtlich einmal die große Zahl der für politische Tätigkeit bezahlten Athener, zum anderen, und das ist zumindest ebenso wichtig, die von der Sache her nicht immer durchsichtige Motivation, um derentwillen der (be-

zahlte) Dienst so gern auf sich genommen wird: Der ganze Demos, wird übertreibend gesagt, ist als Richter für drei Obolen pro Tag tätig; die Athener sind darum ein „Dreiobolenvolk“ und tagaus, tagein damit beschäftigt, diesen Lohn

aufzulesen. Aber tun sie dies um der hinter der Diätenzahlung stehenden Idee, daß alle nicht nur politische Rechte haben, sondern sie auch ausüben können sollen, oder um des Geldes willen? Wenn man das erstere anzunehmen bereit ist, welchen Stellenwert hat dann beı der Masse der Athener das Geld, das als Motiv

für die politische Tätigkeit ja unter allen Umständen mitspielt? Das Mißtrauen, daß sich die Gewichte mit der Zeit verschieben, schließlich sogar das Geld das größere Gewicht haben könnte, ist immer da und hat die kritischen Äußerungen auch von Demokraten bestimmt. Hinter ıhnen steht der angstvolle Zweifel, ob der Sold seinen demokratischen Sinn erfüllt oder nicht vielleicht ein Gegner

der Demokratie wie Platon recht hat, der das Tagegeld für den Besuch der Volksversammlungen spôttisch den Honig nennt, der das Volk sich versammeln läßt (Pol. 565a).

VII. Die Grundlagen des demokratischen Gedankens 1. Gleichheit Das Schlüsselwort der athenischen Demokratie ist die „Gleichheit“. Sıe hat, je nachdem, von wo sie betrachtet wird, verschiedene Aspekte. Sie tritt auf als

politische Gleichberechtigung, als Redefreiheit, als Mehrheitswille, als Negation einer starken Regierung und in noch manchem anderen Gewand. Im folgenden werden ihre einzelnen Erscheinungsweisen getrennt abgehandelt. Man hat sich dabei aber stets zu vergegenwärtigen, daß die verschiedenen Ausdrucksformen alle Ausfluß desselben Grundgedankens sind. a) Gleichheit als politische Gleichberechtigung Die Demokratie ist nicht das Produkt einer geistigen Auseinandersetzung um die beste Verfassung; erst als sie da war, hat man versucht, ihre Besonderheit

durch abstraktere Überlegungen zu bestimmen. Das innere Wesen und die politische Bedeutung der demokratischen Verfassung ist gar erst im 4. Jahrhundert durch die große Philosophie diskutiert und in einer umfassenden Theorie bewertet worden. Da dem modernen Staat eine lange Diskussion um die angemessene Form menschlichen Zusammenlebens, an der sich die bedeutendsten

Geister des 17. und 18. Jahrhunderts beteiligt haben, vorausgegangen ist, kön-

nen wir das heute schwer begreifen; aber es ist nichtsdestoweniger durch die Entstehungsgeschichte der athenischen Demokratie klar belegt (s.o. S. 47ff.). Nun hat es auch in Athen schon im 6. Jahrhundert gewiß nicht an Überlegungen gefehlt, wie man die gegebenen politischen Verhältnisse bessern könnte. Aber dabei war es doch nicht darum gegangen, zu der gegebenen Ordnung eine Alternative zu finden und also die Tradition umzustürzen, sondern darum, die

durch aristokratischen Übermut und tyrannische Willkür in Unordnung geratene Welt wieder ins Lot zu bringen. Das Besondere an diesem Akt der Neuordnung lag darum nicht in dem Wunsch, die politische Ordnung ihrer Qualität nach zu ändern, sondern darin, daß an ihr eine gegenüber der Adelszeit viel

breitere Schicht der attischen Bevölkerung beteiligt werden sollte: Seit dem Beginn des 6. Jahrhunderts waren die grundbesitzenden Bauern als Hopliten zu

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

politischem Ansehen und zu Selbstbewußtsein gekommen, und in den Perserkriegen, in denen nicht nur die Bauern, sondern durch den Ruderdienst auf den

Kriegsschiffen auch die ármeren Athener große militärische Leistungen vollbracht hatten, wurde bei der engen Verflechtung von Waffenfähigkeit und politischem Recht der Anspruch nunmehr aller in Attika ansässigen Menschen auf aktive Teilhabe am politischen Leben begründet. Der Widerstand gegen die adlıgen Geschlechter und gegen die Tyrannıs sowie die im Kriege den nichtadligen Athenern abverlangten Leistungen hatten die Frage nach der Erweiterung der in der Politik Aktiven auf alle Bürger aufgeworfen und die Diskussion um die innere Ordnung in Bewegung gebracht. Ideologen und Weltverbesserer hatten ın dieser Welt keinen Platz. Wer sich darum heute Gedanken darüber machen will, was denn die neue Ordnung, die als eine neue, der traditionellen

Ordnung gegenübertretende in Athen erst sehr allmählich bewußt wurde, in den Augen der Athener war und was sie von den bis dahin bekannten Staatsformen unterschied, kann nicht von einer antiken Theorie-Diskussion ausgehen,

die es eben nicht gab, sondern muß sich zunächst an die Äußerungen athenischer Politiker, Historiker und Literaten halten, die in die Frühzeit der Demo-

kratie gehören, und dann zusehen, ob die in ihnen ausgesprochenen Gedanken bis zum Ende der Demokratie, also bis auf die Zeit der makedonischen Vorherrschaft am Ende des 4. Jahrhunderts, durchgehalten worden sind, oder ob sie sich

vielleicht auch gewandelt haben.

Alle frühen Versuche der Athener, die demokratische Verfassung von allgemeineren Gesichtspunkten her zu bestimmen, stellen zwei Kernpunkte in den Mittelpunkt. Zum einen sprechen sıe davon, daß ın der Demokratie bzw. Isonomie, wie sie Herodot nennt, die Menge, die Vielen oder die Masse (démos,

pléthos, pollof) herrsche. Der Mengenbegriff wird dabei als große Zahl, also rein quantitativ verstanden, wie denn nicht nur Aristoteles, sondern auch etwa Lysias (20,13) und viele andere als das die Demokratie konstituierende Prinzip die

Zahl nennen. Wir spüren zunächst noch keine die Herrschaft der Masse legitimierenden

Gedanken

(dazu s.u. S. 298ff.). Es wird lediglich der Tatbestand

selbst hingestellt, wie es Demosthenes in seiner Rede gegen den reichen Meidias (21,143) tut, wenn er sagt, daf$ in Athen weder Herkunft noch Reichtum noch

Einfluß das Volk (die Menge) dahinbringen, Übermut zu ertragen, oder, wie Herodot, wenn er sagt, daß die Legitimation in dem Begriff der Masse selbst liegt: „In der Masse liegt das Ganze" (sc. des Gemeinwesens, 3,80,6). Der andere

Gedanke, der uns bereits in allen frühen Äußerungen zur Demokratie begegnet,

ist der der Gleichheit der Bürger. Der Begriff tritt auf als „Gleichverteilung“ (isonomia) und steht als solcher für die neue Ordnung als ganze, oder als „Gleichheit“ (isótés) bzw. „gleich“ (ison). Die Gleichheit bezieht sich auf die Menge, die herrscht, und an ihr haben Arme und Reiche ohne Unterschied des Standes und der Bildung Anteil; dies letztere ist den Sprechern so wichtig, daß sie es, wie z. B. Thukydides (2,37,1f.) und Euripides (Hiket. 406ff.), aber ebenso

die Kritiker der Demokratie, wie der „Alte Oligarch" in seinem Pamphlet aus der Frühphase des Peloponnesischen Krieges (1,4f.), besonders hervorheben. Die Gleichheit, an der alle Athener teilhaben, wird von den antiken Autoren übereinstimmend als die Grundidee der Demokratie betrachtet, und sie wird schließ-

VIII. Die Grundlagen des demokratischen Gedankens

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lich als ein so unverlierbarer Teil derselben angesehen, daß man sie ohne tiefere naturrechtliche Theorie einfach als dem Bürger von Natur aus mitgegeben hinstellt. Ist also der Personenkreis, auf den sich die Gleichheit bezieht, klar, bleibt noch zu bestimmen, was sie ınhaltlıch bedeutet: In welcher Weise bzw. in

welchen Bereichen menschlichen Zusammenlebens sind die Athener gleich? Schon der Umstand, daß die Entstehung der athenischen Demokratie von

keiner theoretischen Diskussion begleitet worden ist, gibt einen Hinweis darauf, daß der hier erscheinende Gleichheitsbegriff nicht vom Naturrecht geprägt

worden ist. Auch als später manche Literaten und Philosophen ihn so verstehen konnten, hat er doch als solcher in die politische Diskussion niemals Eingang gefunden. Das ist wohl nicht nur deswegen nicht geschehen, weil sonst der Status der in Attika ansässigen Fremden und der Sklaven hätte berührt werden müssen, sondern vor allem, weil der politische Ausgangspunkt ein völlig ande-

rer gewesen ist. Die isonome Gesellschaft wurde geboren durch das Erlebnis militärischer Leistung, die anfangs ım Hoplitenheer, später auch durch den

Ruderdienst auf der rigorosen Gleichheit aller beruhte: Der Dienst des Hopliten in der Phalanx ebenso wie der Ruderdienst auf der Flotte verlangten von allen eine völlig gleichartige Tätigkeit und damit die rigorose Gleichheit der militärischen Stellung aller in den militärischen Formationen Dienenden. Und das aus

diesem Dienst resultierende Selbstbewußtsein richtete sich gegen das Unrecht der herrschenden Adligen, die vor allem in der Rechtsprechung ihre Vorrang-

stellung mißbrauchten, und gegen den Tyrannen, der die die Adlıgen aus dem politischen Raum verdrängt hatte. Gleichheit mußte sich auf diesen Hintergrund beziehen, zwei Kernpunkte: Zum einen sollte das Recht für alle

Hopliten ebenso wie Die Forderung nach und sie hatte folglich in gleicher Weise

gelten. Zwar hatte es in der Adelszeit und unter den Tyrannen kein Klassenrecht im modernen Sinne gegeben; das Recht hatte auch schon damals für alle gleich

gegolten. Aber es war doch faktisch im Interesse einer Gruppe, nämlich der Adligen, genutzt, es waren „schiefe“ Urteile gefällt und die nichtadligen Athe-

ner also durch die mißbräuchliche Anwendung des Rechts unterdrückt worden.

Wir erfahren aus unseren frühen Quellen die Empörung der Bauern über das ihnen angetane Unrecht, und auch noch später, als die Gesellschaft der Gleichen

sich politisch organisiert hatte, erhob man die aus diesem Unrecht geborene Forderung nach einem gleichen Recht für alle, das als ein Stück der neuen

politischen Ordnung angesehen wurde. Herodot ebenso wie Euripides, und letzterer in besonders klarer Weise, stellen die Gesetze (nömoı) als einen allen

gemeinsamen Besitz vor, dem gegenüber der Tyrann den nómos in seiner Hand hält, als wáre er sein Eigentum. Aber die Gleichheit vor dem Gesetz ist doch nur eine, und nicht einmal die

der demokratischen Idee eigentümliche Seite. Sie ist nur eine Voraussetzung der neuen Ordnung; sie charakterisiert aber diese selbst in keiner Weise. Gleichheit als das die Demokratie konstituierende Prinzip meint vielmehr die Beteiligung aller am óffentlichen Leben, also die politische Gleichberechtigung. Alle Überlegungen zu dem, was die Demokratie ausmacht, führen zu diesem Ziel: In der Demokratie geht es darum, daß alle politischen Entscheidungen gemeinsam gefaßt werden. Dies wird aber nicht abstrakt in einem „Recht auf die

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Gesetzgebung“ oder „Recht auf BeschluRfassung“, sondern als eine Teilhabe am

Beraten und Reden gedacht. Es geht um die Mitsprache ın Rat und Volksversammlung, um das Mitreden-Können und erst ın zweiter Linie, als Konsequenz

der Mitsprache, auch um den Beschluß des so Besprochenen. Dies zeigt erneut, wie wenig Theorie, die das Prinzip in konkrete Rechte gegossen hätte, hinter diesem Aufbruch zur Demokratie steckt und in welchem Umfang vielmehr die

traditionelle Denkweise der aristokratischen Vergangenheit dahintersteht. Auch in der Adelszeit war es darum gegangen, wer im Rate mitreden durfte; der Beschluß, über den ohne Zweifel meist gar nicht formell abgestimmt worden war, ergab sich aus der Diskussion, durch die die Mehrheitsverhältnisse auf Grund vor allem der Stellungnahme der angesehensten Männer auch ohne

Abstimmung klar waren. So ist die Freiheit der Rede in der Versammlung, die iségoria, das Kernstück der Demokratie, und sie ist es immer geblieben. Das Wichtigste für die Stadt ist, sagt Eupolis, ein begabter Komödiendichter und Altersgenosse des Aristophanes, im Jahre 424, die Isegorie (fr. 291), und Demo-

kratie heißt sprechen zu können, wenn und wann einer will. Als Komplement zu dem freien Rederecht für jedermann wird von Eurip. Hiket. 440f. ausdrücklich der Gedanke gestellt, daß derjenige, der nicht reden will, mit demselben Recht schweigen darf: Es gibt keinen Zwang zur Rede, und das heißt, allgemeiner gesagt: Niemand ist zu politischer Aktivität verpflichtet. In der Tat spüren wir bei Gelegenheit durchaus einen sozialen Druck, sich - z. B. für ein Amt - zu bewerben oder kónnen ihn doch aus der allgemeinen Hochschátzung der politischen Tätigkeit und aus dem tatsächlichen politischen Verhalten rekonstruieren, doch vermógen wir - abgesehen natürlich vom Knegsdienst und von der Steuerpflicht - auf keinem Gebiet des öffentlichen Lebens eine Verpflichtung zur Übernahme öffentlicher Aufgaben zu erkennen: Hinter dem Gleichheitsgedanken stand in Athen kein totalitárer Geist.

Bevor ich die Isegorie näher bestimme sowie die sich an sie anlehnenden politischen Ideen und deren weitere Entwicklung erörtere, sei zum besseren Verständnis der athenischen Situation die Gleichheitsdiskussion in der Neuzeit als Kontrast herangezogen. Obwohl die theoretische Durchdringung der Materie in der Frühen Neuzeit, insbesondere die naturrechtliche Begründung der Gleichheitsidee, einen Vergleich erschwert, können die jeweils verschiedenen

inhaltlichen Bestimmungen doch zu einer Verdeutlichung der athenischen Entwicklung beitragen. Da ist zunächst festzuhalten, daß die Gleichheit als „Gleichheit vor dem Gesetz“ auch ın der frühneuzeitlichen Diskussion eine

bedeutende Rolle spielte, und sie stand etwa auch in der Frühphase der Franzósischen Revolution im Zentrum der politischen Forderungen. Desgleichen hat in der Neuzeit die politische Gleichberechtigung im Sinne des athenischen son ein Kernstück der politischen Theorie gebildet, und sie ist ebenfalls, um bei dem

Beispiel der Franzósischen Revolution zu bleiben, schon in der ersten Stunde der Revolution gefordert und in einer spáteren Phase (1791-1793) zugunsten der

breiten Schichten der Kleinbürger erweitert worden. Aber der naturrechtliche Ansatz gab der Entwicklung doch eine ganz andere Stoßrichtung. Die Vorstel-

lung, daf$ alle Menschen untereinander gleichen Wert und gleiches Recht haben und die Verwirklichung des Gleichheitsprinzips lediglich durch die jeweils

VIII. Die Grundlagen des demokratischen Gedankens

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besonderen historischen Umstánde, in denen die Menschen leben, gehemmt

würde (und diese je nach dem Standpunkt des Sprechers darum berücksichtigt oder geändert werden müßten), zwang alle Diskussion um die Gleichheit zu einer Auseinandersetzung mit den gegebenen Verhältnissen, die denen der

Theorie eben nicht entsprachen, und zu der Forderung nach einer Korrektur dieser Verhältnisse im Sinne der Theorie. Bei dieser Sachlage mußte die Besserung der sozialen Lage im Sinne des Gleichheitssatzes in den Mittelpunkt der Gedanken treten und der Gleichheitsgedanke die Funktion einer sozialen Integration der Ungleichen in die Gesellschaft erhalten. Die Gleichheitsforderung wurde damit zu einem kritischen Begriff, an dem die Staaten gemessen und durch den die bestehenden Legitimationsvorstellungen bestritten wurden. Am Ende konnte die Gleichwertigkeit der Menschen auch zu der Forderung nach gleichem Besitz bzw. nach Kollektiveigentum führen, weil anders die so inhaltlich radikalisierte Gleichheitsforderung nicht erreicht werden konnte (Babeuf).

Auch den Athenern der klassischen Zeit war die Vorstellung von einer natürlichen Gleichheit aller Menschen selbstverständlich vertraut, und man konnte sie etwa an dem Verhältnis des Freien zum Sklaven demonstrieren (s.o. S. 91),

aber ebenso auf politische Verhältnisse übertragen (s.u. S. 304ff.). Auch außerhalb abstrakt-theoretischer Konstruktionen vermochte Aristoteles in seiner »Politik", die ja von realen staatlichen Gebilden ausgeht, die Gleichheit der

Demokratie „mit einem gewissen Recht“ allein wegen der freien Geburt als eine „vollständige“ (baplós, vgl. 2. B. Pol. 1301a28ff.) anzusehen; aber bezeichnender-

weise hat er mit dieser Formulierung der demokratischen Gleichheit keinen über das politische Recht hinausgehenden Inhalt geben wollen. Die politische Praxis - und die war auch für die „Politik“ des Aristoteles der Maßstab - ging

bei den Griechen eben nicht von einer theoretischen Diskussion etwa über die natürliche Gleichheit der Menschen aus. Ihr fehlte darum gerade das, woran die

moderne Entwicklung der Gleichheitsdiskussion sich entzündet und fortentwickelt hat: Die sozial-emanzipatorische Komponente der Gleichheitsvorstellung. Es geht nicht um den Aufbruch zu neuen Ufern, nicht um die Beseitigung der tradierten Ordnungsvorstellungen zugunsten einer neuen Gesellschaft. Der Gegner der zur politischen Mitbestimmung aufstrebenden Schicht, zunächst der zur Ausrüstung als Schwerbewaffnete Fáhigen, dann aller freien Athener,

soll zwar entmachtet werden - der Tyrann wird vertrieben, und die Háupter der aristokratischen Familien verlieren ihren bestimmenden

Einfluß -; aber die

politischen Ziele und die moralische Wertwelt der einst herrschenden Personen werden in diesem Prozeß der Umwandlung des politischen Kräftefeldes nicht mitzerstórt. Im Gegenteil wachsen die neuen Kräfte in die Vorstellungen der alten hinein, übernehmen und verteidigen sie, als ob sie die ihren wären. Das

Ethos der alten Zeit erfährt naturgemäß durch die Vermassung des politischen Raumes manche Veránderung oder Schwáchung; aber die Ideale ándern sich im

Prinzip nicht. Nicht wird die alte Ordnung zerstórt, sondern die Masse bemächtigt sich ihrer. Dies zeigt sich nicht nur in der Einstellung des Demokraten zur geistigen und moralischen Tradition sowie zu den allgemeinen Zielen der Politik, die keinen Bruch aufweisen, sondern ebenso in der ungebrochenen Wertschätzung der alten Familien, die auch im demokratischen Athen noch lange die

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

bevorzugten Wortführer blieben. Die Athener haben den Zusammenhang ihrer neuen politischen Ordnung mit der Vergangenheit nicht verstohlen oder gar

verschämt zu vertuschen gesucht, sondern ihn umgekehrt gerade betont und bewußt herausgestellt: Wie der Adlige sich durch die Nennung des Vaternamens (patronymikön) als Angehöriger eines alten Geschlechtes und somit als politisch Privilegierter vorstellte, taten es nun alle Athener durch die Hinzufügung ihres Wohnbezirks (démos) zu ihrem Namen (démotikón), und die Gruppenbezeichnungen und schmückenden Beiworte für die Adligen, wie „wohlgeboren“, „tüchtig“ und „edel“, bezog man nun auf alle Bürger, die ihren Pflichten or-

dentlich nachkamen. Auch wurde der Vollzug des Kultes des Zeus Herkeios und

des Apollon Patroos, der einst nur den aristokratischen Familien zugekommen war, nun allen Athenern offiziell auferlegt. Die neuen politischen Kräfte hatten die alte Welt nicht aufgehoben, sondern sie in sich aufgenommen. Der Übergang von der durch den Einfluß einzelner Familien gekennzeichneten Zeit zur Demokratie ist durch die Erweiterung des Kreises der politisch Berechtigten, nicht durch eine soziale Revolution gekennzeichnet. b) Freiheit der Rede (Isegorie) Von ganz Hellas sei die Freiheit des Redens in Athen am größten, läßt Platon, ganz gewiß kein Freund der Demokratie, Gorgias sagen (461e), und in den

»Fróschen" des Aristophanes (405 aufgeführt) prahlt Euripides mit seiner demokratischen Gesinnung, weil er in seinen Dramen Frauen, Männer, Alte und

Sklaven habe sprechen lassen (948ff.). Die Móglichkeit der freien Rede für alle Bürger (nicht natürlich für Frauen und Sklaven, die in dem Zitat aus den

„Fröschen“ lediglich übertreibend hinzugefügt sind) bedeutete den Athenern in der Tat das Kernstück der Demokratie. Denn die politische Gleichberechtigung erschien ihnen weniger als ein konkretes Recht auf etwas, etwa als Recht auf die Teilnahme an der Volksversammlung, denn als Mitwirkung am Beraten und Diskutieren. Das Recht auf Teilnahme an den demokratischen Institutionen und

den Absummungen wurde eher als selbstverstándliche Konsequenz der Redefreiheit, nicht umgekehrt als deren Voraussetzung verstanden. Das Reden in Rat und Versammlung galt als eine ungemein positiv bewertete Tátigkeit; sie gehórte zu den Grundelementen demokratischen Lebens: Das Wort muß der Tat voraus-

gehen; die Tat verlangt die Überlegung, Erórterung und Belehrung in der Versammlung. Thukydides läßt dies Perikles in seinem Preis auf die Demokratie betont herausstellen (2,40,2f.), und in diesem Sinne sagt Diodotos in seinem Rededuell mit Kleon, daß die Worte die Lehrer der Taten seien (3,42,2). Nicht die schweigende Zustimmung, sondern das Räsonieren war wichtig, und also

bezog sich der Isegorie-Begriff nicht allein auf das Reden in den institutionalisierten Versammlungen, wie in der Volksversammlung und im Rat, sondern

umfaßte alle Gelegenheiten politischer Diskussion, mochte es auf dem Marktplatz, in den Vereinen, auf den Sportplätzen oder wo auch immer sein, und es schloß ebenfalls die Aussagen der Dichter, Philosophen und Gelehrten ein. Die Komódiendichter durften ungestraft die Demokratie und deren herausragende Vertreter bis an die Grenze des Ertráglichen karikieren, und dies sogar in Zeiten

VIII. Die Grundlagen des demokratischen Gedankens

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schwerster äußerer und innerer Bedrängnis; Platon und Aristoteles konnten ihre Abneigung gegen die herrschende politische Ordnung offen aussprechen und ein Anhänger aristokratisch/oligarchischer Tradition ungestraft Pamphlete gegen die Demokratie herausbringen, wie uns eines in der ps.-xenophontischen Schrift vom Staat der Athener erhalten ist. Verglichen mit den Lebensformen aristokratischer Gesellschaften oder gar mit den starren Verhaltensnormen in Sparta, deren Wertvorstellungen den Geist an die Tradition banden und der Phantasie enge Grenzen setzten, erschien allen Besuchern Athens das dortige Leben von einzigartiger Liberalität geprágt zu sein. Insbesondere Intellektuelle und unter ihnen vor allem die kritischen Geister wußten dieses „Alles-sagen-

können“ (parrbésía von pan, alles, und rhésis, Sprechen), wie man die Redefreiheit bald auch zu nennen pflegte, wohl zu schátzen, und nicht von ungefáhr wurde Athen die zweite Heimat ungezählter Freigeister. Der Kyniker Diogenes

aus Sinope am Schwarzen Meer, der die Bedürfnislosigkeit für die Voraussetzung eines tugendhaften Lebens ansah, seine Lehre auch selbst in die Tat umsetzte und darum aus der Gesellschaft ausgestiegen war, nannte die Parrhesie das Schónste, was es unter Menschen gäbe, und er selbst, der sie wie kaum ein anderer in Anspruch nahm, hatte guten Grund, sie zu preisen. Für alle freizügig

denkenden Menschen mußte das demokratische Athen in der Tat die Geburts-

státte und die bleibende Heimstatt der freien Rede sein. Die Athener ertrugen sogar die Verspottung ihrer eigenen Verfassung, ja gelegentlich selbst Gottlosigkeiten und Obszónitáten.

Der Idee nach durfte jeder Bürger reden, der dies nur wünschte, und sagen, was er wollte; doch unterlag faktisch beides, der Personenkreis, der in der Öffentlichkeit sprach, und der Inhalt dessen, was gesagt wurde, gewissen Einschränkungen. Der Personenkreis ist, um zunächst von ihm zu sprechen, allerdıngs niemals ausdrücklich eingegrenzt worden: Zu Beginn jeder Volksver-

sammlung richtete der Herold an alle Athener die Aufforderung, sich zu Wort zu melden: „Wer will sprechen?“ (Arıstoph. Acharn. 45 und Thesmoph. 379,

vgl. Eurip. Hiket. 438f.). Viele hielt indessen nicht nur ihre Schüchternheit zurück, sondern auch ihre Unfähigkeit, die anstehende Sache klar zu beschrei-

ben und in sprachlich angemessener Form vorzutragen. Kann man diese Unzulänglichkeiten der menschlichen Natur, die zu allen Zeiten gelten, nur bedingt als Einschränkungen der Redefreiheit ansehen, so können die Dinge ganz an-

ders liegen, wenn auf Grund der ungleichen Fähigkeiten und auch wegen der Norwendigkeit, die Diskussion nicht durch ungeübte Redner über Gebühr hinzuziehen, dann nur noch die rhetorisch Begabten sprechen und mit zunehmender Verfeinerung der Ausbildung die Zahl der Sprecher immer kleiner wird. Das Problem war bereits im 5. Jahrhundert bewußt, und es ist Kleon, der biedere

Mann aus dem Volk bzw. der sich als solcher gab, der bei Thukydides als Kritiker dieser Verhältnisse auftritt. Wenn nämlich von vornherein nicht feststand, wer reden durfte, was einer Aufhebung der Isegorie gleichgekommen wäre, aber doch nach subjektiver Einschätzung aller klar war, wer dafür nicht in Frage kam, und wenn die als Redner Ungeeigneten die weitaus meisten Bürger waren, bestand die Gefahr, daß die Masse in Lethargie und Passivität

versank. Die große Anzahl der Versammlungen, die Trägheit der Masse und die

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Gewohnheit, seine Ansichten mit bestimmten Personen zu verbinden, mochten

in der Tat eine bisweilen nicht geringe Passıvität erzeugen, die von der Idee, die der Isegorie zugrunde lag, sehr abstach. Bei allen diesen mehr von der Natur als von dem Willen der Menschen abhängigen Einschränkungen ist die Möglichkeit der freien Rede doch zu keiner Zeit durch soziale oder ökonomische Bedingungen, unter denen die athenische Gesellschaft stand, gehemmt oder gestört worden. Mochten die meisten Armen mehr Hemmungen haben zu sprechen als die Reichen und Vornehmen, wurden die Athener doch nicht durch feste soziale,

wirtschaftliche oder politische Bindungen oder durch den Korpsgeist festgefügter Gruppen an der Ausübung der Isegorie gehindert. Ein Kaufmann hatte auf keinen Händlerstand Rücksicht zu nehmen, ein Offizier oder einfacher Soldat

war an keinen militárischen Comment gebunden, der ihn von den anderen Bürgern getrennt hätte. Es gab auch keine Priesterkaste oder Beamtenschaft, die besondere Interessen vertreten hätten. Beamte und Soldaten waren sie alle in gleicher Weise, alle opferten denselben Staatsgóttern und tolenerten darüber hinaus jegliche religiöse Richtung der Zeit. Die Bürger waren nicht in Gruppen, Verbánden und Konfessionen organisiert und voneinander abgeschottet. Es gab Reiche und Vornehme, und insbesondere die letzteren mochten in ihren Clubs

(Hetärien) ein gewisses Eigenleben führen. Aber sie stellten keine Interessen-

gruppe dar, waren auch nur bedingt eine Opposition, und am wenigsten bedeuteten sie eine Beschränkung der Redefreiheit; denn gerade gegen die Vornehmen und Reichen hatte man sich die Isegorie erkämpft und hielt sie ihnen gegenüber bewußt aufrecht. Schwerer mögen die inhaltlichen Einschränkungen der Isegorie wiegen. Das meiste, was hier genannt

werden

könnte, beeinträchtigte indessen die

Grundidee nicht oder nur in sehr geringem Maße. Die vielgenannte und ge-

scholtene Beschneidung der Redefreiheit der Komödiendichter, wohl 440/39 ausgesprochen, hat sich nicht lange gehalten, und sie ist das einzige Maulkorbgesetz, das wir kennen. Die Verbote, die allgemeinmenschliche Grundsätze oder

auch lediglich die Regeln des guten Geschmacks schützen wollten, wie z. B. das schon Solon zugeschriebene und später revidierte Gesetz, daß man Toten nichts Böses nachsagen und Lebende jedenfalls nicht an heiligen Orten, vor Gericht,

bei Behörden und festlichen Wettkämpfen schmähen dürfe, sind ebenfalls nicht als Begrenzungen der Redefreiheit aufzufassen. Wenn sich ferner das Volk im Laufe der Zeit eine ganze Reihe von Selbstbeschránkungen auferlegte, die dem

Schutz der bestehenden Ordnung dienten, ist dies ebenfalls nur bedingt als Einschränkung der Isegorie anzusehen. Hierher gehört z. B. das Verbot, Anträge auf Änderung oder Abschaffung der bestehenden politischen Ordnung, auf Erlaß von Staatsschulden, auf die anderweitige Verwendung bestimmter Gelder oder auf die Kündigung von Verträgen mit anderen Staaten zu stellen. Der Schutzcharakter und die Schutzwürdigkeit dieser Bestimmungen sind evi-

dent, ebenso deren Rechtfertigung. Die Redefreiheit durfte keinesfalls die innere und äußere Sicherheit der Stadt untergraben. In Athen waren diese Verbote zudem keine absoluten Barrieren. Wer gegen das Verbot Anträge einbringen

wollte, konnte vorher bei der Volksversammlung gefahrlos einen Antrag auf Straflosigkeit stellen, und wenn die allgemeine politische Lage nicht übermäßig

VIII. Die Grundlagen des demokratischen Gedankens

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gespannt war, konnte er es sogar riskieren, auch ohne die ausdrückliche Indemnıtät ein normwidriges Gesetz zu beantragen. Er setzte sich damit zwar der Gefahr aus, wegen Gesetzwidrigkeit belangt zu werden (s.o. 5. 180); aber wenn

sich kein Ankläger fand, ging die Sache eben durch, und wurde man wider Erwarten doch angeklagt, war nach der Gerichtspraxis in Athen eher ein Freispruch als eine Verurteilung zu erwarten. Der Redner Arıstophon rühmte sich, 75mal wegen eines gesetzwidrigen Antrages angeklagt und stets freigesprochen worden zu sein. Das Volk ließ seinen Willen offenbar auch durch von ıhm selbst gesetzte Normen nicht in Fesseln legen. Weder das Gesetz noch die ausdrücklichen Verbote, bestimmte Themen anzusprechen, bildeten eine unüberschreitbare Barriere für dıe Freiheit der Rede,

wenn auch deren Diskussion vielfach mit einem gewissen persönlichen, aber nicht immer unberechenbaren Risiko verbunden war. Die Rede war in Athen demnach wirklich frei. So sicher das nach den vorangehenden Überlegungen gesagt werden darf, will dies doch nicht so recht zu dem im Grunde konservati-

ven Geist der athenischen Demokratie passen, und es lassen sich auch einige Vorkommnisse anführen, die darauf verweisen können, daß das freie Reden und

Denken in manchen Bereichen des öffentlichen Lebens bei härtester Strafe ausgeschlossen war. Die Sicherheit der politischen Ordnung, haben wir gesehen, war ganz offensichtlich kein solch tabuisierter Bereich, ebenso nicht die Außenpolitik und Verteidigung. Anders steht es allem Anschein nach mit der Religion und der Erziehung. Nicht lange vor Ausbruch des Peloponnesischen

Krieges setzte etwa ein gewisser Diopeithes, ein Orakelausleger, in der Volksversammlung ein Gesetz durch, daß jeder, der nicht an die Götter glaube oder von überirdischen Dingen handele, mit einer Strafklage bedroht werden könne. Das Gesetz zielte auf Anaxagoras, der eine neue Weltentstehungslehre vertrat und ein Freund des Perikles war. Anaxagoras wich einer Anklage durch den Umzug nach Lampsakos aus. Mit Gottlosigkeit (asébeia) wurde auch die Anklage gegen

Sokrates begründet; ihm wurde die Einführung neuer Geister und die Verführung der Jugend vorgeworfen. Sein Prozeß und Tod sind oft als das Musterbeispiel für die Engherzigkeit, ja für die Unterdrückung von Rede- und Gedanken-

freiheit im demokratischen Athen angeführt worden. Indessen wurde bereits darauf hingewiesen, daß die bitteren Konsequenzen der Anklage gegen Sokrates, nämlich dessen Hinrichtung, von den Athenern wohl gar nicht beabsichtigt,

sie vielmehr von Sokrates selbst provoziert waren. So wie man im Falle des Anaxagoras zufrieden gewesen war, daß er sich durch Flucht der Anklage

entzogen hatte, hätte auch Sokrates sich gewiß mit Billigung fast aller Athener in die freiwillige Verbannung begeben kónnen, bis einmal die Wogen sich wieder geglättet haben würden. Zudem sind beide Ereignisse auf dem Hinter-

grund der besonderen politischen Situation zu sehen. Diopeithes stellte seinen Antrag in den krisengeschüttelten Jahren vor dem Ausbruch des Peloponnesischen Krieges, und der Prozeß des Sokrates war noch überschattet von der

militánschen Niederlage in diesem Krieg und von dem politischen Umsturz von 404/03. In solchen Zeiten suchen die Menschen nach den Ursachen des Unglücks und nach Schuldigen. Selbstsicherheit und Selbstvertrauen, die in glück-

licheren Zeiten sogar schwerwiegendere Dinge zu übersehen gestatten, wichen

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

der Unsicherheit; die Athener glaubten, in dem Geschehen das Wirken rächender Gottheiten zu sehen. In dieser Situation boten sich die Schuldigen wie von

selbst an: Die Philosophen bzw., wie man damals sagte, die Sophisten waren die

Übeltäter, die mit der Infragestellung alles Überkommenen, mit ihrer Kritik an

der Existenz von Göttern und ihren geistreichen Formulierungen überall Zulauf

und insbesondere unter den vornehmen jungen Leuten begeisterte Anhänger oder doch wenigstens interessierte Zuhörer fanden. Seit der Mitte des 5. Jahrhunderts, etwa zugleich mit der Vollendung der Demokratie, waren diese „Lehrer der Weisheit" aufgetreten und war die „Es-ist-ja-alles-relativ-Philosophie“ in Mode gekommen. Die Götter und die elterliche Erziehung im Sinne der Anerkennung der alten Traditionen und darunter auch der demokratischen Lebens-

anschauung schienen in Frage gestellt zu werden. Der Übermut und die Freizügigkeit der jungen Leute hatten bereits im Jahr 415, als vor der Ausfahrt der Flotte nach Sizilien nachts viele Hermesstatuen mutwillig beschädigt und mit den heiligen Mysterien Frevel getrieben worden waren, viele Athener erschreckt und ein grausames Strafgericht provoziert. Wenn die Athener, aufgerüttelt durch Vorkommnisse wie diese, Religion und Moral als die Garanten von Sicherheit und Ordnung verteidigen zu müssen glaubten und einige Sophisten als die vermeintlich Schuldigen aburteilten, dürfen wir darin nicht eine grundsätzliche Einschränkung der Rede- und Gedankenfreiheit sehen. Es zeigt sich darin lediglich, daß die Athener unter dem Druck schwerer Belastungen empfindli-

cher reagierten. Doch die angeführten Beispiele beweisen auch, daß es in Athen selbst in solcher Lage zu keinem vólligen Bruch mit der demokratischen Tradition kam. Denn man begnügte sich damit, Exempel zu statuieren, und lieR sogar denen, an denen man ein Exempel statuieren wollte, noch einen gewissen Spielraum zum Rückzug. Selbst im Falle des Sokrates, der trotzig und verletzend diese Môglichkeit ausschlug, waren viele seiner Richter für einen Freispruch; er

wurde mit 281 gegen 220 Stimmen für schuldig erklärt, und 201 von den 501 Richtern sprachen sich in der auf den Urteilsspruch folgenden Abstimmung über die Festsetzung des Strafmaßes gegen die Todesstrafe aus. Das Urteil über Sokrates war kein Akt geistigen Terrors. Die Anklage war vielmehr das Symptom einer allgemeinen Verunsicherung und, verglichen mit einer normalen Situation, nach Form und Inhalt sicher übertrieben, vielleicht sogar auf dem Hintergrund der Gerichtspraxis ungerecht, auf jeden Fall ungewóhnlich. Die

Hinrichtung war dagegen eine von Sokrates selbst zumindest mitverschuldete Panne. Wir haben eher Anlaß, darüber zu staunen, mit welcher Beharrlichkeit

die Athener selbst in grófiter Notlage an ihren politischen Grundsätzen festhielten, als die Demokratie an gelegentlichen Fehlleistungen oder auch ungerechten Richtersprüchen zu messen. Kónnen die genannten Anklagen wegen Gottlosigkeit bzw. Verführung der Jugend nicht als grundsätzliche Einschránkungen der Redefreiheit gelten, haben die Athener doch der freien Rede in politischen Versammlungen gewisse, durch die Sache gegebene Grenzen gesetzt. Denn die politische Rede ist nicht nur Ausdruck eines demokratischen Lebensgefühls, das an keinen Ort und keine

Gelegenheit gebunden ist, sondern dient auch der demokratischen Entscheidungsfindung, die sowohl einen geordneten, formalen Rahmen, in dem sie

VII. Die Grundlagen des demokratischen Gedankens

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ablaufen kann, als auch eine Atmosphäre der Offenheit und des Vertrauens

benötigt, in der allein vernünftige und für alle nützliche Beschlüsse gefaßt werden können: Die Redefreiheit darf von ihrer Bestimmung als Mittel der politischen Mitbestimmung her nicht die notwendige Entscheidung verhindern oder eine die Gemeinschaft der Bürger schädigende Entscheidung fördern. Es war daher den Athenern etwa selbstverständlich, daß in der Diskussion Diszi-

plin gewahrt wurde, daß nicht der ganz junge oder der ın der zur Debatte stehenden Angelegenheit ganz unerfahrene Mann reden durfte. Verhaltenszwänge dieser Art waren nicht alle normiert, sondern wurden teils erst bei

Gelegenheit durch die Reaktion der Versammlung selbst erzwungen. Manches war hingegen auch gesetzlich geregelt worden, wie z. B. die verständliche Vorschrift, die alle mit dem Verlust der bürgerlichen Rechte Bestraften von der

Diskussion ausschloß, und das Verbot der Schmähung zeigen. Die für unser Gefühl nichtsdestoweniger recht harten Wortgefechte schlossen indessen die persönliche Verunglimpfung des Gegners durchaus nicht aus; es war lediglich

der Gebrauch bestimmter Wörter bzw. Redewendungen untersagt. Das Verbot unterstreicht den Willen, die Rededuelle in einen formalen Rahmen zu stellen,

der beachtet werden mußte. Den Athenern erschien es vor allem wichtig, daß diejenigen, die sich zum Reden und zur Antragstellung in der Versammlung

aufgerufen fühlten, auch das der Sache jeweils Angemessene und Richtige sagten, und das heißt: daß sie mit Überlegung und Verantwortungsgefühl sprachen. Bei dem mangelhaften Informationsstand der meisten Versammlungsteilnehmer und ihrer Unerfahrenheit in den behandelten Materien war man im allgemeinen auf den guten Willen und die Redlichkeit der Redner angewiesen. Da dies naturgemäß gerade bei wichtigen und strittigen Fragen oft nicht vorausgesetzt werden konnte, war das Mißtrauen vielfach groß, und es wuchs, wenn ein Beschluß, wie z. B. über ein militärisches Unternehmen, sich im nachhinein als falsch und schädlich erwiesen hatte. In solchen Fällen wurde den Rednern, die

zu dem Antrag geraten hatten, oft Unredlichkeit vorgeworfen. Der Vorwurf ist eine Konsequenz der mangelnden Môglichkeiten der Diskussion und inhaltlichen Abklárung in Massenversammlungen und also strukturell bedingt. Aber

dieser „Fehler“ der direkten Demokratie sollte durch Vorwürfe dieser Art gerade wieder wettgemacht werden; sie sind das Korrelativ jenes Fehlers. Die Athener wußten natürlich von ihm, und so ist es nicht von ungefähr, wenn die

„Täuschung des Volkes“ sogar zu einem formellen Delikttatbestand werden konnte, der durch eine besondere Klage bei der Volksversammlung anhängig zu

machen war. Der erste uns bekannte Fall einer solchen Klage gehórt in die Frühphase der Demokratie. Es ist die Klage gegen den Sieger von Marathon, Miltiades, im Jahre 489; Miltiades hatte die Athener zu einer Expedition gegen Paros überredet und wurde nach deren Scheitern wegen Betruges angeklagt und zu einer hohen Geldstrafe verurteilt. Auch die Ankläger der Feldherren des Jahres 406, die, obwohl in der Seeschlacht bei den Arginusen siegreich, doch die Rettung der athenischen Schiffbrüchigen versäumt haben sollten, wurden unter

derselben Beschuldigung belangt, weil sie in der damals von Wut und Trauer erfüllten Stimmung unter Außerachtlassung grundlegender Rechte die Verurtei-

lung und Hinrichtung der Angeklagten durchgesetzt hatten. Da die Täuschung

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

des Volkes auf verschiedene Weise und von verschiedenen Personengruppen erfolgen konnte, verbarg sich dasselbe Delikt zeitweise hinter verschiedenen Begriffen des Strafrechts, und es änderte sich im Laufe der Zeit auch seine prozessuale Behandlung. Es konnte sich gegen die Redner oder Strategen, die mit der vorgeschlagenen Politik gescheitert waren, oder auch gegen Ankläger, die der Verleumdung (Sykophantie) bezichtigt wurden, richten, und es konnte der Delikttatbestand als „Betrug“ (apate), als diesem gleichkommende „über-

mäßige Versprechungen“ oder, wenn der materielle Eigennutz im Vordergrund stand, auch als „Bestechung“ formuliert werden. Allen diesen Klageformen und

Deliktkategorien gemeinsam ist das Bestreben, das Volk vor unbesonnenen und

allzu ehrgeizigen Politikern zu schützen und jeden Antragsteller zu gurüberlegten und wohlfundierten Vorschlägen anzuhalten.

c) Die Herrschaft der Masse. Kritik und Rechtfertigung Da die Demokratie in Athen sich nicht aus einer Diskussion um die beste Verfassung oder aus einem langen Kampf der Volksmassen um eine Besserstellung ihrer sozialen Position entwickelt hatte, fehlte ihr zunächst jede ideologische Begründung, insbesondere auch eine Rechtfertigung ihres Fundamentes, der Herrschaft des Volkes. Gedanken dieser Art blieben auch dann, als allen

bewußt geworden war, daß man in einer ganz neuen, den anderen Griechen unbekannten politischen Ordnung lebte, deswegen lange aus, weil die Masse

durch die Teilhabe am militärischen Dienst, zunächst als Hopliten, dann auch als Ruderer auf der Flotte, in den politischen Raum aufgestiegen war. Die

schweren Perserkriege und die sich an sie anschließenden Kämpfe um die Erweiterung und den Erhalt des Seebundes, in denen sich die neuen Bürgersoldaten bewährten, haben zunächst den Gedanken an eine Rechtfertigung der neuen politischen Verhältnisse wohl gar nicht aufkommen lassen; der glänzende Erfolg

der athenischen Heere und Flotten sowie die gewaltige Machterweiterung sprachen für sich. Erst eine Zeit, in der sich die Demokratie etabliert hatte, die

politischen Organisationsformen im Sinne der demokratischen Grundidee vervollständigt, in den Augen der Reichen und Vornehmen „radikalisiert“ worden

waren und zudem die Dauerhaftigkeit der neuen Ordnung bewußt geworden war, schuf die Voraussetzung für eine gedankliche Auseinandersetzung mit den neuen politischen Verhältnissen. Naturgemäß ging die Diskussion von denjenigen aus, welche die Demokratie an die Seite gedrängt hatte, also von den

Vornehmen und Reichen. Da sie durchaus sahen und auch freimütig anerkannten, daß der Nutzen der Stadt und der außenpolitische Erfolg vor allem der neuen Staatsform zu verdanken waren, befanden sie sıch ın ihrem Urteil über die

Demokratie in einem Zwiespalt. Es ließ sich das neue System nicht einfach in

Bausch und Bogen verurteilen; aber es war dann doch gerade dessen politisches Fundament, nämlıch die Gleichberechtigung und damit der Gedanke der Herrschaft durch alle, das Kritik fand.

Da Solon als der Vater der Demokratie galt, haben die Athener später auch die Kritik an ihr bereits in diese frühe Zeit vorverlegt. Sie setzt an dem Solon zugeschriebenen Ausspruch an, Gleichheit führe zu keinem Streit. Dieses Wort

VIH. Die Grundlagen des demokratischen Gedankens

299

561 von den damals streitenden Gruppen jeweils verschieden verstanden worden,

wurde gesagt; die Reichen hätten geglaubt, daß die Gleichheit nach Herkunft, Ansehen und Leistung, die Armen hingegen, daß sie nach Maß und Zahl zugeteilt würde. Es geht hier um den inhaltlichen Bezug der Gleichheit, darum, worin denn die Gleichheit bzw. Ungleichheit ihren Grund habe. Für uns wird diese Kritik zuerst greifbar in dem bereits öfter zitierten Pamphlet eines Oligarchen aus der Zeit um 430 v. Chr. Obwohl der Autor durchaus auch von

den Vorteilen der neuen Ordnung zu berichten weiß, richten sich seine Einwände gerade gegen die Massenherrschaft: In der Masse besäßen die Armen die, Mehrheit, und diese seien ohne Wissen und Bildung, ohne Selbstdisziplin und von gemeiner Gesinnung, ferner auch ohne Verantwortungsgefühl und bestechlich, und all dies habe seinen Grund eben vor allem in der Mittellosigkeit der großen Menge. Mit größter Verachtung spricht etwa auch Theramenes, ein Mann der oligarchischen Opposition in Athen, bei Xenophon (Hellen. 2,3,48)

davon, daß die Demokratie von ihren Verfechtern erst dann für gut befunden würde, wenn sogar die Sklaven und die Ármsten, welche die Stadt für eine Drachme verkaufen würden, an der Herrschaft Anteil erhalten hätten. Armut disqualifizierte danach den Bürger. In der kritischen Reflexion begegnet uns manches aus dem Vokabular der aristokratischen Vergangenheit, das hier der

neuen Situation angepaßt wird. In der Demokratie herrscht jeder Beliebige, nicht der durch Moral und Fähigkeit Ausgezeichnete, heißt es. Insofern die Reichen und Vornehmen eine Minderheit sind und als solche keinen besonderen Schutz genießen, wird schließlich die Demokratie sogar als eine Klassenherrschaft der Armen über die Wohlhabenden verstanden. Ihren Hóhepunkt und gleichzeitig ihre schärfste gedankliche Durchdringung erfährt die Kritik an der Demokratie in der Philosophie. Weist Platon die Teilnahme aller an der Herrschaft, die nach ihm ja nur den im Sinne seiner Philosophie Verstándigen zukommt, schon wegen des mangelnden Sachverstandes der Masse zurück, wird

von Aristoteles, der diesen Standpunkt grundsätzlich teilt, die Kritik in einen systematischen Rahmen gestellt: Die Demokratie hat danach die Gleichheit ausschließlich auf die Zahl abgestellt, die als abstrakte Größe keinen inhaltlichen Bezug und also auch aus sich heraus keine Rechtfertigung für Herrschaft enthált. Der Solon zugesprochene Ausspruch enthüllt sich hier als eine leere

Phrase, die das eigentliche Problem durch eine Scheinlogik unterdrückt. Was in Athen an Argumenten für die Herrschaft der Masse vorgebracht wurde, bezieht sich auf diese Einwände. Die Rechtfertigung der Demokratie folgte demnach der Kritik, nicht umgekehrt, und das kann angesichts des Umstandes, daf der Demokratie in Athen keine Diskussion um eine neue Staats-

form und also auch keine Rechtfertigungslehre vorausgegangen war, auch gar nicht anders sein. Was wir an Argumenten hóren, ist nicht eben viel. Da wird zunächst der nicht gerade durchschlagende, aber geschickt auf einen common sense anspielende Gedanke vorgetragen, daf jeder Mensch Urteilsfähigkeit habe. Wir finden ihn von Thukydides bis hin zu Isokrates; letzterer drückt ihn so aus, daß die Menge zwar ärmer, aber im übrigen nicht schlechter sei. Die Allgemeinheit des Anspruchs verdeckt das Problem eher, als daß sie es löst. Überzeugender sind demgegenüber diejenigen Gedanken, die in dem Beschluß

300

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

der Masse den Querschnitt der möglichen Meinungen sehen, in dem alle Seiten des jeweiligen Problems beachtet, die Vielzahl der Meinungen aber ausgeglichen, insbesondere die extremen oder exzentrischen Ansichten aufgehoben sind. Das Volk ıst ın dieser Vorstellung das Ganze, die Vornehmen und Reichen nur ein Teil; die letzteren sind danach zwar die besseren Verwalter der öffentli-

chen Gelder und unter Umstánden auch verstándiger im Rat, aber der beste Urteilsfinder ist allein auf Grund seiner Menge das Volk, und somit findet

zwischen dem Ganzen und seinen Teilen ohne Verletzung des Gleichheitsprinzips ein Ausgleich statt. Diese Gedanken von dem Volk als dem Ganzen, dem

der einzelne und die Gruppen als dessen Teile gegenüberstehen bzw. in ihm enthalten sind, läßt etwa Thukydides den Syrakusaner Athenagoras aussprechen, und sie werden u.a. auch von Aristoteles zur Rechtfertigung der Demokraue herangezogen. Die Fähigkeiten und Charaktere einer ungegliederten Masse

von Menschen, meint Aristoteles, kónnen in ihrer Summierung für das richtige Urteil mehr vermógen als die der Reichen allein, die ja nur ein Teil des Ganzen sind, und er erläutert den Gedanken an mehreren Beispielen des täglichen Lebens, so an dem Festmahl, das besser ist, wenn viele zu ihm beigetragen

haben, als wenn es von einem einzigen angerichtet worden ist. Daß die Masse als

solche ein positiver Wert für die Urteilsfindung ist, sucht Aristoteles ferner auch durch die Behauptung zu stützen, daß eine Vielzahl von Menschen nicht so leicht zu verderben sei wie ein einzelner oder eine kleine Gruppe, und dies sowohl deswegen, weil die Menge an Einfluß und materiellem Gewinn nicht ebenso interessiert sei wie der einzelne oder eine Gruppe, als auch, weil die Masse selbst das verhindere: „Wie eine größere Menge Wasser so ist auch die

Volksmenge schwerer zu verderben als die wenigen“ (Pol. 1286a32f.), und mit demselben Argument kann selbst ein harter Kritiker der Demokratie, wie der

Autor der ps.-xenophontischen Schrift demokratische Einrichtung, nämlich das sen von Richtern, verteidigen: Weil eine zu bestechen sei als eine geringe, seien

vom Staat der Athener, eine typisch Geschworenengericht mit seinen Masgrößere Anzahl von Richtern schwerer in einer demokratischen Gerichtsord-

nung auch die Urteile gerechter (3,7).

Gedanken dieser Art, nach denen sich in der kollektiven Entscheidung aller Bürger oder großer Teile von ihnen ein Positives summiert - in der modernen

Forschung spricht man danach von einer „Akkumulationstheorie““-, geht schwerlich auf ein theoretisches Konzept des 5. oder frühen 4. Jahrhunderts zurück, sondern dürfte der Reflex von Überlegungen sein, die eher beiläufig in der politischen Praxis zur Abwehr einer Kritik, die für das politische Geschäft Fachkenntnis, Bildung und Reichtum forderte, angestellt wurden. Sie zeugen mehr von einem Theoriemangel als von einer gedanklichen Durchdringung der Materie und belegen, daß selbst in der Blütezeit der Demokratie einer Kritik an ihr in der Praxis nur selten überhaupt mit Überlegung geantwortet wurde.

Typisch für solche Argumentationsweisen ist der mehrdeutige Satz aus der Verfassungsdebatte bei Herodot, daß „in der Menge alles enthalten sei“ (3,80,6). Der Satz weicht einer Diskussion über die Frage nach dem Wert der Menge eher

aus, als daß er sie aufgreift oder gar abschließend beantwortet. Die Gedanken über die Urteilsfähigkeit der Masse mögen aus der Erfahrung

VIII. Die Grundlagen des demokratischen Gedankens

301

mit der Regierungspraxis von Aristokraten und Tyrannen entstanden sein, die

ihr Eigeninteresse für das der ganzen Stadt ausgegeben und damit die politische Entscheidungsgewalt zu ihren Gunsten mißbraucht hatten. Es fällt auf, daß sie

von Personen ausgesprochen wurden, die alle oligarchische Neigungen verspürten oder doch zumindest keine Verfechter der Demokratie waren. Wenn diese hier nicht die demokratischen Argumente abwehren, sondern sie mit einem

zustimmenden Kommentar wiedergeben, tun sie das wohl auch deshalb, weil sie, die in Athen lebten, die Volksversammlung als die zentrale politische Institution nicht völlig abwerten konnten. Aber der eigentliche Grund, den demokratischen Standpunkt einzunehmen, dürfte darin zu suchen sein, daß sie als

politische Denker den Mißbrauch der Entscheidungsgewalt durch Tyrannen

und Oligarchen ebenso scharf verurteilten wie die Demokraten. Vielleicht haben sie zumindest zeitweilig in der Entscheidung durch alle einen diskutablen Ausweg aus der Aporie gesehen, wie bei der Durchsetzung politischer Entscheidungen der Egoismus von Individuen und Gruppen möglichst begrenzt werden

könnte. Aber so ehrlich das jeweils auch gemeint gewesen sein mag, es blieb doch nur ein Räsonnement mit begrenztem Argumentationswert, und es änderte nichts an der Grundanschauung aller dieser Autoren, daß die Urteilsfähig-

keit im Prinzip an Tugend und Bildung gebunden sei, und letztlich haben sie, insbesondere der anonyme Autor der Schrift vom Staat der Athener und Aristoteles, auch die Herrschaft der Masse für eine Herrschaft der Interessen gehalten,

nämlıch für die Herrschaft einer Mehrheit von Armen über eine Minderheit von Reichen. Wurde die Demokratie als eine Herrschaft der Masse verteidigt, ist sie, wie

man sieht, auch gegenüber einer harten Kritik nicht mit sozialpolitischen oder gar naturrechtlichen Argumenten gerechtfertigt worden. Es vermochten sich folglich in der Abwehr solcher Kritik auch keine neuartigen Vorstellungen über

die Legitimation der Volksherrschaft zu bilden, die den rein politischen Gleichheitsbegriff erweitert, etwa den Gedanken

der sozialen und ókonomischen

Gleichstellung in ihn aufgenommen und damit den Inhalt der demokratischen Idee qualitativ verändert hátten. Der Gleichheitsgedanke entwickelte in Athen aus sich heraus keine Dynamik. Die Vertreter der Demokratie suchten nach

keinen neuen Begründungen für die neue Verfassung, sondern beriefen sich, wenn sie sich überhaupt zur Rechtfertigung aufgerufen fühlten, unverändert auf den gesunden Menschenverstand der Menge und auf die Vorstellung von dem Volk als dem Ganzen, von dem die Reichen nur ein Teil sind. Und es kann sich dann auch der Gedanke einstellen, daf$ das Gleiche auch das Gerechte sei. Die

Verbindung von „gleich“ (for) und „gerecht“ (dikason) begegnet ja auch außer-

halb rein verfassungstypologischer Verhältnisse. Auf die Demokratie bezogen kann sie ein Doppeltes meinen, zum einen darauf zielen, daß das Gleichsein auch das Gerechte ist, zum anderen einfach bedeuten, daß in der Demokratie

das Gleichsein als Recht gilt (anderswo, wo das Gleichsein nicht absolut gesetzt, z. B. an Tugend oder Vermögen gebunden wird, aber nicht).

302

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

d) Identität von Herrschen und Beherrschtwerden (Freiheit und Herrschaft)

In allen frühen Überlegungen, die in Athen zum Wesen der Demokratie angestellt wurden, ıst Demokratie nicht nur als eine Herrschaft der Mehrheit

bewußt gewesen, sondern zugleich auch als Freiheit verstanden worden; dabei wurden Freiheit und Demokratie durchaus als synonyme Begriffe behandelt.

Entsprechende Formulierungen finden wir schon bei dem Autor der ps.xenophontischen Schrift vom Staat der Athener (1,8) und ın den „Schutzflehenden“ des Euripides (403ff.; vgl. 352f.). Da aber die Demokratie zunächst und vor

allem durch die Gleichheit bestimmt ist, steht die Vorstellung von der Herrschaft der Mehrheit, in der ja eine Minderheit aus der Gesellschaft der Gleichen der Mehrheit unterworfen ist, in einer gewissen Spannung zur Freiheit und bedarf einer besonderen Interpretation, um mit letzterer in Einklang zu kom-

men. Daß unter der Herrschaft der Gleichen (oder genauer: der politisch Gleichberechtigten) alle frei sind, wird denn auch schon früh, so in der genann-

ten Stelle bei Euripides, damit begründet, daß die Ämter und also die Regierung von allen, von arm und reich, ın Jährlichem Wechsel und also in gleicher Weise

getragen werden. Der Zugang aller zu den Ämtern und deren breite Verteilung auf viele, der Idee nach alle, sichert in der Vorstellung der Athener die Regierung durch Alle. Da es keine Regierung ohne die Ausführung des von der Regierung Befohlenen und also ohne Gehorsam gibt, sind alle Athener die Regierung und

die Regierten zugleich. Aristoteles hat dies in dem Kapitel seiner Politik, das den Grundlagen

der Demokratie

gewidmet

ist, abstrakt ausgesprochen:

„Die

Grundlage der demokratischen Verfassung ist die Freiheit. . . Zur Freiheit aber gehört zum einen, daß das Herrschen und Beherrschtwerden reihum geht. Das demokratische Recht (dikaion) ist nämlich die Gleichheit nach der Zahl, nicht

nach dem Ansehen, und wo dies als Recht gilt, da muß die Menge (plétbos) die entscheidende Gewalt haben und muß das, was der Mehrheit gut dünkt, auch das Endziel (télos) und das Recht sein“ (1317240-1317b7). Daß diese Worte nicht

nur philosophische Reflexion, sondern Teil des lebendigen politischen Bewußtseins sind, davon zeugen die Aussagen der Dichter, Redner und Historiker des 5. und 4. Jahrhunderts: Die Freiheit ist eine Bestimmung der Gleichheit, und die

Herrschaft ist in dieser Identität aufgehoben. Freiheit erscheint dabei durchaus als ein aus der Gleichheit abgeleiteter und also als sekundärer Begriff: Die Gleichheit bestimmt die Demokratie von ıhrem Wesen her, nicht die Freiheit,

und von der historischen Entwicklung her gesehen stand in der Tat auch die

Gleichheit am Anfang der Entwicklung. Aber die Freiheit, welche die Gleichheit hervorgebracht hat, ist doch schon früh zum Charakteristikum der Demo-

kratie geworden und wird bei schlagwortartiger Charakterisierung der Demokratie sehr schnell das bestimmende Wort, zu dem als Gegensatz der Begriff der Knechtschaft/Sklaverei (douleta) tritt. „Das Volk“, sagt der oligarchische Autor der ps.-xenophontischen Schrift vom Staat der Athener um 430, „will nicht in einem wohlgeordneten Staat Knecht sein, sondern will frei sein und herrschen.

Um eine schlechte politische Ordnung sorgt es sich dabei nicht. Was Du näm-

lich für eine Mißwirtschaft halten könntest, daraus gerade schöpft das Volk seine Kraft und ist frei“ (1,8), und Platon interpretiert in seiner „Politeia“

VIII. Die Grundlagen des demokratischen Gedankens

303

(557b4f.) die freie Rede (parrbésía) als demokratische Freiheit. Freiheit schien als

der der Demokratie eigentümliche Begriff auch deshalb besser geeignet zu sein als Gleichheit (isótés) oder politische Gleichberechtigung (1sonomía), weil sie als ein Begriff, der einen Zustand umschreibt, ein weiteres Feld von Verhaltensmu-

stern und Zuständlichkeiten umfaßt als der auf einen ganz bestimmten zwi-

schenmenschlichen oder gar institutionellen Bezug ausgerichtete Begriff der Gleichheit. Es kommt hinzu, daß die unter der Herrschaft der Gleichen sich

langsam ändernden Lebensumstände, die gegenüber der älteren Zeit der großen Menge mehr Spielraum gaben oder zu geben schienen, schon bald ebenfalls als Freiheit verstanden wurden. So ließ sich unter dem Stichwort Freiheit mehr von dem einfangen, was die Athener an ihrer Verfassung schätzten und gegenüber den anderen politischen Ordnungen, nämlich gegenüber Oligarchie und Tyrannis, verteidigten, und so wurde „Freiheit“ das demokratische Schlagwort der Zukunft und trat „Gleichheit“ als scheinbarer Teilbegriff der Freiheit dahinter zurück. Historisch wie auch sachlich ist das falsch; aber wann hätte sich schon

die Begriffsgeschichte nach der Logik der von den Menschen benutzten politischen Schlagworte gerichtet. Ein kurzer Rückblick auf die Entstehungsgeschichte der Demokratie in Athen wird bekräftigen, daß die soeben entwickelten Gedanken tatsächlich die Vorstellungen der Athener über ihre politische Ordnung treffen und eine leben-

dige Wirklichkeit wiedergeben. Die politische Gleichheit ist von den Schwerbewaffneten, später von allen freien Athenern im Kampf gegen die Adligen und Reichen durchgesetzt worden. Da es in diesem Kampf allein um das politische

Mitspracherecht, nicht auch um Gleichheit auf sozialem oder ökonomischem Gebiet ging, wurde nicht die soziale Existenz der Adligen und Reichen, sondern

ausschließlich deren politischer Führungsanspruch in Frage gestellt. Es ging also um die Entscheidungsbefugnis im Rat und um die Verwaltung der verschie-

denen staatlichen Aufgaben, die künftig von allen wahrgenommen werden sollten. Die Geschichte der Demokratie ist daher die des Kampfes um die von den Adligen/Reichen besetzten Institutionen der Regierung, die Stück um Stück der Masse zugänglich gemacht und im Zuge dieser allgemeinen Öffnung zersplittert und entmachtet wurde: Die Auflósung der Regierungsgewalt stand am Ende des Kampfes, und sie war gleichbedeutend mit Demokratie. Die Aufsplitterung des Archontats, die Schwáchung des alten Adelsrates, des Areopags, und die Schaf-

fung eines neuen Rates, der in allem den Willen zur Identitát der Regierenden mit den Regierten widerspiegelte, sind Etappen der Demokratisierung. Von der Geschichte der Demokratie her gesehen ist die Identitát von Regieren und Regiertwerden, von Herrschaft und Gehorsam in der Tat das Kernstück des demokratischen Selbstverständnisses in Athen, und Freiheit als die Abwesenheit

von Herrschaft wesentlich mit ihr verbunden. Der von dem Grundbegriff der Demokratie, der Isonomie, weiter ausgrei-

fende Begriff der Freiheit nahm schnell ganz neue und mit seinem Ursprung schließlich kaum noch zu verbindende Elemente auf. Ein Aspekt der Freiheit bezog sich auf den individuellen Spielraum, der jetzt vergróftert erschien; auf ihn wird weiter unten eingegangen werden (S. 310ff.). Ein ganz anderer verband den innenpolitischen mit dem außenpolitischen Raum: Bei Thukydides sind

304

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

mehrfach die durch die demokratische Verfassung gegebene Freiheit und die Herrschaft über eın großes Untertanengebiet, den Seebund, unvermittelt als

zusammengehörige und aufeinander bezogene Wertvorstellungen zusammengestellt worden. Dieser Aspekt soll indessen nicht hier, sondern in den Überlegungen über das Verhältnis des demokratischen Athen zu seiner Außenpolitik behandelt werden (u. S. 319ff.).

e) Soziale und ókonomische Gleichheitsvorstellungen Der Gleichheitsbegriff der Athener gehórt der rein politischen Spháre an und entwickelte aus sich heraus keine Dynamik, die ihn und damit die Basis der politischen Gesamtordnung verändert hätte. Gedanken auf eine Veránderung der sozialen Situation in Richtung auf einen allgemeinen Ausgleich der Besitzverhältnisse haben allerdings in Athen nicht völlig gefehlt, doch waren sie lange vor der Demokratie in der großen sozialen Krise des 7. und 6. Jahrhunderts angestellt worden. Es war dabei neben der Forderung nach Aufhebung der Schulden vor allem um die Neuverteilung des Bodens gegangen; in Athen war Solon bei seinem Werk der Versóhnung am Anfang des 6. Jahrhunderts mit solchen Forderungen konfrontiert worden und hatte sie energisch zurückgewiesen. Es waren diese Gedanken auch gar nicht aus der Idee nach einer Neuschópfung des Staates erwachsen, sondern sie sind als der Versuch zu verstehen, eine

Krise durch den Rückgriff auf die uralte Zeit der Landnahme, die gerade im 7. und 6. Jahrhundert durch die große Kolonisationsbewegung der Griechen in

Ost und West wieder aufgelebt war, zu bewältigen. Bei der Forderung nach Neuaufteilung des Bodens ging es demnach um die Regeneration der bestehenden Verhältnisse auf der Basis eines neuen Anfangs, und der Gedanke begegnet uns daher in diesen Jahrhunderten überall, wo es Griechen gibt, häufiger, und

dies sowohl im Kolonisationsgebiet als auch in den krisengeschüttelten Staaten des Mutterlandes. In Athen verschwindet er mit der Konsolidierung des solonischen Staatsbaus und der Entwicklung der Stadt zu einer Demokraue und taucht übrigens nach dem 5. Jahrhundert auch außerhalb Athens nur noch

gelegentlich auf, so wenn in den syrakusanischen Machtkámpfen um Oligarchie und Demokratie ein Vertreter der letzteren unter Berufung auf die Gleichheit die neue Verteilung des Bodens verlangte, „weil die Gleichheit die Wurzel der

Freiheit und die Armut für die Besitzlosen die Wurzel der Knechtschaft sei“ (Plut. Dion 37,5).

Die Einbeziehung des ókonomischen Bereiches in die Gleichheitsidee war den Athenern indessen auch im 5. und 4. Jahrhundert kein vóllig unbekannter Gedanke. Er wurde allerdings zu dieser Zeit nicht mehr als eine reale politische Möglichkeit diskutiert, sondern allein von der Komödie und der Philosophie aufgegriffen, und es ging dabei charakteristischerweise auch nicht um eine Umverteilung des Besitzes, sondern um eine Kollektivierung allen Eigentums, des mobilen ebenso wie des immobilen, und darüber hinaus um den gemeinschaftlichen Besitz der Frauen und Kinder sowie um die Gemeinschaft der Erziehung. Platon konstruierte diesen radikalen Kommunismus für die Gruppe der „Wächter“ seines Idealstaates, die auf diese Weise die Unveränderlichkeit

VIII. Die Grundlagen des demokratischen Gedankens

305

und Dauerhaftigkeit des Staatswesens garantieren sollten; Aristophanes hat ihn in seiner 392 aufgeführten „Weibervolksversammlung“ (Ekklesiazusen) als lusti-

ges Gegenbild zu der von den Frauen kritisierten Männergesellschaft benutzt. Parodistischen Charakter hat auch die Darstellung einer übermäßig auf Gleichheit ausgerichteten Gesellschaft bei Platon, in der jeder dem anderen, so auch etwa der Beamte dem Untergebenen, der Untergebene dem Beamten, der Vater dem Sohn, der Sohn dem Vater, die Frauen den Männern, der Lehrer seinen

Schülern usw. gleich sein möchten und dadurch die gesamte politische und sittliche Ordnung zusammenstürzt. Sowohl die Überspitzung der Gleichheitsvorstellung als auch deren Beschränkung auf Parodie und ideale Theorie zeigen die Wirklichkeitsferne der Gedanken. Weder der Komödiendichter noch der

Philosoph denken hier ernsthaft an eine Realisierung ihrer Gedanken oder knüpfen mit ihnen an reale politische Vorstellungen an; sie existieren eben nur ın ıhrer Phantasie. Wenn ein Philosoph wie Aristoteles überhaupt einmal den Gedanken der Aufteilung des Vermögens der Reichen als eine Möglichkeit des wirklichen politischen Lebens erörtert, tut er es nur, um ihn als Argumenta-

tionshilfe schließlich doch zurückzuweisen und die gegebenen Verhältnisse wirtschaftlicher Ungleichheit als die richtigen hinzustellen: Eine Aufteilung des Vermögens der Reichen, sagt Aristoteles in seiner „Politik“ (1281a14-21), wäre ın der Demokratie zwar kein Unrecht, weil das Volk die oberste Gewalt habe;

aber da das Recht den Staat nicht zugrunde richten könne und der Staat durch einen derartigen Beschluß zerstört würde, sei so ein Beschluß dennoch Unrecht. Die Möglichkeit der Umverteilung des Vermögens im Sinne eines ökonomischen Gleichheitsprinzips wird hier durch den einfachen Hinweis auf die Unrechtmäßigkeit der Sache abgebogen, und dies ist wohl kaum ein dem Aristoteles eigener Gedanke, sondern der Reflex eines allgemeinen Bewußtseins, das

derartige Spekulationen aus dem Bereich der gesellschaftlichen Wirklichkeit

verbannte. Der Gedanke einer Umverteilung des Vermógens bildete sich in den griechischen Stádten überhaupt nur dann, wenn bei einem Verfassungsumsturz das Vermógen der getóteten oder verbannten Oligarchen zur Disposition stand; aber in aller Regel ging es dann nicht um eine grundsätzliche Neuaufteilung des

Vermógens, sondern um die Konfiskation der Besitztümer des politischen Gegners zugunsten der Staatskasse. Man wird sich wundern, warum die geistig so beweglichen Athener das, was scheinbar so nahe lag, nicht verwirklicht haben, zumal der Gedanke der sozialen und wirtschaftlichen Gleichheit, wie Aristophanes zeigt, auch den breiten Massen nicht unbekannt gewesen sein konnte. Eine Erweiterung des Gleichheitsgedankens auf den sozialen Sektor verhinderte indessen vor allem gerade die Radikalitát der politischen Gleichstellung selbst. Bereits in ihren frühesten Anfängen ist die Gleichheit gegenüber dem sozialen und ókonomischen Raum abgeschottet worden. Die Phylenreform des Kleisthenes, durch die die verschie-

denen Gruppen der Athener in den staatlichen Gremien „gemischt“ wurden, schloß den sozialen Bezug ausdrücklich aus (s.o. S. 37ff.). Und daß sich auch in der Zukunft dergleichen Vorstellungen nicht entwickeln konnten, dafür sorgten mancherlei Umstánde. Einmal wurden die Reichen durch Steuern und Leiturgien in ungewöhnlichem Ausmaße zur Finanzierung der städtischen Aufgaben

306

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

herangezogen. Ferner konnten die ärmeren Leute auch in den Gerichten gegen-

über den Reichen Dampf ablassen, wie uns dies denn auch Aristophanes in seinen „Wespen“ so anschaulich schildert. Ebenso geben Klagen aus oligarchischen Kreisen, die mit angeblich ungerechten Urteilen gegenüber den Reichen hadern, einen Hinweis darauf, daß man sich bisweilen an den Vermögenden abreagierte. Solange Athen Herr über ein großes Seebundsgebiet war, wirkten selbstverständlich auch die umfangreichen Tributzahlungen stabilisierend auf

die gesellschaftlichen Verhältnisse. Das Spannungsfeld zwischen arm und reich war zwar vorhanden, aber es wurde nicht, wie in so vielen anderen griechischen

Städten, politisch virulent. Die Demokratie selbst und die Herrschaft über ein

Untertanengebiet waren die Ursachen für ein sozial mildes oder wenigstens erträgliches Klima. Daß Athen in den 150 Jahren lebendiger Demokratie nur zwei schwere innere Krisen und auch diese nur unter dem Druck schwerster äußerer Belastung erlebte (411 und 404/3), spricht für sich.

2. Die Verwirklichung der Gleichheit ın der politischen Praxis Die Gleichheit war in Athen nicht lediglich eine Idee, die als fernes Ziel vor Augen stand, sondern sie war politische Wirklichkeit, und dies bereits seit den

Anfängen der Demokratie: Idee und Wirklichkeit sind in ihr zu keiner Zeit auseinandergetreten. Der Verwirklichung des Gleichheitsgedankens diente bereits die Reform der lokalen Gliederung der Bürgerschaft durch Kleisthenes'

Phylenreform, die am Anfang der Demokratie stand. Da alle Gremien der Stadt (Rat, Geschworenenhófe, Beamtenkollegien) von diesen neuen lokalen Einhei-

ten (Demos, Trittys, Phyle) im Verhältnis zur Bevölkerungszahl gestellt wurden, erhielten alle Landesteile und damit die verschiedenen, durch die jeweilige Landschaft geprägten Bevölkerungsgruppen einen angemessenen Anteil am po-

litischen Leben; gleichzeitig erschienen die Interessengegensätze durch die „Mischung“ der Gruppen, die nun in jeder Institution gegenwártig waren, aufgehoben (s.o. S. 37ff.). Nun ist jedoch den Athenern sehr bald deutlich geworden,

daß einer Verwirklichung des Gleichheitsprinzips trotz dieser Reform noch große Hindernisse entgegenstanden. Sie lagen zum einen darin, daß einzelne

Personen oder Gruppen sich gegen das Prinzip stráubten und es zu durchbrechen suchten. Es waren dies nur zum geringsten Teil grundsätzliche Gegner des demokratischen Gedankens, wie manche Aristokraten und Angehörige exklusiver Klubs, und auch Gruppen mit spezifischer Interessenidentität, wie z. B.

Berufsgruppen, gehórten nicht zu den Widersachern. Es handelt sich bei ihnen vielmehr meist um Personen, die sich selbst durchaus als Demokraten fühlten,

aber deren persónliches Interesse oder deren Kritik an einer bestimmten Sache einem Prozeß, einem Volksentscheid usw. - sie dahin brachte, sich an einem

EntscheidungsprozeR besonders eifrig zu beteiligen und móglichst viele Gleich-

gesinnte heranzuziehen. Die Trágheit der Masse konnte hier dahin führen, daß manche Entscheidungen von Personen, die ihren eigenen anstatt den Nutzen aller Bürger im Auge hatten, unverhältnismäßig stark beeinflußt wurden. Zum

anderen wurde das Prinzip durch die objekuven Bedingungen, unter denen der

VII. Die Grundlagen des demokratischen Gedankens

307

einzelne Bürger lebte, gefährdet. Der Arme konnte schon deswegen, weil er für seinen Unterhalt und gegebenenfalls für den einer Familie zu sorgen hatte, nicht zu jedem Zeitpunkt politisch tätig werden. Erst recht war der fernab Wohnende behindert, und dies nicht nur, wenn er arm war; auch der gutsituierte Mann,

z. B. ein selbständiger Bauer, der das Reisegeld hätte aufbringen können, konnte aus arbeitstechnischen Gründen, etwa weil die Feldbestellung ihn zurückhielt, nicht zu jeder Zeit nach Athen kommen. Die Athener haben diese Probleme

gesehen und ihnen abzuhelfen gesucht. Sie haben für keinen Bereich ihrer politischen Ordnung mehr Energie aufgewandt als dafür, allen Bürgern die politische Tätigkeit zu ermöglichen und an ihr alle möglichst gleichmäßig zu beteiligen. Die Verwirklichung dieses Gedankens und seine im Laufe der Jahrzehnte erzielte Verbesserung und Absicherung bedeuteten nicht nur die Festigung irgendeines Teilbereiches der Demokratie; sie waren gleichbedeutend mit der Demokratie selbst.

Die Verwirklichung der Gleichheit wurde mittels sehr verschiedener Instrumente erreicht. Sie sollen im folgenden durchgemustert werden. Da manche von

ihnen in dem Kapitel über die Verfahrensformen zur Sicherung der demokratischen Idee (o. S. 265ff.) bereits ausführlich vorgestellt worden sind, genügt für sie hier ein kurzer Hinweis.

An erster Stelle sind hier die institutionalisierten Mechanismen zu nennen, unter ihnen vor allem die bereits erwáhnte Phylenreform des Kleisthenes und die Losung. Sie dienten alle der Ausschaltung von Sonderinteressen. Die neue lokale Gliederung der Bürgerschaft war geschaffen worden, um den Einfluß politischer und wirtschaftlicher Interessengruppen (Adlige, Großgrundbesitzer, Kleinbauern usw.) sowie des einzelnen übermächtigen Adligen (Tyrann)

aus dem politischen EntscheidungsprozeR auszuschalten. Dieses Ziel wurde dadurch erreicht, daß künftig der Rat, die Beamten und

Richter nach den

lokalen Bezirken bestimmt, ebenso die Heeresverbánde nach ihnen aufgestellt und also alle staatlichen Funktionen ohne Ansehen von Besitz und Herkunft übertragen wurden. Da die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Bür-

ger durch die Reform nicht berührt wurden, war die Gleichheit rein politischer Natur; sie hat den sozialen und wirtschaftlichen Sektor ausdrücklich ausgeklammert. Die Losung, der nach und nach die Ratsherren, Geschworenen und mit Ausnahme des Militärs und etlicher Funktionáre von Finanz- und Kultangelegenheiten - alle Beamten unterworfen waren, ergänzte und vervollstándigte

die durch die Phylenreform begründete Idee: Das Losprinzip verhinderte die Bildung von Interessengruppen in der Verwaltung der Stadt. Phylenreform und Losung allein hátten jedoch kaum die erwünschte Wirkung gehabt, wenn nicht gleichzeitig mit ihnen die Vermassung der Funktionäre im Rat, in den Geschworenenhófen und Beamtenkollegien sowie deren Besol-

dung durchgesetzt worden wäre. Denn ohne diese Maßnahmen wäre der Kreis

der politisch Tátigen auf diejenigen beschránkt worden, die zum politischen Gescháft bereit und von ihrer wirtschaftlichen Stellung her dazu fáhig waren. Die Möglichkeit der politischen Aktivität allein mag ein liberales politisches Klima schaffen; aber sie beseitigt nicht die Lethargie und überwindet noch weniger die materiellen Barrieren. Die Voraussetzung für die stándige Beteili-

308

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

gung eines großen Teils der Bürger an den politischen Geschäften schuf erst die Vermassung der staatlichen Funktionen, die durch die Vervielfältigung der Gremien und die hohe Zahl der darin tätigen Personen erreicht wurde. Allein 1 200 Ratsherren und Beamte, nicht eingerechnet diejenigen, die mit außerordentli-

chen Aufgaben im athenischen Herrschaftsbereich betraut waren, wurden jährlich gebraucht, und beinahe jeden Tag mußten mehrere Geschworenenhófe mit

200-500 oder gar 1500 und mehr Richtern besetzt werden. Aber auch die Vermassung der Funktionen allein hätte kaum so viele Athener in den polıtischen Raum gezogen. Es kam noch hinzu, daß der Athener alle Ämter (außer den militärischen) nur einmal, die Ratsherrenwürde zweimal bekleiden und nur

Richter beliebig oft werden durfte. So brachte der Zwang, alle Stellen besetzen zu müssen, und die jeweils relativ begrenzte Aufgabe, die auch dem Vielbeschäf-

tigten und dem wenig Selbstbewußten oder gar Gehemmten die Amtsübernahme erleichterte, mehr oder weniger alle in das politische Geschäft. Darüber

hinaus ermöglichte die Bezahlung der politischen Tätigkeit es auch denjenigen, die auf den täglichen Verdienst von ıhrer Hände Arbeit angewiesen waren, politisch aktiv zu sein, und wenn auch nicht alle kommen konnten, weil die Art

ihrer Arbeit sie nicht zu jeder Zeit fortließ oder die gezahlten Diäten im Verhältnis zu ihrem Einkommen zu niedrig waren, so war doch die Zahl derer, die auf

diese Weise zusätzlich politisch tätig werden konnten, gewiß nicht ganz gering. Die Athener haben sich zwar nicht dazu verstehen können, sich selbst zur

politischen Tätigkeit zu zwingen; dem stand ihr gerade durch die Demokratie erworbenes Gefühl für die persönliche Unabhängigkeit entgegen. Aber sie haben alles getan, den institutionellen Rahmen der Demokratie so zu gestalten, daß die staatlichen Geschäfte nicht in die Hand weniger gerieten, sondern in der Hand möglichst vieler blieben, und sie haben dafür gesorgt, daß die Barrieren, die den einzelnen von seinen persönlichen Verhältnissen her behinderten, möglichst niedriggehalten wurden. Die Leistung, die nichtsdestoweniger besonders der arme und scheue Bürger für die Teilnahme am politischen Geschäft zu erbringen hatte, mochte sie nun in dem Verzicht auf besseren Gewinn oder nur

in dem Einsatz von Zeit und Energie bestehen, war auf jeden Fall in der Regel nicht sehr hoch, und sie dürfte in der Blüte der Demokratie durch den Schwung

des neuen politischen Lebens, durch den Stolz auf die Weltstellung der Stadt und, wenn nicht dadurch, so doch gewiß durch das Interesse an vielen aktuellen

politischen Fragen, vor allem solchen, die, wie der Krieg, in das Leben jedes

einzelnen eingriffen, ausgeglichen worden sein. Das Gleichheitsprinzip wurde zusätzlich durch eine Reihe von besonderen Klageformen gegen Verfälschung und Verwässerung abgesichert. Denn mochte es durch die Institutionen und Verfahrensnormen der Bürgerschaft noch so gut geschützt sein, war es doch möglich, daß ein geschickter Mann Mittel und Wege fand, seine eigenen Interessen oder die einer Gruppe durchzusetzen. Das konnte besonders in der Volksversammlung geschehen, wo die Menge ungeschieden, das heißt, nicht gefiltert durch den Zwang zur Berücksichtigung aller lokalen Bezirke, urteilte. Stimmungen bzw. Summungsmache

konnten hier, wo der Souverän entschied, u.U. zu gefährlichen Kurzschlüssen führen. Am meisten fürchtete man, daß sich ein einzelner Mann mit Hilfe einer

VIII. Die Grundlagen des demokratischen Gedankens

309

übertölpelten Volksversammlung oder einzelner Bevölkerungsgruppen zum

Herrn der Stadt aufschwingen oder doch einen unverhältnismäßig großen Einfluß erringen könnte. Die Peisistratiden standen als warnendes Beispiel immer

vor Augen. So schuf man zur Vermeidung solcher Gefahren schon in den Anfängen der Demokratie ein besonderes Verfahren: den Ostrakismos (vgl. ο. 5. 40f.). Durch dieses alljährliche, bis gegen Ende des 5. Jahrhunderts geltende „Gericht“ war es den Athenern möglich, nicht nur den potentiellen Tyrannen,

sondern den jeweils einflußreichsten Bürger, mochte er ein noch so guter Demokrat sein, für zehn Jahre in die Verbannung zu schicken. Daneben wurde eine

Reihe von Klageformen geschaffen, durch die Gesetzesbrecher, Hochverräter und Volksbetrüger abgeurteilt werden konnten, unter ihnen am wichtigsten die Eisangelie-Klage, die bei schweren Vergehen gegen die Stadt eingebracht wurde, und die Klage wegen Verfassungswidrigkeit, die den Antragsteller von normwidrigen Volksbeschlüssen mit schwerer Strafe bedrohte (o. S. 179f.). Die Effek-

tivität der Klageform war insbesondere dadurch gegeben, daß sie anzustrengen jedem Bürger freistand (Popularklage). Wer immer sich über die breite Masse zu erheben und deren politische Ordnung anzugreifen suchte oder auch nur den Anschein erweckte, als ob er dergleichen im Schilde führte, konnte durch eine

Klage von jedermann in die Schranken gewiesen werden. So haben die Athener alles getan, damit alle Bürger ihr politisches Recht

nıcht nur besaßen, sondern es auch ausüben konnten. Durch das System der Diäten wurden, soweit möglich, materielle Hinderungsgründe beiseite ge-

räumt; die Berücksichtigung aller lokalen Bezirke bei der Besetzung der Gremien, die Losung und das für die meisten Gremien (außer für die Geschworenenhöfe und für den Rat) geltende radikale Verbot der Iteration des Amtes sicherten eine möglichst breite Verteilung der Funktionen und verhinderten die Bildung von Interessencliquen. Der Wille der Athener, die Gleichheit praktisch durchzusetzen, ist überall spürbar. Er zeigt sich in dem Ausbau der Besoldung ebenso wie in der Verfeinerung der Losverfahren, bei der Regelung wichtiger Organisationsformen ebenso wie im kleinsten Detail. Ob es sich um die Auslosung der täglich erforderlichen Anzahl von Richtern (o. 5. 210ff.)

oder nur um die Sitzordnung im Rat, um die Bestimmung der Archonten (o. 5. 266) oder nur darum handelte, wer die Ausweismarken der Richter in die

Losmaschinen stecken durfte (o. 5. 269), immer geht es um die Verwirklichung des Gleichheitsprinzips, darum, daß nicht ein bestimmter Bürger oder eine Gruppe von Bürgern, sondern möglichst viele, der Idee nach alle Athener raten, rıchten und entscheiden.

Das Bestreben, die Hindernisse für die Wahrnehmung der politischen Rechte beiseite zu räumen und möglichst breite Kreise in den politischen Raum hineinzuziehen, zeigt deutlich, welchen Stellenwert für die Athener das politische

Engagement hatte. Diese uneingeschränkte positive Einstellung zur Aktivität

des Bürgers hat schließlich sogar dazu geführt, dem politischen Engagement zumindest in innenpolitisch kritischen Zeiten der Stadt den Rang eines gesetz-

lichen Geboteszu geben. Man verknüpfte dabei das Gebot mit Solon, in dem die Athener nicht nur den großen Gesetzgeber, sondern auch den Schöpfer der

Demokratie sahen. Solon soll danach gesetzlich festgelegt haben, daß jeder

310

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Athener, der bei einem Aufruhr (stásis) in der Stadt nicht zu den Waffen greife

und Partei nehme, seiner bürgerlichen Rechte verlustig gehen solle (sog. StasisGesetz). Das Gesetz, das die politische Tätigkeit als einen Wert voraussetzt,

gehört gewiß nicht in die solonische Zeit, in der das politische Bewußtsein der großen Masse erst ganz allmählich zu erwachen begann. Es ist indessen nicht

nur die Datierung zu bezweifeln, sondern das Gesetz überhaupt in Frage zu stellen, und dies vor allem deswegen, weil das gesetzliche Gebot schlechthin undurchführbar war. Wie wollte man es, noch dazu in Zeiten innerer Unruhe,

die das Gesetz doch voraussetzte, durchsetzen? Das Gesetz zeugt hingegen von dem Gewicht, den der hinter ihm stehende Gedanke in der Zeit, als man es konstruierte (wohl in der Krise nach 404/03) hatte, und es ist auch nicht unge-

schickt mit Solon verbunden, der in seiner umfangreichen Gesetzgebung dem Bürger das Gefühl der Verantwortlichkeit für das ganze Staatswesen zu vermitteln versucht hatte. In der Tat war der Gedanke, daß der Athener bei innerem Zwist Partei zu nehmen hatte, zwar nicht als Gesetz, aber doch als positiv

bewertete Handlungsmaxime am Beginn des 4. Jahrhunderts den Athenern deutlich bewußt; er konnte sogar vor Gericht als eine Maxime demokratischer

Gesinnung herausgestellt und in der forensischen Argumentation zugunsten bzw. zuungunsten einer Prozeßpartei verwendet werden. Die Forderung nach Parteinahme ist dabei, auch wenn sie von den Rednern in die förmliche Geset-

zessprache gekleidet wurde, als ethische Norm zu verstehen, die aber von den

Richtern für die Urteilsfindung gegebenenfalls nicht weniger berücksichtigt werden mochte als das förmliche Gesetz. Die Forderung nach Parteinahme

haben wir a fortiori als Forderung nach politischer Tätigkeit überhaupt anzusehen, und das „Stasis-Gesetz“ ist somit Symbol für die positive Einstellung des Atheners zur politischen Tätigkeit ganz allgemein.

3. Freiheit als neues Lebensgefühl Vor Beginn der großen Seeschlacht bei Syrakus, die das Schicksal der Athener auf Sızilien besiegeln sollte (413), erinnerte der athenische Feldherr Nikias, so

schreibt Thukydides, seine Kapitäne an ihre Heimatstadt, um die es in dieser

Schlacht ging, und stellte sie ihnen vor Augen als die freieste Stadt, in der jeder ohne Zwang sein Leben selbst einrichten könne. Das Wesen der athenischen Demokratie hat Thukydides hier in der Freiheit der Lebensgestaltung durch den einzelnen gesehen und mit einigen wenigen treffenden Worten ausgedrückt, was er breiter schon in der Grabrede des Perikles, die von ıhm als ideale Skizze der freiheitlichen athenischen Demokratie konzipiert ist, ausgeführt hatte. „Jeder

kann tun, was ihm gefällt“, heißt die Maxime. Sie wird indessen von Thukydides

nicht als zügelloser Individualismus oder Egoismus aufgefaßt, sondern ist kompensiert durch eine freiwillige Unterordnung unter die geschriebenen und unge-

schriebenen Gesetze der Stadt. Die Freiheit in der Demokratie hat danach eine doppelte Seite: Sie gestattet dem einzelnen ein freies Ausleben seiner Persönlichkeit und bindet ihn gleichzeitig an das Kollektiv. Aristoteles hat dieses ambivalente Wesen der demokratischen Freiheit in eine klassische Formel gebracht. Die

VIII. Die Grundlagen des demokratischen Gedankens

311

Freiheit, sagt er, ist das Ziel einer jeden Demokratie, und diese sei zum einen

durch die Gleichheit und also dadurch definiert, daß das Regieren und Regiertwerden reihum gehe und der Beschluß der Mehrheit das Recht setze, zum anderen dadurch, daß jeder leben könne, wie er will. Die Spannung zwischen den verschiedenen Ausprägungen der Freiheit - hier die Geltung des Mehrheits-

willens, dort die freie Selbstgestaltung des Lebens - wird von ıhm nicht ganz gelöst. In der Tat erscheint die Einheit von Freizügigkeit und Anerkennung des

Mehrheitsbeschlusses durch alle eher ein Postulat bzw. Ideal zu sein, als die Lebenswirklichkeit wiederzugeben. Aber es bleibt hervorzuheben, daß den Athenern diese beiden durchaus verschiedenen Formen von Freiheit, mochten

sie in der politischen Wirklichkeit nun harmonisch zusammenklingen oder nicht, als Wesensmerkmale der Demokratie bewußt waren. Die Gleichheit und

der ın ihr enthaltene Grundsatz, daß das Gesetz von allen gemacht und ihm zugleich von allen Gehorsam entgegengebracht wird, gilt zwar als das erste Fundament der Demokratie und Freiheit. Daneben aber steht jene andere Frei-

heit, die den Athenern nicht weniger ein Charakteristikum ihrer Verfassung war. In der Demokratie lebt jeder, „wie er wünscht“, hat auch Euripides in

einem seiner Dramen gesagt, und ebenso, allerdings in negativen Wendungen,

formulierten es die Kritiker. Das größte Gut der Demokratie, sagt Platon in seinem „Staat“, ist die Unersättlichkeit der Freiheit. Die Freiheit, die jedem erlaubt, zu leben, wie er will, ist leichter in einer

Lobrede auf die Demokratie zu preisen als in der Lebenswirklichkeit festzumachen. Anders als die Freiheit, die aus der Gleichheit erwuchs, konnte man bei ihr nicht auf Institutionen verweisen, wo sie konkret erkennbar wurde, oder ihre

Ursprünge mit einem Reformer wie etwa Kleisthenes verbinden, der stellvertretend für die Einführung des Gleichheitsprinzips stehen konnte. Sie war niemals

wie die Gleichheit eine politische Forderung gewesen. Die Athener und mit ihnen die anderen Griechen stellten vielmehr erst im nachhinein fest, daß es sie gab, und lobten oder kritisierten sie je nach politischem Standpunkt. Da sie nicht an einer politischen Forderung, die es eben nicht gab, gemessen, sondern

an den faktischen Verhältnissen abgelesen wurde, war und ist es nicht leicht zu sagen, was es mit ihr auf sich hatte. Sie wurde gewonnen aus einer Betrachtung des athenischen Lebens in der Demokratie, und die verschiedensten Bereiche dieses Lebens lieferten die Bausteine für das ideale Bild. Man darf vermuten, daß

für den Gedanken der Freiheit der Lebensgestaltung auch bedeutsam war, daß die Athener in der Volksversammlung und als Geschworene in den Gerichten

über die Gestaltung des eigenen Lebensraumes und ihre Aktivitäten innerhalb der von ihnen gesetzten Ordnung selbst bestimmten. Mag dergleichen auch mitschwingen, ist doch gerade der Kern der Vorstellung, wie die begriffliche

Formulierung der Quellen deutlich zeigt, nicht auf die Beschlüsse und Aktivitäten der Gemeinschaft, sondern auf das Handeln

und Wollen des einzelnen

gerichtet. Der Gedanke gewann seine Kraft aus dem privaten Lebensbereich, der zwar nıcht überall scharf von dem öffentlichen zu scheiden ist, in dem aber auch

dort, wo er den letzteren berührt, der einzelne und seine persönlichen Wünsche und Gefühle im Vordergrund stehen. Die Blüte des Wirtschaftslebens mit der Vielfalt der Erwerbsmöglichkeiten, der fast grenzenlose Handelsraum und die

312

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

magnetische Anziehungskraft der Stadt für Fremde haben hier ohne Zweifel die Phantasie besonders angeregt. Die bunte Menge der Menschen aus aller Welt, der wachsende Reichtum der Stadt und die aus den fernsten Gegenden in den Piräus gebrachten Waren der mannigfachsten Art waren Beweis für die Offenheit der

Gesellschaft ebenso wie die prächtigen religiösen Feste und dramatischen Aufführungen, die unter den Griechen ihresgleichen suchten. Auch mit der geistigen Kraft Athens vermochte sich keine andere Stadt zu messen; Athen war der aner-

kannte Mittelpunkt für Poesie und Wissenschaft unter den Griechen. Von daher

maßen sich die Athener einen höheren Grad von Bildung zu und glaubten, für ganz Hellas ein Vorbild zu sein. Mit dieser Erweiterung der Móglichkeiten und des Horizontes verband sich eine neue Lebensart und entwickelte sich ein Lebensgefühl, das sich von dem anderer Gesellschaften abhob. Dazu gehórte eine gewisse Großzügigkeit in der Beurteilung der Gewohnheiten und Anschauungen anderer, ferner auch Lebensfreude, die manchen Gram vergessen ließ, sowie ein

offenes Wesen, das jeder Heimlichtuerei selbst gegenüber Fremden abgeneigt war. Thukydides hat in der Grabrede des Perikles diese Gedanken in klassischer Weise

formuliert, und dabei sprach er aus, was die meisten Athener dachten. Das demokratische Athen hat in der Vorstellung der Athener eine besondere, gegenüber den anderen Griechen unterschiedliche Art der Lebensauffassung. Die Form der Verfassung und diese Lebensart gehórten zusammen. Da diese unendlichen Möglichkeiten für Aktivitäten und die aus ihnen entspringenden neuen Lebensund Denkformen erst mit der Demokratie entstanden waren, hielten die Athener sie, die nicht anders denn positiv gewertet werden konnten, auch für gewollt,

nicht nur für ein Ergebnis schwer durchschaubarer Entwicklungen: Die Athener

waren danach selbst die Schópfer des neuen Lebensgefühls. Es ist leicht zu erkennen, daß die einzelnen Züge dieser Lebensanschauung auf dem Hintergrund einer anderen, gegensätzlichen Welt gewonnen wurden. Das lebendigste, weil gegenwártige Gegenbild lieferte Sparta, und auch Thukydides hat diese Stadt als Folie zur Demonstration des Lebens im demokratischen Athen genommen. Die starre spartanische Lebensordnung (kósmos) mit ihrer rigorosen Unterordnung des Individuums unter die unerbittliche Regel, die Eingliederung schon des kleinen Kindes in ein Erziehungssystem, das den absoluten Vorrang des Kollektivs über die Einzelperson lehrte, und die Allgegenwart des Gesetzes mit seiner totalen Kontrolle mußten in der Zeit des athenisch-spartanischen Antagonismus, also seit ca. 460 und damit seit den Anfángen der

Demokratie, der gegebene Gegenpol sein. Aus ihm erhielt die demokratische Freiheit ihre scharfen Züge, und sie bestimmte sich also mindestens ebenso stark aus ihrem Gegenbild wie aus ihrem eigenen Wesen. Neben Sparta trug auch die

eigene Vergangenheit zu dem Bild der Freiheit bei, vor allem die Tyrannis, der eigentliche Feind der Demokratie, aber auch die Zeit aristokratischer Herrschaft. Bespitzelung und Besteuerung, Willkür und Unterdrückung mochten den Athenern aus der Erinnerung an alte Zeiten oder aus den zur Topik erstarrten Klischees, die man

sich in demokratischer Zeit von ihnen machte, die

Gegenwart als Zeit der freien Selbstbestimmung erscheinen lassen, und in einer

Verbindung von Gegenwärtigem mit Vergangenem wurde dann Sparta zum Fortsetzer der alten Übel.

VIII. Die Grundlagen des demokratischen Gedankens

313

Die Gleichheit war ein politischer Wert, der überall in der demokratischen Ordnung in Institutionen verwirklicht war. Die Freiheit, „leben zu können, wie

einer will“, war hingegen nicht institutionell abgesichert und nirgendwo konkret greifbar; Athen kannte keine Freiheitsrechte, die säuberlich den Freiraum

des Individuums von den Ansprüchen des Staates abgegrenzt hätten. Diese Freiheit konstituierte nicht ein Katalog von Individualrechten; sie war vielmehr

die Konsequenz der Beseitigung einer starken Regierung oder, wie die Athener sagten, der Beseitigung der Herrschaft, welche die Athener von Vormundschaft befreit und sie mündig gemacht hatte. Das neue, freiheitliche Lebensgefühl ging

hervor aus der Vorstellung, daß die Demokratie nicht nur allen Athenern insgesamt, sondern auch jedem einzelnen von ihnen ungeahnte Möglichkeiten der

Lebenserfüllung geschaffen hatte, und sie hatte folglich auch keinen eigenständigen Ursprung, sondern war mit dem ersten Aspekt von Freiheit, der Gleichheit, fest verbunden. Aus ebendiesem Grund konnten sich die beiden Ausprä-

gungen der Freiheit auch nicht widersprechen. Der Wunsch des einzelnen, sich ausleben zu können, fand nicht -- wie heute in dem Verhältnis der Individualrechte zum Gesetz - eine feste Schranke in den Gesetzen der Athener, und

umgekehrt konnte dieser Wunsch auch nicht mittels Gesetzes eingeklagt werden. Diese Freiheit war eher ein Gefühl, eine positive Erwartung oder optimistische Lebenseinstellung, als daß aus ihr konkrete Ergebnisse erwartet werden konnten; sie war ein anderer Ausdruck für die neue demokratische Verfassung,

in der die alten Herrschaftsformen durch die Regierung aller ersetzt worden waren und dadurch eine unbehinderte Lebensweise möglich geworden schien.

Da beide Formen von Freiheit aufeinander bezogen und die eine aus der anderen herleitbar war, kann Perikles bei Thukydides auch ausdrücklich auf die gleichzeitige Gültigkeit beider hinweisen: Der Athener ist persönlich frei und erkennt trotzdem das Gesetz an, und dies nicht aus Furcht vor dem Gesetz, sondern aus

freiem Willen: In der Demokratie hebt sich die Antinomie von freiem Handeln

und Gesetzesgehorsam auf. Hatte für Nikias (s.o.) und Perikles bzw. Thukydides der Freiheitswille seine selbstverständliche Schranke in dem Gesetzesgehorsam, mochte das ein Kritiker, der etwa in den Urteilen der Geschworenenge-

richte Akte der Ungerechtigkeit zu sehen geneigt war, anders sehen: Die Gleichheit, sagt Aristoteles (Pol. 1310a28ff.), bedeutet die Gültigkeit des Mehrheitsbeschlusses und folglich ist in ihr das Recht ebenso aufgehoben wie es in der Freiheit, zu tun, was einer will, keine Handlungsmaxime darstellt. Das ist rein

logisch richtig, aber in der politische Realität doch nur eine Scheinlogik, weil es nicht berücksichtigt (und nicht berücksichtigen will), daf die Athener das Gesetz tatsáchlich beachtet haben (s.u. S. 220. 352). Es kónnte einer fragen, ob die Freiheit, sein Leben selbst zu bestimmen und

sich auszuleben, wirklich für alle galt und wo für diejenigen, für die sie galt, die gegebenen Grenzen lagen. Doch diese Frage kann man so nicht stellen. Denn da es sich bei dieser Form von Freiheit nicht, wie dargelegt, um bestimmbare Rechte, sondern lediglich um ein durch die Abwesenheit von (nichtdemokrati-

scher) Herrschaft hervorgebrachtes Gefühl von Selbstbestimmung, Mündigkeit und Stolz über die Stellung des demokratischen Athen in der Welt handelte, sind

die Grenzen seiner Gültigkeit unbestimmt. Der Teilnehmer an einer Volksver-

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

sammlung, der erfolgreiche Händler und der siegreiche Kombattant eines Feldzuges mochten es haben, diejenigen, die auf der Schattenseite des Lebens standen, mochten es niemals erfahren, und auf jeden Fall stellte sich ein entspre-

chendes Gefühl bei Betrachtung der Außenwelt und der Vergangenheit eher ein, als wenn man es nur an den eigenen, gegenwärtigen Belangen maß. Doch wie immer es damit steht, es gab dieses Gefühl, freier zu leben als andere, und es

scheint, daß es sich nicht verloren hat. Es ist daher die andere Frage eher

berechtigt, nämlich warum nicht in der politischen Wirklichkeit, anders als im Idealbild des Thukydides, der erste und wichtigste Aspekt der Freiheit, nämlich die Gleichheit und also die Herrschaft der zahlenmáftigen Mehrheit, dieses stolze Lebensgefühl erstickt zips in einer Demokratie, Freiraum kennt, ein ebenso Tyrann? Die Athener haben

hat. Kann nicht die Herrschaft des Mehrheitsprindie keine Schutzgarantien für einen individuellen harter Herr sein wie der Tyrann? Ist sie nicht ein nicht so gedacht, und es ist nicht einfach, dafür die

Gründe aufzuspüren, weil sie nicht der positiven Ordnung, sondern dem praktischen Umgang mit ihr entnommen werden müssen. Sie sollen nicht hier, sondern dort, wo die Praxis des politischen Lebens breiter erörtert wird (u. S. 333ff.), behandelt werden.

IX. Ziele der Politik 1. Mangelnde Bestimmtheit des politischen Zieles Antike wie moderne Darstellungen sind erfüllt von Bewunderung über die Kraft und Unternehmungslust der Athener und werden nicht müde, über ihre zahllosen Aktivitäten, Debatten und Beschlüsse in den Versammlungen zu berichten;

aber sie stellen keine Überlegungen an über die damit verfolgten allgemeinen

Ziele. Man spricht heute gelegentlich von den Bauten des Perikles als einer Maßnahme der Arbeitsbeschaffung, von dem Machtstreben der Athener und ihrem Tyrannenhaß; aber nur sehr gelegentlich macht ein Forscher sich darüber Gedanken, ob hinter solchen Willensbekundungen eine der Demokratie adäquate allgemeine politische Richtung steckt, ob es zumindest politische Prioritäten oder Ansätze dazu gegeben habe. Die Schweigsamkeit der Interpreten ist nicht zufállig; sie spiegelt den Umstand wider, daf$ die Demokratie nicht das

Ziel eines langen Kampfes gewesen ist, in dem um sie gerungen, sie gerechtfertigt und theoretisch untermauert worden wäre. Sie hatte sich durch besondere innere und äußere Bedingungen aus der Isonomie der kleisthenischen Zeit entwickelt und wurde als eine neue politische Verfassung erst wirklich bewußt, als man sie bereits praktizierte. Die Rechtfertigung der spezifisch athenischen

Form der Isonomie erfolgte nachtráglich, und sie war, wie dargelegt wurde (S. 298ff.), recht kümmerlich, was wohl nur bedeuten kann, daß man sie für

entbehrlich hielt. Den Athenern fehlte demnach das, was für den heute politisch Tätigen so selbstverstándlich ist: das politische Programm. Der moderne Mensch denkt ausschließlich in Programmen; ohne sie ist er orientierungslos. Der Athener weiß nichts von vorgegebenen politischen Leitlinien und Handlungsmaximen.

Man kónnte die Bedeutung dieser Feststellung mit dem Hinweis zu entkräften suchen, daß es im Hinblick auf das Ziel der Politik im demokratischen

Athen nicht anders bestellt war als in der aristokratischen Zeit der Stadt oder als in anderen griechischen Stádten, die von Aristokraten oder Oligarchen gelenkt wurden. Die allgemeine politische Ordnung lag in ihnen fest; sie wurde über-

haupt nur bedingt für verfügbar gehalten, und man fühlte sich in der Tradition geborgen. Waren die Verhältnisse im Innern aber mehr oder weniger dauerhaft geregelt, ging es vor allem noch darum, das Gegebene zu exekutieren und zu

316

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

erhalten, und blieb für eine weitergehende Aktivität nur die Außenpolitik übrig, in der man Pläne verfolgen konnte oder auf die anderer Städte reagieren mußte. Aber einmal davon abgesehen, ob in den aristokratisch und oligarchisch regierten Städten der Binnenraum wirklich so inaktiv war, wie es auf den ersten Blick erscheint, will doch dieses Ergebnis wenig zu der Vielgescháftigkeit im demokratischen Athen, von der wir soviel hören, passen, und es will uns auch nicht

einleuchten, daß die Athener ihre neue, zündende politische Idee ausschließlich auf die formale Organisation der Herrschaft der Gleichen, und das heißt: allein

auf die Regierungsform beschränkt haben sollen, sie also mit dem bloßen Machterwerb schon saturiert waren und mit der gewonnenen Macht nichts weiter anzufangen wußten, als ein Herrschaftsgebiet zu errichten. Haben die Demokraten also im Binnenraum Athens ihre Macht nicht im Interesse der großen Mehrheit, des plethos, genutzt? Gab es keine „demokratische Politik“ im eigentlichen Sinne? Überall dort, wo wir in den Quellen dergleichen erwarten,

wird oft sehr allgemein von dem Nutzen (sympheron) der Stadt gesprochen. Ob nun in der Volksversammlung, im Rat oder bei Prozessen, man wird nicht müde,

seinen Diskussionsbeitrag oder sein Plädoyer mit dem Hinweis darauf zu stützen, daß das Vorgeschlagene der Stadt nütze oder doch zumindest nicht schade, und dabei wird der Nutzen oft in einem Atemzug mit Gerechtigkeit und Gesetzlichkeit genannt. Darüber hinaus wird gelegentlich der Nutzen der Stadt weiter dadurch bestimmt, daß er höher stehe als der Vorteil des einzelnen; aber da die Stadt allen Bürgern gemeinsam gehöre, so fährt man fort, sei in dem

Nutzen der Stadt auch der des einzelnen enthalten. Die Sophisten und die von ihnen beeinflußten Schriftsteller haben den Nutzen der Stadt sogar gegenüber Recht und Gesittung verabsolutiert, wofür der Melier-Dialog bei Thukydides, in dem die Vernichtung der grundlos überfallenen Insel Melos mit dem Recht des Stärkeren legitimiert wird, der eindrucksvollste Beleg ist. Indessen beherrscht das sophisusche, absolut gesetzte Uulitátsprinzip nicht die politische Praxis; in

ihr geht es vielmehr um das jeweils innerhalb der geltenden Rechtsordnung für die Stadt Vorteilhafte. Der Hinweis auf den Nutzen als das gángige Argument für die Richtigkeit

einer öffentlich geäußerten Meinung löst nicht das Problem, sondern enthüllt vielmehr die Aporie, die jeder moderne Mensch hat, wenn er nach Leitlinien des

politischen Verhaltens in Athen sucht. Der Utilitätsgedanke scheint einer Präzi-

sierung allgemeinerer politischer Ideen eher aus dem Wege gehen zu wollen, oder er verweist darauf, daß es dergleichen eben nicht gab. Immerhin aber gibt doch die immer wieder zu beobachtende Verbindung des Nutzens mit dem, was gerecht und Gesetz ist, einen Fingerzeig, der uns weiterführen kann. Denn wenn die Athener auch kein politisches Programm besaßen, waren sie sich doch in einem Punkt völlig einig, nämlich darüber, daß die bestehende politische Ordnung erhalten werden sollte: Der Schutz der Demokratie vor Auflösung, insbesondere vor dem stets gefürchteten Usurpator, dem Tyrannen, war allen etwas Selbstverständliches, und dies in einem Mafte, daß er - wie auch heute -

weniger als Programm denn als Voraussetzung allen politischen Lebens aufge[αἴθε wurde. Die Furcht vor einem Umsturz hat die Athener dahin gebracht, über

die Sicherung und Erhaltung der Demokratie besonders nachzudenken und sich

IX. Ziele der Politik

317

Mechanismen auszudenken, die möglichst im vorhinein jeden hochverräterischen Versuch ersticken sollten. Der Schutz der politischen Ordnung war ein immer gegenwärtiges politisches Aufgabenfeld. Wenn man so will, ıst er, wenn nicht ein Programm, so doch ein beständiger Punkt politischer Sorge in den ansonsten bunten Aktivitäten der Athener und soll darum unten 5. 325ff. beson-

ders behandelt werden. Der Gedanke an das Recht als Gegenstand allgemeinerer politischer Überlegungen bringt uns noch einen Schritt weiter. Die politische Ordnung umfaßte nur einen Teil des gesetzten Rechts. Die Masse der Rechtsordnung betraf das

Privat- und Verfahrensrecht, das indessen nicht von einem (in aller Regel heute höher bewerteten) Verfassungsrecht geschieden war. Der Rechtsgedanke bezog sich daher auf die gesamte Rechtsordnung, und also richtete sich auch der Schutz auf das gesamte Rechtssystem. Dabei bedeutete Schutz nicht lediglich die Verhinderung oder Ahndung von mißbräuchlicher Anwendung des Geset-

zes, sondern in erster Linie die Erhaltung des Bestehenden. Die regelmäßige Anfrage in der Volksversammlung, ob die Gesetze genügten oder nicht, hieß nicht, daß die Athener sich ständig darüber Gedanken machten, was zu verändern wäre. Wie das Gesetzgebungsverfahren des 4. Jahrhunderts deutlich zeigt (s.o. S. 188ff.), ging es vielmehr um die Selbstvergewisserung der Rechtsordnung, in der der Wahrung der überkommenen Gesetze Vorrang vor einer Abschaffung oder Korrektur eingeráumt war. Obwohl in dem genannten Gesetz-

gebungsverfahren ein bequemes Instrument zur Verwirklichung weitgehender Veränderungen zur Hand war, wurde es doch in diesem Sinne nicht genutzt, und wir kennen auch nur ganz wenige, alles andere als revolutionäre neue Gesetze generellen Charakters aus demokratischer Zeit. Die Athener waren

keine Neuerer. So selbstverstándlich dies einem mit den athenischen und überhaupt griechischen Verhältnissen Vertrauten ist, muß es doch betont werden, weil nach heutiger Vorstellung mit Demokratie Wandel und „Fortschritt“ verbunden

wird. Die Athener waren, wie alle Griechen, im Hinblick auf die

Gestaltung ihrer allgemeinen Lebensverhältnisse und in ihrer Lebensanschauung traditionsgebunden, nach unserer Terminologie „konservativ“. Die Tradition war ein Wert; wer eine Einrichtung oder Gewohnheit besonders gut legitimieren wollte, versuchte ihr ein móglichst hohes Alter zu geben. Auf diese

Einstellung zu den gegebenen Verháltnissen wurde indessen nicht weiter reflektiert, weswegen hinter ihr auch kein politischer Wille vermutet werden darf. Ein Wille war lediglich mit der demokratischen Verfassung, die als etwas spezifisch Athenisches empfunden wurde, verbunden. War dann wenigstens hier ein politischer Wille am Werk, der auf einen Ausbau und eine Fortentwicklung gezielt

hätte? Der in fast allen modernen Darstellungen zur athenischen Geschichte verwendete Begriff der „radikalen“ Demokratie könnte dahin führen zu vermuten,

daß die Radikalisierung der Demokratie eine für die Athener denkbare, ja vielleicht zwangsläufige politische Forderung gewesen ist. Nun wurde in dem Kapitel über die Entwicklung Athens zur Demokratie bereits ausgeführt (o. S. 44ff.), daß derjenige Vorgang, den wir und auch bereits die Athener selbst als „Radikalisierung“ einer bis dahin gemäßigten Demokratie ansprachen, näm-

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

lich die sog. „Revolution des Ephialtes“ von 462/61, nicht die Radikalisierung der

Demokratie, sondern die Herausbildung der Demokratie selbst bedeutete, gegenüber der der vorige Zustand eher als verdeckte Demokratie oder auch Isonomie anzusprechen ist, und es wurde desgleichen vermerkt, daß dieser Umbruch eher

von einer außenpolitischen Konstellation verursacht worden war, als daß er die Konsequenz innenpolitischen, womóglich von theoretischen Überlegungen geleiteten Drucks gewesen wäre. Was den Athenern Demokratie bedeutete, schloß

gerade das unter Ephialtes und seinen Mitstreitern Erreichte ein, also insbesondere den Übergang der Beamtenkontrolle von dem Areopag auf den Rat und die Gerichte sowie die Steigerung der Bedeutung der Gerichte. Nach diesem Zeitpunkt ist es zu keiner weiteren inhaltlichen Ausgestaltung der Demokratie mehr gekommen. Die Verfahrensweisen wurden zwar verfeinert und ausgebaut, die demokratischen Grundideen durch Losung, Diätenzahlungen und Beamtenkon-

trollen schárfer gesichert; aber es wurde das politische Denken nicht durch neue, den bisherigen Rahmen erweiternde oder gar sprengende Ideen verándert. Die Tradition behielt ihren Wert, und die wirtschaftlichen und sozialen Strukturen

blieben unangetastet. Nachdem die neue politische Form einmal gewonnen war, wurde sie lediglich ausgebaut. Sofern man hierin mehr als nur die Sicherung des Bestehenden sehen will und also in Beschlüssen wie dem Kallias-Dekret vom Jahre 434/33, durch das das Finanzwesen in weiten Teilen neu organisiert wurde, eine politische Idee vermuten möchte, kann man hinter ihnen ein Ziel der Politik erkennen. Aber dieses Ziel ist dann auf die Korrektur des Bestehenden, nicht auf

die an neuen Ideen orientierte Gestaltung der Zukunft gerichtet gewesen. Es sollte das Bestehende konsolidiert, nicht reformiert werden.

Neben dem Rechtsschutz und dem Ausbau der bestehenden Ordnung wird heute gern die soziale Fürsorge als ein Bereich gesehen, den die Demokratie, wenn nicht entdeckt, so doch mit besonderer Aufmerksamkeit behandelt hat.

Nun ist es nicht sehr einfach zu sagen, ob die verschiedenen Maßnahmen, die hier genannt werden - neuerdings hat man auch an den Wohnungsbau gedacht -, wirklich als eine soziale Hilfe oder gar Sozialpolitik interpretiert werden kónnen. Manches müssen wir in der Tat so verstehen, anderes, für das sich auch andere

Erklärungsmöglichkeiten anbieten, wird oft wohl nur deshalb für Sozialpolitik gehalten, weil man heute in dem wirtschaftlichen Egoismus die erste Triebfeder des Handelns erkennt und nicht versteht, warum eine Masse, die herrscht, nicht in erster Linie für sich selbst, und das heißt: für ihren eigenen materiellen Vorteil

sorgen sollte. Da eine Beantwortung der Frage nicht einfach ist und weitergehende Überlegungen verlangt, soll sie im folgenden gesondert untersucht werden. Es sei hier lediglich schon vorausgeschickt, daß wir bei allen Anstrengungen in dieser Richtung doch von einer demokratischen, das heißt der athenischen De-

mokratie eigentümlichen Sozialpolitik nur sehr bedingt sprechen können.

2. Versorgung und wirtschaftliche Besserstellung der Bevölkerung Leistung und Ansehen sind in der Demokratie auch dem Armen nicht versagt, läßt Thukydides seinen Perikles sagen (2,37,1) und zielt damit auf das Kernstück

IX. Ziele der Polıtik

319

der demokratischen Idee: die Gleichheit. Da indessen von den besonderen Entstehungsbedingungen der Demokratie her die soziale und ókonomische Gleichheit ausdrücklich in der politischen Repräsentation der Bürgerschaft nicht enthalten sein sollte, hat Thukydides/Perikles bei diesem Wort wohl kaum

an wirtschaftliche oder sozialpolitische Aktivitáten der ármeren Bürger gedacht. Worin aber kónnen dann auch die Armen politisch etwas leisten? Eine Antwort auf die Frage kann uns nur eine Durchmusterung der Beschlüsse der

politischen Institutionen, insbesondere der Volksversammlung geben. Wenn man von ihnen alle Aktivität, die den Schutz der politischen Ordnung und den Ausbau der Verfassung betreffen, sowie die Ehrungen von Bürgern und Auswärtigen außer Betracht läßt, behandeln die meisten verbleibenden Beschlüsse Fra-

gen der äußeren Politik (Verträge, Gesandtschaften, Seebundsfragen, militärische Unternehmungen), und eine ganze Reihe von Historikern hält darum auch die Außenpolitik für das primäre, ja nahezu ausschließliche Feld politischer Betätigung in der Demokratie. Eine Sozialpolitik hat es danach in Athen nicht gegeben. Aber so einfach liegen die Dinge doch wohl kaum. Denn wenn auch die politische Organisation die sozialen Verhältnisse nicht widerspiegelt, konnte

sie dennoch niemand einfach vergessen, wenn er in die Volksversammlung, zum Rat oder zur Gerichtssitzung ging. Im Gegenteil wurde in Athen die Ungleichheit des Besitzes - wie auch die der Bildung - genau beachtet, und es ist von den Athenern selbst oft bemerkt worden, daf$ die Mehrheit in der Demokratie

gerade von den Armen gebildet wurde; die Philosophie hat Armut und Reichtum sogar als entscheidendes Kriterium für die Bestimmung von demokrau-

schen und oligarchischen Verfassungen genommen. Wenn daher der ökonomische Bereich in dem politischen Aufbau der Demokratie auch nicht erkennbar war und also etwa der soziale Status eines Mannes bei der Bestimmung von Ratsherren, Beamten und Richtern unberücksichtigt blieb, muß man dennoch

wohl davon ausgehen, daß alle Bürger, mochten sie nun gerade Funktionär sein oder nicht, bei Initiativen und Abstimmungen von ihrer sozialen Lage mehr oder weniger bewußt beeinflußt wurden. Bei Entscheidungen, die den wirtschaftlichen Bereich berührten, müssen wir darum immer ein teils waches, teils auch verdrängtes Empfinden für den Nutzen, den der einzelne aus ihnen ziehen konnte, voraussetzen, und in der Tat wird das denn auch oft genug ausdrücklich ausgesprochen. „Das Volk baut für sich Gymnasien und Bäder“, vermerkt höhnisch der oligarchische Kritiker in seiner Schrift vom Staat der Athener (2,10), und Aristophanes läßt in den „Rittern“ (1350ff.) eine seiner Gestalten ausrufen,

wenn von zwei Rednern ın der Volksversammlung der eine den Bau neuer

Schiffe (und also Krieg), der andere die Beschaffung von Geld für den Geschworenensold vorschlägt, laufen alle dem letzteren hinterher. Zahlreich sind auch die Bemerkungen über die Gier der Athener nach dem Geld ihrer Bundesgenos-

sen. Die Außenpolitik ruhte nicht in sich selbst; sie hatte eine klare sozialpolitische Komponente. Der materielle Nutzen der außenpolitischen Unternehmungen war in der Tat für alle Athener, ob arm oder reich, sehr hoch. Denn die Athener benutzten die aus ihrem Seebund eingehenden Marrikelbeiträge, welche die meisten Bundes-

genossen ihnen anstelle eines an sich fälligen militärischen Kontingents zahlten,

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

nicht nur zur Anschaffung von Kriegsgerät und zur Finanzierung von kriegerischen Unternehmungen, sondern auch zur Deckung inneren Bedarfs; manche

Bedürfnisse wurden durch die großen Geldmengen, die nach Athen flossen, leichter befriedigt, andere sogar erst geweckt. So wäre der großzügige Ausbau des Diätenwesens und damit das Programm der Verwirklichung der demokrati-

schen Gleichheit in der politischen Praxis ohne das sichere Finanzpolster der Bundesgelder gewiß nicht so schnell in Gang gekommen und hätte der Ausbau der Akropolis weder so schnell noch so aufwendig unternommen werden kön-

nen. Die zweckfremden Entnahmen aus der Bundeskasse haben sich zwar in Grenzen gehalten und diese Kasse offensichtlich nicht übermäßig belastet; die Bauten auf der Akropolis z. B. wurden durchaus nicht aus Bundesmitteln finanziert, wie heute manche meinen, ja es scheinen aus ihnen - abgesehen von dem

Sechzigstel, das der Göttin Athena seit 454/53 zustand - überhaupt keine Zahlungen für den Ausbau der Akropolis geleistet worden zu sein. Aber alleın das Vorhandensein einer so reichen Kasse zur Verfügung der Volksversammlung

und die Möglichkeit des gelegentlichen Zugriffs mußte die Ausgabefreudigkeit für mancherlei Projekte, die dem einzelnen athenischen Bürger Vorteile brachten, beflügeln, aber vor allem: Das gesamte Rüstungswesen und die Feldzüge wurden über diese Kasse abgerechnet und aus ihr so der Bau von Kriegsschiffen

und Marineanlagen sowie deren Unterhaltung, die Kosten für den Unterhalt der Reiterei und der Sold für Soldaten, Matrosen und Ruderer, mochten sie nun zu

Feldzügen, zu Übungsfahrten oder zur Durchführung von Verwaltungsaufgaben ausreisen, bezahlt. Noch viel höher war der indirekte Nutzen, der den

Bürgern Athens aus ihrer Herrschaft zufloß. Zum einen kam der Soldatensold zum weitaus größten Teil ihnen zugute. Sie, aber ebenso viele in Athen ansässige

Fremde (Metóken) profitierten auch als Handwerker, Händler und Arbeiter von den umfangreichen Rüstungsmaßnahmen, insbesondere vom Flottenbau, aber

auch von dem Bau des übrigen Kriegsgeräts, der Werften, Schiffshäuser, Mauern usw. Die Blüte der athenischen Wirtschaft hatte nicht zuletzt in diesen Aufträ-

gen ihren Grund. Dazu kamen weitere Einkünfte durch die Konzentration der Seebundsverwaltung und der bundesgenóssischen Gerichtsbarkeit für schwere Strafdelikte, Streitigkeiten der Stádte untereinander und Beschwerden über den

auferlegten Matrikelbeitrag in Athen. Hierbei zogen alle Athener wegen der

anfallenden Prozeßflut aus dem Richtersold Gewinn und erhielten darüber hinaus etliche Berufsgruppen, insbesondere die Gastronomen, Vermieter und Lebensmittelhändler, durch den Zustrom der Reisenden einen zusätzlichen Ver-

dienst.

Gerade vielen ármeren Athenern gab die Seeherrschaft noch einen weiteren Gewinn. Seit der Mitte des 5. Jahrhunderts ging Athen nämlich dazu über, einen Teil des Bodens von Bündnern, die abgefallen und wieder in die athenische Botmäßigkeit zurückgeführt worden waren, einzuziehen und an Athener zu verteilen. Die auf dem Territorium solcher Bundesstádte angesiedelten Bürger erhielten eine beschränkte Selbstverwaltung, blieben aber Athener und also der Volksversammlung in Athen unterstellt. Viele Siedler verpachteten ihr Grundstück an Einheimische. Die so annektierten Gebiete hießen Kleruchien (von

kléros, „das durch das Los zugeteilte Grundstück“, und échein, „haben“, „erhal-

IX. Ziele der Politik

321

ten“, also Landgutbesitzer). Auf Naxos, Andros, in Chalkıs und Eretria auf

Euböa, auf Skyros und anderen Orten entstanden solche athenischen Siedlungen, durch die gegen 430 ca. 10 000 Athener versorgt worden waren. Nach der

Niederlage von 404 mußten die Kleruchien natürlich wieder geräumt werden; doch haben die Athener später, in der Zeit ihres Zweiten Seebundes, diese Politik, wenn auch in beschränkterem Umfang, fortgesetzt. Wie bei den Kleruchien hat man auch bei den übrigen Vorteilen, die den Athenern aus ihrer Herrschaft zuflossen, zu bedenken, daß sie nach der Nieder-

lage von 404 zunächst entfielen und später, wenn überhaupt, dann nur in sehr viel geringerem Umfang wieder auflebten. Die Athener konnten ihrer Seebundspolitik im 4. Jahrhundert nur dadurch einigen Erfolg bescheren, daf sie sich von ihrer harten Finanzpolitik des 5. Jahrhunderts distanzierten und den Bündnern darüber hinaus innere Autonomie und Mitbestimmung für Bundes-

angelegenheiten zusicherten. Die vorangehenden Ausführungen zeigen, daf die Athener ihre Herrschaft im Seebund jedenfalls zum Teil für soziale Zwecke nutzten. Da aber für die

einzelnen Mafinahmen jeweils verschiedene Motive hineinspielten, ist es nicht immer leicht zu sagen, was die vorherrschende Absicht gewesen ist. Bei der Anlage von Kleruchien dürfte der Wunsch nach Versorgung besitzloser Athener im Vordergrund gestanden haben, obwohl der Aspekt der Beaufsichtigung ge-

rade der unsicheren Bundesgenossen - Kolonisten dienten als Hopliten und waren jederzeit abwehrbereit - gewiß nicht geringzuachten ist. Die große Bautäugkeit der perikleischen und nachperikleischen Zeit hingen haben wir gewiß nicht, wie es heute nicht selten dargestellt wird, als Arbeitsbeschaffungsprogramm anzusehen. Es hätte sich auch nur an die Gruppe der Bürger wenden können, deren Zahl aber gerade einige Jahre vor dem Beginn des Ausbaus der

Stadt durch die Kampfhandlungen mit Sparta und seinen Verbündeten sowie insbesondere durch die schwere Niederlage der athenischen Flotte in Ägypten (456/54), bei der allein 6 000 Athener gefallen sein sollen, stark dezimiert wor-

den war. Die Beschaffung von Arbeit für Bürger kann darum damals selbst dann kaum ein Thema gewesen sein, wenn man die Beseitigung von Arbeitslosigkeit

als eine politische Aufgabe erkannt hátte. Es war, soweit wir sehen kónnen, den Athenern aber überhaupt die Vorstellung fremd, daf allein um der Abhilfe von Arbeitslosigkeit willen an sich nicht notwendige Arbeiten von Staats wegen künstlich geschaffen wurden. Allerdings hat das aufwendige Bauprogramm seit

der Mitte des 5. Jahrhunderts dann ohne Zweifel vielen Athenern Arbeit gegeben und Geld unter die Leute gebracht, doch haben davon vor allem auch die

Metóken profitiert. Es ging dabei jedenfalls nicht um die Erfüllung sozialpolitischer Programmatik.

Ganz zweifelsfrei ist der soziale Aspekt bei der Gewährung von Unterhalt für die Angehórigen von Gefallenen und für Behinderte. Die Sorge galt nur den wirklich Bedürftigen, schlof aber bei den Hinterbliebenen z. B. auch die Eltern ein. Der arbeitsunfähige Kriegsversehrte erhielt ebenfalls eine Pension, im

4. Jahrhundert auch alle gebrechlichen Personen, die keine unterhaltspflichtigen Angehórigen hatten, arbeitsunfáhig waren und weniger als 300, später 200

Drachmen besaßen. Das Unterstützungsgeld der letzteren betrug Anfang des

322

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

4. Jahrhunderts einen Obolos, gegen dessen Ende zwei Obolen täglich, war also

ein karges Existenzminimum. Die Berechtigung für den Unterhalt wurde vom Rat regelmäßig überprüft; für die Kriegsversehrten und Hinterbliebenen von Gefallenen sorgte der Polemarchos gemeinsam mit dem Rat. Diese Unterhaltspflichten soll bereits Solon und ım Falle der Kriegsversehrten Peisistratos eingeführt haben. Da indessen in der Arıstokratie die adlige Familie sowohl für die eigenen Angehörigen als auch für die von ihnen Abhängigen sorgte, gehört eine entsprechende Gesetzgebung frühestens in die Zeit nach dem Zusammenbruch der Adelsherrschaft, als die ärmeren Bürger Wehrdienst leisteten, aber im Un-

glück nicht mehr auf die Hilfe eines adligen Herrn rechnen konnten. Die genannten staatlichen Verpflichtungen dürften daher nicht älter als das späte 6. Jahrhundert und lediglich zur Erlangung einer ehrwürdigen Autorität auf Solon bezogen worden sein. - In Zeiten großer Not hat die Stadt auch breiteren Kreisen der Bevölkerung Unterhaltsgelder gezahlt, so im Jahre 480, als Attika vor den anrückenden Persern evakuiert wurde, allen Athenern, und in den ersten

Jahren des Peloponnesischen Krieges vielen von den Bauern, die vor den Sparta-

nern sich hinter die athenischen Mauern geflüchtet hatten. Vielleicht ist die o. S. 283f. behandelte Diobelie, die im ausgehenden Peloponnesischen Krieg einem nicht geringen Teil der Bevólkerung gezahlt wurde, auch ein Unterstüt-

zungsgeld gewesen. Unter die sozialen Maßnahmen der Demokratie sind auch die Bemühungen um eine Sicherstellung der Versorgung Athens mit Getreide zu rechnen. Sie kostete die Athener zunächst kein oder doch nicht sehr viel Geld. Die Verteilung

kostenlosen oder verbilligten Getreides gehórt erst der hellenistischen Zeit an. In Athen sind in klassischer Zeit lediglich Getreidespenden auswärtiger Fürsten verteilt, im 4. Jahrhundert gelegentlich auch die Reichen zu solchen Spenden angehalten worden (epidóseis). Die umfangreiche Gesetzgebung des 5. und 4. Jahrhunderts über das Getreidewesen, durch die eine intensive Kontrolle des Marktes aufgebaut und an die wechselnden Verhältnisse angepaßt wurde, ist

jedoch auch bereits als eine Sozialpolitik zu begreifen, die ohne den Einsatz zusátzlicher Mittel, einzig durch den Aufbau eines Überwachungsapparates, ihr Ziel ansteuert.

3. Die Auftenpolitik: Demokratie und Herrschaft So bleibt als Môglichkeit, in die Geschicke der Stadt gestaltend einzugreifen, vor allem die Außenpolitik. Auf diesem Feld waren die Athener nun in der Tat rastlos tátig, und ihre Unternehmungen erfolgten auch planvoll, hatten ein Ziel und ein Ergebnis: Der gewaltige Seebund umfaßte Hunderte von Städten und erstreckte sich über große Teile der griechischen Welt; er wurde seit der Mitte des 5. Jahrhunderts konsequent zu einer Herrschaft ausgebaut und war für damalige Verhältnisse gut durchorganisiert. Daf die Seebundspolitik den Athenern aus dem Herzen gesprochen war, zeigt vor allem der unermüdliche Einsatz der Massen in den Feldzügen selbst; aber es wurde auch ausgesprochen. „Freiheit und die Herrschaft über andere“, sagt Thukydides (3,45,6), „ist das Größ-

IX. Ziele der Politik

323

te“, sowohl für den Armen, den stärker die Not treibt, als auch für den Reichen, dessen Motive in seiner Gier und seinem Hochmut liegen, und in der letzten Rede,

die dieser Historiker Perikles halten läßt, der sog. Vermáchtnisrede, werden die Größe und Macht Athens unverhohlen als politischer Wert an sich vorgestellt, die keiner ethischen Legitimation bedürften. Wir lesen derlei Gedanken nicht allein

bei Thukydides, dessen Formulierungen man sophistische Einflüsse unterstellen und auf diese Weise relativieren kónnte. Auch Anstophanes singt das Loblied der athenischen Herrschaft, und selbst als karikiertes Zerrbild zeugt es noch von dem Vorhandensein dieses Gefühls des Stolzes der Menge über das Untertanengebiet. Wenn Aristophanes in seinen „Rittern“ das Volk als den Herrscher über den

ganzen Erdkreis und als König der Hellenen vorstellt, weiß er, daß die Menge dies hören will, und er konnte ebenso sicher sein, daß wirklich alle Athener es hören

wollten, nicht nur bestimmte Schichten oder Gruppen, etwa die Nichtbesitzenden, die Land und Sold, oder die Kaufleute, die einen von Athen beherrschten

Wirtschaftsraum und sichere Handelsrouten haben wollten. Wir kónnen von

einer gewissen Uniformität des Willens gegenüber einer dynamischen Außenpoliuk sprechen, und dies nicht nur für das 5., sondern auch noch, jedenfalls im großen und ganzen, für das 4. Jahrhundert.

Sichtbarer Ausdruck athenischen Herrschaftswillens ist das umfangreiche

Bauprogramm in Athen und Attika, das nach den Niederlagen der Perser, mit dem Schwerpunkt in perikleischer Zeit, durchgeführt wurde. Die Sieghaftigkeit

der Góttin und das gesteigerte Ansehen der Stadt gaben diesem Programm ihre Impulse. Der neue Geist manifestierte sich am deutlichsten in den Bauten der Akropolis, die den Ruhm und die Größe der Stadt sowohl den Athenern selbst

als auch den Außenstehenden vor Augen führten und führen sollten. Die Umgestaltung der Akropolis hatte bereits nach dem ersten großen Sieg der Athener

über die Perser bei Marathon begonnen. Erst jetzt aber wurden für die Akropolis die Konsequenzen aus den großen politischen Veränderungen in der Stadt seit 510 v. Chr., námlich aus der Vertreibung des Tyrannen und der Etablierung einer isonomen Gesellschaft, gezogen: Auf der Akropolis als dem religiösen Mittelpunkt der Stadt erhielt der Athena-Kult durch die Errichtung eines neuen

groften Marmor-Tempels (sog. Vor-Parthenon) neben dem alten Tempel der Athena Polias (er stand nórdlich des Parthenon) und den weiteren Ausbau des

bestehenden Ensembles (Propyläen, Erechtheion, Nike-Tempel) noch stärkere Betonung und zugleich damit eine deutliche politische Akzentuierung. Als die Perser 481/80 die Akropolis zerstörten, war der neue Tempel noch nicht fertig. Seit 447 wurde das alte Programm wieder aufgenommen, der Umfang aber

erweitert und der künstlerischen Ausgestaltung ohne Rücksicht auf die Kosten größte Aufmerksamkeit geschenkt. Die Schönheit der Formen, der nicht erst Renaissance und Neuzeit, sondern bereits die antike Nachwelt den Rang des

Normativen gab, darf nicht die Gigantomanie verdecken, die aus der Planung und Durchführung des Ganzen spricht. Es waren Bauten, mit denen die Athener protzen wollten. Neben der Größe war schon den Alten die Schnelligkeit unheimlich, mit der das alles bewerkstelligt wurde. Für große Tempel hatte man bis dahin bisweilen Generationen benótigt; für den neuen Parthenon genügte ein Jahrzehnt! Nicht nur der Umfang, auch die Eile der Fertigstellung ist ein

324

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Gradmesser für die politische Bedeutung des Baus. Es kann denn auch kein

Zweifel daran herrschen, daß der Parthenon den Athena-Kult auf der Akropolis nicht etwa erweitern wollte, sondern er eine bestimmte Funktion der Göttin,

nämlich ihre Eigenschaft als Stadtherrin, die zugleich mit der Stadt über Hun-

derte griechischer Städte gebot, herausheben sollte. Arbeitsbeschaffung kann hinter dem Entschluß zum Bau dieses Tempels und der anderen Gebäude ebensowenig gestanden haben (s.0.) wie nur der Wille, für die durch den Perserbrand

zerstörten Gebäude Ersatz zu schaffen. Das Bauprogramm der perikleischen und nachperikleischen Zeit ließ das, was nach der Schlacht von Marathon

geplant war, weit hinter sich, insbesondere war der Hauptbau, der Parthenon, überdimensioniert und trat auf diese Weise die Funktion dieses Tempels schärfer hervor. Der alte Tempel der Athena Polias nördlich des Parthenon stand in reduziertem Umfang noch bis zum Ende des 5. (oder gar bis zur Mitte des 4.) Jahrhunderts und ın ihm das nach dem Perserbrand erneuerte Kultbild der Polias, und als er Ende des Jahrhunderts abgerissen wurde, wanderte die Kultstatue nicht etwa in den Parthenon, sondern in das Erechtheion. Die Goldelfenbeinstatue der Athena Parthenos, die Pheidias schuf, ist aber nicht als eine zweite Kultstatue neben dem Kultbild der Polias anzusehen; die Parthenos ist von der

Polias überhaupt nicht scharf zu trennen: Beide Statuen bezogen sich auf ein und denselben Kult. Aber die Parthenos des Pheidias repräsentierte doch eine besondere Seite der göttlichen Kraft, nämlich den Ruhm der Herrschaft der

Athener. Ihre Funktion innerhalb des Athena-Kultes auf der Akropolis ist daher mehrschichtig; die religiöse Bedeutung tritt vor der machtpolitischen in den

Hintergrund, auch wenn beide Aspekte natürlich eine Einheit blieben. Zentrum des Kultes blieb die Athena Polias im Erechtheion mit ihrem vor dem alten,

wohl 406/05 abgebrannten Tempel befindlichen Altar. Der Parthenon tritt so-

zusagen als Bau zu einem vorhandenen Ensemble hinzu. Er scheint vor allem als ein riesiges Schatzhaus konzipiert worden zu sein, in dem die der Athena, der Stadt und den Bundesgenossen gehörenden Gelder, sonstige Wertgegenstände

und Weihgeschenke aufbewahrt wurden. Er demonstrierte die Macht der Göttin und damit Athens eher, als daß er Ausdruck eines tiefen religiösen Empfindens

gewesen wäre. Die Stadt Athen und die Athener sind auch auf dem 160 m langen Fries gegenwärtig, der den zur Akropolis ziehenden Festzug an den Panathenäen zeigt, wohl der erste mit einheitlichem Thema um alle vier Tempelseiten umlaufende Fries, in dem die Bürgerschaft in ihrer Gesamtheit neben den

Göttern und ihnen gleich auftritt, und die Metopen und der Schild der Parthenos künden von dem mythischen Ruhm der Stadt. Die Göttin des Parthenon erscheint als Herrin Athens und des Seebundes zugleich, und in der Tat haben

die Athener ihre Bundesgenossen in den Athena-Kult eingebunden - sie sandten Weihgaben (Rind und Panhoplie) und nahmen durch Gesandte an dem Festzug

teil - und sogar gelegentlich diesen Kult, das heißt den der Athena Polias der Stadt Athen, und den anderer Gottheiten der Stadt in den bundesgenössischen

Städten selbst gefördert.

In der Außenpolitik agierten die Athener mit großer Beständigkeit, Intensität und Zielstrebigkeit. Ist das Ziel, nämlich die Herrschaft, klar, sind doch die

Motive nicht ebenso durchsichtig. Ging es um die Macht als solche, oder harte

IX. Ziele der Politik

325

man vor allem die materiellen Vorteile des Machtgewinns im Auge? Nun dürfen

wir mit großer Sicherheit voraussetzen, daß der Seebund in seinen Anfängen vor allem eine Konsequenz der in den Perserkriegen erworbenen Seegeltung Athens

war und die Dauerhaftigkeit des außenpolitischen Erfolges in der Fähigkeit lag, eine große Anzahl von Schiffen zu bemannen, und in der Bereitschaft der großen Menge, die Belastungen der militärischen Unternehmungen über eine

lange Zeit hin auf sich zu nehmen. Ohne Zweifel spielte bei dieser Bereitschaft zunächst das gewachsene Selbstgefühl der Athener mit, der Wille, sich besonders gegenüber Sparta als führende Stadt durchzusetzen, ferner auch Übermut und Besitzerstolz. Die Athener erfuhren jetzt erst ihre Kraft und die durch die

Teilhabe auch der Ärmsten am politischen Leben der Stadt gewachsenen Möglichkeiten. Die junge Demokratie fühlte sich stark und entdeckte den Raum der Politik neu, und dieser lag zunächst einmal auf militärischem Gebiet. Aber schon bald dürfte auch der materielle Gewinn, der den Athenern als Konse-

quenz der Herrschaft zuwuchs, bewußt und eine eigenständige Triebkraft für

die militärischen Unternehmungen und die Gestaltung der Herrschaft geworden sein; im vorangehenden Abschnitt ist auf die mannigfachen materiellen

Vorteile, welche die Herrschaft gab, hingewiesen worden. Wurden darum Umfang und Form der Außenpolitik von den Wünschen der Menge nach Gewinn abhängig? Wechselte das Ziel der Politik, und ging es den Athenern nunmehr um ihre wirtschaftliche Besserstellung bzw. um den Ausbau der Demokratie mittels der Finanzkraft der Untertanen? Richtete sich die Außenpolitik damit nun nach der innenpolitischen Dynamik, oder war vielmehr, wie neuerdings angenommen wird, umgekehrt die Innenpolitik weiterhin nur eine Funktion

der Außenpolitik, folgte also der im Binnenraum Athens wirkende Wille den äußeren Unternehmungen und besaßen letztere ein Eigengewicht, das stärker war als ein auf die Gestaltung der eigenen Lebensverhältnisse gerichteter Wille? Die Fragen machen klar, daß das Ziel der Politik im Unbestimmten bleibt oder doch mehrere Antworten zuläßt. Ob die Herrschaft oder der materielle Gewinn im Vordergrund stand, ist kaum zu beantworten; es läßt sich lediglich sagen, daß das Gewinnstreben nicht fehlte. Ob ferner bei dem Gewinn der Wunsch nach persönlicher Versorgung oder Bereicherung oder nach einer intensiveren Prakti-

zierung der demokratischen Ideen überwog, ist ebenso eher eine Frage des Standpunktes, als daß hier eine grundsätzliche Entscheidung möglich wäre.

4. Schutz der politischen Ordnung Die Sicherung der politischen Ordnung gegen Angriffe von inneren Gegnern

fällt heute unter den Begriff des Verfassungsschutzes. Eine geschriebene Verfassung kannte indessen die Antike nicht. Die formalen Elemente der Ordnung

waren historisch gewachsen und als solche nicht immer von den anderen Normen der Gesellschaft, wie denen des Strafrechts, streng geschieden, und es

konnte darum der Bruch einer Regel der politischen Ordnung ebenso wie die verbrecherische Tat zum Schaden des Gemeinwesens als ein Angriff auf die Ordnung angesehen und mit derselben Anklageform bekämpft werden. Ent-

326

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

sprechend waren die Normen der politischen Ordnung auch nicht als qualifi-

ziertes Recht gegenüber den anderen Normen herausgehoben. Doch war in Athen wie anderenorts selbstverständlich bewußt, welche Normen des Rechts

oder der Gewohnheit für den Erhalt der gegebenen politischen Ordnung unverzichtbar waren, und das Bemühen um ihren Schutz hat auch Formen hervorgebracht, die den unsrigen vergleichbar sınd. Alle Schutzvorkehrungen lassen sıch heute grob ın drei Gruppen gliedern. Einmal wird von den in einem Staat

zusammengeschlossenen Menschen die ausdrückliche Zustimmung zur politischen Grundordnung verlangt, welche die Bereitwilligkeit zum aktiven Eintre-

ten für sie sichern soll; zum andern wird die Verletzung der Grundordnung durch die Schaffung besonderer Delikttatbestände (Hochverrat usw.) und Prozeßverfahren strafrechtlich geahndet, und schließlich sollen präventive Sicherungen, die in das Normengefüge eingebaut worden sind, mögliche Verletzun-

gen der politischen Ordnung im vorhinein unterbinden (z. B. heute die Zweidrittelmehrheit; Verbot der Abschaffung der Grundrechte). Auch in Athen

finden wir diese drei Formen des Rechtsschutzes wieder. Den Athenern konnte sich das Bedürfnis nach einer Absicherung der demokratischen Ordnung naturgemäß erst einstellen, als ihnen die Demokratie als eine besondere, ihrer Stadt eigentümliche Form politischer Verfaßtheit bewußt geworden war, und auch dann haben der Elan des Aufbaus und die erstaunlichen außenpolitischen Erfolge in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts den

Gedanken an eine Gefährdung und infolgedessen an die Notwendigkeit einer institutionellen Absicherung der politischen Ordnung zunächst wohl kaum

aufkommen lassen. Aber da die Idee der Gleichheit des politischen Rechts gerade aus dem Sturz der peisistratidischen Tyrannis ihre Kraft und Legitimation erhalten hatte, war doch von Anfang an jeder nach Einfluß und Macht

strebende Adlige und überhaupt jeder starke Mann gleichsam von der Entstehungsgeschichte der Demokratie her deren klassischer Gegner und ist dies auch immer geblieben. So überrascht es denn nicht, wenn wir schon sehr bald nach dem Sturz des letzten Peisistratiden im Jahre 510 das Streben nach der Tyrannis

und die damit verbundene „Auflösung der Volksherrschaft" gebrandmarkt und die Bürger, vor allem die mit wichtigen politischen Gescháften beauftragten, eidlich auf die Abwehr der Tyrannis verpflichtet sehen. Die Ratsherren haben wahrscheinlich bereits Ende des 6. Jahrhunderts einen solchen Eid geleistet, und

auch im Geschworeneneid findet sich eine entsprechende Klausel. Neben den Eiden gab es Gesetze gegen die Tyrannis. Im Jahre 410, nach dem Zusammenbruch des oligarchischen Putsches, hat ein gewisser Demophantos ein Gesetz gegen die „Auflösung der Volksherrschaft“ beantragt, durch das auch alle Athe-

ner eidlich zum aktiven Eintreten für die Demokratie verpflichtet wurden, und 336 hat Eukrates ein ähnliches Gesetz eingebracht. Die Deklaration der Tyrannis als des eigentlichen Gegners der Demokratie korrespondiert mit der für die athenische Demokratie typischen Abwehr einer starken Regierungsgewalt. Der Gedanke der Schwächung, ja Auflósung der Regierungsgewalt zugunsten der

Idee einer Regierung durch alle ist - als Ausfluß der Gleichheitsidee - sogar zu der tragenden Idee der Demokratie geworden und darum das Feindbild des

Tyrannen gleichsam in der demokratischen Grundidee fest verankert. Die Stadt-

IX. Ziele der Politik

327

gôttin Athena ist, sagt Aristophanes in den „Thesmophoriazusen“ (1143f.), eine Tyrannenhasserin. Die Gesetze und Eide gegen die Tyrannis sind ein Aufruf an alle, die Feinde der Demokratie aufzuspüren und vor Gericht zu ziehen, und

damit die Voraussetzung für die Wirksamkeit der zweiten der obengenannten Vorkehrungen zum Schutz der Ordnung, der Bestrafung des Rechtsbrechers. Da die Athener wie alle Griechen das Institut der Staatsanwaltschaft und also die staatliche Verbrechensverfolgung nicht kannten, war die Stadt für die Auf-

spürung von Feinden der politischen Ordnung auf die Mitwirkung und Wachsamkeit der Bürger selbst angewiesen und also jedermann aufgerufen, bei deren Verletzung Anklage zu erheben (Popularklage). Da es in Athen die Verfassung" als einen besonders geschützten Bereich des Rechts nicht gab, war

der Bereich der óffentlichen bzw. politischen Ordnung nicht fest umrissen, und die fehlende „Konstitution“ konnte etwa auch der von der Popularklage erfaßte

Rechtsbereich nicht ersetzen, da diese Klage sich nicht ausschließlich auf die politische Ordnung bezog: Diese letztere konnte zwar durch Straftaten gegen die Gótter (Asebie), durch Verlassen der Schlachtordnung, durch die schlechte

Behandlung der Eltern und andere Delikte gestórt werden, was alles zu Klagen vor den dafür zuständigen Beamten führte (5.0. S. 205f.). Doch betrafen die politische Ordnung im engeren Sinne nicht diese Straftaten, auch wenn vor Gericht etwa ein Verstoß gegen das Sakralrecht indirekt als Verstoß gegen die

Demokratie gewertet werden mochte, sondern solche gegen die demokratische Staatsform, und diese ruhte zuvörderst auf den Gesetzen, welche sie konstituiert hatten, wie z. B. auf dem Gesetz über die Einführung der Archontenlosung und

über die Übertragung der Beamtenkontrolle auf Rat und Gerichte. Um die Verletzung von Rechtsbrüchen, die gegen diese auf Rechtssatzung ruhende politische Ordnung gerichtet waren, wirksam bekämpfen zu können, hatten die Athener besondere Verfahren eingerichtet. Das eine war die Eisangelie-Klage;

sie wurde über den Rat bei der Volksversammlung eingereicht, die entweder selbst entschied oder (nach ca. 355 stets) den Prozeß an ein Geschworenenge-

richt verwies. Die Klage erfaßte alle Delikttatbestánde von öffentlichem Interesse, so den Umsturz der Demokratie, Landes- und Hochverrat, Täuschung des

Volkes durch die Redner, aber auch Amtsvergehen. Der schuldig Gesprochene mußte mit der Todesstrafe rechnen. Wie an den Tatbeständen abzulesen ist, sind sowohl Taten, die auf eine Aufhebung bzw. Aufterachtlassung aller oder einzel-

ner Grundlagen der politischen Ordnung gerichtet sind, als auch solche, die ohne grundsätzlichen Angriff auf die Demokratie doch dem Gemeinwesen durch Fehlverhalten materiellen Schaden zufügen, in einer Klageform zusammengefaßt. Es wird hier der Angriff auf die formale Ordnung nicht von dem

Mißbrauch der Ordnung zu eigenem Nutzen oder dem Fehlverhalten zum Schaden der Stadt getrennt. Schärfer zielt ein anderes Verfahren auf den Schutz gerade von formalen Elementen der politischen Ordnung, nämlich die Anklage wegen eines rechtswidrigen Antrags, die jeder Athener gegen jeden Gesetzesantrag einbringen konnte (Paranomie-Klage). Sie ist vielleicht schon bald nach dem Durchbruch zur Demokratie im Jahre 462 eingerichtet und stets als deren Bollwerk angesehen worden. Die Klage wurde vor einem Geschworenengericht

verfochten und konnte sich sowohl gegen die rechtswidrige Form eines An-

328

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

trags - also z. B. gegen einen ohne Probuleuma eingebrachten Antrag - als auch gegen seinen rechtswidrigen Inhalt- z. B. gegen einen Antrag auf die Freilassung aller Sklaven und auf die Bürgerrechtsverleihung an die Metóken - richten, und sie war sowohl gegen den Antrag als auch gegen den bereits gefafiten Beschluß möglich. Ferner war der Antrag ebenso wie das bereits gefaßte Gesetz

schon in dem Augenblick, in dem der Kläger eidlich versicherte, daß er eine Klage wegen Rechtswidrigkeit erheben werde, bis zum Urteil über die Klage suspendiert. Eine Verurteilung zog oft hohe Geldbußen, in schweren Fällen

auch die Todesstrafe nach sich. In der Bundesrepublik haben wir heute eın Gegenstück zu dieser Klage in der Verfassungsbeschwerde; auch sie kann jedermann gegen jedes Gesetz anstregen, doch hat die Bewerde heute keinen Suspensiveffekt.

Die Klage wegen Rechtswidrigkeit enthält bereits den Gedanken der präventiven Sicherung, weil in ihr vor allem die beabsichtigte Rechtsverletzung

verhindert werden soll. Aber insofern bei ihr die prophylaktische Sicherung nicht automatisch eintritt - es mußte sich ja ein Kläger finden, und fand er sich nicht, wurde über den Antrag, mochte er nun rechtswidrig sein oder nicht, abgestimmt -, ist sie keine echte Präventive. Aber auch sie haben die Athener

gekannt, und es ist hier vor allem an zwei Einrichtungen zu denken. Da sie beide bereits in einem anderen Zusammenhang ausführlich erörtert wurden, genügt hier ein kurzer Hinweis. Zum einen handelt es sich um das Probuleuma, also die

Ratsvorlage, die für jeden Beschlußantrag in der Volksversammlung unumgäng-

lich war: Die Volksversammlung durfte nichts beschließen, was nicht im Rat vorberaten und ihr vom Rat förmlich vorgelegt worden war (o. S. 168ff.). Da, wie gezeigt wurde, der Rat gegenüber der Volksversammlung eine rein dienende Rolle hatte oder doch haben sollte, steckt in dem Probuleuma jedenfalls nach

der mit ihm verfolgten Absicht keine politische Einflußnahme. Der mit ihm verfolgte Zweck liegt einzig darin, den Willen zu kanalisieren und dabei Zeit zu gewinnen, um etwaige schädliche, insbesondere demokratiefeindliche Absich-

ten offenlegen und die Verteidiger der Demokratie auf den Plan rufen zu kónnen. Die andere Práventive ist auch in das Gesetzgebungsverfahren eingebaut, oder richtiger: Sie ist mit dem Gesetzgebungsverfahren, der Nomothesie, wie es

nach 404/03 eingerichtet worden ist, identisch (s.o. S. 187ff.). Das Verfahren des 5. Jahrhunderts kennen wir nicht, doch dürften in frühdemokratischer Zeit auch die generellen Gesetze noch mit einfacher Mehrheit der Volksversammlung

beschlossen worden sein. Die Nomothesie regelte in einem fórmlichen Verfahren die Ánderung oder Ergánzung der normativen Gesetze, einerlei, ob sie die politische Ordnung betrafen oder nicht; sie erfaßt folglich das gesamte Normengefüge. Obwohl die Rechtsordnung hier nicht, wie heute das Verfassungsrecht, durch eine qualifizierte Mehrheit geschützt war, ist durch den Zwang, die

Neuerung in einem fórmlichen Prozeßverfahren vor einem besonderen Ge-

richtshof begründen und gleichzeitig das abzuándernde Gesetz verteidigen zu müssen, ein bremsender Effekt erreicht worden, dessen Wirkung der einer

qualifizierten Mehrheit nahekommt.

Daß die genannten Verfahren zum Schutz der politischen Grundordnung eingerichtet worden sind, liegt auf der Hand. Wie wirksam war nun ihr Schutz,

IX. Ziele der Politik

329

und welchen Charakter trägt er? Seinem Charakter nach beruht der Verfassungsschutz in Athen auf drei Faktoren. Der eine Faktor liegt in der zeitlichen Verzögerung eines Gesetzesantrags, der Zeit zur Besinnung geben und gegebenenfalls Maßnahmen zur Verhinderung der rechtsbrecherischen Absicht ermöglichen soll. Er ist auch Teil unseres modernen Rechtsschutzes; doch wis-

sen wir seinen Schutzwert nur noch schwer einzuschätzen. Für Athen ist sein Wert hingegen leicht erkennbar; denn Athen war eine unmittelbare, durch keine repräsentativen Organe gefilterte Demokratie, in der alle Ereignisse, Stimmungen und Emotionen direkt auf die jederzeit zur Beschlußfassung bereite Menge

einzuwirken vermochten. Niemand wußte besser von diesen Schwächen als die Athener selbst; sie miRtrauten ihrer eigenen Entschlußfreudigkeit oder, da die

Masse geneigt ist, ihre Schwächen zu personalisieren, richtiger: Sie mißtraute

den antragstellenden Rednern, die für die Fehlentscheidungen der Menge geradestehen mußten. Der oft erhobene Vorwurf der Täuschung des Volkes ist der Sache nach nichts anderes als das Eingeständnis dieser Schwäche, die in dem Zwang zur unmittelbaren Entscheidung durch alle liegt. Der Verzögerungsef-

fekt wird sowohl durch das Probuleuma als auch durch das Nomothesieverfahren und die Anklage wegen Gesetzeswidrigkeit erreicht. - Der zweite Schutzfaktor liegt ın der persönlichen Haftung desjenigen, der die Ordnung verletzen will bzw., soweit er dies eigentlich nicht vorhat, der doch leichtfertig

mit ihr umgeht. Denn bei allen Anträgen vor dem Volk haftet der Antragsteller persönlich für die Übereinstimmung seines Antrags mit dem gesetzten Recht, und dies nicht nur im Prozeßverfahren wegen Rechtswidrigkeit eines Antrags, sondern auch im Nomothesieverfahren. Wird er verurteilt, hat er mit schweren

Strafen zu rechnen. - Der dritte Schutzfaktor liegt darin, daß die Entscheidung über eine Klage wegen Verstoßes gegen die Rechtsordnung bzw. (bei der Nomothesie) sogar über einen Gesetzesantrag nicht vom Volk, sondern von einem

unabhängigen und in letzter Instanz entscheidenden Richtergremium getroffen wird. Das ist in dem Verfahren wegen Rechtswidrigkeit und bei der Nomothesie immer und im Eisangelie-Verfahren meistens, seit ca. 355 auch bei ihm ständig

der Fall. Man hat hier von einem Zweikammersystem gesprochen und z. B. in

dem Geschworenengericht der Nomothesie die zweite Kammer gesehen. Aber das ist gewiß nicht richtig; das Geschworenengericht ist keine nach einem anderen Prinzip zusammengesetzte Versammlung, die eben auf Grund ihres

andersartigen Aufbaus eine wirksame Kontrolle der ersten Kammer darstellt. Die Athener faßten die großen, 501, 1 001 und mehr zählenden Gerichtshöfe eher als das richtende Volk selbst auf, als das Volk gleichsam in einem anderen Aggregatzustand (s.o. S. 225ff.). Die Übertragung der Entscheidung auf einen Gerichtshof dürfte vielmehr deswegen erfolgt sein, weil in ihm nur über 30 Jahre alte Männer saßen, die zudem in feste Verfahrensregeln eingebunden waren und also hier die Besinnlichkeit, das Maß und die Urteilskraft einen besseren Hort hatten als in der oft von Leidenschaft zerrissenen Volksversammlung.

Es ist in der modernen Literatur oft gesagt worden, daß die Wirkung der Schutzmafinahmen in Athen gering war, weil alle Antráge, gegen die trotz ihrer offensichtlichen Rechtswidrigkeit keine Klage eingereicht wurde, Gesetzeskraft

330

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

erhielten, wenn ihnen zugestimmt wurde, und man verweist dann gern auf die Ereignisse vom Sommer 411, als die Volksversammlung dem Druck oligarchi-

scher Umstürzler nachgab und zuerst die Aufhebung des Prozeßverfahrens wegen Rechtswidrigkeit, also des Kernstücks des gesamten Instrumentariums

zum Schutz der politischen Ordnung, dann die Umwandlung der Demokratie in eine oligarchische Staatsform beschloß und damit sich selbst auflöste (Thuk. 8,66f.). Aber es gibt keine absolute Sicherung gegen den Umsturz. Jede politi-

sche Ordnung ruht zunächst in der Zustimmung der überwiegenden Mehrheit ihrer Bürger; Einrichtungen zum Schutz der Ordnung können nichts anderes leisten als diese Mehrheit vor einem überraschenden Angriff zu sichern. Geht die Mehrheit verloren, hilft kein institutionalisierter Schutz, weder damals noch

heute. Im Jahre 411 waren den Athenern nach den verheerenden militárischen Niederlagen und der Auflósung ihres Herrschaftsgebietes der Mut und das Vertrauen in ihre politische Ordnung genommen. Man darf nicht vergessen, daß ein wirksamer, vielleicht der wirksamste

Rechtsschutz in der ausgesprochen konservativen Haltung des Atheners gegenüber dem überlieferten Rechtsgut lag. Diese Wertschátzung des einmal gesetz-

ten Rechts betraf das gesamte Normengefüge, schloR also Privat-, Straf- und Prozeßrecht ein. In ihr war auch die öffentliche Ordnung aufgehoben, die also

als Rechtssatzung geachtet, nicht lediglich durch den politischen Willen der Bürger geschützt wurde. Aber diese innere Einstellung ist keine Einrichtung

zum Schutz der Ordnung, sondern die Voraussetzung von deren Wirksamkeit, und sie soll in einem spáteren Kapitel, wo das Verhältnis der Demokratie zum Recht allgemein erórtert wird, behandelt werden (u. S. 351ff.).

5. Zusammenfassung Alle Überlegungen zu dem Ziel der Politik im demokratischen Athen müssen davon ausgehen, daß die Demokratie von ihrer Entstehungsgeschichte her kein auf die Zukunft gerichtetes politisches Programm kannte; bei der Schaffung der

neuen Ordnung war es um politische Gleichberechtigung, nicht um eine soziale Besserstellung der Athener gegangen. Die gegebenen sozialen Verháltnisse wur-

den nicht in Frage gestellt, vielmehr umgekehrt die Tradition als Wert geachtet. Die Adelszeit war nach Meinung der Athener eine Zeit der politischen Zurückstellung, nicht des sozialen Unrechts gewesen. Soweit der Arme und Minderbemittelte damals hatte leiden müssen, hatte der Grund dafür, meinte man, in dem

Mißbrauch der an sich guten Ordnung durch die Herrschenden gelegen. War der Mißbrauch beseitigt, mußte die gute alte Ordnung wieder in ihr Recht

treten. Diese Einstellung gilt für alle Griechen; aber sie gilt eben auch für die Demokratie in Athen, die auf Grund ihrer neuen, einmaligen Verfassung nach moderner Einschátzung die Móglichkeit zu einem vólligen Umbruch auch des

sozialen Gefüges gehabt hätte. Angesichts dieser Prámisse richtete sich die Politik zunächst vor allem auf die Sicherung und gegebenenfalls Korrektur des Bestehenden. Es ging um den Schutz der Demokratie vor Umsturz, insbesondere vor dem Versuch der Etablie-

IX. Ziele der Politik

331

rung einer Tyrannis, und um Schutz gegen die Hoch- und Landesverräter, gegen jeden, der an den tragenden Pfeilern der Demokratie rüttelte; es ging ferner um

die gelegentliche Ergänzung oder Änderung eines Gesetzes, um die Anpassung an neue Situationen mittels der Schaffung neuer Gesetze und um den Ausbau der demokratischen Organisationsformen im Sinne der einmal gefundenen politischen Ideen; es ging schließlich um die Belohnung der guten Demokraten. Durch den Wegfall des Schutzes, den der Adel seinen Abhängigen als eine Konsequenz des patriarchalischen Gedankens gewährt hatte, waren der Demokratie auch einige soziale Pflichten zugewachsen. Die Opfer des Krieges und die Behinderten wurden versorgt; der gesamten Bevölkerung wurde die Belieferung

des Marktes mit einer hinreichenden Menge von Getreide garantiert. Vor allem aber brachte die athenische Herrschaft über ein großes Untertanengebiet zumindest im 5. Jahrhundert, im 4. Jahrhundert nur noch in eingeschränktem Maße, materiellen Gewinn und sozialen Aufstieg. In zahlreichen Kleruchien

wurden besitzlose Athener mit Land versorgt; die Rüstungswirtschaft, Feldzüge und Baumaßnahmen, die ganz oder teilweise mit den Steuern der Untertanen finanziert wurden, schufen Arbeit und Gewinn. Die Diäten, eine Konsequenz

der demokratischen Idee, brachten so gut wie allen Athenern ein Zubrot und den Ärmsten unter ihnen das Existenzminimum. Dies alles war allerdings zum wenigsten eine in sich selbst ruhende Sozialpolitik; es war meist mit der äußeren

Politik verbunden und hier zum größten Teil nur eine Folge dieser Politik, nicht ihre erklärte Absicht. Der Umfang und die Vielfalt des Nutzens läßt indessen nicht zu, den sozialen Aspekt ausschließlich als Nebenprodukt der Herrschaftspolitik zu sehen. Der materielle Nutzen war meist mit im Spiel, bisweilen sogar

der primäre Zweck. Die Versorgung der Ärmsten, der Profit der Handwerker, Händler und Arbeiter und die Bereicherung aller an den Untertanen waren

daher immer gegenwärtige Triebkräfte athenischer Politik, auch wenn dies aus dem Ziel der jeweiligen Unternehmung rein äußerlich nicht erkennbar war. Die Außenpolitik ist vor allem auch von hierher bestimmt.

Sehr viel schärfer läßt sich in der Außen- und Militärpolitik der Athener ein Ziel ausmachen. Die Demokratie fiel zeitlich mit der Schaffung des Seebundes unter Athens Führung zusammen. Da die neue Führungsrolle durch die Flotte erreicht worden war, muß die Herrschaft im Seebund sogar als eine Konsequenz

der Demokratie angesehen werden: Demokratie und Flotte sind zusammengehörige Begriffe. Es ist nun nicht zu übersehen, daß alle Athener, ob Demokraten oder ihre Kritiker, zunächst die führende Stellung im Seebund, später auch die Herrschaft in ihm gewollt haben. Der Herrschaftswille betraf sowohl die Ausschaltung der Selbstbestimmung aller Bundesgenossen als auch die Nutzung der Marrikelbeiträge zur freien Verfügung der Athener. Perikles hat letzteres gegen-

über seinen Kritikern frei bekannt und mit dem Hinweis auf den Schutz vor den Persern und den Frieden der Meere, den die Athener garantierten, begründet. Man wird dabei zu bedenken haben, was Thukydides öfter ausgesprochen hat, daß die Athener ohne große Gefahr für ihre Stadt aus ihrer einmal gewonnenen Position gar nicht herauskommen konnten, selbst wenn sie es gewollt hätten. Aber dies war nach allem, was wir an Äußerungen kennen, nur eine Rechtferti-

gung gegenüber den Wankenden oder den Ausländern. Die Athener wollten die

332

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Herrschaft um ihrer selbst willen. Den materiellen Nutzen nahmen sie gern mit, und er hat gelegentlich ihr Handeln bestimmt. Aber der Herrschaftswille stand über ihm; um seinetwillen haben sie die größten Beschwernisse und Leiden auf

sich genommen. Die philotimia, der politische Ehrgeiz, war ein konstitutives Element der athenischen Demokratie, und beides, Herrschaftswille und Demo-

kratie, gehören nicht zufällig zusammen. Der Ehrgeiz hat seinen Grund in der Kraft und Vielfältigkeit, welche die Entdeckung des politischen Raumes als eines Tätigkeitsfeldes für alle hervorgebracht hatte. Nicht nur die Gewährung der politischen Gleichheit, auch ihre praktische Verwirklichung gehörte in

Athen zur demokratischen Idee, und sie schuf ein Klima intensivster Anspannung, die sich in fast ununterbrochenen auftenpolitischen, vor allem militárischen Unternehmungen entlud. Wenn die Athener in ihrer Außen- und Herr-

schaftspolitik bis zur Absurditát und mit unbegreiflicher Risikobereitschaft das Äußerste zu erreichen suchten, taten sie es weniger aus Hochmut als aus einem

Gefühl solidarischer Stárke, das ihnen einen Anspruch auf das jeweils Gewünschte zu geben schien.

X. Form und Intensität der politischen Praxis 1. Das politische Engagement der Athener Die demokratischen Institutionen und die mit ihnen verbundenen Organisationsformen, die ihre Grundideen schützen und sichern sollen, bilden das Ge-

rüst der Ordnung, in der das praktische politische Leben und die verschiedenen Entscheidungsprozesse in der Volksversammlung, im Rat und in den Gerichten ablaufen. Die politische Praxis, nach modernem Sprachgebrauch: die Verfassungswirklichkeit, muf zeigen, ob die Demokratie im Sinne ihrer Idee verwirk-

licht wurde und welche Motive die Athener - über die Verteidigung der politischen Gleichheit hinaus - bei ihrem politischen Handeln bewegten. Die formale Ordnung selbst spiegelt lediglich eine Móglichkeit der Verwirklichung wider; auf die politische Praxis aber kónnen viele Faktoren einwirken, welche die

idealen Ordnungsvorstellungen verdrángen und verándern kónnen. Wie sah der demokratische Alltag aus und was bestimmte das Handeln der Athener? Der Idee nach sollten alle Athener nicht nur gleiche politische Rechte, sondern auch die Möglichkeit haben, sie auszuüben (s.o. S. 306ff.). Ein Blick auf den politischen Alltag lehrt, daß diese Idee ganz offenbar gezündet hat. Die Lust der Athener, sich in den politischen Gremien zu engagieren, zu entscheiden und

zu urteilen, schien keine Grenzen zu kennen; sie schienen vor politischer Energie zu bersten und hatten besonders am Richteramt großen Gefallen gefunden. Die Stadt war erfüllt von politischer Betriebsamkeit; jeden Tag strómten Tau-

sende zu irgendwelchen Sitzungen. Vor allem die an solche Aktivität nicht gewöhnten Ausländer, aber auch die Athener selbst haben diese Geschäftigkeit

beobachtet, sie als die Verwirklichung des Ideals gepriesen, gelegentlich belächelt und zunehmend auch kritisiert. Für diesen politischen Eifer wird alsbald der Begriff polypragmosyne, d. 1. Vielgeschäftigkeit, gebräuchlich und demge-

genüber der politisch Untätige (aprágmón) gebrandmarkt. Ist polypragmosyne zunächst ein politischer Wertbegriff, den z. B. Perikles bei Thukydides gegen-

über der politischen Lethargie als ein Charakteristikum der Demokratie herausstreicht (2,40,2), kann die Kritik dann die Geschäftigkeit auch negativ, die politische Enthaltsamkeit positiv bewerten, die erstere etwa Streitsucht, die

letztere Vernunft nennen. Da die Vielgescháftigkeit eine Konsequenz der Demokratie ist, tritt in Athen der Aktive in aller Regel als Demokrat, der Passive

334

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

gelegentlich als schlechter Demokrat oder gar als Antidemokrat auf. Insbesondere die Außenpolitik, die das wichtigste Thema aller Politik der Athener war und am tiefsten in das Leben des einzelnen eingriff, führte zu einer mehrschichtigen Bewertung der politischen Aktivität; denn die dynamische Machtpolitik war im Ausland und bei Gelegenheit auch in Athen umstritten. So vermochte dann das Gegensatzpaar „tätig“ und ,untátig zum Synonym von „Kriegstreiberei" und „Friedensliebe“ zu werden und war je nach Standpunkt der Aktivere ein eifriger demokratischer Politiker oder ein politischer Phantast, der Zurückhaltende ein friedliebender Mensch oder ein selbstsüchtiger Egoist. Durchweg aber wurde der Einsatz für die Stadt als hohe demokratische Tugend angesehen, und wer etwa als Geschäftsträger, Offizier oder Ratsherr seine Pflichten mit Eifer getan, eventuell sogar Besonderes geleistet oder als unbestallter Bürger sich für das Wohl der Stadt mehr als andere hervorgetan, eventuell größere finanzielle Leistungen erbracht hatte, dessen Ehrgeiz (philotimia) wurde gegebenenfalls öffentlich in Ehrendekreten herausgestellt und er selbst auch mit einem Kranz geehrt. In zunehmenden Maße wurden auch Fremde, die sich für Athen engagiert hatten, mit dem ehrenden Begriff der philotimta ausgezeichnet. Von dem Bürger aber wurde der Einsatz für die Stadt erwartet, denn er war und blieb der Kern der bürgerlichen Tugend, und ein Bürger wurde nur dann gelobt, wenn

er sich in besonders eindrucksvoller Weise hervorgetan hatte. Die politische Aktivität der Bürger liegt offen zutage, und dies für die gesamte

Zeit der Demokratie, auch für das 4. Jahrhundert, in dem das politische Leben wohl nicht immer mehr den hohen Stellenwert wie im 5. Jahrhundert besessen hat. Sie ist belegt nicht nur durch Deklarationen, sondern wird auch durch die klaren Aussagen von Quellen gestützt, wonach im 4. Jahrhundert zwar bisweilen nıcht der Sold für die Richter bereitstand, aber sich offensichtlich immer

hinreichend Bürger für das Richteramt eines Tages meldeten und auch immer

500 Ratsleute pro Jahr erlost werden konnten. Gerade auch die immer vorhandene Vollständigkeit des Rates war, wegen der nur einmal möglichen Wiederwahl, auf Grund des Verhältnisses zwischen der Zahl der Bürger über dreißig Jahren und der alljährlich benötigten Anzahl von Ratsherren nur bei Annahme einer Bereitschaft wirklich aller Bürger, auch der Theten unter ihnen, zur Übernahme des Ratsherrenamtes möglich. Danach haben sich nicht nur die Bewohner von Athen/Piräus, sondern auch die außerhalb des städtischen Zentrums in Attika wohnenden Bürger nicht gescheut, eine iängere Reise, Zeit und damit

materielle Belastung für die Übernahme umfänglicher politischer Aufgaben auf sich zu nehmen. Wir haben demnach auch im 4. Jahrhundert mit einer erheblichen Mobilität der Athener im politischen Raum zu rechnen. Wie immer man die Geschäftigkeit der Athener werten will, man hat zunächst den

Sachverhalt als solchen festzuhalten: Die politische Aktivität ist ein Teil der demokratischen Gesinnung, und es ist bezeichnend, daß am Ende des 4. Jahrhunderts, zugleich mit dem Ende einer Demokratie, die den Namen noch verdiente, auch die

Begriffe für die politische Aktivität und Inaktivität aus dem öffentlichen Leben

verschwanden. Die Athener besaßen also das, was wir heute als Gemeinsinn bezeichnen, und sie besaßen ihn ganz selbstverständlich, sozusagen als Teil ihres politischen

Daseins: Gemeinschaftsgeist war kein Therna der politischen Erziehung.

X. Form und Intensität der politischen Praxis

335

Was brachte die Athener nun dahin, über eine so lange Zeit eine Spannung aufrechtzuerhalten, die von dem einzelnen sehr viel persônliches Engagement, auch materielle Opfer und nicht selten sogar den Einsatz des Lebens verlangte? Es ist beobachtet worden, daß die Athener wie alle Griechen, sofern man

einmal von Sparta als von einem Sonderfall absieht, aus ihrer aristokratischen Vergangenheit wenig Gemeinschaftsgefühl mitbrachten. Die Ziele der Adligen waren zunächst mit der eigenen Familie und dem eigenen Besitz verbunden,

und die Polis galt ihnen nur als Wert, soweit sie für den einzelnen Garantien des Schutzes bot. Die Athener scheinen auch hierin wie in so vielem anderen (vgl. o. S. 290ff.) Erben der aristokratischen Lebensart gewesen zu sein, daß sie

die persönlichen Bindungen und Lebensziele sehr hoch einschätzten. Nicht von ungefähr gehörte zum demokratischen Ideal auch der Gedanke des Sichauslebens. Die gefühlsmäßige Bindung an die Gemeinschaft aller Athener ist von der Tradition her also nicht besonders ausgeprägt; es fehlte die uns aus der

nationalstaatlichen Tradition so vertraute Vorstellung der Liebe zum Vaterland bis ins 4. Jahrhundert hinein fast ganz, und als sich später Gedanken dieser Art einstellten, wurden sie doch nie zu einer die Stadt tragenden geistigen Kraft. Gerade auf dem Hintergrund der Tradition will uns die Aktivität der Athener besonders erstaunlich erscheinen. Das Gefühl der inneren, von Emotionen geleiteten Bindung an den Gemeindegenossen sprach offensichtlich wenig mit, wenn sich der Athener politisch betätigte. Der Gemeinschaftssinn konnte

auch nicht institutionell gebunden, etwa in einer sittlichen Staatsidee überhöht werden. Denn es fehlte in Athen wie bei allen Griechen die abstrakte Idee der Gemeinschaft und damit die Vorstellung des Staates als einer Körperschaft des

öffentlichen Rechts. Es gab folglich auch keine Staatsgesinnung oder Staatsraison, aus der heraus Verantwortung für das Ganze übernommen werden konn-

te. Dort, wo wir den Begriff Staat verwenden würden, sagte man in Athen „Stadt“ (pólis), die „Menge“ (pléthos) oder aber „die Athener“. Solon hatte indirekt, über eine sinngemäße Gesetzgebung, die Athener zur Verantwortung erziehen wollen, und dies ist ihm auch bis zu einem gewissen Grade gelungen: Das seitdem wachsende Verantwortungsgefühl für das Ganze ist gerade ein Zeichen der sich allmählich bildenden Demokratie bzw. eine Voraussetzung

für sie. Aber es verfestigte sich nicht in einem Begriff, der als Leitidee aus sich heraus Kraft gegeben hätte. Verantwortung übernimmt in Athen jeder, wie er will, und das heißt, gegebenenfalls eben auch nicht. Das Engagement ist vorhanden, aber es ist weder gefühlsmäßig noch insututionell verankert. Dort,

wo wir ein irrationales Gefühl der Anhänglichkeit und Verpflichtung als Triebkraft des Handelns erwarten, steht bei den Athenern in aller Regel der

Gedanke des Nutzens (s.o. S. 316f). Der Nutzen ist aber nicht inhaltlich definiert; er hat kein in die Zukunft gerichtetes Ziel. Er ist der jeweilige Nutzen im

Hinblick auf die Erhaltung der Stadt und ihrer Verfassung; darüber hinaus ist er auf die Wahrung der äußeren Machtposition gerichtet, und insofern, darf man sagen, schópfen die Athener ihre Kraft aus der Notwendigkeit, die ihnen

gegebene freiheitliche Ordnung und die sie tragenden Gesetze zu schützen, den Kult der Gótter als den Garanten der Ordnung zu bewahren und ihr

Ansehen in der Welt zu erhalten.

336

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Die Gegebenheiten politischen Handelns sind indessen wohl kaum eine hinreichende Erklärung für das Phänomen der politischen Aktivität. Denn es ıst

nicht die politische Vernunft, die die Massen bewegt. Auch in Athen wurde die Begeisterung von Kräften gespeist, die sıch einer rationalen Begründung entziehen, und dies um so mehr, weil die politische Spannung, wenn auch zumindest seit der Mitte des 4. Jahrhunderts mit abnehmender Kraft, anderthalb Jahrhunderte anhielt, nur zweimal unterbrochen durch ein jähes, von außenpolitischen

Katastrophen verursachtes Nachlassen der Kräfte. Eine gewisse Rolle dürfte selbstverständlich der materielle Vorteil gespielt haben, der als eine Konsequenz der Demokratie und ihrer Dynamik dem einzelnen in Form von Diäten, Sold-

zahlungen und Landzuteilungen zugute kam. Die Demokratie und die äußere Expansion, beide Phänomene offensichtlich untrennbar miteinander verbunden, waren eine unerschópfliche Quelle eintráglicher Gewinne. Aber das Mate-

rielle allein trug das Engagement nicht; es scheint nicht einmal ein maßgeblıches, gewiß kein beständiges Gewicht gehabt zu haben. Denn im 4. Jahrhundert waren die Athener zeitweise ganz ohne auswärtigen Herrschaftsbereich, der ihnen handfeste Vorteile hätte bieten können, und das demokratische Leben hat

auch dann seinen Fortgang genommen. Die entscheidende Kraftquelle der politischen Aktivität ist woanders zu suchen; sie gehört schon ın die Anfänge der

Demokratie, ja sie war der eigentliche Motor für die Entstehung der neuen Verfassung gewesen. Sie liegt in der Entdeckung des Politischen als eines für alle freien Raumes der Betätigung, und sie war deswegen eine weit in die Zukunft wirkende Kraft, weil zugleich mit ihr sich ein ungeahnter politischer Erfolg einstellte: der Sieg über die Perser bei Marathon, die Überwindung sogar des Großkönigs bei Salamis und die Schaffung des gewaltigen Seebundes, der größ-

ten Staatengemeinschaft, welche die Griechen je sahen. Die aus der demokratischen Gleichheitsidee entspringende Kraft, die der Ruderer ebenso spürte wie der Hoplit, schien alle traditionellen Grenzen der politischen Möglichkeiten zu sprengen, und in diesem Erfolg mochte jeder auch eine Erfüllung seiner persönlichen Wünsche sehen. Es steckte vieles in diesem Hochgefühl des Erfolges, das

den einzelnen für sich und die Menge gemeinsam bewegte: Verantwortungsgefühl für die Befreiung der Griechen von den Persern und Sorge für die Sicherheit der Bundesgenossen ebenso wie Stolz, Herrschsucht und Hochmut. Da die Kraft der Athener aus ihrer freiheitlichen politischen Ordnung kam, war darin aber auch eine Art Sendungsbewußitsein enthalten, das dazu drängte, die neuen Ideen an andere weiterzugeben. In idealer Weise hat dies Thukydides in der Grabrede des Perikles ausgesprochen: „Athen ist eine Erziehungsstätte für ganz Griechenland" (2,41,1). In der politischen Wirklichkeit konnte dieses Gefühl

sehr viel häßlichere Züge tragen; in ihr verband sich der Gedanke, die anderen Griechen an dem Segen demokratischen Lebens teilhaben zu lassen, mit einer

politischen Praxis, in der die demokratische Ordnung in den Stádten des Seebundes zur Sicherung von deren Untertánigkeit gewaltsam eingeführt wurde: Die „Erziehung“ der Griechen erfolgte mit Gewalt und Terror und hinterließ

allerorts ihre blutigen Spuren. In den modernen Demokratien ist die politische Aktivitát ein Wert, weil der

einzelne Bürger auf Grund der Bedingungen der Massendemokratie, die ihm

X. Form und Intensität der politischen Praxis

337

nur einen eingeschränkten Anteil an dem Gemeinschaftsleben, insbesondere an den Entscheidungsprozessen einräumen, zur politischen Trägheit neigt und ın einem Gefühl der Ohnmacht gegenüber den bestehenden politischen Verhältnissen die ihm gebliebenen Möglichkeiten der politischen Betätigung gern vernachlässigt. Für die Athener war sie der Ausdruck der gewonnenen Freiheit, die

zugleich eine neue Lebensform bedeutete. Die politische Aktivität war ın Athen ein konstitutives Element der Demokratie; ohne sie gab es keine Demokratie.

2. Der Bürger als Träger der staatlichen Aktion Athen war eine unmittelbare Demokratie, das heißt, die Entscheidungen

wurden nicht von gewählten repräsentativen Organen, sondern von dem gesamten Volk, nach unserer Terminologie „plebiszitär“ getroffen. Bei allen Abstim-

mungen entschieden demnach die Athener über die anstehende Sache selbst; es ging bei ihnen nicht, wie in den modernen Massendemokratien, lediglich um die Wahl derjenigen, welche die Entscheidungskompetenz ausüben sollten.” In Athen ist die Unmittelbarkeit der Demokratie dadurch besonders rein durchge-

führt, daß auch die für alle politischen Organisationen notwendigen Organe der Ausführung, also vor allem die allgemeine Regierung, die Rechtsprechung und Verteidigung, der Idee nach von allen besetzt werden sollten, faktisch von einem

relativ hohen Prozentsatz der Bürger übernommen wurden. Die Beamten und der Rat sowie die großen Geschworenenhöfe zeugen von dem Bemühen, Anspruch und Wirklichkeit in Einklang zu bringen. 700 Beamte und 500 Ratsmit-

glieder wurden jährlich benötigt, viele hundert, bisweilen weit über tausend Richter saßen täglich in den Gerichtshöfen. Der Charakter der unmittelbaren Demokratie in Athen ist weiter dadurch geprägt, daß das Volk bei seinen Entscheidungen und Urteilen nicht nach ständischen Gruppen gegliedert war, welche die Interessen von Berufsgruppen oder sozialen Schichten vertreten und eine soziale und ökonomische

Gleichheit der Bürger erstrebt bzw. bekämpft hätten. Von der Grundidee der Demokratie her war die Interessenvertretung sogar, wie wiederholt bemerkt

wurde, ausgeschlossen; die Demokratie wurde gerade als eine Gemeinschaft der ausschließlich politisch, das heißt „nur“ in der Ausübung der politischen

Rechte gleichen Bürger definiert. Es liegt zwar in der menschlichen Natur, daß die Idee in ihrer Reinheit nicht verwirklicht werden kann und die Entscheidun-

gen somit auch ın Athen tatsächlich oft von besonderen Interessen einzelner Berufsgruppen und durch die soziale Rangstellung beeinflußt wurden. Die

Redner und Komödiendichter tadeln öfter die Neigung der Richter, reiche Leute abzuurteilen, und bei Prozessen wurde von den Parteien gelegentlich auf * Da in den modernen Demokratien Vertreter von Parteien, die sich mit festen Sachprogrammen zur Wahl stellen, gewählt werden, legt zwar auch heute das Volk die allgemeinen Richtlinien für die Entscheidungskompetenz fest; aber insofern die Programme der verschiedenen Parteien sich immer stärker angleichen, wird die Entscheidungs- und damit Sachkompetenz doch zunehmend

bei den gewählten Repräsentanten monopolisiert.

338

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

besondere pressure groups direkt hingewiesen; so werden in einer von Lysias verfafiten Gerichtsrede (22) mit Nachdruck die Interessen der (meist nicht athenischen) Getreidegroßhändler gegen die Kleinhändler vertreten. Aber wie stark ein solcher Einfluß im einzelnen auch immer war, er trat im Aufbau der

politischen Organisation nicht in Erscheinung. Im Prozeß der Willensbildung stehen in Athen anstelle von Parteien, Berufsgruppen oder anderen Interessenvertretungen die jeweiligen politischen Führer (Demagogen, Redner, Strategen), die von - nur teils in Klubs organisierten - Freunden und Anhängern auf Grund persönlicher Abhängigkeitsverhältnisse der verschiedensten Art, wegen irgendwelcher Leistungen für die Stadt bzw. einzelne Bürger oder auch einfach nur wegen der zur Beschlufifassung anstehenden Sache unterstützt werden und im übrigen auf wechselnde Mehrheiten angewiesen sind. Die Zusammensetzung der jeweiligen Anhänger ändert sich dabei im Laufe der Zeit ebenso wie die der politischen Führung, unter denen zunächst noch die Adligen den Ton angeben, dann auch einfache Bürger gerade durch ihre Zugehórigkeit zur Masse den Kontakt mit ihr begründen und schließlich die rhetorische Ausbildung und teils auch Fachkenntnisse eine zunehmend größere Rolle spielen. Aber wie groß auch immer der Wechsel

ist, ist er doch zu keiner Zeit durch eine festere

Gruppenbildung innerhalb der Masse oder auch ihrer politischen Führung gekennzeichnet. Die Willensbildung ist folglich viel weniger organisiert und formalisiert als heutzutage. Aber sie ist darum auch weniger berechenbar. Denn

weil die Entscheidung in der Volksversammlung nicht durch feste Gruppierungen präformiert ist, kann durch unvorhergesehene Ereignisse, Stimmungen oder auch durch die Überzeugungskraft eines Redners der errechnete Erfolg ausblei-

ben. Gegenüber der politischen Praxis in den modernen, reprásentativen Demokratien hat diese Form der Meinungsbildung aber einen unüberschátzbaren Vorteil: Die Volksversammlung bleibt wirklicher Souverán und entartet nicht zu

einer reinen Addiermaschine anderswo gefaßter Beschlüsse. Athen war keine egalitáre Demokratie; politischer Aufbau und soziale Schichtung standen unverbunden nebeneinander. Da wir heute solche Verhiltnisse nur schwer nachempfinden kónnen, sind wir geneigt, von einer starken Spannung zwischen der politischen Organisation und den gesellschaftlichen Kräften zu sprechen, und würden vermuten, daß die Spannung zur Entladung

drángte, zumal in den Organisationsformen - Volksversammlung, Rat und Geschworenenhófe - das Instrument für eine Lósung der Spannung zur Hand war. Wir neigen um so mehr dazu, als wir auf Grund der modernen Staatenent-

wicklung gewohnt sind, zwischen Staat und Gesellschaft zu scheiden und darum diese Spannung als ein Herrschaftsverhältnis zu interpretieren vermögen,

in dem der Staat die Entfaltung der gesellschaftlichen Kräfte unterdrückt: Muß nicht eine Demokratie, die Freiheit und Gleichheit auf ihre Fahnen geschrieben hat, in einer Weiterentwicklung des Freiheits- und Gleichheitsbegriffs alle Pro-

bleme der Gesellschaft aufgreifen wollen? Die Athener haben nicht daran gedacht; es läßt sich in den

150 Jahren

der Blüte der Demokratie

keine Spur

sozialrevolutionärer Politik nachweisen. Die soziale Spannung war selbstverständlich bewußt; aber in der Politik hob sie sich in der Feststellung auf, daß arm

und reich in gleicher Weise an den Entscheidungen beteiligt seien. Was immer

X. Form und Intensität der politischen Praxis

339

an sozialen Ressentiments auf den Beschluß oder das Gerichtsurteil einwirken

mochte: Es war nicht Gegenstand der Politik. Die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen wurden nicht infrage gestellt. Eine Demokratie, in der alle Beschlüsse und Urteile von allen gefällt und mit wenigen Ausnahmen alle Ämter von allen übernommen werden, kann für die Ausübung der politischen Tätigkeit kein Fachwissen voraussetzen. Für die Urteilsfähigkeit genügt daher in Athen der „gesunde Menschenverstand“; als die

dem gemeinen Mann zukommende (oder ihm zugesprochene) Fähigkeit, unverbildet und „richtig“ zu entscheiden, diente er sogar der Rechtfertigung der

Massenherrschaft (o. S. 299 f.). Spezialwissen haben demnach weder die Beamten noch die Richter, weder die Ratsherren noch die Gesandten. Es gab nicht den ausgebildeten Berufsbeamten, nicht den Juristen, Berufssoldaten und Fi-

nanzfachmann. Wenn in Athen einige Finanzbeamte nur aus dem Kreis der Wohlhabenden erlost wurden, dann nicht deswegen, weil sie mehr Fachwissen,

sondern weil sie Vermógen hatten, an dem man sich bei Unterschlagung schadlos halten konnte. Lediglich die höheren militärischen Chargen, insbesondere

die Strategen, wurden in aller Regel ihrer Fáhigkeit wegen gewählt. Brachte der Athener für seine politische Tätigkeit keine speziellen Kenntnisse mit, hatte er

doch durch die stándige Bescháftigung mit Politik eine klare Vorstellung von dem politischen Aufbau seiner Stadt und auch eine ungefähre Übersicht über die wichtigen Sachfragen. Vor allem wurde er durch seine Teilnahme an den vielfältigen Geschäften seines Heimat-Demos und seiner Phyle (s.o. S. 156ff.) in

die óffentlichen Angelegenheiten eingeführt; der lokale Demos war in vielem eine Art „Klein-Athen“ und die Arbeit in ihm oft, wie z. B. bei der Prüfung und

Prásentation von Amtskandidaten, direkt mit dem politischen Leben auf dem Markt in Athen verbunden. Alle Athener, nicht nur die in der Stadt lebenden,

lernten auf diese Weise die Grundlagen der demokratischen Organisationsformen, die Rechtsfragen und anstehenden Sachprobleme kennen und erhielten darüber hinaus hier auch die für die Urteilsbildung oft unentbehrlichen Informationen über Personen. Was dem Athener im aktuellen Fall an Information fehlen mochte, hórte er in der Volksversammlung von den Demagogen, bei Gericht von den Prozeßparteien. Da diese Informationen naturgemäß parteiisch gefárbt waren, auf jeden Fall wegen des Parteienstandpunktes eine objektive

Darlegung der zur Verhandlung stehenden Sache selbst aus Rede und Gegenrede, die immerhin Hinweise auf die wahren Hintergründe liefern mochten, nicht ohne weiteres gegeben war, konnte im aktuellen Fall die Abhängigkeit von den Informanten groß sein. Sie wurde indessen durch den Umstand gemildert, daß ein Athener im Laufe seines Lebens demselben Sachgegenstand meist ófter begegnete, also Wissen ansammelte und durch den Umgang mit den Dingen

eine gewisse Urteilsfáhigkeit erwarb. Zudem waren die Lebensbedingungen in Athen bei weitem nicht so kompliziert wie heutzutage. Die Rechtsverháltnisse lernte der Athener bald zu übersehen. Und wo er besondere, nur aus der gegebenen Situation erfahrbare Informationen benótigte, half ihm die relative Ubersichtlichkeit der Stadt. Man erfuhr auch vieles Wissenswerte von Nachbarn,

Freunden und Bekannten allein schon deswegen, weil die Politik das Betätigungsfeld aller Athener war und daher jeder an Informationen Interesse hatte.

340

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Die Beeinflussung durch Interessenvertreter oder durch Stimmungen des Tages,

ferner bewußte Fehlinformationen und Selbsttäuschungen, die zu einer falschen Einschätzung der Lage führen konnten, waren kaum größer als ın unserer von Informationen überfluteten Welt. Der Athener besaß also das, was wir politische Bildung nennen, ohne sie sich durch abstrakte Belehrung erst aneignen zu müssen. Er hatte sie als Konsequenz seiner. besonderen, der athenischen Form der Demokratie. Angesichts seines

politischen Engagements benótigte er nicht den Aufruf, sich als Demokrat zu betátigen, oder die Ermahnung, seine demokratischen Pflichten zu erfüllen. Die Annahme, die Athener hátten der Belehrung zu politischem Verhalten bedurft, entbehrt bei der politischen Dynamik, die den Aufbruch zur Demokratie und zur

Schaffung eines Herrschaftsbereiches nach den großen Perserkriegen kennzeichnet, jeder Grundlage. Und wer hätte denn auch der Lehrer oder Mahner sein sollen? Allenfalls derjenige, der die Athener in die Demokratie geführt hatte, also Perikles, wáre hier zu nennen; aber selbst er hat die Demokratie, nachdem sie sich

etabliert hatte, eher repräsentiert als propagiert. Der Athener brauchte eine Entscheidungshilfe nur für den konkreten Fall, nicht aber eine für allgemeines politi-

sches Verhalten. Pádagogische Strategien zur Belehrung der Massen und zur Bekämpfung ihrer Lethargie, die moderne Demokratien mancherorts benótigen und die so viele bestallte und selbsternannte Schulmeister hervorgebracht hat,

waren im Athen des 5. ebenso wie auch des 4. Jahrhunderts überflüssig. Die politische Pädagogik ist erst ein Produkt der sokratischen Philosophie, für die sie

wegen ihrer sehr realitátsfernen politischen Konstrukte auch bitter notwendig war. Die politische Realitát der Demokratie brauchte sie nicht. Man hat bei dem Urteil über den Charakter der unmittelbaren Demokratie ferner zu berücksichtigen, daß die persönliche Nähe der Athener zueinander nicht nur den Informationsfluß stárkte, sondern gerade wegen der Personen-

kenntnis auch die Ansichten oder die persönliche Ausstrahlung einzelner u.U. besonders stark auf die Urteilsbildung wirken konnten. Auf der anderen Seite war die Nähe aber auch wiederum nicht so groß, daß jedes Urteil im vorhinein

von der persónlichen Konstellation bestimmt worden wäre. Attika war ein großes und volkreiches Land, in dem die Kenntnis voneinander möglich, teils auch unumgánglich, aber nicht in jeder Situation für alle voraussetzbar war. Es wurde bereits gesagt (S. 52f.), daß die relativ starke Bevölkerung in Attika die

Entstehung der Demokraue überhaupt erst ermóglicht hat; denn nur dann, wenn der Wille des Demos in sich selber, und das heißt, prinzipiell unabhängig von den persónlichen Bindungen des einzelnen bestehen kann, ist die Herr-

schaft der Menge Die bisherigen schaft haben die Von der Idee der

und also Demokratie möglich. Überlegungen zu der Beschaffenheit der politischen GesellFrage nach der Existenz einer politischen Elite ausgespart. Demokratie als einer Herrschaft der Gleichen her gesehen,

bedeutete eine Elite den direkten Widerspruch gegen den Sinn der politischen Ordnung; zahlreiche Organisationsprinzipien, vor allem die Losung, sind eingerichtet worden, um die Bildung einer politischen Klasse unter allen Umständen auszuschlief$en. Tatsächlich hat sich während der gesamten klassischen Zeit auch keine politische Elite im Wortsinne formieren können. Das erschwerte

X. Form und Intensität der politischen Praxis

341

schon der Umstand, daß es keine ständischen Gruppierungen gab, deren Repräsentanten als Sprecher einer größeren Anzahl von Personen hätten auftreten und ihre Stellung eventuell in ihrer Familie hätten vererben können. Auch die Bedeutungslosigkeit des Fachwissens für die politische Tätigkeit verhinderte das Vordringen einer durch Bildung und Wissen ausgezeichneten Schicht. Die Insti-

tutionen der Demokratie boten ebenfalls keinen Ansatz dazu; denn die Sprecher in der Volksversammlung, an die man hier vielleicht denken könnte, waren an

keine Gruppe gebunden. Im 4. Jahrhundert können wir dann allerdings beob-

achten, daß die Reichen einen gewissen Druck ausübten. Eine Elite waren sie damit nicht, allenfalls eine Interessengruppe. Der politische Einfluß in Athen war an eine individuelle Leistung gebunden, die nicht vererbbar war, und selbst

die Leistung eines einzelnen wurde mit Mißtrauen verfolgt, wenn mit ihr zuviel Macht gewonnen wurde. Bedeutende Politiker Athens, und sie alle gewiß gute

Demokraten, wie Perikles, Nikias und Hyperbolos, mußten Anklagen über sich ergehen lassen. Die Struktur der ım politischen Raum tätigen Gesellschaft

erstickte alle Ansätze zur Elitebildung. Elitär dachten lediglich die Feinde der Demokratie, die sich in politische Klubs zurückgezogen hatten (s.u. $. 376ff.), und natürlich die nachsokratische Philosophie, deren Abneigung gegen den demokratischen Geist weniger aus dem Erlebnis des Sokrates-Prozesses als aus den Voraussetzungen ihres philosophischen Denkens gespeist wurde.

Mit der Feststellung, daß die athenische Demokratie keine politische Elite kannte, ist indessen nicht alles gesagt. In der Gesellschaft der politisch Gleichen

haben sich trotz aller Barrieren Formen der politischen Führung und Abhängigkeiten gebildet, die auf den Prozeß der Willensbildung einzuwirken

vermochten. Sie existierten selbstverständlich außerhalb der institutionalisierten demokratischen Ordnung und sind darum für uns nicht leicht greifbar. Gestützt und gefördert wurden solche Bindungen vor allem durch den Umstand, daß sich soziales Prestige zwar theoretisch, aber nicht tatsächlich aus dem politi-

schen Raum ausklammern ließ und so in ihn hineinwirken mußte. Vor allem die kleine, nicht nur durch Vermögen, sondern auch durch adlige Herkunft ausgezeichnete Schicht hat es verstanden, ihr Ansehen bei den Massen zu erhalten.

Das hatte verschiedene Gründe. Man hat sich zunächst zu vergegenwärtigen,

daß die Demokratie nicht in einem revolutionären Umsturz die Aristokratie beiseite gestoßen und sich an ihre Stelle gesetzt hat. In der Vorstellung der Athener waren vielmehr die neuen Schichten in die herrschende Schicht aufgestiegen: Zunächst fühlten sich die Schwerbewaffneten, seit den Perserkriegen dann alle Athener in der politischen Nachfolge der Aristokraten, übernahmen entsprechend auch manche Gewohnheiten des Adels, wie z. B. bestimmte, früher von den Adligen bevorzugte Kulte, schufen sich eine demokratische Identi-

tät - entsprechend dem Patronymikon der Arıstokraten - durch das Demotikon und schmückten sich mit denselben ehrenden Beiwörtern, die einst ausschließ-

lich den Adligen vorbehalten gewesen waren. Es überrascht daher nicht zu sehen, daß manche alte Adelsfamilien die ganze klassische Zeit hindurch in beinahe ungebrochenem Ansehen standen. Gele-

gentlich war allerdings das Mißtrauen stärker als der Respekt, und man vergaß auch nie, daß die Gleichheit dem Adel hatte abgetrotzt werden müssen. Für

342

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

adlige Politiker schlug bei Anklagen oder Abstimmungen über Verbannung (Ostrakismos) unter Umständen gerade ihre Abstammung ungünstig zu Buche. Ebenso konnte eine allzu hochfahrende Art als aristokratische Gesinnung gebrandmarkt und also darin etwas Negatives, Antidemokratisches gesehen wer-

den. Andererseits konnten die Athener voll Bewunderung von dem Adel und seiner Lebensart sprechen und konnte der Komödiendichter Eupolis in der Zeit

des Peloponnesischen Krieges die Athener geradeheraus dazu auffordern, zu Strategen Männer aus gutem Hause und nicht solche aus der Gosse zu wählen

(fr. 103 E = 117 K), sowie ganz ähnlich Aristophanes in der trostlosen Endphase dieses Krieges den Athenern zurufen, sie sollten doch endlich wieder den edlen und gebildeten Männern anstatt den Schurken und Hergelaufenen Gehór schenken (,,Frósche" 727ff.; 405 aufgeführt). Adliges Benehmen und vornehme

Tracht waren große liefen die Athener entsprach eine nicht nes, der zwar König

Mode, und manchen Repräsentanten vornehmer Familien geradezu hinterher. Der Hochschätzung des Vornehmen selten zu beobachtende Geringschätzung des kleinen Manauf dem politischen Parkett der Demokratie war, aber ın der

Gesellschaft wenig galt. So können es sich Dichter und Redner leisten, vor der Menge der Zuschauer bzw. der Richter den Niedriggeborenen eben wegen seiner Herkunft verächtlich zu machen, kann Aristophanes in seinen „Rittern“

Kleon und andere Volksführer als kleine Händler hänseln und Demosthenes die Brüder seines Gegners Aischines als Maler von Salbenbüchsen und Trommeln, als Schreiberlinge und ganz gewöhnliche Leute herunterputzen (19,237). Man lebte in Athen als reicher und vornehmer Mann nicht völlig ungefährdet; in gewissen Situationen mochte die Mehrheit der ärmeren Bürger dahin neigen,

sich an den Vermögenden schadlos zu halten und sie als Sündenböcke hinzustellen. Aber sie hoben sıch aus der Gesellschaft der Gleichen heraus, und man

beachtete sie. Bei dem Mangel jeglicher ständischer Gruppierung und angesichts des Feh-

lens einer Elite besaßen die sozial und ökonomisch Bessergestellten einen unverhältnısmäßßig großen Einfluß auf die politische Führung oder, genauer gesagt: sie behielten ihn jedenfalls bis zu einem gewissen Grade. In den ersten Jahrzehnten der Demokratie, als sich bei den Athenern das Bewußtsein, in einer

neuen Ordnung zu leben, erst langsam einstellte, hatten die Aristokraten noch wie selbstverständlich die Führungsstellen

besetzt, zunächst als Archonten,

dann als Strategen und Demagogen. Themistokles, Miltiades, Aristides, Xanthippos, Kimon und Perikles, um nur die berühmtesten zu nennen, stammten aus

den ersten Familien. Die Fähigkeit zur Rede war damals noch weitgehend an die Zugehörigkeit zu den alten politischen Kräften gebunden gewesen, und auch die alten Herrschaftsstrukturen waren noch nicht völlig zerbrochen; der adlıge

Archont oder Demagoge hatte zudem den Anhang seines ganzen Clans aktivieren können. Nachdem sich jedoch die Phylenordnung des Kleisthenes durchgesetzt hatte und in den politischen Gremien, vor allem im Rat und ın den Gerichten, alle Bürger unterschiedslos („gemischt“) vertreten waren und also

die Gefolgschaft der Vornehmen in dieser Mischung aufgegangen war, änderten

sich auch die Strukturen des Willensbildungsprozesses. Der einzelne Adlige mußte nunmehr für jede Aktion seinen Anhang erst schaffen. Es genügte bei der

X. Form und Intensität der politischen Praxis

343

großen Menge nicht immer mehr der Hinweis auf die adlige Herkunft; die

Bürger mußten mit Sachargumenten gewonnen werden. Das waren selbstverständlich keine Programme für die Neugestaltung der Zukunft, sondern sie

betrafen aktuelle, unter Umständen auch längerfristige Probleme vor allem auftenpolitischer Natur, gelegentlich aber auch innenpolitische Fragen, wie z. B. den Bau von Tempeln oder Befestigungsanlagen. Der Politiker mußte sich dabei auf wechselnde Anhängerschaften stützen, suchte sich aber naturgemäß einen festen Kern von Helfern aus seiner Verwandtschaft, seinen Freunden und aus

dem Kreis derer zu schaffen, die seiner politischen Linie zustimmten. An die Stelle der Adligen traten dann seit der Mitte des 5. Jahrhunderts auch Männer einfacher Herkunft. Die Gewinnung und Erhaltung der Macht gaben ihnen dieselben Probleme auf wie den Vornehmen, abgesehen davon, daß ihnen wegen ihrer Herkunft kaum ein nennenswerter Anhang aus der eigenen Familie zu-

floß. Die Willensbildung hat sich unter diesen Demagogen im Prinzip kaum anders als unter den vornehmen Herren vollzogen. Für Themistokles und Perikles galten dieselben harten Regeln für die Gewinnung von Anhängern wie für

Kleon und Hyperbolos. Aber die letzteren hatten es doch schwerer. Den Vornehmen empfahl seine Herkunft, dem Niedrigstehenden stand sie im Wege, und in der Tat hat es unter den Politikern verhältnismäßig wenig Emporkömmlinge gegeben. Nach der Mitte des 4. Jahrhunderts, als die Kraft der Demokratie zeitweilig nachließ, nahm der Einfluß der Vornehmen und Reichen sogar noch zu; im Rat und unter den hohen Beamten scheinen damals Personen zumindest des Mittelstandes überreprásentiert gewesen zu sein, und im Jahre 330 klagt Aischines in seiner Rede gegen Ktesiphon, daß die breite Masse, die durch Gesetz und Entscheidungsgewalt König in der Stadt sei, die Regierung wenigen überlasse (3,23f.). In der Gesellschaft der Gleichen haben die alten Kräfte nicht

völlig abgedankt. Allerdings hatten sich die Formen, in denen sie Einfluß hatten, gegenüber der Zeit aristokratischer Herrschaft geändert. Sie traten nicht als

Gruppe auf, denn das verhinderte der politische Aufbau der Demokratie. Sie wirkten als einzelne oder in kleinen Gruppen, und sie mußten sich ihrer Anhän-

gerschaft immer neu vergewissern. Wer nicht nur den durch die Institutionen und Gesetze geregelten rein formalen WillensbildungsprozeR, sondern ebenso die faktisch in ihn hineinwirkenden sozialen Kráfte im Auge hat, wird auch über die Bedeutung des von unseren

Quellen oft benutzten Gegensatzpaares arm und reich nachzudenken haben. Anstoteles hat bekanntlich in seiner „Politik“ Armut und Reichtum als Krite-

rium zur Unterscheidung von Demokratie und Oligarchie genommen, und in einem entscheidenden Passus des dritten Buches konstatiert er sogar, daß nur die ökonomische Situation, nicht auch die Zahl derjenigen, welche die politische Macht haben, ein Kriterium für die Verfassungen bilden kónne, die Zahl viel-

mehr - auch wenn gewóhnlich die Reichen nur wenige und die Armen die Mehrheit sind - als etwas rein Zufälliges anzusehen sei: „Dadurch dürfte wohl klar sein. . ., daß dasjenige, wodurch sich Demokratie und Oligarchie voneinander unterscheiden, Armut und Reichtum sind und notwendigerweise überall da,

wo mittels Reichtum regiert wird, móge es nun die Minderzahl oder die Mehrzahl sein, dies eine Oligarchie, wo aber die Armen regieren, eine Demokraue

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

ist“ (1279b39-128024). Die begriffslogische Überspitzung des Aristoteles ken-

nen andere Quellen nicht. Sie ist aber insofern interessant, als sie der gedankliche Endpunkt einer allgemeinen Überzeugung ist, daß in der Demokratie die

Armen (die in aller Regel in der Mehrzahl sind), in der Oligarchie die Reichen (gewöhnlich die Minderzahl) regieren. Sie finden wir in der ganzen klassischen Zeit bei Historikern und in politischen Streitschriften ebenso wie bei Dichtern; nur selten ist, wie in den „Hiketiden“ des Euripides (238-245) und bei Arıstote-

les, noch eine dritte, mittlere Gruppe hinzugefügt. Der Verfassungstypus iist hier durchaus vom Ökonomischen her gedacht. Wenn aber „Demokratie“ in dieser

Definition als die Herrschaft der Armen verstanden wird, kann auch der Begriff „Demos“ nur die Armen bezeichnen. In der Tat ist diese Bedeutung gegenüber derjenigen, die in ihm alle Bürger der Stadt zusammenfaßt, vielleicht sogar die

primäre. In aller Schárfe stellt z. B. der Autor der ps.-xenophontischen Schrift vom Staat der Athener den démos und die Armen den Wohlhabenden, für die er

mehrere Bezeichnungen hat, gegenüber (vgl. nur 1,2). Wir haben dabei allerdings zu bedenken, daf$ die Verwendung der Kriterien arm und reich für die beiden Verfassungstypen in aller Regel bereits eine Kritik an der Demokraue enthält, und es ist darum auch gewiß kein Zufall, wenn wir das Schema vor allem

bei den Kritikern der Demokratie finden, von denen es die Philosophen aufnehmen und durch die Verbindung mit verfassungstheoretischen und ethischen

Implikationen der Realitát entfremden. Aber auch abgesehen von der Kritik dürfen wir unterstellen, daß jedem Athener beim Anblick der Demokratie der Gedanke kommen konnte, daß die Armen regierten, und in der Tat haben wir

denn auch z. B. bei Aristophanes viele Hinweise in dieser Richtung. Es ist jedoch eine Sache, dies festzustellen, eine andere, es zum

Fundament eines

Klassengegensatzes zu machen, der die politische Willensbildung bestimmt hätte. GewiR gab es in politisch gespannten Zeiten Situationen, in denen vor allem bei der Abstimmung in den Geschworenenhófen unterschwelliger Haß

oder Neid auf die Wohlhabenden hineingespielt hat. Aber die ókonomische Situation eines Atheners war im Normalfall kein Kriterium des Urteils und

sollte es nach der Idee der Demokratie ja auch gerade nicht sein, und ein Überblick über die Geschichte der Demokratie zeigt deutlich, daß die Idee von der Wirklichkeit jedenfalls nicht so weit abwich, daß der soziale Konflikt ein charakteristisches oder gar konstitutives Element des politischen Alltags gewe-

sen wäre. In der klassischen Zeit hat niemand in Athen die Neuaufteilung des Bodens oder die Streichung der Privatschulden beantragt, obwohl zu aller Zeit

in der Volksversammlung die Zahl der Armen die der Reichen, ja sogar die Zahl aller derjenigen, die den Zensus für den Dienst als Schwerbewaffnete besaßen, überstiegen hat. Niemand läuft Gefahr, die athenische Demokratie zu idealisie-

ren, der als Mindestbehauptung die Feststellung wagt, daß die ökonomische Situation auch in der Verfassungswirklichkeit keinen entscheidenden Faktor der Politik gebildet hat.

Um sich eine angemessene Vorstellung von der politischen Praxis in Athen zu machen, muß man sich auch vergegenwärtigen, daß die politische Ordnung

nicht durch einen bürokratischen Apparat gestützt wurde. Die Bürokratie

X. Form und Intensität der politischen Praxis

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fehlte nicht nur in Städten mit demokratischer Verfassung; aber die Demokratie vermochte eine solche doch am allerwenigsten zu schaffen, weil es in ihr keine lenkende Zentrale gab. Abgesehen davon scheiterte ihre Einführung schon

an den finanziellen Möglichkeiten Athens wie einer jeden griechischen Stadt. Der Mangel eines ordnenden und regulierenden Apparates erzwang die stärkere

Aktivität des einzelnen, die in einer ganzen Reihe von formalısierten Handlungsmustern die bei uns vom staatlichen Apparat oder doch unter seiner Mithilfe geleisteten Dienste zu ersetzen hatte. Das zeigte sich z. B. bei der Ratifizierung von Verträgen, die meist vom Rat und den höchsten militärischen Beamten, auch von allen Beamten und von den Geschworenen und gelegentlich sogar von der gesamten Bürgerschaft beschworen wurden. Die Idee einer etablierten Repräsentation, die den Souverän vertreten hätte, gab es eben nicht. Die Vermö-

genseinschätzung, um ein anderes Beispiel zu nennen, nahmen in Ermangelung

von Finanzämtern die Bürger selbst vor, und es ruhte also die Besteuerung und die Übertragung von Leiturgien auf der Selbsteinschätzung. Die Kontrolle über sie mußten ebenfalls wieder die Bürger selbst vornehmen, und das taten in aller

Regel diejenigen, die von einer falschen Angabe besonders betroffen wurden, bei der Leiturgie etwa derjenige, der nach seiner subjektiven Meinung für einen Vermögenderen die Leistung übernehmen sollte; der Streit wurde ın einem formellen Verfahren (antidosis) ausgefochten, ın dem der mit der Leiturgie Be-

auftragte und der von diesem als Drückeberger Bezeichnete die Parteien bildeten. Bei allen Prozessen hatten ferner die Parteien selbst für die Beweismittel und Zeugen zu sorgen; kein Richter schleppte in Athen die Gesetzbücher herbei oder zitierte die Zeugen. Den Erfolg bei Gericht sicherte allein die Initiative, die

energische Durchführung der Sache und eine kluge Strategie. Wie man sieht, hing die Effektivität der Gesetze von dem Einsatz der Bürger ab, ja ohne ihn war

das Gesetz hilflos. Die Selbsthilfe betraf nicht nur den privaten, sondern auch den öffentlichen Bereich, in dem es keine für den Schutz der Ordnung zuständige Behörde gab. Für die Verfolgung von Verbrechen hatten zunächst nur der Verletzte selbst oder seine nächsten Verwandten zu sorgen; auch hier fehlte die staatliche Verfolgungsbehörde. In der Demokratie ist das Prinzip der Eigeninitiative jedoch überall dort, wo eın öffentliches Interesse vorhanden war, auf alle Bürger erstreckt worden: Jeder Athener, der wollte, hatte die Möglichkeit der Klageerhe-

bung (Popularklage). Hier wird der Bürger unmittelbar ın die Verantwortung für die Gemeinschaft gezogen; denn er streitet nicht mehr für seine persönlichen Belange, sondern für die aller und nur insoweit für seine eigenen, als er selbst ein

Teil des Ganzen ist. Die Klageerhebung wird denn auch ausdrücklich als eine Hilfe für die Gesetze bzw. für die Stadt oder das Volk bezeichnet. Der Bürger

handelt hier nicht als Teil eines Apparates, sondern als unmittelbar Betroffener, der seine Interessen als Souverän wahrnimmt. Es kann selbstverständlich auch

ein Beamter oder ein Ratsmitglied eine Klage einreichen; aber dieser handelt auch dann, wenn er etwa wie der Prytane bei einer Klage wegen Hochverrats von

seiner Funktion her in einem höheren Grad zuständig ist, doch nicht als der für die Einreichung der Klage kompetente Funktionär, sondern als Bürger. Das Verfahren bleibt dabei ganz im Rahmen des Parteienprozesses: Der Kläger wird

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

nicht Staatsanwalt; er sammelt selbst die Beweise und verficht vor dem Gericht

seinen Standpunkt als den einer streitenden Partei. Ein System, das die gerichtliche Verfolgung aller Straftaten und übrigen Handlungen von óffentlichem Interesse an die Privatinitiative bindet, ist darauf angewiesen, daß sich stets ein

Bürger findet, der die Anstrengungen und Anfeindungen, die mit einer öffentlichen Klage verbunden sind, auf sich nimmt und auch die Gefahr einer Gegenklage nicht scheut. Das ist gewiß nicht immer gegeben, und darum hat die

Demokratie dafür gesorgt, daß der erfolgreiche Ankläger bei einer Reihe von öffentlichen Klagen mit einer Belohnung rechnen durfte, wenn er Erfolg hatte. Die Prämie wurde aus den bei einer Verurteilung fälligen Geldern (Prozeßbuße;

Vermögenskonfiskation usw.) gezahlt und war je nach dem Klagegegenstand verschieden hoch: Sie konnte die Hälfte, ein Drittel oder auch drei Viertel der

strittigen Summe betragen. An das Ende der Gedanken über den Bürger als Träger der politischen Aktion sei die Frage gestellt, wie denn der Kreis der Bürger begrenzt worden ist. Wer gehörte dazu, wer stand außerhalb? Gab es eine scharfe, allen zu jeder Zeit

bewußte Grenzlinie zwischen dem Bürger und dem Nichtbürger? Wenn die Masse Souverän ist, muß doch genau wie in Städten, in denen die Zugehörigkeit

zu den Herrschenden sich nach der Herkunft oder dem Vermögen bemißt, klar sein, wer zu dieser Masse gezählt werden muß. In Athen hat im 6. Jahrhundert, als zunáchst noch durch die adlige Herkunft, dann durch den Besitz eines bestimmten Einkommens die bürgerliche Aktivitát im politischen Raum fakusch an einen begrenzten Personenkreis gebunden war, das Problem der Grup-

penzugehórigkeit nicht bestanden; angesichts der überschaubaren Verháltnisse dürfte es kaum zu Streit in dieser Frage gekommen sein. Der einzelne war durch seine Familie identifiziert, die in der Regel seit undenklichen Generationen in

den politischen Gliederungen der Stadt - in Demos, Phratrie und Phyle organisiert und den Genossen dieser Gliederungen bekannt war. Auch nachdem

über die Angehórigen der Zensusklassen hinaus alle Athener, sogar die ármsten, politisch aktiv geworden waren, dürfte trotz der damit verbundenen Vermassung die Frage der Zugehórigkeit zum Kreis der politisch Berechtigten (Bürger) kaum sehr aktuell gewesen sein. Die politische Organisation baute auf den Demen auf, und in ihnen war die persónliche Kenntnis voneinander gegeben. Die Einstellung zu dieser Frage begann sich erst zu ándern, als die Demokratie als eine neue Form der Herrschaft bewußter überdacht, sie auch nach außen hin

als Herrschaft über fremde Staaten erkannt wurde und die mit ihr verbundenen Vorteile, wie die Diáten und die Verteilung von Getreide und Land, sichtbarer

geworden waren. Der Kreis der Politen wurde damit zwar nicht unübersichtli-

cher, aber die Neigung, in diesen einzudringen und dazuzugehóren, größer. Die Bürgerrechtsverleihung war damals allerdings noch kein gebräuchliches Instru-

ment, um einen Fremden in den eigenen Bürgerverband aufzunehmen; die Ablósung des Bürgerrechts oder von Teilen desselben von dem Bürgersein und seine Verselbstándigung als ein an jedermann übertragbares Recht erfolgte in einem langen Prozeß, der im 5. Jahrhundert gerade erst begonnen hatte. Bürger war man allein durch seine Abkunft, das heißt durch die Zugehörigkeit zu einer alteingesessenen Familie, und es war daher die Aufnahme von Nichtbürgern nur

X. Form und Intensität der politischen Praxis

347

über die Familie, also durch Einheirat (und durch Adoption) möglich, und sie war auf die Frauen beschränkt: denn der von auswärts kommende oder in Attika

ansässige Fremde wurde nicht damit, daß er eine Athenerin heiratete und in Attika wohnte, ein Athener, sondern blieb Fremder. Der Aufschwung Athens nach Herausbildung der Demokratie, der die Stadt zu einem Zentrum der griechischen Welt machte, muß indessen trotz der beschränkten Möglichkeiten,

den Status eines Atheners zu erwerben, einige Unsicherheit oder doch zumindest den Wunsch nach genauer Regelung der Bürgerrechtsfrage gebracht haben. Denn im Jahre 451/50 brachte Perikles ein Gesetz durch, nach dem nur Athener sei, dessen Elternteile beide Athener waren. Was immer Perikles an besonderen

Motiven für die Einbringung des Gesetzes gehabt haben mag, es dürften auch

das zunehmende politische Selbstbewußtsein, das auf der tätigen Teilnahme am öffentlichen Leben beruhte, und die ebenso gerade zur Zeit des Perikles gewachsene Privilegierung der Athener durch materielle Vorteile den allgemeinen poli-

uschen Hintergrund für den Vorschlag und die Annahme des Gesetzes gebildet haben. Es waren also das Selbstwertgefühl des Demokraten, die machtpolitische Stellung Athens und der daraus fließende Gewinn, die zu einer genaueren Abgrenzung der Bürgerschaft geführt haben. Da das Bürgerrecht damals noch nicht als ein vom Bürgerstatus ablósbares Recht begriffen und somit auch nicht einfach übertragen werden konnte, war der Kreis der Bürger mit diesem Gesetz auf Dauer festgelegt, und die Athener waren somit eine exklusive Gesellschaft geworden. Es wäre verkehrt, diese Bürgerrechtspolitik als besonders engstirnig

oder egoistisch anzuprangern. Jede griechische Stadt ist zunächst ein in sich geschlossener Kult- und Rechtsverband, in dem die Unterscheidung zwischen dem Bürger (astós) und dem Fremden (xénos) ein konstitutives Element ihres

staatlichen Seins bildet. Aber der nun gesetzlich verfügte Ausschluß aller mit Athenern verheirateten fremden Frauen und deren Kinder vom Bürgerverband bedeutet doch gegenüber der älteren Zeit die Verschärfung einer früher laxeren Auffasssung. Sie ist als Konsequenz der neuen politischen Ordnung und ihrer ganz andersartigen Formen zu sehen, welche die Abgeschlossenheit der Bürgerschaft, wenn nicht erzwangen, so doch nahelegten.

3. Das politische Klima Die rege Aktivität und die grundsätzliche Offentlichkeit der Verhandlungen brachten allen Athenern tagtäglich zahlreiche Gelegenheiten zu persónlichem Engagement, zu Diskussionen und Urteilen über Personen und Sachen. Insbe-

sondere zwangen die zahllosen Prozesse, die fast jeden Tag Hunderte und Tausende auf die Richterbank führten, zur Stellungnahme in den vielfáltigsten

Angelegenheiten. In den Augen vor allem auch der ausländischen Beobachter konnte das politische Klima darum gerade im Vergleich zu anderen griechischen

Städten als überhitzt, oft nahe dem Siedepunkt befindlich erscheinen, und man mußte gewärtig sein, daß dieser Punkt sehr leicht auch überschritten wurde. Beispiele für eine politische Explosion, die alle Schranken von Recht und Gesittung beiseite stieRen, hatten Kritiker leicht zur Hand. Die Exzesse nach dem

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

sogenannten Hermokopidenfrevel von 415, als sich eine Prozeßflut über Athen ergoß, der Arginusenprozeß von 406, in dem gegen Recht und Herkommen alle

Feldherren pauschal zum Tode verurteilt wurden, der Prozeß gegen Sokrates oder der grausige Befehl zur Niedermetzelung aller männlichen Einwohner von Mytilene, das vom Seebund abgefallen war, im Jahre 427 boten hinreichend Material, um die Demokratie als eine Verfassung hinzustellen, ın der grundsätz-

lich alles möglich war. Wir dürfen jedoch Äußerungen von Kritikern der Demokratie oder auch Rednern, die ihren Prozeßgegner verunglimpfen wollten, nicht absolut setzen. Eine Gesamtwürdigung des politischen Lebens muß vielmehr umgekehrt gerade zu dem Schluß kommen, daß das politische Klima trotz der Größe der Stadt, des Umfanges der politischen Unternehmungen und der demokratischen Betriebsamkeit im allgemeinen nicht unerträglich gespannt war. Das politische Leben in Athen war unübersehbar gekennzeichnet von Stabilitätund einem konservativen Grundtenor, jedenfalls soweit es die innen-

politischen Belange anging. Phantasie im Betreten ganz neuer Wege des politi-

schen Zusammenlebens, Radikalität in der Durchsetzung des einmal Beschlossenen und Maßlosigkeit in der Planung bewiesen die Athener eigentlich nur in ihrer Außen- und Militärpolitik.

Der Respekt vor der Tradition und die Abneigung gegen Experimente dürften zum einen darin begründet gewesen sein, daß die Masse der Athener ein kleines Vermögen besaß. Es gab zwar etliche sehr reiche Bürger und auch eine große

Anzahl von Tagelöhnern; aber die Mehrzahl besaß zumindest einen kleinen Bauernhof, einen Handwerksbetrieb oder doch ein Haus in der Stadt (5.ο. 5. 112f.). Die Interdependenz zwischen der Stabilität von Staaten und den

Vermögensverhältnissen der in ihnen organisierten Bürger hat bereits Aristoteles gesehen. In seiner „Politik“ führt er aus, daß große Staaten deswegen, weil in ihnen der Mittelstand stark sei, weniger an Aufständen zu leiden hätten, und er

hat dabei gewiß vor allem an Athen gedacht. Zum anderen haben wir zu bedenken, daß die Reichen zu der Finanzierung der Lasten härter herangezogen

wurden als die Armen; nur die Reichen zahlten überhaupt die Vermögensteuer (Eisphora) und nur sie übernahmen die Leiturgien. Die ärmeren Bürger hingegen waren nicht nur von diesen Lasten befreit; sie brauchten auch nicht als

Hopliten zu dienen, ja sie scheinen längere Zeit hindurch - außer in Notsituationen - nicht einmal zum Dienst in der Flotte verpflichtet gewesen zu sein.

Darüber hinaus profitierten sie von den Diäten, Landverteilungen und festlichen Veranstaltungen. Die Wohlhabenden wurden von der Demokratie viel

stärker gefordert, und das hat ohne Zweifel manches von den Ressentiments zwischen arm und reich, unter denen die meisten anderen griechischen Städte so hart litten, abgebaut. Thukydides nennt noch einen weiteren Grund für die Stabilität der Demokratie. Er meint, daß in einer Oligarchie jeder an Rang der erste sein wolle, während man hingegen in der Demokratie das Ergebnis einer Abstimmung leichter

hinnehme, weıl man gegenüber Gleichstehenden sich nicht zurückgesetzt zu fühlen brauche (8,89,3). Mit dieser Beobachtung hat Thukydides auf ein Cha-

rakteristikum der athenischen Demokratie hingewiesen, das in der Tat als stabi-

lisierender Faktor anzusehen ist, nämlich auf den Mangel an politischer Grup-

X. Form und Intensität der politischen Praxis

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penrivalität. In Athen war die politische Stimmung nicht wie heute durch eine

Parteienrivalität vorgeprägt. In modernen Demokratien sind viele Aussagen und Beschlüsse von Regierung und Opposition sowie die aller Parteigremien durch die jeweils vorgegebene politische Programmatik festgelegt. Die Abwehr der Meinungen anderer erfolgt heute in formalisierten oder gar schon ritualisierten Formen, die in Zeiten starker Spannungen in Feindseligkeiten und Gehässigkeiten umschlagen, je nach Opportunität auf eine höhere oder niedere Spannung geschaltet werden können und ständige Beschwichtigungsmechanismen erfordern, damit das demokratische Leben weitergehen kann. Die Athener kannten

keine politischen Gruppierungen und Sachprogramme, welche die Zukunft der ganzen Gesellschaft und ihre Veränderung behandelt hätten. Es gab zwar auch in Athen politische Slogans. So waren das Streben nach der Tyrannis und die arıstokratische Gesinnung gern benutzte Anschuldigungen, die in der Volksversammlung oder vor Gericht empfängliche Ohren fanden. Aber die hinter solchen Vorwürfen stehenden politischen Überzeugungen wurden nicht von einer Gruppe, sondern von allen Athenern getragen; selbst der Adlige und Reiche, der an aristokratischer Attitüde Gefallen finden mochte, wollte sich damit nicht von der Demokratie distanzieren, es 561 denn in Zeiten äußerster Zerrissenheit, wie

in den Jahren 411 und 404/03, als die Stadt vor der Katastrophe stand. Gelegentlich schimpfte man auch auf die Reichen und stellte ihnen nach. So kann Lysias in einer Prozeßrede am Anfang des 4. Jahrhunderts ganz offen sagen, daß der Rat in Zeiten der Not gern Anklagen gegen Reiche annehme, um an deren Vermögen heranzukommen (30,22), und Isokrates meint ein knappes halbes

Jahrhundert später, daß in seiner Jugendzeit der Reiche ohne Gefahr hätte leben

können, er sogar bewundert wurde und man ihn nachahmte; jetzt hingegen gelte Reichtum als ein schweres Verbrechen, und man müsse auf der Hut sein, weil es gefährlicher geworden sei, für reich zu gelten, als Unrecht zu tun (Antid. 159f.). Aber bei aller Abneigung gegen die Vornehmen und Reichen gab es doch keine Verfolgungshysterie. Die durch Herkunft und Besitz Privilegierten wurden nicht zu einem Typus des Gegners oder Feindes, sondern waren in aller Regel geachtete Bürger und für viele sogar heimliche (und bisweilen auch gar nicht mehr verheimlichte) Identifikationsfiguren. Das politische Klima einer jeden Demokratie wird vor allem auch bestimmt durch die Berechenbarkeit des Souveräns. Der Volksversammlung wird

von Rednern und Dichtern nicht selten versteckt und bisweilen auch offen launisches und disziplinloses Verhalten bei der Entscheidungsfindung vorgehalten; das Mißtrauen darüber, ob das Volk die Fähigkeit zu angemessener Ent-

scheidung habe, war offensichtlich groß. Andokides spricht in einer gegen Ende des 5. Jahrhunderts vor dem Volk gehaltenen Rede ganz offen aus, daß der Rat für die Beurteilung einer Sachfrage besser geeignet seı als das Volk, weil er sich nämlich Zeit für die Beratung nehmen könne und zudem jeder Ratsherr rechenschaftspflichtig sei; das Volk hingegen fasse sogleich nach dem Vortrag seinen Entschluß, und es stehe in seiner Macht, ohne Furcht vor Anklägern alles nun

entweder gut oder schlecht zu regeln (2,19). Aristophanes wird einige Jahre später in seinen „Fröschen“ (405 v. Chr. aufgeführt) noch deutlicher. Er läßt

dort Euripides einen eigenen Vers zitieren, wonach die Göttin der Überredung

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

(Peithö) einzig das Wort (und nicht den Inhalt) für heilig halte (1391), und läßt

einige Verse weiter den Gott Dionysos spottend sagen, daß keine Schandtat sei, was dem Volk nicht schändlich erscheine (1475): Die Überredungskunst der Demagogen und die Abhängigkeit der Moral von der jeweiligen Mehrheit sind hier als die Konstituanten des Volksbeschlusses gedacht. „Der einzelne Athener

ist, wenn er zu Hause sitzt, ein ganz vernünftiger Mann“, sagt in den „Rittern“ des Arıstophanes einer der Akteure, „wenn er aber auf dem Felsen (das heißt auf dem Versammlungsplatz des Volkes, der Pnyx) sitzt, schnappt er nach Feigen“ (752ff.). Sind also die Gier nach Macht und Gewinn, von Demagogen angeheizte

Stimmungen und die Überzeugungskraft des Vortrags die Kräfte, von denen der Souverän hin- und hergerissen wird? Die launische und zügellose, weil aus allen Bindungen gelöste Masse ist das Zerrbild einer jeden Demokratie, und auch die Athener haben sich dergleichen sagen lassen müssen. Sie haben indessen die Kritik nicht einfach nur zurückge-

wiesen, sondern den in ihr liegenden realen Kern, nämlich die Abhängigkeit der Masse von den Vortragenden und den von ihnen gegebenen Informationen,

durchaus als Problematik erkannt und ihr abzuhelfen gesucht. „Täuschung des Volkes“ bzw. „Täuschung durch falsche Versprechungen“ war ein anerkannter Delikttatbestand; einer entsprechenden Anklage fiel bereits der Sieger in der

Schlacht bei Marathon, Miltiades, zum Opfer, nachdem sein Unternehmen gegen Paros, zu dem er die Athener überredet hatte, gescheitert war. Die Form der prozessualen Verfolgung hat sich im Laufe der Zeit gewandelt, doch hat das

Delikt eher noch größere Aufmerksamkeit gefunden. Mitte des 4. Jahrhunderts mußte der Vorwurf der Volkstäuschung zunächst im Rat geprüft werden, der gegebenenfalls dem Volk die Frage vorlegte, ob Anklage vor einem Geschwore-

nengericht erfolgen solle. Da die Abstimmung über solche Vorwürfe einmal im Jahr in einer bestimmten Volksversammlung erfolgte, war das Delikt in die ordentliche Tagesordnung der Versammlung fest integriert. Zudem wurde bei

jeder Volksversammlung im Eingangsgebet durch den Herold eine fórmliche Verfluchung gegen jeden ausgesprochen, der den Rat, das Volk und die Gerichte

täuschen würde. Den Athenern war die Bedeutung der Sache bewußt. Die Berechenbarkeit der Politik hing indessen nicht allein und nicht einmal in erster Linie davon ab, daß die Redner zu ordentlicher Berichterstattung und vernünftigen, durchführbaren Vorschlägen angehalten wurden. Der stärkste

Schutz lag in dem Netz von Gesetzen, ın das das gesamte Leben eingebunden war, und in den mannigfaltigen, bis ins einzelne gehenden Organisationsfor-

men, die der Verwirklichung der politischen Ordnung dienten. Sie wurden respektiert und ohne Not nicht geändert, und selbst die Änderung war wiederum in einem Verfahren (Nomothesie) formalisiert, das durch die besondere

Verhandlung und die persönliche Haltung des Antragstellers vor unüberlegtem Reformieren schützte.

Die Beteiligung von großen Massen an der Politik und die Übernahme sogar aller exekutiven und jurisdiktionellen Aufgaben durch sie mußte zu gelegentlichen Pannen führen, zu Fehlentscheidungen wegen falscher Information, zu

falschen oder maßlosen Unternehmungen auf Grund von Überredung durch ehrgeizige Demagogen, zu ungerechten Urteilssprüchen und anderen Fehllei-

X. Form und Intensität der politischen Praxis

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stungen. Aber im ganzen gesehen war das politische Leben in der Demokratie mit den seltenen Ausnahmen der Jahre 411 und 404/03 - von einer bemerkenswerten Sicherheit und Beständigkeit geprägt; geschützt von dem Respekt der Bürger gegenüber Tradition und eingebettet in ein Netz von allerseits geachteten Gesetzen und demokratischen Organisationsformen, ruhte es in einem festen Rahmen.

4. Die Rolle der Rechtsordnung in der Demokratie Die athenische Rechtsordnung, insbesondere die Struktur des Rechts und die Praxis der Geschworenengerichte ist o. S. 203ff. besprochen worden. Die dor-

tige Diskussion soll hier in einem erweiterten Zusammenhang erneut aufgenommen werden: Was bedeutete die Rechtsordnung für das politische Leben in der Demokratie? Worin lag ihre Stärke, und was waren ihre Schwächen? Hatte das Recht angesichts des Umstandes, daß der Souverän sowohl Gesetzgeber als

auch Richter war, überhaupt Eigengewicht? Es sei vorweg daran erinnert: Das athenische Recht bestand aus einer Summe von Rechtssátzen (nómoi), die schriftlich fixiert und auf Stelen oder an den

Wänden öffentlicher Gebäude publiziert waren und denen in ihrer Gesamtheit der Athener seit dem 4. Jahrhundert sogar in jeder ersten Prytanie eines neuen Amtsjahres begegnete, wenn in der ersten ordentlichen Volksversammlung die gesetzlich vorgeschriebene Frage nach etwaigen Korrekturen oder Ánderungen

der bestehenden Gesetze gestellt wurde. In der Gerichtspraxis wurde das Urteil nach dem Wortlaut dieser Gesetze gesprochen (Rechtspositivismus). Die Gesetze waren die einzige Rechtsquelle; weder die Gewohnheit noch die Rechtsprechung oder Erwägungen der Billigkeit ergánzten sie, und es gab auch keine

Rechtsgelehrsamkeit und Rechtsliteratur, welche die Gerichtspraxis hátten stützen und eventuell zu neuen Wegen der Rechtsfindung hátten anregen kónnen. Die Rechtsanwendung ruhte auf den Gerichtshófen mit ihren Hunderten von Laienrichtern, die ohne jede Rechtshilfe, ohne Diskussion, nur von ihrem Ge-

wissen geleitet, das Urteil fällten. Uns heute, die wir von der juristischen Schärfe und Eleganz der rómischen Rechtstradition verwóhnt sind, mutet dieses System seltsam spróde, archaisch, ja primitiv an. Die Billigkeit hat hier keine in das System integrierte Funktion; die Rechtsschópfung folgt nicht der gelehrten Diskussion, nicht der Autorität richterlicher Urteilskraft. Es gibt allein. das Gesetz, das vom Volk nach seinem Belieben gemacht wird, und seine wörtliche Befolgung im Urteilsspruch, den wiederum dasselbe Volk, lediglich in einem

anderen Aggregatzustand, nämlich als Gerichtshof, fällt. Es wurde bereits gesagt, daß die Rechtsordnung Athens tatsächlich im Sinne des Rechts funktioniert hat, die Richter nicht nach Belieben, sondern nach dem

Gesetz urteilten. Aber welche Funktion hatte diese urrümliche Ordnung in der doch dynamischen Demokratie? Darauf läßt sich eine klare Antwort finden: Es war das einzige Rechtssystem, unter dem die Demokratie in ihrer spezifisch athenischen Form, nämlich als die Herrschaft von Gleichen über Gleiche, exi-

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

sueren konnte; denn nur in einem System, das von dem Richter kein Fach-

wissen verlangte, vermochte die Masse Richter zu sein. Eine Jurisprudenz hätte die Ausbildung aller Athener erfordert, was unmöglich war, oder den ausgebilde-

ten Einzelrichter hervorgebracht, was ein Widerspruch gegen die Demokratie gewesen wäre. Auch die Vielfalt der Rechtsquellen ist, wie die Jurisprudenz, undenkbar, wenn viele, der Idee nach alle Recht sprechen. Wie sollte die Masse hier abwägen, ohne Diskussion und ohne die hierfür erforderlichen Urteilskrite-

rien? Die rechtspositivistische Rechtsordnung ist in einer Verfassung, in der alle Richter sind, die einzig mögliche. Dies war den Athenern selbstverständlich nicht klar bewußt; sie haben dieses Rechtssystem nicht geschaffen, um es ihrer Demo-

kratie anzupassen. Sie hatten es von ihren Vorfahren übernommen, und auch die Rechtsordnungen der anderen griechischen Städte waren im Prinzip kaum anders

beschaffen. Einen großen Einfluß auf die Herausbildung derartiger positivistischer Systeme bei den Griechen hatten ohne Zweifel die großen Gesetzgeber der archaischen Zeit ausgeübt. War dieses System also gewiß nicht die Schöpfung der athenischen Demokratie, so war es doch eine Voraussetzung dafür, daß es sie

geben konnte. Daß diese Voraussetzung in Athen offensichtlich so klar und eindeutig vorhanden war, liegt vielleicht auch daran, daß hier die Kodifikation

durch Solon in ganz besonders gründlicher und autoritärer Form durchgeführt worden war. Solon erweist sich so einmal mehr als eine Bedingung des demokratischen Athens, und er war den Athenern selbstverständlich immer als ihr großer Gesetzgeber gegenwärtig. Darüber hinaus aber schienen den Athenern alle Ge-

setze (n6mot), welche die wesentlichen Grundlagen menschlicher Ordnung regelten, mochten sie nun aufgezeichnetes positives Recht oder ungeschriebene Sittenordnung sein, durch die Götter geheiligt zu sein und sogar göttlichen Ursprung zu haben. In seiner „Antigone“ stellt Sophokles die Gesetze als Kinder des Zeus und der Dike vor (450ff.), und im ,,Oidipos Tyrannos" sagt derselbe Dichter, daß

sie nicht von Menschen geschaffen wurden, sondern der Olymp ihr alleiniger Vater sei (865ff.).

Man wird nicht verkennen, daf die besondere Form der Rechtsordnung eine stabilisierende Wirkung auf das politische Leben gehabt hat. Ihr positivistischer Charakter und ihre mit der Person Solons verbundene Autoritát gaben dem Ganzen Halt. Das Recht entbehrte zwar der Kraft schópferischen Geistes und enthielt keine geistige Idee, welche die Athener zu neuen Formen des Zusammenlebens geführt hätte. Es war eher einem durchschnittlichen Menschentyp angemessen, aber darin eben der athenischen Demokratie kongenial,

in der der Kleinbürger den Ton angab. Es hatte in dem rechtschaffenen, rechtlich denkenden Mann seinen genuinen Helfer und Bewahrer. Für die Stabilität der Gesamtordnung sorgten auch die in das Rechtssystem integrierten Kontrollen gegenüber jedem Versuch der Aufhebung oder Abänderung wichtiger Grundnormen der politischen und sozialen Ordnung. Sie wurden von den Athenern im Laufe der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts ganz bewußt zum Schutz ihrer Ordnung geschaffen. Es ist hier in erster Linie an die Klage wegen rechtswidriger Gesetzesantráge zu denken, die wohl schon in

perikleischer Zeit eingerichtet worden sein dürfte, ferner an das nach 404/03 eingeführte (und vorher in anderen Formen bereits bestehende) Gesetzgebungs-

X. Form und Intensität der politischen Praxis

353

verfahren (Nomothesie) sowie an die wohl gleichzeitig mit diesem Verfahren

geschaffene Klage gegen die Einbringung „unzweckmäßiger“ Gesetze (vgl.

o. S. 179. 187ff.). Aus allen diesen Verfahrensformen spricht ein klarer Wille danach, daß die Bürger ihr Leben richten sollten und jede Ánderung erfolgen durfte. Die Athener waren einem Bürger sagen konnten, war,

innerhalb der bestehenden Gesetze einnur nach reiflicher Überlegung durch alle keine Revolutionäre; das Beste, was sie von daß er den Gesetzen gehorche.

Wie die Kontrolle war jedoch auch die Durchsetzung des gesetzlichen Gebots in der Rechtsordnung selbst abgesichert. Die Effektivitát war vor allem

durch die Popularklage gesichert, die insbesondere für zahlreiche politische und kriminelle Delikttatbestánde jedem, der wollte, die Móglichkeit der Klageerhebung gab. Da die mit einem ProzeR verbundenen Anstrengungen und Anfeindungen sowie vor allem auch das Prozeßrisiko viele von der Übernahme einer Klage, die sie nicht persónlich betraf, abhielt, haben die Athener der mangeln-

den Bereitschaft durch die Schaffung von Belohnungen für diejenigen, die in einem Prozeß von öffentlichem Interesse die Klageerhebung übernommen und gesiegt hatten, abgeholfen. Die Prámien für den erfolgreichen Ankläger wurden aus dem Vermógen der Verurteilten bezahlt und waren hoch (zwei Drittel bis drei Viertel des konfiszierten Vermógens). Wenn die Aussicht auf guten Gewinn manche risikofreudige und von wenig Skrupel geplagte Männer dazu brachte,

die Anklagetätigkeit gewerbsmäßig zu betreiben - man nannte sie Sykophanten -, sprach dies zunächst nicht gegen den Sinn des Prämiensystems, das um der Effektivitát des Gesetzes willen eingerichtet worden war. Die Auswüchse des

Sykophantenwesens belasteten dann allerdings die Demokratie; darüber wird weiter unten (S. 356f.) zu handeln sein.

Ist es deutlich geworden, daß die Rechtsordnung in ihrer besonderen athenischen Form einen konstitutiven Faktor der Demokratie bildete, bleibt noch zu

prüfen, ob sich in der Gerichtspraxis das Recht auch tatsächlich durchzusetzen vermochte. Es wurde bei der Behandlung der Geschworenengerichte bereits erórtert, daß trotz der mangelnden Rechtskenntnisse der Laienrichter und obwohl in der forensischen Argumentation vielfach auRerrechtliche Elemente in die Urteilsfindung einflossen, doch das positive Recht das Fundament des Urteils bildete und bei aller Unvollkommenheit und Lückenhaftigkeit der Gesetze, bei aller Eloquenz und Raffinesse versierter Logographen und allem Unvermögen und

gelegentlich auch Unwillen der Richter der ProzeR in den Augen aller an ihm Beteiligten ein Kampf um das Recht blieb. Aber es ist zu überlegen, ob nicht der Umstand, daß die Richter insbesondere der großen Gerichtshófe für öffentliche Prozesse faktisch das Volk darstellten und von den Athenern auch so angesehen

und bei Gelegenheit so angesprochen wurden, die Gerichtspraxis oder gar den politischen Stellenwert der gesamten Rechtsordnung unangemessen stark beeinflußt hat. Der Richter war unverantwortlich wie der Bürger, wenn er in der

Volksversammlung mitentschied; beide hatten keine Instanz über sich. Sie waren souverän, und es konnte unter Umständen nur als eine Frage des Ortes angesehen

werden, ob der Athener nun als Richter auf dem Marktplatz oder als Besucher einer Volksversammlung auf der Pnyx sein Urteil abgab. Rechtsprechung und

Gesetzgebung schienen damit in einer Hand zu liegen, und tatsáchlich sind denn

354

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

auch zumindest seit dem Anfang des 4. Jahrhunderts in dem förmlichen Gesetzgebungsverfahren, das zur Änderung oder Ergänzung der bestehenden Gesetze eingerichtet worden war, die Geschworenenhöfe (als Nomotheten-Kommissionen, vgl. o. S. 189f.) an die Stelle der Volksversammlung gerückt worden. Das Problem ıst naturgemäß vor allem von den Kritikern der Demokratie gesehen worden. Das Volk, sagt der oligarchisch gesonnene Autor der ps.xenophontischen Schrift vom Staat der Athener, „sorgt sich in den Gerichtshöfen nicht so sehr um das Recht als um das für sich Nützliche“ (1,13), und nach

Arıstoteles (Pol. 1292a4ff.) entwickelt sich die Demokratie von einer Ordnung, die sich im Rahmen der bestehenden Gesetze bewegt, zu einer Form, in der das

souveräne Volk sich als Herr der Gesetze fühlt, nur noch seinen eigenen Willen anerkennt und also unter Auflösung des allgemeinen Gesetzes in voller Freiheit jeweils über den einzelnen Gegenstand urteilt; in einer dritten und letzten Stufe

greift dann das Volk über den politischen ın den gesamten Lebensbereich der Bürger ein und fordert, daß jeder einzelne leben können soll, wie er will. Aristoteles sieht hier das Gesetz in der Willkür des Souveräns aufgehoben und hat dabei, auch wenn er nur von der Volksversammlung spricht, doch gleichzeitig die Geschworenenhöfe vor Augen. Für die Willkür der Rechtsprechung im demokratischen Athen konnte man in der Antike wie in der Moderne auf

eindrucksvolle Beispiele verweisen, insbesondere auf den Arginusen-Prozeß des Jahres 406. In ihm waren die siegreichen Feldherren der Seeschlacht bei den Arginusen angeklagt worden, weil sie die Schiffbrüchigen der verlorengegangenen 25 athenischen Schiffe angeblich nicht gerettet hatten. In dem Prozeß

etablierte sich die Volksversammlung als Gericht und verurteilte in einem einzigen Verfahren und unter Einschränkung der Verteidigungsmöglichkeiten alle Feldherren pauschal zum Tode; sechs, die in Athen anwesend waren, wurden

sogleich hingerichtet. In diesem Verfahren, in dem die Volksversammlung als Gerichtshof fungierte, wurden mehrere Grundregeln der Strafrechtsordnung verletzt. Die Feldherren wurden nicht einzeln, sondern kollektiv abgeurteilt, der

Straftatbestand war äußerst unklar (die Bergung der Schiffbrüchigen war versucht, aber wegen eines Sturmes aufgegeben worden) und eine Anklage wegen Gesetzwidrigkeit, die gegen das kollektive Verfahren eingebracht wurde, mit dem Hinweis hinweggefegt worden, daß es unerhórt sei, daß das Volk daran gehindert würde zu tun, was ihm beliebe (Xenoph. Hellen. 1,7,12). Der Schmerz

über den Tod vieler Athener hatte hier das Recht suspendiert, das richtende Volk seinen freien Willen gegenüber dem gesetzten Recht durchgesetzt. In der Tat bleibt hier nichts zu entschuldigen, und auch wenn die genaue Analyse des

Prozesses einiges zur Entlastung der Athener vorbringen kann - der Bericht des Xenophon, unsere Hauptquelle, vertritt eindeutig die Seite der Feldherren -,

bleibt genug, um über den Umgang des Volkes mit dem Recht zu erschrecken. Aber dieser Prozef war alles andere als typisch für die athenische Gerichtspraxis, und die Athener sahen auch bald ihren Fehler ein und erhoben gegen die Hauptakteure Anklage wegen Täuschung des Volkes. Der Rechtsbruch wurde also von den Athenern selbst als ein Unfall angesehen, in dem die Sicherungen der unmittelbaren Demokratie nicht funktioniert hatten. Das Unrecht war nicht wiedergutzumachen. Aber mit der Deklaration, daß es ein Unrecht gewesen sei,

X. Form und Intensität der politischen Praxis

355

hat sich die Demokratie zumindest im nachhinein von dem größten ihrer Justizskandale distanziert. Die Athener wußten selbst sehr gut von der Macht der Gerichte und von den Gefahren, diese Macht zu mißbrauchen, und gerade dieses Wissen hinderte sie daran, Rechtsbrüche und Willkürjustiz mit dem

Postulat der souveränen Entscheidungsgewalt zuzudecken. Das Postulat war

umgekehrt die Bindung an das positive Gesetz, und alle kannten genau die Grenze zwischen der Rechtsprechung und der Gesetzgebung. „Wenn euch die

Strafe zu schwer und das Gesetz zu hart zu sein scheint“, ruft Lysias in einem Dokimasie-Verfahren im Jahre 395/94 den Richtern zu, „so müßt ihr euch daran

erinnern, daß ihr nicht als Gesetzgeber für diese Sache hierhergekommen seid, sondern um nach den bestehenden Gesetzen zu richten“ (15,9).

Hat das Rechtswesen ın Athen ım allgemeinen funktioniert, bleibt doch zu fragen, ob der politische Prozeß hier eine Ausnahme macht. Da Unglück und Schaden der Stadt in einer unmittelbaren Demokratie wie Athen jeden einzelnen mehr oder weniger direkt betrafen, insbesondere militärische Nieder-

lagen für viele den Verlust von Angehörigen und Freunden bedeuteten, ließe sich denken, daß die Emotionen der Menge sich in Prozessen gegen angeblich Schuldige, insbesondere Feldherren und Redner, ungehemmter entluden; denn

kein Juristenstand, keine dem Recht und einem abstrakten Staatsbegriff verpflichtete Bürokratie schützte den Angeklagten. In der modernen Literatur ist die Handhabung des politischen Delikts bei den Athenern oft sehr negativ beurteilt und als ein Krebsübel der Demokratie dargestellt worden. In der Tat hören wir von vielen politischen Anklagen, und die Athener hatten für das Delikt mehrere Prozeßformen entwickelt. Da waren zunächst die im Laufe der Zeit zumindest einmal reformierte Eisangelie-Klage, die für viele Fälle, in denen das Interesse der Stadt betroffen war, angestrengt wurde, und die Paranomie-

Klage gegen gesetzwidrige Anträge. Auch alle Klagen, die auf Grund der Re-

chenschaftspflicht oder der Dokimasie erhoben wurden, können politischer Art sein und eventuell zu Strafklagen führen. Es kommt hinzu, daß auch viele Klagen, die rein kriminelle Straftatbestände verfolgten, ja selbst rein private

Streitsachen leicht in das Politische überwechseln konnten. Klagen, die Unregelmäßigkeiten bei der Getreideversorgung untersuchten, hatten schon von vornherein eine politische Note; erst recht gehörten bei der engen Verflechtung des

sakralen mit dem öffentlichen Bereich die Klagen wegen Religionsfrevel zu den politischen Klagen, und bei der Dehnbarkeit des Straftatbestandes „Gottlosig-

keit“ (Asebie) war die Zahl der Tatbestände, die darunter gefaßt werden konnten, nicht leicht zu übersehen. Das Prozeßklıma war bei denjenigen politischen Verfahren, in denen das ganze Volk urteilte oder doch eine Vorentscheidung in

der Form ıraf, daß ein Prozeß stattfinden könne oder solle, naturgemäß besonders gespannt. Auch war bei manchen politischen Delikten die Anzeige dadurch erleichtert worden, daß der Anzeigende nicht - wie bei anderen Klagen - zu einer Prozeßbuße wegen leichtfertiger Anklage verurteilt werden durfte, wenn weniger als 1/5 der Richter für schuldig plädiert hatten. In solchen Fällen entfiel also ein wichtiges Hemmnis für eine Anzeige. Darüber hinaus waren die Strafen hart. Die Todesstrafe, hohe Geldbußen oder/und der Verlust aller oder eines

Teils der bürgerlichen Rechte waren häufig ausgesprochene Strafsentenzen. Da

356

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

das politische Delikt alle berührte, mochte der Gerechtigkeitssinn der Richter zudem oft geschwächt sein. Es macht keine Mühe nachzuweisen, daß bei nicht

wenigen Schuldsprüchen Wut, Enttäuschung, rasender Schmerz über Menschenverluste und Mißgunst hineingespielt haben, und man hat dabei nicht nur an den Arginusen-Prozeß von 406 zu denken. Die allgemeine Sensibilität

für das politische Delikt führte ferner dahin, daß selbst bei Anklagen, die von vornherein kein politisches Kolorit zu tragen schienen, doch oft politisch argumentiert wurde. Nun ist es für uns allerdings nicht möglich einzuschätzen, in welchem Grade entsprechende Bemerkungen von Rednern die Richter beeinflußt haben, und man hat auch zu bedenken, daß die meisten politischen

Prozesse des 5. Jahrhunderts uns nicht gut überliefert, etliche Prozeßberichte

durch Anekdoten oder politische Voreingenommenheit entstellt wurden. Man sollte sich hüten, ein voreiliges Urteil zu fällen. Vom modernen Standpunkt der Behandlung des politischen Prozesses her liegt ein Verdikt der athenischen Praxis nahe; aber auch wer das Problem von den besonderen Bedingungen der athenischen, direkten Demokratie her beurteilt, sollte nicht versuchen, die

Schwächen als Pannen eines an sich funktionierenden Systems hinzustellen. Die Rechtsprechung war wohl in der Tat durch politische Klagen und den

Einfluß der Politik auf ganz unpolitische Streitgegenstánde belastet. Man kann nicht übersehen, daß die Politisierung der gesamten Rechtsprechung in Athen

weit gediehen war, und es mußte sich dies bei dem Engagement aller in der Politik ungünstig auf die Objektivitát des Richters auswirken. Es war für eine Masse von Richtern - und bei „öffentlichen“ Prozessen waren es mindestens

501 - in der Tat nicht einfach, in politischen Fragen, die jeden selbst berührten, objektiv zu sein. Die politische Justiz ist in einer unmittelbaren Demokratie

ganz offensichtlich besonders gefáhrdet. Trotz allem war Athen kein totalitirer Staat; es fehlte die offizióse Selbstdarstellung des Staates durch eine Ideolo-

gie oder einen Apparat, der jeden freien Gedanken erstickt und das selbstándige Urteil unterdrückt hätte. Fehlentscheidungen waren an Stimmungen ge-

bunden, die wieder verschwanden; sie konnten auch umschlagen und, wie bei dem Beschluf$ über die Hinrichtung aller Mytilenáer vom Jahre 427, womóglich wieder rückgängig gemacht werden. Bei allem Unglück, das zeitbedingte

Unrechtsurteile anrichten konnten, wurde damit doch nicht die gesamte Rechtspraxis pervertiert. Und man muß sich auch daran erinnern, daß es in

Athen selbst in Zeiten schwerster innerer Unruhen keine Lynchjustiz gab, vielmehr auch der unterlegene innenpolitische Gegner seinen, wenn auch

vielleicht von Emotionen überschatteten Prozeß erhielt. Gerade das zeichnete Athen vor den meisten anderen Stádten aus. Die Gerechtigkeit wich keiner Willkürjustiz, und sie konnte sich, wenn sie erniedrigt worden war, immer

wieder erheben.

In einer ganz anderen Weise wurde die Rechtsordnung durch die Sykophantie gefáhrdet. Sie war, wie oben dargelegt, eine Konsequenz des Bemü-

hens um die Effektivität des Gesetzes, insbesondere des Strafgesetzes; die gewerbsmäßig betriebene Anklagetätigkeit ersetzte den fehlenden Staatsanwalt, und das Geschäft blühte in der Demokratie. In den „Ekklesiazusen“ (439f.; 392 aufgeführt) läßt Aristophanes einen seiner Akteure sagen, daß alle Athener

X. Form und Intensität der politischen Praxis Sykophanten

seien, und in seinem letzten Stück, dem

357 „Plutos“, hat er das

Sykophantenunwesen in einem besonderen Exkurs gegeißelt (850-958, bes. 909ff.). Der Sykophant wird hier dargestellt als Geschäftemacher, als allzu betriebsamer, unehrenhafter Mann, der sein Geld mit dem Unglück anderer

verdient. Aber die Rechtfertigung, die in diesem Stück der Sykophant selbst vorbringt, zeigt nicht minder deutlich seine demokratische Funktion: Er ist der Helfer des Gesetzes und als solcher ein rechtschaffener Demokrat; er steht

gleichsam für die Demokratie, und sein Gegner ist deren Feind. Der Mißbrauch der Popularklage belastete indessen das demokratische Leben erheblich, und der

HaR der Menschen auf die berufsmäßigen Ankläger war berechtigt. Diese selbsternannten Staatsanwälte schützte kein abstrakter Staatsbegriff und nicht die Würde des Amtes; ihnen haftete der Geruch des Kopfgeldjägers an. „Er rennt über die Agora wie eine Natter oder ein Skorpion mit aufgerichtetem Stachel“, sagt der Autor einer dem Demosthenes zugeschriebenen Rede (25,52)

von Aristogeiton, einem stadtbekannten Sykophanten. Die zur Durchsetzung

des Rechts und damit um der Rechtssicherheit willen eingerichtete Institution konnte in der Tat zeitweilig zu einer Plage vor allem für die Besitzenden und zur

Ursache großer Rechtsunsicherheit werden. Denn Anklagen wurden bisweilen ganz willkürlich konstruiert, um einen wohlhabenden Angeklagten, der selbst als Unschuldiger den skrupellosen und versierten Gegner fürchten mußte und darum dem Prozeßrisiko gern auswich, zu einem außergerichtlichen, für den Kläger selbstverständlich einträglichen „Vergleich“ zu zwingen. Andere mach-

ten ihre Geschäfte damit, daß sie zur Abwehr von potentiellen Klagen anderer Sykophanten gegen Geld Schein-Klagen erhoben, bei denen der Beklagte dann freigesprochen wurde oder mit einer kleinen Strafe davonkam (Präventivklage).

Das Risiko einer Anklage war dabei nicht übermäßig groß. Der im Prozeß unterlegene Ankläger hatte dann, wenn er weniger als 1/5 der Richterstimmen erhalten hatte, 1000 Drachmen Prozeßgebühren zu zalilen, eine Summe, die er

mit anderen Klagen leicht hereinholte, und die geforderte Stimmenzahl war in

der Regel nicht schwer zu erhalten. Auch ein besonderes Verfahren gegen den Mißbrauch der Popularklage scheint nicht viel geholfen zu haben. Die Schutzeinrichtungen waren wohl nicht immer unwirksam, aber doch unzureichend.

Den Erfolg einer Klage garantierten zumeist schon Energie und ein gutes Maß an Gewissenlosigkeit, und dieses Kapital brachten nicht wenige auf. In manchen Zeiten schien nicht mehr das Recht, sondern der Erfolg oder Mißerfolg der Sykophantenstrategie über das Wohl und Wehe der Beklagten zu entscheiden

und an die Stelle des Kampfes um das Recht der Streit der Klagen getreten zu sein. Das Schlimmste aber war, daß die Sykophantie nicht einfach abgeschafft werden konnte; denn sie war ein unabdinglicher Teil der Demokratie ebenso wie der Laienrichter und die Vermassung des richtenden Gremiums. Sie garantierte, daß die Popularklage, auf der die Effektivität des Rechts und die Sicherheit der Demokratie ruhte, ein lebendiges, wirkungsvolles Institut blieb. Mit den Syko-

phanten mußten die Athener leben. Der moderne Betrachter wird die Sykophantie gerade deswegen, weil sie unentbehrlich war, auf der Negativseite der Demokratie zu verbuchen haben. Er wird aber gut daran tun, nicht wie Jacob

Burckhardt die Demokratie von jener her zu beurteilen. Denn bereits die Athe-

358

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

ner haben sie scharf kritisiert und ihren Schwächen, wenn auch mit wenig

Erfolg, abzuhelfen versucht. Man hat auch zu bedenken, daß die Hauptquelle unserer Kenntnis über die Sykophanten die Gerichtsreden sind, in denen der berufsmäßige Ankläger von seinem Prozeßgegner naturgemäß in besonders

düsteren Farben gemalt und seine Tätigkeit in ihren Auswirkungen auf die Stadt gewiß gern überzeichnet worden ist.

Im Gegensatz zu den Bürgern der meisten griechischen Städte hatten die Athener indessen unter einer anderen Plage, der Bestechung, nicht in demselben Maße zu leiden. Auch in Athen hören wir zwar oft davon, daí$ Beamte,

Richter und Private, insbesondere auch Politiker bestochen wurden, und es gab harte Gesetze sowohl gegen aktive als auch passive Bestechung; Bestechung

führte auch unter Privaten immer zu einer öffentlichen Klage. Die Beamten und auch die Geschworenen mußten sich in ihrem Amtseid verpflichten, keine Geschenke anzunehmen. Soviel Ärger man mit den Bestechungen einzelner haben mochte, er war nicht größer als in anderen politischen Ordnungen und wurde eher genauer verfolgt. Aber die anderenorts wohl schwerwiegendste

Form der Bestechung, nämlich die des Richters, war in Athen nur gegenüber dem Schiedsrichter oder dem

Beamten, der den Prozeß einleitete oder ihm

vorsaß, möglich. Die Richter der Geschworenenhöfe konnten nicht bestochen werden, nicht nur weil sie so viele waren, sondern vor allem, weil sie erlost

wurden und im 4. Jahrhundert zudem jeder Richter erst in dem Augenblick, in dem er den Gerichtshof betrat, wußte, über welchen Fall er zu urteilen hatte,

und weil die Abstimmung geheim war. Die Unbestechlichkeit der Richter war nicht ihr Verdienst; sie war eine Konsequenz der besonderen Form der Richter-

bestellung in Athen und also eine der Demokratie.

5. Die Verselbstándigung eines óffentlichen Bereichs Einen selbständig neben dem privaten Bereich des Bürgers stehenden Raum der Öffentlichkeit, wie ihn Aristoteles am Eingang seiner „Politik“ feststellt und im folgenden weiter ausführt, hat es bei den Griechen in archaischer Zeit nicht gegeben. Offentliches und privates Leben waren ungeschieden; die beiden Bereiche waren aufgehoben in der Lebensauffassung der Adelswelt, in der alles Tun des adligen Herrn zugleich als ein óffentliches und privates angesehen werden konnte, tatsächlich aber diese Scheidung nicht bewußt war. Der Streit eines Vornehmen mit einem Standesgenossen um eine Sklavin konnte latent den öffentlichen Bereich berühren, der Reichtum eines Oikos-Inhabers zur Verteidi-

gung des Hauses ebenso wie zu Raubzügen, also nach spáterer Vorstellung für

einen óffentlichen Zweck, benutzt werden, und die persónlichen Kontakte eines Vornehmen vermochten die Grenzen einer Stadt zu sprengen, ohne daß damit eine öffentliche Sphäre verletzt worden wäre. Der bei den Römern in verhältnismäßig früher Zeit vorhandene, begrifflich hervorgehobene und privilegierte öffentliche Bereich war den Griechen zunächst nicht bewußt. Er entwickelte

sich erst mit dem politischen Niedergang der Adelswelt, und an dieser Entwicklung hat die Demokratie bedeutsamen Anteil. Geht die Trennung der Bereiche

X. Form und Intensität der politischen Praxis

359

gewiß nicht auf sie allein zurück, wäre doch ohne sie das Bewußtsein davon sehr viel langsamer gewachsen. Das Bewußtsein eines vom privaten getrennten und unabhängigen öffentlichen Bereichs der bürgerlichen Gemeinschaft ist zunächst einmal entstanden

und erkennbar geworden durch die scharfe Abgrenzung des politischen Raumes der Stadt mittels einer geographischen Gliederung der Bürgerschaft. Sie wurde in Athen von Kleisthenes besonders klar und umfassend durchgeführt, und wie

sie gegen den Einfluß der adligen Familien gerichtet war (s.o. S. 36ff.), etablierte sie einen neuen politischen Bereich, nämlich den der Bürgerschaft: Die zentralen bürgerlichen Institutionen, wie der Rat und die Beamten, bezogen sıch

direkt auf diese regionale Einteilung der Bürger. Da auch die Aushebung der Athener zu militärischem Dienst im Heer und auf der Flotte auf Grund dieser

regionalen Einteilung erfolgte und damit auf rein städtischer Ebene organisiert war, bezog sich nun auch der militärische Dienst auf die Stadt allein, hatte er jedenfalls jede Verbindung zu einem einzelnen Führer verloren. Das Rekrutierungssystem insbesondere dürfte jedenfalls in Athen die Vorstellung von einem

Bereich, der allein die Gesamtheit der Bürger anging, gefördert haben, denn es scheint vor Kleisthenes überhaupt kein formalisiertes Aushebungswesen gegeben zu haben: Da die Peisistratiden ihre Soldaten vornehmlich durch die Anwerbung von Sóldnern rekruuert hatten, kónnte ein fórmliches, die eigenen Lands-

leute betreffendes Aushebungswesen nur für das frühe 6. Jahrhundert konstruiert werden, und mit dieser Zeit befinden wir uns noch tief in der Adelszeit, für

welche die Ungeschiedenheit von Offentlichem und Privatem gerade konstitutiv ist. Am nachhaltigsten aber hat ohne jeden Zweifel die Herausbildung eines eigenstándigen Finanzwesens zu der Entstehung bzw. Erweiterung eines óffent-

lichen Bereichs beigetragen, und hier ist denn auch die Rolle der Demokratie für diese Entwicklung am deutlichsten zu greifen. Die Demokratie hatte gegenüber der politischen Ordnung der Adelswelt ein ausgesprochenes Geldbedürfnis

(s.o. S. 248), und wenn auch die Feldzüge gegen die Perser seit 477 von den Matrikelbeiträgen der Seebundsgenossen gedeckt worden waren, gehört doch die mit den Anfängen der Demokratie verbundene Zahlung von Diäten für die Teilnahme am politischen Leben, die sehr beträchtliche Summen

erforderte,

allein dem öffentlichen Bereich an. Die Neuartigkeit dieses Ausgabepostens hat

den öffentlichen Bezug noch gestärkt, denn die Diäten hatten keine Vorgeschichte in der Adelszeit; sie traten als eine Zahlung der Stadt ins Leben.

Dasselbe gilt für die finanziellen Belastungen der Bürger für den Krieg, sei es sie wurden als Leiturgie (z. B. die Trierarchie), sei es als Sondersteuer (Eisphora)

geleistet. Ebenso bedeutet die Sicherstellung der Versorgung der Bürger (trophé) durch die Stadt, die für uns in Athen vor allem aus der städtischen, gesetzlich

geregelten Sorge um hinreichend Getreide deutlich wird (s.o. 5. 115ff.), eine

Erweiterung des öffentlichen Bereichs, durch die der Hausvorsteher als der dafür zunächst zuständige zwar nicht abgelöst, aber doch durch die konkurrierende Tätigkeit der Stadt eingeschränkt bzw. entlastet wurde.

Vielleicht noch stärker als Regionalsystem, Aushebungs- und Finanzwesen haben, wie Sally C. Humphreys gezeigt hat, die großen Entscheidungen in den

Perserkriegen und die Feldzüge zum Aufbau eines riesigen Seebundes dazu

360

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

beigetragen, ım Bewußtsein der Athener eine öffentliche Sphäre zu verankern und diese zu erweitern. Und das hat nicht lediglich der gesellschaftliche Zwang zur Teilnahme an diesen städtischen Unternehmungen, den wir u.a. in der

Dokimasie erkennen, sondern vor allem auch der auf Herrschaft gerichtete Wille der weitaus meisten Athener bewirkt. Das jährliche öffentliche Leichenbegängnis für die im Krieg Gefallenen schuf durch den Akt selbst und die ihn begleitenden Reden einen Rahmen dafür, die Außen- und Militärpolitik nicht

nur als Teil des öffentlichen Raumes bewußt zu machen, sondern sie zugleich zu überhóhen, ja zu ideologisieren.

Die Etablierung und Stárkung eines óffentlichen Raumes haben auch die Bauten bzw. Bauprogramme der Demokratie gefördert oder richtiger: Sie reprä-

senuerten die Existenz und Bedeutung dieses Raumes. Wie für den Tyrannen neue Großbauten zur Selbstvergewisserung und Überhóhung seiner herrschaftlichen Stellung dienten oder dienen konnten, vergewisserte sich die Demokratie durch ihre Großbauten, sei es nun in der Zeit des Perikles, sei es in der des

Lykurgos, ihrer selbst, sowohl ihres Ansehens unter den Griechen als auch ihrer

politischen Ordnung. Der Parthenon oder das Dionysos-Theater, das lykurgische Stadion oder die gewaltigen Hafen- und Werftanlagen im Piräus, an denen

unentwegt gearbeitet wurde, enthalten auch nicht mehr die geringste Spur eines privaten Willens.

Die vorangehenden Überlegungen haben bereits einen deutlichen Hinweis

auf den möglichen Zeitpunkt gegeben, mit dem wir den Beginn dieser Entwicklung anzusetzen haben. Sie setzt durchaus nicht erst mit der Demokratie ein und ist nicht allein auf Athen beschränkt. Sie ist ursáchlich mit der Ablósung der

reinen Adelsherrschaft verbunden, gehórt also in die Krise der Adelswelt und ist darum für Athen dort zuerst greifbar, wo Bürger nichtadliger Herkunft in den politischen Raum vordringen und die festgefügte Adelswelt ins Wanken bringen. Für Athen war es Solon, der für diese Bürger den politischen Raum óffnete und ihnen eine Verantwortung für das Ganze zu vermitteln suchte (s.o. S. 24ff.). Unter den von ihm getroffenen reformerischen Maßnahmen hat am stärksten die Popularklage zur Bildung eines óffentlichen Sonderbereichs beigetragen, die

durch ihren Bezug auf alle Bürger ein óffentliches Klägerforum konstituierte und (jedenfalls später) auch begrifflich durch die Bezeichnung als „öffentliche

Klage“ (démosíé díké) sich von der nicht öffentlichen, eben der privaten Klage (idía diké) abhob.

In Athen wird die weitere Entwicklung dann durch die

kleisthenischen Reformen vorangetrieben. Die regionale Organisation der Bürgerschaft (Phylenreform) mit dem dazugehórigen Aushebungswesen war ein

großer Schritt zur Verselbstándigung eines ausschließlich auf die Gesamtbürgerschaft bezogenen Bereichs. Die großen Schlachten der Perserkriege haben dann diese Entwicklung beschleunigt. Aber die entscheidenden Stufen zu seiner Verfestigung sind in dem Umschwung der isonomen Ordnung zur Demokratie

unter Ephialtes/Perikles und in dem Wandel der AuRenpolitik von der Perserabwehr zum Ausbau einer Seeherrschaft zu sehen. Perikles hat dabei das Offentliche als einen unabhängigen und privilegierten Raum offensichtlich ganz bewußt herausgestellt. Denn sein Bürgerrechtsgesetz von 451/50 (s.o. S. 346f.) hat den

Bürgerverband von der AuRenwelt scharf abgegrenzt und bedeutete damit auch

X. Form und Intensität der politischen Praxis

361

das formale Ende der adligen, die Polis sprengenden Bindungen. Es wird auch Perikles nachgesagt (Plut. Perikl. 7,5f.), daß er sich nur noch zur Agora und zum Ratsgebäude, also zu öffentlichen Geschäften, aus dem Haus entfernte, an dem

gesellschaftlichen Leben jedenfalls keinen Anteil nahm. Die Absonderlichkeit

dieses Verhaltens darf als Beweis für die Zuverlässigkeit des Berichts genommen werden, das in der später nicht mehr verstandenen Absicht begründet ist, sich

selbst als einen allein dem bürgerlich-öffentlichen Bereich zugewandten Politi-

ker hinzustellen und damit gleichzeitig den Vorwurf abzuwehren, daß für ihn als einen Mann vornehmster Herkunft personale Bindungen in der Tradition der alten Adelshäuser Bedeutung hätten. So deutlich sichtbar sich in Athen ein öffentlicher Bereich bildet, der in sich selbst ruht, seiner Tendenz nach weiter wird und neue Bereiche an sich zieht,

und so klar dies auch in einer konkreten Begrifflichkeit (démósion/koinón -

ídion/oikefon) wird, tritt er doch außer in der reinen Gerichtssphäre dem Privaten nicht in einem formalen Sinne gegenüber. Das Öffentliche wird zu keinem formalisierten Sonderbereich, der das Private aus sich ausgegrenzt hätte. Es wird zwar ein besonderer, privilegierter Raum bewußt, der sich auch erweitert und in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts eine deutliche Überhöhung erfährt; aber

er verdrängt nicht den privaten Bereich und ist ihm nirgends in einem formalen

Sinne - etwa als Allgewalt des Staates gegenüber der Freiheit/Freizügigkeit des Individuums - übergeordnet; dergleichen kann nicht einmal gedacht werden. Staat und Gesellschaft sind nicht auseinandergetreten. Der „Staat“ sind „die Athener", nämlich die Bürger, die als die politische Klasse die Gesellschaft

bilden, nicht tritt er als Rechtsssubjekt der Gesellschaft gegenüber. Die Bürger

bilden lediglich einen besonderen, der politischen Tätigkeit gewidmeten Raum, der auch nur teilweise abgeschlossen, in vielen Beziehungen vom privaten Leben

durchdrungen ist. Letzteres zeigt sich u.a. etwa auch im Gymnasion und Symposion, die im Zuge des Vordringens des Politischen zugleich óffentlichen und/ oder privaten Charakter haben kónnen, da sie latent auch politische Bindungen und Meinungen zu begründen und zu festigen vermógen und darum eine Art vorpolitischer Welt darstellen. Ferner ist die politische Gleichheit als Freiheit zum einen ein integrierter Bestandteil des rein Öffentlichen, Freiheit zum anderen aber auch als ein Sichausleben des einzelnen, als geistige und materielle Freizügigkeit bewußt, die unverbunden neben der Freiheit als politische Gleich-

heit steht, in einem Atemzuge mit ihr genannt werden kann und deren Charakteristikum gerade die formale Unbestimmtheit ist (s.o. S. 310ff.).

Dasselbe Nebeneinander und Ineinander findet sich schließlich, wenn von einzelnen Bürgern private Mittel, z. B. Geldspenden oder die freiwillige Übernahme einer Leiturgie, zu gemeinschaftlichem Zweck bereitgestellt werden. Von Kimon, Nikias, Timotheos, dessen Sohn Konon und vielen anderen hören

wir dergleichen. Hier wird der öffentliche Finanzrahmen durch privates Geldgeben durchbrochen, sei es nun dies erfolgt zur Werbung für die eigene Person unter Bürgern, sei es zur Abwehr von Neid und Feindschaft der ärmeren Bürger,

hervorgerufen durch den Reichtum und politischen Einfluß dieser Personen (vgl. Arist. Pol. 1321a31-41). Die erstere Motivation steht in einer aristokratischen Tradition, die andere dient dem Überleben des ökonomischen Status in

362

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

einer veränderten politischen Umwelt. Aber insofern diese Verhaltensweise in der Demokratie zur Ausnahme wird, ist doch die Selbständigkeit des Offentlichen das der Demokratie Zukommende. In ihr leistet der einzelne für die ganze Bürgerschaft (Stadt) und erhält Ehre und Lob allein von ihr. Es gibt keine Loyalität als nur ihr gegenüber; der óffentliche Raum absorbiert jedenfalls der

Tendenz nach alle anderen Loyalitáten. In der Loyalitát gegenüber der Stadt sind ferner alle gleich; keine noch so grofte Leistung differenziert sie in Rangklassen.

Die besondere finanzielle Leistung, die dem Reichen durch Leiturgie und Eisphora abverlangt wird, schafft keine besondere Berechtigung, nicht einmal das Recht auf eine besondere Ehrung. Leistet ein Bürger finanziell mehr als verlangt, mag er das herausstellen, aber diese Selbstdarstellung hat einen politischen Wert nur gegenüber der ganzen Bürgerschaft, also im óffentlichen Raum, und sie

erbringt real nichts. Wirbt aber ein Bürger im politischen Raum für sich selbst, kann das als persönlicher Ehrgeiz (idia philotimta) abgewertet werden (Thuk. 2,65,7), und übersteigt der Ehrgeiz das Maß, wie bei dem Putsch von 411, wird

er sogar als politische Abweichung gebrandmarkt (Thuk. 8,89,3). Zwar wirkt, wie dargelegt, eine ältere, auf das Individuelle gerichtete politische Verhaltens-

weise auch in der Demokratie noch fort und kann sich in krisenhaften Situationen wie die von 411 und 404 sogar als mafigebende Kraft durchsetzen. Doch zeigt sich gerade in diesen Situationen ihr der Demokratie grundsätzlich abge-

neigter, ja zunehmend sogar entgegengesetzter Charakter. Solchen persónlichen Ehrgeiz wehrt die Demokratie u.U. auch durch ihre Institutionen, also förmlich, ab, und dies bei Gelegenheit sogar in Zeiten inneren Friedens und zudem besonders dann, wenn er von einflußreichen Männern getragen wird. So hat die Volksversammlung ca. 437/36 es Perikles und seiner Familie abgeschlagen, die Erbauung bzw. Reparatur eines Brunnenhauses zu finanzieren, und stattdessen den Bau aus Mitteln des bundesgenóssischen Phoros zu bezahlen angeordnet. Der uns zufällig überlieferte Fall zeigt deutlich, daß der Schutz des öffentlichen Bereichs gegen die Zurschaustellung persönlichen Ansehens als Aufgabe bewußt war. Perikles, der mächtigste Mann im Athen seiner Zeit, konnte in der Frage der Loyalıtät nicht vorsichtig genug sein. Demokratie bedeutet in Athen u.a. auch die dauerhafte Etablierung eines

öffentlichen Bereichs. Mit ihrem Ende und der gleichzeitig damit beginnenden Oligarchisierung der öffentlichen Ämter und Leistungen ist diese Entwicklung rückläufig, ohne jedoch wieder gänzlich zu den Verhältnissen der archaischen Zeit zurückzukehren.

XI. Die innere Einstellung des Atheners zur Demokratie

1. Lebenssituation und Mentalität des Bürgers im demokratischen Athen Die Wertvorstellungen der Menschen, ihr Selbstbewußtsein im privaten wie im öffentlichen Leben, ihre Gesinnung und Gewohnheiten bestimmen das Denken

und Handeln von Individuen wie von Gruppen. Wir bezeichnen diese nicht weiter reflektierte Denkhaltung auch als Mentalität, und gerade die Mentalität von Gruppen innerhalb gegebener sozialer und politischer Systeme (Staaten, Parteien, Minderheiten usw.) hat in den vergangenen Jahrzehnten das besondere Interesse der Historiker gefunden. Um von Gruppenmentalität sprechen zu

können, müssen die Denkgewohnheiten nicht bei allen zu der Gruppe gehörenden Personen gleich stark und einheitlich ausgeprägt sein. Zur Peripherie hin verliert sich in jeder Gruppe das für sie Typische und wird durch den besonderen Beruf, den sozialen Stand, die Religion oder andere Kräfte überlagert. Doch in einer Gruppe einheitlicher Mentalität werden zumindest bestimmte grundlegende Denk- und Verhaltensformen von allen geteilt. Die Formen des Denkens und Handelns, durch die sich eine Gruppe von anderen unterscheidet, können

einen sehr verschiedenen Ursprung haben. Das Denken der Bürger im demokratischen Athen war vor allem durch zwei Konstituanten bestimmt: durch die Zugehörigkeit zu den Griechen als einer sprachlichen und kulturellen Gemeinschaft und durch die besondere Geschichte der Heimatstadt. Beides - das Gemeingriechische und die lokale Geschichte - prägten zwar alle Griechen, doch hat die Athener das lokale Kolorit in ganz besonderer, sehr viel stärkerer Weise geformt, weil die ganz neuartige, in Athen geschaffene demokratische Verfassung sie von allen anderen Griechen abgegrenzt hat und sie selbst sich dieser ihrer Eigenheit voll bewußt waren. Diese Sonderrolle der Athener unter den Griechen berechtigt uns, von einer „demokratischen Mentalität“ der Athener zu

sprechen und sie von der Mentalität der anderen Griechen abzusetzen. Ein so ausgeprägtes kollektives Selbstbewußtsein wie in Athen begegnet uns in der griechischen Antike sonst nur noch ın Sparta.

364

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Bevor einige typische Denkformen des athenischen Demokraten vorgestellt werden, sei an die allgemeine Lebenssituation des Atheners erinnert.

Anders als der junge Spartaner verbrachte der Athener seine Kindheit und Jugend in der Kleinfamilie. Wie in den meisten mediterranen Kulturen war der

Einfluß der Mutter besonders stark. Da die Frau ihren Lebensbereich im Hause zu sehen hatte und darum der Ort ihres Wirkens auf das Haus bzw. das Frauengemach (gynaikön) beschränkt war, verlor sich ihr Einfluß auf den Knaben in

dem Maße, wie dieser heranwuchs und in den Kreis der älteren Jugend und schließlich ın den der Bürger eintrat. Die Erziehung des Kindes - und das heißt: des Knaben, denn das Mädchen genoß diese nicht oder doch nur in untergeord-

neter Weise - wurde nicht wie heute vom Staat gelenkt und beaufsichtigt. Der Vater sorgte nach seiner Neigung und seinem Bildungsstand für die Unterweisung des Sohnes, die er aber nicht selbst übernahm, sondern sie bestimmten

Personen überließ, welche die Erziehung gewerbsmäßig betrieben. Vom sechsten Lebensjahr an etwa lernte der Athener bei dem Grammatiklehrer (grammatistés) lesen und schreiben. Daran schloß sich bald ein Musikunterricht an, der

von einem besonderen Musiklehrer, dem Kitharisten (kitharistés), gegeben wur-

de, und schließlich kam noch der Sportunterricht bei einem Turnlehrer (pazdotribes) hinzu, für den die Jungen in zwei Altersklassen gegliedert wurden, in Kinder (paídes) und Jünglinge (neanískoi, etwa 15-18 Jahre alt). Der Unterricht fand im Hause des Lehrers statt; auch die Ringschulen (Palaistren), in denen der

Sportunterricht erteilt wurde, gehörten meist Privatleuten. Das Lesen und Schreiben wurde an den großen Epikern gelernt, vor allem an Homer und Hesiod, und die Lektüre vermittelte gleichzeitig die Normen des allgemeinen

sittlichen und religiösen Verhaltens. Was unter Menschen etwas galt und was nicht, lernte das Kind aus Homer, und in der Tat lieferten seine Epen auch für jede Situation Handlungsmuster, mochte es sich nun um den Kampf in der Schlacht oder den Streit vor Gericht, um die Verehrung der Götter oder die Pflichten der Ehe handeln. Der Musikunterricht erschien den Griechen für die harmonische Ausbildung des Charakters unverzichtbar. Es wurden Gesang, der an den großen Lyrikern erprobt wurde, sowie das Spiel auf der Kithara bzw. Lyra, einem Saiteninstrument, und der Oboe (aslös) gelehrt; der Kithara gab

man gegenüber der Oboe den Vorzug, weil zu ihr gleichzeitig gesungen werden konnte und zudem das Kitharaspiel als das ältere den Musikanten mit der Weihe aristokratischer Lebenshaltung umgab. Obwohl der Unterricht nicht staatlich geregelt war, konnte sich der Vater durch den gesellschaftlichen Komment der Verpflichtung zu einer Mindestausbildung nicht entziehen; doch mußte sich das Kind ärmerer Eltern selbstverstándlich früher dem eigentlichen Berufsleben zuwenden als das wohlhabender Familien. Nur der Sohn aus gutem Hause konnte es sich daher leisten, nach Abschluß des Elementarunterrichts noch den

einen oder anderen Lehrer anspruchsvollerer Geistigkeit aufzusuchen, die seit der Mitte des 5. Jahrhunderts als eine Art Wanderlehrer an vielen Orten Griechenlands, besonders aber in Athen die Jugend anzogen: die Sophisten. Diese vertraten keine gángigen Unterrichtsstoffe, sondern wollten vor allem mit allgemeinen Ratschlägen den Menschen bei der Bewältigung ihres Lebens helfen, brachen aber mit ihren recht unterschiedlichen Anschauungen über die

XI. Die innere Einstellung zur Demokratie

365

göttliche und menschliche Ordnung in das traditionelle Lebensgefüge ein, rüttelten an ihm und waren darum den konservativen Athenern ein rechter Greuel.

Aber weil sie modern oder auch nur modisch waren, hatten sie großen Zulauf. Über sie wird unten gesondert gehandelt werden (5. 379ff.). - Das Mädchen

wuchs gut behütet im Frauengemach des Hauses auf und erlernte dort von den Frauen des Hauses, insbesondere von der Mutter, die Fertigkeiten, die es für ein

Eheleben benótigte, insbesondere also Kochen, Spinnen und Weben. Wir haben davon auszugehen, daf die meisten Frauen Analphabeten waren. Die Heirat erfolgte in der Regel früh; das Mädchen war mit 15 Jahren heiratsfähig. Der Mann konnte sıch, sofern er mündig war - und das wurde er mit 18 Jahren -, seine Frau selbst aussuchen, doch hat er dies durchweg nicht getan, ohne

sıch beim Vater Rat zu holen. Für das Mädchen hingegen bestimmte der Vater bzw., sofern er verstorben war, deren Vormund (kÿrios) den Ehemann. Die Ehe

wurde durch einen mündlichen, formellen Ehevertrag (eggyésis) versprochen, in

dem auch die Mitgift der Frau festgelegt wurde. Die Heirat (gämos) erfolgte im allgemeinen kurz danach mit einem am Abend vor der Hochzeit vollzogenen Opfer für die Gottheiten, welche die Ehe schützten, also Zeus, Hera, Artemis,

Apollon und Peitho, die Göttin der Überredung, weiter mit einem Festschmaus am folgenden Tag, der im Hause des Vaters der Braut stattfand, und schließlich mit der Einholung der Braut in das Haus des Ehemanns und dem Vollzug der

Ehe. Eine Scheidung war von seiten des Mannes jederzeit durch einfaches Verstoßen aus dem Hause möglich, doch mußte für diesen Fall die Mitgift zurückgegeben werden, was manchen Ehemann von dem Entschluß zur Trennung zurückge-

halten haben wird. Der Scheidungsgrund lag oft oder sogar meist in der Kinderlosigkeit, die einseitig der Frau zur Last gelegt wurde. Die Frau, die ja selbst nicht rechtsfähig war, konnte die Scheidung nur über den Archon als den für die Unmündigen

zuständigen

Beamten

und auch

nur unter Angabe

wichtiger

Gründe erzwingen. Der Mann war verpflichtet, seine Frau zu versorgen und seine Kinder angemessen zu erziehen, ebenso für die alt und arbeitsunfähig gewordenen Eltern zu sorgen. Die Ehe bedeutete in Athen wie überhaupt bei den Grie-

chen nicht die Verbindung von Mann und Frau zu inniger Gemeinschaft. Das eheliche Gefühlsleben war deutlich unterentwickelt, die Ehe vor allem ein Institut

zur Kindererzeugung, und das heißt vornehmlich zur Erzeugung eines Sohnes. Der Mann hielt sich tagsüber nicht im Hause auf; er hatte seinen Lebensmittel-

punkt außerhalb des Hauses und besaß dort auch die Möglichkeit zu einem Geschlechtsleben, das nicht als unehrenhaft, geschweige denn als strafbares Verhalten angesehen wurde. Das galt für die Frau nicht, die im Hause lebte und im Falle eines manifest gewordenen Ehebruchs von dem Mann verstoßen wurde, ja,

wollte dieser nicht seines Rechtsstatus als Bürger (durch atimia) verlustig gehen, sogar verstoßen werden mußte. Die Wohnhäuser waren in aller Regel einstöckig und sehr klein; ein Einzelhaus bestand aus zwei bis drei winzigen Zimmern mit kleinen Fenstern, sofern

es überhaupt solche gab. Die Hauswände waren gewöhnlich aus luftgetrockneten Lehmziegeln, seltener aus Holz gefertigt und so dünn, daß ein kräftiger Mann sie mit Hilfe eines Werkzeuges leicht durchstoßen konnte. Manche Häu-

ser lehnten sich auch an Felswände, die zur Schaffung von Räumlichkeiten

366

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

ausgehöhlt wurden. Es gab auch zweistöckige Häuser, sogar Mietshäuser mit mehreren Mietpartien (synoikia), und wir wissen aus der Literatur auch von

weitläufigen Häusern mit prächtiger Architektur und gutem Wohnkomfort, doch sind solche Häuser wegen der ununterbrochenen Bebauung des städtischen Areals ın Athen nicht erhalten. Küchen scheint es ın einfachen Häusern selten gegeben zu haben; man kochte meist im Freien und begab sich zum Essen u.U. ins Haus. Im Hause gab es keine sanitären Anlagen. Aller Unrat landete auf

der Straße oder auf einem in der Nähe liegenden Feld; unterirdische Abzugskanäle aus Ton für das weggeschüttete Schmutzwasser, die Fäkalien und das Regenwasser gab es im 5. Jahrhundert nicht und auch im darauf folgenden nur erst vereinzelt. Gegen den Gestank müssen die Athener jedenfalls bis zu einem nicht geringen Grade immun gewesen sein oder nahmen ihn schicksalergeben hin. Wollte man sich im Winter im Hause an einem Feuer wármen, wurde für

den Rauchabzug ein Dachziegel beiseitegeschoben; Kamine waren selten. Die über 10 000 Häuser Athens in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts (Xenoph. Mem. 3,6,14) standen eng an engen und gewundenen Straßen. Die verschiede-

nen Gewerbe konzentrierten sich an bestimmten Straßen oder in bestimmten Bezirken; z. B. wohnten und arbeiteten die Tópfer in dem nach ihnen benannten Kerameikos (von kéramos, „Ion“, ,tónernes Gefäß“) im Norden der Stadt,

aufterhalb und innerhalb des Dipylon-Tores. Das óstlich sich innerhalb Mauern anschließende Skambonidai-Viertel wurde übrigens vor allem wohlhabenderen Athenern bewohnt. Wichtig war für jeden Athener wie jeden Stadtbewohner die Wasserversorgung. Für sie hatte schon Peisistratos

der von für u.a.

durch den Bau eines Brunnenhauses mit neun Wasserstellen (enneskrounos, auch kallirrbóé, „Schönbrunn“, genannt), das wohl südöstlich der Burg am Ilissos

gelegen hat, in besonderer Weise gesorgt. Natürlich wurde auch Regenwasser in Zisternen oder Fässern und anderen Behältern gesammelt, aber das Brunnenwasser war doch der wichtigste, unverzichtbare Teil der Wasserversorgung. Für die Brunnen hatten die Athener jedenfalls in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts einen besonderen Aufsichtsbeamten bestellt, dessen hohe Vertrauensstel-

lung man daran erkennt, daß er gewählt wurde. Wenn der Athener ın das Arbeitsleben eintrat, war er selbst dann, wenn er

gewissenhafte, um das Fortkommen ihrer Kinder besorgte Eltern hatte, nicht sonderlich gut ausgebildet. Der Durchschnittsathener konnte aber lesen und schreiben, und er nannte dank Homer auch eine nicht geringe Anzahl von

überkommenen Lebensregeln sein eigen, deren Gültigkeit bei allen Mitbürgern anerkannt war. Das Gemeinschaftsgefühl wurde weiter durch eine militärische Grundausbildung gestärkt, die zumindest seit den dreißiger Jahren des 4. Jahr-

hunderts in einer zweijährigen Dienstzeit, der Ephebie, abzuleisten war, aber in Vorformen schon seit den Anfängen der Demokratie bestanden haben dürfte

(s.o. S. 119). Während dieser Zeit lebte der junge Mann mit seinen Altersgenossen in Zeltgemeinschaften und bewachte im zweiten Dienstjahr die attischen Grenzfestungen. Spätestens nach diesem Dienst ging er seinem Beruf nach, arbeitete als Bauer, Handwerker oder Tagelöhner, als Händler, Lehrer oder

Kaufmann. Die meisten Athener wurden vom Familienleben und von ihrer

XI. Die innere Einstellung zur Demokratie

367

Arbeit weitgehend absorbiert. Die höhere soziale Einheit, in der sie lebten, war die Phratrie, die zwar eine künstliche, keine natürliche Lebensgemeinschaft war,

aber doch dıe Verwandten mit einschloß und als gesellige und religiöse Gemeinschaft ihr Gewicht hatte. Darüber hinaus war der Athener in seinen Demos, den

kleinsten lokalen Bezirk der politischen Organisation Attikas, eingebunden. In

den Verwaltungseinrichtungen, den kultischen Obliegenheiten und politischen Aufgaben, die dem Demos zugewiesen waren (s.o. S. 156ff.), fand der Athener

eine politische Welt im kleinen, die ihm vom Gefühl her oft näherstehen mochte

als das große Getriebe im Zentrum Athens. Der Lebensrhythmus des athenischen Bürgers war durch das Familienleben,

durch die Arbeitswelt und die kultischen Verpflichtungen in einen festen Rahmen gestellt. Die politische Aktivitát hingegen - also der Besuch von Volksversammlungen, die Tätigkeit als Richter, Ratsherr und Beamter, als Demagoge, Ankläger oder Verteidiger, als Soldat und Ruderer - war nicht in das Gleichmafi

des Alltags eingebettet, aber sie war für die Ausbildung eines Gruppenkomments bedeutsamer, weil sie den Athener von den anderen Griechen abhob. Das

augenfälligste, von Athenern ebenso wie von Ausländern beobachtete Charakte-

ristikum des politischen Lebens in Athen war dessen auRergewühnliche Intensität, und es war allen bewußt, daß diese ,,Vielgescháftigkeit" (polypragmosyne) eine Konsequenz der Demokratie war. In der Tat war auch dann, wenn sich ein

Bürger politisch nicht übermäßig engagierte, die von ihm für die Allgemeinheit aufgewendete Zeit nicht gering. Zu Volksversammlungen, die wegen wichtiger Fragen, etwa wegen eines drohenden äußeren Konflikts, zusammengerufen

wurden, ging selbstverstándlich jeder, der es irgendwie einrichten konnte, und er saß dann in aller Regel den ganzen Tag auf der Pnyx. Einmal im Leben waren die meisten Athener Ratsherr und ebenso mindestens einmal Beamter; diese

Tátigkeiten verlangten in dem jeweiligen Jahr einen fast ununterbrochenen Ein-

satz. Sicher mehrmals im Jahr saß der Durchschnittsathener den ganzen Tag als Richter in einem der zahlreichen Geschworenenhófe. Dazu kam der Besuch der großen Feste, von denen allein die Panathenäen und Dionysien mehrere Tage

dauerten. Am stárksten beanspruchten den Bürger indessen die Feldzüge. Die Zeit, in denen Krieg war, überwog im 5. und 4. Jahrhundert die reinen Friedens-

jahre bei weitem, und selbst in Friedenszeiten liefen regelmäßig Flotten zu Übungszwecken aus. Der Ruderdienst auf der Flotte brachte über die aktiven

Kämpfer hinaus unverhältnismäßig viele Bürger auf den Kriegsschauplatz. Das Volk (démos) wird von den Athenern wie selbstverständlich mit den Ruderern

gleichgesetzt. Wie in der Schlacht von Marathon die Hoplitenphalanx, so steht in der Schlacht von Salamis das rudernde Volk dem Feind gegenüber. Wenn man sich vergegenwärtigt, wie viele Athener bei Operationen zu Lande und vor allem zur See in den Kampf zogen, und sich auch der hohen Verluste erinnert,

kann man am besten das Gewicht der militárischen Verpflichtungen und dessen Einfluf auf das Leben des einzelnen ermessen. Das Erlebnis eines Feldzuges aber erzeugte in ganz besonderem Mafte Gemeinschaftssinn und untermauerte

immer wieder die bestehende Wertewelt, schuf feste Feindbilder und politische Zielvorstellungen. Auch die Arbeitswelt des einzelnen war vom Militärdienst betroffen; hielten doch die Feldzüge den Bauern u.U. von der Feldbestellung,

368

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

den Handwerker von der Warenproduktion und den Kleinhändler vom Verkauf seiner Waren ab. Aber nicht nur die Politik und die Feldzüge, auch die rein persönlichen Belange zogen den Bürger in einem weit stärkeren Maße als heute in den

öffentlichen Raum. Denn da die engmaschige staatliche Bürokratie, insbesondere auch Organe staatlicher Verbrechensverfolgung und ein Juristenstand fehlten, war der Athener weitgehend auf Selbsthilfe angewiesen. Er mußte als

Ankläger selbst auftreten und hatte vor Gericht, mochte er nun Kläger oder Beklagter sein, keinen Rechtsbeistand; allenfalls hatte ihm ein berufsmäßiger Redenschreiber das Plädoyer angefertigt. Er mußte sich die Beweismittel selbst suchen, vor allem Zeugen finden, und er hatte auch oft selbst Zeuge zu sein, weil

jede offizielle Handlung und jedes Geschäft unter Zeugen abgeschlossen wurde. War ein Bürger aus einem Rechtsstreit als Sieger hervorgegangen, hatte er in aller Regel für die Eintreibung seiner Forderungen selbst zu sorgen, was oft viel Zeit kostete und Verdruß bereitete. War der im Prozeß Unterlegene widerspenstig oder wehrte sich derjenige, den jemand vor Gericht forderte, gab es zwar Amtshilfe und Verfahren, die dem Bürger zu seinem Recht verhalfen. Aber im Prinzip tat „der Staat" nichts, was der Bürger nicht selbst tun konnte; denn „der

Staat" waren die Bürger, nicht wie heute eine mit besonderer juristischer Persönlichkeit und Verfügungsgewalt ausgerüstete Körperschaft. Die Beamten, die bei Gelegenheit den Bürger unterstützten, waren auch nur Bürger, deren Funktion einzig darin bestand, den Gesetzen Beistand zu leisten; sie waren keine Diener einer abstrakten Macht, die über allen thronte. So war der Bürger für die

Lösung der sich ihm täglich stellenden Aufgaben und Probleme weit mehr als heute auf sich selbst gestellt, auf seine Kraft zu persönlicher Initiative, seine Klugheit bei der Durchsetzung von Ansprüchen und seine Findigkeit in der Schaffung und Ausnutzung persönlicher Verbindungen. Und gerade dies letztere, das für die Lebensbewältigung unabdingbare Netz persönlicher Beziehun-

gen, das ihm nur zu einem Teil durch seine Familie und Jugendfreunde zugewachsen war, zum anderen Teil von ihm selbst durch den Einsatz der eigenen

Person erst geschaffen und ständig ausgebaut werden mußte, brachte den einzelnen Bürger unaufhörlich in Kontakt mit anderen, bis dahin unbekannten Bürgern und zog ihn in den Bereich des öffentlichen Lebens hinein.

Das gleiche Lebensschicksal und der ununterbrochene Kontakt der Bürger untereinander schufen ein ganz spezifisch athenisches Selbstverständnis, in dem die Geschichte der Stadt eng mit der politischen Verfassung verwoben war. Auch die Athener wußten, daß die Demokratie nicht uralt war; zur Zeit eines

Miltiades und Aristides (und das heißt z. Zt. der Perserkriege), sagt Aristophanes in den „Rittern“ (1321ff.), war der Demos jung. Aber die ältere Geschichte

erhielt doch von dem demokratischen Athen her ihre Interpretation und Akzen-

tuierung. Solon erschien so als derjenige, der für die Demokratie die Grundlage geschaffen hatte, und der sagenhafte Kónig Theseus galt nicht nur als der Befreier von großen Ungeheuern und äußerer Unterdrückung, sondern konnte

später sogar als Stifter der Demokratie auftreten, wodurch deren Geschichte bzw. Vorgeschichte in den Mythos einbezogen wurde. Die Demokratie galt

ΧΙ. Die innere Einstellung zur Demokratie

369

dabei als vorbehaltlos positive Ordnung, deren Hauptgegner die Tyrannis war, die schlechteste aller politischen Ordnungen; die Tyrannis und später auch die Oligarchie bedeuteten den Athenern die Negation von Freiheit, nämlich Sklaverei. Die Demokratie als Freiheitsbringer ist auch die Rechtfertigung für den athenischen Herrschaftsanspruch. Die Macht Athens ist in den Augen aller Athener ein politischer Wert, den es unter größten Opfern zu verteidigen gilt. Dieser ganz naive, völlıg ungebrochene Glaube an den Wert der Macht hatte

viele Wurzeln, unter denen das demokratische Sendungsbewußtsein noch nicht einmal die stärkste war. Die rein zahlenmäßige Überlegenheit der Stadt, die Leistungen ın den Perserkriegen, der materielle Nutzen und vor allem das von

den meisten Griechen geteilte und gerade von den schwächeren Städten, die nicht auf sich gestellt leben konnten, anerkannte hegemoniale Denken sicherten die athenische Machtpolitik bei der Masse ab. Aber wie immer der Machtanspruch auch begründet war - und ın aller Regel legte der Athener vor sich keine Rechenschaft darüber ab -, der Stolz auf die Macht der Stadt und das Gefühl der

Verpflichtung ihr gegenüber waren vorhanden und unlöslich mit der Demokra-

tie und deren Verteidigung verbunden: Die große Flotte Athens war nur dadurch möglich geworden, daß die Masse der ärmeren Bürger sich auf die Ruderbänke gesetzt hatte, und mit dieser als Soldatendienst empfundenen Tätigkeit waren die großen Siege erfochten und die Macht der Stadt begründet worden.

Flotte, Demokratie und Herrschaft über eine große Anzahl untertäniger Griechenstädte schienen nur die verschiedenen Aspekte ein und derselben Sache zu sein. Wer die Flotte und mit ihr die Herrschaft verleugnete, verleugnete die Demokratie. In der Mentalität des Atheners erscheint die Werthaftigkeit von Demokratie

und Herrschaft fest verankert und in ein historisches Weltbild eingeordnet. Die Demokratie liefert darüber hinaus die Maximen des Handelns und Denkens für alle möglichen Lebenslagen und bringt eine Terminologie hervor, durch welche

die jeweils erstrebenswerte Haltung formelhaft ansprechbar wird. Der Demokrat ist der gute, nützliche und anständige Mann (agathös, chrestös, kósmios); die entsprechenden Termini werden mit dem Wort „Demokrat“ (demotikös) durch-

aus synonym verwendet, und da sie aus aristokratischer Zeit stammen, in der sich die Adligen mit ihnen geschmückt hatten, sehen sich die Athener gleichzei-

tig als die direkten Erben dieser Zeit. Was dem Demokraten geziemt und was nicht, tritt uns aus vielen Zeugnissen entgegen, so aus der politischen Komódie und aus der Tragódie, insbesondere aber aus den Gerichtsreden, in denen die

Parteien zur Stützung ihrer Tatsachenbehauptungen vor den Richtern die demokratische bzw. antidemokratische Gesinnung der Streitenden zu belegen su-

chen. Bei Klagen, die zur Überprüfung der Qualifikation von Beamten (Doki-

masie, vgl. o. S. 273ff.) angestrengt werden, vermochten Ausführungen über die Gesinnung des Kandidaten dessen Position nicht nur zu stützen, sondern bildeten in der Regel ein Kernstück der Beweisführung selbst; denn die Dokimasie ist eine Prüfung der politischen Qualifikation. So lesen sich denn Dokimasie-Klagen, aber auch breite Passagen von Gerichtsreden zu den verschiedensten Prozeltgegenstánden wie ein Regelbuch demokratischen Verhaltens. Das größte Gewicht hat hier naturgemäR das Verhalten des Bürgers als Soldat; denn ein

370

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Drückeberger oder Feigling schadet allen unmittelbar. Der ordentliche Bürger hat hingegen alle Feldzüge mitgemacht, zu denen er aufgerufen wurde; er bleibt in der Schlachtordnung stehen, wo ıhn der Befehlshaber hingestellt hat, und

drückt sich nicht, in das erste Glied eingereiht zu werden, ja er bewirbt sich womöglich darum. Zum Bürger ın der Demokratie gehört, daß jeder an den Gefahren gleichen Anteil hat, und dies nicht nur im Krieg, sondern auch bei

inneren Unruhen. Gegen Philon wird ın einer Dokimasie-Klage - Philon war

zum Ratsherrn erlost, dagegen aber Einspruch erhoben worden - vorgebracht, daß er nach seiner Vertreibung aus Athen durch die „Dreißig“ sich nicht den Demokraten im Piräus angeschlossen, sondern sich ın unverständlicher Gleichgültigkeit ins Ausland abgesetzt hätte; ihm wäre sein Geld wichtiger gewesen als

das Schicksal der Stadt. Ein solcher Mann eigne sich wohl kaum, will der Kläger sagen,

für einen

Sitz im

Rate der Stadt. Es geht jedoch

nicht nur um

die

politische Loyalität, sondern auch um die Aktivität des Bürgers. Zwar ist gewöhnlicherweise niemand zum Einsatz seiner Person im politischen Raum gezwungen; aber es gibt eben Situationen, wie jene im Jahre 403, die das persónliche Engagement doch zu einer moralischen Pflicht machen. Setzt sich jemand dabei über das geforderte Maß für die Stadt ein, gilt dies als beachtetes Verdienst.

Als Zeichen besonderer Tugend kann schon gewertet werden, wenn ein Bürger in der Volksversammlung aktiv wird, also an der Diskussion teilnimmt oder Vorschläge macht. Ehrgeiz (philotimia) dieser Art wird geachtet, wie denn über-

haupt die Tuchfühlung mit der Menge positiv gewertet wird. Den größten Respekt verschaffen sich jedoch diejenigen, die sich über das Geforderte hinaus materiell für die Stadt einsetzen, etwa auf eigene Kosten Getreide heranschaffen

und es dem Volk spenden, freiwillig Leiturgien auf sich nehmen oder die pflichtgemäßß übernommenen besonders sorgfältig oder aufwendig durchfüh-

ren. Aber nicht nur das Denken und Handeln im öffentlichen Bereich ist durch

die Demokratie geprägt. In den Gerichtsreden wird oft das ganze Leben des Bürgers durchleuchtet und seine Lebensweise nicht allein vor dem Hintergrund allgemein-menschlicher Normen und gesetzlicher Vorschriften, sondern auch

einer erwünschten demokratischen Lebensform durchgemustert. Da wird dann etwa gefragt, ob jemand seine Pflichten gegenüber Eltern, Geschwistern und Kindern erfüllt habe. Wenn der bereits genannte Philon sich so wenig um seine alte Mutter gekümmert hat, daß diese ıhre Grablegung einem anderen anvertraute, muß dies auf die Richter den denkbar schlechtesten Eindruck gemacht haben. Der gute Bürger fällt weiterhin nicht durch eine extravagante Kleidung auf und trägt keine langen Haare, mit denen sich die adligen Gecken gern schmücken: Er ist Gleicher unter Gleichen. Er befleiRigt sich ferner einer gemäRigten Lebensführung; er trinkt nicht, spielt nicht und benimmt sich auch sonstwie nıcht zügellos. Es kann sogar als „anständig“ gelten, wenn von jeman-

dem gesagt werden kann, daß er nicht vor Gericht geht und auch nicht von anderen vor Gericht gezogen wird (Lys.

16,10.12), er also kein zänkischer,

sondern ein friedliebender Mensch ist. Diese der demokratischen Idee im übrigen durchaus inadäquate Forderung ist nur aus dem Wunsch geboren, den Demokraten als einen unauffälligen, unter seinesgleichen lebenden und zufrie-

XI. Die innere Einstellung zur Demokratie

371

denen Bürger zu sehen. Es zielt in die gleiche Richtung, wenn das Streben nach

Neuerungen und Veränderungen als ein undemokratisches Verhalten angesehen wird. Die demokratische Lebensphilosophie ist, wie man sieht, nach moderner Terminologie ausgesprochen kleinbürgerlich, und das kann in einer Gesellschaft, welche die politische Gleichheit auf ihre Fahne geschrieben hat, auch

nicht anders sein. Der hier verwendete Gleichheitsbegriff geht indessen über die demokratische Idee hinaus; denn er ist ja nicht allein auf die Gleichheit des politischen Rechts bezogen, sondern es wird in ihm eine soziale Gleichheit

mitgedacht, in der alle Bürger auch im privaten Leben gleich nebeneinanderstehen. Zwar wird dies gedanklich nicht weiter ausgeführt, und das ist ja auch ohne einen gänzlichen Umsturz der politischen Ausgangssituation, auf der ın Athen die Demokratie ruhte, gar nicht möglich. Das Bild von dem friedliebenden, in Kleidung und Benehmen gleichen Bürger bleibt unbestimmt und verschwommen. Aber immerhin wird in diesem Idealbild des Demokraten die gesamte

Bevölkerung wie eine einheitliche Gruppe eingefangen: Der Reiche, Vornehme und Gebildete reiht sich darin in die namenlose Menge ein. Die Realität sieht

anders aus; aber die rhetorische Topik erlaubt, dem Typus des Demokraten etwas zu unterstellen, was der Lebenswirklichkeit nicht entspricht.

2. Die innere Opposition gegen die Demokratie Bei der Frage nach der inneren Opposition gegen die Demokratie haben wir uns

zunächst zu überlegen, was wir unter dem Begriff „Opposition“ verstehen wollen. Da in Athen, anders als heute, Kritik und Widerstand gegen die herrschende Ordnung nicht an politische oder ständische Gruppen gebunden war (o. S. 337f.) und also jeder institutionelle Rahmen

für sie fehlte, ist es nicht

einfach zu sagen, wer nun jeweils zur Opposition gehórte. Kritische AuRerungen wurden bei gegebenem Anlaß lediglich von einzelnen vorgetragen, und es

ist kaum zu sagen, wer und wie viele ihnen jeweils zustimmten. Es ist aber nicht nur schwer, den Kreis der Personen zu erfassen, der einer Opposition gegen die

geltende Ordnung zuzurechnen ist, sondern es ist nicht minder schwierig zu bestimmen, welcher Art und wie stark die Dissonanz sein muß, daß wir berech-

tigt sind, von Opposition zu sprechen. Kritik an wesentlichen Einrichtungen

und Ideen der Demokratie ist oft unentwirrbar verwoben in den Kampf gegen eine aktuelle Politik bzw. gegen bestimmte Politiker, die diese Politik vertreten.

Wann richtete sich der Widerstand gegen die aktuelle Aktion und die bestimmte Person, und wann ist das aktuelle Ereignis bzw. die Person lediglich der Anlaß für eine grundsätzliche Kritik? In der modernen Forschung zur athenischen Demokratie wird oft kein Unterschied gemacht zwischen der Kritik an einer Person bzw. der von ihr vertretenen Politik und der am System. Indessen ist alle Kritik, die im Gerangel um Einfluß und im Kampf um die jeweils richtige

Entscheidung vorgebracht wird, zunächst einmal ein Stück des demokratischen Alltags und hat mit Opposition durchaus nichts zu tun. Bisweilen mag sich zwar dahinter ein grundsätzlicherer Standpunkt verbergen; doch erst dann, wenn dieser sichtbar wird, können wir ıhn für die Darstellung eines inneren

372

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Widerstandes verwenden. Aber selbst ein direkter Angriff auf eine wesentliche

Idee oder Institution muß nicht schon stets eine demokratiefeindliche Gesinnung verraten. Ein abwertendes Urteil will unter Umständen lediglich einen Mißbrauch, z. B. die allzu großherzige Ausdehnung des Diätensystems oder die Pervertierung der Popularklage durch die Sykophantie, brandmarken, will nicht die Demokratie angreifen, sondern sie umgekehrt gerade schützen. Ein solches Urteil kann aber selbstverständlich auch das Anzeichen einer grundsätzlichen

Ablehnung der Demokratie sein. Diese begegnet uns nicht nur in verdeckter Form, sondern sie wird auch offen ausgesprochen. Als „Opposition“ gegen die Demokratie kann nur diese (verdeckte oder offene) Zurückweisung der ganzen

politischen Ordnung oder doch großer Teile von ihr gelten, und auch nur für sie dürfen wir Begriffe wie „Widerstand“ und ,,Feindschaft" verwenden. In den

folgenden Überlegungen sollen jedoch nicht nur die Vertreter dieser Gruppe zu Worte kommen, sondern es wird auch diejenige Kritik berücksichtigt werden,

die auf dem Boden der demokratischen Verfassung bleibt. Das ist schon deswegen erforderlich, weil der Übergang von der systemimmanenten zur grundsätzlichen Kritik fließend und wegen des Fehlens jeglicher Gruppenbildung unter den Kritikern überhaupt schwer zu bestimmen ist, und zudem sind die Argumente beider Ebenen der Kritik vielfach gleich. Wenn Aristophanes den Richtersold karikiert, wissen wir, daß er das trotz der Schärfe seiner Angriffe als

Demokrat tut; der Autor der ps.-xenophontischen Schrift vom Staat der Athener versteht seine Einwände gegen dieses Phänomen hingegen trotz konzilianter Formulierung grundsätzlich: Er ist nicht Demokrat, sondern Oligarch. Man hat bei einer Frage wie dieser weiter zu bedenken, daß unsere Quellen kein repräsentatives Bild der óffentlichen Meinung wiedergeben: Die Feinde der Demokratie überwiegen bei den auf uns gekommenen Autoren bei weitem, und diejenigen, die einen demokratischen Standpunkt vertreten, sind nicht schon allein darum Demokraten; denn die meisten von ihnen machen ihre Aussagen

im Theater oder vor Gericht, das heißt vor der versammelten Menge der Athener, und kónnen folglich nicht mit derselben Ungezwungenheit formulieren wie Philosophen oder Historiker, die bei ihren Gedanken nicht von einem Publikum abhängig sind, jedenfalls nicht von einem, das anwesend ist. Man

kann zunächst ohne Einschränkung sagen, daß die Historiker und sämtliche nachsokratischen Philosophen nicht nur keine Freunde, sondern Gegner der

Demokratie waren. Thukydides war Anhänger einer gemäßigten Oligarchie (oder gemäßigten Demokratie, wie man will); wenn der Preis auf die Demokra-

tie im Epitaphios des Perikles seine eigene politische Auffassung wiedergibt, hat er sie später geändert. Xenophon war ein enthusiastischer Anhänger Spartas und hatte zu seiner Vaterstadt große Distanz. Isokrates hat wie so viele Intellektuelle seiner Zeit einer „gemäßigten“ Demokratie das Wort geredet; aber in dem Begriff „gemäßigt“ steckt die Ablehnung gerade der demokratischen Grundidee, der Gleichheit. So bleiben die Tragiker, die politische Komödie, allen voran Arıstophanes, und die forensische Rhetorik. Die Redner standen - abgesehen von Ánuphon - auf dem Boden der Demokratie, auch wenn sie gelegentlich, wie Lysias, eine Verteidigungsrede für einen Oligarchen schrieben. Man mag einwenden, daß vor den Geschworenengerichten, also vor der Hochburg demo-

XI. Die innere Einstellung zur Demokratie

373

kratischen Geistes, schlecht anders als demokratisch argumentiert werden konnte. Doch ist solches Mißtrauen gegen die Gesinnung der Redner gewiß übertrieben, und von einigen wissen wir sicher, daß sie glühende Anhänger der Demokratie waren (Demosthenes, Lykurgos, Hypereides). Auch Aristophanes war trotz seiner konservativen Grundhaltung ein Demokrat, und dies gewiß nicht aus Opportunismus. Für die Tragiker, insbesondere für Sophokles, gilt dasselbe. Die Bilanz ist im ganzen für die Demokratie ungünstig. Insbesondere

die Philosophen, aber auch Thukydides haben mit ihrem Urteil auf die Römer und weiterhin auf das Abendland gewirkt. Es macht darum heute auch nicht viel Arbeit, ein Buch oder einen Aufsatz über die Kritik an der Demokratie zu

schreiben; das Material ist gut greifbar und - zumindest der Masse, wenn auch gewiß nicht der Vielfalt der Argumente nach - überreichlich vorhanden. Das Lob der Demokratie hingegen hat im Athen des 5. und 4. Jahrhunderts gewiß

nicht weniger zahlreiche Autoren gefunden, aber eben nur wenige, die der Überlieferung auf die Nachwelt für wert befunden wurden. Die geistige Elite stand, anders als heute, überwiegend abseits. Wenden wir uns nun den Einwánden gegen die Demokratie

im ein-

zelnen zu. Der häufigste und zugleich schwerwiegendste Vorwurf richtet sich gegen die politische Gleichberechtigung aller Athener, also gegen die Grundidee der Demokratie. Er äußert sich auf verschiedene Weise. Von den Philoso-

phen, aber auch von dem anonymen Autor der Schrift vom Staat der Athener wird gesagt, daß der demokratische Gleichheitsbegriff eine rein abstrakte

Größe sei, die es nur auf die Zahl abgestellt habe, der hingegen jeder inhaltliche Bezug (Leistung, Ansehen, Herkunft, Reichtum) fehle; die Gleichheit werde

also Ungleichen gegeben, und dies sei ungerecht. Von den verschiedenen Faktoren der Ungleichheit wiegt nach Meinung der Kritiker der Mangel an Bildung und Sachverstand bei der Masse am schwersten. Die Philosophen erórtern und begründen die Notwendigkeit des Sachverstandes für das politische Geschäft eingehend von den Prámissen ihres Denkens her und führen damit die demokra-

tische Gleichheit gleichsam durch die Theorie ad absurdum. Im politischen Alltagsleben wird hingegen die Sachdiskussion leicht durch gehässige Tiraden über die Unwissenheit, Unbildung und Disziplinlosigkeit der Masse ersetzt, und natürlich ist solche Abneigung nicht von einem philosophischen Gedankengebäude eingegeben, sondern aus dem Dünkel der guten Herkunft und des Reich-

tums geboren. Die weder durch Sachverstand und Bildung noch durch Herkunft, Vermögen oder persönliche Leistung gesteuerte und gebändigte Menge besitzt nach Meinung solcher Kritiker keinerlei Grundlage für ein der Sache

angemessenes Urteil. Ihre Zügellosigkeit und Willkür folge der jeweiligen Eingebung und könne darum

nur schlechte, unüberlegte und ungerechte Be-

schlüsse und Gerichtsurteile hervorbringen. Am Ende breche sich der materielle Egoismus Bahn, und das Volk bereichere sich durch die Konfiskation der Güter

von reichen Bürgern und Metöken sowie durch die Einrichtung und den allmäh-

lichen Ausbau eines Systems von Tagegeldern für die politische Tätigkeit. Besonders der Vorwurf der Bereicherung ist immer wieder erhoben worden und

durchzieht die gesamte klassische Zeit. Kaum weniger hart ist der Vorwurf, daß sich das Volk infolge des Fehlens

374

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

jeglicher ethischer Bindung über die Gesetze stelle; in der Demokratie herrsche nicht der nómos, sondern die Laune der Menge. Diese Behauptung wird vor allem an dem Mifbbrauch des Rechts durch die Geschworenengerichte nachgewiesen, und es war in der Tat auch gewi nicht schwer, hier hinreichend Bei-

spiele zusammenzustellen. Der nómos wird nach den Kritikern aber nicht nur durch die Willkürjustiz der Gerichte, sondern auch durch die Beschlüsse der

Volksversammlung aufgelóst; denn in Athen kónne das Volk durch einfachen Beschluß jeden nómos zeitweilig oder für immer außer Kraft setzen, und folglich werde hier nicht mittels der Gesetze, sondern der Volksbeschlüsse regiert. Die

mangelnde Bindung an die tradierten Gesetze aber mache alles Leben, das private wie das öffentliche, unberechenbar. Bei solcher Prämisse führt kein weiter Weg dahin, die Demokratie als die Herrschaft des Chaos und als Tyrannis hinzustellen, in der sich die religióse und soziale Ordnung auflôse: Jeder, nicht nur der Bürger, sondern auch der Metóke und Sklave, lebe in der Demokratie,

wie es ihm gerade passe, heißt es. Von der äußeren Erscheinung, etwa der Kleidung, von der Berufsausübung und dem Benehmen her gäbe es zwischen Bürgern, Metóken und Sklaven kaum noch Unterschiede, meint vorwurfsvoll der Autor der ps.-xenophontischen Schrift vom Staat der Athener, und sogar die freie Meinungsäußerung (iségoría) nähmen die letzteren für sich genauso in Anspruch wie die freien Bürger (1,10-12). Als positives Gegenbild steigt vor den Kritikern wie von selbst die stabile, auf jahrhundertealten Gesetzen ruhende

politische Ordnung Spartas auf, in der jeder innerhalb der sozialen Rangordnung seinen unverrückbaren Platz habe und alles Handeln auf unveränderliche Gesetze gegründet sei. Obwohl die spartanische Verfassung ihrer Struktur nach keine Aristokratie oder Oligarchie, sondern nach dem Selbstverständnis der

Spartaner eine Herrschaft der Gleichen darstellt, erhált sie durch ihren starren Bezug auf die Tradition, aber natürlich auch durch die soldatische der Spartiaten und die Herrschaft über eine zahlenmäßig vielfach zahl von Abhängigen den Charakter einer Oligarchie. So wurde Gegenpol der Demokratie, und die Schópfer dieses Gegenbildes

Lebensweise stärkere AnSparta zum waren nicht

etwa die Spartaner, sondern die Kritiker der Demokratie inner- und außerhalb Athens, und erst von ihnen haben die Spartaner dieses Bild übernommen und im Kampf gegen Athen politisch ausgenutzt. Über das Grundsätzliche hinaus werden auch einzelne Institutionen und Organisationsformen angegriffen. Wird an der Volksversammlung nicht die

Institution als solche, sondern lediglich die Entscheidungspraxis kritisiert, geht man bei den Geschworenengerichten weiter. Denn fordert auch niemand, soweit ich sehe, geradeheraus die Beseitigung dieser Gerichte, wird doch von manchen Kritikern die gesamte Gerichtspraxis so radıkal verurteilt, daß es letztlich darauf hinausläuft. Wenn Aristoteles z. B. sagt, daß mit der Einführung der Geschworenengerichte, die er Solon zuweist, das Volk Herr über die Stadt (politeía) geworden sei (AP 9,1), ist angesichts seiner grundsätzlichen Kritik an

der Demokratie, die nach ihm Perikles in eine radikale Form gebracht hat, die vóllige Ablehnung der Geschworenengerichte darin eingeschlossen. Auch die Losung wird kritisiert. Sie wurde nicht a limine abgelehnt, auch die Oligarchie

kannte ja die Losung; man nahm lediglich an dem Ausmaß ihrer Anwendung

XI. Die innere Einstellung zur Demokratie

375

Anstoß. Aber wenn man sich über den Sinn der Losung Gedanken machte und dabei bedachte, daß durch sie der Sachverstand ausgeschaltet und der Zufall

zum Auswahlprinzip von Richtern und Beamten erhoben wurde (Xenoph. Mem. 1,2,9), erkannte man in ihr doch eine typisch demokratische Einrichtung

und hat sıe dann auch als ganze zurückgewiesen. Es ist bezeichnend, daß nach dem oligarchischen Putsch von 411 - neben der Beseitigung aller Diäten - in der künftigen Verfassung für eine Anzahl von Beamten die Wahl (aus Vorgewählten) vorgesehen war (Arıst. AP 30,2). Die Polemik gegen die Demagogen, an der sich alle hier als Kritiker genannten Autoren beteiligten, ist hingegen nicht immer als

Kritik an der Demokratie, sondern oft und so auch in den „Rittern“ des Aristophanes, in denen der vielen verhaßte Kleon im Mittelpunkt steht, als Kritik an

der Person des einzelnen Demagogen zu verstehen. Bei den Philosophen ist die Abneigung grundsätzlicher. Sie halten die Demagogie für das Symptom einer Zügellosigkeit, die der „radikalen“ Demokratie immanent sei. Von den drei großen Institutionen der Demokratie blieb nur der Rat von grundsätzlicher Kritik verschont. Nach dem Putsch von 411 haben die Oligar-

chen ihn allerdings ebenfalls reformıert, und es hatten alle Gegner der Demokratie in der Tat auch ein ganz anderes Bild von dem, was er darstellen sollte. Für

sie war der Areopag der solonisch-kleisthenischen Zeit das Ideal eines Rates, der als eine Versammlung der ehemaligen höchsten Beamten Kontinuität und Tradition verkörpert und auch die Kontrolle der Beamten in Händen gehabt

hatte. Er war als Hüter der Verfassung betrachtet und durch den Mythos mit dem Schimmer göttlicher Heiligkeit umgeben worden. Nach dem Zusammenbruch von 404, unter der Herrschaft der „Dreißig“, erhielt die politische Wie-

derbelebung des Areopags, der seit Ephialtes nur noch ein Schattendasein geführt hatte, zum ersten Male Realität. Die Gesetze des Ephialtes wurden aufge-

hoben und der Areopag in seine alte Rolle als Kontrollorgan eingesetzt. Die neue politische Ordnung, in der dem Areopag eine zentrale Rolle zukommen sollte, nannte sich „die väterliche Verfassung" (pátrios politeía), und in ihr wurde

nicht nur von den „Dreißig“ und ihrem oligarchischen Anhang, sondern auch von den Spartanern die künftige Verfassung Athens gesehen. Die Herrschaft der „Dreißig“ blieb eine Episode, doch war damit nicht die Idee der „väterlichen

Verfassung" erledigt. Es sollte sich zeigen, daf$ sie sich über die radikaloligarchischen Kreise hinaus bei vielen Wohlhabenden und vor allem auch bei

den Intellektuellen großer Sympathie erfreute. Die im 4. Jahrhundert wachsenden außenpolitischen Schwierigkeiten, die großen Finanzprobleme der Stadt

und - damit zusammenhängend - ein zeitweise schwindendes politisches Interesse bei der großen Menge verstärkten das Gewicht der Reichen, und die müde gewordenen Demokraten ließen zeitweilig die Zügel schleifen. Isokrates konnte es in den fünfziger Jahren wagen, in seinem „Areopagitikos“ und in seiner Rede „über den Frieden“ den Areopag als Mittelpunkt einer an der solonisch-

kleisthenischen Vergangenheit orientierten Verfassung zu preisen und so der Idee einen programmatischen Rahmen zu geben. Wenn er im ,,Areopagitikos“ behauptete, daß er sich damit nicht von der Demokratie distanziere, war das

reine Augenwischerei, denn mit Demokratie hatte diese Verfassung nichts mehr zu tun. Die politischen Rechte erhält hier jeder nach seinem moralischen Wert,

376

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

der a priori bei den Besitzenden vermutet wird: Die Amtsinhaber sind die Besitzenden, über die der Demos zwar die Kontrolle haben soll, doch steht der

Areopag als höchste Aufsichtsbehörde über allen Beamten und Bürgern. Sachlich ist das von dem, was Theramenes und seine Anhänger im Jahre 411 wollten, nicht zu unterscheiden. Mit Isokrates erhält die Begriffsspielerei zum ersten

Male innerhalb der politischen Argumentationstechnik eine wirkliche Funktion, und seitdem hat die Täuschung der Öffentlichkeit durch die Manipulation mit Begriffen nicht mehr aufgehört. Tatsächlich gewinnt die politische Idee einer Reaktivierung des Areopags in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts an Gewicht, so daß man sich 337/36 veranlaßt sah, in einem Gesetz gegen die

Tvrannis die Areopagiten ausdrücklich auf ihre demokratischen Pflichten hinzuweisen.

Ein Hauptpunkt der Kritik ist schließlich die Behandlung der untertánigen Städte im Seebund des 5. Jahrhunderts. Die Umwandlung des Bundes in ein Untertanengebiet, die Unterdrückung der inneren Autonomie der Städte, die finanzielle Ausplünderung vor allem ihrer reichen Bürger sowie die oftmals

brutale Behandlung abgefallener Städte ıst mit Nachdruck u.a. von Thukydides getadelt worden. Thukydides’ hartes Urteil über die athenische Außenpolitik nach dem Tod des Perikles geht darauf zurück, daß er die Volksversammlung für inkompetent ansah, eine angemessene Außenpolitik zu führen; es scheint, daß diese nach seinem Urteil an die Führungsqualität unabhängiger Personen ge-

bunden war. Einer Ablehnung jeglicher Herrschaftspolitik durch Athen hat er damit aber ebensowenig wie Arıstophanes das Wort reden wollen. Das hegemo-

niale Machtstreben war zu eng mit den politischen Zielen der großen Städte und auch zu sehr mit dem Schutzbedürfnis der meisten kleineren Städte verbunden,

als daß selbst ein kritischer wollen. Sogar der anonyme oligarchischen Neigungen schen Herrschaftspraxis in

Athener sich davon hätte distanzieren können oder Autor der Schrift vom Staat der Athener, der seine nicht verbirgt, sieht bei aller Kritik an der athenider Seeherrschaft der Stadt doch einen großen Wert,

den er augenscheinlich nicht missen möchte (bes. 1,19-2,13). Den Zusammen-

hang von äußerer Herrschaft und Demokratie haben wohl auch alle Kritiker klar gesehen, aber die Herrschaft darum nicht aus reiner Opposition gegen die Demokratie abgelehnt. Lediglich die negativen Auswüchse wurden getadelt und die Schuld dafür ziemlich einmütig der Demokratie angelastet. Kritische Stimmen hören wir im demokratischen Athen demnach häufig, und

unter ihnen auch feindselige, die ganz offen nach einer anderen politischen Ordnung riefen. Bei dem Mangel an ständischen oder politischen Gruppierungen, die der Opposition einen organisatorischen Rahmen hätten geben können, wird die Kritik stets von einzelnen Personen vertreten, seien sie nun Litera-

ten oder auch im politischen Leben aktive Männer. Die Wirkung besonders der letzteren beruhte auf ihrer persónlichen Autoritát, die nach schweren, von

demokratischen Politikern verschuldeten Niederlagen bei der Menge auch Unterstützung erhalten mochte. Thukydides, des Melesias Sohn, der in den vierziger Jahren wegen der Rückwirkungen auf die Bundesgenossen das Ausmaß des perikleischen Bauprogramms bekámpfte, sammelte wohl als erster eine Opposition um sich, die dem Umschwung Athens zu einer Demokratie ablehnend oder

ΧΙ. Die innere Einstellung zur Demokratie

377

zumindest zurückhaltend gegenüberstand und sich nach den Zeiten zurücksehnte, in der die Hopliten unter Führung adliger Familien den Ton in der Stadt angegeben hatten. Thukydides war indessen zwar ein Konservativer, doch dürfen wir ihn nicht als Oligarchen bezeichnen. Die Oligarchie war als eine politi-

sche Möglichkeit damals noch gar nicht bewußt. Wer der Demokratie feindlich oder distanziert gegenüberstand, dachte ın arıstokratischen Kategorien und redete einer politischen Ordnung das Wort, ın der die Arıstokraten und Wohlhabenden den ihnen in der Demokratie verloren gegangenen, weil nun ganz auf die Bürgerschaft (Stadt) ausgerichteten Raum des Politischen wieder für ihre eigenen, individuellen Zwecke einnehmen und als den ihnen eigenen politischen Spielraum nutzen wollten. Als Ideal stand so einem Kritiker der Demokratie z. Zt. des Perikles ohne Zweifel die politische Ordnung Athens in den Perser-

kriegen, also die Ordnung vor Augen, welche die Athener vor der Demokratie besessen hatten, und er mochte die Demokratie unter Menschen seiner Gesinnung wohl als „eine allgemein anerkannte Unvernunft (ánoia)" bezeichnen, wie es Thukydides (6,89,6) Alkibiades nach dessen Übertritt zu den Spartanern in

den Mund legt, der sich ın Sparta, gleichsam vor Personen seiner politischen Gesinnung, als Antidemokrat vorstellen mußte. Der Demokratie als „Unstaat“

wurde aber zunächst keine Alternative gegenübergestellt. Denn die Oligarchie als eine Alternative zur Demokratie setzt die Entstehung eines Verfassungsdenkens voraus, in dem mehrere Verfassungen als reale politische Möglichkeiten vorstellbar wurden: Ein solches Denken bildete sich aber erst in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts heraus, als nach der Oktroyierung der demokrati-

schen Verfassung in abgefallenen Seebundsstädten die entmachtete Oberschicht nach einem Begriff für diejenige politische Ordnung suchte, die man vor dem Oktroi gehabt hatte und zu der man wieder hinstrebte. In Athen hat sich eine

oligarchische Opposition, die auf den Sturz der Demokratie zielte, erst nach den schweren Niederlagen ım Peloponnesischen Krieg, nämlich nach der Katastro-

phe des athenischen Heeres auf Sizilien, gebildet. Damals traten Peisandros, Theramenes, Antiphon und Phrynichos als Häupter einer Opposition hervor, die zu dem Umsturz von 411 und der Einrichtung einer Oligarchie führte. Aber sogar bei diesem, wegen der äußerst schlechten militärischen Lage von vornherein erfolgversprechenden „Staatsstreich“ fanden die Gegner der Demokratie nicht zusammen; es gab Radikale und Gemäßigte unter ihnen, die sich teils

bitter bekämpften. Die Gemäßigten, die damals die Zahl der politisch berechtigten Bürger auf 5 000 begrenzen wollten („Verfassung der Fünftausend", Arist. AP 29,5), waren in der Überzahl, und ihre Anhänger reichten bis in die Reihen

derjenigen, die bei grundsätzlicher Anerkennung der Demokratie doch eine mafivolle Begrenzung der als „radikal“ empfundenen Ordnung nicht ausschlossen und zu denen wir auch Thukydides zu zählen haben. Sowohl im Jahre 411 als auch zu anderen Zeiten stützten sich die Oppositio-

nellen bei ihren Aktionen auf eine große Anhängerschaft von Verwandten, Freunden und Mitläufern, die unorganisiert blieb. Eine gewisse Rolle spielten

für den Erfolg dieses Putsches wie überhaupt für fast jede Opposition auch kleinere Klubs, die Hetärien (betasretai, „Kameradschaften“) und Synomosien (synómosíai, „Schwurgenossenschaften“). Ihre Mitgliederzahl war klein; meist

378

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

bestanden sie nur aus 5-20 Personen, und sie waren in aller Regel zu persönlichen Zwecken gegründete Vereinigungen. Der Hauptzweck lag im geselligen Beisammensein von oft gleichaltrigen jungen Männern, aber sie konnten darüber hinaus auch ganz konkrete Ziele, wie z. B. die Unterstützung von Amtsbewerbern und Prozessierenden, verfolgen. Die Hetärien waren aus adligen Vereinigungen hervorgegangen und hatten bereits in den Adelskämpfen des 6. Jahrhunderts eine Rolle gespielt. Auch ım 5. und 4. Jahrhundert scheint sich das Klubleben weitgehend auf die Wohlhabenderen beschränkt zu haben und insbesondere von der vornehmen Jugend bevorzugt worden zu sein, wie denn in manchen Hetärien die

Mitgliedschaft wohl an die Zugehörigkeit zu einer oder mehreren adlıgen Familien gebunden gewesen ist. Die Hetärien waren also sehr vielfältig, gewiß teils auch kurzlebig und von geringer organisatorischer Festigkeit. Sie waren mehr ein Rahmen für gesellige Lebensfreude und die Erledigung vorübergehender Aufgaben als Vereine in unserem Wortsinne. Bisweilen dienten sie der überschäumenden Kraft einer Gruppe meist vornehmer junger Männer als Ventil, wie der Klub „der vom bösen Geist Besessenen“ (kaleodaimonistaf) vom Anfang des 4. Jahrhunderts, dessen Mitglieder darauf Wert legten, daß sie die Götter und die Gesetze verachteten (Lys. fr. 53,2); diese offensichtlich von Sophisten beeinflußte kleine übermütige Gesellschaft tat sich etwas darauf zugute, als eine Art „Satansanhän-

ger“ zu gelten. Gerade die Unverbindlichkeit des Vereinigungszwecks machte

solche Klubs zu den gegebenen Stützen einer jeden Politik, die ihre Anhängerschaft kurzfristig aktivieren mußte, und sie dienten darum vielen Politikern, nicht nur der Opposition, zur Durchsetzung politischer Ziele. Die Unterstützung mochte für den Augenblick wirksam sein; einen festeren und dauerhaften Rah-

men vermochten die Klubs indessen auch einer Opposition nicht zu geben. Mit

der aktuellen Situation, durch die eine Opposition veranlaßt worden war, stand und fiel auch meist die Unterstützung durch Hetärien. Zu einem Umsturz hatte es eine innere Opposition nur im Jahre 411 gebracht. Er war allein auf Grund der verzweifelten außenpolitischen Lage möglich geworden, welche die Demokratie verschuldet zu haben schien, und dauerte nur

ein gutes Jahr. Es mag sein, daß die Anfänge der Opposition, die zu diesem Putsch führten, noch in die Jahre vor der Sizilischen Expedition zurückreichen, sie vielleicht in dem Scheitern der Friedenspolitik, das sich nach 420 immer

deutlicher abzeichnete, ihre Ursache hatte und in den Jahren vor 411 auch bereits festere organisatorische Formen annahm; es ist jedoch charakteristisch,

daß sie sich erst nach dem weitgehenden Zusammenbruch der athenischen Seeherrschaft im Jahre 412 hervorwagte. Die beiden anderen Umstürze, die Athen in der klassischen Zeit erlebt hatte, die der Jahre 404 und 322, erfolgten mit Hilfe des siegreichen Feindes, der dann auch die Stadt besetzte, und sie

kônnen darum nur bedingt als die Konsequenz eines inneren Widerstandes angesehen werden. Auch der von Thukydides (1,107,4.6) berichtete Putschver-

such des Jahres 457 rechnete mit äußerer, nämlich spartanischer Unterstützung. Der Erfolg der Opposition war demnach gering, dies ebensosehr eine Konsequenz der mangelnden Organisationsmôglichkeiten wie der Stärke der Demo-

kratie, die gerade in schwerer Zeit auf den Anhang nicht nur der Massen, sondern auch der ihr kritisch gegenüberstehenden Intelligenz rechnen konnte.

X1. Die innere Einstellung zur Demokratie

379

Zusammenfassend wird man sagen dürfen, daß es eine Opposition gegen

die Demokratie in Athen nur in einem begrenzten Maße gegeben hat. In den ersten Jahrzehnten nach dem Umbruch zur Demokratie scheint sie kaum Gewicht gehabt zu haben. Die außenpolitischen Erfolge und die Aufbruchsstimmung im Innern haben dazu ebenso beigetragen wie die mangelnde politische Alternative und das Fehlen eines institutionellen Rahmens für die Formierung eines Widerstandes. Als die Kritik sich einstellte, ging es doch meist nicht um

die Abschaffung der Demokratie, sondern um die Abstellung von Mißbrauch. Die eigentlichen Gegner der Demokratie blieben eine kleine Minderheit, aber sie waren nicht bedeutungslos; denn sıe hatten auf Grund ihres Reichtums, ihrer

Herkunft oder ihrer literarischen Erfolge Ansehen und Einfluß. Sie fanden jedoch keinen organisatorischen Rahmen, in dem sie sich dauerhaft etablieren konnten, und - das ıst ebenso bedeutsam - sie besaßen auch keinerlei Ansatz zu

einem politischen Programm, das man der kritisierten Verfassung hätte entgegenstellen können. Die Kritik erschöpfte sich bei ihnen in der radikalen Ablehnung des Vorhandenen, und als es ihnen im Jahre 411 gelang, die Macht zu

ergreifen, setzten sie diesen radikalen Widerspruch in die Tat um. Diese Unbeweglichkeit der Opposition ist indessen nicht als ein Versagen anzusehen; sie ist nur die Konsequenz der besonderen Bedingungen, unter der sie sich im demokratischen Athen zu entfalten vermochte. Der fehlende institutionelle Rahmen erlaubte nicht, den Widerspruch auf Dauer festzulegen, ihn durch Diskussion

mit den herrschenden Kräften zu korrigieren, durch Kompromisse seiner Realisierung jedenfalls teilweise näherzukommen und ihm auf diese Weise Wirksam-

keit und Respekt zu verschaffen. Es kommt hinzu, daß das Mißtrauen der Athener jede organisatorische (also nicht nur verbale) Verfestigung einer Opposition so gut wie unmöglich machte; das dichte Netz der Prozeßverfahren zur

Verfolgung politischer Delikte und die Popularklage mußten jeden Versuch zum Umsturz im Ansatz ersticken. Gegen diejenigen, die die „Auflösung der Volksherrschaft“ betrieben, hatte jeder Ratsherr, Richter und Beamte in seinem Amts-

eid geschworen, wachsam zu sein, und was alles mochte ein eifernder Demokrat unter diesem abstrakten Delikttatbestand subsumieren und einem geneigten Richtergremium plausibel machen! Ferner war auch die Anzahl von Personen gering, die sich zur selben Zeit zu einer grundsätzlichen Kritik bekannten. Die

Radikalität der Opposition ist darum nur die Kehrseite ihrer Unwirklichkeit. Es ist mithin sowohl von dem Ziel der Opposition als auch von den Möglichkeiten ihrer Verwirklichung her angemessener, statt von „Opposition“ besser von „Verschwörung“ zu sprechen. In einer Demokratie von der Gleichförmigkeit und zugleich Wachsamkeit wie der athenischen war die Existenz und Wirksamkeit einer echten Opposition letztendlich eine Frage des „Alles-oder-nichts“.

3. Sophistik und Rhetorik In der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts sehen wir in den griechischen Städten eine Gruppe von Denkern wirken, die Sophisten (etwa „Lehrer der Weisheit“)

genannt wurden. Der Begriff wurde später auch für Denker des 4. Jahrhun-

380

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

derts verwendet und ist im 2.nachchristlichen Jahrhundert für die Vertreter einer bestimmten geistigen Richtung erneut aufgegriffen worden. Die Sophisten der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. hingegen bildeten eine besondere Gruppe, und nur von ıhnen ist - mit einer Ausnahme - hier die Rede. Sie rührten mit ihrem Denken die geistige und gesellschaftliche Ordnung der Zeit auf und beunruhigten oder begeisterten mit ihren Ideen die Menschen, vor allem die Angehörigen der Oberschicht und unter ihnen wieder besonders die Jüngeren. Ihre Ansichten waren nicht immer völlig originell; manches von dem, was sie vortrugen, finden wir in Ansätzen bereits in der Literatur vor ihnen, wie denn

die allgemeinen Bedingungen für ihr Auftreten nicht erst in der Mitte des 5. Jahrhunderts geschaffen wurden, sondern weit bis in das vorige zurückreichen. In den Ideen der Sophisten schlugen sich die mannigfaltigen Veränderungen nieder, welche die griechische Welt seit dem 7. Jahrhundert und besonders im 6. Jahrhundert erfahren hatte. Die ungeheure Erweiterung des Gesichtsfeldes durch die große Kolonisationsbewegung, die den gesamten Mittelmeerraum erfaßt hatte, die damit verbundenen Veränderungen im Handels- und Verkehrswesen, ferner der Aufschwung der Wirtschaft und die Einführung des Geldes, vor allem aber die in all dem begründete tiefe soziale Krise, welche die festgefügte Adelswelt ins Wanken gebracht und den Bauern zu Selbstbewufitsein und zu einer neuen Stellung in der Gesellschaft verholfen hatte: All dies erschütterte zunehmend die Glaubwürdigkeit der alten Wertvorstellungen, stellte den Anspruch des Adels auf das Machtmonopol in Frage und ließ die Menschen nach

dem Wesen und der Beschaffenheit von Dingen und Zusammenhängen fragen, über die sie bis dahin keine Zweifel gehabt hatten. Die Sophistik war keine einheitliche Bewegung; die Sophisten verstanden sich auch selbst nicht als eine Gruppe. Sie vertraten keine festen Systeme und waren schon gar nicht auf bestimmte Themen festgelegt. Im Gegensatz zu den ihnen vorangegangenen Denkern, den sogenannten ionischen Naturphilosophen, deren Interesse auf die stoffliche Beschaffenheit der Welt, deren Entstehen und

Vergehen beschränkt gewesen war, gab es für die Sophisten kaum ein Gebiet, mit dem sich nicht irgendeiner von ihnen beschäftigt hätte. Sie waren ihrer geistigen Physiognomie nach überhaupt schwer einzuordnen. Sie mochten ebensosehr als Fortsetzer der alten Philosophie wie als Vertreter einer neuen Denkrichtung oder auch einfach als Schulmeister einer anspruchsvollen Bildung gelten. Anders als bei den Naturphilosophen gab es in der Sophistik auch kein geographisches Zentrum, das man als ihren Mittel- oder Ausgangspunkt hätte ansehen können. Die Sophisten kamen von der kleinasiatischen Westküste, von den Städten der Meerengen und denen der thrakischen Küste ebenso

wie von den Inseln der Ägäis, aus Mittelgriechenland, der Peloponnes oder Sizilien, und diese Stätten ihrer Herkunft bedeuteten ihnen nicht viel. Es gehörte nämlıch auch zu ıhren Besonderheiten, daß sie umherreisten und sich ıhre

Wirkungsstätten selbst suchten. Für viele wurde das lebendige und aufgeschlossene Athen eine Wahlheimat; aber weder hier noch anderswo wurden sie Häupter von Schulen, sondern blieben eine Art Wanderprediger, die überall dort

verharrten, wo sie ein aufgeschlossenes und zahlungsfähiges Publikum fanden. Denn auch dies war eine Eigentümlichkeit: Sie nahmen für ihre Lehrtätigkeit

XI. Die innere Einstellung zur Demokratie

381

Honorar, und mancher Sophist kam dabei zu Vermögen. Prodikos von Keos z.B. nahm

ın Athen für einen bestimmten

Kurs eine Drachme; von einem

zahlungskräftigen Publikum ließ er sich für denselben Kurs auf höherem Ni-

veau 50 Drachmen bezahlen, was Sokrates zu der bissigen Bemerkung veranlaßte, daß er leider nur den Kurs zu einer Drachme besucht und darum die Sache

nicht recht verstanden habe (Plat. Krat. 384b). Die Unterweisung erfolgte entwe-

der in Seminaren, in denen also eine Gruppe über eine kürzere, zusammenhängende Zeit hinweg unterrichtet wurde, oder durch öffentliche Vorträge. Die Sophisten waren überall, wo sie auftraten, angesehene und respektierte Leute. Manche konnten als Berühmtheiten gelten und hatten Kontakt zu den Honorauoren der Stadt; man kannte sie schon, bevor sie erschienen waren. Von vielen

aber wurden sie auch gemieden und gehaßt. Das hing mit dem Gegenstand ihrer Vortrige zusammen.

Sosehr sich die Sophisten in dem Gegenstand ihres Interesses unterschieden,

hatten sie doch einige Gemeinsamkeiten. Alle traten mit dem Anspruch auf, daß ihre Lehre die Menschen im praktischen Leben unterstützen und damit zur Lebensbewältigung befähigen sollte. Sie waren keine Revolutionäre, sondern

Ratgeber für das Leben, vivendi praeceptores atque dicendi, wie Cicero (de orat. 3,57) sie nennt. Das ,, Wohlberatensein" (eubowlia) war ein Schlagwort der Zeit.

Mit dieser ihrer Hinwendung zum Menschen hoben sie sich von den Naturphilosophen ab, für die die Weltordnung (kósmos), nicht der Mensch, im Mittel-

punkt gestanden hatte. Anders als diese verstanden sie sich darum auch als

Erzieher, und entsprechend nahm die rein formale Seite der Unterweisung, also die sprachliche Form und die Argumentationsweise, einen großen Raum ihres Tátigkeitsfeldes ein. Manche konzentrierten sich auch auf diesen Bereich und

galten deswegen den Alten und gelten uns heute als Lehrer der Rhetorik. So gab es keine klare Grenze zwischen Sophistik und Rhetorik; jeder Sophist war bis zu einem gewissen Grade mit Fragen der Gliederung und angemessenen Darstel-

lung des Stoffes befaßt. Sie beschäftigten sich mit so gut wie allen Wissensgebieten, so mit Gesellschaft und staatlicher Organisation, mit Mathematik, Astrono-

mie, Musik und Ethnographie, mit Logik, Geschichte und Erkenntnistheorie. Die meisten waren auf einem oder mehreren Gebieten besonders zu Hause,

andere, wie Hippias von Elis, der übrigens auch eine Liste der Sieger bei den Olympischen Spielen angefertigt und damit den Grundstock zu einer Chrono-

logie der griechischen Geschichte gelegt hat, fühlten sich für mehr oder weniger alles zustándig. Aber so sehr sich der eine auf jenes, ein anderer auf dieses konzentrieren mochte, ist es doch gerade die Universalitát der Interessen, die sie zusammenbindet, die jedem das ihm jeweils Genehme, manchen eben auch alles

behandeln läßt. Der Universalität des Denkens entspricht das Ziel der Sophisten, nämlıch die Anleitung zu einem erträglichen, möglichst guten und glücklichen Leben, wozu nach ihnen vor allem die Fáhigkeit gehórt, die wechselnden Umstände des Lebens abzuschätzen, seine jeweils eigenen Möglichkeiten in den Griff zu bekommen und sich so im Wechsel der Umstánde behaupten zu kónnen. Bei der Universalitát des Anspruchs, der auf die Aktivierung der menschlichen Fähigkeiten ganz allgemein zielt, besitzen die Sophisten keine spezielle Lehre (téchné) zur Bewältigung der jeweiligen Probleme, sondern haben ledig-

382

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

lich eine Summe von allgemeinen Lebensregeln parat, die einzeln oder gebündelt weiterhelfen sollen, wie z. B. den Rat, für eine Diskussion immer die beiden

Seiten einer Sache bereit zu haben, nie um eine Antwort verlegen zu sein oder stets überzeugend zu wirken. Die Überzeugungskraft, die Fähigkeit zur Rede und zur Darstellung sowie das enzyklopädische Wissen waren bei vielen aller-

dings nur ein leerer Anspruch, wie denn überhaupt das Niveau sehr unterschiedlich war. Gewinnstreben und der Zwang, einem wechselnden, auch sensa-

tionshungrigen Zuhörerkreis immer Rede und Antwort stehen zu müssen, ließen bisweilen die Lehre zur Routine verflachen, in der die Probleme durch

Phrasen und hohle Worte verdeckt wurden. Manche legten es auch darauf an, als Alles- und Besserwisser zu glänzen, und konnten eher als wortgewaltige Schausteller denn als ernsthafte Lehrer gelten. Wir hören in aller Regel nur etwas über

die bekannten und respektierten Männer; diejenigen, die vornehmlich oder sogar ausschließlich an Geld, Effekthascherei und Vortragstrubel interessiert waren, mögen

in der Mehrzahl gewesen sein. Aber die wenigen, die etwas zu

sagen hatten, wurden gehört und fanden in der ganzen griechischen Welt Widerhall, mochten ihre Ansichten auch noch so uneinheitlich sein, mochten sie

sich untereinander oder auch sich selbst widersprechen: Was sie zu sagen hatten, betraf das lebendige Leben, war kein Philosophem für die Beschaulichkeit von Mußestunden; es war unmittelbare Lebenshilfe. Und vor allem: Die Gegenstände trafen genau die Probleme der Zeit, spiegelten das längst Geahnte, aber

aus Furcht oder einfach aus Unfähigkeit zur angemessenen Formulierung bis dahin Unausgesprochene wider. Wer die Sophisten verstehenlernen will, steht vor mehreren fast unüberwindbaren Schwierigkeiten. Zum einen besitzen wir nur ganz wenige direkte Zeugnisse von ihnen. Die Masse des Materials müssen wir den Dialogen Platons

entnehmen, in denen die verschiedenen Thesen der Sophisten vorgeführt und widerlegt werden. Es ist dabei schwer, das sophistische Substrat von der Interpretation Platons scharf zu trennen, und sehr viele moderne Kontroversen beru-

hen auf den unterschiedlichen Auffassungen über die Ausnutzung des bei Platon vorliegenden Materials. Ein anderes Hindernis liegt in der durchweg negati-

ven Bewertung der Sophistik ganz allgemein. Dieses Urteil ist alt. Auch Platon, der von den metaphysischen Voraussetzungen seiner Lehre her die Sophisten ablehnen mußte, war nicht der erste, wenn auch der schärfste und nachhaltigste

Kritiker. Schon in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts spüren wir den Widerspruch. Aristophanes hat in seinen „Wolken“ (423 aufgeführt, ca. 418 umgearbeitet) die Sophistenkritik sogar zum Hauptthema einer Komödie erhoben (der hier karikierte Sokrates erscheint als Sophist) und in den Versen 331-334 eine

Reihe von abwertenden Spottnamen für die Vertreter dieser Zunft genannt, die ohne Zweifel den Zuhörern in Athen unmittelbar eingingen. Vor allem über die Platon-Rezeption hat die Kritik weiter bis in die jüngste Zeit gewirkt, und nur sehr allmählich haben sich andere Stimmen durchsetzen können, die dann

ihrerseits bisweilen das Pendel wieder zur anderen Seite ausschlagen ließen und

sich in dem Lob auf die Leistung der Sophisten überschlugen. Die unterschiedlichen Interpretationen werden durch die sehr schlechte Quellenlage begünstigt,

und der Raum für Spekulationen wird zusätzlich durch das facettenreiche,

XI. Die innere Einstellung zur Demokratie

383

widerspruchsvolle und unkonventionelle Denken der Sophisten erweitert, so daß sich für viele, teils sich einander ausschlieRende Thesen unschwer eine

Begründung finden läßt. Im folgenden sollen nun zunächst der bedeutendste Sophist, der gleichzeitig auch als der früheste oder doch einer der frühesten zu gelten hat, nämlich Protagoras, vorgestellt und anschließend die wichtigsten Thesen einiger anderer Sophisten behandelt werden. Protagoras stammte aus Abdera an der thrakischen Küste (im Mündungsgebiet des Nestos). Er kam auf seinen Reisen auch nach Athen, wo er sich längere

Zeit aufhielt und vor allem zu Perikles ein enges persönliches Verhältnis gewann. Nicht lange nach dessen Tod ist er gestorben; vielleicht kam er bei einem Schiffbruch ums Leben (ca. 425/420). Sein Hauptwerk trägt die Überschrift „Die Wahrheit oder die (sc. die irrtümlichen Ansichten seiner Gegner) nieder-

werfenden Reden“ und enthält bereits in seinem Titel Form und Ziel des Anliegens. Er eröffnete es mit den Worten: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, daß sie sind, der nichtseienden, daß sie nicht sind.“ Sie sind als

bomo-menswra-Satz in die Philosophiegeschichte eingegangen und in zahllosen Abhandlungen interpretiert, zum Teil auch deutlich überinterpretiert worden. Mit Sicherheit läßt sich sagen, daß damit keinem grenzenlosen Subjektivismus

das Wort geredet werden sollte, sondern der Satz in erster Linie als Widerspruch gegen die damals herrschende Lehre der eleatischen Schule des Parmenides gemeint war, welche die sinnlich wahrnehmbare als eine bloß scheinbare Welt ansah und sie von der hinter ihr stehenden, allein wirklich seienden und wahren

Welt grundsätzlich trennte. Mit seinem Widerspruch stellte Protagoras die Möglichkeit der Erkenntnis allein auf die sinnliche Wahrnehmung des Menschen, und zwar die des einzelnen Menschen, nicht des Menschen schlechthin

ab und hat in diesen Relativismus alle Zweifel seiner Zeit an dem festen Wertund Ordnungsgefüge der Welt hineingelegt. Man hat dabei jedoch zu bedenken,

daß der Satz von dem erkenntnistheoretischen Interesse des Protagoras her zu verstehen ist und in ihm durchaus nicht auch alle Konsequenzen, die er enthält, mitbedacht worden sind. Die ethischen und gesellschaftspolitischen Folgerun-

gen, die aus ihm etwa gezogen werden kónnten, dürfen wir ihm nicht einfach unterstellen, und tatsächlich hat Protagoras selbst seine Worte nicht als Aufruf zu einer radikalen Umkehr verstanden (s.u.).

Kaum weniger berühmt wurde die Lehre des Protagoras von den Góttern. Er hat sie in dem Satz verdichtet: „Über die Götter kann ich nichts wissen, weder daß sie sind noch daß sie nicht sind, noch wie ihre Gestalt ist. Denn vieles hindert, dies zu wissen: ihre Unsichtbarkeit, und daR das Leben des Menschen

kurz ist.“ Drückt der homo-mensura-Satz den Relativismus, so dieser den Agno-

stizismus des Protagoras aus; denn nicht die Existenz von Góttern, lediglich jede Möglichkeit der Erkenntnis über sie wird, weil allein auf die Wahrnehmung des Menschen bezogen, bestritten. Tatsächlich fungieren denn auch die Gótter in der Kulturentstehungslehre, die Protagoras entwirft, nur noch als eine rein formale Einkleidung eines im übrigen durch vernunftgemäßes Denken gewonnenen Entwicklungsschemas: Die Welt entwickelt sich von den tierhaften Anfangen des Menschen langsam über höhere Stufen, in denen der Mensch lernt,

384

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

bis hinauf zu einer gesellschaftlichen Ordnung, zu der sich die Menschen um ihrer eigenen Sicherheit willen zusammenschließen (Plat. Protag. 320c-322d). Die Menschheitsgeschichte erscheint hier rationalisiert und - besonders im Gegensatz zu Hesiod - als ein Aufstieg zu höheren Formen. Ist schon dieser Kulturoptimismus des Protagoras eine Warnung, in dem Relativismus des homomensura-Satzes einen anarchischen Subjektivismus zu sehen, ist das, was wir

über seine Gedanken zur politischen Ordnung erfahren, noch viel weniger dazu geeignet. Von den Voraussetzungen seines Denkens her vermochte Protagoras zwar dem Gesetz (nómos) keine absolute Gultigkeit zu geben; aber er erkannte doch die Verbindlichkeit dessen an, was in einer Stadt jeweils als gerecht angesehen wurde (Plat. Theait. 167c). Protagoras wollte mit seiner Lehre nicht die gesellschaftliche Ordnung aufheben; die radikalen Ansätze ließen ihn nicht vergessen, daß seine Aufgabe in praktischen Anleitungen zu einem guten Leben bestand. Der Bruch mit der Tradition ist in allen seinen Äußerungen spürbar; aber er dient einem besseren Leben, nicht der Auflösung aller Ordnung. Das bestätigen seine recht modern anmutenden Gedanken über den Sinn der Strafe. Er vertritt in ihnen nicht das Prinzip einer von den Göttern geforderten, also absolut gesetzten Vergeltung, sondern sieht den Sinn des Strafens darin, daß sowohl der Täter als auch alle übrigen Menschen, welche die Strafe vor Augen haben, künftig von dem gleichen Vergehen abgehalten werden (Spezial- bzw. Generalprävention; Plat. Protag. 324a-c). In seinen „Antilogien“, in denen das Für und Wider einer Sache erörtert wird,

tritt uns Protagoras als Lehrer der Argumentationstechnik und als Rhetor entgegen. Er soll in ıhnen als erster den Satz geprägt haben, daß man „die schwächere Sache zur stärkeren machen müsse“, was gewiß ebenfalls nicht als Konsequenz eines schrankenlosen Indifferentismus, sondern als die Forderung anzusehen ist, eine als gut oder besser erkannte Sache, wenn sie die schwächere sei, zur stärkeren zu machen. Das leitet zur Rhetorik über. Die Vermittlung der Rede durch das Wort spielt für alle Sophisten eine Rolle, und darum sind Sophisten und Rhetoren nicht streng voneinander zu trennen.

Die Form der Rede und die Beweisführung, beides unlöslich miteinander verknüpft, haben im Denken mancher Sophisten indessen größeres Gewicht. Gorgias von Leontinoi auf Sizilien - er lebte von ca. 480-380 und kam 427 als

Gesandter seiner Heimatstadt nach Athen - gehört zu denjenigen, die sich mehr als andere der Rhetorik zugewandt haben, und er wurde zu dem bedeutendsten Vertreter dieser damals noch in den Anfängen steckenden Kunstfertigkeit. Aber er war auch der Autor von Traktaten erkenntnistheoretischen Inhalts. Mit seinen drei Thesen: „Nichts existiert; auch wenn etwas existieren würde, so wäre es doch für den Menschen nicht wahrnehmbar; auch wenn es wahrnehmbar wäre,

so wäre es doch nicht mitteilbar“, steht er Protagoras nahe. Seine Bedeutung liegt jedoch in seinem Wirken als Lehrer der Rhetorik. Die Rede verstand er als Kunst der Menschenführung, in der sowohl die formale Gestaltung der Sprache durch Wortwahl, Bildhaftigkeit der Sprache, Satzführung und Rhythmisierung

als auch die Mittel der Beweisführung den Zuhörer lenken und überzeugen sollen. Die Sprache des Gorgias war weitgehend die der Dichtung, gleichsam eine in Prosa gebrachte Poesie, und sie wirkte sowohl dadurch als auch durch

XI. Die innere Einstellung zur Demokratie

385

den Einsatz einer Fülle von ihm geschaffener Wort- und Satzfiguren und durch die Parallelisierung von Sätzen und Satzteilen. Der Zuhörer wurde von diesem Wort- und Klanggepränge eher betört, als daß er den damit angesprochenen Gedanken rational hätte nachvollziehen können (oder sollen). Der Lehre vom

Beweis hat Gorgias - auch darin ein echter Sophist - durch die Bevorzugung des

Wahrscheinlichkeitsbeweises und einen angemessenen Gebrauch der Lehre vom rechten Augenblick eine neue Grundlage gegeben. Beides, sowohl die Argu-

mentationslehre als auch die Einpassung der Sprache in die Erfordernisse der Rhetorik, hat Gorgias nicht geschaffen; ın Sizilien waren bereits von Korax und Teisias die Grundlagen dieser neuen Disziplin gelegt und sogar ein erstes rheto-

risches Lehrbuch verfaßt worden, und auch abgesehen davon reichen die Anfänge der Redekunst sogar bis in das Epos zurück. Aber er hat doch alles in eine

neue Form gebracht, das Vorhandene vervollständigt und es durch seine gedankliche Schärfe und unverwechselbare Eigentümlichkeit mit besonderer Autorität ausgerüstet. Von Gorgias besitzen wir einige Schulreden, unter anderem eine fiktive Verteidigungsrede für die mythische Helena, die Gattin des Paris, in der er die Handlungsweise der Helena nach seinen sophistischen Maßstäben recht-

fertigt. Sie ist ein Meisterwerk der Rhetorik als Kunst der Überredung, die in

dem am Mythos gebildeten Zuhörer neben der Bewunderung der sprachlichen

Form auch gewiß Verwirrung und Widerspruch hervorgerufen haben dürfte. Wie Gorgias haben viele Sophisten sich mit rhetorischen Fragen beschäftigt und

manche

sich auch so weit darauf konzentriert, daß sie heute eher als

Rhetoriker denn als Sophisten angesehen werden. Von ihnen seien nur noch

zwei genannt, Thrasymachos von Chalkedon und der Athener Antiphon aus Rhamnus, deren Wirken in die zweite Hälfte des 5. Jahrhunderts gehört;

Antiphon wurde als einer der Hauptakteure des oligarchischen Putsches von 411 hingerichtet. Thrasymachos vertrat eine schlichte Weise des Ausdrucks,

ohne jedoch auf die Rhythmisierung und Parallelisierung zu verzichten, und verfaßte auch selbst ein Lehrbuch der Rhetorik. Antiphon kennen wir aus mehreren auf uns gekommenen Reden, an denen wir besonders die Anwendung des Wahrscheinlichkeitsbeweises in der forensischen Praxis studieren können. Wenn er, wie vielfach angenommen wird, von dem Sophisten gleichen Namens

zu trennen ist, haben wir in ihm allerdings keinen Sophisten, sondern bereits einen Redner des klassischen Typs vor uns. Neben der Rhetorik gehört die Religionskritik zu den Standardthemen

sophistischer Traktate. In ihr ist man über den Agnostizismus des Protagoras noch hinausgegangen. Es ging dabei nicht um eine neue Auffassung vom Góttlichen, sondern um den Nachweis, daß es keine Götter gäbe bzw. man keine Möglichkeit der Erkenntnis von ihnen haben könne. Als Prototyp des Gottes-

leugners schlechthin galt der in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts wirkende Diagoras von Melos. Er scheint gegenüber Protagoras nicht lediglich die

Möglichkeit der Erkenntnis von Göttern, sondern überhaupt ihre Existenz abgestritten zu haben, was ihm den Beinamen „der Gottlose“ verschaffte. Viel-

leicht hat ihn zu dieser radikalen These der Gedanke geführt, daß viele Ungerechte straffrei ausgehen und also die vergeltende Gottheit oft nicht zur Stelle

sei; doch ist seine Gestalt so weit hinter Anekdoten verborgen, daß wir keine

386

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

klaren Aussagen machen können. Kaum schärfer steht Prodikos von Keos vor uns. Auch er war Atheist, und wir wissen von ihm, daß er sich die Entstehung der Götter als die Personifizierung von Phänomenen der Natur vorstellte, die für das Leben und die Wohlfahrt der Menschen große Bedeutung besaßen, wie z. B. das Getreide (Demeter), der Wein (Dionysos), das Wasser (Poseidon), das Feuer

(Hephaistos) oder - für die Ägypter - der Nil. Begnügte sich Prodikos mit dieser rationalisierenden Erklärung des Mythos, ging der Athener Kritiasnoch einen

Schritt weiter. Er war ein Oheim Platons und gehörte zu den schillerndsten Gestalten der athenischen Politik des ausgehenden 5. Jahrhunderts; seine ganz unkonventionellen Anschauungen haben offenbar auch auf seine öffentliche Tätigkeit Einfluß gehabt. Er war einer der „Dreißig“ der Jahre 404/03 und vertrat deren radikalen Flügel; 403 ist er in den innenpolitischen Wirren ums Leben gekommen. Der vielseitige Mann - er hat u.a. auch Verfassungen gesammelt - sah die Götter nicht wie Prodikos als die Konsequenz des Bemühens, etwas an sich Unbegreifliches zu erklären, sondern als die bewußte Erfindung eines schlauen Mannes

an, der durch sie die Menschen

in Furcht vor den

Gesetzen halten und sie auch dann, wenn sie im Verborgenen handelten, durch die Allgegenwart eines übersinnlichen Wesens an sich binden wollte. In Kritias haben wir einen Endpunkt der Religionskritik vor uns, der wie in einem Kreis wieder auf den Ausgangspunkt zurückweist: Die absolute Gültigkeit der göttlich gesetzten Ordnung, an welcher die Sophisten rüttelten, erlangt hier, nunmehr als Instrument rein menschlichen Machtwillens, erneut Verbindlich-

keit.

War die Welt der richtenden und strafenden Götter als Trugwelt entlarvt und die Adelswelt als diejenige gesellschaftliche Kraft entmachtet, die sich auf sie gestützt hatte, mußten auch die überlieferten ethischen Grundsätze ins Wanken

geraten und mußte das, was absolut gesetzt zu sein schien, als Werk menschlicher Erfindung gelten. Der ethische Relativismus begegnet uns wiederum bei vielen Sophisten, besonders eindrucksvoll in dem Fragment einer um 400 in dorischem Dialekt verfaßten Schrift „Zwiefache Rede (oder: Argumente)“, ın

denen u.a. jeweils zwei Eigenschaften (gut - schlecht; schön - häßlıch; gerecht ungerecht; wahr - unwahr) einander gegenübergestellt sind, etwa nach dem Schema der am Anfang stehenden Sätze: „Zweierlei Redeweisen gibt es unter

Philosophen in Hellas über das Gute und das Schlechte. Die einen sagen nämlich, daß das Gute etwas anderes sei als das Schlechte, die anderen aber, daß es dasselbe seı, aber für die einen gut, für die anderen schlecht, und für denselben

Menschen bald gut, bald schlecht.“ Die logisch nicht immer folgerechten, offensichtlich von einem wenig sachkundigen Mann konzipierten oder nachgeschriebenen Sätze stehen in der Tradition der „Antilogien“ des Protagoras und zeugen

davon, wieweit der Relativismus bereits systematisiert und handbuchartig zugänglich gemacht worden ist. Er begegnet uns etwa auch, auf höherem Niveau, bei dem bereits zitierten Sophisten Antiphon, der in seiner Schrift „Die Wahr-

heit" die geltende Rechtsordnung im Hinblick auf ihre Zweckmäßigkeit an-

greift. Durch den Nachweis, daß die Gesetze unwirksam und sogar schädlich für die Menschen seien, sucht er ihren Sinn zu unterhóhlen. Man sieht, daß hier die

absolute Geltung des Gesetzes als von den Góttern gesetzte Norm bereits nicht

X1. Die innere Einstellung zur Demokratie

387

mehr diskutiert wird, das Gesetz vielmehr a priori als Menschenwerk gilt und

als solches allein nach seiner Zweckmäßigkeit beurteilt wird. Mit dem Verlust der alten Legitimationsbasis können dann von den Sophisten auch anerkannte soziale Barrieren einfach niedergelegt werden, kann Antiphon in der obengenannten Schrift verkünden, daß Hellenen und Barbaren gleich seien, und später

Alkıdamas dasselbe von den Freien und Sklaven sagen. Die Richtigkeit der

Behauptung über die Gleichheit der Menschen und über die Unwirksamkeit der Rechtsordnung wird hier indessen nicht allein vor dem Hintergrund einer zerbrochenen Wertwelt dargelegt, in welcher der konstruktive Wille freigesetzt

ist, sondern aus einer neuen Größe besonders begründet: Die Natur (physis) tritt jetzt an die Stelle der älteren Rechtfertigungen. Das Gesetz (nómos) als die unverrückbare, von den Göttern gesetzte Norm

menschlichen Verhaltens hatte durch die Veränderungen der Welt an Ansehen eingebüßt, und die Sophisten hatten diesem Prozeß eine gedankliche Form und Begründung gegeben. Im letzten Drittel des 5. Jahrhunderts gingen einige So-

phisten jedoch über das, was im Hinblick auf den Nomos gedacht oder auch nur geahnt worden war, weit hinaus und beraubten ihn durch den Aufbau einer Gegenkraft völlig seiner Grundlage. Gedanken dieser Art scheinen ihren Aus-

gang von Überzeugungen genommen zu haben, nach denen der Nomos nicht nur seinen Sinn verfehle, sondern sich geradezu gegen seinen Sinn kehren

könne. Der bereits genannte Thrasymachos, dessen Gedanken zu dieser Frage wir nur aus dem 1. Buch des „Staates“ von Platon kennen, formulierte seine Krıtik dahin, daß das Gerechte nichts anderes seı als das dem Stärkeren

Nützliche (symphéron; Plat. Pol. 338c), das Ungerechte das jedem selbst Vorteilhafte und Nützliche (ebd. 344c), und er demonstrierte dies an der Tyrannis. Wie

Thrasymachos seine Überlegungen in einen größeren Zusammenhang eingebaut hat, wissen wir nicht. So wie es da steht, ist es die reine Negation der Möglichkeit von Gerechtigkeit und damit eben das, was Platon als Hintergrund für die Entwicklung seiner eigenen Gedanken benötigt. Der Sophist Antiphon, von dem wir vor allem durch einige Papyrusfragmente eine unmittelbare Anschauung besitzen, hat diese Ansätze dann in einen weiteren Begründungszusammenhang gestellt. Auch er hält die Gesetze für unzweckmäßig und sinn-

los, weil sie ohne Straffolge übertreten werden könnten. Aber er bleibt dabei nicht stehen, sondern stellt ihnen die Natur (phÿsis) als das Notwendige und nicht durch bloße Konvention Gesetzte, als den wahren Bezugspunkt allen Seins und das dem Leben Angemessene gegenüber, und er läßt seine Ansicht in dem Satz kulminieren, daß das dem Menschen Zuträgliche/Nützliche, soweit es durch die Gesetze festgesetzt worden ist, Fessel der Natur sei (B 44, A4). Kallikles, dessen Gedanken wir nur aus dem , Gorgias" Platons kennen,

steigert schließlich diese Überlegungen zu der These von dem Recht des Stárkeren. Aus der Kritik an der Moral, die sich auf eine neue Auffassung von dem Stellenwert der Natur gründet, wird hier die Lehre von der Natur als dem

einzig wirklich Seienden, demgegenüber der Moral und mit ihr dem Gesetz lediglich der Wert einer Scheinwelt zukomme:

„Denn nach welchem

Recht

führte Xerxes Krieg gegen Hellas oder dessen Väter gegen die Skythen? Und tausend anderes dieser Art kónnte man anführen. Also, meine ich, tun sie dies

388

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

der Natur gemäß, und, beim Zeus, auch dem Gesetz gemäß, nämlich dem der Natur; aber freilich nicht nach dem, welches wir selbst willkürlich machen, die

wir die Besten und Kräftigsten unter uns gleich von Jugend an, wie man es mit den Löwen macht, durch Besprechung gleichsam und durch Bezauberung knechtisch einzwängen, indem wir ihnen immer vorsagen, alle müssen gleich haben, und dies seı eben das Schöne und Gerechte. Wenn aber, denke ıch, einer

mit einer recht tüchtigen Natur zum Manne wird, so schüttelt er das alles ab, reißt sich los, durchbricht und zertritt all unsere Schriften und Gaukeleien und

Besprechungen und widernatürlichen Gesetze und steht auf, offenbar als unser Herr, er der Knecht, und eben darin leuchtet recht deutlich hervor das Recht der

Natur“ (Plat. Gorg. 483d-484b; Übers. von F. Schleiermacher). Nomos und

Physis treten hier scharf auseinander. Der Nomos erscheint als das unnatürliche Produkt menschlicher Schwäche; allein die Physis legitimiert das menschli-

che Handeln. Die Gedanken sind allerdings, soweit noch aus der Überlieferung erkennbar, nicht immer logısch durchdacht. Die Physis wird als Handlungsma-

xime verstanden, obwohl dies in ihr - im Gegensatz zum Nomos, für den das Sollen konstitutiv ist - a priori nicht angelegt ist (warum soll der Stärkere sich ausleben dürfen?). Es gibt noch andere Ungereimtheiten bei Kallikles. Für wen gilt das Recht des Stärkeren? Gilt es für den jeweils Stärkeren? Das doch wohl nicht; denn das würde bedeuten, daß der Kampf aller gegen alle naturhaft gegeben sei. Hat Kallikles das nicht bedacht? Ist er zu seinen Überlegungen vielleicht nur von einigen großen Tyrannengestalten inspiriert worden, an die

der Gedanke gebunden bleibt? Die Lehre von dem Recht des Stärkeren erscheint so, wie sie von Platon dargelegt wird, als eine Überspitzung des naturrechtlichen Gedankens,

die in erster Linie die Antinomie von Natur und Gesetz

begreiflich machen will und dabei die logischen Konsequenzen nicht bedenkt. Wie immer es damit steht, die Wirkung der Lehre war außergewöhnlich groß.

Wir spüren sie vor allem bei Thukydides, der in seinem Melierdialog (5,85-113) die Gedanken in die politische Wirklichkeit versetzt hat; sie erstreckt sich jedoch weit über die Antike hinaus bis in die Neuzeit (Friedrich Nietzsche).

Die Skizze sei mit einem Blick auf Isokrates und damit auf das 4. Jahrhundert abgeschlossen. Die große Zeit der Sophisten ist jetzt vorbei; die Sokratiker

beherrschen das Feld und mit ihnen der Anspruch auf die absolute Gültigkeit des philosophischen Theorems. Der Begriff des Sophisten ist auch in dieser Zeit noch nicht festgelegt. Isokrates bezeichnet die Sokratiker mit diesem Wort und schließt sich selbst nicht aus; auch der Begriff der „Philosophie“ deckt sie alle

ab. Aber Isokrates steht mit seinem Denken doch den Sophisten des 5. Jahrhunderts näher als der neuen Philosophie, und dies sowohl darin, daß er von der sinnlichen Welt als dem gegebenen Sein ausgeht, als auch darın, daß er seine

Lehre als eine Anleitung zum praktischen Handeln versteht. Isokrates war Athener und wurde fast hundert Jahre alt (436-338). Er war in erster Linie

Lehrer der Rhetorik und hat auch selbst Gerichtsreden verfaßt. Obwohl er darum unter die zehn attischen Redner eingereiht wurde, liegt das Schwerge-

wicht seiner Schriftstellerei auf einer politischen Publizistik, die sich an die Gesamtheit der Griechen wendet und für Frieden und Einigkeit wirbt. Seine Anleitungen zu einem brauchbaren Handlungswissen gründen sich auf die

XI. Die innere Einstellung zur Demokratie

389

Erfahrung, die den Rahmen der Handlungsbedingungen schafft, und auf eine von der Vernunft geleitete Besonnenheit, die das jeweils Richtige eingibt. Der Bezugspunkt für das Handeln wird durch das von den Menschen anerkannte Gute und Richtige, also durch einen consensus omnium (döxa) bestimmt, der

wissenschaftlich nicht begründet, aber von dem gebildeten, aufgeklärten Mann

aus den Normen des privaten und besonders des öffentlichen Lebens erkannt wird. Es fehlt bei Isokrates nicht nur jede metaphysische bzw. erkenntnistheoretische Begründung seiner Gedanken, sondern auch jeder religiöse und ethische Hintergrund, der über eine Allerweltsmeinung hinausgegangen wäre, und es ıst nicht zu verkennen, daß in das Vakuum die Rhetorik rückt als das Wissen

von dem, was sich für den richtigen Ausdruck geziemt, und das Vertrauen, daß der richtige Ausdruck und das schön gesprochene Wort die Sache macht. Bei

Isokrates ist das Handlungswissen auf eine vorgegebene öffentliche Meinung ausgerichtet, welche die Normen liefert, aber - abgesehen von einer Vulgärethik - sich auf kein besonderes Wissen oder Verstehen gründet. Die Wirkung des Mannes war nichtsdestoweniger groß. Kein Denker der klassischen Zeit hat so viele Schüler gehabt; Politiker, Redner, Dichter und Historiker wetteiferten, ıhn

als ihren Lehrer benennen zu können. Der Widerhall der isokrateischen Lehre ist indessen wohl zu verstehen. Sie verlangte keine spezifischen Kenntnisse, band niemanden an eine Schule und beließ darum jedem seine intellektuelle Unabhängigkeit. Bei dem hohen Grad ihrer Abstraktheit war sie zugleich verständlich und unverbindlich, und die von Isokrates vorgegebene óffentliche Meinung

mochte auf diesem Niveau wohl jeder akzeptieren. Bei Isokrates waren alle gut beraten, weil er nichts Bestimmtes riet und sogar das, was für alle ein erbitterter Streitpunkt war (Friede, Freiheit), noch so ansprechen konnte, daß alle damit

zufrieden waren. Und wer noch Bedenken hatte, nach Begründung suchte oder auch nur ein Unwohlsein angesichts dieser schon im Altertum bemerkten isokrateischen Leere (kenótés) empfand, wurde in den lang ausrollenden, immer

gleich schónen Perioden des Meisters ertránkt. Isokrates bedeutet den Sieg der

schónen Rede über das Wort als Gedanke und den Sieg einer seelenlosen Praxis über die politische Idee. Sein wichtigtuerischer Wortschwall richtete sich u.a. auch eifernd gegen die nachsokratische Philosophie, und in seiner Zeit hat er die Gedanken der Philosophen übertónt.

Der Überblick über die Sophisten wirft die Frage auf, was sie denn für ihre Zeit bedeuteten. Über ihre Rolle innerhalb der Gesellschaft, in der sie auftraten,

ist wenig nachgedacht worden; das rein philosophiegeschichtliche Interesse überwiegt. Daß sie indessen anders als die ionischen Naturphilosophen oder die große Philosophie der Zeit nach Sokrates eine Funktion im öffentlichen Leben besaßen, geht schon daraus hervor, daß sie ihre Lehre als eine Anleitung zum praktischen Leben verstanden und sich darum an die Öffentlichkeit wandten,

und wir wissen ja auch von ihrer unmittelbaren Wirkung auf ein größeres Publikum. Gelegentlich haben moderne Gelehrte in der Sophistik eine Kraftquelle für den großen politischen Aufbruch des 5. Jahrhunderts gesehen und glaubten - mit dem aus der modernen Aufklärung überkommenen Optimismus, daß die Philosophie den Umbrüchen in der Geschichte vorauseile -, in den

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Sophisten die Wegbereiter einer neuen, nicht nur die Konkursverwalter einer vergangenen Zeit zu erkennen. In solchen Ansichten durchdringen sich Politik und Philosophie, und folglich werden nach manchen dieser Gelehrten sophisti-

sche Ideen teils von Demokraten, teils von Oligarchen für die jeweils eigene politische Richtung in Dienst genommen. Für andere Forscher ist die Sophistik eher Symptom des geistigen Wandels als eine selbständige Kraft in der Polıtik, doch sind auch die Vertreter dieser Ansicht der Überzeugung, daß jedenfalls die

Rhetorik in der neuen Gesellschaft eine mehr oder weniger bewußte Funktion, insbesondere die Aufgabe erhalten habe, eine neue Führungsschicht auszubilden. Bisweilen wird das Wirken der Sophisten auch mit einer bestimmten historischen Situation verbunden, etwa mit dem Sturz der Tyrannen am Ende des 6. Jahrhunderts, der den Anfang einer Umformung der Gesellschaft bedeu-

tet und damit der Sophistik den Weg bereitet habe. Aber vor allem wird das Wirken der Sophisten weitgehend mit Athen und der dort etablierten Demokratie verbunden. Aber war Athen der Mittelpunkt der Sophisten? Und waren sie überhaupt politisch einzuordnen? Es ist richtig, daß in Athen der Prozeß der

politischen Umformung am weitesten gediehen und am konsequentesten durchgeführt war. Ebenso war die freiheitliche Atmosphäre hier offensichtlich größer als irgendwo sonst in der griechischen Welt, obwohl, wie die Asebie-Prozesse

zeigen, die Toleranz auch Grenzen kannte. Schließlich bot die Demokratie mit

ihren Versammlungen und Prozessen den Sophisten, welche die Menschen für das praktische Leben ausrüsten und insbesondere zu fähigen Rednern ausbilden wollten, den ıdealen Boden für die Entfaltung ihrer Lehrtätigkeit. Aber von all den geistreichen oder gewagten Spekulationen war in der politischen Praxis

Athens nichts zu spüren: Es fand etwa der sophistische Gedanke, daß alle positiven Gesetze unter jeglicher Herrschaftsform Gewaltakte sein können, mithin das Gesetz Gewalt (bia) darstelle und die Gerechtigkeit keine allgemeine Prämisse des Gesetzes sei (Xenoph. Mem.

1,2,40-46), keine Reaktion in der

politischen Öffentlichkeit; niemand begründete auch auf der Agora oder der Pnyx seine Meinung mit einem sophistischen Traktätchen. Die Sophisten saßen für die Athener dort, wo Aristophanes seinen Sokrates hingesetzt hatte: Die Luftschaukel des Sokrates steht symbolhaft für die Ferne dieses Denkens bei der

Masse der Athener. Die Sophistik bewegte in Athen keine Politik, hatte jedenfalls keinen direkten Zusammenhang mit bestimmten politischen Entscheidun-

gen. Und doch haben die Sophisten in anderer Weise auf ihre Zeit gewirkt. Es waren nicht die besonderen Gedanken eines Protagoras, Kallikles oder Antiphon, die Wirkung machten, sondern vielmehr das allgemeine geistige Klıma, ın dem die Sophisten dachten, ihre Art zu formulieren und das Gedachte durch die Sprache in den Griff zu bekommen; ferner wirkten einzelne Themen, besonders

griffige Erklärungen oder Paradoxien, was alles das Verstehen erweiterte. Sophistisches Gedankengut durchdrang die gesamte intellektuelle Welt; wir spüren es bei Thukydides und Euripides, bei Herodot und Aristophanes, ohne daß einer

von diesen als ein Sophist zu bezeichnen wäre. Die Rolle der Macht und die Bedeutung des Nutzens (sympheron) für die Stadt, die Relativität des Nomos und

die naturgegebene Gleichheit von Freien und Sklaven, dies und anderes begeg-

ΧΙ. Die innere Einstellung zur Demokratie

391

net uns an vielen Stellen der Literatur. Die griechische Geistigkeit war durch die Sophistik zu einem höheren Grad der Reflexion aufgestiegen, und dies sowohl im Hinblick auf die Fähigkeit zur Differenzierung als auch im Hinblick auf die

Gegenstände, deren Vielfalt durch die Sophisten gewachsen war. Für die Demokratie war am wichtigsten, daß ın der Rhetorik den Bürgern das Instrument zur Bewältigung eines demokratischen Entscheidungsprozesses an die Hand gegeben wurde, und es steht ohne Zweifel fest, daß Demokratie

und Rhetorik sich hier wechselseitig befruchtet und vorwärtsgetrieben haben. Man darf die Rhetorik nicht als reine Kunst des Überredens oder gar der Täuschung geringschätzen. Die Rede innerhalb eines Entscheidungsprozesses vor dem Volk, dem Rat oder dem Gericht will sich überall durchsetzen, ob nun

in Athen oder sonstwo; sie ist keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern eine meist interessengebundene Werbung, für die der Erfolg alles ist. Wer von „Überredung“ spricht, weil er die besseren, „richtigen“ Argumente vermißt, hat

meist schon Partei ergriffen, auch wenn er behauptet, auRenstehender Beobachter zu sein. Für die Demokratie war diese neue Kunst ein Lebenselixier; durch

sie erhielt der Gedanke der Isegorie erst Kraft und Gestalt: Jetzt konnte jeder diese Kunst lernen, und erst jetzt war damit die politische Gleichheit Wirklichkeit geworden. Denn was záhlt die Gleichheit, wenn sie zum Schweigen verurteilt ist?

Über die Rhetorik hinaus haben die sophistischen Lehren die Masse der

Athener kaum ernsthaft berührt; insbesondere die Betriebsamkeit der Sophisten

war eher Varieté als ein Stück ernsthafter Politik. Man spürte die Wirkung allenfalls durch eine neuartige Problematik auf der Bühne. Die geistige Elite aber war natürlich von den Gedanken berührt und machte sich daran, die Welt

im sophistischen Geist zu interpretieren: Der athenische Imperialismus etwa war danach nicht aus einer wie immer gearteten rationalen oder irrationalen Politik zu erklären, sondern war die Konsequenz der Stárke der Stadt, die allein

aus dieser Stárke das Recht und die Dynamik zur Herrschaft über beliebig viele andere, schwächere Stádte schópfen durfte.

XII. Grenzen der Demokratie Die athenische Demokratie hat nach ihrem Ausbau in perikleischer Zeit die ihr

zugrunde liegenden Gedanken nicht wesentlich weitergeführt. Sie entwickelte trotz z. T. erheblicher organisatorischer Veránderungen im 4. Jahrhundert keine neuen Ideen. Besonders vom Standpunkt der modernen Demokratie will dies manchem schwer einleuchten. Aber wir dürfen den Athenern nicht unsere modernen, von „Entwicklung“ beherrschten Gedanken unterstellen, sondern

haben die athenische Demokratie von ihren eigenen Voraussetzungen her, das heißt innerhalb der allgemeinen sozialen, politischen und geistigen Bedingungen des 5. und 4. Jahrhunderts zu beurteilen, aus denen die Gründe für die Statik der politischen Verhältnisse abgelesen werden kónnen. Die in diesem Abschnitt gestellte Frage nach den Grenzen der Demokratie zielt nun nicht auf das Pro-

blem der mangelnden Weiterentwicklung der demokratischen Grundideen, auf die bereits mehrfach hingewiesen wurde (vgl. bes. S. 53f. 290ff.), sondern darauf,

wieweit die bestehenden Ideen und Formen der Demokratie sich in der politischen Wirklichkeit durchsetzten, vielleicht verfälscht oder gar in ihr Gegenteil verkehrt wurden. Ich beschränke mich auf einige mir besonders wesentlich erscheinende Aspekte. Von vielen modernen Historikern wird mit dem Ton merklicher Herabsetzung

die athenische Demokratie als die Herrschaft einer Minderheit über die Mehrheit genannt, weil die politisch berechtigten Bürger nur einen Bruchteil der attischen Bevölkerung ausgemacht hätten. „Es ist wie in Sparta letzten Endes auch in Athen nur eine Sekte, die sich heraushebt mit unerhörter aristo-

kratischer Geste gegenüber aller Umwelt", sagt Berve in seiner im Jahre 1931

erschienenen „Griechischen Geschichte“ (S.303), und obwohl er diesen Passus

in der 2.Auflage (1951), vielleicht über seine Formulierung selbst erschrocken,

etwas abmildert, bleibt er bei dem grundsätzlichen Verdikt. Aber hat er und haben die vielen anderen, die ihm zustimmen, recht? Der Schein spricht für Berve. Auf dem Hóhepunkt der athenischen Demokratie, vor dem Ausbruch des Peloponnesischen Krieges, lebten in Attika zwischen 250 000 und 300 000 Menschen, von denen 170 000-200 000 erwachsene Personen gewesen sein dürf-

ten. Aber nur ca. 30 000-50 000 besaßen politische Rechte. Es waren sowohl die Sklaven

(ca. 80 000) und dauernd ansässigen Fremden (Metóken, 25 000) als

394

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

auch die Frauen der Bürger von der Beteiligung am politischen Leben ausge-

schlossen. Allein die Anzahl der erwachsenen Sklaven war doppelt so hoch wie die der Bürger, die Zahl der männlichen Erwachsenen unter ihnen mindestens gleich stark (vgl. o. S. 84f.). Das Bild von den athenischen Demokraten als einer

herrschenden Elite, unter der eine große Schar von Abhängigen und Entrechteten ächzte, scheint sich wie von selbst einzustellen, und es klingt wie eine lahme

Entschuldigung, wenn der angesehene amerikanische Althistoriker J.A.O. Larsen (1954) dazu sagt, dies sei nicht das einzige Beispiel dafür, daß in der Geschichte eine Theorie oder Lehre nicht bis zu ihrem logischen Endpunkt geführt worden wäre. Vorwürfe und Rechtfertigungsversuche sind hier indessen ganz fehl am Platze. Es sollte schon bedenklich stimmen, daß bei aller Krıtik, die wır in der Antike über die Demokratie in Athen hören, doch niemand auf den

Gedanken gekommen ist, daß Frauen, Sklaven und Metóken politische Rechte haben könnten. Für moderne Menschen, die alles nur von den Prämissen ihres

eigenen Daseins aus betrachten, kónnte man den antiken Verhältnissen ihre Absonderlichkeit durch den Hinweis nehmen, daß es in dieser Hinsicht bis zum

vorigen Jahrhundert auch in Europa überall noch so wie in Athen zugegangen war, und der Wandel also noch nicht sehr alt ist. Doch abgesehen davon kann

man für Athen wie für alle antiken Staaten den Ausschluß der Personengruppen erklären: Das politische Recht war an die Waffenfähigkeit, also an den Mann gebunden; jede Stadt war ein in sich geschlossener Rechtskreis, in den ein Fremder nicht einfach eintreten konnte, und das Institut der Sklaverei, das seine

Quelle in der Kriegsgefangenschaft hatte, ist die Konsequenz einer Stufe des

Vólkerrechts, in der alle Staaten scharf voneinander abgeschottet sind und im Krieg alles, was dem Feind in die Hände fällt, Kriegsbeute ist und zu seiner Verfügung steht. Die Athener konnten nicht aus ihrer Zeit heraustreten, und es gab für sie folglich nicht jenen, von Larsen gedachten „logischen Endpunkt“ der

Demokratie, weil er darin gar nicht angelegt war. Das Ziel war sehr viel begrenzter. Es lag in der Übertragung des politischen Rechts an alle männlichen Bewohner Attikas, die nicht Sklaven oder Metöken waren, also auch an die

Ärmsten. Diesen Endpunkt haben die Athener nicht nur angestrebt, sondern erreicht, und gerade das ist das Neue, das von allen Griechen so bestaunt,

bewundert, kritisiert oder gar gehaßt wurde: Die Erteilung des politischen Rechts ohne Rücksicht auf Herkunft und Vermögen. Das Revolutionäre an der

athenischen Demokratie oder, sofern man den Begriff vermeiden will, ihre Radikalität beruhte auf diesem Umstand, in dem zugleich die Grundidee der Demokratie steckt: Die politische Gleichheit aller Bürger, der armen wie der reichen. Man hat nicht viel von Athen verstanden, wenn man in das Klagelied

von der athenischen Demokratie als der Herrschaft einer Minderheit einsummt. Ein anderer Aspekt ist in diesem Zusammenhang wesentlicher. In dem Streitgespräch um die Vor- und Nachteile der Demokratie zwischen Theseus, dem mythischen König von Athen, und dem Herold des Kreon, des tyrannischen

Königs von Theben, das Euripides in seine „Hiketiden“ eingefügt hat, weist der Herold die Behauptung des Theseus, daß in Athen das Volk herrsche und die Macht auf arm und reich gleich verteilt sei, mit der höhnischen Antwort zurück,

daß den armen Bauern, mag er noch so kenntnisreich sein, doch schon seine

XII. Die Grenzen der Demokratie

395

Arbeit daran hindere, sich um die Belange der Stadt zu kümmern (103f.). In der

Tat trifft dieser Einwand einen wunden Punkt der athenischen Demokratie. Es geht hier nicht um die Gleichheit - sie wird nicht bestritten, vielmehr ihre

radıkale Durchsetzung vorausgesetzt -, sondern um deren praktische Verwirklichung, und da sich die Athener um kaum etwas mehr Sorgen gemacht haben als darum, daß jeder Bürger sein politisches Recht nicht nur haben, sondern es auch ausüben können soll (s.u. S. 306ff. 333ff.), geht es hier um das Kernstück der

Demokratie. Der Verwirklichung der Gleichheit standen in der Tat unüberwindliche Hindernisse im Wege. Sie lassen sich alle in dem Satz zusammenfas-

sen, daß im demokratischen Athen das Verhältnis von Politik und Arbeit nicht gelöst war und auch nicht gelöst werden konnte. Denn die Vorstellung, daß alle Bürger zugleich entscheiden, raten und urteilen sollen, wäre nur zu realisieren gewesen, wenn alle zugleich mit ihrer Mündigkeit ökonomisch unabhängig gestellt worden wären. Durch die Einführung der Diätenzahlungen und ihre Ausdehnung auf die wichtigen öffentlichen Funktionen einschließlich des Besuchs der Volksversammlungen haben die Athener zwar gezeigt, daß sie das Problem erkannt hatten und entschlossen waren, es im Sinne der demokratischen Idee zu lösen; aber die Wirklichkeit sah anders aus.

Vor allem der Bauer, und damit die Mehrheit der Bürger, war von der Natur seiner Arbeit her nicht immer abkömmlich; selbst wenn er einen Sklaven und

arbeitsfähige Familienmitglieder hatte, konnte er es sich in der Zeit der Frühjahrsbestellung und Ernte nicht leisten, anstatt auf dem Felde zu sein, tagelang auf der Pnyx oder Agora zu sitzen oder gar länger dauernde Funktionen als Beamter oder Gesandter zu übernehmen. Auch die Entfernungen spielten eine

nicht geringe Rolle. Sofern der Bauer nicht in der zentralen Kephisos-Ebene wohnte, hatte er lange Wegstrecken zu Fuß oder auf einem Karren zurückzulegen. Von der thriasischen Ebene um Eleusis waren es 20-30 km, von der mara-

thonischen über 40 km und von manchen Küstengegenden im Südosten Attikas noch weit mehr Wegstrecke bis in das Zentrum Athens; die Straßen waren zudem nicht gut ausgebaut, und es waren oft Steigungen zu überwinden; selbst der Weg vom Piräus nach Athen war nicht kurz (6-8 km). Da die Sitzungen der

Volksversammlung und der Gerichte bei Sonnenaufgang begannen, mußten die meisten Bürger für den Besuch einer einzigen Sitzung bereits am Vortage anreisen und konnten, wollten sie nicht einen Nachtmarsch riskieren, erst an dem der

Sitzung folgenden Tag wieder abreisen. Wer wollte diese Mühe auf sich nehmen,

wenn nicht ein außergewöhnlicher Tagesordnungspunkt, etwa der Beschluß eines Feldzuges, die Verteilung von Land im Seebundsgebiet oder ein Prozeß, der persónlich interessierte, anstand? Im letzteren Fall war der Interessent noch gar nicht einmal sicher, ob er bei der Losung überhaupt zum Richter bestellt und, falls das der Fall war, ob ihm bei der Auslosung der Gerichtshófe der ihn interessierende Prozeß zugewiesen werden würde. Einen Bauer hält sein Tagewerk von der Teilnahme am óffentlichen Leben ab, sagt schon Euripides (Hiket.

420ff.) in der ersten Phase des Peloponnesischen Krieges, und derselbe (Orest. 918) und Aristophanes (Vógel 111) kónnen vor der Offentlichkeit der Bürger, die es ja wissen mußten, glaubhaft erklären, daß sich unter den Richtern nur

selten ein Bauer befindet. Auch nicht jeder, der in Athen wohnte und arbeitete,

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

war abkómmlich. Ein Handwerker hat gewiß nur ungern seinen Betrieb verlassen, wenn er gut zu tun hatte; die Lohnarbeiter mußten die Erlaubnis ihres

Arbeitgebers einholen und auf ihren Lohn verzichten. Wie im Handwerk lagen die Dinge auch im Handel und in der Bergwerksarbeit. Die Diätenzahlungen glichen den Schaden, mochte er nun aus Lohnausfall oder Reisekosten bestehen,

nur zu einem Teil aus. Sie sicherten dem Bürger für den Tag seiner politischen Tätigkeit den Unterhalt; er konnte von dem Betrag vielleicht auch noch eine weitere Person, aber auf gar keinen Fall eine größere Familie ernähren.

Der Verwirklichung der Idee standen somit mehrere Hindernisse im Wege, neben der besonderen Beschaffenheit der Arbeit, die selbst einen gutsituierten

Mann abhielt, ein für viele, ja die meisten Bürger nicht unerheblicher Einsatz von Zeit und Geld. Die Folge war, daß sehr viele oder sogar die meisten Bürger nur bei wirklich wichtigen Verhandlungsgegenstánden in den Versammlungen erschienen, darüber hinaus vor allem das persónliche Interesse die politische Akuvität bestimmte und im übrigen - also bei allen Routineangelegenheiten nur diejenigen politisch aktiv waren, für welche die genannten Hinderungs-

gründe nicht oder nicht in demselben Umfang bestanden. Das waren nun vor allem die Bürger, die in Athen und der näheren Umgebung der Stadt, in eingeschränktem Maße auch noch alle diejenigen, die in der zentralen Kephisos-

Ebene einschließlich des Piräus wohnten, ferner die ökonomisch Unabhängigen, unter diesen vor allem diejenigen, die von einer Rendite lebten und die Verwaltung ihres Vermögens Bediensteten anvertraut hatten, sowie schließlich

die Alten, die aus dem Arbeitsprozeß ausgeschieden waren, und unter ihnen wiederum besonders die Bewohner der Stadt Athen. Und vor allem diese letzteren standen für das politische Geschäft zur Verfügung. Denn mochte manchen Vermögenden vielleicht noch sein Hochmut davon zurückhalten, mit den Är-

meren zusammenzusitzen, trafen solche Hemmungen auf die überwiegende Mehrheit der älteren Bürger nicht zu. In den „Wespen“ des Aristophanes ist der Chor der Richter ein Chor von Alten, und es wird die Rolle des Alten als

desjenigen, der für die Familie einen kleinen zusätzlichen Verdienst nach Hause trägt, in diesem Stück besonders deutlich. Die Athener haben durch die Einführung und den Ausbau der Diäten alles in ihrer Macht Stehende getan, um die ökonomischen Hemmnisse, die einer Betei-

ligung aller am politischen Leben im Wege standen, abzubauen, und sie haben die teilweise scharfe Kritik an den Diäten ertragen. Aber das Problem, beı Aufrechterhaltung des ökonomischen und sozialen Systems alle Athener zu Berufspolitikern zu machen, konnten sie nicht lösen, und es ist ja selbst heute in unseren repräsentativen Demokratien, in denen nur eine Minderheit aktive Politiker zu sein brauchen, nicht gelöst, und jede Diskussion um eine Erhöhung

der Diäten zeigt erneut, daß viele Menschen die Ausgliederung der gewählten Volksvertreter aus dem Arbeitsprozeß und ihre ökonomische Sicherstellung noch gar nicht als eine Grundforderung jeder Gesellschaft von politisch Gleichgestellten begriffen haben und sie darum, von Kritikern irregeleitet, die Bewilli-

gung von höheren Diäten für eine unerlaubte Selbstbedienung der Abgeordneten halten. Von vielen Historikern ist behauptet worden, daß die athenische Demokratie

XII. Die Grenzen der Demokratie

397

finanziell von den Tributen untertäniger Städte abhängig, ja ohne diese überhaupt nicht lebensfähig gewesen sei. Die Geldgier der Demokratie und die Ausbeutung der Bundesgenossen werden bereits im 5. Jahrhundert von

Arıstophanes und dem Autor der ps.-xenophontischen Schrift vom Staat der Athener herausgehoben und getadelt, ohne daß allerdings dabei auch der Ge-

danke der finanziellen Abhängigkeit der Demokratie von Tributen deutlich ausgesprochen worden wäre. Das Geldbedürfnis der Demokratie war in der Tat

hoch. Abgesehen von allem anderen, verschlangen allein die Diäten knapp die Hälfte der städtischen mußte bei Fehlen von Recht ist jedoch gesagt menbruch von 404/03,

Einnahmen eines normalen Jahres; waren diese geringer, Tributen die finanzielle Lage bedenklich werden. Mit worden, daß die Athener ausgerechnet nach dem Zusamals sie ihren gesamten Herrschaftsbereich verloren hat-

ten, das Diátensystem durch die Einführung von Tagegeldern für den Besuch von Volksversammlungen erheblich erweitern konnten. Die Athener müssen

damals die Diáten aus eigener Kraft aufgebracht haben, und ein Blick auf die Einnahmen und Ausgaben lehrt, daß sie sich in der Tat finanziell auch ohne Tribute schlecht und recht über Wasser zu halten vermochten. Es gab in Zeiten schlechter wirtschaftlicher Lage oder äußerer Bedrohnis gewiß Engpässe, und

die Schwierigkeiten wurden seit dem Zusammenbruch auch des Zweiten Seebundes im Bundesgenossenkrieg (357-355) sogar so groß, daß außerordentliche Finanzämter eingerichtet werden mußten. Die für die Demokratie konstitutiven Ausgaben, unter ihnen in erster Linie die Diäten, mußten indessen nicht gestrichen werden; im Gegenteil ist vielleicht erst damals das Theorikon, also das Sitzungsgeld für den Besuch von Festversammlungen, eingeführt worden. Wir können allerdings mit Bestimmtheit sagen, daß die Demokratie, sofern sie keine hohen

Einnahmen

aus Tributen hatte, oft vor leeren Kassen stand, dafi sie

zunehmend die Sondersteuer (Eisphora) umlegen und bisweilen ihre Verpflichtungen sich stunden lassen mußte. Ein Staat, der stets am Rande der Zahlungsunfähigkeit lebt, schaut sich eifriger als andere nach neuen Geldquellen um und

erzeugt damit gewiß kein Klima des Vertrauens gegenüber seiner Finanzpolitik. Wenn daher die Demokratie auch nicht von Tributen eines Untertanengebietes abhángig war, hat der chronische Geldmangel doch einen finanzpolitischen

Akzent in die Außenpolitik gebracht, der diese Politik unter anderem auch band. Das haben die Kritiker in und außerhalb Athens auch wohl sagen wollen, wenn sie von der Geldgier des Demos und der Ausplünderung der Bundesgenossen sprachen. Mag daher auch die Demokratie finanziell von einem Herrschaftsgebiet nicht abhängig gewesen sein, hat doch nicht nur einfach der Wunsch nach größeren materiellen Vorteilen, sondern vor allem das der Demokratie immanente Geldbedürfnis die AuRenpolitik mitbestimmt.

War die Demokratie finanziell nur sehr bedingt auf äußere Einnahmen angewiesen, besteht für die Sicherung der Getreideversorgung (trophé) eine unbestrittene Abhängigkeit von äußeren Einfuhren (s.o. S. 115ff. 243f.). Man

mag allerdings bezweifeln, ob die Versorgung der Bevólkerung mit den Grundnahrungsmitteln speziell eine Aufgabe der Demokratie und nicht vielmehr die einer jeden Regierung ist, welcher Art sie immer sei. Indessen ist die starke

Zunahme der Bevölkerung, insbesondere der Metóken und Sklaven, zunächst

398

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

einmal eine Konsequenz der vor allem von der Demokratie verursachten Wirt-

schaftsblüte. Wer die Verantwortung der Demokratie für diese Entwicklung nıcht akzeptiert, muß jedoch einräumen, daß von der staatlichen Sorge um die

Grundnahrungsmittel insbesondere der ärmere Bürger, und das heißt die Masse des Demos, profitierte. Und er hat ferner zu bedenken, daß die Fürsorge erst

durch die Demokratie fänge der Trophe bei Organisation und die Wer sich Gedanken

methodisch organisiert worden ist. Auch wenn die AnSolon zu suchen sind, weist doch deren planmäßige Überwachung des Getreidepreises auf die Demokratie. über mögliche Abhängigkeiten der athenischen Demo-

kratie von Bedingungen macht, die im auswärtigen Bereich liegen, wird auch an die verfassungspolitische Bindung der Außenpolitik seit der Mitte des Jahrhunderts zu denken haben. Seit die Athener in ihrem Seebundsbereich die demokratischen Strömungen unterstützten und den abgefallenen Städten sogar mit mehr oder weniger Druck die demokratische Verfassung oktroyierten, entstand als Reaktion darauf eine Gegenbewegung der traditionellen Kräfte, die ın

Absetzung zu der Demokratie sich selbst als Oligarchie verstand. Im Peloponnesischen Krieg hat sich dieser Verfassungsdualismus zu seiner vollen Schärfe entwickelt, und es bedeutete seitdem Außenpolitik immer gleichzeitig auch

Verfassungspolitik. Thukydides hat diese Entwicklung eindrucksvoll beschrieben und analysiert. Anhand der inneren Wirren in Kerkyra im Jahre 427 zeigt er,

wie der Verfassungskampf der äußere politische Rahmen für einen völligen Verfall der menschlichen Gesittung wurde (bes. 3,82). Die Athener mag bei der Unterstützung der Demokratien in anderen Städten zunächst vor allem auch

Stolz auf ihre politische Ordnung und ein gewisses Sendungsbewußtsein getrieben haben. Durch die mechanische Verkoppelung von Außenpolitik und Verfassungsform wurden sie aber zunehmend in ihrer außenpolitischen Bewegungs-

freiheit auch eingeengt; denn die verfassungspolitische Bindung diktierte das Handeln. Vor allem wurde durch diese Voraussetzung Sparta zum klassischen

Feind Athens. Aus den Reibungen mit Sparta, die der Aufstieg Athens zu einer Großmacht schuf, wurde eine gleichsam a priori gesetzte Urfehde; der Antagonismus war damit zementiert und zugleich der Vernichtungskampf der Rivalen programmiert. Diese feste Prämisse machte Athen in der Außenpolitik schließ-

lich ganz unbeweglich. Sie verhinderte z. B., daß Athen im Jahre 425 einen sehr günstigen Frieden mit Sparta schloß, verhinderte ferner, daß nach dem Friedensschluß von 421 die Erfolge des machtpolitischen Aufstiegs durch eine Annäherung an Sparta gesichert werden konnten und verhinderte schließlich,

daß die Athener bei ihrem Angriff auf Syrakus wenigstens im griechischen Mutterland Rückendeckung erhielten. Darüber hinaus - und das interessiert in diesem Zusammenhang noch mehr - gab der Akt des Oktroi und dessen ständige Wiederholung der demokratischen Verfassung modellhaften Charakter.

Die Demokratie wurde zu einem vorgeformten Muster, das überall nur aufgesetzt zu werden brauchte, um das politische Leben im Sinne des Musters umzupolen. Die mechanische Starre des Vorgangs enthüllt, daf seine Funktion in der Außenpolitik lag und aus dem Binnenraum der Städte, welche die demokratische Verfassung „erlitten“, kaum lebendige Antriebe empfing, und es ist zwei-

felhaft, ob durch diese Entwicklung überhaupt echte demokratische Bewegun-

XII. Die Grenzen der Demokratie

399

gen entstanden sind. Der Verfassungsdualismus hatte aber auch eine Rückwirkung auf Athen selbst. Denn die verhältnismäßig schnelle Bildung eines Mo-

dells „Demokratie“ - es ist bereits in perikleischer Zeit vollendet - muß auch eine eventuelle Weiterentwicklung des demokratischen Gedankens gehemmt haben. War bis in die sechziger Jahre des 5. Jahrhunderts die Demokratie aus den besonderen Voraussetzungen der athenischen Geschichte entstanden, wurde sie

bereits unmittelbar, nachdem sie als eine neuartige Verfassung bewußt geworden war, zu einem Exportartikel, dessen politischer Wert auch darin lag, daß er überall als eine feste, unveränderliche Größe bekannt war. Die Leblosigkeit der

Verfassungsgeschichte des spáten 5. und 4. Jahrhunderts hat vielleicht auch

hierin ihren Grund: Die Demokratie konnte als Exportartikel nicht mehr wachsen; sie war zu einer Ware entartet.

An den Schluß der Überlegungen über die Grenzen der Demokratie, und nur

lose mit ihnen verknüpft, sei die Frage gestellt, was für die Demokratie das Fehlen einer starken, kontinuierlichen Regierung und einer Elite, die sie trug, bedeutete. Die Beseitigung der zentralen Regierungsámter und die Übertragung der Regierung auf alle war ja das Fundament der Demokratie, und daran hat sie auch immer festgehalten. Lediglich in den ersten Jahrzehnten hatte

Perikles auf Grund seines Ansehens eine Kontinuität der Politik verkörpert und damit die Regierung gleichsam mit seiner Person identifiziert; gegen Ende der klassischen Zeit, als die Außenpolitik der Stadt von Rückschlägen und Mißer-

folgen geprägt war, haben andere Männer kurze Zeit ähnliche Positionen besessen (Eubulos, Lykurgos). Normalerweise aber lag die Entscheidungsgewalt über die politische Richtung bei der Volksversammlung, hatte faktisch auch der Rat

eine wichtige Rolle innerhalb des Entscheidungsprozesses inne und besaßen einzelne Strategen, vor allem aber die Redner (Demagogen) Einfluß in den Gremien. Solange es um Routineangelegenheiten oder Fragen geringeren Ge-

wichts ging, barg diese Regierungsform keine Gefahren. Es mußte jedoch problematisch werden, wenn die Stadt unter dem Druck starker außenpolitischer,

insbesondere militärischer Entscheidungen und Belastungen stand. Woran orientierte sich ın solchen Augenblicken die Masse? Außenpolitische Erfahrungen

hatten die Athener in der Frühphase der Demokratie während der Perserkriege und der sich an sie anschließenden Operationen beim Ausbau des Seebundes gesammelt, und sie wurden ergänzt durch das, was man bei der Verteidigung

und der Erweiterung der Herrschaft in den folgenden Jahrzehnten dazulernte. Die Feindbilder, Wertmaßstäbe und Einblicke in die Mächtekonstellationen der Zeit waren seitdem bei der Masse, die jahraus, jahrein auf der Flotte und in der

Phalanx den außenpolitischen Bereich ausgemessen und mitgestaltet hatte, unverrückbar festgelegt. Denn der außenpolitische Rahmen der Demokratie konnte sich gerade deswegen, weil die Masse alle Entscheidungen trug, nicht wandeln, konnte nicht immer wieder durchdacht, korrigiert und relativiert

werden. Die Masse kann nicht reflektieren, sondern nur auf Vorschläge reagieren. Und da der Aufstieg eines Atheners zur politischen Macht unlöslich damit verbunden war, daß er die politischen Vorurteile der Masse als seine Politik verkaufte, wurden vornehmlich die Wertungen und Feindbilder der Masse in Politik umgesetzt. Kleon war einer der Demagogen, der sich auf diese Weise an

400

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

die Spitze kämpfte, ebenso Alkibiades, ersterer eher als die Verkôrperung des Volkswillens, letzterer als zynischer Taktiker zur Befriedigung seines persónlichen Ehrgeizes.

Das Problem für die Demokratie lag bei dieser festgelegten Entscheidungssituatıon in der Gefahr, daß die Macht der Stadt falsch eingeschätzt wurde. Die Demokratie in Athen war die erste politische Massengesellschaft, und sie strotzte vor Kraft. Die Masse mußte ihre ın den Perserkriegen, bei der Schaffung

des Seebundes und dessen Verteidigung gewonnenen Erfahrungen als Maßstab setzen, und sie tat es auch. Die Macht, welche die Athener auf dem Hintergrund des erfolgreichen Perserkrieges aufbauten, war aber eine andere als die, welche

sie im Peloponnesischen Krieg zu verteidigen hatten. Perikles hat diese Relation gesehen bzw. sıe aus bitterer Erfahrung kennengelernt und darum am Ende seines Lebens zu einer zurückhaltenden Kriegführung geraten. Nach ıhm gelang es keinem Manne mehr, die Entscheidungen der Volksversammlung auch gegen den Masseninstinkt dauerhaft zu beeinflussen. Das ist die Voraussetzung für das Wahnsinnsunternehmen nach Sizilien; denn das war es, obwohl heute immer wieder einmal versucht wird, in ihm eine ratio zu entdecken. Zwischen 415 und

413 sandte Athen über 200 Kriegsschiffe, Hunderte von Lastschiffen, 3 000 athenische und mehrere tausend bundesgenössische Hopliten sowie etwa 30 000 Mann Schiffsvolk, darunter viele Athener, nach Sizilien. Was wollten sie dort?

Eine Erweiterung ihres Seebundes im Westen? Und glaubten sie das erreichen zu kônnen, gleichzeitig Sparta auf Distanz halten, den Seebund kontrollieren und die im Osten auf Revanche hoffenden Perser in Schach halten zu kónnen? Das Unternehmen erscheint uns heute als die nackte Hybris, und in der Tat gibt es nur ein einziges großes Unternehmen in der antiken Geschichte, das sich an Hybris mit der athenischen Expedition nach Sizilien messen kann, das Alexanders des Großen. Mit Alexander pflegen die modernen Interpreten indessen

milder umzugehen und in seinem Zusammenhang nicht von Hybris, sondern eher - in der Nachfolge Arrians - von der Sehnsucht (pôthos) des Königs zu sprechen, ein Unterschied in der Bewertung, der darauf beruht, daß wohl ein Mensch, aber nicht eine Masse sich verklären läßt und wir zudem die Masse der Athener recht ungôttlich und (in der Komódie) lächerlich agieren sehen (wer

móchte nicht über viele tausend kleine Alexander-Kopien lachen?), die Seele Alexanders aber uns verschlossen bleibt. Beide Begriffe, Hybris wie Pothos, stehen heute wie damals für etwas, das man an diesen Unternehmungen nicht begreift: Das Irrationale steht hier anstelle einer Erklárung. Es war indessen kaum etwas Irrationales an der Entscheidung der Athener. Sie beruhte auf einer durchaus erklärbaren, aber, wie wir heute wissen, vóllig falschen Einschátzung der athenischen Macht. Es steckte noch die Entdeckerfreude in der Ausmessung des politischen Raumes darin, auch Herrscherstolz und Machtrausch; aber nicht

diese Emotionen, sondern die falsche Einschátzung der Erfahrungswerte führten zu dem Entschluß. Und auch nur so ist es vorstellbar, daß die Athener

denselben Fehler ófter begingen und vielleicht noch nicht einmal nach der Katastrophe von 404 begriffen haben, wo die Grenzen ihrer Móglichkeiten lagen. Wie sie das Phànomen der Macht nicht in den Griff bekommen konnten,

so erst recht nicht das oben angesprochene Problem des Verfassungsdualismus.

XII. Die Grenzen der Demokratie

401

Hier war die Demokratie sozusagen von ihrer Natur her festgelegt und daher die Masse zu jeglicher Reflexion über die Richtigkeit oder Opportunität eines irgendwo im athenischen Machtbereich ın Gang gesetzten Verfassungsumsturzes unfähig.

XIII. Symptome einer Schwächung der demokratischen Grundlagen im 4. Jahrhundert Für die athenische Demokratie der klassischen Zeit bedeutete die Niederlage von 404/03 einen Einschnitt. Wenn sich auch das Regiment der „Dreißig“ nur

kurze Zeit zu halten vermochte, engten doch die schweren Kriegsfolgen die Môglichkeiten des politischen Lebens der Stadt ein. Es lasteten dabei nicht nur die hohen Menschenverluste, der materielle Schaden und die gánzliche Auflösung der äußeren Machtstellung auf den Athenern; kaum weniger bedeutsam war die Niedergeschlagenheit über den Zusammenbruch der áufteren Herrschaft und inneren Eintracht, in der sich Resignation mit Zweifeln an einer gesicherten Zukunft mischten. Je grófter die Erwartungen gewesen waren, desto härter mußten die Enttäuschungen sein, und man könnte daher glauben, daß diese Stimmung geeignet war, das demokratische Leben unmittelbar zu beeinflussen und es eventuell qualitativ zu verándern. Von manchen modernen Autoren wird denn auch das Jahr 404/03 als eine wesentliche Zäsur in der Entwick-

lung der Demokratie angesehen, und die zahlreichen Neuerungen, die damals getroffen wurden, scheinen dieser Ansicht recht zu geben. So wichtig jedoch der

verlorene Krieg sowohl für die Geschichte der demokratischen Institutionen als auch für die Entwicklung des politischen Bewußtseins der Athener war, dürfen wir, wie o. S. 64f. ausgeführt, in dem Jahre 404/03 kein Epochenjahr sehen. Die

Katastrophe von 404 bedeutete keinen Bruch in der verfassungspolitischen Entwicklung; vielmehr reagierten die Athener darauf gerade umgekehrt mit einer bewußten Anknüpfung an die politischen Traditionen der Vorkriegszeit und einem weiteren Ausbau der Organisationsformen zum Schutze der demokratischen Grundideen (o. S. 65). So wurde z. B. schon nach dem gescheiterten Putsch von 411/10 die Macht des Rates eingeschránkt; er durfte künftig auch für den ihm noch verbliebenen Zuständigkeitsbereich keine Todesurteile mehr verhängen. Später wurde auch für die Überprüfung (Dokimasie) der neuen Ratsmitglieder, die bis dahin der Rat allein vorgenommen hatte, Revision vor einem Geschworenengericht zugelassen. Das politische Gewicht des Rates wurde weiter durch die Aufsplitterung des Ratsvorsitzes zwischen der Prytanie,

der weiterhin die allgemeine Geschäftsführung zukam, und einem täglich wechselnden Ausschuß von neun Vorsitzenden, der künftig die Leitung der Sitzun-

404

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

gen von Volksversammlung und Rat übernahm, gemindert (s.o. S. 165ff. 196f.).

Der Schwächung des Rates entsprach eine Stärkung der Geschworenengerichte. Nicht nur gegenüber den Strafsentenzen des Rates, überall traten sie als die letzte Entscheidungsinstanz in den Vordergrund. Auch die politischen Prozesse wurden mehr und mehr ihnen überlassen; der Volksversammlung blieb oft nur noch die Voruntersuchung. Die Neuordnung des Gesetzgebungsverfahrens zielte ebenfalls auf eine Stärkung der Geschworenengerichte, von denen neue Gesetze oder die Korrektur alter entschieden wurden.

Hand in Hand mit der politischen Stärkung der Gerichte ging jedoch die Verschärfung der Intraorgan-Kontrolle der Gerichte im Sinne einer rigorosen Gleichheitsidee: Das Losungsverfahren wurde perfektioniert und die Gerichtshöfe, die bisher für das ganze Jahr mit einem bestimmten Gerichtsbeamten verbunden gewesen waren, nun täglich den einzelnen Prozessen zugelost (s.o. S. 211f.). Durch diese und andere Reformen wurde der gesamte Organisa-

tionsrahmen ausgebaut, die Kontrolle im Sinne der demokratischen Grundideen gestärkt und den Massen die Beteiligung am politischen Leben weiter gesichert. Wenn von dieser Entwicklung insbesondere die Geschworenengerichte profi-

tierten und sie in manchen Bereichen die Volksversammlung sogar faktisch ablösten, ist das nicht als eine Schwächung der Volksgewalt und also der Demo-

kratie anzusehen. Die Geschworenengerichte galten den Athenern nach wie vor als das Volk in einem anderen Aggregatzustand und konnten schon deswegen

nicht an dessen Stelle treten. Vor allem aber behielt die Volksversammlung zu jeder Zeit die Verfahrensherrschaft über alle Sachen. Sie konnte jeden Prozeß an

sich ziehen und alle Gegenstände behandeln, die sie zu bearbeiten wünschte. Die Übertragung von Geschäften an die Geschworenengerichte ist vielmehr als eine Entlastung der Volksversammlung zu interpretieren, die nun nicht mehr in

Geschäften zu ersticken brauchte und sich auf wichtige Fragen konzentrieren konnte. Die Reformen bedeuteten daher eine Konsolidierung der Institutionen und Zuständigkeiten, deren Entwicklung im 5. Jahrhundert ganz unsystematisch verlaufen und auf keinerlei Erfahrungen mit der völlig neuen Materie gegründet war, und also eher eine Stärkung als eine Schwächung der Demokratie. Bei allem demokratischen Eifer, der an dem Ausbau der Organisationsformen

zu erkennen ist, spüren wir doch schon in den ersten Jahrzehnten nach dem Ende des großen Krieges jedenfalls zeitweise ein leichtes Nachlassen des politischen Interesses bei der großen Menge. Das wird u.a. deutlich aus den letzten beiden Komödien des Aristophanes, den „Ekklesiazusen“ und dem „Plutos“ (392 bzw. 388 aufgeführt), in denen der Dichter nicht mehr die Kriuk

an den Zeitumstánden und den Spott über einzelne Politiker in den Mittelpunkt stellt: Die Übernahme der Herrschaft durch die Frauen in den „Ekklesiazusen“ erfolgte nicht, wie noch in der 411 aufgeführten „Lysistrate“, aus aktuellen

politischen Motiven, nämlich zur Erzwingung des Friedens mit Sparta, sondern ist in einen eher märchenhaften Rahmen gestellt, und das Problem der Armut,

das im „Plutos“ angeschnitten wird, bleibt ganz der privaten Sphäre des Menschen verhaftet. Aristophanes muß das Bedürfnis nach solchen Themen höher eingeschátzt haben als nach denen, die er bis dahin zu traktieren gewohnt

XIII. Symptome der Schwächung

405

gewesen war. Wir haben auch deutliche Hinweise darauf, daß zumindest in

demosthenischer Zeit unter den Beamten und Richtern die Angehörigen der

Mittelschicht überrepräsentiert waren, ohne daß allerdings die unterste Zensusgruppe, die Theten, gänzlich gefehlt hätte. Die Ergebnisse aus Untersuchungen

über die soziale Zusammensetzung der Gremien und Beamtenkollegien sind allerdings nicht unumstritten; die Quellen sind spärlich und nicht immer eindeutig, zudem fehlen uns Vergleichsmöglichkeiten aus dem 5. Jahrhundert,

doch überwiegen heute wohl die Stimmen derer, die mit einer stärkeren Beteiligung der Vermögenderen am politischen Leben seit der Mitte des Jahrhunderts

rechnen. In dieselbe Richtung weist die zunehmende Anwerbung von Söldnern. Das Bürgeraufgebot ist zwar nach wie vor der Kern des Heeres; aber dessen Ergänzung durch Söldner sollte nicht nur das Aufgebot mit einer zusätzlichen Truppe stärken, sondern auch die Bürger schonen, und das bedeutet doch bereits einen

Einbruch in den Milizgedanken. Die Athener haben indessen wohl kaum zu der Anwerbung von Söldnern gegriffen, weil sie von den inneren Verhältnissen her dazu gezwungen gewesen oder einfach des Soldatendienstes leid geworden wä-

ren. Sie hätten sich wahrscheinlich den militärischen Verpflichtungen weiterhin in vollem Umfang unterzogen, wenn keine Söldner zur Verfügung gestanden hätten. Diese gab es aber in wachsender Anzahl, und sie waren immer leichter

zu haben. Durch die fortgesetzten Kriege der Griechen untereinander waren nämlich viele Tausende durch Vertreibung oder Armut heimatlos geworden; sie suchten ihr Glück als Soldat und waren für viele Städte eine willkommene Hilfe. Besonders die Bauern mit Hoplitenzensus, die ihr Hof band und das politische Leben nicht besonders reizte, haben die Anwerbung von Söldnern durch die Stadt gewiß nicht ungern gesehen. Es kam hinzu, daß die Söldner, die Berufssol-

daten waren, mehr Kampferfahrung hatten als die Milizionäre und darum eine Söldnertruppe unter Umständen schlagkräftiger war als das Milizheer. Die

Athener hatten zum ersten Male für ihren Zug nach Sizilien (415-13) in größerem Umfang Sóldner angeworben. Im 4. Jahrhundert nahmen die Einsätze von Söldnern zu, und es fanden sich auch fähige athenische Feldherren, wie Iphikrates und Chabrias, die, mehr Kondottiere als Bürgergeneral, diese recht schwer zu führenden Haufen zu dirigieren vermochten. So haben die Verfügbarkeit und die Brauchbarkeit der Söldner eine möglicherweise im 4. Jahrhundert größere latente Neigung, sich vor den militärischen Bürgerpflichten zu drücken, gestärkt, und auch die außenpolitischen Bedürfnisse, die von den Athenern häufi-

gen militärischen Einsatz verlangten, haben dazu beigetragen, daß sie auf die-

sem Weg fortschritten und aus den Söldnern eine bald nur noch schwer wegzudenkende militärische Institution machten. Herrschte in Teilen des Demos Desinteresse an der Politik, ist bei den Begü-

terten und Intellektuellen sogar eine steigende Unzufriedenheit mit den herrschenden Verhältnissen spürbar. Besonders diejenigen, die nie sehr viel von der Demokratie gehalten hatten, aber auch manche loyale Bürger, welche die Politik der Volksversammlung mit den ihnen auferlegten außerordentlichen Steuerumlagen zu finanzieren hatten, suchten nach Wegen, die politischen Entscheidungen stärker in den Griff zu bekommen. An einen Umsturz war nach

406

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

wie vor nicht zu denken; angesichts dessen, was 404/03 geschehen war, wäre jeder, der Staatsstreichpläne gehegt hätte, in die Nähe der „Dreißig“ gerückt worden, und das wollten ohne Zweifel selbst die schärfsten Kritiker nicht. Man sprach vielmehr davon, die Demokratie zu „mäßigen“, und stellte sich

dabei vor, daß die Demokratie in den Anfängen, etwa unter Kleisthenes oder gar

z. Zt. Solons, maßvoll gewesen und erst 462/61 durch Ephialtes ihre spätere extreme Form erreichte. Die Demokratie der eigenen Zeit wurde jetzt von vielen

als das Produkt einer Entwicklung gesehen, in der sie sich zunehmend radikalisiert habe und in einer vorletzten Stufe dann, als die Formen der letzten Phase

schon weitgehend entwickelt waren, zunächst noch durch das altehrwürdige und einflußreiche Gremium des Areopags, der Versammlung der ehemaligen Archonten, in der politischen Balance gehalten wurde, um dann 462/61 in seine

radikale Endstufe gleichsam umzukippen (s.o. S. 61f.). Diese bis ins Extreme entwickelte Form der Demokratie galt es nun wieder zu den moderaten Anfängen zurückzuführen. Die „Verfassung der Väter“, wie die so konstruierte „ur-

sprüngliche“ Demokratie genannt wurde (s.o. S. 375f.), richtete sich vor allem gegen die Beteiligung der breiten Masse am politischen Leben. Man wollte das politische Recht auf diejenigen, die als Schwerbewaffnete dienten, und mithin auf die grundbesitzende Mittelschicht beschränken, und in dem organisatorischen Aufbau sollte künftig dem Areopag „wieder“ größeres Gewicht eingeräumt werden, ja ihm jedenfalls in der Vorstellung des Isokrates, die er vor allem in seinem wahrscheinlich 354 verfaßten „Areopagitikos“ entwickelt hat, sogar

eine Art Leitungsfunktion in der Stadt zufallen. Der Areopag war zwar keine

Versammlung der Vornehmen mehr, aber dadurch, daß seine Mitglieder auf Lebenszeit bestellt wurden, enthielt er doch ein Element der Kontinuität und

Tradition, das der jährlich wechselnde Rat der Fünfhundert nicht hatte.

Wie immer man sich diese gemäßigte Demokratie dachte, es war eine andere Demokratie, und man gewöhnte sich somit daran, sich verschiedene Ausformungen der Demokratie vorzustellen, unter denen man wählen konnte.

Schon im Jahre 411 läßt Thukydides Peisandros, einen der Vorkämpfer für die Oligarchie, vor der athenischen Volksversammlung sagen, daß es darum gehe, nicht in derselben Art von Demokratie wie bisher zu leben (8,53,1). Der Begriff

Demokratie ist nicht mehr eindeutig. Da auch im 4. Jahrhundert der oligarchische Umsturz kaum je zur Debatte stand, zudem der Begriff Oligarchie durch das Jahr 411 und insbesondere durch die „Dreißig“ von 404/03 die Tyrannis bedeutete, suchte man mittels einer Erweiterung bzw. Aufweichung des Begriffs Demokratie wenigstens in die Nähe des ersehnten Zieles zu gelangen. Demokratie wurde am Ende zu einem Allerweltswort für jede Art von nichtmonarchi-

scher Regierung, so daß Demetrios von Phaleron, der makedonische Statthalter in Athen, von der durch ihn 317 eingerichteten Staatsform, in der das politische Recht an einen Zensus geknüpft und die Staatsgewalt vor allem auf eine Reihe außerordentlicher Beamter und den Areopag gestellt war, sagen konnte, daß er die Demokratie nicht nur nicht gestürzt, sondern sie sogar verbessert habe (Strab. 9,1,20). Die Form der Verfassung war zu einem Spiel mit Worten geworden. Die Gedanken einer „Zähmung“ der Demokratie blieben vorerst Wunsch-

XIII. Symptome der Schwächung

407

traum. Aber es war nicht unbedenklich, daß alle Unzufriedenen ın solchen

Überlegungen ein gemeinsames Ziel erblicken und dadurch gegebenenfalls zu einer politischen Gruppe zusammenfinden konnten. Vereinzelte, aber bemerkenswerte Veränderungen im organisatorischen Aufbau der Demokratie weisen auch darauf hin, daß solche Überlegungen Wirkung zeigten. Die Übertragung der Beamtenkontrolle und Gesetzesaufsicht auf den Areopag im Jahre 403 blieb zwar, nach dem Schweigen unserer Quellen zu urteilen, Episode; aber seit

der Mitte des Jahrhunderts, nach dem verlorenen Bundesgenossenkrieg und der sich aus ihm ergebenden großen Finanzmisere, erhielt der Areopag neue Zustándigkeiten, die ihm zeitweise nicht unbedeutenden Einfluß auf das politische Geschehen sicherten. So hat er - sei es ausdrücklich gebeten, sei es aus eigenem Antrieb -, eine ausgedehnte Tätigkeit als untersuchende und gutachtende Behörde entwickelt, wie er sich denn z.B. in einem Gutachten (apópbasis) nach Chaironeia für die Wahl Phokions (und damit gegen die des Charidemos) zum

leitenden Strategen bei der Verteidigung der Stadt aussprach, ferner 335, wahrscheinlich auf Volksbeschluß, die von Alexander geforderte Untersuchung über die Verwicklung von Athenern in den „Aufstand“ Thebens und 324 eine andere

über den Verbleib der Harpalos-Gelder, hier ohne Zweifel auf ausdrücklichem Wunsch der Volksversammlung, vornahm. Unmittelbar nach der Schlacht von Chaironeia wurden ihm sogar die Inhaftierung und Aburteilung von Deserteu-

ren und Landesverrátern übertragen. Diese sehr weitgehenden Zuständigkeiten - der Areopag hatte hier ja gleichsam die Funktion einer Notstandsbehórde erhalten - galten indessen nur kurze Zeit, und manchen erschien auch ohnedem

die neue Rolle des Areopags so bedenklich, daß bei Erneuerung des Gesetzes gegen die Aufhebung der Demokratie durch Eukrates im Jahre 336 (s.o. S. 326) den Areopagiten für den Fall eines Umsturzes ausdrücklich jede politische Tátigkeit untersagt wurde. Sah man in ihnen potentielle Umstürzler oder Helfer von Umstürzlern? Hatte der Areopag nach 355 und 336 auf diese Weise eine Art

qualifizierte Ratgeberrolle erhalten, welche sich die bedrángten Athener in der kritischen außenpolitischen Situation nach dem verlorenen Bundesgenossenkrieg und nach der Niederlage von Chaironeia zu ihrem Schutz gegen unüberlegte Antráge geschaffen und dieser Institution dabei die Umrisse einer zwar nicht durchgángigen, aber doch zeitweise, in der Regel nur auf besonderen

Wunsch des Volkes tätig werdenden „Regierung“ gegeben, trug diese herausragende Stellung des Areopags doch nicht die antidemokratischen Züge, die ihm etwa Isokrates und auch Aristoteles in ihren Schriften zumaßen. Der Areopag wurde vielmehr nach 355 als Schutzschild der Demokratie aufgefafit. Auch die andere bedeutende institutionelle Änderung dieser Zeit, die Konzentrierung der Finanzverwaltung in den Händen einzelner, erfolgte nicht in antidemokratischer Absicht, sondern gerade zum Schutz bzw. zur Stárkung der bestehenden Ordnung und ihrer Kráfte. Aber sie hatte doch auch ihre bedenkliche Seite. Denn die seit 354/53 eingerichteten aufterordentlichen Finanzámter, die bis zum Ende der Demokratie im Jahre 322 noch verschiedentlich reformiert wurden (s. S. 257f.), erhielten durch die Konzentration der gesamten Finanzge-

barung der Stadt bei ihnen außerordentliches Gewicht, und die Männer, die diese Stellen innehatten, gewannen politische Macht, welche die Demokratie zu

408

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

sprengen geeignet war. Im Jahre 352 ruft Demosthenes in der Rede, die er gegen Aristokrates schrieb, aus: „Früher war das Volk Herr über die Staatsverwaltung, heute ist es deren Diener", und er zielte damit auf Eubulos, der zu dieser Zeit

den Finanzsektor beherrschte.

Für den Rückzug vieler Bürger aus der Politik und für die allgemeine Geldnot der Stadt wird heute von den weitaus meisten Historikern eine beginnende oder auch schon weit fortgeschrittene wirtschaftliche Krise verantwortlich ge-

macht, welche die gesamte griechische Welt erfaßt haben soll. Als Symptome der Krise werden vor allem der wachsende Unterschied zwischen Armen und Reichen, die Proletarisierung großer Teile der städtischen Bevölkerung, die

Konzentration des Bodens in der Hand weniger Grofigrundbesitzer, die Zunahme von Sklaven als Arbeitskráfte der Vermógenden und Arbeitslosigkeit genannt. Manche Gelehrte interpretieren die sozialen Spannungen in den Städ-

ten als Klassenkampf und sehen in den verschiedenen Gruppen der Gesellschaft politische Parteiungen. Über die Ursachen der vermuteten Krise werden ver-

schiedene Thesen aufgestellt. Die lange herrschende ,,Markttheorie" von Rostovtzeff, wonach die industrielle Verselbständigung der Randgebiete des griechischen

Kulturraumes

im 4. Jahrhundert die Nachfrage und den Handel

stocken ließ, wird heute nur noch selten aufrechterhalten. Aber welche Erklä-

rungen auch immer angeboten werden: Die behaupteten Symptome lassen sich bei weitem nicht überall in Griechenland nachweisen, und vor allem gelten sie, wie selbst viele Vertreter der „Klassenkampftheorie“ zugeben, gerade nicht oder nur sehr bedingt für Athen. Es gibt nämlich hier weder eine Konzentration des anbaufähigen Landes in den Händen weniger noch hören wir etwas von Arbeitslosigkeit. Auch läßt sich nicht nachweisen, daß die Armen andere politische

Ziele vertreten hätten als die Reichen; die großen Fragen der Außenpolitik, welche die Menschen damals am meisten bewegten, spalteten die Bürger nicht in Arme, Reiche und Mittelständler, die unterschiedliche politische Programme vertreten hätten. Die Entscheidungen waren, soweit sie nicht durch Sachzwän-

ge, wie die Kornversorgung der Stadt, diktiert wurden, eher von persónlichen Bindungen als von wirtschaftlichen Interessen bestimmt. Wir kónnen also keine Wirtschaftskrise als Grund für den ja auch nur sehr allmählichen Wandel des

politischen Bewußtseins und die vereinzelten Veränderungen der demokratischen Organisationsformen ausmachen. Mit Sicherheit läßt sich lediglich feststellen, daß der finanzielle Druck auf die Vermógenden härter wurde; auch wenn die lauten Klagen der Besitzenden übertrieben sind, bleibt doch der

deutliche Eindruck, daß der finanzielle Spielraum außergewöhnlich eng wurde. Aber die Leistungsfähigkeit der Stadt war bis zur makedonischen Okkupation

weiterhin groß, und der Erfolg der finanzpolitischen Maßnahmen seit der Mitte des Jahrhunderts, durch welche die Finanzverwaltung in den Hánden weniger Beamter konzentriert wurde, beweist, daß die erforderlichen Gelder bei ordent-

licher Finanzverwaltung vorhanden waren. Es mógen im Athen des 4. Jahrhunderts manche wirtschaftlichen Veränderungen vor sich gegangen sein; sie hatten indessen keinen merklichen Einfluf auf die Formen des politischen Verhaltens und den Inhalt der politischen Ent-

scheidungen. Auch wenn es richtig ist - und es spricht manches dafür -, daß die

XIII. Symptome der Schwächung

409

Gruppen der Metóken, Freigelassenen und der sich in Athen aufhaltenden

Fremden im Verhältnis zu den Bürgern größer geworden und die Anzahl der Reichen unter ihnen unverhältnismäßig gewachsen war, lassen sich daraus kaum Konsequenzen für eine veränderte innenpolitische Gesamtsituation ziehen; denn es gibt nicht den geringsten Hinweis auf eine politische Aktivität dieser

Gruppen. Wirtschaftliche Interessen spielten natürlich auch im 4. Jahrhundert eine Rolle für die Gestaltung der Politik; aber sie waren im großen ganzen nicht umfangreicher oder von anderer Qualität als ım 5. Jahrhundert. Die athenische

Demokratie brach nicht infolge einer Wirtschaftskrise zusammen; sie wurde von außen her, durch die Makedonen, beiseite gefegt. War Athen bis auf das Jahr 322 im ganzen gesehen noch eine funktionierende Demokratie gewesen, spüren wir doch, wie gesagt, schon in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts ein Nachlassen der inneren Spannung, und vor allem nach

dem verlorenen Bundesgenossenkrieg, also nach 355, werden auch vereinzelte Schwächen bemerkbar. Die genaue Ursache für diese Veränderungen anzugeben, ist unmöglich. Es mögen mehrere Faktoren hineingespielt haben. Daß unter ihnen eine wirtschaftliche und soziale Krise das größte Gewicht gehabt hat, darf man nach den vorangehenden Ausführungen wohl verneinen. Ein großes Problem war die Geldnot, die viele Wohlhabende der Demokratie entfremdete. Die wichtigste Ursache des schleichenden Wandels ist aber wohl in

dem völlig veränderten außenpolitischen Rahmen der Zeit zu sehen. Seit den Anfängen war die Demokratie mit der Flotte und den daraus resultierenden

herrschaftspolitischen Ambitionen verbunden gewesen. Die Flotte mit den auf ihr tätigen Rudermannschaften hatte die Massen in einen lebendigen Konnex

zur Politik gebracht, und der hegemoniale Anspruch der Stadt galt seitdem allen Athenern als eine Konstituante aller Politik, die ohne eine qualitative Veränderung auch der inneren Form nicht einfach aufgegeben werden konnte. Ohne einen Herrschafts- oder zumindest Einflufibereich lebte die Stadt das Dasein eines Amputierten. Das demokratische Athen vermochte zwar ohne die Ressourcen einer Herrschaft zu existieren; aber die Demokratie war nicht in einer

Provinzidylle entstanden, und weder haben sich die Athener im Verlauf der

Jahrzehnte danach gesehnt noch ließen die äußeren Verhältnisse ein solches politisches Dasein überhaupt zu. Athen lebte seit den Perserkriegen intensiver als jede andere griechische Stadt, und selbst in drückender Finanznot hat es sich noch das teuerste Kriegsinstrument, eine große Flotte, geleistet; 353/52 besaßen die Athener 349 Trieren (s.u. S. 493), und auch wenn davon eine große Anzahl nicht seeklar war, waren es doch mehr als die Schiffe aller anderen griechischen

Städte zusammengenommen. Aber der sich mehr und mehr einengende außenpolitische Handlungsspielraum und die immerwährende Finanznot bedrückte

die Wohlhabenden, lief die Massen resignieren und verwies alle auf die Stadt selbst. Es ist ein Trost, daß die Athener am Ende bewiesen, daß sie ihre politische Ordnung nicht kampflos aufgaben. Chaironeia und Amorgos, nicht die Selbstaufgabe, beendeten die Demokratie.

Mit dem Jahr 322 war die Demokratie in Athen nicht endgültig zu Grabe getragen. Nach einem oligarchischen Regiment durfte die Demokratie durch die

Gnade des makedonischen Generals Polyperchon für ein Jahr wieder auferste-

410

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

hen (318/317), und nach der Herrschaft des Demetrios von Phaleron (317-307)

erhielten die Demokraten erneut Oberwasser. Mancherlei Veränderungen der Verfassungsform und schmachvolle Tyrannei der Makedonen mußten die Athener über sich ergehen lassen, bis sie nach der Niederwerfung der Makedonen und Seleukiden durch die Römer wieder eine Demokratie einrichten konnten.

Aber die athenische Demokratie der hellenistischen Zeit trug ihren Namen nur von dem rein formalen Aufbau der Institutionen. Die Volksversammlung wurde von hohen Beamten und Gremien kontrolliert und gelenkt, die Gerichtshöfe, das Kernstück des demokratischen Lebens, verschwanden nach und nach, und

die Leiturgien wurden mit den Magistraturen verknüpft, die damit den Reichen reserviert blieben. Die Demokratie dieser Zeit war nichts anderes als eine Oligarchie im demokratischen Festgewand.

XIV. Leistungen der Demokratie Die Frage danach, was Athen für die Athener, für die Griechen insgesamt und

für die Welt geleistet hat, ist oft gestellt und durchweg mit dem Hinweis auf die Blüte von Literatur, Philosophie, Wissenschaft und Kunst, aber auch auf die

außenpolitischen Erfolge der Stadt, durch die ein großes Macht- und Wirtschaftsgebiet geschaffen und die Bausteine für eine panhellenische Idee gelegt

wurden, beantwortet worden. Was immer aber gesagt wurde, die Demokratie spielt in den Enkomien nur eine untergeordnete Rolle, ja sie wird eher negativ gesehen oder sogar scharf kruisiert. Jacob Burckhardts Kritik steht für viele. Die Position George Grotes, der einer der wenigen war, der der athenischen Demokratie in einem positiven Sinne gerecht zu werden suchte und ihren verfassungspolitischen Wert erkannt hatte, blieb eher isoliert. Die neueren Arbeiten zeichnen sich dadurch aus, daß sie sich meist eines wertenden Urteils enthalten oder

es hinter Gelehrsamkeit verbergen. Obwohl die Erforschung der athenischen Demokratie in den vergangenen Jahrzehnten wie nie zuvor vorangekommen ist,

scheint den Gelehrten das innere Engagement zu ihrem Gegenstand zu fehlen. Die Bindung an die Einzelforschung, die Scheu vor einem Urteil sub specie aeternitatis und die Abneigung gegenüber Vergleichen, die bekanntlich immer hinken, halten wohl die meisten zurück. Bei aller Subjektivität des Urteils, die

mit einem solchen Unterfangen notwendig verbunden ist, soll doch im folgenden versucht werden, demjenigen, der sich darüber Gedanken machen will, die Richtung anzugeben, in die seine Überlegungen gehen kónnten. - Die Gedanken sind hier lediglich resümierend aneinandergereiht. Für die Begründung im

einzelnen sei auf die Ausführungen in der Darstellung verwiesen. Die ohne jeden Zweifel größte Leistung der athenischen Demokratie liegt in der Verwirklichung einer Gesellschaft von politisch gleichberechtigten Bürgern. Mag es schon früher bei den Griechen oder anderen Vólkern die Idee der Gleichheit - etwa als Gleichrangigkeit unter Adligen - gegeben haben: Die Organisation der gesamten freien Bewohner einer Stadt als eine politisch gleiche

Gesellschaft und ihre praktische Verwirklichung ist die originelle Leistung der Athener. Und es gab nicht nur die Idee, nicht lediglich die schóne Deklaration der Gleichheit, sondern sie wurde institutionell durch Hunderte von Regelungen in der öffentlichen Ordnung abgesichert. Jede Behörde der Athener, alle

412

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Normen des öffentlichen Zusammenlebens lassen den geradezu fanatischen Willen erkennen, den Gleichheitsgedanken ın dem organisatorischen Aufbau der Bürgerschaft zu verankern. Da der Gedanke der politischen Gleichheit mit

der Verwirklichung ebendieser Gleichheit in der politischen Praxis eine Einheit bildet, ist gleichzeitig auch die Verantwortlichkeit des einzelnen für das Gemeinwohl in ihr enthalten. Politisches Engagement und Gemeinsinn gehören

zu dieser Demokratie, und dies ist in einem Ausmaß mit ihr verbunden und in ihr verwirklicht worden, daß sie noch heute und angesichts der politischen

Apathie in der Massendemokratie gerade heute Vorbild sein kann. Als ein Ausfluß der Gleichheitsidee ist auch die Öffentlichkeit der Politik anzusehen. Was manchen Kritikern der Antike und Moderne so abstoßend, unheimlich

oder auch lächerlich erschien, die Betriebsamkeit der Athener, das Gedränge und Gerenne auf dem Markt und der Pnyx, die offenbar unerschöpfliche Energie der Massen, ist vielmehr das der athenischen Demokratie besonders Eigentümliche und eine ihrer herausragendsten Leistungen: Die verantwortliche und offene Austragung des politischen Streits. Mit Ausnahme von ganz wenigen Sitzungen des Rates über außenpolitische Gegenstände, die von ihrer Natur her

eine vorläufige Vertraulichkeit erforderten, war alle Politik eine Sache der Of-

fentlichkeit. Sie galt dabei nicht nur für die Debatten in den Sitzungen der Versammlungen und Gerichte, sondern auch für die privaten politischen Äußerungen der Athener; denn sieht man einmal von einigen Klubs ab, gab es keine Organisationsformen, in denen politische Überlegungen, abgeschirmt von den übrigen Bürgern, hätten angestellt werden können. Ein solches Ausmaß an

Offentlichkeit ist bis auf den heutigen Tag nicht wieder erreicht worden und auch wohl nicht mehr zu verwirklichen. Die totale Verwirklichung des Gleichheitsgedankens, die daraus entspringende Aktivität der Athener und die Offentlichkeit aller Politik kónnten bei dem Betrachter die Befürchtung wecken, daß in Athen der Nährboden für eine totalitäre Entartung der Demokratie vorhanden gewesen wäre, und er mag aus

bekannten und berüchtigten Justizskandalen Anzeichen dafür entnehmen. Jacob Burckhardt hat eindrucksvoll das erstickende, lähmende und angsterfüllte Klima einer Massenherrschaft, die jedes liberale Gefühl in einer scheinbar un-

entrinnbaren Apparatur des Terrors ersterben läßt, als für die athenische Demokratie typisch bezeichnet (Bd. I S.227ff.). Aber sein Urteil ist ungerecht und falsch; Burckhardt war auf Grund seiner Abneigung gegen die politisch akuve Menge auch unfähig, ein angemessenes Urteil zu treffen. Tatsáchlich verhinderte

schon der Aufbau der politischen Organisation in Athen jeden Ansatz in diese Richtung; denn die staatliche Organisation war ausschließlich zur Verwirklichung der Gleichheit und zur Durchsetzung der Gesetze errichtet worden. Es

fehlte die Apparatur zur Überwachung des Menschen und vor allem auch die etablierte, institutionell abgesicherte politische Lehrmeinung, an die alle glauben sollten. Die Gefahr, an die Burckhardt denkt, nämlich die Laune der Masse,

mochte zu Unrecht führen; aber Launen gehen vorüber; sie sind keine in sich selbst ruhende Kraft, und oft hat die Menge auch ihr Unrecht erkannt und,

wenn nicht wiedergutgemacht, so doch bereut. Der zuletzt gebrachte Gedanke führt zu einer wenig beachteten, eher bestnt-

XIV. Leistungen der Demokratie

413

tenen Leistung der Athener: Sie haben die Demokratie auch als eine Herr-

schaft der Gerechtigkeit gesehen und zu verwirklichen gesucht. Daß der Nutzen der Stadt und die Gerechtigkeit nicht voneinander zu trennen sind, hat

man in Athen oft gesagt und dabei natürlich an das innere Leben, nicht an die außenpolitischen Ziele gedacht. Man mag nun das athenische Rechtssystem für ineffektiv und die Richter für unfähig halten, die Rechtssätze in ihrem Urteil angemessen zu berücksichtigen, ja man mag sogar das ganze Prozeßverfahren mit seinem starren Formalismus und der Bedeutsamkeit des rhetori-

schen Elements in der Beweisführung für ein ausgesprochenes Hindernis einer effektiven Rechtsprechung ansehen (was alles sehr fragwürdige Einlassungen sind): Niemand kommt jedoch um die Feststellung herum, daß die Gesetze ein allerseits anerkanntes Gerüst der Demokratie waren. Die Athener haben die Demokratie als die Herrschaft des Gesetzes angesehen, und die forensische

Praxis zeigt, daß sich alle an den Gesetzen orientierten. Um den Gerechtigkeitssinn des athenischen Demokraten richtig würdigen und als eine Eigentümlichkeit der Demokratie erkennen zu können, muß

man

ihn auf dem

Hintergrund einer aristokratischen Vergangenheit sehen, in der starke soziale Mächte einer Verwirklichung der Gerechtigkeit insoweit im Wege gestanden hatten, als sie nicht nur eine gerechte Rechtsprechung durch den Einsatz personaler Macht

unterdrücken

konnten, sondern schon durch ihr bloßes

Dasein die Vorstellung unterdrückt hatten, daß das Recht für alle in gleicher Weise zu verwirklichen sei.

Erstaunen, wenn nicht gar Bewunderung erweckt die Stabilität der Demokratie. Wie hoch man die darin steckende politische Leistung einzuschätzen hat, wird jedem durch einen Blick auf die staatstheoretische Literatur der Antike und Neuzeit deutlich, für die eine Kernfrage darin liegt, welche Verfassung theoretisch die größte Dauerhaftigkeit verspricht und wie man eine gegebene

Verfassung möglichst dauerhaft einrichtet. Die Demokratie halten alle Theoretiker für unbeständig, und die Ursache sehen so gut wie alle in der Launenhaftigkeit und Wankelmütigkeit einer Masse, die in ihrer Unberechenbarkeit Chaos schafft oder alle Macht schließlich einem, der sie zu betören weiß, hinwirft. Die

150 Jahre der athenischen Demokratie zwischen Kleisthenes und dem Beginn der makedonischen Suprematie - nur diese Jahre dürfen wir hier im Auge haben, obwohl die Athener ihre Verfassung noch ın der römischen Kaiserzeit eine Demokratie nannten - sind aber von Stabilität geprägt. Die Umstürze von 411 und 404/03 erfolgten unter außenpolitischem Druck, und sie waren kurz. Aus dem Binnenraum der Demokratie kamen keine Kräfte, welche die politische Ordnung gefährdet hätten. Die Ursachen sind vielfältig, und auf sie wurde bereits hingewiesen (o. 5. 348ff.). Es spielte da der Respekt vor dem Gesetz hinein, die Achtung vor der Tradition, das Fehlen jeglicher ständischer Organisationsformen, an die sich politische Gruppierungen hätten anschließen können, die relative Stärke einer grundbesitzenden Schicht und die Vorteile der demokratischen Verfassung gerade für die ärmeren Bürger. Die Dauerhaftigkeit, wird man sagen müssen, wurde mehr den Umständen verdankt, als daß sie von

den Athenern im eigentlichen Wortsinne geleistet worden wäre. Aber sie ist doch auch nicht ohne den Einsatz der Athener zu denken, der die demokrati-

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

schen Formen lebendig hielt, nicht ohne den Willen, das Gesetz als Richtschnur des Handelns zu nehmen, und nicht ohne eine gewisse Großzügigkeit des Denkens, die dem Reichen und Andersdenkenden das Seine läßt und damit das

innenpolitische Klima nicht radikalisiert. Und damit kommen wir zu einem anderen Phänomen der Demokratie, nämlich zu ihrer Toleranz.

Die Höhe des literarischen und künstlerischen Schaffens in Athen ist nicht

ohne die tolerante Einstellung der Athener gegenüber allen Lebensphänomenen denkbar, die vielen unter ihnen fremd oder gar verhaßt sein mochten. Die politische Komödie des 5. Jahrhunderts beweist, daß die Toleranzschwelle verháltnismáftig hoch lag und auch gerade die Kritik an typischen Handlungsmustern der Demokratie, sogar die Anschuldigung krimineller oder unmoralischer

Handlungsweise einschloß. Die Gleichheit führte in Athen eben nicht zu Bespitzelung,

Mißgunst

und

einer

allgemeinen

Gleichmacherei.

Die

Be-

schränkung der Gleichheitsidee auf den politischen Raum hat das verhindert. Aber es ist nicht bloß dies anzumerken, sondern auch jener uns heute eher

befremdliche Umstand, daß die Athener diese Begrenzung der Gleichheit niemals überschreiten wollten. Das hat seine Gründe, die meist außerhalb der

Verfügungsgewalt der Athener lagen (sie wurden oben bei der Erórterung der Stabilität der Verfassung genannt), aber auch in Zeiten äußerster Bedrängnis hat

kein Athener nach der Expropriation der Reichen oder nach dem Verbot der Kritik gerufen. Zum Schluf sei unter den Leistungen der athenischen Demokratie ein Bereich genannt, der den Athenern von den Zeitgenossen eher als Untat oder gar

Verbrechen angelastet wurde: die Bildung eines riesigen, für die Griechen bis dahin schier unglaublichen Machtbereiches. Es ist dabei nicht nur die Energie und Beharrlichkeit, die Ausdauer und die Leidensfähigkeit anzuerken-

nen, die in dem Ausbau, der Erweiterung und Bewahrung des Machtbereiches lagen, obwohl keine griechische Stadt sich in dieser Hinsicht mit Athen messen kann. Es ist vor allem daran zu denken, daß die Athener diesen Machtbe-

reich auch durchorganisiert, sie aus ihm eine politische und wirtschaftliche Einheit gemacht und damit einen Machtblock geschaffen haben, der die auf

die Stadt zugeschnittenen Dimensionen griechischer Außenpolitik sprengte. Das „Reich“ der Athener hat vor allem in der Zeit der deutschen Reichsbil-

dung die Bewunderung der Deutschen gefunden. Heute wird man eher die negativen Seiten sehen, wird auf die brutale Herrschaftspraxis schauen, die

den zu Untertanen gewordenen Bundesstádten keinen Anteil an der politischen Entscheidung einráumte und ihnen die Souveränität nahm, wird ferner die Hybris der Athener im Umgang mit der Macht tadeln, und man wird schließlich auch darauf hinweisen müssen, daß es bei aller Bewunderung doch recht fraglich ist, ob der politische Panhellenismus das Ziel oder nicht eher den Untergang der griechischen Geschichte bedeutet hat. Aber daß eine Stadt, und wenn auch eine große, zu einer solchen außenpolitischen Dimension gelangen konnte, war unbeschadet solcher Einwände doch zumindest eine außerge-

wöhnliche Kraftanstrengung, die Erstaunen, wenn nicht Bewunderung erregt, und sie wurde ausschließlich der Demokratie verdankt: Ohne das Engagement

XIV. Leistungen der Demokratie

415

der Massen hätte die Herrschaft weder aufgerichtet noch erhalten werden können. Wie immer man daher über diese Herrschaft denkt: In das Urteil über sie

ist jedenfalls bis zu einem gewissen Grade die Demokratie mit einbezogen.

XV. Demokratien außerhalb Athens im 5. und 4. Jahrhundert Viele moderne Darstellungen der klassischen Zeit gehen davon aus, daß am Ende des 6. oder Anfang des 5. Jahrhunderts sich fast überall, wo Griechen in Städten lebten, die demokratische Staatsform durchgesetzt hat. Man stellt sich

dabei vor, daß so, wie als Folge der großen sozialen und wirtschaftlichen Krise der griechischen Welt im 6. Jahrhundert die Aristokraten den Schwerbewaffneten politische Rechte hatten einräumen müssen und auf diese Weise der Wandel der inneren Ordnung zu einer isonomen Gesellschaft eingeleitet worden war („Hopliten-Polis“), sich darauf die Städte auf Grund jeweils eigener Voraussetzungen zur Demokratie „weiterentwickelt“ hätten. Die Entwicklung ist danach eine allgemeine, und sie verläuft in Stufen, auf denen jeweils immer mehr

Menschen in den politischen Raum vordringen, nämlich von der Aristokratie über die isonome Gesellschaft der Schwerbewaffneten (Hopliten) zur Demokratie, wobei der Isonomie der Hopliten meist nur die Rolle einer zur Demokratie überleitenden Zwischenform zukommt und sich manche Gelehrte nicht schlüs-

sig sind, ob sie sie vielleicht nicht schon zur Demokratie zählen sollten. Auf ein Fundament von Quellen kann sich diese Vorstellung von der Entwicklung der griechischen Stadtverfassungen nicht stützen. In ihr ist vielmehr

der Kreislauf der Verfassungen, wie ihn erst etliche Generationen später Platon und Aristoteles lehren sollten, bereits vorausgesetzt, und zwar sowohl der Ge-

danke, daß die Verfassungen in einer bestimmten Reihenfolge mechanisch ablaufen, als auch der, daß an diesem absolut gesetzten Mechanismus mehr oder weniger alle griechischen Stádte teilhaben. Demgegenüber ist mit Nachdruck hervorzuheben, daß nach der Auflösung der Adelswelt, die nach Verhaltensweise und Ethik alle Griechen weit über zwei Jahrhunderte in einer einheitli-

chen politischen Kultur zusammengebunden hatte, diese Einheit der politischen Form gerade verlorengegangen ist. Die politischen Erben des Adels hatten unterschiedliche Ziele und stützten sich auf unterschiedliche Formen; neben

denen, die sich als Schwerbewaffnete auszurüsten vermochten, standen Tyrannen, einzelne Familien oder die Wohlhabenden einer Stadt. Die Hopliten mógen sich schließlich in den weitaus meisten Städten durchgesetzt haben. Für die

Einrichtung von Demokratien fehlte indessen jede gemeinsame Ausgangsbasıs.

418

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

Lediglich dann, wenn man den Begriff „Demokratie“ sehr weit faßt und in ihm jede Verfassungsform,

in der nicht mehr die Adligen, sondern eine breitere

Schicht die Stadt leitet, erkennen will, könnte man bereits für das 5. Jahrhundert von einer umfassenden demokratischen Bewegung sprechen. Aber der erweiterte Demokratiebegriff gehört ın das späte 4. Jahrhundert; er ist nicht der, den die Griechen im 5. Jahrhundert hatten. Damals ist „Demokratie“ fest mit der uns aus

Athen bekannten politischen Ordnung verbunden; sie enthält nicht lediglich die Vorstellung, daß eine größere Menge (démos, pléthos) die Entscheidungen fällt, sondern vor allem auch, daß die zentrale Regierungsgewalt zugunsten einer Masse von Funktionären aufgehoben ist, die Ausübung der politischen Rechte durch die

Zahlung von Tagegeldern effektiv möglich gemacht wird, die Losung, Qualifikationsprüfung und Rechenschaftspflicht der Funktionäre peinlich genau durchgeführt und schließlich, um nur noch ein weiteres Element zu nennen, die Gerichts-

barkeit von großen Geschworenenhöfen wahrgenommen wird. Es wurde ο. 5. 47ff. ausgeführt, daß die Bedingungen für eine solche Staatsform und die Möglichkeit, sie über längere Zeit hindurch aufrechtzuerhalten, allein in Athen zu finden sind. Die Demokratie kann schon von ihren besonderen Organisationsfor-

men her nicht das Produkt einer allgemeinen, sondern nur das einer ganz besonderen, nämlich der athenischen Entwicklung sein. Wir haben demnach davon auszugehen, daß es bis zur Mitte des 5. Jahrhun-

derts Demokraue im strengen Sinne des Wortes nur in Athen gegeben hat und alle demokratischen Verfassungen, die wir seitdem in anderen Städten nachweisen kónnen, nicht unabhängig von dem athenischen Beispiel entstanden sind. Es ist für uns indessen nicht immer zweifelsfrei festzustellen, ob die Demokratie in einer Stadt durch eine eigenstándige demokratische Bewegung, die sich lediglich

an dem athenischen Muster orientierte, etabliert oder von Athen gewaltsam oktroyiert worden ist. Da alle frühen Demokratien auRerhalb Athens, die wir kennen, im athenischen Machtbereich liegen und etliche von ihnen mit Sicher-

heit nach einer Revolte gegen Athen eingerichtet worden sind, liegt die Vermutung nahe, daf die meisten, wenn nicht alle, als eine Konsequenz athenischer

Machtpolitik anzusehen sind. So erhielt Erythrai an der Westküste Kleinasiens wohl im Jahre 453/52 unter militárischem Druck Athens eine demokratische

Verfassung; nach der Schlacht von Oinophyta (457) richteten die bôotischen Städte außer Theben mit athenischer Hilfe Demokratien ein; ebenso mußten

Chalkis/Eubóa und Kolophon nach ihrem Abfall und der erneuten Eingliederung in den Seebund 447/46 bzw. 446/45 zur Demokratie übergehen. Bei allem

Stolz auf ihre eigene Verfassung haben die Athener den politischen Kurswechsel doch nicht um seiner selbst willen, etwa getragen von einem politischen Sendungsbewußtsein, den untertänigen Städten aufgezwungen. Sie tolerierten vielmehr im allgemeinen deren gewachsene Verfassungen und organisierten nur

dann den inneren Umsturz, wenn eine Stadt sich gegen ihre Herrschaft aufgelehnt hatte und abgefallen war. Die demokratische Verfassung setzten die Athener hier als Herrschaftsmittel ein; sie zwangen sie den wankenden Bundesgenossen gewaltsam auf, selbst wenn in ihnen nur eine verschwindend geringe Min-

derheit für die Demokraue eintrat oder sogar überhaupt kein Ansatz in dieser Richtung vorhanden war.

XV. Demokratien auRerhalb Athens

419

Auf diese Weise wurde die Verfassungsfrage für alle griechischen Städte, die in

den Bannkreis Athens gerieten, gleichzeitig zu einer Frage nach der außenpolitischen Orientierung, und da die einzig nennenswerte Macht neben Athen Sparta war, wurde diese Stadt nicht nur einfach zum machtpolitischen Rivalen, son-

dern auch zur verfassungspolitischen Alternative. Wer von Athen fortstrebte, für den war Sparta nicht nur der militärische Schutzschild, sondern auch der Bundesgenosse in der Innenpolitik. Sparta trat dabei als Hort oligarchischer Tradition auf, obwohl es von seiner eigenen inneren Ordnung her dazu überhaupt nicht geeignet war. Die Spartiaten selbst fühlten sich vielmehr als Gleiche und hatten zudem zum Besitz, der die Oligarchen ja auszeichnet, ein völlig passives Verhältnis; sie mochten den Außenstehenden lediglich durch das zahlenmäßige Mißverhältnis zwischen ihnen und den abhängigen Periöken und Heloten und durch ihr Kriegerethos wie eine arıstokratisch-oligarchische Gesellschaft vorkommen. Der Begriff „Oligarchie“ entstand daher auch nicht bei den Spartanern, sondern bei den Städten, die ihre Zuflucht bei ihnen suchten; er wurde

nicht in Ansehung Spartas, sondern der von Athen abfallenden Städte geschaffen: Auf der Suche nach einer Alternative zur Demokratie, die man abschütteln wollte, bezeichnete man diejenige Verfassung, die man vor dem Oktroi der

demokratischen gehabt hatte, mit dem Begriff „Oligarchie“. Mit großer Wahr-

scheinlichkeit haben die meisten Städte vor der Begegnung mit Athen überhaupt keinen besonderen Verfassungsbegriff gekannt; soweit sie ihre innere Ordnung angesprochen hatten, war sie als Eunomie, also als „gute Ordnung“ (im Gegensatz zur „Dysnomie“, der „Unordnung“, in Zeiten innerer Spannungen) be-

zeichnet worden. Der Begriff „Oligarchie“ ist also erst als ein Gegenbegriff zu „Demokratie“, als ein zugleich innenpolitischer wie außenpolitischer Kampfruf gegen Athen zu seiner großen politischen Bedeutung gekommen. Das verfassungspolitische Denken, das die griechische Geschichte in dem Jahrhundert zwischen der Etablierung der Demokratie in Athen und dem Aufstieg Philipps II. von Makedonien beherrscht hat, ist also eine Konsequenz der

athenischen Machtpolitik und des sich daraus ergebenden Antagonismus zwischen Athen und Sparta. In den Vernichtungskampf der beiden Städte wurden dann als Folge der unlöslichen Verbindung von Außen- und Verfassungspolitik die inneren Verhältnisse fast aller griechischen Städte hineingezogen und alle Menschen bis ins Innerste aufgewühlt. Am Ende des Peloponnesischen Krieges sınd so gut wie alle Städte auf diesen Gegensatz ausgerichtet: Die Verbreitung des demokratischen Gedankens ist im Gefolge des machtpolitischen Gegensatzes sehr schnell fortgeschritten und „Demokratie“ als eine Möglichkeit der politischen Ordnung seitdem überall bekannt. Angesichts dieser Sachlage ist es schwer, ın irgendeiner Stadt eine spontane demokratische Bewegung nachweisen zu wollen. Man möchte dies am ehesten für Städte behaupten, die ganz oder weitgehend außerhalb des athenischen Einflußbereiches lagen und zudem so groß waren, daß eine der wesentlichen Bedingungen für eine in sich selbst ruhende demokratische Bewegung erfüllt war, nämlich die Möglichkeit einer von den personalen Bindungen unabhängigen Entscheidung der Menge (s.o. S. 52f.). Man wird das vielleicht von Argos behaupten dürfen; aber gerade für diese Stadt ist der Gegensatz zu Sparta

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

konstitutiv und also der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, daß die demokratische Verfassung, die wir dort mit Sicherheit seit der Mitte des 5. Jahr-

hunderts vorfinden, eine Konsequenz des außenpolitischen Gegensatzes war. Die innere Entwicklung können wir in Argos leider nur sehr unvollkommen überschauen, ebenso nicht in Syrakus, das nun in der Tat gegenüber Athen völlig

selbständig war. Bei Syrakus spielt zudem noch das Problem hinein, daß durch die Ansiedlung von Neubürgern aus anderen griechischen Städten, welche die syrakusanıschen Tyrannen am Anfang des 5. Jahrhunderts vorgenommen hatten, eine starke Spannung zwischen ihnen und den Altbürgern entstanden war,

welche die verfassungspolitischen Fragen überdeckte. Welche Funktion der 454/53 dort eingerichtete petalismös (von pétalon, das Blatt, also eine Abstim-

mung mittels Ölblättern) hatte - eine dem athenischen Ostrakismos analoge Einrichtung, durch die ein Bürger auf fünf Jahre verbannt wurde -, läßt sich bei dem Stand unserer Information schwer abschätzen. Die Quelle aller demokratischen Verfassungen ist demnach, soweit wir sehen, allein Athen. Aber damit wissen wir noch nicht, ob die in Athen entwickelten

Grundgedanken und Organisationsformen auch in den sekundären Demokra-

tien überall die gleichen waren. Wir wissen darüber so gut wie nichts; in kaum etwas anderem zeigt sich die Einseitigkeit unserer Informationen so scharf wie in der Frage nach dem verfassungspolitischen Aufbau der vielen Städte außer-

halb von Athen und Sparta. Wir erfahren aus zufälligen, oft inschriftlichen Quellen von einzelnen Institutionen, die wir mit Athen vergleichen können;

aber der Umfang und die Intensität des demokratischen Alltags bleiben dunkel. So wissen wir z. B. zufällig, daß in der Mitte des 5. Jahrhunderts in demokratische bowl& 120 Mitglieder zählte, die Buleuten durch stimmt wurden, über 30 Jahre alt sein und sich wahrscheinlich Dokimasie unterziehen mußten. Über den Rat haben wir auch

Erythrai die das Los beauch einer aus anderen

Städten spärliche Nachrichten. Aber es bleibt uns so gut wie ganz verborgen, wie es in den Städten außerhalb Athens mit so grundlegenden demokratischen Formen wie den Geschworenengerichten oder der Zahlung von Tagegeldern für die Übernahme öffentlicher Funktionen gehalten wurde. Wir wissen aus Aristoteles zwar, daß im 4. Jahrhundert in Rhodos und sehr wahrscheinlich auch noch in einigen anderen Städten Diäten gezahlt wurden; aber nur aus einer Inschrift der westkleinasiatischen Stadt Iasos, die in die Zeit Alexanders des Großen zu datieren ist, wissen wir, wofür die Diäten gezahlt wurden, nämlich hier für den

Besuch der Volksversammlung, und wie hoch die Zahlung war, hier 180 Drachmen (?) pro nicht zuviel Bindungen nur ein sehr

Monat für alle Teilnehmer. Man wird indessen mit der Vermutung wagen, daß zumindest in kleineren Städten, in denen die personalen naturgemäß besonders stark wirken, die demokratische Verfassung äußerliches Gewand für im übrigen nach uralten Traditionen ablau-

fende Willensbildungsprozesse gewesen ist. Alle Städte, die von ihrer Größe her auf die Anlehnung an hegemoniale Mächte angewiesen waren, haben ohne Zweifel in dem Verfassungsgedanken kaum mehr als ein auRenpolitisches Band sehen können. Fällt es uns schwer, die spezifisch demokratischen Einrichtungen in den von Athen abgeleiteten Demokratien wiederzuentdecken, können wir in einem sehr

XV. Demokratien außerhalb Athens

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wesentlichen Punkt einen krassen Unterschied feststellen. Athen zeichnet sich dadurch aus, daß der soziale Gesichtspunkt niemals so weit die Politik beherrschte, daß die Armen und Reichen wie feindliche Heere einander gegenüberlagen. Für die abgeleiteten Demokratien war die soziale Unruhe aber konstitutiv; die Städte wurden von den inneren Spannungen geradezu zerrissen. Der Übergang von der einen zur anderen Verfassung war, wie es uns Thukydides für Kerkyra so eindrucksvoll schildert, meist von einem Blutrausch und von Konfis-

kationen begleitet und stürzte die gesamte Bevölkerung in das größte Unglück. Nichts kann deutlicher als dies zeigen, wie sehr die Demokratie etwas von

außen Kommendes, der Stadt Fremdes und ihr Aufgezwungenes war. Sie zeigte keine neue Politik an, sondern bedeutete den gewaltsamen Wechsel des Bündnis-

partners, bei dem die Freundschaft bzw. Feindschaft zu der Hegemonialmacht den innenpolitischen Gegensatz präjudizierte und der Kampf durch die physische oder wirtschaftliche Vernichtung des zum Feind gewordenen inneren Gegners ausgefochten wurde.

Die Entwicklung der allgemeinen politischen Lage war dem demokratischen Gedanken nicht günstig. Die großen Mächte - zunächst die Spartaner, später die Makedonen, dann die hellenistischen Könige und schließlich die Römer waren der Demokratie, die für ein instabiles Element gehalten wurde, nicht

gewogen oder sogar feindlich gesonnen. Und auch in den Demokratien selbst erhielten die Reichen und Vornehmen ein unverhältnismäßig großes Gewicht. Athen selbst hatte seit dem 3. bzw. seit dem Ende des 4. Jahrhunderts Anteil an

dieser Entwicklung, die wir als „Oligarchisierung der Demokratie“ bezeichnen können. Das Athen des 5. und 4. Jahrhunderts bleibt für uns also die einzige Stadt, in der wir die Demokratie als eine lebendige und eigenständige Kraft beobachten können.

XVI. Über antike und moderne Demokratie Wie so viele andere Erscheinungen der Antike ist auch die athenische Demokraue und sind häufiger noch einzelne ihrer Elemente mit modernen Verhältnissen verglichen worden. Allerdings gehören die politischen Einrichtungen der Griechen nicht zu den bevorzugten Gegenständen, die Schriftsteller und Gelehrte zu einem Vergleich mit ihrer eigenen Zeit gereizt haben. Das liegt gewiß zum einen

daran, daß die geistigen und künstlerischen Leistungen der Griechen, die das Abendland immer erneut befruchtet hatten und deren Wirkung jeder in seiner

Zeit unmittelbar spürte, weit höher eingeschätzt wurden als die politischen, die keine unmittelbare Kraft mehr ausstrahlten. In der berühmten querelle des anciens et des modernes vom Ende des 17. Jahrhunderts, bei der es um den Vorrang bzw. die Verbindlichkeit der beiden Epochen gegangen war, und in ihrer Wie-

deraufnahme durch die deutsche Klassik sucht man darum vergeblich nach einer Erwähnung der Demokratie. Es war dafür auch wohl noch zu früh; aber es war vor allem den Modernen der Blick auf die politischen Verhältnisse der Griechen durch die Bedeutung Roms als des politischen Leitbildes versperrt: Im politischen Leben revolutionär „Gleichen“, nannte sich Burckhardt

orientierte man sich am römischen Beispiel; der fanatische SozialBabeuf, der eine kommunistische Gesellschaft, die „Republik“ der erstrebte und 1796 Direktorium und Konvent stürzen wollte, Gaius Gracchus, nicht Ephialtes, Perikles oder Kleon. Noch Jacob hat in seiner „Griechischen Kulturgeschichte“ so gedacht: „Den

seitherigen Jahrtausenden aber ist nicht an Athen als Staat, sondern an Athen als Kulturpotenz ersten Ranges, als Quelle des Geistes etwas gelegen gewesen“ (I 5.224). So geriet die athenische Demokratie erst verhältnismäßig spät, nach der Franzósischen Revolution und also an der Schwelle zum wissenschaftlichen Zeitalter, schárfer in den Blick, und es sind darum neben etlichen Publizisten und demokratischen Politikern insbesondere Historiker gewesen, die durch ihr

berufsmäßiges Interesse zu einem Vergleich der athenischen mit der modernen Demokraue angeregt wurden.

Angesichts der Bedeutung der demokratischen Staatsform im 19. und 20. Jahrhundert ist man indessen eher erstaunt über die relativ wenigen Versuche, diese auf dem Hintergrund des griechischen Urbildes zu sehen. Das dürfte nicht

allein daran liegen, daß das Wissen über das Altertum und das Interesse daran stark nachgelassen haben. Denn auch in der gelehrten Forschung, die sich

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

gerade in den letzten Jahrzehnten außergewöhnlich intensiv mit der athenischen

Demokratie beschäftigt hat, sind solche Versuche selten. Die Essays von Moses I. Finley, die sich diesem Thema widmen, sehen sich neben dem Berg gelehrten Schrifttums eher wie ein Fremdkórper an. Über die Gründe mag man nachsinnen. Nicht ohne Einfluß ist dabei die besonders in Deutschland auch heute noch

scharfe Trennung der einzelnen historischen Disziplinen: Die Alte Geschichte ist ein Fach der Altertumswissenschaft, und ihre Bindung vor allem an die

Klassische Philologie, mit der sie die Quellengrundlage teilt, schafft Distanz zu den neueren Abteilungen der Geschichte sowie zur Soziologie und Politologie. Aber ebenso liegt es auch an der strukturellen Veránderung der zuletzt genannten, für die Bildung des heutigen politischen Bewußtseins besonders einflußreichen Wissenschaften, deren Vertreter vielfach nicht mehr historisch denken und

darüber hinaus zum größten Teil auch nicht die methodischen Voraussetzungen und sprachlichen Kenntnisse haben, sich mit der älteren Geschichte zu befassen,

selbst wenn sie es wollten. Die Abneigung der Modernen zu einer abwägenden Betrachtung antiker und moderner Demokratie wird aber noch aus einem ande-

ren Grund verständlich. Ist der Begriff „Demokratie“ für die Antike nämlich eindeutig, insofern er sich auf die politischen Verhältnisse Athens bezieht, gilt das für die Jüngere Zeit nicht. Demokratie ist ein Allerweltswort geworden, das jedem erlaubt, darunter zu verstehen, was ihm beliebt. Um sich überhaupt verständigen zu kónnen, hat man zunächst eines oder mehrere der bereitliegen-

den erklärenden Adjektive dem Begriff hinzuzusetzen, und selbst dann ist die Position oft immer noch nicht deutlich. Läßt sich überhaupt eine gemeinsame Basis finden? Auf welche der vielen Bedeutungen, mit denen in den letzten

beiden Jahrhunderten der Begriff Demokratie gefüllt wurde oder die heute gleichzeitig als allein der „wahren“ Demokratie zukommend hingestellt wer-

den, soll man sich einigen? Es entmutigt zu sehen, daß die meisten ohne jede Reflexion auf das Problem ihre eigene Vorstellung von Demokratie unterstellen, und die Entmutigung wird noch größer, wenn man sieht, wie die jeweils moderne Anschauung oft auch den athenischen Verhältnissen einfach untergeschoben wird, so als ob die Athener Gewaltenteilung und Freiheitsrechte, Reprásen-

tativsystem und die soziale Frage bereits gekannt hätten. Wenn im folgenden nichtsdestoweniger ein Vergleich versucht wird, so nicht deswegen, um unumstößliche Wahrheiten darüber zu gewinnen, was denn Demokratie nun wirklich ist. Selbst die Mutter der Demokratie kann keinem ihrer Nachkommen zu einer Legitimation verhelfen. Der Vergleich erfolgt ebenfalls nicht, um in Athen den Anfang oder den Urzustand demokratischer Ideen und Institutionen zu finden. Er soll vielmehr lediglich einer Selbstvergewisserung dienen, die das Verstándnis des antiken wie des modernen Gegenstandes erweitern und die Breite der Möglichkeiten aufzeigen kann. Die Vielgestaltigkeit des modernen Demokratiebegriffs bringt es dabei mit sich, daf der Vergleich sich nicht auf eine bestimmte moderne Auffassung von Demokratie beschränkt (aber

gleichwohl den Schwerpunkt auf das westliche parlamentarische System legt) und folglich die Überlegungen recht locker aneinandergefügt sind. Athen ist eine unmittelbare

Demokratie; das Volk übt seine Gewalt di-

XVI. Über antike und moderne Demokratie

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rekt, ohne die Zwischenschaltung von Repräsentativorganen aus. Unter den direkten Demokratien der Weltgeschichte ist die athenische aber noch besonders herausgehoben. Denn anders als in allen anderen politischen Ordnungen, in denen die politisch Berechtigten in den entscheidenden und exekutierenden Behörden selbst auftreten und ihre Rechte wahrnehmen, ist in Athen die Unmittelbarkeit in doppelter Weise betont, erscheint sie als Prinzip besonders scharf erfaßt und beinahe bis zur Absurdität auf die Spitze getrieben zu sein. Zum einen erstreckte sich nämlich die politische Tätigkeit nicht lediglich auf den Besuch der Volksversammlung, sondern auf alle öffentlichen Funktionen, und

es waren folglich der Idee nach alle Athener, faktisch móglichst viele von ihnen Souverän, Regierung, Amtsträger und Gerichtsherr zugleich. Das Mittel, durch das die Idee verwirklicht werden sollte, war die Vermassung von Behörden und Gerichten: ca. 700 Beamte, 500 Ratsherren und in der Regel mehrere tausend

Richter erledigten Tag für Tag die öffentlichen Geschäfte. Zum anderen sollten diese Geschäfte nicht nur alle betreiben können, die von ihrer wirtschaftlichen Lage her dazu imstande waren, sondern es wurden, soweit möglich, die von den

Einkommensverhältnissen gesetzten Barrieren für die Teilnahme am politischen Leben beiseite geräumt. Die Zahlung von Tagegeldern für die Ausübung der wichtigsten öffentlichen Funktionen sollte den einzelnen für die Politik freistellen, und wenn auf diese Weise das Problem des Verhältnisses von Politik und

Arbeit auch nicht gelöst war und die Diätensätze zudem niedrig lagen, ist doch dadurch ein Prinzip zur Geltung gebracht worden: Die politische Tätigkeit wurde als ein Wert angesehen. Sie wurde nicht erzwungen; kein Athener mußte sich etwa für das Richteramt melden. Aber den politisch tätigen Bürger hielt man für einen „besseren“ Bürger als den untätigen. In den modernen Massendemokratien halten Theoretiker und Praktiker der Politik die unmittelbare Demokratie für undurchführbar, und das ıst sıe auch

jedenfalls dann, wenn man sich die Ausübung der Volksgewalt zentralisiert denkt. Ihre Durchführbarkeit wird auf kleine Staaten, Städte oder Landschaften,

wie z.B. die Schweizer Kantone oder die alte Dithmarscher Bauernrepublik, beschränkt gesehen. Bezeichnete man darum die unmittelbare Demokratie als eine „politische Schimäre“ (Christoph Martin Wieland, „Über Krieg und Frieden“, 1794, S.647), die nur in Extremverhältnissen (primitiver Entwicklungsstand; hoher Bildungsstand der Bürger) erreichbar sei, genießt sie doch in der

Neuzeit fast überall einen großen Respekt und wird sogar als Ideal gepriesen. Das kann nicht nur darin begründet sein, daß die Demokratie als Herrschaft des Volkes nur dann ihrer Bestimmung gerecht zu werden scheint und also „rein“ und „wahr“ ist, wenn alle zugleich über alles raten und entscheiden. Es spielt offensichtlich auch ein irrationales Element hinein, insofern nämlich dem Volk

als dem ursprünglichen "Träger aller Gewalt eine besondere, alle anderen denkbaren Gewaltenträger überragende Qualität zugesprochen und der Volkswille, der in dieser Vorstellung in aller Regel als einheitlich, ungeteilt und unteilbar erscheint, als die Verkündung des apriorisch Richtigen gedacht wird (vox populi vox Dei). Alle Rätesysteme und auch noch die Bürgerinitiativen unserer Tage

leben von diesem Mythos. Ihre eigentliche Hochschätzung aber verdankt die unmittelbare Demokratie und zumal die athenische dem Umstand, daß das

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

demokratische Leben in ihr und nur in ihr von wirklicher Kraft und Dynamik

erfüllt zu sein scheint. Der Gedanke, daß die politische Tätigkeit ein Wert ist, mußte in den modernen Massendemokratien in dem Maße wachsen, wie das

Gefühl der Unsicherheit gegenüber einzelnen Gruppen wuchs, die sich der demokratischen Institutionen zur Zerstörung ebendieser Demokratie zu bemächtigen drohen oder doch zumindest eine Stellung einzunehmen wünschen,

in der sie die Bürger faktisch zu entmündigen und auszubeuten vermögen. Die Wachsamkeit des Demokraten ist hier gefordert, und es gilt, die politische

Apathie zu bekämpfen: Als Schreckgespenst taucht eine Ordnung auf, in der die Masse sıch träge vom Staat als von einer seelenlosen Maschine durchfüttern läßt, um für die so erkaufte Sättigung und Ruhe das politische Geschäft einer mehr oder weniger unsichtbaren Elite zu überlassen und dabei alle politischen Ideale aufzugeben; und es ist dies heute ja auch gewiß kein völlig unrealistisches Gemälde unserer Zukunft. Mit den vorangehenden Überlegungen hängt eng zusammen die Frage danach, was in den verschiedenen Demokratien der Volkswille bedeutet. Das

Volk gilt in allen Demokratien als Souverän und so auch in Athen, aber hier mit

dem Zusatz, daß der Volkswille direkt, nicht mittels Repräsentativorganen ausgedrückt wird. Es ist ferner für Athen im Unterschied zu anderen unmittelbaren Demokratien festzuhalten, daß der Athener in der Volksversammlung nicht nur

über die ihm vorgelegten Anträge abstimmen, sondern auch von sich aus einen

Antrag einbringen kann, mithin sowohl das Beschluß- als auch das Initiativrecht bei allen Athenern liegt - anders als etwa auch in Rom, wo das Volk

lediglich dem Antrag des (der Aristokratie angehórigen) Magistrats zustimmen oder ihn ablehnen darf und also das, was das Volk will und sein Interesse ist,

stets von der Oberschicht oder einem Angehórigen derselben formuliert wird. In Athen ist darum der Volksbeschluß in einem echten Sinne Wille der Athener,

nicht lediglich der einer Oberschicht. Das Prinzip des Volkswillens als oberster Entscheidungsinstanz hat schon in der Antike Widerspruch gefunden. Man traute einer Masse keine überlegten Entscheidungen zu, sah sie von Launen beherrscht und sprach ihr wegen der den meisten Bürgern fehlenden Bildung jede Fáhigkeit zu einem sachgerechten Urteil ab. Indessen mochten selbst manche Kritiker der Demokratie nicht aus-

schließen, daß im Querschnitt aller Meinungen der extreme Standpunkt und das besondere Interesse von einzelnen oder Gruppen aufgehoben und also im Volksbeschluß das richtige Mittelmaß enthalten sein könne (s.o. S. 299f). In der modernen staatstheoretischen Diskussion sind diese Gedanken aus eigenen Wurzeln - das antike Beispiel spielte so gut wie keine Rolle - öfter ausgesprochen worden. Sehr nahe kommt Rousseau der Vorstellung, daf$ im Querschnitt

aller Meinungen das richtige Maß für das Gemeinwohl liege, wenn er in der volonté générale das Allgemeininteresse herausgefiltert sieht, das in der Summe der volontés particulières, der volonté de tous, noch mit dem Sonderinteresse

verbunden sei. Diese klassische Theorie, nach der der Volkswille das Gemeinwohl bestimmt, ist immer wieder aufgenommen, häufiger hingegen- bis hin zu der Behauptung, daß die Masse inkompetent sei - kritisiert worden. Abgesehen von den Verfechtern einer Unentbehrlichkeit oder Unvermeidbarkeit von Eliten

XVI. Über antike und moderne Demokratie

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in der Demokratie, wie Gaetano Mosca, Vilfredo Pareto und Robert Michels,

hat insbesondere auch die Sozialpsychologie die Richtigkeit der klassischen Lehre zurückgewiesen. Joseph A. Schumpeter, einer der originellsten Soziologen der jüngeren Zeit, hat ın seinem vielbeachteten Werk „Capitalism, Socialism

and Democracy“ (1942, dtsch. UTB 1950) die Fähigkeit des Volkes zu einem bestimmten, unabhängigen und von Rationalität getragenen Volkswillen sogar strikt bestritten, weil die Menschen jeweils etwas Verschiedenes wollen und

zudem die menschliche Persönlichkeit keine homogene Einheit bilde: Der Mensch ist abhängig von Traditionen und von der Lenkung durch Personen und Medien, denen er sich mehr oder weniger unbewußt hingibt. Unabhängig kann

danach der einzelne allenfalls im rein persönlichen Bereich sowie in lokalen, ihm wohlvertrauten Verhältnissen entscheiden und die Funktion des Volkes also

nicht darin bestehen, über Sachfragen zu bestimmen, sondern nur darin, eine starke Regierung zu wählen, die dann ihrerseits (nach Schumpeter auf dem

Fundament eines den sozialistischen Gosplänen ähnlichen Grundplans) entscheidet.

Die Skepsis gegenüber der Möglichkeit eines unabhängigen, auf das Gemeinwohl gerichteten Volkswillens geht durch die gesamte Theorie des 19.Jahrhunderts, insbesondere die der Liberalen. Die Tyrannei der Majorität ist der Angsttraum auch etwa von Alexis de Tocqueville und John Stuart Mill, und das

Allheilmittel sieht man in der Beschränkung des Volkes auf die Wahl der Regierenden und die Kontrolle über sie. Gedanken wie diese haben mit dem athenischen Demokratieverständnis nichts mehr zu tun. Die athenische Demokratie ist im Gegenteil gerade durch die Schwäche der Regierung (idealtypisch: durch ihr Nichtvorhandensein) und durch die Entscheidung aller Gegenstände durch alle definiert; beides, insbesondere die Negation einer starken Regierungsgewalt, sind sogar Elemente, die zu der Demokratie hingeführt und sie begründet haben. Wenn sich die Entscheidungen in der Volksversammlung und in den Gerichten tatsächlich nicht durch Inkompetenz und Maßlosigkeit auszeichneten, sind damit allerdings die antiken und modernen Zweifel an einem unabhängigen, auf das Gemeininteresse gerichteten Volkswillen noch nicht widerlegt. Die athenische Demokratie war nicht deswegen stabil und unabhängig, weil die

Athener maßvolle und fachkundige Menschen waren. Wenn sie im Sinne eines für alle in gleicher Weise geltenden Gemeininteresses funktionierte, so deswe-

gen, weil die Volksbeschlüsse und Gerichtsurteile in ein Bezugsnetz von Institutionen und Verhaltensregeln eingebettet waren, die ihnen eine im Sinne der gegebenen Ordnung relative „Richtigkeit“ sicherten und der Demokratie so

Schutz und Halt gaben. Als stabilisierende Faktoren wirkten dabei vor allem die Auswahl aller im öffentlichen Raum tätigen Personen durch das Los nach Phylen, Trittyen und Demen, wodurch der Wille von Gruppen mit Sonderinteressen und der einzelner, starker Persönlichkeiten bewußt ausgeschaltet werden sollte (s.o. S. 37ff. 265ff.), und der Gehorsam gegenüber dem gesetzten Recht, der für alle Entscheidungen konstitutiv war. Sowohl die Organisationsformen der Demokratie als auch das praktische politische Leben in ihr sind von diesen Verhaltensregeln durchdrungen: Sie sind so sehr ein Teil der Demokratie und des demokratischen Bewußtseins, daß ohne sie die Demokratie nicht mehr sie

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

selbst wäre. Einen Gesamtwillen (als Mehrheitswillen) besitzt die athenische

Volksversammlung daher nur innerhalb der Grenzen der gegebenen Ordnung, und das heißt, daß sie lediglich in der Gestaltung der äußeren Verhältnisse wirklich frei ist. Ihre Abhängigkeit liegt in der Achtung vor der Tradition, nicht ın den Interessengegensätzen von Gruppen, die vielmehr in der Gesellschaft der (nur) politisch Gleichen ausgeschaltet oder wenigstens zurückgedrängt sind. Die moderne Demokratie ist demgegenüber gerade durch die Anerkennung von Gruppeninteressen definiert; wir sprechen von der „Par-

teiendemokratie“. Der Wille des Volkes ergibt sich aus dem Konkurrenzkampf der verschiedenen Meinungen. Ebenso hat das Gemeininteresse, auf das sich

der Volkswille richten soll, einen jeweils völlig verschiedenen Ausgangspunkt. In Athen liegt das Fundament alles dessen, was für das Volk gut und richtig ist und was das Volk auch dafür hält, in der Tradition und ist in der Summe der

bestehenden Gesetze aufgehoben: Das Interesse aller liegt in dem Gesetzesgehorsam; die Politik bewegt sich im Rahmen der Gesetze und dient darüber hinaus tagespolitischen Wünschen. Heute hingegen liegt das, was „richtig“ ist, in der Zukunft: Es geht um die Veränderung des Bestehenden, und folglich hat die Möglichkeit der Änderung (man sagt natürlich: Verbesserung) des Rechts in dem Bewußtsein aller einen so hohen politischen Stellenwert, daß der Gehorsam gegenüber dem geltenden Gesetz darüber in den Hintergrund rückt. In kaum etwas anderem mehr als in der Frage nach der Beschaffenheit

bzw. Qualität des Volkswillens unterscheidet sich die athenische von der modernen Demokratie.

Wiederum gehört eng mit dieser Frage die nach der Elite in der Demokratie zusammen. Wir haben heute ein gespaltenes Verhältnis zur Elite. Angesichts

unserer komplizierten Welt ráumt man einerseits die Notwendigkeit elitárer Gruppen ein und kann ihr tatsáchliches Vorhandensein auch kaum bestreiten;

andererseits wird die Aussage, daß jemand zu der Elite der Nation gehöre, nicht nur als unpassend, sondern als antidemokratisch oder gar lácherlich empfunden. In dem Urteil über die Eliten wirkt zum einen die historische Erfahrung mit, daR auch die Demokratien, einerlei welcher Art sie sind, niemals ohne

Eliten ausgekommen sind und heute nicht auskommen; das Wort Vilfredo Paretos von der Geschichte als einem „Friedhof der Eliten“ fängt dieses Gefühl

oder diese Erfahrung am besten ein. Zum anderen kommt kaum jemand darum herum zuzugestehen, daß für die Entscheidungskompetenz in der Massendemokratie Fachwissen, Bildung und Erfahrung notwendig sind, die eben nur einige, auf jeden Fall nicht alle haben bzw. erwerben können. Das „eherne Gesetz der Oligarchie", wie Robert Michels („Zur Soziologie des Parteiwesens in der mo-

dernen Demokratie", 19252) diese faktische Norm nannte, beruht danach auf

einer Inkompetenz der Masse. Nur mit Widerstreben sind die meisten geneigt, sich solchen Gedanken hinzugeben; ihre Normativitát anzuerkennen, erscheint geradezu unmöglich. Ein Elitebewußtsein erstickt schon der immer und überall

vorhandene Gedanke von dem Volk als dem Souverän, und er wird gestärkt und immer erneut hervorgeholt durch radikaldemokratische Gedanken, die durch

den Rückgriff auf klassische Ideen die demokratische Willensbildung von der »Basis" her verwirklicht sehen móchten. Dem nachschauenden Betrachter er-

XVI. Über antike und moderne Demokratie

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scheinen solche Bewegungen als eine ständige Korrektur einer unter dem Zwang

der Verhältnisse zur Oligarchisierung neigenden Gesellschaft. In Athen liegen die Dinge vielleicht gar nicht so sehr verschieden. Den radikaldemokratischen Gedanken brauchte allerdings niemand in die Erinnerung zurückzurufen; er war durch die unmittelbare Demokratie verwirklicht.

Die Elite erschien hingegen auch den Athenern mit ihrer Demokratie unvereinbar; die Organisationsformen zeigen uns, daß sie unerwünscht war. Genau wie

heute wurde indessen auch in Athen von Kritikern gesagt, daß der Mangel an Fachwissen, Bildung, Urteilsfähigkeit und moralischer Gesinnungstüchtigkeit -

alles zusammengefaßt unter dem Begriff der „Tugend““ - die große Menge für die Entscheidungskompetenz disqualifiziere, und wer dem widersprechen wollte, den konnte man auf die politische Praxis verweisen, wo tatsächlich Fachleute mitarbeiteten und tüchtige Einzelpersonen mit ihrem Anhang das politische Geschäft in der Hand hatten. Trotz solcher Kritik hat allerdings nur die Philosophie, haben vor allem Platon, Aristoteles und nach ihnen die Anhänger der Stoa

die Einsicht in die Notwendigkeit von Eliten zu einer Norm für den besten Staat erhoben. In der politischen Wirklichkeit hat niemand daran gedacht. Denn die Athener hielten eine formierte Elite mit ihrem System für nicht vereinbar. An

dem tatsächlichen Einfluß von einzelnen Persönlichkeiten und Gruppen konnten und wollten sie nichts ändern; aber sie haben manche Belastungen, die durch

Unerfahrenheit, Unwissenheit und mangelnde Urteilsfähigkeit der Menge entstanden, in Kauf genommen, um das Fundament ihrer Demokratie, die politische Gleichheit, zu erhalten. Der englische Althistoriker A.H.M. Jones (1969, 5.231) hat diese Verhältnisse mit dem Satz kommentiert, „daß die Athener die

Demokratie höher schätzten als die Leistungsfähigkeit“, und in der Tat mag bisweilen der mangelnde Sachverstand zu einem Mißerfolg geführt haben. Ich

zweifle allerdings, ob die Athener selbst Mißerfolge ursächlich mit mangelnder Kompetenz der Masse in Verbindung brachten und folglich in den Organisationsformen der Demokratie, welche die Gleichheit sichern sollten, wie der

Losung, Annuität und Vermassung der Behörden, Faktoren sehen konnten, welche die Leistungsfähigkeit der betreffenden Organe herabsetzten. Für sie waren alle diese Organisationsformen Bollwerke gegen Tyrannis und Oligarchie. Die Leistungsfähigkeit der Demokratie war für sie kein Gegenstand des Nachdenkens, und die Erfolge der Stadt mochten ihnen recht geben. Allein die Gegner der Demokratie, die sich für „besser“ und kompetenter hielten als den Durchschnittsathener, und unter ihnen vor allem die Philosophen, haben darüber nachgedacht; die letzteren übrigens nur im Zusammenhang ihrer luftigen

Idealgebäude. In der Studierstube sehen die Dinge eben anders aus als auf dem Markt.

Mit ihrer Auffassung über die Beschaffenheit der Regierung haben die Athener in keinem modernen Staat Nachfolger gefunden. Allenfalls dort, wo in

revolutionären Zeiten radikaldemokratische Zellen das, worüber sie jeweils

kurzfristig Verfügungsgewalt hatten, von allen zugleich entschieden und ausgeführt wurde, dürften die Athener Verständnis gefunden haben, wenn man ihre

Ideen gekannt hätte. Selbst die Rätedemokratie mit imperativem Mandat hat deswegen, weil sie den Gedanken der Vertretung kennt, mit Athen nur wenig zu

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

tun. Die athenische Demokratie ist von der Vorstellung beherrscht, daß die Regierung durch möglichst viele, der Idee nach durch alle, ausgeübt werden soll. Jährlich sınd ca. 1 200 Bürger (500 Ratsherren, 700 Beamte) in dem Bereich tätıg, den wir „Regierung“ bzw. „Exekutive“ nennen würden. Sowohl die Masse

der Funktionäre als auch die Unselbständigkeit aller Behörden, die von dieser Masse gebildet werden, reflektieren den Eindruck von Einflußlosigkeit und

stärken die Vorstellung, daß hier der einzelne Funktionsträger nicht Macht im Auftrag des Volkes ausübt, sondern in die ganze Bürgerschaft eingetaucht ist: Den Beamtenkollegien fehlen auf Grund ihrer geringen Zuständigkeiten und der scharfen Kontrolle, der sie unterstehen, das institutionelle Gewicht und die Amtsautorität, wie sie staatlichen Gewaltenträgern gemeinhin zukommen, und

auch der jährlich neu erloste Rat scheint jeder korporativen Festigkeit zu entbehren; alle Funktionäre, Ratsherren wie Beamte, erfüllen eher die Aufgaben

von Helfern, Vermittlern und Zuträgern als von echten Verwaltungsträgern. Die Idee, daß ın Athen die Regierungsgewalt von allen Bürgern ausgeübt werden soll, ist von der Philosophie in dem Satz von der Identität des Herrschens und Beherrschtwerdens verdichtet worden (s.o. S. 302ff.); in der Praxis

des demokratischen Lebens tritt diese radikale Idee aber hinter dem Gedanken zurück, daß die Regierung schwach sein soll und kontrolliert werden muß.

Entsprechende Vorstellungen sind auch der modernen Demokratie nicht fremd. Doch abgesehen davon, daß die Vertreter solcher Gedanken heute nicht von dem Perfektionismus der Athener besessen sind - der allerdings auch nur unter den begrenzten und übersichtlichen Verháltnissen einer direkten Demokratie denkbar ist -, haben sie, soweit ich sehe, kaum je die Idee vertreten, daß die

machtlose die ideale Regierung sei. Sie haben ófter umgekehrt, sowohl in der Theorie, wie z. B. in dem Modell von Schumpeter, als auch in der Praxis, wie in

den Vereinigten Staaten, die starke Regierung geradezu erstrebt (oder in Kauf genommen) und dem demokratischen Prinzip, wonach dem Volk die maßgebende Rolle im Staatsganzen zukommt, dadurch Geltung zu verschaffen gesucht, daf$ sie die Regierung wirksam kontrollieren und/oder ihre sachliche Zuständigkeit begrenzen wollten. Die parlamentarische Demokratie, in der die

Regierung in der Abhángigkeit von einer Parlamentsmehrheit steht, ist danach eine besonders wirksam kontrollierte und die von vielen Liberalen geforderte »sparsame" Demokratie eine in ihrer Zuständigkeit besonders stark eingeschránkte Demokratie. Je mehr die Regierung durch Freiheitsgarantien, Menschenrechte und Finanzkontrolle begrenzt ist, desto demokratischer erschien sie

vor allem den Liberalen, und je mehr sie ihre Kompetenz erweiterte und die Kontrollen abwarf, desto eher mochte sie für viele ihren demokratischen Sinn

verfehlen und sich der Diktatur zuneigen. Kein Demokrat liebt die starke Regierung; aber kaum einer bestreitet ihre Notwendigkeit, und der demokratische Alltag besteht dann zu einem guten Teil darin, sich durch Kontrolle und Kritik

mit ihr herumzuschlagen. Autoritát und Demokratie sind in der heutigen Zeit keine Gegensätze mehr. In einer gegenüber der modernen Zeit eigentümlichen Weise haben die Athener auch über die Gleichheit und das Verháltnis von Freiheit und Gleich-

heit gedacht. Gleichheit ist in Athen politische Gleichheit; über soziale

XVI. Über antike und moderne Demokratie

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Gleichheit haben nur die Philosophen spekuliert, und dies auch eher beiläufig und in einem Sinne, der den Realitätsbezug ausschloß. Die Freiheit ist für die

Athener in dem Gleichheitsbegriff enthalten bzw. eine Konsequenz desselben; sie bedeutet die Abwesenheit von Herrschaft und assoziiert folglich Vorstellungen wie „Ausübung der politischen Funktionen durch alle“, „Kontrolle und Schwächung der Regierung“ und „Rederecht für alle“. „Demokratie“ als die

Herrschaft aller politisch Berechtigten ist darum mit Freiheit identisch. Bei aller Bedeutung bleibt indessen der athenische Freiheitsbegriff verhältnismäßig

farblos; nicht er, sondern

„Gleichheit“ konstituiert die Demokratie.

„Freiheit“ hat gegenüber „Gleichheit“ keine eigene, auf sich beschränkte Funktion. Kaum etwas anderes kennzeichnet klarer den Abstand zur Moderne. „Frei-

heit“ steht in der Französischen Revolution gleichrangig neben „Gleichheit“; sie

ist die Absage an das Ancien Regime, und die Freiheitsrechte bedeuten die Sicherheitsgarantie gegen die Staatsgewalt. Die Freiheit hat hier Eigenwert, und

sie tritt mit dem Erlebnis der Massendemokratie dann als eigenständige Größe zunehmend in einen Gegensatz zur Gleichheit, der ursprünglich nicht in ihr angelegt war. Sie wird der Schutzschild nicht nur gegen die Staatsgewalt, son-

dern auch gegen die gleichförmige Masse der Bürger, die durch den Majoritätsbeschluß und die öffentliche Meinung das Individuum zu ersticken und für manche ein viel gefährlicherer Feind als der Monarch des Ancien Regime zu werden droht. Ohne den Wert der egalitären Demokratie zu bestreiten, sieht

doch Tocqueqville aus der Gleichheit den Konformismus und aus der Apolitie der Masse den Despotismus und die alles erdrückende Bürokratie erwachsen. Sein prophetisches Auge beschwört die Zukunft, und in dem Zweifel an der Möglichkeit, daß der einzelne gegenüber der apathischen Menge die politische Freiheit mit Leben erfüllen und also der Gleichheit die Freiheit als Korrektur

und Gegenbegriff gegenüberstellen kann, geht sein Blick in die Vergangenheit, in der es schlimm zuging, aber vielleicht nicht so schlimm, wie es sich in der Zukunft abzeichnet: „Ich lasse meine Blicke über die zahllose Masse schweifen,

wo nichts sich erhebt, nichts tiefer steht. Das Schauspiel dieser allumgreifenden Einförmigkeit stimmt mich traurig und kalt, und ich fühle mich versucht, der Gesellschaft nachzutrauern, die nicht mehr ist“ („De la démocratie en Ame-

rique“, 1835-40, übers. von J.P. Mayer/Th. Eschenburg/H. Zbinden, 2,356). Von ähnlichen Ángsten sind Konservative wie Liberale, Theoretiker wie Politiker erfüllt. Auch John Stuart Mill etwa sieht durch den Druck der unfórmigen sozialen Masse die Freiheit des Individuums so weit bedroht, daß sich ihm

stárker als vielen anderen die Freiheit als ein Gegenbegriff zur Gleichheit herauszubilden scheint. In einer vor der Athénée Royal, einer schon vor der Franzó-

sischen Revolution bestehenden gelehrten Gesellschaft in Paris, gehaltenen Rede hat Benjamin Constant diesen Befürchtungen eindrucksvoll Ausdruck gegeben („Über die Freiheit der Alten im Vergleich zu der der Heutigen", 1819). Mit großer Schärfe trennt er darin den liberalen Freiheitsbegriff, für den die

persónliche Unabhángigkeit bestimmend sei, von dem antiken, der sich auf die aktive Teilhabe aller an der politischen Entscheidung gerichtet habe, und wenn er auch auf diese politische Freiheit der Alten nicht in seiner Zeit verzichten móchte, gilt die liberale ihm doch mehr und ist die politische nicht das Opfer

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ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

wert, das sie dem einzelnen auferlegt. Constant bezieht hier wie auch in anderen

Schriften vor allem gegen Gabriel Bonnot de Mably Stellung, der dem Gedanken der Gleichheit und Volkssouveränität gegenüber dem Schutz der Privatinteressen Vorrang eingeräumt hatte, aber auch gegen die Lehre Rousseaus vom Volkswillen und enthüllt damit die Spannweite der Freiheitsvorstellungen seiner Zeit - und den Vorrang des Freiheits- vor dem Gleichheitsgedanken bei den Liberalen. In Athen, das übrigens nach Constant von allen antiken Staaten der liberalen Freiheitsidee am nächsten kam, ist die Freiheit nie zum Gegner der

Gleichheit geworden, obwohl die Bedrängnis des einzelnen in der Masse oft groß war und das Majoritätsprinzip bisweilen dieselben Gefühle hervorbringen mochte wie in jüngerer Zeit. Der Grund wird darin zu suchen sein, daß die

starke Zentralgewalt und das politische Programm fehlten, welche die in der Konformität einer Masse schlummernden Gefahren hätten aktivieren können und also weder die Hybris der Regierung noch die Tyrannei des Fortschritts das Individuum zu unterdrücken vermochten. Der einzelne Bürger konnte lediglich durch den Mißbrauch des bestehenden, von allen, auch von dem Geschädigten,

anerkannten Gesetzes bedrängt werden; sein Wohl und Wehe ruhte auf dem

Rechtsempfinden der in den Massengerichten urteilenden Mitbürger. Aber mochte dieses Empfinden auch gelegentlich versagen, versagte es doch nur im einzelnen Fall; es bedeutete Unrecht, aber betraf nicht den Charakter der politi-

schen Gesamtordnung. Aus dem Vorangehenden ergibt sich ein Weiteres, das Antike und Moderne trennt: Die Athener besaßen kein festes, auf die Zukunft gerichtetes Ziel der

Politik. Die Einrichtung der Demokratie bedeutete zwar auch für Athen einen grundlegenden Wandel der politischen Gesamtordnung; dieser aber war nicht die Konsequenz eines politischen Programms gewesen. Weder eine Theorie noch die Dynamik einer Revolution standen am Anfang der Demokratie. Die

Athener haben sich auf Grund von ganz besonderen, inneren und vor allem auch außenpolitischen Bedingungen neben ihre einstigen arıstokratischen Her-

ren setzen können und bauten dann im Laufe einiger Jahrzehnte die so gewonnene Position in Abwehr machthungriger adliger Persönlichkeiten zu einer Herrschaft der Gleichen weiter aus. Der athenischen Demokratie fehlt jede

innere, auf Entwicklung angelegte Bewegung. Das äußerst bewegte politische Leben läuft umgekehrt innerhalb einer festliegenden, von kaum jemandem

bestrittenen sozialen Ordnung und eines ebenso beständigen Wertgefüges ab, auf das nicht reflektiert wird. Die Statik der Verhältnisse erscheint dem moder-

nen Betrachter mit seiner Vorstellung von Demokratie schwer vereinbar. Vorbereitet durch die Aufklärung ist „Demokratie“

für uns gleichbedeutend mit

Erhebung, Erwachen und fortschreitender Bewegung: In dem Zugriff der Massen auf den politischen Raum wurde die Welt veränderbar und lag gerade in der

Möglichkeit des Wandels der positive Aspekt der neuen politischen Form. Es wird nicht nur das Glück und das Wohlergehen der Menschen als ein jeweils zu interpretierendes Gut, sondern ein bonum commune erstrebt, das als für alle

Menschen in gleicher Weise gültig, als vorhanden vorausgesetzt und zum Teil sogar genauer bestimmt wird. Die theoretische Grundlage, insbesondere der Gedanke

der Menschenrechte

und einzelne radikale Schriften, wie die von

XVI. Über antike und moderne Demokratie

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Babeuf und Buonarrotti, haben daher bereits in der Franzôsischen Revolution

die materiellen Bedürfnisse der Massen in den Gleichheitsbegriff eingebunden, und spätestens seit den sechziger Jahren des 19.Jahrhunderts hat dann der soziale Gedanke den demokratischen sogar weitgehend überlagert. Demokratie umfaßt seitdem immer und überall einen sozialen Aspekt, der angesichts der

Not der Gegenwart eine Forderung an die Gestaltung der Zukunft enthält. Demokraten sind heute immer im Aufbruch. Für die Athener hatten die Vorfah-

ren gesorgt; der soziale Aspekt trat in der Politik zurück. In Athen wies die Demokratie nicht den Weg in eine bessere Zukunft. Sie hatte bereits den ersehn-

ten Zustand erreicht und war folglich die „gute Gesellschaft“ in praktischer Tätigkeit, für die es rechtzuerhalten: Die nichts als eine Form Am Schluß möge

vor allem galt, die herrschende politische Ordnung aufathenische Demokratie war, etwas überspitzt ausgedrückt, der Regierung. eine Überlegung stehen, die kaum je als ein Charakteristi-

kum der athenischen Form von Demokratie herausgestellt worden ist, ich meine die außergewöhnliche Dichte der Organisationsformen, in der die poli-

tische Ordnung abgesichert war. Die drei großen Behörden - Volksversammlung, Rat und Geschworenengerichte - und die Beamtenkollegien, Gesandten und Priester bilden den äußeren Rahmen der Demokratie; doch nicht sie, son-

dern das Netz von Gesetzen und ungeschriebenen Normen, die das Verhalten

der Bürger in den Institutionen und in dem Umgang mit ihnen regelten, sind das Kernstück der demokratischen Ordnung. An ihm haben die Athener fortwährend gearbeitet, haben es ausgebaut und korrigiert. An dem Wandel, den der

Vorsitz der Volksversammlung oder die Auslosung der Geschworenen durchgemacht haben (s.o. S. 165ff. 210ff.), kann man das Bemühen der Athener um eine

stete Sicherung und verfeinerte Durchsetzung der demokratischen Grundideen, zumal der Gleichheitsidee, aus der sich alles herleitet, ablesen. Der Gedanke der

Absicherung der demokratischen Grundordnung in Rechtsinstitutionen war in der Neuzeit nicht weniger stark, er fehlt in kaum einer staatstheoretischen

Schrift. Die Institutionen, wie z. B. die Selbstverwaltung, das unabhängige Richteramt oder die Dezentralisation öffentlicher Einrichtungen, sind die Barrieren gegen den Feind der Demokratie oder, wie bei Tocqueville, gegen den Herrn der

Verfassung selbst, wenn er als uniformierte Masse den sozialen Aspekt der Gleichheit überbetont. Die Garantie der Demokratie ruht auf der institutionel-

len Einbindung aller in ihr ablaufenden Prozesse, in Athen wie in der modernen Zeit. Allerdings unterscheiden sich die antike und die moderne Form prinzipiell voneinander. Während in der Neuzeit das Schwergewicht des institutionellen Rahmens auf die Beschränkung des souveränen Willens gelegt und also in

Gewaltenteilung, qualifizierten Mehrheiten und absoluten Abrogationsverboten die größte Sicherheit gesehen wird, überwiegt in Athen die direkte Kontrolle (Dokimasie, Rechenschaft, Anklage) und die persönliche Haftung des Bürgers für alle seine Initiativen im politischen Raum, einschließlich seiner Anträge vor

Volk und Rat und seiner Anzeigen gegen wirkliche oder vermeintliche Gesetzesbrecher. Der Unterschied beweist, daß die Athener den Volkswillen höher

schätzten als die Sicherheit des einzelnen bzw. einer Minderheit gegenüber dem Terror oder der Laune der Mehrheit. Die andere Auffassung beruht aber nicht

434

ERSTER TEIL: DARSTELLUNG

auf einem „Verdienst“ der Athener, sondern ist in der gegenüber der Moderne

völlig verschiedenen Ausgangsbasıs begründet: Die unmittelbare Demokratie mit ihrem absoluten Gleichheitsanspruch im politischen Raum kann den Gedanken der Gewaltenteilung nicht verwirklichen, sondern muß im Gegenteil dahin neigen, etwaige Ansätze dazu zu beseitigen oder einzuschränken. Darüber hinaus hat man zu bedenken, daß, wie gezeigt wurde, die Sicherheit des einzel-

nen in Athen nicht in demselben Maße wie heutzutage von dem Terror einer Mehrheit bedroht war: Die Stabilität der allgemeinen Lebensordnung, die nicht als verfügbar gedacht wurde, hat die dem einzelnen bzw. der Minderheit von der Mehrheit drohenden Gefahren jedenfalls insoweit herabgesetzt, daß seine überkommene Lebenssituation nicht oder doch nicht auf Dauer in Frage gestellt wurde.

Zweiter Teil

HINWEISE AUF QUELLEN UND FORSCHUNG

Die Darlegung der Forschung folgt den einzelnen Kapiteln. Innerhalb der Kapitel werden die allgemeineren Probleme vor den spezielleren und letztere in derselben Reihenfolge wie im Text behandelt. Die halbfett gesetzten Zahlen hinter den Namen moderner Gelehrter verweisen auf die Nummern der beiden Literaturverzeichnisse; eventuelle Seitenverweise stehen hinter der Zahl, 2. B.:

3, S.450ff.

I. Die Entwicklung Athens zur Demokratie Die Entwicklung der politischen Ordnung Atbens von Solon bis auf Perikles Die Quellen zur athenischen Verfassungsentwicklung bis auf Ephialtes sind

streckenweise dürftig und zudem teilweise in ihrem Wert umstritten. Unser Wissen ruht vor allem auf der - uns nur fragmentarisch bekannten - attischen Lokalgeschichte, der Atthis, deren Autoren (Atthidographen) erst seit der Mitte des 5. Jhs. zu schreiben beginnen. Der erste Atthidograph war Hellanikos aus Mytilene; der nächste, der auch der erste aus Attika stammende Atthidograph ist, Kleidemos, gehört sogar erst in die Mitte des 4. Jahrhunderts. Ältere Chroniken, auf denen diese Lokalhistoriker hätten fußen können, hat es wohl nicht

gegeben. Für die kritische Analyse dieser Quellengruppe hat JACOBY (278) den Grund gelegt. Seine Hauptthese, daß der früheste Lokalhistoriker Attikas, Hellanikos - außer Drakon, Solon, Herodot und abgesehen von gelegentlichen

Inschriften - keine schriftliche Quelle gekannt habe, wurde nicht widerlegt. Die ältere Zeit mußte demnach von unseren Quellen aus mündlicher Tradition

rekonstruiert werden. Auf Grund dieser Sachlage geraten alle überlieferten Angaben vor allem zur Geschichte des 7. und 6. Jahrhunderts in den Verdacht, von einer spáteren Zeit konstruiert oder doch verzerrt worden zu sein. Daran hat auch die Auffindung eines Abrisses der athenischen Verfassungsgeschichte von Aristoteles auf einem Londoner Papyrus im Jahre 1890 (Atbenatón politeía; die Autorenschaft des Aristoteles wird teils verteidigt, wie von WILAMOWITZMOELLENDORFF, 276, teils bestritten, wie von HIGNETT, 280, doch ist die Frage

für das Urteil über die in der Schrift gemachten Angaben nicht immer wesentlich), die in ihrem historischen Teil die athenische Geschichte von Drakon bis

zum Ende des 5. Jhs. vollständig überliefert, grundsätzlich nichts geändert (vgl. auch RUSCHENBUSCH, 279, und RAAFLAUB, 279a). Es ist durch sie eher die alte

Fragestellung nach dem Quellenwert der attischen Lokalgeschichte wiederbelebt worden. Trotz gelegentlicher optimistischerer Einstellung (etwa BERVE: Gnomon 27, 1955, 225ff.) überwiegt heute die von Jacoby vertretene kritische

Position. Man darf auch bei dieser Einstellung die Angaben der Atthidographen

438

ZWEITER TEIL: QUELLEN UND FORSCHUNG

bzw. des Aristoteles nicht von vornherein verwerfen, sondern muß - neben der

Verwertung älterer oder gar zeitgenössischer Parallelangaben und auch neben der immer erforderlichen Berechnung der historischen Wahrscheinlichkeit stets davon ausgehen, was wir nach Gegenstand und Interpretation mit einiger Sicherheit der entwickelten Demokratie zuzurechnen und also für eine Rekon-

struktion der älteren Geschichte abzuziehen haben. Für die Entwicklung des historischen Bewußtseins der Athener von ihrer älteren politischen Verfassung hat die während und nach dem Peloponnesischen Krieg härter werdende Krıtik an der Demokratie eine wichtige Rolle gespielt. Durch sie wurden gemäßigte oder auch konservative Idealvorstellungen unter dem Begriff der „väterlichen

Verfassung" (πάτριος πολιτεία, pátrios politeía) in mannigfachen Brechungen in die frühe Zeit projiziert, die sowohl von Oligarchen als auch von Demokraten zur Rechtfertigung ihrer jeweiligen politischen Gedanken benutzt wurden; zu diesem Komplex haben sich u.a. besonders FUKS (962), RUSCHENBUSCH (963) und WALTERS (964, S.131ff.) geäußert.

Von

den

Athens

allgemeinen

Handbüchern

zur

Verfassungsgeschichte

ist noch immer die „Griechische Staatskunde“ von BUSOLT in der

Bearbeitung von SWOBODA sehr nützlich (176, S.758-1239). Das ganz unter dem Eindruck der Auffindung der aristotelischen Schrift vom Staat der Athener stehende Werk hat jedoch auf weite Strecken die aristotelische Darstellung unkritisch übernommen. Es ist daher unerläßlich, zu jeder Frage auch die neuere Literatur heranzuziehen. Aus diesem Schrifttum ist die gegenüber den

Atthidographen und Aristoteles sehr kritische Behandlung der athenischen Verfassungsgeschichte bis zum Ende des 5. Jhs. durch HIGNETT (280) hervorzuheben, auch wenn sie bisweilen in der Kritik etwas über das Ziel hinausschießt und

überhaupt vieles strittig bleibt. Zur neueren Literatur vgl. den Kommentar zur aristotelischen Athenaion politeia von P.J. RHODES (117).

Von den Gruppen der Gesellschaft in archaischer Zeit (8.-6. Jh.) wissen wir naturgemäß am meisten über die Adligen. Die lange geltende, im deutschen Sprachraum unter vielen anderen von TOEPFFER (285) und BUSOLT (176, Bd. 1 S.248ff.) vertretene Meinung, daß das adlıge Geschlecht (genos) ein

fest gefügter, von einem gemeinsamen Heroen abstammender Familienverband gewesen sei, der exklusive Kulte und einen gemeinsamen Begrábnisplatz besessen und dessen hóhere Einheit die Phratrie gebildet hátte, kann heute keine allgemeine Geltung mehr beanspruchen. Vor allem auf Grund quellenkritischer und begriffsgeschichtlicher Überlegungen haben - nach etlichen vorbereitenden Arbeiten u.a. von ANDREWES (292:293) und LACEY (869) - vor allem die fast

gleichzeitig erschienenen Bücher von ROUSSEL (297) und BOURRIOT (298) ge-

zeigt, daß die Vorstellung von einer geschlossenen adligen Gesellschaft, für welche die Herkunft konstitutiv ist, keinen Rückhalt in unserer Überlieferung hat und sie offensichtlich nach dem Vorbild der frührómischen gens konstruiert ist. Nach dem Sprachgebrauch Homers meint das von génos umfaßte Begriffsfeld einfach nur „Herkunft“, ist im Zusammenhang herausragender Personen

bzw. Familien in den Quellen von ofkoi, nicht von géné die Rede und gibt es

l. Die Entwicklung Athens zur Demokratie

439

keine stichhaltigen Belege für die Annahme großer Geschlechterclans mit ihnen eigenen Kulten oder von einem gentilen Gemeineigentum. Erst im 4. Jh. entwickelt sich durch eine historistische Mythisierung von Leistungen und durch die Neigung zu einer Ordnung der verschiedenen Phänomene die Vorstellung von einem aus den ältesten Zeiten bis in die Gegenwart herabreichenden Ge-

schlecht (genos). Aber nicht nur das genos, auch die anderen uns aus klassischer Zeit gut bekannten gesellschaftlichen Organisationsformen, wie Phyle, Phratrie und die Kultvereine der Orgeonen, haben wir mit den genannten Autoren nicht als alte, nach früherer Meinung teils bis in die Wanderungszeit zurückreichende Einrichtungen, sondern als in der archaischen Zeit entstanden anzusehen, in der

sie für die Genese der Polis einen wichtigen Faktor darstellten. Es bleibt allerdings offen, wenn auch schwer zu beantworten, inwieweit ältere soziale Formen

die Voraussetzung für diese jüngeren gebildet haben (vgl. zu einem Versuch WELWEI, 294). - Die Ergebnisse vor allem Bourriots sind vielfach, so u.a. von FINLEY (304, S.109ff.), anerkannt und neuerdings insbesondere von STAHL (299)

und STEIN-HÖLKESKAMP (300) in umfangreichen Darstellungen mit guten Gründen verteidigt, ausgebaut und vor allem auch in einen weiteren historischen Zusammenhang gestellt worden. Bei der letzteren liegt das Schwergewicht auf der Darstellung der Adelsgesellschaft als Wettbewerbsgesellschaft mit

einer Wettbewerbsethik, auf deren Handlungsspielräumen ebenso wie auf deren Selbstauffassung und auf dem Wandel dieser gleichsam „vorpolitischen“ Rolle durch die Übernahme politischer Aufgaben in einer sich entwickelnden Polisgesellschaft. Diese neue Rolle, die naturgemäß nicht von allen übernommen wur-

de, kam dann nach Stein-Hölkeskamp für Athen durch Kleisthenes zu einem Abschluß, der durch seine Phylenreform den Adligen jeden Entscheidungsspielraum für die Durchsetzung von Eigeninteressen abschnitt. Stahl seinerseits betont, daß die Aristokratie bei allem eigengesetzlichen Handeln kein gegen die Entwicklung der Polis zu einer politischen Organisationsform gerichteter Faktor gewesen sei, sondern gerade in der Zeit der Großen Kolonisation Aufgaben übernommen habe, die sich auf die Polis bezogen, und sie darum im ganzen

gesehen die Herausbildung der Polis eher gestützt habe als umgekehrt (gegen SPAHN, 301). Im übrigen hat er das Schwergewicht seiner Arbeit auf die Rolle der Adligen unter der (peisistraudischen) Tyrannis gelegt, unter der wenigstens für einige Adlige die Handlungsspielráume nicht vóllig eingeengt und damit die

älteren Strukturen aristokratischen Handelns jedenfalls partiell nicht aufgehoben waren (dargelegt vor allem am Beispiel der beiden Miltiades, des Kimon,

Sohn des Stesagoras, und der Alkmäoniden) und auf die Herausbildung Athens zu einer staatlichen Organisationsform. Letztere stellt er sich so vor, daß das

Bedürfnis nach zentraler Gewalt, entstanden bzw. aktiviert in der Kolonisationszeit, zunächst das Archontat hervorgebracht (ein ursprüngliches Kónigtum mit Gewaltmonopol verwirft er) und letzteres dann - nach Stahl verhältnismäRig spát (das homerische Gericht, Il. 18,497ff., ist nach ihm, gegen WOLFF, 302,

und RUSCHENBUSCH, 303, noch nicht institutionalisierte Gewalt, sondern Peitho) - auch die Gerichtsgewalt erlangt habe. Der Wunsch nach Paralysierung

eines u.U. allzu mächtigen Archontats und Sachzwänge hátten dann weiter zur Einrichtung des Polemarchen und des Basileus geführt. - Von diesen jüngeren

440

ZWEITER TEIL: QUELLEN

UND FORSCHUNG

Forschungen führt kein Weg zu den älteren Arbeiten zurück. Es bleiben jedoch Bedenken gegen die Schlüssigkeit einiger Überlegungen. Am schwersten wiegt, daß ın diesem neuen Bild einer Adelskultur bei allem Anteil, den die Autoren

einzelnen Adligen an der Entwicklung zur Polis zumessen (Stein-Hölkeskamp und vor allem auch Stahl sehen natürlich das Problem), die Polis sich, wenn

nicht gegen, so doch neben den Adligen bzw. an diesen vorbei zu einer politischen Organisauonsform entwickelt hat. Wir sehen in diesem Bild eine im Entstehen begriffene Polis ohne Adlige. Wie aber soll man sich die Herausbildung einer nichtadligen Polisgesellschaft - das, was Stein-Hólkeskamp „die Bürgerschaft" nennt - und ihrer Institutionen, für die der Adel nun keinesfalls mehr das dynamische Element sein kann, vorstellen? Hat eine Bauernschaft, die

doch notorisch keinen Mund zum Sprechen hatte, die Polis mehr oder weniger allein geschaffen? Wer ist diese ,,Bürgerschaft"? In der alten Vorstellung sind die

Adligen gleichsam apriorisch die Inhaber der als uralt gedachten gesellschaftlichen Organisationsformen und Ámter. Die neue Vorstellung erklärt die Adels-

gesellschaft ohne Zweifel besser und vor allem quellenkonformer. Aber deren Verbindung zur entstehenden Polis bleibt undeutlich. SPAHN (301) hat versucht,

diese nichtadlige Gesellschaft der vorkleisthenischen Zeit schärfer zu umreißen. Er glaubt, eine Gruppe der Bauern/Hopliten in griechischen Stádten (in Athen

durch Bürger erweitert, die unterhalb dieser Gruppe lagen) auszumachen, die in einem von ihm wenig verdeutlichten Prozeß politisiert worden sei und der er den Charakter einer politischen Gruppe zuspricht. Er nennt sie eine „Mittelschicht“ (nach dem im späten 5. Jh. und von Aristoteles benutzten Begriff der „Mittleren“, μέσοι, mésoi). Aber es fehlt für die Annahme einer solchen Grup-

pe, wie ich meine, jeglicher Beweis, und wenn Spahn für den Gruppenbegriff

sich auf Quellen des spáten 5. und des 4. Jhs. beruft, kann das wenig überzeugen, weil bei der politischen Begrifflichkeit dieser Zeit bereits Demokratiekritik zu berücksichtigen ist und darum ein Begriff wie mésoi sich wenig dazu eignet, in die vorkleisthenische Zeit transponiert zu werden. Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind uns außer durch insututionenkundliche und begriffsgeschichtliche Daten auch durch die auf uns gekommenen Personen selbst, ihre Namen

und eventuell Lebensschicksale, erfaRbar. Für

Athen sind alle personenkundlichen (prosopographischen) Daten handbuchartig gesammelt. Die álteren Arbeiten zur Prosopographie Attikas von KIRCHNER (283) und TOEPFFER (285) sind noch heute wichtige Sammelwerke, besonders die erstere; doch sind sie durch neuere Arbeiten ergánzt, teilweise aber auch

schon ersetzt worden. Für die Oberschicht ist heute die Prosopographie der Familien zwischen 600 und 300 v. Chr. von DAVIES das maßgebliche Handbuch (286); es ist dort nicht nur zu jeder Person der gesamte moderne gelehrte Apparat zusammengetragen, sondern auch den Querverbindungen der Familien große Aufmerksamkeit geschenkt worden. Sehr nützlich ist auch eine nach Demen und Generationen geordnete Namenliste aller 779 direkt bezeugten athenischen Bürger der liturgical class, aus der man weitere Zusammengehórigkeiten erkennen kann (5.602-624). Da in dieses Buch nur Personen, für die die Übernahme von Leiturgien nachzuweisen ist, aufgenommen wurden, vermißt man jedoch manchen bekannten Politiker, wie z. B. Kylon und Ephialtes. Für

1. Die Entwicklung Athens zur Demokratie

441

die Zeit nach dem Jahre 400 ist ergánzend das Buch von MacKENDRICK über die athenische Aristokratie heranzuziehen (289). Politische Entscheidungsprozesse

hat man sich in der Adelszeit als ein Kráftespiel unter den adligen Familien bzw. deren Oberhäuptern vorzustellen. Viel schwieriger ist der Nachweis politischer

Gruppierungen in spátarchaischer und klassischer Zeit; vgl. dazu u. S.558ff. Die wichtigste Quelle zu Solon sind dessen Gedichte. Die spätere attische

Historiographie ist vor allem faßbar in der Biographie Plutarchs über Solon und bei Aristoteles AP 5-12. Die Gesetze Solons sind später überarbeitet und auch durch willkürliche Zuweisungen verfälscht worden. Aus dieser späteren Literatur hat RUSCHENBUSCH (305) die von ihm für solonisch gehaltenen Fragmente

des Gesetzgebungswerkes zusammengestellt; doch fehlt noch der Kommentar, der die Kriterien für die Echtheit bzw. Unechtheit der einzelnen Fragmente zu liefern hätte. Über Solon informieren eine Reihe guter Darstellungen von Teilbereichen seines Wirkens, so für die Bauernbefreiung das Buch von WOODHOUSE (310);

eine eindringende neue Gesamtdarstellung von Person und Werk fehlt indessen. Den besten Überblick, der nicht nur Daten sammelt, sondern das politische

Wollen Solons auf dem geistigen Hintergrund der Zeit analysiert, stammt von HEUSS (156, $.162-177), eine weniger anspruchsvolle kleine Skizze, die eher alte Forschungsansätze reproduziert, von OLIVA (307). - WALLACE (308) hat das Jahr 594 als das Jahr des Wirkens von Solon gegen HIGNETT (280, S.316ff.), der es in

die Zeit zwischen 580 und 570 setzt, mit guten Gründen verteidigt. Zur Bauernbefreiung schrieb Solon ein Gedicht (DIEHL, fr. 24), das zu den

berühmtesten politischen Dokumenten der Antike zählt. Den allgemeinen wirtschaftlichen Hintergrund in solonischer Zeit hat in einem kleinen Aufsatz FRENCH (309) aufzudecken versucht. Ein zentrales Gewicht innerhalb der Dis-

kussion um die agrarpolitische Lage der Zeit kommt den Pfandsteinen (ὅροι, bóroi) zu, die auf den beliehenen Grundstücken aufgestellt wurden. Die auf uns

gekommenen Steine werden, mit teilweise weitreichenden Konsequenzen, zur Rekonstruktion des Bodenrechts in solonischer Zeit herangezogen. WOODHOUSE (310) schloß aus den Steinen auf einen besonderen Typ von Pächtern, die Hektemoren (εἐκτήμοροι, hektemoroi, „Sechstler“), die in vorsolonischer Zeit in

härtere Abhängigkeit geraten sein sollen. Sowohl er als auch FINE (312), der ın

einer mustergültigen Ausgabe die Steine vorgestellt hat, gingen bei ihrer Interpretation der Steine, von denen übrigens keiner in das 6. Jh. zurückreicht, von der Unveräußerlichkeit des Bodens in vorsolonischer Zeit aus, woraus sich das

Ausmaß der körperlichen Haftung, welche die einzige Form der Haftung für Immobilien gebildet hätte, von selbst ergibt; doch ist dieser Schluß von berufener Seite zurückgewiesen worden (PRINGSHEIM: Gnomon 24, 1952, 351ff.). Die

umfangreiche moderne Diskussion über die Bedeutung der héroi für das atheni-

sche Pfandwesen konzentriert sich naturgemäß auf die spátklassische und hellenistische Zeit. Zum Stand der Debatte vgl. PECIRKA (512), FINLEY (517; 518),

HARRISON (709, Bd. 1, S.253ff.) und P. MILLETT: The Attic horoi reconsidered in the light of recent discoveries, in: Opus 1, 1982, 219-249 (mit der Publikation

neuer Steine im Anhang).

442

ZWEITER TEIL: QUELLEN

UND FORSCHUNG

Die Zugehörigkeit auch der nicht in die drei solonischen Klassen eingeteilten

Bürger zu den politisch Berechtigten hat mit Nachdruck P. FUNKE: GGA 240, 1988, 24ff. (gegen Verf. in der 1.Aufl. 17f. und pass.) hervorgehoben. Wenn ich hier seiner Meinung weitgehend folge, berufe ich mich allerdings nicht auf das Zeugnis des Aristoteles, nach dem die Theten in solonischer Zeit an der Volksversammlung teilhatten (AP 7,3; Pol. 1274a15-21; 1281b31-34), da es sich wohl

kaum auf eine gesonderte Überlieferung gründet und zudem die Angaben des

Aristoteles zur älteren Geschichte sowohl durch die Tradition als auch durch seine eigenen systematischen Ansätze verändert bzw. verzerrt worden sind. Für

die Annahme einer Beteiligung auch der unter dem Zeugiten-Limit besitzenden Bürger an der Volksversammlung sprechen aber allgemeinere Gründe, nämlich die Überlieferung zur vorsolonischen Volksversammlung (Homer!), ferner der

Gesamtcharakter des solonischen Reformwerkes, das auf alle Bürger zielte (Funke a.O.), und schließlich das Fehlen einer anderslautenden Überlieferung. Auch nach E. RUSCHENBUSCH: Zur Verfassungsgeschichte Griechenlands, in: HOEPFNER/SCHWANDNER, 275, Bd. 2, S.43.51 haben die wenig oder nichts besitzenden Bürger in homerischer Zeit und eben auch im Athen Solons Zugang zur Volksversammlung gehabt. Da wir danach immer dann, wenn die Entschei-

dungsgewalt bei der Volksversammlung liegt und alle Bürger an ihr teilhaben, von Demokratie sprechen müssen, hátte es diese nicht nur z. Zt. Solons, sondern auch schon z. Zt. Homers gegeben, was Ruschenbusch denn auch ausdrücklich sagt (5.47: in Griechenland sei „die Regelverfassung die Demokratie“ gewesen).

Man geht nicht fehl, wenn man das für eine Begriffsspielerei hält. In dem Werk Solons sieht vor allem mit Bezug auf das Eunomie-Gedicht (fr. 3 D) auch STAHL (311, bes. 5.406 Anm.59) die „Geburtsstunde des demokratischen Gedankens“.

Die Demokratie seit 461/60 ist für ihn nur die konkrete Verwirklichung eines Ansatzes, der in der „Grundidee des Bürgerstaats“ bei Solon seinen Anfang nimmt. Bei allem Bemühen Solons um die Schaffung eines Verantwortungsbe-

wußtseins aller Bürger (s. S.26f.) ist doch die Idee der politischen Gleichheit, die eine Bürgeridee voraussetzt, durch Solon gerade nicht verwirklicht, sondern im

Gegenteil von ihm durch die timokratische Ordnung gerade blockiert worden, und mit der Demokratie ist, wenn man nicht die antiken Begriffe leicht nehmen will, untrennbar das verbunden, was nach 461/60 die politische Ordnung beherrscht und sie von den traditionellen Ordnungen absetzt (schwache Regierung, Massengerichte, Diäten usw.). Ich würde das, was Stahl die Anfänge einer „Idee des Bürgerstaats“ nennt, als Aufbruch zur Entdeckung des politischen

Raumes durch breitere Bevölkerungskreise bezeichnen, der nicht schon als die Herrschaft aller, was doch „Demokratie“ bei den Athenern meint, sondern als

Teilhabe an einer immer noch durch Adlige geprägten Ordnung zu verstehen

ist.

In der Errichtung neuer Institutionen ist Solon wohl zurückhaltender gewesen, als man ursprünglich annahm und durch die AP des Aristoteles bestätigt glaubte. Die sehr kritische Haltung von HIGNETT (280) ist jedenfalls im Prinzip gerechtfertigt, ebenso die von MOSSÉ (306, s. aber unten), wenn sie für Solon

überlieferte wirtschaftspolitische Maßnahmen und institutionelle Reformen (Rat der Vierhundert, Gerichtsreform) aus politischen Konstellationen des 5.

I. Die Entwicklung Athens zur Demokratie

443

und 4. Jhs. in die frühe Zeit transponiert sieht. Eine Schlüsselrolle nimmt in der Diskussion die Frage ein, ob Solon, wie es die Überlieferung will, einen neuen Rat neben dem Adelsrat geschaffen hat, also eine βουλὴ δημοσίη („Volksrat“)

von 400 Mann, je 100 aus den damaligen vier Phylen, und zu welchem Zweck er

das tat. In der Forschung wird heute der Rat meist Solon zugeschrieben und ihm auch bereits eine zentrale Funktion, ähnlich der des kleisthenischen Rates der 500, eingeräumt. Das ıst wohl ein Anachronismus; die Kompetenz eines neuen

Rates muß aus der politischen Situation Solons verstanden und darf nicht von dem späteren Rat her konstruiert werden. Da liegt dann immer noch die Annahme am nächsten, daß Solon mit dem Rat als einer Berufungsinstanz für die Urteile der adligen Richter einer Forderung seiner Zeit nachkam. Der Stein von Chios, der in das erste Drittel des 6. Jhs. zu datieren ist, verweist in dieselbe Richtung (vgl. MEIGGS/LEWIS, 127, Nr.8). Die Einrichtung eines Rates als eine Berufungsinstanz durch Solon sollte jedenfalls gegen die radıkale Kritik von HIGNETT (280, S.89ff., ebenso MOSSE, 306, S.434f.) nicht bestritten werden; sie

scheint auch dadurch bestätigt zu werden, daß bei dem oligarchischen Umsturz vom Jahre 411 ein Rat von 400 Personen (damals der zeitgenössischen Phylenordnung entsprechend aus jeder Phyle 40, Arist. AP 31,1) geschaffen worden ist, was kaum ohne einen Bezug auf einen älteren, der „väterlichen Verfassung“

(πάτριος πολιτεία, pátrios politeía) zugerechneten Rat von 400 Personen gesche-

hen sein kann. - Auch über den Charakter des Volksgerichts (Heliaia) in solonischer Zeit wird gestritten. Die überwiegende Zahl von Forschern hält es, wie im Text dargelegt, für ein instanzliches Gericht gegen die Urteile von Einzelrichtern, so z. B. LIPSIUS (708, Bd. 1 S.27ff.), BUSOLT (176, S.849f.), BONNER/SMITH (183, Bd. 1 S.159ff., Bd. 2 S.232ff.), WOLFF (302, S.78ff.) und OSTWALD (686, S.9ff.). Auf Grund der Wortbedeutung von ἄφεσις, die in klassischer Zeit noch „Überweisung“, „Übertragung“, nicht „Appellation“ bedeute, glaubt RU-

SCHENBUSCH (313) nachgewiesen zu haben, daß auch noch Aristoteles AP 9,1 das solonische Volksgericht als ein erstinstanzliches angesehen und erst Plutarch Sol. 18,2 auf Grund der in der Kaiserzeit veränderten Wortbedeutung es für ein

Berufungsgericht gehalten habe. Aber „Überweisung“ kann eben auch das meinen, was später bei den Römern appellatio heißt, und daß Aristoteles 2.0. mit der Wendung die Einrichtung des Volksgerichts gemeint habe, ist sprachlich viel schwerer nachzuvollziehen. Auch STAHL (299, 5.173.) konstruiert die solonische Heliaia als erstinstanzliches Volksgericht, ebenso SEALEY (687, S.60ff.),

der in ihr ein von der Volksversammlung unabhängiges Gremium, „the parent of the classical dikasteria“ (5.69), sieht. Im allgemeinen sieht man in der Heliaia

Solons die Volksversammlung, und das dürfte wohl den Vorzug vor der von HANSEN mehrfach (zuletzt 314, dagegen OSTWALD, 686, S.10 Anm.29) vorgestellten These verdienen, daß Solon ein neues, ın Dikasteria unterteiltes Ge-

richtsgremium mit erlosten Richtern schuf. - Die Einrichtung der Popularklage durch Solon wird nicht bestritten. Unter den Arbeiten zu ihr sind LATTE (315), GERST (837, S.39ff.) und vor allem RUSCHENBUSCH, der die Entstehung und die

Intention der Popularklage in einer klaren, zusammenfassenden Form erneut behandelt hat (712, S.47ff.), herauszuheben.

Auftergewóhnlich lebhaft wurde und wird über die Solonische Gewichts- und

444

ZWEITER TEIL: QUELLEN UND FORSCHUNG

Münzreform

diskutiert. Die ältere Ansicht, daß Solon mit der Reform vom

äginetischen Münzfuß weg zum euböischen strebte und damit Athen vom äginetischen Einfluß befreien wollte (so u.a. KÖHLER, 316, und HEAD, 317), kann nach den Untersuchungen von KRAFT (319 und 320) auf Grund der Ge-

wichte des vorhandenen Münzmaterials nicht stimmen: Die ältesten athenischen Münzen standen keineswegs auf äginetischem, sondern auf chalkidischem Fuß. Grundlegend ist für jeden Versuch, hier weiterzukommen, die Interpretatıon von Arıst. AP 10, wozu vor allem KRAFT heranzuziehen ist. Heute wird im

allgemeinen Solon nicht nur die Gewichts-, sondern auch die Münzreform zugesprochen, und zwar in der Weise, daß er die ältesten, sogenannten Wappenmünzen (die Embleme dieser Münzen, wie Stierkopf, Rad, Eule, Gorgoneion, werden, entsprechend den Schildzeichen, als Wappen von Adelsfamilien erklärt)

prägen ließ und damit die Münze in Athen einführte; die Prägung der ältesten Eulenmünze (Vs. Athena-Kopf, Rs. Eule mit Buchstaben A®E; sie werden einfach als „Eulen“ γλαῦκες, glasikes, bezeichnet), die ein Tetradrachmenstück war, wird dann meist dem Peisistratos zugewiesen. Von den Numismatikern, welche die ersten athenischen Münzen in die Zeit nach Solon datieren, sind vor allem KRAAY (318, mit älterer Literatur) und KROLL (322) zu nennen. Nach

ersterem sind die Eulenmünzen um 525 v. Chr., nach letzterem die Wappenmünzen ca.540/530 und die Eulenmünzen erst in spätpeisistratidischer Zeit, um 516 v. Chr., eingeführt worden. CAHN (321), auch er ein Kenner der athenischen

Numismatik, ist in vielen Beiträgen für Solon als den Begründer der athenischen Münze und darüber hinaus für die gleichzeitige Prägung der Wappen- und Eulenmünzen eingetreten. Es bleiben heute gewiß noch manche Fragen offen, doch darf als weitgehend gesichert gelten, daß vor allem auf Grund stilistischer Kriterien die Anfänge der Eulenmünzen in die spätpeisistratidische Zeit zu setzen sind. Für die verschiedenen Forschungsansätze sind in erster Linie rein numismatische Begründungszusammenhänge, die sich aus einer Kombination verschiedener Faktoren (Münzbild, Stilkritik, Gewichtssystem, Nominale, Zahl der Stempel, Häufigkeit des Vorkommens, Münzhortfunde) zusammensetzen,

maßgebend. Zur Diskussion vgl. R.-ALFÖLDI (323, S.83ff.). Der Spruch Solons über das Maßhalten μηδὲν ἄγαν („nichts allzusehr“) ist von dem Kirchenvater Clemens von Alexandrien, strom. 1,61,1, überliefert worden. Das Gedicht über die Eunomie steht bei DIEHL, fr. 3; die Distanzierung

von der Gleichheit der Gruppen (Voopoipía, isomoirta) fr. 23,21. Die Hauptquellen zur Geschichte der Peisistratidenzeit sind Her. 1, 59-64, Thuk. 6,54,1-59,4 und Arıst. AP 13-19.

Eine der wichtigsten und meistdiskutierten Fragen ist die nach dem Ursprung der Tyrannis. Zur Lage der Forschung vgl. STAHL (299, S.69ff.). Sowohl Herodot als auch Aristoteles wissen von drei Gruppierungen der athenischen Bevólkerung, die bei dem Kampf um die Tyrannis eine Rolle gespielt haben sollen, nämlich die der Pediaker (πεδιακοί, πεδιεῖς), Paralier (παράλιοι, πάραλοι) und Diakrier oder Hyperakrier (διάκριοι, ὑπεράκριοι). Sie werden auf die drei groBen

landschaftlichen

Räume

Attikas,

die auch

später der kleisthenischen

Trittyen-Einteilung zugrunde gelegen haben, bezogen. Werden diese drei Grup-

I. Die Entwicklung Athens zur Demokratie

445

pen von Herodot mit einzelnen adligen Führern verbunden, hat Aristoteles aus ihnen, seinem Erkenntnisinteresse entsprechend, drei politische Gruppen gemacht, die jeweils eine andere Form von Verfassung wünschen (Oligarchie, gemäßigte Verfassung, Demokratie). Vor allem in der älteren Forschung ist der anachronistische Bericht des Aristoteles oft zur Grundlage der Rekonstruktion

gemacht und sind als Ausgangspunkt für die Tyrannis drei politische Gruppierungen konstruiert worden, die sich nach landschaftlicher Herkunft (Ebene des Kephisos; Küstengebiet am Saronischen Golf; Bergland im Nordosten Attikas)

und sozialer Lage der Bevölkerung (grundbesitzender Adel; Bauern mit mittelgroßen Höfen, Fischer, Händler und Handwerker; Kleinbauern, Tagelöhner) unterschieden haben sollen. Peisistratos hätte sich danach als „Führer der

Gruppe der Dikarier" (BENGTSON, 157, 5.133) etabliert, und seine Tyrannis wäre folglich auch von dorther, d. h. als bauernfreundliche Herrschaft, zu inter-

pretieren. Andere, die gewiß zu Recht den Rückgriff auf Aristoteles als methodisch unzulässig zurück weisen, sehen in dem auch bei Herodot deutlich greifbaren Zusammenhang der inneren Unruhen mit unterschiedlichen Gebieten Attikas einen Hinweis darauf, daß es sich um Kämpfe zwischen adlıgen Personen bzw. Familien gehandelt habe, die in jeweils verschiedenen Landstrichen Attikas Besitz und Einfluß hatten (SEALEY, 329); es sei dabei vor allem auch um die

Kontrolle über die Zentralgewalt in Attika gegangen, um die von den in der Kephisos-Ebene sitzenden Familien mit mehr Aussicht auf Erfolg gefochten wurde als von denen, die im nordöstlichen Bergland saßen. Auch STAHL (299,

S.S6ff.) sieht die Tyrannis aus einer Stasis adliger Häuser entstehen, die sich jeweils auf regionale Kräfte gestützt habe. Diese regionalistische Sicht kann jedoch mit dem Wenigen, was wir über die Besitz- und Einflußverhältnisse der in Frage kommenden großen Familien wissen, nicht gut in Einklang gebracht werden; Besitz und Einfluß z. B. der Alkmäoniden scheint eher verstreut gewe-

sen zu sein. Es ist wohl richtiger, die unruhigen Jahrzehnte nach Solon als eine Zeit rivalisierender Adelskämpfe anzusehen, in der sich viele kleine Gruppen gegenüberstanden, und die Aufrichtung der Tyrannis durch Peisistratos, bei aller Unterstützung, die seine Familie in Attika haben mochte, dann doch eher für eine Konsequenz vor allem äußerer Unterstützung zu halten; in diesem Sinne etwa GHINATTI (290) und KLUWE (330).

Bei der Annahme sehr viel bunterer politischer Verhältnisse wird auch die von der Überlieferung behauptete mehrfache Vertreibung des Peisistratos verständli-

cher, die eine von dem Kriterium der inneren Wahrscheinlichkeit ausgehende Kritik bestritten hatte (Literatur bei BENGTSON,

157, 5.136, Anm.5); neuere

chronologische Untersuchungen zur Peisistratidenzeit, die auch die Brüchigkeit aller uns überlieferten Angaben zeigen, schenken den antiken Angaben wieder mehr Vertrauen (HEIDBÜCHEL, 327). RHODES (328) ist zu einer ansprechenden

Lösung der schwierigen chronologischen Probleme gelangt. Mit der Frage nach der Entstehung der Tyrannis hängt die nach dem Charakter der Herrschaft des Peisistratos eng zusammen; sie wird ebenso unterschied-

lich beantwortet. Die Mehrzahl der Forscher sieht in dem Tyrannen einen Bauernpolitiker, auf jeden Fall einen an gesellschaftlichen Problemen interessierten oder gar an sie gebundenen Herrscher (so u.a. auch URE, 324; CORNELI-

446

ZWEITER TEIL: QUELLEN UND FORSCHUNG

US, 325); andere betonen den persönlichen Charakter seiner Herrschaft (BERVE, 326; KLUWE, 330; KOLB, 331), wobei jedoch diese Herrschaft bei aller Eigenstän-

digkeit, die sie als ein in sich ruhender Typ von Herrschaft haben mochte (Berve a.O.), doch auch als persönliche Gewaltherrschaft, die sie in der Tat darstellt,

nur aus der Adelsgesellschaft, aus der sie kommt, und aus den Bedingungen von deren Verfall verstanden werden kann (Kluwe und Kolb a.O.). In der Tat läßt

sich aus den Bauten und sonstigen überlieferten Angaben über die Tátigkeit der Peisistratiden keine auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen ausgerichtete pro-

grammatische Politik herauslesen, sondern eher ein persónlicher Macht- und Geltungswille vermuten (so vor allem Kolb). Die politische Bedeutung der Peisistratiden für die Entwicklung der athenischen Verfassung liegt weniger in der Verwirklichung bestimmter politischer Grundsätze als in der Wirkung einer

langen, auf eine einzelne Person bzw. Familie ausgerichteten Herrschaft, um deren Erhalt willen der Tyrann den staatlichen Organisationsrahmen gestützt,

ausgebaut und auf Athen zentriert hatte. Da in diesem Organisationsrahmen der Tyrann selbst keine konstitutive Funktion besaß, konnte er nach der Beseitigung

der Tyrannis von der isonomen Gesellschaft einfach übernommen werden oder richtiger: mußte er ihr wie von selbst zufallen, da es eine geschlossene aristokratische Gesellschaft, die ihn hätte ausfüllen können, nicht gab (und nie gegeben hat) und die aristokratischen Häuser, die noch Einfluß hatten, aus der peisistra-

tidischen Zeit geschwächt hervorgegangen waren (in diesem Sinne etwa STAHL, 299).

Zu den von Peisistratos neu eingerichteten bzw. erweiterten Festen vgl. DEUBNER (589), PICKARD-CAMBRIDGE (593) und PARKE (590), zu den Kulten

der Zeit vor allem jetzt SHAPIRO (333). Eine Liste der peisistratidischen Bauten enthält YOUNG (332). - Die Annahme von CONNOR (334), daß die Einführung

des Kultes des Dionysos Eleuthereus und damit der Städtischen Dionysien in

Athen erst bald nach 506 erfolgte und das Dionysos-Fest somit von Anfang an in engem Zusammenhang mit der Befreiung vom Tyrannen und der Einrichtung der „bürgerlichen Freiheit“ („civic freedom“, 5.17) steht, ist eine wenig

überzeugende Spekulation, da sie die Annexion von Eleutherai spät und die Vorstellung einer demokratischen Freiheit sehr früh ansetzt, darüber hinaus die für die peisistratidische Zeit überlieferten Aufführungen von Tragödien irgendwelchen unbekannten Demenfesten zuweisen muß (zu letzterem vgl. F. QUASS: Gonmon 66, 1994, im Druck). - Zum Zwölfgötteraltar vgl. THOMPSON/WYCHERLEY

(261, S.129ff.) und SHAPIRO (333, S.133ff.). A.E. RAUBIT-

SCHEK: Die attischen Zwólfgótter, in: P. ZAZOFF (Hrsg.): Opus Nobile. Festschr. zum 60. Geburtstag von Ulf Jantzen, 1969, 129f. (danach auch STAHL,

299, S.239ff.) hat in Wiederaufnahme einer Bemerkung von Carl Robert angenommen, daß die zwölf Götter dieses Altars „alteingesessene attische Gotthei-

ten" darstellten und sie mit dem alten Areopag (und den Heroen des Parthenon-Frieses) gleichzusetzen wáren. Das ist ganz unwahrscheinlich und wird auch nicht durch die Formel des Keryx (Heroldes) gestützt, in der neben Zeus, Athena, Demeter und Kore auch die zwölf Götter genannt werden; die zwölf

Gótter treten hier als eine untrennbare Einheit auf. Vgl. vor allem die Bemerkungen bei SHAPIRO a.O. S. 133ff.

I. Die Entwicklung Athens zur Demokratie

447

Die Charakterisierung der Peisistratidenzeit als kronidisches, das heißt Goldenes Zeitalter (ὁ ἐπὶ Κρόνου βίος) steht bei Arıst. AP 16,7, das 5.33 zitierte Wort des Peisistratos bei Arıst. AP 15,5.

Die Hauptquellen zur Reform des Kleisthenes sind Her. 5,66.69 und Arist. AP 21. - Zu der bronzenen Tyrannenmördergruppe von Antenor (ca. 509 fertig-

gestellt, von Xerxes geraubt, von Alexander oder einem der ersten Seleukiden zurückgebracht) und vor allem der uns in etlichen Repliken erhaltenen Gruppe von Kritios und Nesiotes, welche die geraubte ersetzen sollte (477/76 fertiggestellt), vgl. St. BRUNNSAKER: The tyrant-slayers of Kritios and Nesiotes. A

critical study of the sources and restorations, 1971. Was das Motiv des Kleisthenes für die Phylenreform gewesen ist, läßt sich auf Grund unserer literarischen Quellen nicht leicht sagen. Da die Reform in demokratischer Zeit die Basis der politischen Organisation darstellte, welche die

gleichmäßige Beteiligung aller in den demokratischen Gremien und die ebenso gleichmäßige Berücksichtigung aller bei der Aushebung sicherte, lag es nahe, in

ihr im nachhinein wie selbstverstándlich eine von Anfang an demokrausche Einrichtung zu sehen, die allein zu dem Zweck der Begründung der Volksherrschaft geschaffen worden war. So hat etwa Ch. MEIER in vielen Schriften, besonders ausführlich aber in seinem Buch über ,,Die Entstehung des Politischen bei den Griechen" (182, S.91-143), in der Phylenreform die Institutionali-

sierung der (damit auf Dauer gefestigten und gesicherten) politischen Solidarität breiterer Schichten der Bürgerschaft gesehen und die Veránderungen in der Zeit des Kleisthenes insgesamt als einen „Wandel der kollektiven Identität“ zu einer

„Bürger-Identität“ auf rein politischem Gebiet (338, S.76ff.) interpretiert. Ohne den in der Reform liegenden Gedanken der politischen Gleichstellung aller Bürger (mit Hoplitenausrüstung) zu verkennen, müssen wir sie aber zunächst einmal aus ihrer Zeit, also aus den Jahren nach der Vertreibung des Tyrannen, zu

verstehen suchen und kónnen daher die Adelskámpfe dieser Jahre als Auslôser (wenn auch nicht als Motivation für die besondere Form) der Reform nicht

einfach ausklammern (so auch RAAFLAUB, 379, S.120). Nach Beseitigung der Tyrannis schienen jedenfalls, wenn auch nur für kurze Zeit, die Rivalitäten der

adligen Häuser wieder aufzuleben und damit die Gesellschaft an die politischen Verhältnisse der vorpeisistratidischen Zeit anknüpfen zu wollen. Wir gehen also wohl nicht fehl, wenn wir sie vor allem auch aus den Adelskämpfen der Zeit

nach 510 verstehen, in denen die Alkmäoniden in dem wiedergewonnenen politischen Freiraum sich gegenüber máchtigen Rivalen, vor allem gegen Isagoras mit seinem Anhang, durchsetzen mußten (SCHAEFER, 335, S.139ff.). Wenn Kleisthenes nun hier auf die neuen Kräfte setzte, hatte er gewiß keine „demo-

kratische“ Konzeption vor Augen, sondern suchte Anhang außerhalb der Gefolgschaft seiner Familie. Was immer sein Motiv war, der politische Stellenwert der Reform mußte allen sofort deutlich gewesen sein, auch wenn man

noch nicht von Demokratie gesprochen hat. Als man seit der Mitte des 5. Jhs. dann die veränderte politische Verfassung als Demokratie zu begreifen begann, erschien die Reform darum sehr schnell als das Fundament und der Anfang einer Entwicklung, die auf die eigene Zeit hinführte. Herodot sagt bereits klar

448

ZWEITER TEIL: QUELLEN UND FORSCHUNG

(6,131,1), daß Kleisthenes durch die Phylenreform die Demokratie eingerichtet habe. Ebenso deutlich war den Athenern, daß das Ziel der Reform durch die „Mischung“ der Athener, das heißt durch ihre Lösung aus den lokalen und

personalen Bindungen der vorangehenden Zeit erreicht wurde (Arist. AP 21,2; Pol. 1319b25f.). Aber nicht die zur Person und politischen Absicht des Kleisthenes sehr mageren literarischen Quellen, sondern die attischen Inschriften (so

etwa die Listen von Bouleuten und Prytanen; Trittyenhoroi) mit ihren vielfältigen Angaben zu den Phylen, Trittyen und Demen bilden heute die Grundlage

der Forschungen zur kleisthenischen Reform. Der Versuch einer Rekonstruktion der geographischen Lage und Zuordnung der Phylen, Trittyen und Demen zueinander ist dabei mit dem einer Rekonstruktion des politischen Zieles der

Phylenordnung unlôslich verknüpft, denn das Bauprinzip der Ordnung gibt Aufschluf über die damit verbundene politische Absicht. Die Forschungen sind vor allem wegen der lückenhaften Überlieferung auRergewôhnlich komplex und naturgemäß auch in vielem strittig. Hier sollen nur die neueren Arbeiten angeführt werden, soweit sie die mit der Reform verbundenen Absichten des

Kleisthenes besonders berührt haben, aber diese erscheinen gerade unter dem Eindruck jüngster Arbeiten nicht mehr so einhellig, wie es auf Grund der Überlieferung ältere Forschergenerationen meist noch gesehen haben. So ist

bereits öfter und besonders deutlich von SCHAEFER (335, vgl. auch MacKENDRICK, 343, S.195) die Verbreiterung der persónlichen Machtbasis als Motiv der Phylenreform herausgestellt und Kleisthenes damit stärker in die Adelskämpfe der Zeit hineingestellt, ja den Tyrannengestalten nähergerückt worden; die de-

mokratische Wirkung der Reform wäre auf diese Weise ein spätes und zunächst gar nicht beabsichtigtes Nebenprodukt gewesen. In dieselbe Richtung verweist FORREST (287, bes. 196ff.), wonach Kleisthenes in seiner neuen Ordnung vor

allem die alten Kultverbände hat zerschlagen wollen und den Einfluß seiner eigenen Familie, der Alkmäoniden, insbesondere dadurch zu sichern trachtete,

daß er die auf vier Zentren verteilten Familienzweige auf vier geographisch zusammenhängende Trittyen verteilte (auf drei Küstentrittyen im Südwesten und eine städtische). Ähnliche Thesen vertreten KIENAST (336) und LEWIS (342). Der erstere meint nachweisen zu können, daß die verschiedenen, durch soziale

Interessenlage und politischen EinfluR gebildeten sozialen Gruppen sich im späten 6. Jh. in etwa mit den vier alten gentilizischen Phylen gedeckt und in ihnen eine organisatorische Stütze gefunden hätten; gerade die dadurch bewirkte Verfestigung der politischen Rivalitáten hätte Kleisthenes zu seinem Entschluß gebracht, die alte Phylenordnung durch eine neue zu ersetzen, die auf Grund ihrer besonderen Struktur die lokalen Einflüsse auf die Politik der Stadt beseitigte. Nach Lewis war es Kleisthenes vor allem um die Zerschlagung der alten Kultverbände, die der Macht des Adels dienten, gegangen. Ähnlich handelt nach PETZOLD (344) Kleisthenes zunächst einmal als Arıstokrat, sind seine

reformerischen Ideen in den Kampf um eine angemessene Stellung ınnerhalb der Adligen einzuordnen und damit deren Motivation von den späteren tatsächlichen Wirkungen zu trennen. Auch BICKNELL (288) meint, durch einen neuen

methodischen Ansatz glaubhaft machen zu können, daß Kleisthenes seine Phylenreform zur Festigung bzw. Schwächung von Adelsfamilien genutzt, sie also

I. Die Entwicklung Athens zur Demokratie

449

als Instrument im Kampf um Einfluß innerhalb der noch immer tonangebenden adligen Clane eingesetzt habe. Mittels eines Vergleichs der Demen-Quoten für den Rat mit der Zahl der uns überlieferten Demenangehörigen zwischen ca. 500

und 1 v. Chr. ergeben sich danach Ungleichgewichtigkeiten, die auf eine willkürliche Über- bzw. Unterrepräsentation von Demen bei der kleisthenischen Quotenverteilung schließen lassen; doch fragt sich, ob die prosopographische Methode angesichts des zur Verfügung stehenden Materials mehr als nur vage Spekulationen erlaubt, und zudem wird dem Rat, der ja von Bicknell als politi-

sches

Instrument

von

Clanpolitik

gedacht

ist (dagegen

RHODES,

689,

S.17f.200.209f.), für diese Zeit doch wohl ein zu großes politisches Gewicht zugemessen. - Daß die politische, nach spáterer Terminologie demokratische Reform nicht Ziel, sondern mehr oder weniger unbeabsichtigte Konsequenz der

organisatorischen Neuordnung Attikas gewesen sei, meinen auch diejenigen, die darin ın erster Linie eine Erneuerung des militärischen Aushebungswesens sehen wollen, die nach der langen Periode der Wehrunfähigkeit unter den Peisistratiden notwendig geworden war und dann auch gegen die Böoter, Chalkidier (506) und Perser (490) ihre Bewährungsprobe

bestehen sollte. Diese These

wurde bereits früh mehrfach vertreten, aber dabei eher angedeutet als ausgeführt, so von PJ. BICKNELL (La Parola del Passato 24, 1969, 34-37) und EFFENTERRE (339). Neuerdings hat sıe SIEWERT (340) in einer umfangreichen Abhand-

lung ausführlich begründet. Das Kernstück der Reform war danach die Errich-

tung der Trittyen als Wehrbezirke mit einer etwa gleich großen Anzahl von Hopliten (300, das ist ein Lochos für jede Trittys; das Gesamtaufgebot betrug

danach 9 000 Mann) und die Zuordnung der Trittyen zu den großen LandstraBen („Zentralwege“), die nach Athen führten. Die Trittyen hätten ferner auch

eine annähernd gleich große Anzahl von Ratsherren (17, 17 und 16 = 50 für jede Phyle und Prytanie; das hat zuerst W.E. THOMPSON: Τρίττυς τῶν πρυτανέων,

Historia 15, 1966, 1-10, entdeckt; skeptisch noch D.M. LEWIS: Gnomon 55, 1983, 431ff.) in die boulé geschickt. Sinn der Reform wäre danach die Organisation eines klar gegliederten Aufgebots der Hopliten, die schnelle Mobilisierung der

Truppe und die Schaffung eines neuen Rates als der Reprásentation der Hopliten gewesen, und als ihren Initiator hátten wir vor allem ,,die aus dem Exil zurückgekehrten Aristokraten" anzusehen, die sich „zur Abwehr eines Rückkehrver-

suchs des vertriebenen Tyrannen“ sowie zur Abwehr von Nachbarn durch politische Zugestándnisse an den Demos ein schlagkráftiges Heer geschaffen hátten (bes. S.157ff.). Siewert wird unterstützt durch Überlegungen von FROST (341)

zur Rekrutierung von Truppen im vorkleisthenischen Athen, wonach eine wenig dynamische Militärpolitik und die Möglichkeit der Mobilisierung von Söldnern ım eigenen Land ein organisiertes Aushebungswesen unter den Peisistratiden

und sogar schon davor entbehrlich gemacht hatten. Siewert ist sowohl mit seiner topographischen Rekonstruktion der Phylenordnung (vgl. H. LAUTER: Archäol. Anz.

1982, 299-315, bes. 314f.) als auch mit der Annahme eines absoluten

Vorrangs des militárpolitischen Aspekts (dazu vor allem W. SCHULLER: GGA 236, 1984, 11-21, auch mit Kritik am Zentralwegeprinzip; ferner D. LOTZE: Klio 68, 1986, 237f.) vielfach auf Widerspruch gestoßen. Das Zentralwegeprinzip ist

recht eigentlich nur in Ostattika und in der Asty-Region nachzuweisen (auf die

450

ZWEITER TEIL: QUELLEN UND FORSCHUNG

„Trittyenblöcke“ in Ostattika hatte bereits A. MILCHHÖFER: Über Standpunkt

und Methode der attischen Demenforsehung, Sitz. ber. Preuß. Akad. d. Wiss. 1887 aufmerksam gemacht). Aber selbst wenn man es akzeptiert, ist nicht einzusehen, warum die Zulosung der Trittyen zu den Phylen, wie sie Arıst. AP

21,4 überliefert, aufgegeben werden muß. Die Zentralwege, wenn es sie denn durchgängig gab, sind nıcht geschaffen worden, damit alle Athener schon in geschlossener Formation ins Zentrum kommen, sondern damit sie schnell

dorthin gelangen und sich im Zentrum formieren können (andernfalls hätte das Zentrum als Sammelplatz wenig Sinn). Abgesehen von der Erhellung vieler Einzelfragen (zu dem Exklaven-Problem s.u. 5.497) hat Siewert indessen mit

Recht den militärpolitischen Aspekt der kleisthenischen Reform erneut ins Bewußtsein gehoben. Daß er hingegen das eigentliche reformerische Ziel gebildet habe, wird weder durch den Nachweis militärpolitischer Aspekte noch

durch den Umstand belegt, daß die Reform nur auf die Hopliten zielte. Denn die Hopliten waren damals die einzige Gruppe, die für eine Erweiterung der politisch Berechtigten überhaupt in Frage kam, eine andere hatte man gar nicht im Blick, und Isonomie konnte darum nur von ihnen ausgehen; eine Frontstellung zu den Theten gab es nicht: Der Gegner war der Adel. Aber vor allem: Die Aufgabe der alten, auf einem Zwölfer- bzw. Vierer-Schema ruhenden Eintei-

lung Attikas bedeutete eine völlige politische Umorientierung, und eben diese wird gerade an der Schaffung der Trittyen, die das Gelenkstück zwischen den Demen und Phylen darstellen, deutlich: Die Trittyen haben als reine Rekrutierungsbezirke überhaupt keinen Sınn; für die Zwecke der Rekrutierung hätte die Schaffung von zehn oder mehr geographischen Bezirken genügt; das Mittelstück, das die Reform so komplex machte, wäre überflüssig gewesen: Die Reform selbst, die den Phylen landschaftlich verschiedene „Drittel“ zuordnete (wohl doch mit Aristoteles a.O.: zuloste; so auch ΜΗ. HANSEN: The Ancient World 15, 1987, 43f.), verrät das Bewußtsein ihres politischen Zwecks. Die

Mischung der Bürger war das Ziel der Reform, und die Verteilung der Bürger auf personell etwa gleich starke geographische Bezirke diente diesem Ziel. So ist denn die Ansicht der Alten über sie wie auch die opinio communis heute, die sich in diesem Punkte mit der antiken deckt, nach wie vor die richtige: Kleisthenes wollte die Bürgerschaft als eine Gesellschaft der Gleichen konstituieren. Aber daß das nicht „ideologisch“ motiviert war, sondern er damit die konkurrierenden adligen Häuser schwächen, wenn nicht im Endeffekt ausschließen, und er sich auf diese Weise selbst durchsetzen wollte, dürfen wir vermuten und

ist ja auch oft mit guten Gründen gesagt worden (s.o.). Man kann bei diesem Vorgang jedenfalls den Bürgerhopliten, so sehr in ihm seit Solon ein politisches Selbstbewußtsein vorgebildet und in Krisensituationen aktiviert worden war, keine Eigendynamik zusprechen, und das sieht übrigens auch unsere älteste Quelle dazu so, nämlich Her. 5,66,2, wenn er sagt, daß Kleisthenes, als er in

seinem Kampf gegen Isagoras zu unterliegen drohte, als Stütze „den Demos ın seine Hetärie hineinnahm“ (τὸν δῆμον προσεταιρίζεται). Der Demos war damals ohne Zweifel auch keine Einheit und wohl allenfalls in Teilen aktivierbar,

aber doch offensichtlich nach dem Versuch des Isagoras, die solonische Ordnung zu stürzen und eine auf ıhn und seine adligen Freunde gegründete „plura-

I. Die Entwicklung Athens zur Demokratie

45]

listische“ Tyrannis einzurichten, mit großer Wahrscheinlichkeit auf breiter Grundlage an einer Neuordnung, wie sie Kleisthenes vorschwebte, interessiert;

und in der Tat ist ohne ein latentes Interesse bei der Masse der Bürger der Erfolg der Reform auch kaum erklárbar (vgl. etwa in diesem Sinne den ansprechenden

Versuch einer Rekonstruktion der Vorgänge und Motivationen vor der Reform von STEIN-HÔLKESKAMP, 300, S.154ff.). Es spricht somit wenig dafür, die Ereig-

nisse, die in die kleisthenische Reform führten, als einen prozeßhaften Vorgang anzusehen, wie es neuerdings vielfach angedeutet oder auch ausdrücklich gesagt wird (vgl. SPAHN, 301), der von Solon zu der nachkleisthenischen isonomen

Gesellschaft hingeführt habe. Die Kontingenz der Ereignisse findet heutzutage wenig Berücksichtigung. Aber sie liegt nicht nur in der Person des Kleisthenes und den von ihm eingesetzten Mitteln der Durchsetzung, sondern etwa auch in der langen Dauer der peisistratidischen Herrschaft. - Nach BELOCH (152, Bd. 1,2, S.329ff.) geht die Phylenreform bereits auf Peisistratos zurück, weil die

besondere Geometrie der Trittyeneinteilung an der Ostküste deutlich auf eine Beherrschung der Phylen durch die von der Peisistratidenfamilie abhängigen Landstriche hinweise. Diese Ansicht wird heute von kaum jemandem mehr

eteilt; denn sie widerspricht nicht nur der in dieser Hinsicht eindeutigen Überlieferung, sondern unterstellt auch Peisistratos, daß er für seine Herrschaft

so eine Phylenreform überhaupt nötig gehabt hätte.

Das Datum der Einführung des Ostrakismos ist hart umstritten und mit ihm zugleich dessen ursprüngliches Ziel. Die Überlieferung nennt Kleisthenes als

den Urheber der Einrichtung, berichtet aber gleichzeitig, daß Hipparchos, ein Verwandter des Peisistratos, im Jahre 487 der erste war, der auf Grund eines Ostrakismos in die Verbannung gehen mußte (Arist. AP 22; Harpokr. s.v. Hipparchos). Warum wurde ein Instrument geschaffen, das man dann 20 Jahre

lang unbenutzt liegenließ? Wenn es sich gegen die Wiederaufnahme adliger Konkurrenzkämpfe und also gegen die Gefährdung der gerade erreichten Einheit und Gleichheit gerichtet hat, fand sich da 20 Jahre hindurch niemand, den

man für gefährlich hielt? War es aber gegen die Tyrannenfreunde geschaffen

worden, wie die Überlieferung glaubt (Arist. AP 22,3), gab es da unmittelbar nach 510 und vor allem in den beginnenden Perserkriegen der späten neunziger Jahre niemanden, auf den der Verdacht der Rückführung der Peisistratiden fallen konnte? Die Funde von Ostraka auf der Agora und insbesondere die Neufunde im Kerameikos-Gebiet seit 1965 haben die Zahl der auf uns gekommenen Ostraka um ein Mehrfaches erhöht. Von den heute vorhandenen etwa

11 000 Ostraka stammen ca. 9 000 aus den Neufunden. Die erste umfangreichere Publikation der Ostraka von F. WILLEMSEN: Arch. Delt. 23, 1968, Bd. 2, 24ff. ist von THOMPSEN, 346, ergänzt und ausgewertet worden, doch sind auch

seine Angaben überholt durch die (vorläufige) Liste aller im Kerameikos gefundenen Ostraka von WILLEMSEN/BRENNE, 348; danach findet sich, bei einem

(sich in einer endgültigen Liste noch erhóhenden) Gesamtbestand von 8 653 Ostraka, auf 1 592 Ostraka der Name

des Themistokles, auf 4 145 der des

Megakles, Sohn des Hippokrates, und auf weiteren 225 der des Megakles ohne Patronymikon (die endgültige Publikation steht noch aus). Die Funde dürften

452

ZWEITER TEIL: QUELLEN UND FORSCHUNG

unsere Überlieferung über die erste Anwendung des Ostrakismos bestätigt haben: Keine Scherbe verweist auf ein Datum vor 487 (THOMSEN, 346, S.61ff.).

Aber Urheberschaft (und damit das Datum der Einführung) und Ziel bleiben umstritten. Daß es gegen die Wiederkehr der Tyrannis gerichtet war, will angesichts der geringen Chancen, die so ein Vorhaben damals hatte, wenig

einleuchten, und das antike Zeugnis hierfür hat wenig Gewicht, weil es aus der Tatsache herausgelesen

worden sein kann, daß der erste Ostrakismos einen

Tyrannenfreund vertrieb. Es dürfte, dem politischen Trend der Zeit entsprechend, am ehesten ein Wiederaufflammen der Adelskämpfe haben verhindern wollen und als ein Instrument zur Festigung der gewonnenen Einheit unter dem Zeichen der Isonomie gedacht gewesen sein (so interpretiert es auch Arist. Pol. 1284217-22); es könnte dann gut mit Kleisthenes verbunden werden (so

der heute wohl beste Kenner der Materie, THOMSEN, 346, S.109ff.; ihm folgt

vor allem auf Grund u.a. auch von Thomsen angestellter textkritischer Überlegungen RHODES, 117, S.268f.). Starke Spannungen innerhalb der Führungsgruppe, die auf jeden Fall vermieden werden sollten, lassen sich allerdings auch gerade für die Zeit der ersten Anwendung des Ostrakismos nachweisen (s.u.). So sieht denn auch MARTIN (349, S.24ff.) in dem Ostrakismos ein Instru-

ment im Kampf der Adligen um Einfluß und um die richtige Politik, aber mit spáter Datierung, und für das spáte Datum entscheiden sich u.a. auch HIGNETT (280, S.159f.) und RAUBITSCHEK (345). Nach letzterem soll jedoch trotz des

späten Datums Kleisthenes der Urheber des Ostrakismos gewesen sein, der danach noch bis mindestens 487 gelebt hátte; dagegen mit guten Gründen EHRENBERG (384, S.547f.). Ein detaillierter Bericht zum Forschungsstand bei

RHODES a.O. Nach dem erst kürzlich wiederentdeckten Fragment einer spátbyzantinischen Notizensammlung (Vatic. Graec. 1144f. 222 Nr. 213 STERNBACH) soll

Kleisthenes den Ostrakismos geschaffen, die Entscheidung über ihn aber der boulé überlassen und das Quorum für eine Verurteilung auf 200 Stimmen festgelegt haben; erst später seien 6 000 Stimmen der Volksversammlung notwendig gewesen. LEHMANN (347, dort auch weitere Literatur) vermutet daher, daß das

Verfahren in der bowlé im Jahre 487 durch das in der Volksversammlung ersetzt worden sei. Aber auch wenn das Fragment eine zuverlássige Nachricht enthalten sollte, bliebe doch schwer erklärlich, warum es bei dem älteren Verfahren zu

keiner Verurteilung gekommen ist. - Das Fragment bestátigt auch die Angabe des Philochoros (FGH Nr. 328, fr. 30 JAC.), daR die 6 000 Stimmen nicht, wie

Plut. Arist. 7,6 schreibt, das Quorum für die Beschlußfähigkeit der Volksversammlung,

sondern die Mindestzahl von Stimmen

für den Verbannungsbe-

schluß bedeuteten. Obwohl die neuen Ostraka-Funde sehr hohe Zahlen für Scherben mit einem bestimmten Namen enthalten (weit über 4 000 Scherben

offensichtlich einer einzigen Ostrakophorie mit dem Namen von Megakles, Sohn des Hippokrates), bin ich unsicher, ob nicht doch die Nachricht des Plutarch das Richtige hat (so auch der Kommentar von RHODES, 117, zur AP 22,3). Denn im anderen Falle hätten weit über 6 000 Bürger anwesend sein

müssen, damit eine Verbannung zustande kommen konnte. Das ist überhaupt nur denkbar, wenn 487 bereits die Theten abgestimmt haben, und auch dann -

I. Die Entwicklung Athens zur Demokratie

453

bei 30 000 Bürgern insgesamt - schwer zu erreichen. Ferner: Die Zahl von 6 000 Bürgern wurde als das ganze Volk angesehen, und daß demnach „das ganze

Volk" auch den Verbannungsbeschluß tragen sollte, will nicht recht einleuchten.

Die Losung der Archonten aus Vorgewählten ist durch Arist. AP 22,5 überliefert. Zu ihrer Interpretation vgl. BUCK (351), zur Anzahl der Prokritoi RHODES, 117. EHRENBERG (352), der eine komplizierte Geschichte der Losung

des Archontats von Solon bis 487/86 entwickelt hat, ist mit groRer Zurückhaltung aufzunehmen. Daß die Reform als demokratische Neuerung zu verstehen sei, wie EHRENBERG (353) meint, setzt die Idee der Demokratie und mit ihr ein

verfassungspolitisches Denken für eine Zeit voraus, die solche Gedanken noch gar nicht fassen konnte. Wahrscheinlicher sind Theorien, die in der Reform den Versuch sehen, angesichts der äußeren Bedrohung die Stadt nicht durch Kämpfe um das Archontat zu spalten (BADIAN, 354; er sieht in der Reform keine große Veránderung gegenüber dem Verfahren unter Kleisthenes), oder, noch allgemei-

ner, sie einfach als Ausdruck von Adelskämpfen um die richtige Politik interpretieren (SCHAEFER, 335, S.144f.; MARTIN, 349, S.26ff). Bei allen Spekulationen

wird jedoch nicht deutlich, mit welchen Institutionen denn die Befürworter der Reform ihre eigene Politik durchzusetzen hofften. Glaubte man sich im Strate-

genkollegium besser durchsetzen zu kónnen? Vertraute man auf eine Mehrheit, wenn der herausragende Politiker keine Amtsmacht mehr besaß? Es bleiben viele offene Fragen. Vgl. zur Diskussion auch G.M.E. WILLIAMS: Athenian politics 508/07-480 B.C.: A reappraisal, in: Athenaeum 60, 1982, S.538ff. - Mit Recht hat GOMME (337) davor gewarnt, bei den politischen Kämpfen der kleisthenischen und nachkleisthenischen Zeit von festen Gruppierungen auszugehen. Etikettierungen, wie ,,Tyrannen-Partei“ oder „demokratische“ Partei, sind

spekulativ und zudem meist einer spáteren Zeit zuzuórdnen. Es geht damals vielmehr immer um die politischen Absichten von Einzelpersonen, die mit wechselnden Personen und Gruppen verbunden sind und vor allem auch persónliche Ziele verfolgen. Die wichtigsten Quellen für den Flottenbau sind Her. 7,144; Thuk. 1,14.93,3-

8; Arist. AP 22,7; Plut. Them. 4. Zum Seewesen vgl. die u. S.495 aufgeführte Literatur, zum Flottenprogramm des Themistokles die umfangreiche Diskussion bei LABARBE (355). Die in der Antike wie in der neueren Zeit oft vertretene

Auffassung von Themistokles als einem demokratischen Politiker ist aus den Konsequenzen seiner Flottenpolitik herausgesponnen worden; die Verbindung von Demokratie und Flotte gehórt frühestens in die ersten Jahrzehnte der Seebundspolitik; vgl. dazu die kritische Studie von FROST (357) und dessen Kommentar zur Themistokles-Biographie des Plutarch (120) sowie mit breiter Erórterung der Themistokles-Probleme PODLECKI (356). - CHAMBERS (358) hat,

gestützt auf andere Angaben, das einzige gute Zeugnis für den Beginn des Ausbaus des Piräus, Thuk. 1,93,3, verworfen und möchte wegen des allgemeinen Schweigens der Quellen über den Archon Themistokles (Plutarch!) auch den zum Jahre 493/92 überlieferten Namen nicht für den bekannten Themistokles,

454

ZWEITER TEIL: QUELLEN UND FORSCHUNG

der womöglich überhaupt nicht Archon gewesen sei, in Anspruch nehmen. Nach Chambers ist der Ausbau des Piräus vielmehr mit dem Beginn des Flotten-

baus zu verbinden, der durch die Entdeckung neuer Silbervorkommen und der damit aufgetauchten Frage nach der Verwendung der Gelder veranlaßt und von Arıstoteles (AP 22,7) ın das Jahr 483/82 datiert wurde, und Themistokles hat dann, vielleicht als außerordentlicher Beamter oder auch als Epimelet der Werf-

ten, den Schiffbau und den Ausbau der Häfen wohl über mehrere Jahre hintereinander gelenkt. Von der politischen Rolle des Areopags zwischen 479 und 462 berichtet Arist. AP 23. Die wichtigsten Quellen zum Sturz des Areopags sind Arıst. AP 25; Pol. 1274a5-11; Plut. Perikl. 9,5. Kim. 15,2; vgl. Philochoros FGH Nr. 328 fr. 64b JAC.;

Andok. 1,83f. (Antrag des Teisamenos 1. J. 404/03). Die Mehrheit vor allem der älteren Forschung interpretiert die Vorgänge von 462/61 in der Weise, daß Ephialtes die politische Ordnung Athens in einem Kraftakt gleichsam umgeworfen hätte, und man spricht dann auch von „Revolution“. In diesem Sinne u.a. BERVE (155, Bd. 2? 5.85), HIGNETT (280, S.193ff.), HEUSS (156, S.253f.) und RHODES (689, S.203ff., dagegen wieder SEALEY, 360,

vgl. ders., 687, S.130f). Hier wird wie selbstverständlich vorausgesetzt, daß Ephialtes ein innenpolitisches Programm besaß, das auf Demokratisierung, das heißt auf eine politische Idee, gerichtet war, die über die von Kleisthenes ge-

schaffene politische Ordnung hinausging. Andere vermógen in den Ereignissen

keinen, jedenfalls keinen bewußt herbeigeführten Umbruch zu erkennen. Ephialtes war danach eher ein Pragmatiker, dessen Interessen wie die der meisten Athener dieser Jahre in der Außenpolitik lagen, so etwa SEALEY (359, S.4211.75ff.; 687, S.130f., vgl. auch schon NIPPEL, 899, 5.65 Anm.2), der aber doch die Rechenschaft (esthyna) und die Dokimasie (360, S.130f.) der Beamten

vom Areopag auf den Rat der Fünfhundert bzw. an die Geschworenengerichte übergehen läßt, ferner MARTIN (349, S.33ff.) und RUSCHENBUSCH (Ephialtes,

Historia 15, 1966, 368-376 und ders. 361, S.59ff.). Bei allen Überlegungen hat

man zu berücksichtigen, daß das, was wir in den folgenden Jahrzehnten als Wirkung der Politik des Ephialtes und seiner Helfer sehen, eine politische

Ordnung, nämlich die Demokratie, verkórpert, die vor 462/61 noch niemand als Idee zu denken vermochte. Zum anderen darf man den Areopag, dessen politische Entmachtung ja den Weg zu dem Wandel frei machte, für die Zeit vor 462/61 nicht in der Weise aufwerten, als ob er eine institutionelle Barriere gegen

die Radikalisierung der Verfassung gewesen wäre, und in ihn gleichsam im Negativ (oder Positiv, wie man will) alles das hineinlegen, was dann bei dem

„Umsturz“ herauskam. „Verfassungswächter“ konnte er deswegen nicht sein, weil man nicht schon damals, sondern erst nach dem Erlebnis der Demokratie

in verfassungspolitischen Kategorien zu denken begann. Die Nomophylakie, die nach Arist. AP 4,4.8,4; Plut. Sol. 19,2 (und, sich darauf stützend, nach vielen modernen Autoren, z. B. BONNER/SMITH, 183, Bd. 1, $.262ff. und noch RHODES, 689, S.205, WALLACE, 957, S.85 und zuletzt CAWKWELL, 363, letzterer auch

I. Die Entwicklung Athens zur Demokratie

455

wieder mit dem Hinweis auf die nach Philochoros, FGH Nr. 328, fr. 64b JAC.,

angeblich von Ephialtes nach der Entmachtung des Areopags eingesetzten sieben nomopbylakes, die mit großer Wahrscheinlichkeit erst in die Zeit des Demetrios Phalereus gehören) der Areopag seit Solon besessen haben soll, kann,

sofern in dieser Nachricht eine richtige Überlieferung steckt, sich daher nicht auf eine Aufsicht über die Wahrung der Verfassung, sondern nur auf eine über die Einhaltung der geltenden Gesetze beziehen: Die Aufgabe des Areopags

bestand also in der Sorge darum, daß die bestehenden

Gesetze respektiert,

nicht, daß künftige „verfassungswidrige“ Gesetze verhindert würden. Da es die Beamten sind, die das geltende Gesetz anwenden und durchsetzen sollen, geht es hier folglich um eine Aufsicht über die Beamten, und darauf weisen auch ausdrücklich einige Angaben unserer Quellen hin (Anst. AP 4,4; Plut. Perikl. 9,5; vgl. Andok. 1,83f.). Als Entzug der Aufsicht über die Beamten interpretieren die Ereignisse von 462/61 u.a. BONNER/SMITH (183, Bd. 1, S.268ff., doch

sehen die Autoren die Kompetenzen des Areopags vor Ephialtes umfassender, ebenso RHODES,

689, S.201ff.), HIGNETT

(68, S.203ff.), SEALEY (359, 5.53),

MARTIN (349, S.29ff.) und RUSCHENBUSCH (361, S.57ff.). Kann eine Nomophylakie schon deswegen nicht von Ephialtes eingesetzt

worden sein, weil sie den Grundlagen der Demokratie, für die Ephialtes doch

stellvertretend steht, widerspricht und wir auch durchaus nichts von dieser doch so wichtigen Behórde (wenn sie es denn gegeben hátte) in klassischer Zeit hóren, wird ihre Einrichtung doch wegen ihrer Erwähnung in zwei Reden des Deinar-

chos von JACOBY (FGH Nr. 328, fr. 64, III b, Suppl. vol.I 5.339 und vol. II S.244 Anm.14f.) sowie von BUSOLT (176, S.925) in die Zeit zwischen 327 und 323 datiert. Doch hätte diese Behörde von nomopbylakes, die, in der Volksversamm-

lung und im Rat, neben den Prohedroi sitzend, jeden Antrag wegen Gesetzwidrigkeit (paranómón, lex Cantabr.) bzw. Schädlichkeit (asympbora, Photios) verhindern konnte, die Demokratie bereits damals aufgehoben und wáre trotzdem mit Schweigen übergangen worden. Sie gehört daher mit großer Wahrscheinlichkeit erst in die Zeit des Demetrios Phalereus, zu dessen politischen Ambitionen sie auch paßt; vgl. in diesem Sinne H.-J. GEHRKE: Das Verhältnis von Politik und Philosophie im Wirken des Demetrios von Phaleron, in: Chiron 8, 1978, 188-191 und auch WALLACE (957, S.202f.).

Auch die sehr bestimmte Art der Interpretation der „Eumentden“ des Aischylos (458 aufgeführt) durch Ch. MEIER (182, S.177ff.; 242, S.117ff.) setzt voraus,

daß Ephialtes 462/61 die politische Ordnung in einem Kraftakt bewußt in die demokratische Staatsform umgeworfen hat. Seine von ihm mehrfach mit großer Eindringlichkeit vorgetragenen und, soweit ich sehe, auch vielfach aufgenommenen (vgl. z. B. KASPER-BUTZ, 595, S.21ff.) Thesen zu den „Eumeniden“ kann ich nicht nachvollziehen. Nach Meier stehen sich in den ,,Eumeniden" zwei Rechtsordnungen, eine alte (palaiof nómoi, v.778), vertreten durch die Erinyen,

und eine neue (néa thésmia, v.490f.), vertreten durch Apollon/Zeus, gegenüber,

ist die alte Rechtsordnung mit der des Adels, die neue mit der der Demokratie verbunden und sind insgesamt die „Eumeniden“ ein Zeugnis für den durch Ephialtes reprásentierten Umbruch. Einmal ganz abgesehen davon, ob die durchgángige Parallelisierung des mythischen Geschehens mit der politischen

456

ZWEITER TEIL: QUELLEN UND FORSCHUNG

Situation der Zeit (vgl. MEIER, 182, 5.206 u.pass.) überhaupt statthaft ist, geht sie nicht auf: Das neue Recht, von dem im Drama übrigens durchaus nicht die Rede ist (vgl. MEIER selbst, 182, S.179), kann, wenn es sich auf den Umsturz des

Ephialtes beziehen soll, doch nur mit dem identifiziert werden, was 462/61 wirklich geschah bzw. von uns heute als Geschehen rekonstruiert wird, nämlich

mit der Übertragung der Beamtenkontrolle vom Areopag auf Volksgericht und Rat, nicht mit der Rechtsordnung als ganzer. Daß die politische Wende von

462/61 ,die freie Verfügung der Bürger über die rechtliche und politische Ordnung“ bedeutet habe (a.O. S. 214.187f. u.pass.), ist einfach nicht richtig.

Denn die Privat- und Strafrechtsordnung, um die es übrigens in diesem Stück ausschließlich geht, sahen die Athener niemals in ihrer Verfügung und die politische, um die es hier nach Meier vor allem geht, ebenso nicht, wie u.a. die

Gesetze und Eidesleistungen zum Schutz der politischen Ordnung zeigen (s.u. $.554). Es ist ferner nicht nachzuvollziehen, daf$ nach der Konstruktion von

Meier der Areopag, der von Athena konstituiert wird und der über das neue Recht entscheidet (aber andererseits von Meier mit den Erinyen parallelisiert wird), mit der Volksversammlung gleichgesetzt werden muß (vgl. a.O. S. 192f.),

denn nicht er, sondern die Volksversammlung ist der neue Entscheidungsträger. Weiter enthált die Gleichsetzung von alt und neu mit Adel und Demokratie und die Wiedereinbeziehung des Alten in den neuen, von Athena gesetzten Rahmen mit der „(Wieder)Einbeziehung des Areopags und des Adels in die Demokratie“

in der Zeit des Aischylos (a.O. S. 202.187.205) ein so hohes Abstraktionsniveau

politischer Gegebenheiten, daß man es - wenn denn die von Meier behaupteten Gegensätzlichkeiten für die Zeit des Dramas richtig gesehen sind - den Athenern nicht unterstellen möchte. Ich meine, daß Aischylos in den „Eumeniden“

ein „neues Recht“ überhaupt nicht im Auge hat; er spricht lediglich vom alten Recht, das durch Apollon/Zeus verletzt und das von den Erinyen, die sich gegen

die Verletzung wehren, im Ton des Vorwurfs ironisch als ein neues Recht bezeichnet wird. Das, was die letzteren der Sache nach mit dem alten Recht

vertreten, ist die Vergeltung des Muttermordes, demgegenüber Apollon (sowie Athena, vgl. v.734ff.) das Rachegbot für die Tötung des Agamemnon höher

einschätzt und damit stellvertretend für die jüngere, das väterliche Prinzip verfechtende Götterwelt gegenüber den das mütterliche Prinzip vertretenden Erinyen steht. Soweit die „Eumeniden“ einen Zeitbezug enthalten, sehe ich ihn

in der Heraushebung des Areopags als Gerichtsbehörde, und es erscheint daher Aischylos jedenfalls in diesem Stück mir eher als ein nach rückwärts gewandter denn als ein die Möglichkeiten einer neuen Zeit überdenkender Mann. In diesem Sinne etwa zuletzt DJ. CONACHER in seinem Kommentar zur Orestie des

Aischylos, 1987, 197ff. Die Rede der Athena über die Einrichtung des Areopags (v.681ff.) wendet sich denn auch gerade gegen die Veränderung von mómo: (v.693). Wenn man darin einen Zeitbezug erkennen will, dürfte er am ehesten in

einer Kritik an Ephialtes liegen, der ja den von Athena gegründeten Areopag

„entmachtet“ hat, oder auch gegen die im Jahre 458/57 erfolgte, z. Zt. der Aufführung der „Eumeniden“ aktuelle Zulassung der Zeugiten zum Archontat

gerichtet gewesen sein (so E.R. DODDS: Notes on the Oresteia, Class. Quart. 47, 1953, 20). Selbst wenn man, eher unwahrscheinlich, die von Athena v.693 ange-

I. Die Entwicklung Athens zur Demokratie

457

sprochenen nómoi auf die zusätzlichen, einer Nomophylakie gleichkommenden Kompetenzen (ἐπίθετα), die der Areopag vor Ephialtes erhalten haben soll (Arist. AP 25,2), beziehen und also darin eine vorauseilende Zustimmung der

Athena (und des Aischylos) zu den Mafinahmen des Ephialtes sehen wollte, wie K.J. DOVER: The political aspect of Aischylus's Eumenides, JHS 77, 1957, 234,

bleibt der Bezug auf die Reform des Ephialtes beschränkt, umgreift nicht die gesamte Rechtsordnung Athens. Schwierig ist es, den Wandel des institutionellen Rahmens im Jahre 462/61

konkret festzumachen, und die Ansichten dazu hängen selbstverständlich auch von dem jeweiligen Urteil über das politische Gewicht der Reform ab. Wenn man davon ausgeht, daß es damals vor allem um die Kontrolle der Beamten ging

(und dann dabei den Konflikt des Ephialtes mit dem Areopag zunächst noch als einen Kampf gegen die zentrale Institution um die Durchsetzung begrenzter politischer Ziele und darunter eben auch außenpolitischer Ziele ansieht), wird man an die Überprüfung (dokimasta) der Beamten, vornehmlich natürlich der

Archonten, und an die Rechenschaft dieser (esithyna) denken, die dem Areopag genommen und auf den Rat der Fünfhundert bzw. die Dikasterien übertragen wurden (dazu insbesondere OSTWALD, 686, S.47ff.), und wird den sonstigen

Wandel der Gerichtsordnung in einem lángeren Zeitraum ansetzen, der vom Anfang des 5. Jhs. bis tief in die perikleische Zeit reicht (SEALEY, 359 und 360). Steht Ephialtes uns hier nicht als ein Politiker vor Augen, der Athen von einer „gemäßigten“ isonomen Ordnung sozusagen in die Demokratie stößt, gewinnt er als ein Politiker, dem es um einen qualitativen Wandel der politischen Ordnung geht, mehr Gewicht, wenn wir ihn neben der Kontrolle der Beamten auch

die politische Strafgerichtsbarkeit, soweit sie der Areopag besessen hat (oder besessen haben soll), an den Rat der Fünfhundert und die Dikasterien übertragen sehen (RHODES, 689, S.144-207). Hier geht es nicht mehr um einen begrenz-

ten Wandel in den Kompetenzen von Institutionen, deren Erklärung in mannigfacher Weise gesucht werden kann, sondern um umfassende Verlagerungen dieser Kompetenzen, die im Grunde nur aus einem politischen Gesamtkonzept heraus verständlich werden. Da es sich bei der Strafgerichtsbarkeit, die dem Areopag genommen wurde, um die Eisangelie-Klagen und andere „Offizialklagen“, wie Rhodes sie nennt, gehandelt hat, also um Klagen wegen Hochverrats und andere Straftaten zum Schaden der Stadt, würde man sich damit auch

wieder der Vorstellung von Nomophylakie, um die es hier gegangen wäre, nähern. Wie immer man den Wandel sieht: Mit der Aufhebung der Beamtenkontrolle durch den Areopag und deren Übertragung auf Rat, Volk und Gerichte (Arist. AP 25,1) muß eine Neuordnung des Gerichtswesens und spätestens damals mit der Einrichtung von Volksgerichten, d. h. von einer Mehrzahl von Geschworenengerichten (dikastéria), verbunden gewesen sein. Die Anfänge der für die Demokratie so typischen Volksgerichte bleiben dabei aber im dunkeln. In einer eindrucksvollen Studie hat HUMPHREYS (364) versucht, die atheni-

sche Gerichtsverfassung von ihren Anfängen bis auf diese Neuordnung zu rekonstruieren. Danach sind die drei Säulen des ältesten Rechts, nämlich Selbsthilfe, institutionalisiertes Gericht und Schiedsgericht, schon vor Solon durch die Übertragung der Streitschlichtung von einzelnen grofien Herren auf gewählte

458

ZWEITER TEIL: QUELLEN

UND FORSCHUNG

Beamte und darauf von Solon selbst durch die Einrichtung der ephesis von den Beamten an die Heliaia und die Einführung der Popularklage (nicht in erster Linie um Schwächere zu schützen, sondern um Amtsmißbrauch zu verhindern)

verändert worden. Ephialtes hat dann die Helıaia in viele Volksgerichte (Dikasterien) aufgelöst, was Humphreys vor allem mit den Prozessen des Ephialtes gegen ehemalige Beamte, mit der Darstellung des Geschworenenprozesses in Aischylos”

„Eumeniden“

und

aus dem

Gebrauch

der Begriffe beliaía und

dikasterion im 5. Jh. zu beweisen versucht ($. 245-248 guter Überblick über den Gebrauch der beiden Termini im 5. Jh.; danach dikasterion und dikastai zuerst 450/49 in IG P 21 belegt). Humphreys sieht drei Maßnahmen in der Mitte des 5. Jhs. zugleich verwirklicht, nämlich die Teilung der Heliaia in mehrere Hófe,

die Einführung des Richtersoldes und die Wiedereinrichtung der von Peisistratos aufgestellten, von Kleisthenes wieder abgeschafften Demenrichter (453/52), und gibt diesen, durch den „Sturz des Areopags“ notwendig gewordenen Ánderungen den Charakter einer durchdachten Reform des Kreises um Ephialtes/

Perikles. Sieht man, anders als Humphreys, den Anlaß zu der Entmachtung des Areopags eher im außenpolitischen Bereich, wäre dieses Programm erst in den Jahren danach entstanden und eher mit Perikles als mit Ephialtes zu verbinden, und in der Tat gilt Perikles als der Urheber des Richtersoldes (Arist. AP 27,4; Pol. 1274a7-9; Plat. Gorg. 515e2-8; Plut. Kim. 9). Ob nun vornehmlich durch Ephial-

tes oder durch Perikles: In der Vorstellung von Humphreys, die durch die Quellennáhe und die entwicklungsgeschichtliche Stringenz der Überlegungen Gewicht hat, erhält das, was in der Forschung als „Sturz des Areopags" um-

schrieben wird, in der Tat nun die Umrisse einer Reform, die einem politischen Umbruch nahekommt, da in ihr auf jeden Fall politische Überlegung im Hinblick auf die Herrschaft der Masse in den Institutionen, also auf Demokratie im

Wortsinn, steckt. Das Kernstück dieser Reform wäre danach die Etablierung der

Massengerichte gewesen (so schon WADE-GERY, 362, bes. S. 195ff.). - Über die Person des Perikles ist kratie und hinter den

Ephialtes wissen schwer zu fassen. damit die höchste ihm in den Mund

wir so gut wie nichts, aber auch die Gestalt des Letzterer scheint die ersten Jahrzehnte der DemoBlüte Athens eher zu repräsentieren, als daß wir gelegten Äußerungen und den ihm zugeschriebe-

nen Entscheidungen und Taten einen planenden und denkenden Politiker erkennen kónnen. Über die schon in der Antike monumentalisierte Gestalt des Peri-

kles läßt sich kaum eine Biographie schreiben, wie auch der jüngste Versuch von D. KAGAN: Perikles. Die Geburt der Demokratie, 1992 (amerikan. Originalausgabe 1991) beweist, der teils durch Ausweichen auf den historischen Hintergrund, teils durch eine naive Überhóhung des Perikles, die auf eine Quellenkn-

uk verzichtet oder doch diese nicht sichtbar macht, die Aporie des Historikers noch unterstreicht. Mit dem Gedanken des Areopags als eines Schützers der Verfassung fällt auch die Vorstellung, daß er vor 462/61 für die Klage wegen Gesetzeswidrigkeit (παρὰ νόμων, pará nómón), bei der sich der Gesetzesbegriff auf zu beantragende, also

künftige Gesetze bezieht und damit in der Tat einen strengen Bezug zur poliuschen Ordnung hat, kompetent gewesen wäre. Sie gehórt in die Zeit nach

Ephialtes, ist also nicht dem Areopag abgenommen und auf Rat und Volksver-

I. Die Entwicklung Athens zur Demokratie

459

sammlung übertragen worden. Die erste Klage para nómón, von der wir wissen, fällt denn auch erst in das Jahr 415; vgl. dazu besonders HIGNETT (280, S.208ff.)

und WOLFF (812, S.12ff.). SCHULLER (365; 275 II, S.52ff.) hat in einer kleinen Studie erneut die Bedeutung

der Außenpolitik, speziell der Seebundspolitik für die Entwicklung Athens zur Demokratie herausgestellt. Zwar hätten die Demokratie und ihre wichtigsten Institutionen bereits bestanden, bevor der Seebund ins Leben trat; doch erst die

mit dem Seebund verbundenen mannigfachen Aufgaben und Probleme, welche

die Volksversammlung, den Rat, die Gerichte und die Beamten beschäftigten, hätten die Institutionen mit wirklichem demokratischen Leben erfüllt und zu deren weiterem Ausbau geführt, weil durch sie immer breitere Bevölkerungsschichten in das politische Geschäft hineingezogen und mit ihm vertraut gemacht wurden. Die Überlegungen zeigen erneut die enge Verzahnung der athe-

nischen Demokratie mit der Außen- und Herrschaftspolitik. Man hat bei der Frage nach den Ursachen der Entwicklung zur spezifisch athenischen Form der Demokratie jedoch zu bedenken, daß, nachdem die breiten Massen durch die

Flottenpolitik einmal in den politischen Raum vorgestoßen waren, nicht alleın außenpolitische Zwänge den demokratischen Binnenraum bestimmt, sondern

umgekehrt auch die gewachsene Intensität des demokratischen Lebens die AuRenpolitik gestaltet hat, also das Verhältnis von Demokratie und Außenpolitik/

Seebundspolitik ein wechselseitiges war. Die weitere Schwächung der exekutiven Gewalt, die Demagogie und die Entwicklung der Diäten gehören bereits der entwickelten Demokratie an; die Forschungslage zu diesen Bereichen ist daher unten im systematischen Teil behandelt worden. Die Entstehung des Begriffs Demokratie und der Beginn des verfassungspolitischen Denkens

Im folgenden werden vor der Erörterung der Forschungslage die wichtigsten Zeugnisse für die behandelten Begriffe sowie diejenigen Quellen, auf die im Text besonders verwiesen wurde, aufgeführt. Eunomie (ευνομία) für Athen zuerst erwähnt bei Sol. 3,32 D, Dysnomie (δυσνομία) bei Sol. 3,31 D; vgl. allgemein dazu WASER, RE VI (1907), 1129 ff. und ANDREWES (368). - Die frühesten Belege für Isonomie (\oovouiæ) sind Alkmaion, 24 fr. B 4 D und das Tyrannen-Skolion 893.896 PAGE, PMG (hier in

adjektivischer Form: \oovôpous τ᾽ ᾿Αθήνας; beide ca. 500 v. Chr.) sowie Her. 3,80,6.83,1 (Verfassungsdebatte) und 3,142,3; 5,37,2. Isegorie (ἰσηγορίας) steht zuerst bei Her. 5,78 (auf die kleisthenische Zeit bezogen) und Ps.-Xenoph. 1,12, Isokratie (\soxpatia) Her. 5,92a,1 (nur hier belegt), zsöpsephos (\oéwnpos) Eurip. Hiket. 353. Zum Begriff vgl. VLASTOS (370), FREI (373) und TOULOUMAKOS (803, S.19ff.). - Das Wort Demokratie (δημοκρατία) begegnet als Substantiv und davon abgeleitetes Verb zuerst bei Her. 6,43,3.131,1 und etwa gleichzeitig

460

ZWEITER TEIL: QUELLEN UND FORSCHUNG

bei Ps.-Xenoph. (als Substantiv, Verb und Adjektiv δημοτικός, démotikós) und Arıstoph. Acharn. 618 (vgl. 642; 425 uraufgeführt). Im Erythrai-Dekret (MEIGGS/LEWIS, 127, Nr. 40; KOCH, 404, S.61ff.), das wohl auf 453/52 zu datie-

ren ist, steht dort, wo direkt auf die demokratische Staatsform Bezug genom-

men wird, noch πλῆθος, pléthos, also ein Begriff der Menge (Z.22ff.). Zur Wortbildung vgl. DEBRUNNER (375) und TOULOUMAKOS (803, S.9ff.). - Personifiziert begegnet uns demokratia bereits bei Arıstoph. Vögel 1570 (414 v. Chr.); doch

gehört der Kult der Démokratía gewiß erst der Zeit nach 403 an. Die älteste uns erhaltene figürliche Darstellung ist das Relief des Démos und der Démokratía auf der Stele, auf der das Gesetz v. J. 337/36 gegen die Tyrannis steht; zu Kult und Darstellungen vgl. RAUBITSCHEK (376). Die Annahme von Uta KRON (Demos,

Pnyx und Nymphenhügel. Zu Demos-Darstellungen und zum ältesten Kultort des Demos in Athen, in: Athen. Mitt. 94, 1979, 49-75), daß es bereits vor 403/02 in Athen einen Demos-Kult gegeben habe, beruht auf einer m.E. nach unzulässig engen Auslegung einer Felsinschrift. Die Personifikation des Demos setzt

indessen bereits in der zweiten Hälfte des 5. Jhs. ein, für uns zuerst greifbar in den „Rittern“ des Aristophanes, der ihn als Bühnenfigur einführt; vgl. FW.

HAMDORF:

Griechische

Kultpersonifikationen

der vorhellenistischen

Zeit,

1964, 30ff.

Von den anderen Verfassungsbegriffen steht Tyrannis (τυραννίς) schon bei

Archilochos fr. 22 D; P. Oxy. 2310 fr. a col. I 20 (Mitte des 7. Jhs.) und Monarchie (μοναρχία) zuerst bei Alkaios fr. 119/122 D v.25 (frühes 6. Jh.); Aristokratie (ἀριστοκρατία) ist erst bei Thuk. 3,82,8 belegt, Oligarchie (ὀλιγapxía) tritt etwa gleichzeitig mit Demokratie auf (Herodot, Ps.-Xenophon). Der Begriff der Verfassung selbst (politefa, πολιτεία, auch κατάστασις, σχῆμα) erscheint zuerst bei Ps.-Xenoph. 1,1; 3,1. |

Freiheit (ἐλευθερία) begegnet als persönliche Freiheit in Athen schon bei Sol. 24,7.15 D (in adjektivischer Form) im Zusammenhang der Bauernbefreiung; als demokratischer Wert erscheint sie zuerst bei Ps.-Xenoph. 1,8 und Eurip. Hiket. 405; 438 (in adjektivischer Form) und 353 (verbal); zur Entwicklung des

Freiheitsbegriffs vgl. jetzt die umfangreichen Darstellungen von RAAFLAUB (378 und 379, bes. 378, S.266ff.), ferner MEIER (387, S.297f.).

Die frühesten theoretischen Reflexionen auf die demokratische Staatsform stehen bei Her. 3,80-85; Ps.-Xenoph., Staat der Athener (Atbenaión politeía), Eurip., Hiket. 399-455, vgl. 346-358, und Thuk., Grabrede (Epitaphios) des Perikles 2,35-46, bes. 36-41.

Das Bewußtsein von der Neuheit der demokratischen Verfassung wird u.a. darin deutlich, daß die Athener sowohl sich selbst (vgl. etwa Aristoph. Ekkles. 214ff.583 ff.) als auch den anderen Griechen (z. B. Thuk. 1,70: νεωτεροποιοί) als

Neuerer erscheinen.

Der sich aus dem machtpolitischen Gegensatz von Athen und Sparta entwickelnde Verfassungsdualismus ist bereits dem Autor der pseudoxenophontischen Schrift vom Staat der Athener klar bewußt (1,14f.; 3,10f.).

Besonders scharf hat u.a. auch Thuk. 5,31,6 die Abhängigkeit der Außenpolitik der griechischen Städte von ihrer jeweiligen Verfassung gesehen: (die Böoter und Megarer schließen sich im Jahre 421 der gegen Sparta gerichteten Symmachie

I. Die Entwicklung Athens zur Demokratie

461

nicht an, denn νομίζοντες σφίσι τὴν ᾿Αργείων δημοκρατίαν αὐτοῖς ὀλιγαρχουμένοις ἧσσον ξύμφορον εἶναι τῆς Λακεδαιμονίων πολιτείας (,,ih-

nen, die eine oligarchische Verfassung hätten, sei die Demokratie der Argiver von geringerem Nutzen als die Verfassung der Spartaner“). Als locus classicus für eine Großmachtpolitik, die den Verfassungsumsturz allein um des machtpolitischen Nutzens willen betreibt, kann Arist. Pol. 1296 a 32-36 gelten: ἔτι δὲ καὶ τῶν ἐν ἡγεμονία γενομένων τῆς Ελλάδος πρὸς τὴν παρ᾽ αὑτοῖς Exétepot πολιτείαν ἀποβλέποντες οἱ μὲν δημοκρατίας ἐν ταῖς πόλεσι καθίστασαν ot δ᾽ ὀλιγαρχίας, οὐ πρὸς τὸ τῶν πόλεων συμφέρον σκοποῦντες ἀλλὰ πρὸς τὸ

σφέτερον αὐτῶν („Es haben ferner auch die beiden Mächte, die in Griechenland die Hegemonie besaßen, jeweils mit Rücksicht auf ihre eigenen Verfassungen in

den Städten teils Demokratien, teils Oligarchien eingerichtet, wobei sie nicht

den Vorteil dieser Städte, sondern ihren eigenen im Auge hatten“). Zur Einführung der Demokratie als Herrschaftsinstrument von seiten der Athener vgl.

SCHULLER (401, S.82ff.), zur Entwicklung des verfassungspolitischen Dualis-

mus BLEICKEN (381).

In der modernen Forschung

hat sich die Geschichte der politischen Begriffe

des 6. und 5. Jhs. von der allgemeinen politischen und sozialen Geschichte, in

die sie eingebettet ist, verselbständigt. Die Ausführungen im Text S.54ff. wollen nicht in dieser Tradition gesehen, sondern lediglich als das Bemühen aufgefaßt werden, das Verständnis für die sehr allmähliche Entwicklung eines verfassungs-

politischen Denkens zu erleichtern, und sie dürfen selbstverständlich nicht unabhängig von dem gelesen werden, was im ersten Kapitel über die Entwicklungsgeschichte der Demokratie ausgeführt wurde. Der Erkenntniswert einer nur aus der Begriffsgeschichte abgelesenen Verfas-

sungsentwicklung erscheint mir begrenzt. Die Ergebnisse einer solchen Betrachtung müssen allerdings nicht schon deswegen falsch sein, weil sie rein

begriffsgeschichtlich gewonnen wurden. Aber es ist zweifelhaft, ob sie, weil nach „modernen“ Methoden erzielt, richtiger oder sicherer als auf andere Weise

zustande gekommene sind und sie den Rahmen dessen, was zu wissen möglich ist, tatsächlich wesentlich erweitern.

Die begriffsgeschichtlich verfahrenden Untersuchungen sind teils politologischen (und hier vor allem ideengeschichtlichen) Denkformen verpflichtet, teils arbeiten sie mit philologischen Mitteln. Die meisten Autoren bedienen sich beider Arbeitsweisen; doch besitzen wir eine ganze Reihe kleinerer, rein philo-

logischer Abhandlungen. Diese haben deswegen größere Zustimmung gefunden, weil Ergebnisse, die aus Wortbildungsgesetzen und quantifizierenden Untersuchungen über die Häufigkeit des Vorkommens von Begriffen gewonnen werden, zwar eng begrenzt, aber doch auf Grund von allgemein anerkannten Methoden gewonnen und daher unmittelbar nachvollziehbar sind. Die Arbeiten von FREI (373) über isonomía und von DEBRUNNER (375) über démokratía über-

zeugen denn auch durch methodische Klarheit und Durchsichtigkeit. Ihre Ergebnisse klären nur Teilaspekte, sind aber wichtig: Sie bestätigen die inhaltliche

Nähe der beiden Begriffe zueinander und den zeitlichen Ansatz für das erste Vorkommen auf das späte 6. Jh. bzw. die Mitte des 5. Jhs., und sie zeigen das

462

ZWEITER TEIL: QUELLEN UND FORSCHUNG

Bezugswort (nómos, krätos) auf, das jeweils auf die Begriffsbildung gewirkt hat; gerade letzteres ist für die Rekonstruktion des politischen Bewußtseins der Zeit von Gewicht. Es ist jedoch Debrunner darin nicht zuzustimmen, daß der Begriff demokratia, der offensichtlich nicht in einen normalen Wortbildungstypus ein-

gereiht werden kann, nach dem Vorbild von oligarchia, die démokratía verdrängt habe, gebildet worden sei (5.15). Denn diese Annahme setzt voraus, daß die

Athener ihre vordemokratische politische Ordnung als Oligarchie bezeichnet und sie also bereits damals eine in der politischen Diskussion verwendete Verfassungstypologie besessen hátten. Es war aber weder die Demokratie in Abset-

zung zu einer Oligarchie ins Leben getreten noch läßt sich ein älterer, in das 6. Jh. zurückreichender Gebrauch des Begriffs nachweisen oder auch nur wahrscheinlich machen. Beide Begriffe, démokratía und oligarchia, begegnen uns in den Quellen etwa gleichzeitig im letzten Drittel des 5. Jhs. - Stárker philologisch arbeiten auch diejenigen Autoren, die den Stellenwert, den ein Begriff bei

den Schriftstellern des 5. und frühen 4. Jhs. in dem jeweiligen Zusammenhang eines Zitates hat, herausarbeiten und daraus die früheste Bedeutung oder eine frühe Bedeutungsgeschichte rekonstruieren. Da hier gegenüber den nur von

Wortbildungslehre und Wortvorkommen ausgehenden Untersuchungen die Interpretation und damit ein stark subjektives Element die Erkenntnisbasis bildet,

weichen die so gewonnenen Ergebnisse z. T. erheblich voneinander ab und

geraten bisweilen auch an den Rand dessen, was eine Mehrzahl von Fachgelehrten noch hinnehmen kann. So erscheint mir kaum einsehbar, daft die Worte

demokratia und oligarchia ursprünglich keine politischen Schlagwörter gewesen, sondern anfangs deskriptiv oder, wenn nicht, dann abwertend (also doch politisch?) verwendet und erst nach 411, vor allem nach 404 positiv (démokratía)

bzw. negativ (o/igarcbía) gebraucht worden sein sollen, wie SEALEY (385) glaubt. Der hier geforderte ursprünglich „neutrale“ Gebrauch eines offensichtlich in die politische Sphäre gehörigen Begriffs hat wenig Wahrscheinlichkeit für sich.

Ich kann die von Sealey erarbeitete Bedeutung auch nicht aus den von ihm behandelten Zeugnissen herauslesen, sondern halte sie für ein Vor-Urteil. Noch schwerer wird es, den Ausführungen von K.H. KINZL (AHMOKPATIA. Studie zur Frühgeschichte des Begriffs, in: Gymnasium 85, 1978, 117-127.312-326) zu folgen, der - in seinem Ziel Sealey nicht ganz unähnlich - nachzuweisen versucht, daß Isonomie und Demokratie anfangs keine Regierungs- oder Herrschaftsformen gemeint hätten und der Teilbegriff démos in démokratía zunächst auf den lokalen démos bezogen worden wäre. Nicht weniger spekulativ ist die These von HIRZEL (187, S.263 Anm.8), daß das Wort démokratía wegen der

angeblich ursprünglich pejorativen Bedeutung des Wortes démos und wegen des spáten Auftretens von demokratía z. Zt. des Kleisthenes zunächst als "Pereeina-

me entstanden sei" und „zuerst von den Gegnern des Demos gebraucht wurde“. Diese z. T. willkürlichen, schwer nachvollziehbaren Gedanken zeugen von der Breite der als móglich gedachten Interpretationen.

Das stärkste Interesse hat erwartungsgemäß hier wie in allen anderen Forschungsansátzen die Frage danach gefunden, welche Rolle für die Entstehung des demokratia-Begriffs der Begriff isonomta gespielt hat. Denn da dieser am Ausgangspunkt des Bewußtseinsprozesses steht, der zur demokratia hinführt,

I. Die Entwicklung Athens zur Demokratie

463

kommt ihm für den Inhalt des Demokratie-Verständnisses in dieser frühen Zeit größtes Gewicht zu. Bei der Dürftigkeit des Materials gehen die Ansichten weit auseinander, und manche Gelehrte rechnen mit komplizierten Bedeutungsver-

schiebungen von isonomía. Breitere Zustimmung hat die Ansicht gefunden, daß Isonomie zunächst nur ein Gegenbegriff zu Tyrannis gewesen und - von einem

neuen Verfassungsverstándnis weit entfernt - auf die Herrschaft der Ordnung (A.W. GOMME: Class. Review 63, 1949, 125), auf eine Wiederherstellung des von

den Tyrannen gestórten gleichen Rechts für alle und eine Erneuerung der Eunomie (MEIER, 386, S.36ff.), also auf Gleichheit vor dem Gesetz und damit mehr

auf die gute alte Ordnung als auf deren qualitative Veränderung gerichtet gewe-

sen sei. Es ist auch die Meinung verbreitet, daß isonomía als Kampfansage an die Tyrannis zunächst von den Aristokraten geprägt und erst später, nachdem sich

der démos seiner Stärke bewußt geworden war, von demokratischer Seite übernommen worden sei (V. EHRENBERG: Eunomia, in: Charisteria Alois Rzach, 1930, 26f.; ders.: RE Suppl. VII, 1940, 294ff; 392, S.530ff.; Ansicht aufgegeben in: Festschr. A. Lesky: Wiener Stud. 69, 1956, 67; vgl. auch VLASTOS, 371, S.10, PETZOLD, 344, S.150ff. und RAAFLAUB, 379, S.112ff.). Demgegenüber hat VLA-

STOS a.O. gezeigt, daß die naheliegendste Interpretation, die in dem Begriff

bereits das Bewußtsein von der neuen politischen Rolle einer größeren Anzahl von Bürgern, nämlich der Hopliten, eingeschlossen sieht, mit allen unseren Quellen, auch denen des 4. Jhs., übereinstimmt und darum komplizierteren Konstruktionen vorzuziehen ist. Die Interpretation als Gleichheit durch das Gesetz, und das heißt als politische Gleichberechtigung, schließt dabei die Gleichheit vor dem Gesetz mit ein, und sie mag bei Gelegenheit, so etwa

gegenüber als ungerecht empfundenen Urteilen, sowohl in der Frühgeschichte der Demokratie als auch spáter, und hier besonders in der forensischen Atmospháre, im Vordergrund gestanden haben. So ist denn vom 5. Jh. (Thuk. 2,37,1;

Eurip. Hiket. 429-439) bis in das späte 4. Jh. bewußt, daß das son beide Vorstellungen enthält (vgl. etwa Demosth. 23,86; 24,59, wo beides, Dem. 15,29; 25,16; 51,11, wo nur die Gleichheit vor dem Gesetz genannt ist). Diese Verháltnisse

sind bereits von EHRENBERG (369, S.295ff.) und VLASTOS (370; 371, vgl. auch TURASIEWICZ, 367) geklärt sowie von BORECKY (372) durch die Heranziehung weiterer Belege erneut bestátigt worden. - NAKATEGAWA (374) hat erneut und mit guten Argumenten die Begriffe isonomía und iségoría, der erstere nach ihm

mehr auf das Prinzip, der andere auf die aktuelle Konkretisierung zielend, für die kleisthenische und nachkleisthenische Zeit in Anspruch genommen, in der wir eine eigene, in sich ruhende Periode, nicht nur Vorstufen zur Demokratie zu

sehen haben. Nach HANSEN (627, S.81ff.) war isonomía indessen überhaupt kein Begriff der politischen Praxis, sondern wurde von der Philosophie geprägt. Doch der Hauptbeleg in der Verfassungsdebatte bei Her. 3,80,6.83,1 entstammt mit großer Sicherheit, wie ich meine (BLEICKEN, 381, S.152ff.), nicht aus einem

sophistischen Traktat (wenn das denn als philosophische Literatur zu bezeichnen wäre), sondern gehórt, wie die ganze Debatte bei Herodot, in die Praxis

athenischer Politik. Wortgeschichte, Wortbedeutung sowie die aus zeitgenóssischer Literatur und sonstigen Quellen gewonnene Kenntnis der Zeit verbinden auch OSTWALD (366)

464

ZWEITER TEIL: QUELLEN UND FORSCHUNG

und TURASIEWICZ (367) ın ihren Untersuchungen zu ndmos, thesmös und den

Wortbildungen mit nómos, und sie dürften durch ihre sorgfältigen, distanzierenden Urteile durchweg breite Zustimmung finden. Turasiewicz hebt den doppelten Bezug von nómos heraus, einmal den auf Moral, Religion und Gesellschaft gerichteten, den in besonderem Maße ewnomía und anomía enthalten, zum

anderen den auf Gesetz, Recht und Politik gerichteten, dem eher d zuzuordnen sei. Ostwald stellt heraus, daß tbesmós primär die Herkunft von den Góttern oder einem Gesetzgeber bezeichnet, nómos, der bis zum Ende des 5. Jhs. den Begriff thesmös ablóse, mehr auf eine Gültigkeit, die von allen, die unter ihm stehen, anerkannt wird, ziele und deswegen auch die Fähigkeit enthalte, in die

Bedeutung von menschlicher Satzung überzugehen (nómos erscheint aber erst Aristoph. Acharn. 532, also 425 v. Chr., in der Bedeutung von geschriebenem

Gesetz!). Nach ihm meint ferner der Begriff eunomia bei Solon noch einen allgemeinen Zustand, während in isonomía schon die Fähigkeit stecke, Normen

zu setzen; in letzterer sei der Begriff thesmös verworfen worden und die Entdeckung von Freiheit und Gleichheit enthalten. Hier hat sich allerdings die Begriffsgeschichte schließlich verselbstándigt, ist nur mit Begriffen, die zudem mit nur wenigen Stellen über ein Jahrhundert abdecken müssen, eine Entwick-

lung des politischen Bewußtseins entworfen, die einer Überprüfung dann nicht mehr überall standhält: /sonomia scheint sich doch überhaupt nicht auf Satzungsautorität zu beziehen, sondern steht der Vorstellung von politischen Rechten näher, und ob z. Zt. von Kleisthenes die Gesetze nómoi hießen, wissen wir nicht (vgl. Ch. MEIER: HZ 218, 1974, 372ff. und J.K. DAVIES: Class.Rev. 23, 1973,

224ff.).- Zu dem begriffsgeschichtlichen Rekonstruktionsversuch von RAAFLAUB (379) vgl. u. S.544ff.

Die politologische Arbeitsweise birgt ebenfalls große Risiken. Vor allem derjenige, der die Geschichte politischer Ideen auf die reine Begriffsgeschichte gründet, hat mehr als jeder andere unter der Lückenhaftigkeit unserer Überlieferung zu leiden; ist diese an sich schon schlecht, leistet sie für eine Begriffsge-

schichte noch weniger, wie u.a. bereits die oben besprochene Arbeit von OSTWALD (366) deutlich gezeigt hat. Das Wort Isonomie und seine Derivate kommen, um nur ein Beispiel zu nennen, in der Zeit ihrer vermuteten Entstehung

gerade zweimal vor, und danach erst wieder 75 Jahre später! Wenn der begriffs-

geschichtliche Denkansatz heute trotzdem wieder im Gespräch ist, wird das besonders auch Christian MEIER verdankt. In vielen seiner Arbeiten sind jüngere methodische Ansätze erkennbar, die bereits in der Zeit der Weimarer Republik und dann - über die NS-Herrschaft und die ersten Nachkriegsjahre hinweg -

verstärkt wieder seit den sechziger Jahren viele Arbeiten vor allem der Politologie und der Neueren Geschichte geprägt haben. Wissenschafts- und Erkenntniskritik spielen in ihnen ebenso ihre Rolle wie das Bemühen, über eine theoretische Erfassung historischer Probleme Ansatzpunkte zu neuen Fragestellungen und mit ihnen einen besser begründeten und erweiterten Erkenntnisstand zu erhalten. Meier ist besonders den Arbeiten des Althistorikers Hans Schaefer über die griechische Politik im 6. und 5. Jh. und des Neuhistorikers und Geschichtstheoretikers Reinhart Koselleck, dessen Wirken u.a. in dem von ihm mit

herausgegebenen Lexikon für geschichtliche Grundbegriffe Gestalt gewonnen

I. Die Entwicklung Athens zur Demokratie

465

hat, verpflichtet. Das Charakteristische dieser Denkweise läßt sich bereits in manchen Arbeiten SCHAEFERs aufzeigen, der u.a. (382) ein gemeingriechisches

Prinzip des Agonalen, welches das Handeln der Adelswelt im 6. Jh. bestimmt haben soll, im 5. Jh. von einem politischen, nach dem gleichen Nomos (Isonomie) strebenden abgelóst sieht. Hier wird das Handeln der Menschen eines bestimmten Zeitabschnittes einer Struktur unterstellt, die ein Eigenleben zu führen und weniger aus der Zeit hervorgeholt als in sie hineingedacht zu sein scheint. Sehr viel komplexer und gestützt von neueren und neuesten Arbeiten wissenschaftstheoretischen Charakters denkt MEIER (386-389). Er liest die Ent-

wicklung der Verfassung an der Geschichte der politischen Begriffe ab und erhält dabei nicht nur eine Entwicklungsgeschichte des politischen Bewufitseins der Griechen, insbesondere der Athener, sondern auch gleichsam die „objektive“, heute schaubare, den Griechen aber nicht oder nicht immer bewußte Geschichte eines autonom ablaufenden Prozesses (letzteres bes. 388). Insbesondere

meint er diesen ProzeR in einem Wandel des politischen Denkens von einer »nomistischen" zu einer „kratistischen“ Vorstellung von Verfassung erkennen

zu kónnen. Nomistische Verfassungen sind danach die vornehmlich dem 6. und frühen 5. Jh. zugehörigen Formen, wie Eunomie und Isonomie, die eher den Zustand der Polis beschreiben, auf jeden Fall die Vorstellung von Herrschaft nicht in einem konstitutiven Sinne enthalten; „kratistisch“ heißen demgegen-

über solche Verfassungen, die im Verfassungsbegriff den Tráger der Herrschaft benennen und darin die Môglichkeit der Alternative, die in der Zeit nomisti-

scher Verfassungen nicht gesehen wird, zu erkennen geben. Erst in der Zeit der

kratistischen Verfassungen könne darum „Verfassung“ überhaupt gedacht und der Wandel zu einer anderen Form der Herrschaft bewußt herbeigeführt wer-

den. Die Argumentations- und Darstellungsweise erreicht bei Meier ein hohes Abstraktionsniveau, und es ist nicht zu verkennen, daß die Abstraktion öfter

eine an sich fällige Argumentation überspielt. Der Gedankengang scheint auch vielfach einer dünnen Quellenbasis eher aufgepfropft zu sein und in ihm ein von der allgemeinen Kenntnis der politischen und sozialen Geschichte gespeistes

Vorwissen ständig mitgedacht zu werden. Es ist ebenfalls deutlich, daß sich das System der Begriffe bisweilen zu verselbständigen droht, so wenn die nomistischen und kratistischen Verfassungen teils aus den Quellen entwickelt, teils

dann wieder für deren Interpretation vorausgesetzt werden. Gelegentlich werden auch mehrere Denkebenen (Ebene des autonomen Prozesses, Bewußtseinsebene der handelnden Subjekte) ineinander verschränkt, so daR auch - wohl

unfreiwillige - Paradoxien auftreten, die wie die Konsequenz einer ins Spielerische gehenden Lust am Räsonieren anmuten. Die verselbständigte, von der Ereignisgeschichte weitgehend losgelóste Denkweise, die alles auf das Prozessuale der Entwicklung abstellt und dabei mehr postuliert als wirklich belegt, hat MEIER (389) u.a. auch in einem Aufsatz vorgeführt, in dem er die Entstehung des Poliuschen bei den Griechen (er nennt sie „die politische Revolution der Weltge-

schichte“) zu ergründen sucht. Die dynamische Kraft des nach ihm revolutionären „Prozesses“, der zur Entstehung eines entwickelten politischen Bewußtseins

führte, sieht er in der Bildung einer „relativ autonomen Intelligenz" zwischen

den griechischen Poleis, also einer gleichsam supranationalen geistigen Kraft,

466

ZWEITER TEIL: QUELLEN UND FORSCHUNG

welche die sogenannten Sieben Weisen verkörpert haben sollen, nach Meier „eine Dritte Position“ zwischen den streitenden Gruppen. Um dieser Konstruktion willen wird bewußt die Spekulation vor den Beweis gestellt, der politischsozialen Realität (der ,,Ereignisgeschichte") eine Nebenrolle bzw. die Rolle der

Bestätigung des spekulativ Erahnten zugewiesen und ferner unterstellt, daß mit

dieser neuen Kraft die Entstehung nicht nur des Politischen, sondern auch der Demokratie überall bei den Griechen (und nicht nur in Athen, woher wir diese

ausschließlich kennen) möglich geworden war. Es scheint, daß Meier für die

großen verfassungspolitischen Umbrüche des späten 6. und des 5. Jhs., denen nicht, wie in der Frühen Neuzeit, eine philosophische Theorie vorausging, in der „autonomen Intelligenz“ eine Art Ersatz-Aufklärung gesucht hat. Die Subjektivität der Phantasie, die selbstverständlich auch ihre fruchtbare Seite hat,

geht in diesem Aufsatz an die Grenze des Nachvollziehbaren. Das ist in den anderen Arbeiten zur griechischen Verfassungsgeschichte durchaus nicht der

Fall. In vielen, ja den meisten Ergebnissen wird die Mehrheit der Fachgelehrten Meier zustimmen können, ohne immer dem Weg, der zu ihnen führte, folgen zu wollen. Aber auch wer zugibt - und wer wollte es nicht -, daß diese mehr oder weniger freizügige Art des Denkens nicht nur manche schöne Formulierung, sondern auch manchen wichtigen neuen Gedanken hervorgebracht hat, bleibt

doch letztlich unbefriedigt. Das Unbehagen dürfte vor allem durch das Mıßtrauen über den Erkenntniswert der Argumentationsweise verursacht sein; denn

in der Allgemeinheit der Formulierungen steckt zuviel Spielraum für spekulative Kombinatorik und bleibt zuwenig Verbindung mit dem konkreten historischen Gegenstand (vgl. auch die Kritik von J. COBET: Chiron 3, 1973, 15-42). Mit Recht haben u.a. auch MARTIN (349, S.40) und danach KINZL (350) hervor-

gehoben, daß die Demokratie nicht das Ergebnis einer bewußten Demokratisierung war, ihr also keine programmatische Phase vorausging. Das Problem des Beginns der Demokratie und deren Einheit im 5. und 4. Jahrhundert

Die für die Frage nach dem Beginn der Demokratie relevanten Zeugnisse sind, soweit sie das Vorkommen und die Geschichte der einschlägigen Begriffe

betreffen, im vorangehenden Abschnitt (S.459f.) aufgeführt worden. Hier werden nur diejenigen Belege nachgetragen, auf die im Text zu diesem Abschnitt verwiesen wurde.

Zu den Stufen der demokratischen Entwicklung bei Arıstoteles: Arıst. AP 41,2 (Solon bedeutet den Anfang der Demokratie); Pol. 1273b35ff. (Solon ist der

Begründer der pätrios politeia) - AP 41,2 (die fünfte Verfassungsstufe unter Kleisthenes war demokratischer als die solonische); Pol. 1319b21f. (Kleisthenes vermehrte die Demokratie) - AP 27,1f. (durch Perikles wurde die Verfassung

demokratischer, weil er die Macht des Areopags beseitigte und die Flottenpolitik intensivierte, die Menge dadurch Selbstvertrauen gewann und den ganzen Staat übernahm); Pol. 1274a5-15, vgl. AP 41,2 (Ephialtes, Perikles und andere

Demagogen brachten es durch demokratische Neuerungen zu der jetzigen De-

mokratie; Grund: durch die Seemacht gewachsenes Selbstvertrauen des Demos).

l. Die Entwicklung Athens zur Demokratie

467

HANSEN (965) hat gezeigt, daß von den Rednern der zweiten Hälfte des 4. Jhs. der solonischen Demokratie weitgehend die Formen der eigenen Zeit unterstellt wurden. Zu den frühen, für 411 v. Chr. und danach überlieferten Zeugnissen für den

Begriff pátrios politeta und deren Bezug auf Kleisthenes (vor allem zum Kleitophon-Zusatz des Pythodoros-Dekrets von 411 bei Arist. AP 29,3 und zu

Thrasymachos fr. 85,1 DK aus peri polit.) vgl. FUKS (962, S.1ff.102ff.) und WALLACE (957, S.131ff.). - Aristoteles bezeichnet die von ihm stets negativ

gesehene und nach ihm in dieser Form z. Zt. des Perikles ausgebildete Demokratie meist als δημοκρατία ἡ τελευταία und nennt sie gelegentlich ausdrücklich eine Tyrannis (Pol. 1312b5 und 1313b33), selten sagt er δημοκρατία ἢ ἐσχάτη (Pol. 1312b36), ὑστάτη (Pol. 1310b4), νεωτάτη (Pol. 1305229), vexvikxotá&tn (Pol.

1296a3f.) oder ἡ νῦν δημοκρατία (Pol. 1274a5f.); vgl. den Index zu Arist. Pol. s.v. in der Ausgabe von J. AUBONNET: Coll.Budé, T.III, 1989. - Flotte und hegemo-

niale Seebundspolitik als Motor der Demokratie: Arist. Pol. 1304a22-24; AP 27,1; Ps.-Xenoph. 1,2; vgl. Arist. Pol. 1303a5f. (kurz nach dem Perserkrieg

entstand Demokratie aus Politie). - Der Areopag zwischen 480 und 462/61:

Arist. Pol. 1304a20f.; AP 23; vgl. Pol. 1303a5f. Die Frage nach dem Beginn

der Demokratie kann nicht allein aus einer

Begriffsgeschichte beantwortet werden, sondern muß die allgemeine politische

und soziale Geschichte mit einbeziehen. Zwar spielt zur Bestimmung des Zeitpunktes, von dem an wir von Demokratie sprechen kónnen, auch eine Rolle, welche Begriffe für die politische Ordnung jeweils verwendet wurden, was sie

bedeuten und wann das Wort Demokratie zuerst auftaucht, und folglich werden in der Forschung auch stets die wenigen Stellen, die von diesen Begriffen handeln, im Zusammenhang der Frage nach dem Beginn der Demokratie erórtert, doch dürfen sie in der Diskussion nicht isoliert von den allgemeinen politischen Zusammenhängen gesehen werden. Der Mangel an konkreten Hinweisen aus der politischen Geschichte hat indessen dazu verführt, die Zuflucht in der

Begriffsgeschichte zu suchen, obwohl sie für die Zeit des fraglichen Beginns der Demokratie wahrhaftig nicht mehr an konkreten Hinweisen zu bieten hat als die allgemeine Geschichte. Gerade der wichtigste und wohl meistzitierte Beitrag dazu, nämlich der von EHRENBERG (384), ist ein Musterfall für einen rein begriffsgeschichtlich operierenden Versuch, sich der Lósung der Frage nach

dem Beginn der Demokratie zu nähern. Ehrenberg geht nämlich davon aus, daß die Demokratie in Athen in dem Augenblick existierte, als das Wort verwendet wurde. Auf der Suche nach dem frühesten Vorkommen findet er eine an den Begriff anklingende Wendung bei Aischyl. Hiket. 604 (δήμου κρατοῦσα χείρ) und verbindet die Demokratie wegen der zeitlichen Nähe der „Hiketiden“ zu

Kleisthenes mit diesem. Die Stelle verliert aber schon deswegen an Gewicht, weil die „Hiketiden“ nicht, wie noch Ehrenberg annahm, vor 472, sondern erst

in den späten und auch die tie in diesem Thema des

sechziger Jahren aufgeführt worden sind (vgl. LESKY, 238, S.271f.), Unterstellung eines Konflikts zwischen Monarchie und DemokraStück (und in der Verfassungsdebatte bei Herodot), der gar nicht Stückes ist (die Monarchie wird ja nicht angezweifelt) noch

468

ZWEITER TEIL: QUELLEN UND FORSCHUNG

es im 5. Jh. je war (die Tyrannis war natürlich ein Thema, und dies auch bei

Aischylos), kann nicht davon überzeugen, daft Aischylos hier die Demokratie als nichtmonarchischen Staat vorstellen wollte; zur Diskussion der Stelle vgl.

LOTZE (393, S.212ff.). Die Isolierung der Begriffe führt auf Abwege, und so dürften denn die von ganz unterschiedlichen Ausgangspunkten bezogenen Positionen von DEBRUNNER (375), SCHAEFER (390) und LARSEN (391), von denen

sich Ehrenberg in dem zitierten Beitrag gerade absetzen wollte, mehr Glaub-

würdigkeit finden; sie alle setzen die Anfänge der Demokratie spät, nämlich in perikleischer Zeit, an. Die Verbindung des ersten Vorkommens des Begriffs Demokratie mit dem Beginn der Sache selbst hat in der Forschung viel Verwirrung gestiftet. Sie ist methodisch unzulässig, denn sie setzt die Vorstellung voraus, daf der Begriff zugleich mit oder sogar eher vor der Sache stehen muß, und überträgt damit neuzeitliche Verhältnisse in die Antike. Der moderne Mensch begreift eben schwer, daß für eine Sache, wie sie die Demokratie darstellt, nicht sofort der

Begriff zur Hand ist. Ich will damit gar nicht sagen, daß es ihn nicht schon mit dem Entstehen der Sache gegeben haben kann, sondern nur negativ dies, daß die Sache vorhanden sein kann, ohne daß der Begriff schon da ist. Man mag sich zuerst mit Abstrakta wie démos, pléthos oder dem Gleichheitsbegriff (son) bzw. seinen Derivaten (isótés, isonomía, iségoría) begnügt haben, bis im Vollgefühl der

gewachsenen Kraft der prágnante Ausdruck démo-kratía gefunden wurde. Vielleicht führen neue Belege ja auch noch in eine etwas ältere Zeit, obwohl ich

skeptisch bin. HANSEN (627, S.69f.) hat gemeint, daß der Name Demokrates, der vielleicht schon für die Zeit vor 460 belegt ist, und die Bemerkung bei Antiph. 6,45, daß der sich Verteidigende als Prytane für die démokratía geopfert hatte (nach einem wie alten Formular?), auf einen frühen Gebrauch des Wortes ver-

weise, aber Demokrates muß, wie andere mit démos zusammengesetzte Namen, keinen politischen Bezug haben, und das Opfer für die démokratía (doch wohl

für das Heil der Demokratie) kann die Terminologie der Zeit Antiphons wiedergeben, muß nicht mit einer älteren identisch sein. Aber wie auch immer: Erst der

Nachweis des Wortes vor 480 würde eine Neubesinnung auf die Entstehungsgeschichte der Demokratie erfordern. Das Problem der Einheit der Demokratie ist erst im letzten Jahrzehnt sozusa-

gen auf den Punkt gebracht worden, doch klingt es in den meisten älteren Arbeiten an, wird aber nicht unter dem Begriff der Einheit, sondern denen von Blüte und Niedergang traktiert. Über die einschlägige Literatur ist unten (S.576ff.) im Zusammenhang des Kapitels über Symptome des Niedergangs

gehandelt worden. Hier sollen nur einige jüngere Arbeiten genannt werden, welche die Einheit der Demokratie in dem Sinne, daß wir im 4. Jh. von einer

anderen Demokratie auszugehen haben, erörtern. Daß die Demokratie des 4. Jhs. sich in wesentlichen Punkten auch in ihrem politischen, an institutionellen Ánderungen ablesbaren Charakter gewandelt habe, wurde von HANSEN in verschiedenen Arbeiten (bes. 645, 646, 649 und Class. Philol. 84, 1989, 141-144)

herausgestellt; er spricht von der Demokratie des 4. Jhs. als von „the new

democracy". Es geht ihm dabei vor allem um den Nachweis, daß die Volksver-

II. Soziale und wirtschaftliche Grundlagen Athens

469

sammlung geschwächt wurde und ihr gegenüber die Gerichte soweit an Einfluß gewannen, daß sie neben die Volksversammlung traten und man seitdem sogar von einer Gewaltenteilung sprechen kann. Ich habe dem, wie im Text dargelegt,

widersprochen und darüber hinaus versucht, auch andere, insbesondere wirtschaftspolitische Argumente für eine schärfere Zäsur nach 404 zu relativieren (BLEICKEN, 397). In einem wichtigen Beitrag ıst auch RHODES (396) für die

Einheit der Demokratie im 5. und 4. Jh. eingetreten. Den durchaus zu beobachtenden Wandel in den Formen (Nomothesie; Vorsitz in der Volksversammlung und im Rat; Eingangsformel der Volksbeschlüsse; Sekretáre des Volkes/Rates; Finanzwesen; Strategenkollegium; Einrichtung der Diäteten; Schriftlichkeit) sieht

auch er nicht als Schwächung der Demokratie, sondern als ein Bemühen um

größere Wirksamkeit und um Spezialisierung an. Auch er erkennt erst in der Schaffung der groften Finanzämter den Ansatz zu einem auch qualitativen Wandel. Man hat im Athen der klassischen Zeit wohl eher mit einzelnen krisenhaften Phasen, die auch mit Disengagement begleitet gewesen sein mógen, zu rechnen als mit einem allmählichen Niedergang. Das Schema „Aufstieg - Blüte - Niedergang" will nicht passen und entspricht auch nicht dem Bewußtsein der athenischen Bürger selbst, wie LOTZE (Vortrag bei der Tagung der Mommsen-Gesellschaft in Berlin, 1991) richtig bemerkt hat, der im übrigen allerdings die Demo-

kratie bereits formal durch die Reform des Kleisthenes als gegeben ansieht

(395).

II. Soziale und wirtschaftliche Grundlagen Athens

zur Zeit der Demokratie

Die soziale Schichtung der Bevölkerung

Zur Geographie und Landeskunde von Attika ist der von E. KIRSTEN bearbeitete Teil I 3 des groften Werkes über die griechischen Landschaften von A. PHILIPPSON, insbesondere die diesem Teil angehängte historische Landeskunde von KIRSTEN, mafigebend (249); Bildmaterial und neuere Forschungen zur atti-

schen Topographie finden sich bei TRAVLOS (260). Zu den Festungen in Attika vgl. McCREDIE (572) und OBER (573). Die vornehmlich für den Touristen gedachte „Griechenlandkunde“ von KIRSTEN und KRAIKER (251) kann dem Eili-

gen einige Informationen verschaffen; doch sind hier gerade die landeskundli-

chen Abschnitte äußerst knapp. Das genaueste Kartenmaterial liefert noch immer das Kartenwerk CURTIUS/KAUPERT (252).

Für die Topographie Athens

bildet das bereits vom Anfang des Jahrhun-

derts stammende und 1931 überarbeitete Werk von JUDEICH (255) noch immer

eine gute erste Information, zu dem das jüngere Buch von HILL (257) ergánzend herangezogen werden muf. Das Bildlexikon von TRAVLOS (259) bringt nicht nur willkommenes Bildmaterial mit z. T. seltenen Aufnahmen, sondern auch

die neuere gelehrte Literatur zu den einzelnen Monumenten. - Zur Agora in Athen vgl. THOMPSON/WICHERLEY (261) und CAMP (262), zur Akropolis MUSS/ SCHUBERT (263) und SCHNEIDER//HÔCKER (264), zum Piráus EICKSTEDT (266)

und zu den Mauern von Athen/Piráus u. S.492f.

470

ZWEITER TEIL: QUELLEN UND FORSCHUNG

Die Bevölkerungszahlen von Attika müssen aus zahlreichen, z. T. sehr unterschiedlichen und auch unterschiedlich zuverlässigen Belegen errechnet werden. Die wichtigste Gruppe bilden die Belege zu Truppenstärken und zu

Verlusten im Krieg und durch Seuchen; dazu treten auf Angaben von Inschriften gestützte demographische Berechnungen, Rückschlüsse aus dem Getreidever-

brauch und -import und zahlreiche Einzelangaben, unter denen die im Text genannte Stelle aus den „Ekklesiazusen“ des Aristophanes (Z.1132) wichtig ist. Alle unsere Daten werden also aus indirekten Zeugnissen gewonnen. Wir besitzen nur eine einzige Quelle, die den Umfang der Bevölkerung selbst zum Gegenstand hat: die Volkszáhlung unter der Verwaltung des Demetrios von Phaleron (317-307), die erste athenische Volkszáhlung, von der wir wissen.

Danach gab es damals neben 10 000 Metóken und 400 000 Sklaven (diese letztere Zahl ist mit Sicherheit falsch oder verzerrt überliefert) 21 000 (Athenaios 6,

103 K = FGH Nr.245, fr. 1 JAC; vgl. Plut. Phok. 28,7), nach anderer Überlieferung aber 31 000 Bürger (Diod. 18,18,5, schon in der Ausgabe von WESSELING, 1746,

durch Konjektur mit der von Athenaios genannten Zahl harmonisiert). Von der

Zustimmung zu dieser oder jener Zahl hángt viel ab, da sie durch Rückrechnung auf die Bevökerungszahlen des ganzen 4. und noch des 5. Jhs. wirken. Die modernen Meinungen zu diesen Zahlen sind durchaus zweigeteilt; mit jeweils

ausführlicher Begründung haben sich BELOCH (446), Jones und Ruschenbusch für die niedrigere Zahl, für die höhere wiederum Beloch, nämlich in dessen Griechischer Geschichte 3, 2, 19232, S.386ff., bes. 404, sowie Gomme

und

Hansen ausgesprochen (zur Diskussion der Zahlen s.u.). Eine Übersicht der von

diesen und anderen genannten Zahlen der Bürger (Hopliten, Theten) und Metóken hat RUSCHENBUSCH (450, S.146; Literatur bis 1979 berücksichtigt) zusam-

mengestellt; Ruschenbusch selbst hat die absolut hóchsten Zahlen für den Vorabend des Peloponnesischen Krieges und die niedrigsten für die Endzeit des Krieges; die Zahl der Bürger sank danach von 50 000 auf 13 000! Die Versuche, für die verschiedenen Gruppen der Bevölkerung Attikas, insbesondere für die Bürger Athens, absolute Zahlen anzugeben, setzen bereits mit dem ersten gro-

fien Werk der modernen Wissenschaft zur griechischen Geschichte, mit der »Staatshaushaltung der Athener“ von August Boeckh, ein (734, Bd. 1?, S.42ff.;

die 1. Auflage erschien 1817). Nach Boeckh hat vor allem K.J. BELOCH die weitere Forschung bestimmt. Beloch hat die Bevölkerungsstatistik als einen besonderen

Zweig der Geschichtswissenschaft in der Althistorie überhaupt erst heimisch gemacht; in seinem zentralen Werk über „Die Bevölkerung der griechisch-rómischen Welt“ schuf er auch für Athen das methodische Rüstzeug (446, erschienen 1886). In jüngerer Zeit sind, ausgehend von GOMME

(447), die von Beloch

errechneten Zahlen einer erneuten Prüfung unterzogen worden; sie haben aber, wie bei der Materie nicht anders zu erwarten ist, nicht zu einheitlichen Ergebnissen geführt. Unter den Arbeiten ragen die von EHRENBERG (177), JONES (449, dagegen wieder GOMME, 448), RUSCHENBUSCH (450-452) und HANSEN (453455) heraus.

Der Streit um die absolute Zahl der athenischen Bürger ist in den letzten 1 1/2 Jahren besonders heftig geführt worden. Dazu hat auch beigetragen, daß mancherlei neue Berechnungsgrößen eingeführt wurden, die teils wiederum

II. Soziale und wirtschaftliche Grundlagen Athens

471

strittig sind. So wurden zur Stützung der Zahlen die ältesten europäischen

Bevólkerungsstatistiken der Periode 1750-1850 (nach B.R. MITCHELL: European historical statistics 1750-1850, 1975; vgl. E. RUSCHENBUSCH: Die Zahl der grie-

chischen Staaten und Arealgröße und Bürgerzahl der ,,Normalpolis", in: ZPE 59, 1985, 253-265. Die Zahlen wurden u.a. von HANSEN als für die griechischen Verhältnisse des 5. und 4. Jhs. nicht vergleichbar gehalten), ferner auch griechische Getreideerträge des 20. Jhs. (RUSCHENBUSCH, 450, S.141ff.; ders., in:

HOEPFNER/SCHWANDNER, 275, II, S.43ff. auf Grund einer Statistik von 1929 zur Grundbesitzverteilung z. Zt. Solons) herangezogen, sind ferner überlieferte

Zahlen durch Berücksichtigung von im Ausland befindlichen Athenern (Kleru- ' chen, Söldner usw.), von Wehrdienstuntauglichen und dienstlich Unabkómmh-

chen differenziert und der Realität nähergebracht worden und wurden demographische Determinanten, wie Fruchtbarkeit und Mortalität, in die Berechnun-

gen einbezogen. Der Streit hat zu vielfachen Erwiderungen vor allem zwischen Ruschenbusch und Hansen geführt, so von RUSCHENBUSCH (452), dagegen wieder HANSEN (ZPE 75, 1988, S.189-193 mit Stellungnahme wiederum von

Ruschenbusch dazu S.194-196; vgl. auch HANSEN: The Ancient History Bulletin 3.2, 1989, 40-44). Natürlich ist die Diskussion nicht auf diese beiden Autoren beschränkt; so hat sich neuerdings auch LOTZE (819, S.63ff.) mit einer eher

vermittelnden Stellungnahme, die für das 4. Jh. mit 20 000-30 000, für das Jahr 431 mit 40 000-50 000 Bürgern rechnet, zu Wort gemeldet. Die in jeder Hinsicht

gründlichste Schrift zu den Bürgerzahlen im klassischen Athen, die jedes nur denkbare Datum heranzieht und nach verschiedenen Gesichtspunkten durchleuchtet, stammt von HANSEN (454). Unter vielem anderen verdient Hansen

darin Zustimmung, daß er die immer wieder für die geringere Bürgerzahl von 21 000 am Ende des 4. Jhs. herangezogene Stelle bei Athenaios (s.o.) als die Zahl

der Waffenfähigen interpretiert, denn der auf diese Zahl bezogene Begriff ἐξετασμός (exetasmós) ist offensichtlich ein militärischer terminus technicus („Musterung“). Mit Recht hat Hansen auch immer wieder betont, daß für die

Jährliche Wahl von 500 Ratsmitgliedern ein größeres Reservoir von Bürgern als

jene 21 000 zur Verfügung stehen mußte, denn obwohl die mögliche Wiederwahl zu dem Amt nur relativ selten wahrgenommen wurde und zudem der gróftere Teil der Ratsmitglieder erst im fortgeschritteneren Alter das Amt innehatte, konnten doch alle Demen bei grundsätzlich freiwilliger Amtsbewerbung bis zum Ende der Demokratie (und darüber hinaus) die ihnen zukommende Zahl von Ratsmitgliedern stellen und hören wir auch von keinen Engpässen (vor allem HANSEN, 454, S.51ff.). Es lassen sich aber auch immer wieder Belege oder

eher Hinweise für die niedrigere Bürgerzahl anführen, so die um ca. 330 v. Chr. erfolgte Verteilung von 160 Talenten zu je 50 Drachmen an alle Bürger, die auf 19 000 Anteile führt (Ps.-Plut. vit.Lycurgi, Mor. 843D; aber sind hier vielleicht

nur die Bürger unter einem bestimmten Zensus bedacht worden?), oder die

Ephebeninschriften der späten dreißiger Jahre des 4. Jhs., die auf einen Ephebenjahrgang von 500-550 Mann und, nach Hochrechnung auf alle Jahrgänge,

auf eine Gesamtzahl von eher 20 000 schließen lassen. Hansen muß demgegenüber auf das Argument ausweichen, daß der Jahrgang nicht alle Bürger, sondern

lediglich die wirklich Waffenfähigen repräsentierte und daß tatsächlich viel-

472

ZWEITER TEIL: QUELLEN

UND FORSCHUNG

leicht nur 60% aller Bürger Epheben waren (dagegen vgl. aber Lykurg. Leokr. 76), also keine Pflicht zum

Ephebendienst

bestanden

habe (HANSEN,

454,

S.47ff.; 455, S.3ff.; RUSCHENBUSCH: ZPE 35, 1979, $.173ff.; beide Autoren ZPE 75, 1988, S.189-196). Mir scheinen die Angaben der Quellen und deren Interpre-

tation eher auf die hóhere Zahl von gut 30 000 Bürgern im spáten 4. Jh. zu sprechen. Aber jedes Argument findet ein mehr oder weniger starkes Gegenargument, so daß auch der tief in dieser Diskussion steckende PJ. RHODES schon 1981 resignierend bemerkte, daß eine unstrittige Lösung nicht möglich sei und man auf weitere Beweise zu hoffen habe (ZPE 41, 1981, 5.105). Trotz umfangreicher Forschungen sind sich die Streitenden seitdem nicht nähergekommen. Für eine absolute Zahl der Metóken Athens helfen uns die Quellen noch weniger als für die Bürger. Da die Metóken auch Wehrdienst leisteten, gibt es

aber immerhin einige wertvolle Angaben über Metókenkontingente. Wenn man, wie es durchweg geschieht, geneigt ist, die von Athenaios (s.o.) für das Ende des 4. Jhs. genannte Zahl von 10 000 männlichen Metóken im Erwachsenenalter

anzuerkennen, bildet sie einen einigermaßen sicheren Ausgangspunkt für weitere Überlegungen. In der Zeit der Blüte von Handel und Manufaktur im 5. Jh. dürfte die Gesamtzahl etwas hóher gelegen, aber doch wohl kaum 26 500 betra-

gen haben, wie RUSCHENBUSCH (450, S.141ff.; vgl. die Angaben anderer Forscher auf der Tabelle ebd. 5.146) meint. Da die Metóken auf Grund ihrer beruflichen Situation im allgemeinen gut gestellt waren, haben sie, die auch Hopliten-

dienst zu leisten hatten, mit einiger Sicherheit relativ mehr Personen mit Hoplitenzensus gehabt als die Bürger. Im Einklang damit hat DUNCAN-JONES (464)

die Zahl der Metóken mit Hoplitenzensus vor Ausbruch des Peloponnesischen Krieges auch verhältnismäßig hoch, nämlich zwischen 6 000 und 7 000 Mann,

eingeschátzt. - Zu dem athenischen Aufgebot des Feldzuges von 424 vgl. Thuk. 4,90,1. Auch bei dem Einfall des gesamten athenischen Aufgebots in die Megaris im Jahre 431 waren die Metóken dabei (Thuk. 2,31,1). Zu ihrer Bedeutung für

den Ruderdienst vgl. schon Ps.-Xenoph. 1,12. Über die Anzahl der Sklaven in Attika läßt sich schwer etwas Bestimmtes sagen. Die von Athenaios (s.o.) genannte Zahl von 400 000 Sklaven am Ende des 4. Jhs. ist viel zu hoch, und sie muß schon deswegen, weil die Sklaven von der

Polis nicht amtlich erfaßt wurden, als reine Spekulation gelten. Zu der Zahl der nach Thuk. 7,27,5 gegen Ende des Peloponnesischen Krieges fortgelaufenen 20 000 Sklaven vgl. die Skepsis von FINLEY (206, S.15f.). Über einige Unsicherheitsfaktoren moderner Berechnungen wurde bereits im Text (S.85) gehandelt.

Es ist dem hier wenig hinzuzufügen. Im Zusammenhang von Arbeiten zur Sklaverei ist von einzelnen Autoren die Anzahl der Sklaven bisweilen gesondert

errechnet worden. Besonders gründlich und zuverlässig erscheinen mir die Arbeiten von SARGENT (478; 70 000-100 000; vgl. auch die Diskussion der Zahlen bei WOOD, 483) und - für die Bergwerkssklaven von Laureion - LAUFFER (540;

danach um 430 ca. 25 000 Bergwerkssklaven). Mit den Metóken haben sich nicht sehr viele Gelehrte bescháftigt, weswegen noch heute das zu seiner Zeit grundlegende Buch von CLERC (460) herangezogen werden muf. Clerc hatte von der Stellung des athenischen Metóken ein

Il. Soziale und wirtschaftliche Grundlagen Athens

473

verhältnismäßig positives Bild entworfen; nach ihm und auch nach HOMMEL (461) war er seinem sozialen Ansehen nach vom Bürger kaum geschieden. Das Bild ist neuerdings von WHITEHEAD (462) etwas berichtigt und das Trennende herausgehoben worden, ohne daß damit doch der Gruppencharakter der Metóken von ihm überbetont worden wäre. Wichuge Erkenntnisse zur Rechtsstellung und zur Regelung der Rechtsstreitigkeiten von Metóken enthált auch das Buch von GAUTHIER (186, S.107-156). In einem wichtigen Beitrag zu den sozialen und ókonomischen Verhältnissen Athens im 4. Jh. hat GLUSKINA (463) die in

diesem Jahrhundert wachsende Bedeutung der in Attika stándig wohnenden Fremden (Metóken, Freigelassene) für das Wirtschaftsleben Athens herausgestellt und auf die damit sich bildende Dissonanz zwischen der politischen Klasse und den Trágern der Wirtschaft hingewiesen.

Die Bedeutung des Prostates für den Metóken ist umstritten. Für das 5. Jh. ist die Existenz eines Prostates für ihn nicht nachgewiesen, und im 4. Jh. ist deutlich, daß sich der Metóke vor Gericht ohne ihn vertreten kann. WILAMOWITZMOELLENDORFF (465, S.223ff.) hatte denn auch die Metóken-Prostasie für rechtlich unbedeutsam gehalten, dem LIPSIUS (708, Bd.2, S.369ff.) mit dem

anderen Extrem, nàmlich der zeitlebens bestehenden jurisuschen Abhängigkeit des Metóken von seinem Prostates, antwortete. - Der Begriff des Clienten für den Metóken stammt von WILAMOWITZ-MOELLENDORFF (465, S.231ff., insbes. 246ff.); er begründet die Vorstellung von der Metókie als „Staatsclientel“ vor

allem mit Aisch. Hiket. 964: προστάτης δ᾽ ἐγὼ ἀστοί te πάντες („der Prostates, ich" - sc. der König der Stadt Argos - „und alle Bürger“). Die älteren Arbeiten zur Proxenie, insbesondere das seinerzeit wichtige Buch von P. MONCEAUX: Les proxénies grecques, 1885, sind wegen der Fülle der seitdem bekannt gewordenen Inschriften zur Proxenie heute überholt. Die wichtigste moderne Darstellung stammt von F. GSCHNITZER (466), der alle mit

der Einrichtung zusammenhängenden Fragen in übersichtlicher Form behandelt hat. Die athenischen Proxenie-Dekrete des 5. Jhs. für Angehörige der bundesgenössischen Städte hat REITER (468) zusammengestellt und besprochen. Die in den älteren Arbeiten vorherrschende institutionenkundliche Behandlung der Proxenie móchte die neueste Gesamtdarstellung der Institution von MAREK (467) korrigieren. Marek stellt deren politisch-gesellschaftliche Funktion in den

Vordergrund und kommt dabei auch zu neuen Bewertungen. Vor allem bestreitet er die Entstehung der Proxenie aus dem Gastrecht und deutet ihren Ursprung als Bürgschaft für Fremde (das pro in pro-xenos würde danach auf die

Fürsorge, nicht auf den öffentlichen Charakter der Tätigkeit verweisen; vgl. dagegen GSCHNITZER, 466, 5.632). Der Proxenos ist nach Marek jedenfalls nicht von seinem Ursprung her ,Staatsgastfreund“. Damit zusammenhängend beantwortet er die vielumstrittene Frage, ob die Proxenie von ihrem Ursprung her vor

allem eine Ehrung war und damit eine Leistung für die ehrende Stadt immer bereits voraussetzte (so REITER, 468, S.318f.) oder ob die Ehrungen und Privile-

gierungen die Degenerationserscheinung einer ursprünglich öffentlich-rechtlichen Aufgabe darstellten (vgl. GSCHNITZER, 466, S.643f.), in dem Sinne, daß die

Proxenie zunächst eine allgemeine Interessenvertretung für Fremde war, die

474

ZWEITER TEIL: QUELLEN UND FORSCHUNG

dann, verstärkt seit frühhellenistischer Zeit, durch das Bedürfnis der Städte nach

Kontakten mit den jeweils Mächtigen zu erhöhter Bedeutung gelangte. Im Hinblick auf die Proxenoi aus den Städten des athenischen Seebundes ist deren Loyalität gegenüber ihrer Heimatstadt in der Forschung kontrovers diskutiert worden. Sieht GEROLYMATOS (469) in ihnen eine Art „fünfter Kolonne“

(„partisan supporter“ mit „intelligence activity“) der Athener, betont SCHULLER

(401, S.99f.132f. u.pass.) zwar ihre Bedeutung als athenische Herrschaftsstütze, aber ebenso die geringe Zahl dieser Personengruppe. Demgegenüber bestreitet REITER (468, S.320ff.329f.) energisch, daß die herrschaftsstabilisierende Funk-

tion zumindest vor dem Ausbruch des Peloponnesischen Krieges eine wichtige Rolle gespielt hätte; erst nach 432/31 und im Verlauf des Krieges in zunehmendem Maße sei es vereinzelt zum Bruch der Loyalität mit der Heimatpolis gekommen.

Zum Sklavenwesen

in Athen: Der Ausspruch des Alkidamas steht bei den

Oratores Attici, S.154 BAITER/SAUPPE (vgl. auch Arist. Pol. 1253b20-23), der

Philemons (ca. 360-264/63) Com. Attic. Fragm. Nr. 95 KOCK, der Homers über den Substanzverlust des versklavten Menschen Od. 17,322ff., die Definition des

Aristoteles in dessen „Politik“ 1253b32 und ebendort 1253b23ff. die Lehre von der Natur des Sklaven. - Aristophanes über den Sklaven als Arbeiter: Plut. 517ff. - Bereits Euripides hatte in seinem „Ion“ (854-56; aufgeführt wohl bald nach

412) die Schranken zwischen Sklaven und Freien niedergelegt, wenn er sagt, daft dem Sklaven allein der Name Schande bringe, er in allem übrigen, sofern edel gesonnen, nicht schlechter sei als die Freien. - Der Gedanke, daß die Größe der Stadt Unkenntnis voneinander verschafft: Thuk. 8,66,3; die relativ gute Stellung

des athenischen Sklaven: Ps.-Xenoph. 1,10-12. - Zu dem Salbengescháft des Athenogenes und dem Prozeß gegen ihn: Hypereid. gegen Athenog., und zu den mit dem Prozeß verbundenen schwierigen Rechtsfragen zuletzt ENGELS (444, S.232ff.), zu der Verpachtung von Sklaven durch einen Vormund des Demosthenes: Demosth. 27,20.

Die ersten grundsätzlichen Überlegungen zur antiken Sklaverei hat Eduard MEYER in einem Vortrag von 1898 angestellt (470). Das Material wurde von

WESTERMANN in einem RE-Artikel (471) und spáter in einem Buch (472) zuver-

lässig zusammengestellt; es ist durch den Forschungsbericht von BROCKMEYER (473) keineswegs ersetzt worden. Die archäologischen Denkmäler, meist Vasenbilder und Reliefs, zur griechischen Sklaverei wurden von HIMMELMANN (477)

ausgewertet. Von VOGT (486) stammt eine ansprechende Studie zu der Einstellung des Griechen zum Sklaven und zum Institut der Sklaverei ganz allgemein.

Zum Sklavenrecht (Beschránkungen der Gewalt des Herrn, Asyl usw.) vgl. GERNET (479) und KLEES (487, S.37ff.). Zur Terminologie des Sklaven vgl. GSCHNITZER (475), KLEES (487) und KÄSTNER (476). Neben δοῦλος (dolos, „Diener“) und ἀνδράποδον (andrápodon,

„Menschenfüßler‘‘) begegnet im vorhellenistischen Sprachgebrauch vor allem noch οἰκέτης und θεράπων (oikétés und tberápón, „Hausgenosse“, „Diener“) für

den Sklaven, doch sind die beiden letztgenannten Begriffe nicht auf die Unfreien beschränkt.

II. Soziale und wirtschaftliche Grundlagen Athens

475

Über die Bergwerkssklaven von Laureion gibt es eine gute Spezialschrift von LAUFFER (540), über die Sklaven in der attischen Landwirtschaft des 5./4. Jhs. eine Studie von JAMESON

(482); letzterer schátzt die Bedeutung der in der

Landwirtschaft beschäftigten Sklaven höher als die meisten anderen ein, weil selbst bei einer relativ geringen Anzahl von Sklaven auf dem Lande (die nicht erwiesen sei) die Landwirtschaft als allen vertrauter und von den meisten ausgeübter Erwerbszweig im Bewußtsein der Athener einen besonderen Stellenwert

hatte. Zu einem entgegengesetzten Ergebnis führten WOOD (483; 484) u.a. die sehr erwägenswerten Überlegungen, daf für einen kleinen und sogar noch mittleren Bauern die Anschaffung eines Sklaven eine hohe und dazu mit einem nicht geringen Risiko belastete Investition bedeutete und auf den größeren

Landstellen bzw. Gütern der Eigentümer große Teile seines Besitzes parzelliert und verpachtet haben dürfte. Von Überlegungen her, welche die Anbaumóglichkeiten und -arten sowie die Bedeutung des Terrassenbaus für den Olanbau,

die ohne die Beschäftigung von Sklaven schwer denkbar ist, berücksichtigen, ist zumindest für den Olanbau mit Sklavenarbeit zu rechnen; Hochrechnungen der von LOHMANN

(610, S.255f.) für den kleinen Demos Atene angesetzten Skla-

venzahlen würden auf ca. 5 000 in der Landwirtschaft der Landdemen beschäftigte Sklaven führen. Ferner ist anzunehmen, daß in Saisonzeiten, soweit vorhanden, freie Landarbeiter oder auch „Leihsklaven“ beschäftigt wurden. - Die

wegen ihrer Lebendigkeit und Lebensnähe wichtigen Zeugnisse zum Leben und zur Psyche des Sklaven bei Aristophanes hat EHRENBERG (457) zusammengetragen und kommentiert.

Die Abhängigkeit des Wirtschaftslebens und insbesondere auch der demokratischen Ordnung von der Existenz einer großen Anzahl von Sklaven wird in der Forschung verschieden beantwortet; es dürfte jedoch eher die Ansicht überwiegen, daß weder die Wirtschaftsblüte Athens noch die Demokratie auf Sklavenar-

beit beruhte. JONES (459, bes. S.18ff.) ging so weit zu behaupten, daß in einem Athen ohne Sklaven lediglich die Wohlhabenderen ihren Haushalt hátten allein besorgen müssen und darüber hinaus nur ein paar sehr Reiche ruiniert worden

und eine etwas größere Schar Bessergestellter um einen Teil ihres Einkommens gekommen wáren. FINLEY (481) hingegen ist skeptisch, ob Wirtschaft und Demokratie in Athen ohne Sklavenarbeit in derselben oder auch nur ähnlicher Weise hätten existieren können. Auch HUMPHREYS (203, S.136ff.) schätzt die

Bedeutung der Sklaven im Produktionsprozeß Athens hoch ein und glaubt sogar, ohne ihr Ergebnis jedoch als sozialen DesintegrationsprozeR hochzustilisieren, einen inneren Widerspruch der athenischen Gesellschaft, beruhend auf der Spannung zwischen der - Interessen und Kräfte absorbierenden - politischen Aktivität der Bürger und der relativ starken Rolle von Metóken und Sklaven im Wirtschaftsleben, zu erkennen. Man hat sich jedoch hier wie bei

allen anderen Arbeiten zur Sklaverei zu vergegenwärtigen, daR sowohl die christlich-humanitäre Gesittung der bürgerlichen Gesellschaft als auch die politische Ideologie der Marxisten die Bedeutung der Sklaverei eher überzeichnen (in diesem Sinne STARR, 480). Angesichts der Quellenlage, die für unterschiedliche Interpretationen viel Spielraum läßt, dürfte auch dieser Umstand in der Zukunft zu einem vielfältigen Meinungsbild beitragen.

476

ZWEITER TEIL: QUELLEN

UND FORSCHUNG

Die griechische Frau hat bis vor ca. 20 Jahren in der modernen Forschung wenig Interesse gefunden. Von einigen Ausnahmen abgesehen, wurde das Klıschee weitergetragen, daß die Frau eine abhängige Stellung und ein geringes Prestige besessen habe (vgl. PAOLI, 497; in diesem Sinne, wenn auch stark differenzierend, noch VOGT, 498). Zumal für Athen wurde erklärt, daß es dort

um das Ansehen der Frau besonders schlecht bestellt und ihre rechtliche Stellung womöglich noch schlechter gewesen seı als anderswo. Bei dem mangelnden Interesse - die Sklaven haben ein weit gründlicheres Studium erfahren als die Frauen - könnte man darüber nachsinnen, wieweit die Gelehrten ihre eige-

nen Ansichten über die Frauen oder die ihrer Zeit den Griechen untergeschoben und sie die dafür - wie für jeden anderen Gegenstand und für jedes Vorurteil bereitliegenden Zeugnisse willig zusammengetragen, andere gern übersehen haben, das moderne Urteil mithin eher wissenschaftssoziologisch zu interpre-

tieren sei. Als Beweisstücke für Athen werden vor allem bemüht: Das Wort des Perikles bei Thukydides, daß es der höchste Ruhm der Frau sei, wenn über sıe unter den Männern weder im Guten noch im Bösen viel geredet würde (2,45,2),

der Ausspruch des Atheners Xenophon, daß die Mädchen bis zum fünfzehnten Lebensjahr möglichst wenig sehen, hören und fragen sollten (Oecon. 7,5) sowie

die Lehre des Aristoteles von der natürlichen Überordnung des Mannes über die Frau (Pol. 1529b1). Es ıst bezeichnend, daß das Buch von EHRENBERG über das

Volk von Athen, wie es uns bei Aristophanes entgegentritt (457), keinen eigenen Abschnitt über die Frau enthält und es, abgesehen von den reinen Fakten, über sie nur Allgemeinplätze wiedergibt, obwohl hier wirklich mehr zu sagen gewesen wäre. Es ist das Verdienst von GOMME (496), diesem Bild in einem anregen-

den Aufsatz entgegengetreten zu sein, in dem vor allem die Archäologie, die

Tragödie und Komödie ausgeschöpft werden. Die Frau war danach zu keiner Zeit besonders schlecht und in Athen nicht schlechter als anderswo gestellt, entbehrte durchaus nicht des sozialen Ansehens und hatte, im ganzen gesehen,

etwa eine ähnliche Position wie die Frau in der frühen Neuzeit. Das von ihm entworfene Bild der Frau im Athen der klassischen Zeit blieb nicht unwidersprochen. GOULD (499) erschien auf Grund einer Analyse von Gesetzgebung,

Gewohnheit und Mythos die Rolle der Frau sehr viel komplexer, u.a. durch eine starke Spannung, ja Distanz zur (männlichen) sozialen Ordnung gekennzeichnet. Zur Diskussion vgl. POMEROY (488, S.47ff.). In einer neueren Studie erklärt ZOEPFFEL (500, S.469ff.) die Frauenfeindlichkeit im Athen des 5. Jhs. (Tragôdie!) vornehmlich aus der Spannung zwischen oikos und pólis, die gegenüber dem

6. Jh. gerade durch die demokratische Verfassung mit ihrer politischen Dichte und starken gesetzlichen Gebundenheit gewachsen war, aber dann im 4. Jh. durch eine stärkere Zuwendung des Bürgers zum ofkos wieder abgebaut wurde. Vor allem mit dem Buch von Sarah B. POMEROY (499) hat eine intensivere Forschung über die Frau in der rómischen wie griechischen Geschichte begonnen. Das mag auch damit zusammenhängen, daß Pomeroy sehr engagiert und

mit einer gewissen Betroffenheit schreibt, dabei aber eine unpolemische, eindringende und vor allem sachlich fundierte Skizze geliefert hat. Die Frau im Athen der klassischen Zeit bildet einen Schwerpunkt ihrer Ausführungen. Aus

ll. Soziale und wirtschaftliche Grundlagen Athens

477

der darauf folgenden umfangreichen Literatur sind für die Griechen hier insbesondere die Gesamtdarstellungen von CANTARELLA (489) zu nennen, die eine

kompakte, aber zuverlässige Skizze der Grunddaten und -probleme, darunter auch die Frage nach der Bedeutung und Rolle der Homosexualität, geliefert hat, ferner MOSSE (490), die u.a. besonders die Aussagen der Literatur, in erster Linie

der Dramatiker und Philosophen, erörtert, schließlich SAVALLI (491), die ihrer handbuchartigen Skizze eine größere Anthologie beigefügt hat, und SCHULLER (492), welcher der Athenerin einen besonderen Abschnitt gewidmet hat und von dem auch die im Text zitierten Erklärungsversuche zur Rolle der athenischen

Frau stammen. Verständlicher- und dankenswerterweise sind im Zuge dieses Neuansatzes der Frauenforschung auch die rechtlichen Verhältnisse der Frau, die sichere Aussagen erlauben, von JUST (503) und SEALEY (504) gesondert

untersucht worden. JUST (502) hat auch in einem originellen Beitrag versucht, die Stellung der Frau innerhalb der Koordinaten von „Freiheit“ und „Sklaverei“

näher zu bestimmen. - Die Lebhaftigkeit der Diskussion bezeugen auch Sammel- und einzelne Zeitschriftenbände, die der Frau in der Antike gewidmet sind, wie die Bände 6, 1973, und 11, 1978 der Zeitschrift Arethusa (für die klassische

Zeit der Griechen aber nur einschlägig: ΚΙ. DOVER: Classical Greek attitudes to sexual behaviour, Bd. 6, 59-73). - Unter den neueren Abhandlungen zum Thema ,,Frau“ befinden sich auch solche, die ins wissenschaftliche Abseits

führen kónnen und die notwendige Diskussion eher behindern als in Gang halten. Dabei ist an Arbeiten zu denken, in denen antike Texte und Denkmäler

auf Grund einer eher gefühlsmäßig erworbenen, für weiblich angesehenen Erkenntnis, die einer angeblich männlichen Rationalität gegenübergestellt wird, interpretiert werden; die so gewonnenen Erkenntnisse schneiden das Gespräch ab (vgl. etwa SKINNER, 494, und den energischen Protest von HEINE, 495). Auch

Versuche, über den griechischen Mythos den Zugang zu einer älteren, womóglich matriarchalischen Phase der Geschichte vorzudringen, sind jedenfalls dann fragwürdig, wenn der jeweils interpretierte Mythos einfach mit alter Überlieferung gleichgesetzt wird. Weiterführen kónnen jedoch innerhalb dieser methodischen Neuansätze Arbeiten, die über die Anthropologie zu einer Erklärung

gesellschaftlicher Verhältnisse zu gelangen suchen, wie es in einem lesenswerten Aufsatz COHEN (501) für die Frau im klassischen Athen getan hat. Zu dem Verhältnis von Stadt und Land vgl. die im übernächsten Abschnitt über die wirtschaftlichen Verhältnisse genannte Literatur; zu den Mauern die S.469.492 genannten Werke zur Topographie Athens.

Die wirtschaftlichen Grundlagen

Die antiken Abhandlungen zur Wirtschaft der Stadt wollen dem Staat entweder hóhere Einkommen beschaffen und denken dann also rein fiskalisch, oder sie

konstruieren in philosophisch-theoretischer Manier ideale Verhältnisse. Die

Schrift über die Einkünfte von Xenophon und die ps.-aristotelische Okonomik (nur Buch 2, vgl. dazu RIEZLER, 2224) gehören der ersteren Richtung an, die

478

ZWEITER TEIL: QUELLEN

UND FORSCHUNG

Okonomik des Xenophon ist, obwohl sie auch an der Praxis orientierte Partien enthält, stark von der Philosophie beeinflußt. Die die Wirtschaft betreffenden Partien der Politik des Aristoteles (bes. 1256aff.) über die Erwerbskunde sind der Versuch einer Darstellung und Interpretation der mit Haus und Stadt verbunde-

nen Wirtschaft auf der Grundlage der Erfahrung. Zu Kommentaren der Schriften vgl. im Literaturverzeichnis Nr. 33 und 114.

Die wichtigsten Zeugnisse dafür, daß bereits im 5. Jh. die Vorstellung von Athen als der Handelsmetropole der Welt und von dem daraus resultierenden Nutzen für die Athener vorhanden war, stehen in der ps.-xenophontischen Schrift vom Staat der Athener (2,6-8), bei dem Komödiendichter Hermippos (Athen. 1,49 K) und bei Thukydides 2,38 (Epitaphios des Perikles); für das 4. Jh. vgl. Xenoph., Poroi 1,6ff.3,1f. und Isokr. Paneg. 42.

Durch die Entdeckung der Wirtschaft als eines Teiles des Politischen und die

Versuche zur theoretischen Bewältigung des modernen Prozesses der Industrialisierung war das Interesse an wirtschaftlichen Fragen auch in der Alten Geschichte seit der zweiten Hälfte des 19. Jhs. sehr groß und ist es heute noch; die

Ansichten und Streitfragen sind dabei auch außerhalb der marxistischen Literatur oft von modernen Fragestellungen geprägt worden, und nicht selten wurden die Problematik und Begrifflichkeit unserer Zeit ganz unreflektiert in die Antike

übernommen. Es hat sich für diejenigen, die im antiken Wirtschaftsleben moderne Verhältnisse zu erkennen vermeinten, der Begriff der „Modernisten“ eingebürgert, dem die „Primitivisten“ als Verfechter einer vorkapitalistischen Wirt-

schaftsweise gegenübergestellt werden. Die Einbürgerung dieser Begriffe ist wenig glücklich, weil sie eine von den modernen Autoren meist gar nicht gewollte Alternative insinuieren und darüber hinaus für einen ,,Modernisten", als welchen wir dann auch Hasebroek bezeichnen müßten, bisweilen den halten, der sich nur einer modernen Begrifflichkeit bedient, ohne dabei alle sich

daraus ergebenden Folgerungen mitzudenken. Die Diskussion ist allein schon

durch die Zuspitzung auf das Begriffspaar ,,Primitivisten"/,, Modernisten" von vornherein zur Unfruchtbarkeit verurteilt. Schon Max Weber und sein Schüler Johannes Hasebroek sind denn auch mit Nachdruck von einer marktwirtschaft-

lichen Interpretation der antiken Wirtschaftsverhältnisse abgerückt, und FINLEY (206, bes. S.11ff.) ist ihnen darin gefolgt. Neben der Moderne stehen immer wieder theoretisch ersonnene Systeme für die Antike Modell. Denn wenn auch die marxistische Orientierung der Wissenschaft wegen ihres Festhaltens an einer gesetzmäßigen Entwicklung, die auch

für die Antike selbst standhafte Marxisten zu der Annahme zahlreicher Sonderentwicklungen und Ausnahmeregelungen zwang, und wegen ihrer politischen

Gebundenheit in Verruf geraten ist und allenfalls ein liberalerer Umgang mit der sozialistischen Doktrin geduldet wird, ist doch damit die Neigung, die wirtschaftlichen Verhältnisse der Geschichte und in ihr der Antike modellhaften Systemen und Entwicklungen zu unterwerfen, nicht versiegt. In der Tat sind solche Modelle auch nicht von vornherein zu verwerfen, kónnen sie doch unser

von modernen Verhältnissen geprágtes Denken für andere Formen wirtschaftlichen Verhaltens offenhalten. Neuerdings sind die Forschungen von Karl Polanyi

II. Soziale und wirtschaftliche Grundlagen Athens

479

(1886-1964) - hier insbesondere: „The great transformation", 1944. 1978 und „Ökonomie und Gesellschaft“, 1979, letzteres die deutsche Übersetzung von

verschiedenenorts in englischer Sprache veróffentlichten Aufsátzen - zur grie-

chischen und darunter auch athenischen Wirtschaftsgeschichte von Althistorikern, vor allem von HUMPHREYS (203) und NIPPEL (204), erneut aufgegriffen

worden. Mit Recht hatte Polanyi die Herausbildung einer autonomen, allein an dem Mechanismus eines Marktes orientierten Ökonomie erst für das 19. Jh.

angesetzt und die Okonomie in den älteren Kulturen in einem untrennbaren Zusammenhang mit der Gesellschaft gesehen; sie ist danach in ihr soweit integriert, daß Wirtschaft als autonomer Bereich gar nicht erkannt wird: Reziprozität und Redistribution, also Gabentausch, Gastfreundschaft und administrative

Umverteilung, sind Vorgänge wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Aktivität zugleich. Doch neigte auch Polanyı wie die meisten Theoretiker dazu, von den

Quellen her schwer seiner Theorie einzupassende Verhältnisse (und das trifft gerade auch für Athen zu, s.u.) in seinem Sinne zurechtzubiegen. Geht man von unseren Quellen zur Wirtschaftsgeschichte der archaischen Zeit aus, ist es richtig, in der Wirtschaft, sofern man den Begriff schon verwen-

den will, zunächst die Sicherung des häuslichen Bedarfs unter den von der Natur und den gesellschaftlichen Bindungen gegebenen Bedingungen zu sehen,

die durch eine adäquate Organisation der Subsistenzmittel und durch gesellschaftliche Mechanismen der Befriedung (Geschenke, Tribut usw.) erreicht wird. Diese Verhältnisse, die mit dem Begriff der „Alten Ökonomik“ abgedeckt werden können (vgl. F. WAGNER: Das Bild der frühen Ökonomik, 1969, ferner

SCHEFOLD, 511), setzen eine überwiegend bäuerlich geprägte Gesellschaft voraus, und sie haben wir ohne Zweifel auch für Athen am Vorabend der Demokra-

tie anzunehmen. Es fragt sich aber, ob die demokratische Verfassung und die damit verbundene Expansion des Herrschaftsraumes die wirtschaftliche Gesamtsituation Athens nicht grundsätzlich verändert haben. Dürfte das Modell Polanyis für die mykenische und auch noch für die archaische Zeit in einem nicht geringen Maße greifen, müssen seine Versuche, es jedenfalls ansatzweise (er gesteht hier den Einfluß von Marktorientierungen zu) auch für das demokra-

tische Athen in Anwendung zu bringen, als gescheitert angesehen werden. Denn die Annahme eines „administered trade“ für Athen, exemplifiziert natürlich vor allem am Getreidehandel, ist nicht nachweisbar; wir kennen nur staatliche

Sicherungen für die Belieferung des Marktes mit einer begrenzten Anzahl als lebenswichtig angesehener Waren (Getreide, Schiffsbauholz, Rötel). Sehen wir von diesen Ausnahmen ab, scheint sich Athen von der älteren Zeit und von

anderen Städten vor allem durch den Umfang der wirtschaftlichen Aktivitäten, nicht durch die Herausbildung neuer Formen zu unterscheiden; allein das Kre-

ditgeschäft, das überhaupt erst im 4. Jh. zu einem wichtigen Erwerbszweig wird (Seedarlehen!), hat zugleich mit seinem großen Aufschwung neuartige Regelungen hervorgebracht. Bei allen Aussagen zur griechischen Wirtschaft der klassischen Zeit hat man sich zu vergegenwärtigen, daß wir nur relativ wenige Daten besitzen und diese nur selten allgemeingültige Aussagen erlauben, und das gilt bis zu einem nicht geringen Grade auch für Athen, über das wir mit Abstand am meisten wissen (vgl. die Skepsis von FINLEY, 206, S.14ff.).

480

ZWEITER TEIL: QUELLEN

UND FORSCHUNG

Die althistorischen Arbeiten zur griechischen, hier speziell athenischen Wirtschaft sind zahlreich. Sie sind auch dann, wenn sie in ihrem allgemeinen Urteil über die antike Wirtschaft, insbesondere über das Verhältnis von Wirtschaft und

Stadt/Staat und die Anwendung moderner Kategorien auf die Antike nach heutiger Meinung irren, schon wegen zahlreicher Einzelbeobachtungen durch-

aus nicht alle wertlos oder „veraltet“. Für die griechische, speziell athenische Wirtschaft hat August BŒCKH in seinem Buch über die „Staatshaushaltung der

Athener“ im Jahre 1817 in einem genialen Vorgriff auf das spätere Interesse bereits den Grund gelegt. Seine Forschungen blieben ohne große Wirkung, weil

die Zeit für sie nicht reif und die gelehrte Welt noch ganz in ihren antiquarischen Forschungen gefangen war. Selbst ın der an Ideen so reichen „History of Greece“ von George GROTE, die zwischen 1846 und 1856 erschien, spielen wirtschaftliche Fragen so gut wie keine Rolle. Erst Karl Julius BELOCH (1854-1929) und Eduard MEYER (1855-1930) haben die Wirtschaft als einen mit den politi-

schen und sozialen Fragen eng verbundenen Bereich für die antike Geschichte erschlossen und ihn durch das Ansehen ihrer zusammenfassenden großen Darstellungen der Griechischen Geschichte und die Autorität ihrer wissenschaftlichen Persönlichkeit zu einem unverzichtbaren Teil historischer Erkenntnis ge-

macht. Beide vertraten dabei den Standpunkt, daß die wirtschaftlichen Verhältnisse in Griechenland nach kleinen Anfängen sich so weit entwickelten, daß an sie moderne Maßstäbe angelegt werden könnten, und sie übernahmen auch die für die neuere Zeit gebräuchlichen Begriffe, wie den der „Industrie“. Besonders von MEYER (199) wurden die Gedanken weitergeführt und durch seine Kontroverse mit dem Nationalókonomen Karl BÜCHER (1847-1930) teils auch über-

spitzt, der, einem Trend seiner Zeit folgend, die wirtschaftliche Entwicklung der Menschheit sich in Stufen vollziehen sah, dabei die drei Stufen der Hauswirtschaft, Stadtwirtschaft und Volkswirtschaft herausarbeitete und dem Altertum

die unterste Stufe zuwies (K. BÜCHER: Die Entstehung der Volkswirtschaft, 1893). [n teils scharfen Entgegnungen hat Meyer demgegenüber die Modernitit der entwickelten antiken Verhältnisse darzulegen versucht, so etwa die Zeit der Kolonisation (7. und 6. Jh.) mit dem Spätmittelalter (14. und 15. Jh.) verglichen und im Athen des 5. und 4. Jhs., das durch den Aufschwung des Handels einen Umbruch der sozialen Verhältnisse gebracht habe, vor allem aber in der hellenistischen Zeit Parallelen zur Neuzeit gesehen. Es hat nicht an Widerspruch gefehlt. Johannes HASEBROEK (213; vgl. 214, S.73ff.247ff.) kehrte eher wieder zu

den Vorstellungen Büchers zurück, wenn er den mangelnden nationalen Charakter der Wirtschaft, den Vorrang der Agrarwirtschaft vor allen anderen Wirtschaftszweigen, das Desinteresse des Bürgers an Handel und Handwerk, das

weitgehend Fremden (Metóken) und Sklaven überlassen wurde, und, damit zusammenhängend, den fehlenden Kaufmannsstand sowie das fehlende Interesse der Stadt an der Okonomie hervorhob und jedenfalls für die Zeit der Blüte Athens ein absolutes Hindernis für die Erweiterung von Produktion und Verbrauch in der Abgeschlossenheit der Polis sah, die erst in hellenisuscher Zeit allmáhlich überwunden worden wáre. Hasebroek folgte hierin z. T. auch Ge-

danken Max WEBERs, der das Wesen des griechischen Stadtbürgers durch Herkunft und Kriegstüchtigkeit und nicht, wie im Mittelalter, durch die feste Ver-

II. Soziale und wirtschaftliche Grundlagen Athens

481

bindung mit einem Wirtschaftszweig bestimmt sah, so daß der Polite nicht für den ökonomischen Erwerb und rationale Wirtschaftsberriebe sensibilisiert gewesen wäre (bes. in: Wirtschaft und Gesellschaft, 1922, S.595ff.). Bei den For-

schungen Webers hat man zu bedenken, daß seine Ansichten zur griechischen Stadt durch sein Erkenntnisinteresse präformiert, insbesondere durch seine Vor-

stellungen von der Entwicklung der Wirtschaftsverhältnisse bestimmt und auch von dem Kontrast zur mittelalterlichen Stadt, die ihm offensichtlich vertrauter

war, abhängig sind; vgl. dazu W. NIPPEL: Die Kulturbedeutung der Antike. Marginalien zu Weber, in: J. KOCKA (Hrsg.): Max Weber, der Historiker, 1986, 112-118. - Auch Robert v. PÓHLMANN entwickelte in seiner ,,Geschichte der

sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt“ (1893-1901; 198) und in seiner „Griechischen Geschichte und Quellenkunde“ (= „Grundriß der griechi-

schen Geschichte nebst Quellenkunde“, 1889. 1914°) ein lebendiges, von mo-

dernen Ideen geprägtes Bild von der wirtschaftlichen Entwicklung Griechenlands seit dem 7. Jh. Er sah vor allem seit dem 6. Jh. eine gegensätzliche Entwicklung im politischen und wirtschaftlichen Bereich sich vollziehen, indem „die

wirtschaftliche und soziale Entwicklung auf eine Verschärfung des Gegensatzes von arm und reich, auf die Zunahme der Ungleichheit und Unfreiheit hindrängte,. .… die politische Entwicklung. . . von den Ideen der Freiheit und Gleichheit“ beherrscht gewesen sei (198, 3.Aufl., 5.213); der „Klassenkampf“ mit allen seinen Erscheinungen (Radikalismus, Kommunismus, Politisierung der Justiz usw.) sei

eine Konsequenz dieses Widerspruchs gewesen. Die scharfe antidemokratische Einstellung des Liberalen Pöhlmann und eine allzu enge Verbindung moderner

Begrifflichkeit mit antiken Phänomenen ließen seine Thesen bald in Vergessenheit geraten, zumal die mit außergewöhnlicher Polemik gewürzte Darstellung die Lektüre zwar amüsant machte, die Bereitschaft, sich auf seine Gedankengänge einzulassen, aber schwächte. Er hat jedoch mit seiner das ganze Werk beherr-

schenden Forderung, den antiken Menschen zugleich als πολιτικὸν und οἰκονομικὸν ζῶον zu sehen, auf die nachfolgenden Generationen gewirkt. Einen ganz anderen, auch von modernen Erfahrungen inspirierten, aber ın

seiner Durchführung folgerichtigen und auch exakter belegten Ansatz verfolgte Michael ROSTOVTZEFF in seinem monumentalen Werk über die „Gesellschaft und Wirtschaft in Hellenistischer Zeit“ (1941; 202). Er glaubte eine wirtschaftli-

che Entwicklung erkennen zu können, die im 4. Jh. zu Verarmung, Arbeitslosig-

keit und Proletarisierung großer Teile der Bevölkerung der griechischen Städte geführt habe, deren vordergründige Ursache in der Konzentration des Landbesitzes bei wenigen Großgrundbesitzern und der wachsenden Verwendung unfreier Arbeitskräfte auf den Gütern und in den Handwerksbetrieben, deren

tieferer Grund jedoch in einer Schrumpfung des griechischen Binnenmarktes als Folge der Verselbständigung der Märkte in den Randzonen des griechischen Kulturraumes zu erblicken sei (S.70-97). Die sorgfältige, vor allem auch auf

archäologisches Material gegründete und in ihren Auswertungen und Interpretationen durchaus zurückhaltende These hat zunächst breite Zustimmung ge-

funden. Aber die Schlußfolgerungen Rostovtzeffs sind nicht immer zwingend, die Verbindung der aufgezeigten Phänomene mit krisenhaften Erscheinungen in Griechenland nicht deutlich und, wenn überhaupt, dann nur an einzelnen Orten

482

ZWEITER TEIL: QUELLEN

UND FORSCHUNG

verifizierbar. Bei dieser wie allen anderen Untersuchungen zur griechischen Wirtschaft stehen wir vor der Schwierigkeit, daß unsere Quellen zum größten

Teil aus Athen stammen, aber gerade Athen nicht die Krisenerscheinungen aufweist, die für die These gefordert werden. Mit dieser Schwierigkeit haben

auch die jüngeren Untersuchungen zu kámpfen, von denen nur noch drei vorgestellt seien: In einem vielbeachteten Buch über das Ende der athenischen Demokratie hat Claude MOSSÉ (952; vgl. 953) die soziale, wirtschaftliche und politi-

sche Entwicklung Athens dere Stádte gestreift und Argument, daß Athen als gewesen sei, a fortiori auf

im die die den

4. Jh. beschrieben, aber darüber hinaus auch anErgebnisse des für Athen Erarbeiteten mit dem gesündeste Stadt noch am widerstandsfähigsten gesamten griechischen Raum übertragen. Sie hat

weitgehend die Thesen von Rostovtzeff über die Verarmung der Massen, deren

Proletarisierung und Arbeitslosigkeit, über Landkonzentration, Sklavenwirt-

schaft und das Schrumpfen von Markt und Handel infolge des wirtschaftlichen Aufschwungs in den griechischen Randzonen übernommen. Originell sind ihre Interpretationen zu den Konsequenzen der wirtschaftlichen Entwicklung auf

dem politischen Sektor. Die Volksversammlung wird als eine Versammlung vornehmlich arbeitsloser Athener gesehen, die, durch skrupellose Politiker und

Militárs gelenkt und durch Verurteilungen reicher Bürger und Diätenzahlungen willfährig gemacht, ein parasitáres Dasein geführt hätten. Klassenkampf als

Folge des inneren Widerspruchs zwischen politischem und wirtschaftlichem Bereich und die Apolitie sowohl der Massen als auch der Besitzenden habe schließ-

lich zum Zusammenbruch geführt, und Athen wie die anderen griechischen Städte fielen demnach nicht durch äußere Gewalt, sondern gingen an ihren inneren Leiden zugrunde. Der von Mossé vorausgesetzte Gegensatz zwischen einem eher blühenden 5. und einem von Krisen geschüttelten 4. Jh. ist indessen aus den Quellen kaum zu belegen; einzelne Hinweise von Rednern werden öfter

nicht aus dem Zusammenhang der forensischen Praxis heraus interpretiert, sondern absolut gesetzt, und vor allem werden die Streitigkeiten des demokratischen Alltags nicht als Ausdruck eines lebendigen demokratischen Lebens, sondern als krisenhafte Erscheinungen gewürdigt, eine Sehweise, die auch von anderen Autoren geteilt wird. Die Thesen von Mossé sind vor allem auch von russischen Forschern zurückgewiesen bzw. stark relativiert worden (GLUSKINA, 509, und

ANDREEV, 513; 520), und auch MOSSE selbst (531; 952, Anhang) hat sie jeden-

falls teilweise korrigiert, so in dem Auftenhandel des spáten 4. Jhs. keine krisenhafte Entwicklung mehr hineingelesen. In ihrer Grundanschauung mit Mossé

Jedenfalls teilweise einig, zeichnet doch Sally C. HUMPHREYS (519) in einem Aufsatz, der sich auf die mit Geldzahlungen verbundenen ókonomischen Aktivitäten konzentriert, ein weniger dramatisches, aber durch Kenntnisreichtum

eindrucksvolles Bild von dem Wirtschaftsleben des klassischen Athen. Auch sie

sieht ein wachsendes Auseinanderklaffen von politischer Form und Idee auf der einen und der ókonomischen Wirklichkeit auf der anderen Seite. Wenn man diese Diskrepanz nicht als eine sich erst seit dem 5. Jh. entwickelnde sieht, sondern sie mit der Entstehung der Demokratie voraussetzt, wird man diesem Entwurf eher zustimmen kónnen als dem von Mossé. Umfassender und in den Analysen eher noch kompromiflloser urteilt G.E.M. de STE. CROIX (210), der

IL. Soziale und wirtschaftliche Grundlagen Athens

483

bereits im Buchtitel seine Generalthese verrát: den Klassenkampf. Sowohl er als auch Mossé sind marxistischen Denkkategorien verpflichtet, dabei aber keine engstirnigen Nachbeter orthodoxer Lehrmeinungen, sondern innerhalb eines allgemeinen Rahmens recht frei argumentierende und analysierende Ge-

lehrte. Der marxistische Rahmen hat indessen auch bei Ste. Croix den Klassenkampf als ein Vorurteil vor alle Analyse gestellt. Dabei ist von ihm der Begriff

der Klasse und der Charakter des Kampfes so dehnbar gehalten, daß sie als Instrument der Erklárung gar nicht mehr recht greifen; die Auflehnung der Massen gegen ihre Ausbeuter kann in dieser Darstellung der Dinge ebenso wie das Bewußtsein des Klassenkampfes bei den streitenden Gruppen entbehrt

werden und der spezifische Charakter der Ausbeutung unbestimmt bleiben. Man gewinnt den Eindruck, als habe der Klassenkampf nur eine Rahmenfunktion für ein im übrigen an interessanten Detailuntersuchungen reiches Buch gebildet (vgl. die Rezensionen von W. SCHULLER in: HZ 236, 1983, 403-413 und H.-J. GEHRKE: Góttingische Gelehrte Anz. 235, 1983, 33-53). - Den übergrei-

fenden Theorien über die wirtschaftliche Entwicklung in Griechenland hat Jan PECIRKA (955) eine interessante, den Niedergang des demokratischen Athen

im 4. Jh. betreffende Variante hinzugefügt, die zugleich die Bandbreite der als móglich gedachten Interpretationen aufzeigt. Mit Nachdruck hebt Peëcirka hervor, daß die Entwicklungen im Athen des 5. und 4. Jhs. nicht als typisch, vielmehr als einzigartig angesehen werden müssen, daß es bei allen scharfen sozialen Kontrasten in Athen doch keine Arbeitslosigkeit gegeben habe, der Landbesitz im allgemeinen stabil gewesen sei und die politischen Entscheidungen nicht von Parteien, welche die sozialen Unterschiede reflektiert hátten, getragen worden wären. Pe£irka, der sich für diese, von Mossé und den mei-

sten anderen abweichenden Ansichten auf mancherlei Forschungen, so auf JONES (458) für die Stabilitát des Grundbesitzes und auf SEALEY (827) und

PERLMAN (828; 829) für die Unabhängigkeit der politischen Parteiungen von einem politischen Programm, berufen kann, fügt der Kritik ein eigenes Erklärungsmodell an. Danach hat es in Athen keine Wirtschaftskrise in der gemeinhin angenommenen Form einer durch Verelendung, Arbeitslosigkeit und Klas-

senkampf charakterisierten Gesellschaft gegeben. Die Veránderungen hätten sich in anderer Weise geäuRert und eine andersgeartete Konfliktsituation hervorgebracht: Die wirtschaftliche und politische Entwicklung habe den gegebenen sozialen und politischen Rahmen durch den wirtschaftlichen Aufstieg der Metóken, Freigelassenen und Fremden, die großen Reichtum an Geld erwarben, aber nicht in die Bürgerschaft integriert wurden, gesprengt. Da-

durch sei ein Mißverhältnis zwischen den politisch Berechtigten und den ökonomisch Mächtigen geschaffen worden, das schließlich zu einem inneren Widerspruch der gesellschaftlichen Gesamtsituation geführt habe (vgl. auch GLUSKINA, 463). Wenn diese Analyse richtig wäre, bliebe aber die Frage un-

deutlich, worin dieser Konflikt denn sichtbar wurde (etwa in einem Kampf der Bürger gegen die reichen Nichtbürger?). Mit den genannten Arbeiten ist nur ein Ausschnitt aus den Forschungen und Theorien vorgestellt worden. Viele Arbeiten sind marxistischem Denken ver-

pflichtet, ohne doch von ihm eingefangen zu sein. Davon zeugen sowohl die

484

ZWEITER TEIL: QUELLEN UND FORSCHUNG

Bücher von Mossé und Ste. Croix als auch die von Vidal-Naquet. Eine besondere Rolle nehmen die gegenüber Psychologie, Anthropologie, Soziologie und

Philosophie offenen Schriften von Jean-Pierre VERNANT ein (zu ihm vgl. jetzt Bd. 15, 1982 der Zeitschrift Arethusa). Die Arbeiten aller dieser mit marxisti-

schen Kategorien recht frei operierenden Autoren sind wichtige und anregende Untersuchungen zur griechischen Wirtschaftsgeschichte. Die strittigen und um-

strittenen Thesen zeugen davon, wie spärlich und mehrdeutig unsere Quellen sind. Zu den daraus resultierenden Streitfragen gehört vor allem auch, ob Athen, für das wir die mit Abstand meisten literarischen Quellen haben, nun typisch

oder atypisch für die allgemeine Entwicklung sei (das letztere ist mit einiger Sicherheit richtig). Es wird wohl notwendig sein, noch mehr als bisher, den Spuren Rostovtzeffs folgend, archäologische Quellen heranzuziehen. Vor allem aber wird man sich zu überlegen haben, ob die geistigen Voraussetzungen richtig sind, unter denen man heute an das Phänomen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung in antiken Städten herangeht. Denn es ist nicht

lediglich die Verwendung von modernen Begriffen, wie Industrie und Kapitalismus, problematisch. Es ist vor allem danach zu fragen, ob wir überhaupt unsere modernen Vorstellungen von „Entwicklung“ den antiken Verhältnissen unter-

stellen dürfen. Die moderne Gesellschaft hat sich aus einer sowohl wissenschaftlichen und technischen als auch geistigen Revolution (Aufklärung) im 17. und 18. Jh. entwickelt, der die Antike nichts Vergleichbares entgegenzustellen hat. Mentalität, politisches Bewußtsein und die personalen Bindungen folgten anderen Bedingungen als in der Neuzeit. „Klassenkampf“, wenn er denn im 18. und

19. Jh. stattgefunden hat, ist kein Begriff, mit dem man in der Antike irgend etwas in den Griff bekommen könnte. Der Unterschied zwischen arm und reich allein konstituiert ihn nicht (auch nicht nach Marx). Es wird wohl notwendig

sein, die griechischen Verhältnisse von ihren eigenen Voraussetzungen her zu durchdenken und sich eines groften theoretischen Überbaus vorerst zu enthalten, um nicht die gewonnenen Ergebnisse durch ihre Einordnung in das Prokrustesbett einer Theorie im vorhinein zu entwerten. In diesem Sinne hat sich auch

M.I. FINLEY in seinem anregenden Buch über die antike Wirtschaft (206) geäuBert. Mit Recht lehnt er die Verwendung moderner Begriffe strikt ab, weil in ihnen die neueren Wirtschaftslehren mitgedacht werden, weist ebenso den Ge-

danken einer staatlich gelenkten Wirtschaftspolitik für die Antike zurück (nicht jedoch natürlich den Gedanken, daß eine Politik ökonomische Konsequenzen haben konnte) und hebt die überragende Bedeutung der Landwirtschaft in der

gesamten Antike heraus. Und es ist gerade auch der hohe Stellenwert der Landwirtschaft in der Vorstellung der Menschen, der entscheidend dazu beigetragen

hat, den so ungemein konservativen Grundzug des gesamten Wirtschaftslebens zu schaffen und zu erhalten, den Ausbau eines Standes von Händlern und Kaufleuten zu verhindern und schließlich den Gedanken einer Wirtschaft, in

der alle denkbaren ókonomischen Aktivitáten wertneutral zusammengeschlos-

sen sind, auszuschlieften. Die menschlichen Tätigkeiten werden nicht als gleichwertig angesehen und kónnen schon von daher sich nicht zu einem Ganzen zusammenfinden. Der Mensch ist durch die Tradition gebunden. „Kontinuität“ ist das Stichwort für die Wirtschaft auch noch der klassischen Zeit, nicht „Ent-

IL. Soziale und wirtschaftliche Grundlagen Athens

485

wicklung“ womöglich im Sinne eines „Fortschritts“. Wirtschaft ist und wurde

kein in sich selbst ruhendes Feld menschlicher Tätigkeit oder gedanklicher Reflexion, aus dem heraus der einzelne für sich bzw. die Stadt für die Bürger besondere Kräfte oder Vorstellungen entwickelt hätte; sie ist als Bereich gar

nicht bewußt. Allenfalls kann die Landwirtschaft so einen Bereich bilden. Denn das Landleben genießt höchste Wertschätzung und ruht ın sich. Es ist nicht nur die väterliche, sondern auch die „natürliche“, als solche die am meisten Unab-

hängigkeit versprechende und daher dem freien Bürger zukommende Lebensart

(vgl. LOTZE, 521), und Landeigentum erstrebt darum auch der im Handel tätige Bürger. Die Bewirtschaftung von Land wird dabei aber nicht zu einem ökonomischen Faktor, zu einem Teilbereich von Wirtschaft, womit der Mensch ın

Athen oder sonstwo in der griechischen Welt nichts verbinden konnte und dem

er schon aus Mangel an der Möglichkeit der Vorstellung ganz gleichgültig gegenüberstand. Sie bedeutet vielmehr „Eigentum... .als Grundlage eines anständigen Auskommens“ (ANDREEV, 520, II, bes. S.147), also „Rentnertum“ (HASEBROEK, 213, bes. S.16f.34f.), das sowohl im privaten als auch - im Hin-

blick auf die Verteilung von Geld und Getreide durch die Stadt - im öffentlichen Bereich zu erkennen ist. Aber auch bei der Verwendung des Rentner-Begriffs

zur Charakterisierung des griechischen bzw. athenischen Wirtschaftslebens der klassischen Zeit hat man sich davor zu hüten, alles von dorther zu interpretieren. Es finden sich in der freien Wirtschaftsgesellschaft der Athener selbstver-

stándlich auch Personen, deren wirtschaftliche Tätigkeit man als „produktiv“ oder „profitorientiert“ bezeichnen kann, auch wenn der Begriff des „Unternehmers", in dem zu viel Modernes mitschwingt, für ihn nicht recht passen will; vgl. THOMPSON (530) und vor allem NEESEN (524, S.58ff.), der die Komplexität

der ókonomischen Verháltnisse in Athen und den in der klassischen Zeit wachsenden Einfluß mannigfacher wirtschaftlicher Faktoren auf das Denken und Handeln vieler Athener hervorhebt und sich dezidiert gegen eine vereinfachende Verwendung von ókonomischen Schlagwórtern oder Theoremen wendet.

Über die älteren Arbeiten zur griechischen Wirtschaftsgeschichte informieren AUSTIN/VIDAL-NAQUET (208); die wichtigsten Aufsátze dazu von Bücher,

Eduard Meyer und Beloch sind heute in der Sammlung von FINLEY (207) leicht zugänglich. Über die Entwicklung der marxistischen Literatur in den Ostblocklàndern, besonders in der UdSSR, die durchaus auch kontrovers verlaufen ist,

vgl. F. VITTINGHOFF: Die Theorie des historischen Materialismus über den antiken „Sklavenhalterstaat“, in: Saeculum 11, 1960, 89-131 und E.D. FROLOV: Gnechische

Geschichte bis zum

Zeitalter des Hellenismus, in: H. HEINEN

(Hrsg.): Die Geschichte des Altertums im Spiegel der sowjetischen Forschung, 1980, 69ff.

Speziell zu Athen; Einzelfragen:

Die Quellen zur Wirtschaft Attikas sind vielfältig und so relativ umfassend, daß wir uns ein anschauliches Bild von dem Wirtschaftsleben auf dem Lande und in der Stadt zu machen vermógen. Die Nachrichten zum 4. Jh. flieRen dabei sehr

486

ZWEITER TEIL: QUELLEN

UND FORSCHUNG

viel reichlicher als die zum 5. Jh. Viele Daten liefert die Literatur, hier besonders die Komödie und die Redner, aber auch die bereits o. $.447f. genannten Spezialschriften zu Fragen der Wirtschaft und der Finanzen. Noch wertvoller und vor allem auch umfangreicher sind für die Rekonstruktion der wirtschaftlichen Verhältnisse Attikas die auf uns gekommenen Inschriften. Hypothekeninschriften, Pachtverträge, Bau-, Grab- und Weihinschriften, um nur einige wichtige

Inschriftengruppen zu nennen, geben uns bis ins Detail führende Nachrichten. Die schriftlichen Zeugnisse werden ergänzt durch die archäologischen, durch die Produkte der menschlichen Tätigkeit, wie Bauten, Vasen, Statuen und Bron-

zegegenstände, ebenso wie durch die Beschaffenheit und Anlage der Gebäude und Bergwerke. Beinahe jede archäologische Hinterlassenschaft enthält auch eine Aussage zur Wirtschaft. Erfahren wir so vieles über Betriebsformen und Arbeitsweisen, über Produkte der Arbeit und deren Verkauf, über die rechtli-

chen Verhältnisse im Handel und Kreditgeschäft, ist es doch schwieriger, diese vielen Einzelzeugnisse zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen, das allgemeinere Aussagen über die Entwicklung der Wirtschaft bzw. einzelner Zweige derselben vom späten 6. zum späten 4. Jh. und zur Feststellung und Deutung wirtschaftlicher Krisen in diesem Zeitraum erlauben würde. - Thukydides zu dem báuerlichen Charakter Athens: 2,16,1. Zu den Produkten Attikas, zur Landwirtschaft, zum Handwerk und Handel

Athens vgl. vor allem die Arbeiten von HASEBROEK (213), HOPPER (215), ZIMMERN (505), FRENCH (507), ISAGER/HANSEN (528) und CASSON (532; kurzer

Überblick über die Bedingungen des Seehandels). Soweit diese Überblicke auch nichtathenische Verhältnisse einbeziehen, bleibt doch auch für sie die Wirt-

schaft Athens, für die allein wir reichliches und gutes Material aus klassischer Zeit besitzen, das Fundament.

Große Bedeutung für die Entwicklung der attischen Land wirtschaft hat die Einschátzung der Wirkung, welche die Einfálle der Spartaner und ihrer Bundesgenossen im Peloponnesischen Krieg für die Folgezeit gehabt haben. Die

Spzeialuntersuchung von HANSON (516, S.111ff.) verbietet die Annahme sehr großer und dauerhafter Schäden, so daß sich jedenfalls damit Spekulationen über eine nachdrückliche Verschlechterung der Verhältnisse auf dem attischen Agrarsektor nicht begründen lassen. Das Abhacken von Olbäumen, wie in

einem Fall für die Endzeit des Peloponnesischen Krieges behauptet wird (Lys.7,4ff.), war darum wohl nur eine Ausnahme. STRAUSS (834, S.42ff.) schätzt

demgegenüber den Schaden auch auf dem landwirtschaftlichen Sektor grófier,

aber doch nicht als eine irreversible Katastrophe ein. - In einer englischen Zusammenfassung mehrerer in russischer Sprache veróffentlichter Einzeluntersuchungen hat ANDREEV (513) vor allem auch auf Grund epigraphischen Materials nachgewiesen, daß der Grundbesitz in Attika im 4. Jh. stabil war und keine Tendenz zur Herausbildung von Latifundien zu erkennen sei. Seine Ergebnisse wurden jüngst von AUDRING (515) in einer umfangreichen Abhandlung über die wirtschaftliche und soziale Lage der athenischen Bauern bestätigt. Danach überwiegt bei insgesamt stagnierender Wirtschaft der kleine und mittlere Hof und gibt es keine Hinweise auf eine Konzentration von Grundeigen-

II. Soziale und wirtschaftliche Grundlagen Athens

487

tum. Der Gegensatz von Stadt und Land, von Handwerkern/Händlern und Bauern und die daraus resultierende Apolitie der Bauern angesichts einer mehr städtisch orientierten Demokratie sind, obwohl in Ansätzen greifbar, von Audring doch gewiß zu scharf herausgearbeitet worden; die Phylenordnung blieb immer ein integrierendes Element, und man darf aus spöttischen Bemerkungen über Bauern keinen politischen Gegensatz konstruieren. ANDREEV (520) ist es

auch, der erneut vor einem unkontrollierten Vergleich mit modernen Anschauungen gewarnt hat. Das athenische Wirtschaftsleben ist seiner Meinung nach

eher konservativ geprägt, die Anzahl der Reichen nähme nicht stark zu, und es gehe von den wohlhabenden Athenern keine ökonomische Dynamik aus; wenn überhaupt, dann zeigten eher die Metóken, Freigelassenen und Ausländer unternehmerische Initiative. - Zu den in der Landwirtschaft beschäftigten Sklaven 5.0. 5.475. Das Bankwesen ist nach HASEBROEK (216) vor allem von BOGAERT (217; zu Athen: $.61ff.; einen Überblick gibt ders., 547) gründlich bearbeitet worden. Nach Bogaert haben zunächst nur Tempel und Privatleute und erst gegen Ende

des 5. Jhs. Trapeziten meist sklavischer Herkunft den Handel mit Geld, vornehmlich das Kreditgeschäft, betrieben. Gegen manche älteren Forscher, aber auch gegen M. Finley hebt er die Bedeutung der Trapeziten als Kreditgeber hervor, die den notwendigen Geldbedarf der Bürger abgedeckt und damit eine für das Wirtschaftsleben unabdingliche Funktion erfüllt hätten. - Die beiden „Produktivkredite“ stehen bei Lys. fr. 38,1-4 und Demosth. 40,52. - Das athenische Kreditwesen, sowohl das Geldleihen unter Familienmitgliedern, Verwand-

ten und Freunden als auch das unpersönliche Kreditgeschäft, ist jüngst von MILLETT (548) ın einer umfangreichen Monographie behandelt worden. - Das

Modell von dem land- bzw. kapitalbesitzenden Bürger, der u.U. auch Geld verleiht, und dem im Handel und Handwerk tätigen Nichtbürger, der eher Geld benötigt, stammt von HASEBROEK (213) und wird für die nachperikleische Zeit des klassischen Athen noch von ERXLEBEN (534) verteidigt. Es wird vor allem

für den Bereich des Seehandels, der am meisten Kapital benötigte und für den allein man von professionellen Geldgebern sprechen kann, kontrovers diskutiert

und muß wohl in dem Sinne korrigiert werden, daß Händler und Schiffseigner durchaus auch Athener sein konnten und daß der typische Geldgeber für Seedarlehen wohl kaum der Bürger, insbesondere nicht der Bürgertyp nach Hasebroek war (vgl. ISAGER/HANSEN, 528, S.70ff.). MILLETT a.O. hat bestätigt, daß der Kredit im engeren und eigentlichen Sinne, nämlich das (unpersönliche) Kreditgeschäft, sich auf den Handel konzentrierte und dort auch Nichtathener einbezogen waren.

Zu dem Verhältnis von Bürgern, Metöken und Sklaven im Handwerk

vgl.

RANDALL (526, mit Bezug auf die Arbeiten am Erechtheion), zur Bedeutung der

feinen Keramik im Export COOK (525).

Über das attische Bergbauwesen sind wir besser unterrichtet als über jeden anderen Wirtschaftszweig des Landes, was u.a. in der Staatlichkeit der Gruben und der damit verbundenen Öffentlichkeit des Geschäfts begründet ist. Die wichtigste Quelle für den Bergbau sind die Inschriften, darunter vor allem Listen der Poleten, ferner verhältnismäßig dichte Angaben in der Literatur, vor

488

ZWEITER TEIL: QUELLEN UND FORSCHUNG

allem auch in Reden spätklassischer Zeit. Die umfassende ältere Arbeit über das attische Bergbauwesen von ARDAILLON

(537) haben HOPPER (538; 539) und

LAUFFER (540) in ıhren Beiträgen zur Arbeit und Organisation der Bergwerke von Laureion erneuert und weitergeführt. Zur wirtschaftlichen Situation und geographischen Verteilung der Bodeneigentümer und Pächter der Minen vgl. OSBORNE (615, S.111ff.), zu einigen Familien, welche die Bergwerkswirtschaft

über Generationen betrieben haben, RANKIN (541). Über die technischen Daten zum Bergbau informieren FORBES (220, Bd. 7-8) und KALCYK (542).

WILL (218) hat die für die Wirtschaft wichtigen archäologischen Daten zusammengestellt. - Zur Wasserversorgung und zum Wasserrecht vgl. den Sammelband des Leichtweiß-Instituts über Wasser ım antiken Hellas (219), besonders den darin enthaltenen Aufsatz von WÖRRLE (550, bes. S.86ff.).

Zum Außenhandel Athens vgl. die oben genannten Überblicke von HASEBROEK (213), CASSON (532), ZIMMERN (505), FRENCH (507) und vor allem

ISAGER/HANSEN (528), wo als Einführung in die im Corpus Demosthenicum überlieferten paragraphe-Klagen die Hauptdaten zum Außenhandel Athens im 4. Jh. handbuchartig zusammengestellt sind. Einen guten Überblick über die Produkte des Imports und Exports Athens in klassischer Zeit hat ERXLEBEN (533) geschaffen.

Quellen zur Kornversorgung und zum Kornhandel in Athen: Die Inschrift aus Eleusis zur Ernte 329/28 steht IG II? 1672. Berechnungen, die von dieser (oder einer anderen) Zahl auf die Gesamtbevölkerung Attikas schließen wollen, enthalten in den einzelnen

Berechnungsgrößen

(Durchschnittsver-

brauch einer Person; Verwendung der Ernte nur für Personen oder auch für Vieh; Höhe des zurückzuhaltenden Saatgutes; Größe des Durchschnittshofes) ebenso Fehlerquellen wie die, welche durch sie die Anbaufläche (Nutzfläche)

Attikas bestimmen wollen (Bodenqualität/Ertragsquote). - Zu dem Zwang, 2/3 des importierten Getreides in Attika zu verkaufen: Arıst. AP 51,4; zum Verbot

des Kaufs von mehr als 50 Körben Getreides: Lys. Sitop. 6; zu Getreidepreisschwankungen: Demosth. 34,38f.; zu den Getreidepreisen im 4. Jh. JARDE (553, S.178ff.) und ZIMMERMANN (536, S.101f.); Zahlen, aus denen die Jahreseinfuhr

erschlossen wird, u.a. für die Zeit des Spartokiden Leukon (389/88-349/48): Demosth. gegen Leptin. 31f. und Strabo 7,4,6; Angaben über Getreideknappheit z. B. bei Xenoph. Mem. 3,6,13 und Isokr. Trapez. 57; zum Getreidekauf von 338 v. Chr.: Demosth. 18,248; zum Seeräuberunwesen der Zeit vgl. E. ZIEBARTH: Beiträge zur Geschichte des Seeraubs und Seehandels im alten Griechenland, 1929, S.9ff.; zum Getreidegeschenk des Psammetichos an Athen: FGH Nr. 328, fr. 119, III b, Suppl., S.462ff. JAC (Philochoros in den Schol. zu Aristoph.

Wespen 718); Plut. Perikl. 37,4. - Zur Literatur über die Kornversorgung und den Kornhandel Athens vgl. GERNET (552), JARDÉ (553) und HOPPER (215,

S.71ff.), speziell zur Interpretation der Rede des Lysias gegen die Getreidehändler (or. 22), die für unsere Kenntnis von der staatlichen Kontrolle des Getreidemarktes in Athen besonders wichtig ist, KOHNS (554) und FIGUEIRA (555).

Bezweifelt auch niemand, daß Athen von Getreideeinfuhren abhängig war, gibt

es doch starke Differenzen über den Umfang und die zeitliche Bestimmung der Einfuhren. GERNET (552) glaubte, daß im 5. Jh. und selbst noch zu Beginn des

IIl. Organisation von Heer und Flotte

489

4. Jhs. die Getreideeinfuhren nicht übermäßig bedeutsam waren. Gegen eine

eher überwiegende Meinung, die von einer starken Abhängigkeit Athens von Einfuhren ausgeht, neuerdings wieder GARNSEY (556), der eine Abhängigkeit zwar nicht leugnet, aber vor allem die Importe von weit entfernt sitzenden Lieferanten geringer und auch zeitlich später ansetzt als allgemein angenommen. Zu den Schwarzmeerimporten vgl. GAJDUKEVIC (557). Zu Löhnen und Preisen im 5./4. Jh. vgl. ZIMMERMANN (536, S.98ff.).

Die Frage, ob Athen ın der Zeit der Seebundsherrschaft eine Handelspolitik ım eigentlichen Wortsinn verfolgt hat, wird meist positiv beantwortet, in einem anregenden Aufsatz u.a. auch von BONNER (506). Zu dem für diese Diskussion

wichtigen Münzgesetz Athens v.J. 450/46 vgl. Text und Kommentar bei MEIGGS/LEWIS (127), Nr. 44, und KOCH (404, S.369ff.). Der im Text zitierte Volksbeschluf über Keos steht bei BENGTSON (129) Nr. 320 (= TOD, 126, Nr. 162 = IG II? 1128), der Vertrag mit Perdikkas II. vom Jahre 423/22 bei BENGT-

SON a.O. Nr. 186, Z.22f. (= IG I? 89, Z.31f., mit der Erwägung einer Datierung auf 417/13) und das megarische Psephisma von 432 bei Thuk. Perikl. 29,4.

1,67,4; Plut.

Über den Charakter des athenischen Wirtschaftslebens hat FINLEY (518) einen anregenden Aufsatz geschrieben. Er stützt seine Überlegungen insbeson-

dere auf eine Analyse des athenischen Kredit- und Pfandrechts im 4. Jh., für das wir in den Hypothekensteinen (höroi, zu ihnen vgl. auch FINLEY, 517) eine eigenständige Quelle besitzen. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang der Gesetzesantrag des Phormisios nach der Wiederherstellung der Demokratie im Jahre 403, der das politische Recht an Grundbesitz binden wollte (Dion. Hal. de Lys. 32 mit der von Lysias or. 34 verfaßten Widerrede); er hätte nach Dion. a.O.

im Falle seiner Annahme 5 000 Athener ihres Bürgerrechts beraubt. Wenn wir mit einer Gesamtzahl von 15 000 Bürgern zu diesem Zeitpunkt rechnen, wären immerhin 2/3 aller Athener Grundbesitzer gewesen. - Zur Vermógensverteilung der attischen Bevölkerung vgl. JONES (458) und CASSON (522).

III. Organisation von Heer und Flotte Heerwesen

Zum Heerwesen der Griechen bildet neben den neueren Arbeiten von PRITCHETT (226) und SNODGRASS (230) noch immer das Handbuch von KROMAYER/ VEITH (223) eine gute Information. Zur Taktik und Strategie des Krieges vgl.

ferner DELBRÜCK (231). - Zur Anzahl der Hopliten vgl. neben der o. S.470 genannten Literatur G.E. FAWCUS: The Athenian army in 431 B.C., in: JHS 29,

1909, 23-28, der für das genannte Jahr eine Gesamtzahl von 16 750 Hopliten aus

den drei Zensusklassen errechnet. - Zur Tiefe der Phalanx, zu der Bedeutung des Flügelkampfes in der Schlacht und zu den athenischen Sóldnern des 4. Jhs. vgl. PRITCHETT (226, Bd. 1, S.134ff., Bd. 2, S.190ff.; Bd. 3, S.62ff.117ff.). - Der

490

ZWEITER TEIL: QUELLEN

UND FORSCHUNG

Ausdruck „schiefe Schlachtordnung“ ist antik; er steht bei Diod. 15,55,2: λοξὴν ποιήσας (sc. Epaminondas) τὴν φάλαγγα.

Auf die Entstehung der Hoplitenphalanx

als eines neuartigen Instrumen-

tes des Schlachtenkampfes, die in einem systematischen Abriß nicht behandelt werden kann, sei hier wegen ihrer Aktualität in neueren Forschungen ganz kurz

eingegangen. Es ist nach wie vor nicht geklärt, ob die Phalanx als die Konsequenz eines sozialen und wirtschaftlichen Aufstiegs neuer Gruppen, die sich neben den Adel stellten und den Zugang zum politischen Raum erzwangen, anzusehen ist, oder ob eher umgekehrt die Erfindung oder allmähliche Herausbildung dieser Kampfesweise ihrer politischen Bedeutung vorausging und sie

also den Adel dazu zwang, den als Hopliten rekrutierten und auf diese Weise zu Selbstbewußtsein gekommenen Bauern politische Rechte einzuräumen. Geht im ersteren Fall das politische Selbstbewußtsein der neuen Kampfestechnik voraus, wird es im letzteren Fall erst durch diese geweckt. Neben literarischen Quellen, hier vor allem den Liedern des spartanischen Lyrikers Tyrtaios (Mitte des 7. Jhs.), wird die Diskussion heute zunehmend auch durch die Archäologie, insbesondere durch Waffenfunde und Vasenmalereien, bestimmt; zur Entwick-

lung der Bewaffnung vgl. vor allem LORIMER (558). Mit einiger Sicherheit läßt sich sagen, daß die Phalanx in der ersten Hälfte des 7. Jhs. voll entwickelt war;

Tyrtaios setzt sie für Sparta im Zweiten Messenischen Krieg (Mitte des 7. Jhs.) voraus. Die Hoplitenbewaffnung und auch der Kampf in der Reihe ist hingegen älter. Es scheinen gerade die archäologischen Daten dafür zu sprechen, daß die Phalanx zunächst lediglich ein militärisches Instrument war, dessen politische Bedeutung sich aus dessen faktischem Gewicht erst sehr allmählich ergab, sei es nun in einer mehr oder weniger friedlichen (SNODGRASS, 559), sei es in einer

durch starke soziale Spannungen charakterisierten Entwicklung (so eher SALMON, 561). Es läßt sich schwer überschauen, welche Rolle ın dieser Entwick-

lung Sparta zukommt; für die Ausbildung des spartanischen κόσμος (kösmos) mit seinem auf der Gleichheit der Spartiaten ruhenden Prinzip war die Phalanx jedenfalls eine wesentliche Voraussetzung (vgl. CARTLEDGE, 560). Der Hoplit wird in der Forschung häufig, sei es als Idealfigur („Bürger-Sol-

dat“; der Schweizer Eidgenosse steht gleich nebenan), sei es als standardisierte

Kampfmaschine, verzeichnet, zudem wird die Leistung der athenischen Phalanx mit Blick auf die Flotte zu gering eingeschätzt. Hier hat RIDLEY (562) versucht, sowohl die Effizienz der athenischen Phalanx herauszuheben als auch den Hoplitenbürger in den ihm angemessenen, spezifisch athenischen gesellschaftli-

chen Kontext zu stellen. Vor allem hat er auch die wichtige Frage nach dem militärischen Training des Hoplitenbürgers erhoben. So manches muß hier offenbleiben. - In dem Bemühen, die Wirklichkeit des Hoplitenkampfes und darunter auch deren Unzulänglichkeiten und die psychische Ausnahmesituation der Kämpfer aus humanistischer und antiquarischer Tradition herauszuführen, hat eine Gruppe amerikanischer und englischer Althistoriker (HANSON,

Hrsg., 229) eine genaue Darstellung nicht nur der taktischen Probleme, sondern

auch der verwendeten Waffen, der Kampfespraxis, der Befehlsverhältnisse ın der Schlacht sowie der Kommunikation während und des Geschehens vor (Opfer)

Ill. Organisation von Heer und Flotte

491

und nach der Schlacht (Bergen der Toten) geliefert und hat weiter HANSON (228)

in einer Monographie neben einer brillianten Skizze über das Wesen des Hoplitenkampfes, seine Vorzüge wie seine Mángel (S.9-39), auch der psychischen Belastung des Kämpfers und der blutigen Wirklichkeit des Schlachtfeldes ausführlich Rechnung getragen. Zur Reiterei vgl. neben dem älteren Werk von MARTIN (566) jetzt vor allem BUGH (567); hier S.221ff. zu den Hippotoxen und Prodromoi. - Das Verwaltungsgebäude der Reiter, das Hipparcheion, dürfte in der Nordwestecke

der Agora zu suchen sein. In dieser Gegend sind auch zahlreiche Einzelfunde gemacht worden, die auf die Reiterei verweisen, vor allem Bleitáfelchen, die

durch ihre Angaben auf die Musterung der Reiter und ihrer Pferde hinweisen.; vgl. dazu J.H. KROLL: An archive of the Athenian cavalry, in: Hesperia 46, 1977, 83-140.

Zum

Aushebungswesen

sind noch viele Fragen offen. Es gab die Aushe-

bung des gesamten Aufgebots (πανδημεί, pandémef) und Teilaufgebote. Die Aushebung erfolgte phylenweise, und die Namen der jeweils ausgehobenen

Bürger wurden bei den Standbildern der Phylenheroen an der Westseite des Marktes, vor dem Komplex der Ratsgebäude, óffentlich angeschlagen (Aristoph.

Fried. 1180ff.). Die reguläre Aushebung der Hopliten umfafite ursprünglich natürlich nur die ersten drei Klassen, seit der Mitte des 4. Jhs. dann auch die

Theten. Eine Aushebung nach den 42 Jahrgängen (19.-59. Lebensjahr; sie hießen boi epónymoi, „die Eponymen“, weil jeder Jahrgang nach dem eponymen Archonten des Eintrittsjahres und nach einem eponymen Heros benannt wurde; vgl. Aischin. 2,168; Arist. AP 53,7) wird erst im 4. Jh. erwähnt. Zuletzt dazu

HANSEN (454, S.83ff.), der die Existenz eines im allgemeinen angenommenen zentralen Kataloges der Hopliten abstreitet und den Beginn der Aushebung

nach Jahrgángen in die Zeit vor der Schlacht von Mantineia (362 v. Chr.) setzt; diese sei dann seit den 340er Jahren wohl die einzige Aushebungsform geworden. Unklarheiten bleiben vor allem für die ältere Form der Aushebung, für die wir auf Konstruktionen von mehr oder weniger Wahrscheinlichkeitswert ange-

wiesen sind. ANDREWES (563) erwägt die Möglichkeit, daß zwischen ca. 450 und der in aristotelischer Zeit üblichen jahrgangsweisen Aushebung eine Praxis gegolten habe, nach der die Strategen und Taxiarchen die Wehrdiensttauglichen in einem selektiven Verfahren ausgewählt, dabei natürlich den Turnus, nach dem

ein jeder dienstpflichtig war, berücksichtigt, aber doch darauf gesehen hätten, daf sie die tauglichsten und besten Männer erhielten.

Die Ephebie ist uns erst seit dem letzten Drittel des 4. Jhs., wirklich gut nur aus hellenistischer und rómischer Zeit, in der ihre militärische Rolle immer

weiter zurücktrat, bekannt. Die für die klassische Zeit fast vôllig fehlende Überlieferung hat manche Gelehrte dazu veranlaßt, sie als eine reguläre Wehrdienstzeit in dem uns spáter bekannten Rahmen überhaupt erst in den Jahren nach der Schlacht von Chaironeia (338) anzusetzen. So vermuten WILAMOWITZMOELLENDORFF (276, S.191ff.), BRENOT (569) und nach ihnen manche andere,

daß die Ephebie 336 oder etwas später eingerichtet worden sei, weil sie für das Jahr 334/33 zuerst sicher bezeugt ist. Aristoteles hat sie in seiner Schrift vom Staat der Athener (ca. 328/27), Kap. 42, indessen bereits in ihrer entwickelten

492

ZWEITER TEIL: QUELLEN

UND FORSCHUNG

Form beschrieben, und wenn er auch kein stringenter Beleg für ein frühes Datum sein kann, würde man angesichts einer so ausführlichen Darstellung doch eine Erwähnung ihrer Einrichtung erwarten, wäre sie erst kürzlich geschaffen worden. Aus allgemeineren Beweggründen, aber auch unter Berufung auf Belege, die deutlich in eine frühere Zeit weisen (Aischin. 2,167), ist darum

der Spätdatierung widersprochen worden, am nachdrücklichsten von REINMUTH (570) und PÉLÉKIDIS (571). Letzterer, der auch die ausführlichste Darstel-

lung der athenischen Ephebie vorgelegt hat, setzt deren Entstehung in der uns später bekannten Form ın die erste Hälfte des 5. Jhs.; doch reichen nach ihm ihre Wurzeln in viel frühere Zeit zurück. Man wird in der Tat davon ausgehen

müssen, daß es eine Ephebie bereits vor Chaironeia gegeben hat, wenn auch nicht in der verbindlichen Form wie durch das zu erschließende Ephebengesetz der dreißiger Jahre. Nach Eintragung in das ληξιαρχικὸν γραμματεῖον (léxiar-

chikön grammateton) und der Ableistung des Waffeneides dürfte sich schon seit dem 5. Jh. eine Ausbildung an den Waffen angeschlossen haben, gegebenenfalls auch Garnisonsdienst gefordert worden sein. Der für alle Wehrdiensttauglichen verbindliche und sich ununterbrochen über eine Zeit von zwei Jahren erstreckende Dienst aber ist wohl erst als Folge der Schlacht von Chaironeia durch Gesetz normiert worden. In diesem Sinne auch RHODES (117, S.494f.) und zuletzt BURCKHARDT (564, S.23ff. des Ms.), der auch die anderen mit der

Ephebie zusammenhängenden Probleme, so vor allem die Frage der Verpflichtung zur Ephebie und zu deren Funktion, erneut behandelt hat. - Schon nach dem Lamischen Krieg (323/22), als in Athen eine Oligarchie herrschte und die

Anzahl der Epheben durch die Bindung des politischen Rechts an ein größeres Vermögen reduziert wurde, ging der Sinn der Ephebie als einer Institution der allgemeinen Wehrpflicht verloren, und trotz gelegentlicher Versuche einer Erneuerung wandelte sie sich allmählich zu einer nicht mehr obligatorischen,

sondern lediglich von den besseren Familien noch besuchten Anstalt der Bildung und Erziehung, deren Besuch Ansehen, aber nur noch wenig militärische

Ertüchtigung vermittelte. Der Ephebeneid ist uns inschriftlich in vollem Wortlaut erhalten (vgl. L ROBERT: Le serment des éphèbes athéniens, in: ders.: Études épigraphiques et philologiques, 1938, 296-307), darüber hinaus auch von Pollux, Onomastikon 8, 105f. und Stobaios, Florilegium 4,48 W./H. überliefert; vgl. dazu zuletzt BURCKHARDT (564, S.74ff. des Ms.). Zu den

Mauern

Athens und des Piráus vgl. TRAVLOS (260), WREDE (269),

NOACK (270, zum Dipylon ferner G. GRUBEN: Archáol. Anz. 79, 1964, 384-419), GARLAND (265) und EICKSTEDT (266), zu den Festungen im attischen Land

McCREDIE (572) und vor allem die umfassende neue Darstellung des gesamten Festungs- und Wegewesens von OBER (573; zur Kritik an den archáologischen Befunden vgl. H. LOHMANN: Gymnasium 94, 1987, 271f.). Der These von Ober,

daß der Festungsbau in Attika bzw. dessen Ausbau einer nach dem Peloponnesischen Krieg in Erscheinung getretenen defensiven Mentalität zuzuschreiben sei, ist nur bedingt zuzustimmen; sie geht auf eine zum Teil einseitige Interpretation einschlägiger literarischer Zeugnisse zurück. Die Sicherung Attikas durch Fe-

III. Organisation von Heer und Flotte

493

stungen ist zunächst einmal als die Konsequenz der erfolgreichen Strategie der

Spartaner im Peloponnesischen Krieg anzusehen, welche die Schwäche in der Verteidigung des offenen Landes bloßgelegt hatte. Den offensiven Geist auch in der Zeit des zu vermutenden Ausbaus (385-340 v. Chr.), für den wir doch wohl eine längere Laufphase annehmen müssen (vgl. LOHMANN a.O.), haben die Athener gewiß nicht verleugnet, wie u.a. ihre Seebundspolitik und ihr Engagement in Mittelgriechenland zeigt. - Die Zahlenangaben zu den Pesttoten der Jahre 430-426 stehen bei Thuk. 3,87,3. Flottenwesen

Zum athenischen Flottenwesen ist noch immer das Handbuch von KROMAYER/ VEITH (223, S.163ff.) nützlich; vgl. auch HÔCKMANN (233), MEIJER (234) und WALLINGA (235). Zur Trierarchie ist neben dem Handbuch von BUSOLT/SWO-

BODA (176, S.1119-1204) und STRASBURGER (580) die neuere Abhandlung von JORDAN (577) heranzuziehen. Letzterer hat auch unsere Kenntnisse über die

Bemannung der Triere systematisch erfaßt (S.117ff; vgl. dazu auch AMIT, 574,

S.29ff.). Zur Ergänzung der Schiffe vgl. BLACKMAN (582, S.196ff.), zum Piräus und seinen Häfen GRASER (586), AMIT (574, S.73ff.) GARLAND (265) und vor allem die auf den neuesten Forschungen fuftende, gründliche Studie von EICKSTEDT (266), der auch für die Schiffshäuser zu Rate zu ziehen ist (S.69ff.147ff.

mit Beilage 1). Über die

Zahl

der Trieren, der anderen Kriegsschiffe (Tetreren, Penteren)

und der Schiffsháuser, die Ausrüstung der Schiffe und deren Instandhaltung erfahren wir das meiste aus den Inventarlisten der Epimeleten der neória

(νεώρια), mit denen sie das ihnen Anvertraute an ihre Nachfolger übergaben (IG II? 1604ff.). Für ihr Verständnis ist noch immer der dritte Band aus der „Staats-

haushaltung der Athener“ von BOECKH (734) nützlich, in dem die damals bekannten Urkunden kommentiert sind und vor allem auch die Ausrüstungsteile und deren Bezeichnung erórtert werden. Von den in diesen Listen angegebenen Schiffszahlen nenne ich IG II? Nr. 1613, Z.302 aus dem Jahre 353/52 v. Chr.: 349 Trieren, Nr. 1627, Z.266ff. aus dem Jahre 330/29: 392 Trieren (davon 52 auf See) und 18 Tetreren (10) sowie Nr. 1629, Z.783ff. aus dem Jahre 325/24: 360 Trieren (32), 50 Tetreren (7) und 7 Penteren. Die Zahlen beziehen sich,

soweit die Schiffe nicht auf See sind, auf die Schiffsrümpfe. Wir haben davon auszugehen, daß die Zahl der Rümpfe nicht mit der der kampfbereiten Schiffe identisch ist. - Zur Terminologie der verschiedenen Gruppen der Schiffsmannschaft vgl. RUSCHENBUSCH (585) und MORRISON/COATES (581, S.124ff.). Da-

nach hießen die Ruderer ναῦται (nasitai) oder πλῆρωμα (pléroma), das seemännische Personal ὑπηρεσία (hypéresta), letzteres gegen JORDAN (577, S.183ff.). Skla-

ven für die Bemannung athenischer Schiffe im Jahre 406: Aristoph. Frósche 693f.; Xenoph. Hellen. 1,6,24. - Das Material über die Größe der in einzelnen

Jahren in Dienst gestellten athenischen Flotten hat für das 5. Jh. RUSCHENBUSCH (585, 5.110 Anm.14) gesammelt. - Die verschiedenen Kriegsschifftypen, insbesondere der Typ der Triere sind von MILTNER (576, S.906ff.; 579) und FOLEY/SOEDEL (578) behandelt worden, und MORRISON/WILLIAMS (232)

494

ZWEITER TEIL: QUELLEN UND FORSCHUNG

haben das gesamte literarische und archäologische Material zu den griechischen Ruderschiffen übersichtlich zusammengestellt. Der auf Anregung und unter

Anleitung von John $. Morrison und John F. Coates erfolgte Nachbau einer Triere, der auch die Unterstützung staatlicher griechischer Stellen fand, brachte vielfältige Aufklärung über die bauliche Struktur, insbesondere über das Ruder-

werk und die Fahreigenschaften der Triere, warf aber auch wieder neue Fragen auf. Morrison und Coates haben ihre aus dem Nachbau resultierenden Ergeb-

nisse in einem Buch der Öffentlichkeit vorgestellt (581), in dem sie zugleich mit

der Rekonstruktion sämtliche sich aus den (mangelnden) Quellen ergebenden

Probleme erneut diskutieren; es bildet für alle künftigen Forschungen einen neuen Ausgangspunkt. - Zur Entwicklung von Schiff und Seefahrt bei den Griechen ist neben KROMAYER/VEITH (223) vor allem MORRISON/WILLIAMS

(232), HÖCKMANN (233), MEIJER (234) und die neueste Behandlung von WALLINGA (235) heranzuziehen.

Ein vieldiskutiertes Problem der athenischen Kriegsflotte ist das der Anordnung der drei Ruderreihen (Triremen-Problem). Die in der älteren Literatur

öfter anzutreffende Vorstellung, daß die Ruderer in drei Decks übereinander saßen, ist heute aufgegeben; man rechnet mit horizontaler und vertikaler Versetzung der Reihen und vermutet einen Ausleger für das Ruder der Thraniten. Zur Diskussion MILTNER (576, S.935f.), FOLEY/SOEDEL (578, S.110f.), AMIT (574, S.99f.) und CASSON (575, S.77ff.); vgl. auch MORRISON (584) und MORRISON/

WILLIAMS (232, S.170ff.). Auch hier hat der moderne Nachbau eine neue Basis

geschaffen, und so ist also auch für diese Frage künftig das Buch von MORRISON/COATES (581) heranzuziehen. Der Thranit sitzt danach auf einem Brett über dem Dollbord hart an der Außenseite, der Thalamier unten im Schiffsbauch, seitlich nach innen versetzt, und über ihm, auf der Querversteifung und

seitlich zwischen dem Thraniten und dem Thalamier versetzt, der Zygier. In der Hóhe ist der Zygier dem Thraniten näher als dem Thalamier. - Zur Rekonstruktion des uns fragmentarisch erhaltenen Trierenreliefs (Abb. o. S. 130) vgl. L. BESCHI: Il rilievo della trireme Paralos, Annuario della Scuola Arch. di Atene

N.S. 31/32, 1969/70, 117-132.

Für die Rekrutierung der Flottenmannschaft hat man zwischen dem seemännischen Personal (bypéresía) und den Epibaten (Hopliten) einerseits, die von

Staats wegen geregelt war (Aushebung), und der Rudermannschaft, die ja den bei weitem größten Anteil an der Gesamtmannschaft stellte (ca. 170 von knapp 200 Mann), andererseits zu scheiden. Soweit die Ruderer Bürger (oder Metóken) waren, sind sie, wie natürlich durchweg die Fremden (vor allem Seebündler) in

der zweiten Hälfte des 5. und in der ersten Hälfte des 4. Jhs. offensichtlich angeworben (vgl. AMIT, 574, S.48f.; ROSIVACH, 583, $.40 mit Anm.) und erst seit

der Mitte des 4. Jhs. (Demosth. 21,154f.) ausgehoben worden. Der Grund für die Anwerbung der Ruderer dürfte sowohl in der besonderen Art des Kriegsdienstes, dem rein physisch nicht jedermann gewachsen, als auch besonders in dessen Dauer, die nicht jedem zumutbar war, und in der Menge der benötig-

ten Männer, die in Athen gegebenenfalls ganze Wirtschaftszweige, wie den Landbau, hätte lahm legen kónnen, zu suchen sein. Aushebungen sind vor der

Mitte

des

4.Jhs.

daher

wohl

nur

in Notsituationen,

wie

vor

der

IV. Stadt und Religion

495

Schlacht bei Salamis, vorgenommen worden. Für die ältere Form der Bemannung (Anwerbung) unterscheidet ROSIVACH (583) für die Zeit des Archidami-

schen Krieges zwei Gruppen von Ruderern, nämlich die „professionellen“ Ruderer, die sich, weil ohne sicheres Einkommen, aber mit einer Familie belastet, das ganze Jahr hindurch anwerben ließen, und die „Saison-Ruderer“, die nur im

Sommer ruderten und unter denen sich auch ein nicht unbeträchtlicher Anteil an Landarbeitern und ärmeren Bauern befunden hätte (S.51ff.). Zur Rekrutie-

rung von Ausländern, insbesondere von Bewohnern bundesgenössischer Städte vgl. Thuk. 1,121,3 (mehr Söldner als Bürger auf den Schiffen, dies allerdings

vom Gegner, den Korinthern, gesagt) und 7,63,3-4 (aus der Rede des Nikias an die Soldaten während der Sizilischen Expedition, in der er wie selbstverständlich in den Ruderern Angehörige der Seebundsstädte sieht). - Zur Trierarchie

s.u. 5.528.

IV. Stadt und Religion Über das Verhältnis von Stadt und Religion informieren BUSOLT-SWOBODA (176, S.514ff.) und NILSSON (168, S.708ff.), über Athen im besonderen BUSOLTSWOBODA

(176, S.1168ff.). Die Entwicklung des Glaubens der Griechen hat

WILAMOWITZ-MOELLENDORFF (167) mit herausragender Kenntnis der Materie

dargestellt; den Stand der neueren Forschung findet man bei MUTH (166). Zu den einzelnen Göttern vgl. SIMON (170), zum Mythos und seiner Funktion

GRAF (171) und KIRK (172) - Die verschiedenen Typen der Athena-Statuen, unter ihnen vor allem die beiden Kolossalbildnisse auf der Akropolis von Pheidias, sind von NIEMEYER (596), SCHUCHHARDT (597) und LEIPEN (599) behandelt worden.

Zu den athenischen Festen vgl. die grundlegenden Arbeiten von MOMMSEN (588) und DEUBNER (589) sowie die neueren Abhandlungen von PARKE (590) und SIMON (591, nach Göttern geordnet; nur die großen städtischen Feste), gesondert zu den Panathenäen ZIEHEN (592) und zu den Apaturien HEDRICK

(621, S.153ff.). - Zu dem Ursprung der Tragödie und zur Organisation der Aufführungen und der Preisgerichte an den verschiedenen Festen vgl. BLUME (241) mit weiterer Literatur.

Zu den athenischen Priestern und anderen mit religiösen Obliegenheiten bzw. der Verwaltung der Heiligtümer und ihres Besitzes betrauten Beamtenkollegien, Helfern und Experten (z. B. Kenner von Riten, Seher) ist jetzt vor allem der systematische Überblick von GARLAND (603) heranzuziehen. Zu dem Bezug Athenas zur Demokratie vgl. KASPER-BUTZ (595), zu dem zum Seebund SCHULLER (401) und vor allem SMARCZYK (413). Auch FEHR (414) hat

die Bedeutung der Athena Parthenos für den Seebund und den Herrschaftsgedanken der Athener im 5. Jh. durch den Hinweis auf von ihm erkannte gemein-

same Merkmale zwischen den Kultbildern der Athena Parthenos und des delischen Apollon herauszustellen versucht. Doch kann ich seine sehr spekulativen Überlegungen, wonach auch die Gestirnsgottheiten von der Kultbasis der Par-

496

ZWEITER TEIL: QUELLEN UND FORSCHUNG

thenos, Helios und Selene, durch eine mit ihnen verbundene theologisch-philo-

sophische Weltanschauung diesem politischen Gedanken gedient hätten und ferner die Techniten des Parthenon auf Grund einer „reglementierungsfreien Arbeitsorganisation" „die demokratischen, d. ἢ. autonomen und korporativen

Elemente in dem auf der Akropolis geleisteten Arbeitsprozeß“ (a.O. 3, 5.84) gewesen wären, nicht nachvollziehen.

V. Die politische Gliederung Attikas Zur Phyle und Phratrie sind die RE-Artikel von LATTE (291) nützlich, auch wenn in ihnen bisweilen noch die ältere These von dem hohen Alter dieser Einrichtungen mitgedacht ist. Zu den Orgeones vgl. FERGUSON (295; 296), zu

den neueren Thesen über die Entstehung und Funktion von Phyle und Phrarrie die o. S. 438ff. angeführte und besprochene weitläufige Literatur. In einer neuen, auf diese Literatur aufbauenden Abhandlung hat HEDRICK (621) einen au-

Bergewöhnlich nützlichen und zuverlässigen systematischen Überblick über die athenische Phratrie vorgelegt, der vor allem auch deren Beziehungen zu den

kleisthenischen Demen und den Gene sowie einen historischen Abriß der Entwicklung einschließt, ferner die Bedeutung der Phratrie für den Nachweis der Bürgerzugehörigkeit herausstellt. - KEARNS (350a) erörtert das Schicksal der auf

realer oder fiktiver Verwandtschaft beruhenden vorkleisthenischen Gemein-

schaften Attikas (Phratrien, géné) in nachkleisthenischer Zeit. Danach hat Kleisthenes diese weniger schwächen als vielmehr die Gesamtordnung Attikas durch seine Phylenreform, unbeschadet der älteren Organisationsformen sozialer bzw. religiöser Art, ändern wollen. Es bleibt dabei unklar, wieweit Kleisthe-

nes die Erhaltung bzw. Zurücksetzung dieser álteren Formen als ein politisches Ziel gesehen hat. Die geographische Lage sowie die Zuordnung der einzelnen Phylen, Trittyen und Demen zueinander sind in jüngerer Zeit Gegenstand umfang-

reicher Forschungen vor allem englischer und amerikanischer Gelehrter gewesen. Soweit sie das politische Motiv für die Schaffung der gesamten Phylenordnung unter Kleisthenes, das in dem Bauprinzip erkannt werden kann, zu kláren

suchten, sind sie bereits o. S. 447ff. besprochen worden. Hier sollen daher nur einige im engeren Sinne topographische und demographische Untersuchungen der letzten Jahre angeführt werden. Diese sehr gelehrten, sich immer stárker

spezialisierenden Arbeiten über die Reform haben gerade in den letzten Jahrzehnten mannigfache Ergebnisse zur geographischen Lage, Größe und Bevölkerungsdichte der Phylen, Trittyen und Demen gebracht. Aus der umfangreichen Literatur seien nur wenige Autoren genannt. KIRSTEN (604) hat 1959 einen instruktiven Bericht über den damaligen Stand der Demenforschung vorgelegt, ELIOT (605) in einer Abhandlung über Demen der Küste wichtige Erkenntnisse

zum Umfang und zur geographischen Lage von Demen und Trittyen gewonnen, die auch Rückschlüsse auf die hinter der Einteilung stehende politische Absicht

zulassen, und TRAILL hat unser Wissen über das gesamte System handbuchartig

V. Die politische Gliederung Attikas

497

zusammengefaßt und durch zahlreiche Verzeichnisse und Karten erläutert (606, Ergänzungen 608; wegen der schwierigen Materie empfiehlt es sich, die klärende Rezension von J. PECIRKA: Eirene 16, 1978, 107-109, heranzuziehen). Es

werden auch die Abgrenzungen der Demen diskutiert: Nach THOMPSON (617) hat es sie wegen des Fehlens von Grenzsteinen nicht gegeben, doch nımmt LANGDON (618) mit guten Gründen feste Grenzen an, die in aller Regel aber nur

durch natürliche Gegebenheiten markiert waren. Anregungen vielfacher Art hat auch das teils provozierende Buch von SIEWERT (340) gegeben, wie z.B. die

Erklärung der Exklaven, das heißt Demen, die mit der ihr zugehörigen Trittys in keinem geographischen Zusammenhang stehen, als Mittel des Ausgleichs von arıthmetischen Größenunterschieden zwischen den regionalen Trittyen durch ihn gefestigt wurde (Siewert wie andere sprechen von „Enklaven“; der Logik der

Sache nach handelt es sich jedoch um Exklaven, da der Bezug des außerhalb seiner Trittys liegenden Demos eben diese seine Trittys ist). Ein schwieriges Problem ist die Binnenwanderung in Attika; dazu vgl. zuletzt ENGELS (612, S.433ff.), der auch den Forschungsstand ausführlich erör-

tert. Angesichts der Freizügigkeit hätte sich die Bürgerzahl in den einzelnen Demen ım Laufe der Zeit verändern müssen, und es wäre dabei zu erwarten, daß

die Anziehungskraft des städtischen Zentrums Athen/Piräus für viele Land-Demen Verluste gebracht hätte. Das ist in der Forschung auch wiederholt vermutet oder gar behauptet worden, wie z. B. von GOMME (447, S.37ff.), in jüngerer Zeit

vor allem von DAMSGAARD-MADSEN

(619) und von einem Autorenkollektiv

unter der Leitung von HANSEN (620), wonach die Migration vom Lande die

höhere Sterberate in der Stadt ausgeglichen habe. Die Statistik der attischen Grabsteine, die das genannte Autorenkollektiv erstellt hat, erfaßt ca. 1 300 Namen männlicher Bürger aus dem 4. Jh., also wohl gut 1% aller Bürger dieser Zeit, sagt aber für die Binnenwanderung dieses Jahrhunderts kaum etwas aus, da

6/7 der Steine mit bekannter Demenzugehörigkeit zu Athenern aus städtischen Demen gehören und sie fast alle auch im Gebiet Athen/Piräus gefunden wur-

den. Welche Bedeutung die Binnenwanderung auch gehabt hat, so ist zunächst daran zu erinnern, daß die Athener aus ihr in klassischer Zeit jedenfalls keine

Konsequenzen für die politische Organisation Attikas gezogen haben. Die Zah-

len der von einem Demos zu stellenden Ratsherren etwa blieben bis zum Ende der Demokratie, wie es scheint, dieselben; es gab ferner für den in einem Demos

nur wohnenden, dort aber nicht eingeschriebenen Bürger nicht einmal einen

besonderen Namen. Ferner hat man sich zu vergegenwärtigen, daß die für eine zahlenmäßige Bestimmung des Umfangs der Binnenwanderung erforderliche Statistik, die eine tatsächliche Verschiebung der Bürgerzahlen beweisen kann,

unsere Quellen nicht zu liefern vermögen. Es läßt sich zwar aus literarischen und epigraphischen Daten ım einzelnen Fall eine Veränderung des Wohnsitzes feststellen, und es gibt auch eine große Anzahl indirekter Hinweise für den

Wohnsitzwechsel; aber viele und unter ihnen gerade die wichtigeren Angaben sind ambivalent: Der Ort einer Grabinschrift muß nicht zwingend auch der Wohnsitz des Verstorbenen sein (zu den Bedenken, Grabinschriften als Beleg für

Migrationsbewegungen zu nehmen, vgl. ENGELS, 612, S.447ff.), und die nur von den nicht im Demos eingeschriebenen Bürgern erhobene Grundsteuer

'

498

ZWEITER TEIL: QUELLEN

UND FORSCHUNG

(egktetikön) kann sich im überlieferten Einzelfall auch auf Bürger beziehen, die

in mehreren Demen Grundbesitz hatten. Auch Überlegungen über etwaige Motive eines Wohnsitzwechsels führen nicht weiter; abgesehen davon, daß sie

zu keiner Statistik führen, erbringen sie sowohl gute Motive für den Weggang (z. B. ökonomische Anziehungskraft der Metropole) als auch für das Bleiben (Hilfe, z. B. Zeugenhilfe der Demoten). Auch neuere Grabungen bzw. Surveys haben zu keinen konkreten Ergebnissen geführt. Der Demos Atene westlich von Sunion, eine der ganz wenigen noch unberührten Regionen Attikas, scheint vom Anfang des 3. Jhs. an weitgehend wüst geworden zu sein (LOHMANN, 609; 610, 5.211 mit Graphik der Fundstellenstatistik Taf.3); ähnliches gilt für jedenfalls weite Strecken des sich östlich an Atene anschließenden Demos Sunion (HR

GOETTE, noch unpubl.). Aber sollte der Demos wirklich schon seit dem späten 4. oder im Laufe des 3. Jhs. weniger oder gar nur wenige Bürger gezählt haben,

hátte das keinerlei Auswirkung auf die Zahl der zu stellenden Buleuten gehabt; denn selbst i.J. 307, als bei der Erhóhung der Phylenzahl auf zwólf tatsáchlich etliche Demenquoten verándert wurden, blieb die Quote von Atene dieselbe oder wurde sogar erhöht (TRAILL, 606, 5.59). Wie auch immer die verschiedenen

Daten für eine Binnenwanderung in klassischer Zeit gewichtet werden, man wird nicht darum herumkommen, jedenfalls für manche Demen eine fühlbare

Ab- bzw. Zunahme der Bürgerzahlen selbst dann zu postulieren, wenn sie nicht oder kaum verifiziert werden kann; eine vollständige Erstarrung der Wohnsitze der Bürger ist angesichts der Freizügigkeit einfach schwer vorstellbar. Wir kommen daher mit der offensichtlichen Statik der Demen-Quote wohl nur zurecht, wenn wir von der Annahme ausgehen, daß der athenische Bürger für die Wahl

bzw. Losung zu den Ämtern und Gerichten und vielleicht auch für die Aushebung dem Demos verhaftet blieb, in dem er bzw. seine Vorfahren einmal eingeschrieben worden waren und dessen Demotikon er trug. Diese Annahme würde der von HANSEN (619) mit Recht konstatierten Schwierigkeit aus dem Wege

gehen, daß wir auf Grund der überlieferten Demenangaben politisch aktiver Bürger (Rhetoren, Strategen, Ratsherren, Richter), die durchaus die Verhältnisse

der buleutischen Quoten widerspiegeln, bei feststehenden Quoten mit keiner nennenswerten Binnenwanderung rechnen dürften, was gewiß nicht angeht, oder eine wesentlich höhere Bürgerzahl ansetzen müßten, was noch weniger

móglich ist. Hansen meint der Aporie mit der Annahme entgehen zu kónnen, daß die Quoten für die Ratsherren 403/02 reformiert worden wären, unsere

überlieferten Quoten also erst damals geschaffen wurden. Das aber ist eine sehr weitgehende Annahme, die eigentlich in unserer schlag gefunden haben müßte, und sie verschiebt es nicht: Wir hätten dann eben für das 4. Jh. mit wanderung zu rechnen. Für die Verfassung und die Aufgaben der

Überlieferung einen Niederzudem nur das Problem, löst keiner wesentlichen BinnenDemen

und Phylen

sind

noch immer das fast hundert Jahre alte Buch von HAUSSOULLIER (613) über die attischen Demen sowie die Handbücher von SCHOEMANN/LIPSIUS (174) und BUSOLT/SWOBODA (176) für eine erste Information nützlich. Für große Bereiche

insbesondere der Demenforschung, sind aber diese Bücher wegen des vor allem durch Inschriften außergewöhnlich stark vermehrten Materials nur noch be-

VI. Die poliuschen Organisationsformen

499

dingt benutzbar. Für die Demen ist das Buch von Haussoullier weitgehend durch die Darstellung von WHITEHEAD (614) ersetzt worden, der dem älteren

Werk nach Anlage und Ziel weitgehend gefolgt ist. Whitehead hat handbuchartig die politische Verwaltung der Demen, ihre Einnahmen, Ausgaben und religiôsen Verhältnisse, die soziale Struktur sowie das Verhältnis der Demen zur Polis Athen behandelt und durch reiche Indices, darunter auch eine Prosopographie aller namentlich bekannten Demoten und eine nach Demen geordnete

Liste der Demendokumente, aufgeschlossen (eine Liste der Dekrete von Phylen, Trittyen und Demen schon bei JONES, 178, S.65-72). Daneben bedeutet auch das

fast gleichzeitig erschienene Buch von OSBORNE (615) über die Demen eine große Bereicherung; in ihm werden zahlreiche Fragen des wirtschaftlichen (Steinbrüche, Bergwerke), sozialen und religiósen Lebens sowie Siedlungsver-

hältnisse erórtert politische Ganze struktur Attikas Zeit beigetragen. allem H. LAUTER

und vor allem auch die Integrationskraft des Demos für das der Polis Athen herausgestellt. Zur Erhellung der Siedlungshaben etliche archäologische Untersuchungen der jüngsten Neben dem bereits oben genannten H. LOHMANN ist hier vor zu nennen. Letzterer hat darauf aufmerksam gemacht, daß das

Siedlungsbild, anders als bisher angenommen, vielfach auch von Einzelgehöften bestimmt war (HZ 242, 1986, 128). Von der Siedlungsforschung dürfen wir für

die wenigen Gegenden Attikas, wo Nachforschungen noch möglich sind, man-

che zusätzliche Information erhoffen. - Die von den Demen geführte Bürgerliste hieß ληξιαρχικόν γραμματεῖον (léxiarchikôn grammateion). Das darin steckende Wort λῆξις (léxis, „Los“, „Landlos“) bezieht sich auf die in uralter

Zeit einmal erfolgte Aufteilung des Bodens auf die (einwandernden) Bauern und umfaßt damit den Kreis derjenigen, die ein Anrecht auf Grund und Boden haben, also die Politen im späteren Wortsinn. Das Wort entspricht dem dorischen κλᾶρος (kléros). Die Liste derjenigen, die zum Besuch der Volksversamm-

lung berechtigt sind, hieß πίναξ ἐκκλησιαστικόν (pinax ekklesiastikön).

VI. Die politischen Organisationsformen Zu den politischen Organisationsformen in Athen vgl. allgemein das Handbuch von BUSOLT (176, S.758-1239), den Überblick von EHRENBERG (177) sowie zum 4. Jh. HANSEN (627). JONES (178) hat wie für die anderen griechischen Städte so auch für Athen eine sehr nützliche Dokumentation der Institutionen, Beamten-

kollegien und der verschiedenen Distrikte der politisch-geographischen Einteilung Attikas (Phylen, Trittyen, Demen) vorgelegt. Die Volksversammlung (ekklésia) Unsere Hauptquellen

für das Verfahren, die Verhandlungsgegenstánde und

die politische Rolle der Volksversammlung sind die Komódien des Aristophanes, das Geschichtswerk des Thukydides und die attischen Redner. Eine große Bedeutung kommt auch den bereits in der zweiten Hälfte des 5. Jhs. nicht seltenen, für das 4. häufiger uns inschriftlich erhaltenen Rats- und Volksbe-

500

ZWEITER TEIL: QUELLEN UND FORSCHUNG

schlüssen zu, die in den Inscriptiones Graecae I’ Nr. 1-229 (bis 404/03), 1981;

II/III 12, Nr. 1-327 (403/02 - 322/21; der Band umfaßt weiter alle Beschlüsse bis 230/29), 1913, gesammelt sınd.

Aristophanes hat in seinen Komödien drei Volksversammlungen beschrieben, die uns einen lebendigen Eindruck von der Stimmung und dem Ablauf einer Versammlung geben; die politische Wirklichkeit ist trotz der komischen Verzer-

rung und Übertreibung leicht zu erkennen. Es sind dies die Volksversammlung in den „Acharnern“ (16ff.; 425 v. Chr. aufgeführt; es geht hier um den Frieden

mit Sparta), die ,,Thesmophoriazusen" („die Frauen am Thesmophorienfest“,

2771f.; 411 v. Chr.; die Frauen wollen einen Beschluß gegen den Tragödiendichter Euripides, der als Frauenfeind verdächtigt wird, fassen) und die „Ekklesiazusen“ („die Weibervolksversammlung“, 279ff.; wohl 392 v. Chr. aufgeführt; die

Frauen übernehmen die Regierung und entwickeln ein radikalrevolutionäres Programm). Die Aufforderung an die Bürger, in der Volksversammlung das Wort zu ergreifen, steht bei Aristoph. Acharn. 45 und Thesmoph. 379; vgl. Eurip. Hiket. 438f.

Die

gesetzlichen

Tagesordnungspunkte

der verschiedenen

ordentlichen

Volksversammlungen und die Zusammenarbeit des Rates mit der Volksver-

sammlung, insbesondere dessen probuleutische Tätigkeit, sind von Arist. AP 43,3-6; 44,4 und 45,4 beschrieben worden. - Die Debatte über die Bestrafung der Mytilenäer steht bei Thuk. 3,36-49; vgl. dazu WASSERMANN (664), WOODHEAD (665) und ANDREWES (666). - Die unbeschränkte Beschlußkompetenz der

Volksversammlung ist mehrfach betont worden, darunter natürlich auch von Kritikern der Demokratie, wie Plat. Polit. 564d7-e2, deren Aussage zu relativie-

ren wäre, wenn wir nicht andere Zeugnisse besäßen: Vgl. etwa Xenoph. Hellen. 1,7,12, der dem plethos beim Arginusenprozeß in den Mund legt, daß es machen kann, was es wolle, und Demosth. 59,88, der den Grundsatz mit Bezug auf die

Gesetzgebung

deutlich

ausspricht:

ὁ γὰρ

δῆμος

ὁ ᾿Αθηναίων

κυριώτα-

τος ὧν τῶν ἐν τῇ πόλει ἁπάντων καὶ ἐξὸν αὐτῷ ποιεῖν ὁ τι ἂν βούληται („das Volk der Athener ist der Herr über alles in der Stadt, und es ist ihm erlaubt zu machen, was es will“), ähnlich Antiph. 3a1 und Andok. 2,19f. - Zur Beratung

der Volksversammlung durch Fachleute vgl. auch Plat. Protag. 319b-d, zu den Gesetzen über den Schutz der Volksversammlung vor Stórern Aischin. 1,33-35. - Der Begriff ῥῆτωρ (rhetör) in einem offiziellen Dokument in der Bedeutung „Redner in der Volksversammlung“, „Antragsteller“ zuerst in dem Volksbe-

schluß zur Entsendung einer athenischen Kolonie (apoikía) nach Brea/Thrakien ca. 446/45 (MEIGGS/LEWIS Nr. 49, Z.21: prop). Zur Bedeutung von rbétór vgl. PILZ (271b).

Das Funktionieren der Volksversammlung, insbesondere deren Zusammenarbeit mit dem Rat haben GOMME (628), JONES (629) und HANSEN (627, S.125ff.)

in einer auch für einen breiteren Kreis verständlichen Form beschrieben. Über Ort und Zeit sowie die Besucherzahlen der Volksversammlungen informieren neben den allgemeinen Handbüchern zum athenischen Staat vor allem die Arbeiten von HANSEN (630-633; 627, S.125ff.) und KOLB (635, S.9296). Die umfangreichen Sondierungen auf der Pnyx, die eine Anzahl

VI. Die politischen Organisationsformen

501

von Markierungen des Platzes zutage förderten (KOUROUNIOTES/THOMPSON, 634, S.104f.), haben manche Gelehrte vermuten lassen, daß die Volksversammlung nach Phylen zusammentrat (u.a. BOEGEHOLD, 640, und STAVELEY, 768, S.81f.), doch können das die Markierungen nicht belegen, und es ist dieser Vermutung darum mit Recht von HANSEN (641, vgl. ders., 627, S.135f.) wider-

sprochen worden. Falls die gefundenen Einarbeitungen ım Fels tatsächlich Stelen zur Markierung des Platzes aufgenommen haben sollten, könnte es sich auch um eine Abgrenzung von Sitzblöcken zur leichteren und schnelleren Auszählung der Stimmen durch die Vorsitzenden handeln. - Das Fassungsvermögen der Pnyx im 5. Jh., das HANSEN (633, S.121ff., vgl. ders., 627, S.130ff.) unter

Zugrundelegung moderner Maßstäbe mit 6 000 Personen angibt, war wohl hóher als das Quorum, jedoch, wie die zweimalige Erweiterung des Platzes zeigt,

für eine stark besuchte Versammlung zunächst zu klein. Nach 404/03 ist die Pnyx mittels Aufschüttung und Stützmauern zum ersten Mal großzügig erwei-

tert worden, wobei die Rednerbühne umgedreht und am anderen Ende des Platzes, im Süden mit Blick zum Land, aufgestellt wurde. Diese erste Erweite-

rung (Pnyx II) verbindet M.H. HANSEN: The construction of Pnyx II and the introduction of assembly pay, in: Class. et Mediaev. 37, 1986, 89-98 (7 Nr. 631,

S.143-153, mit Addenda) mit der Einführung von Diáten für den Besuch der Volksversammlung. In der Tat scheint die nunmehr nicht mehr offene, sondern in sich geschlossene Gesamtanlage u.a. auch durch den Wunsch nach Kontrolle,

der wiederum in der Diätenzahlung begründet sein könnte, veranlaßt worden zu sein. Nach 150 Jahren wurde der Versammlungsplatz ein zweites Mal erweitert (Pnyx III). Besonders auch die Anlage der Pnyx zeigt, daß die Zahl der durchschnittlich Anwesenden in der Regel 6 000 oder mehr betrug, und dies auch oder gerade im 5. Jh. Wenn Thukydides 8,72,1 sagt, daß wegen der Feld-

züge und auswärtigen Geschäfte früher (d. h. vor 411) keine 5 000 Athener zur Volksversammlung erschienen waren, ist dabei an die Jahreszeit, in der Feldzüge stattfanden, zu denken (die athenische Flotte stand damals in Samos) und hat

man die Situation des (oligarchischen) Sprechers zu berücksichtigen, der die Reduzierung der politisch Berechtigten auf 5 000 rechtfertigen móchte. Wie die zahlreichen Bürgerrechtsverleihungen zeigen, die ein Quorum von 6 000 Bürgern erforderten - HANSEN (632, S.25) záhlt für den Zeitraum von 368-322

v. Chr. 66 epigraphisch oder literarisch überlieferte Bürgerrechtsverleihungen -, vermochte man

selbst in den letzten 50 Jahren der Demokratie offensichtlich

mühelos diese hohe Anzahl von Bürgern zusammenzubringen. - Mit Recht hat GAUTHIER (642) auf Grund einer Übersicht über die uns in griechischen Städten überlieferten Quoren konstatiert, daß diese durch die im Verhältnis zu der

absoluten Bürgerzahl hohe Mindestquote für bestimmte Beschlüsse, meist Ehrenbeschlüsse, mit Einmütigkeit der gesamten Bürgerschaft gleichzusetzen ist.

Die Zahl will nicht auf diejenigen verweisen, die abwesend sein können, sondern zielt auf das Ganze. - Als Begriff für die Tagung der Volksversammlung begegnet neben der im Text so bezeichneten „Hauptversammlung“ (ekklesia kyrios) und nur einfach „Versammlung“ (ekklesta) auch ekklesta synklétos, d. ἢ. »zusammengerufene Volksversammlung". Die Erklärung der tautologischen

Wendung ist strittig; man hat am ehesten darunter eine kurzfristig vom Rat oder

502

ZWEITER TEIL: QUELLEN

UND FORSCHUNG

der Volksversammlung anberaumte außerordentliche Versammlung zu verstehen; zur Diskussion vgl. HANSEN (627, S.134f.). - Zur Anzahl der Volksver-

sammlungen in einer Prytanie vgl. HANSEN/MITCHELL (638); danach gab es auf Grund von Demosth. 24,20f.25 im Jahre 353/52 drei, spáter, nach Arist. AP 41,3,

vier Versammlungen, im 5. Jh. und in der ersten Hälfte des 4. Jhs. nur eine ordentliche Versammlung. - Die Präambeln der Volksbeschlüsse machen die Annahme sehr wahrscheinlich, daß die Volksversammlungen nach dem Amts-

kalender zusammentraten und also die Zahl der ordentlichen Versammlungen auf die Prytanie, nicht auf den bürgerlichen Monat zu beziehen ist (so HANSEN, 637a). - Zu den Präskripten der Volksbeschlüsse vgl. HENRY (643). - Zum

Datum der Änderung des Vorsitzes von Volksversammlung und Rat vgl. W.K. PRITCHETT: Calif. Stud. in Class. Antiqu. 5, 1972, 166ff. Über die soziale Zusammensetzung

der Volksversammlungen lassen

sich keine konkreten Zahlen gewinnen. Wir sind zu ihrer Bestimmung auf eine sinngemäße Interpretation indirekter Zeugnisse angewiesen und laufen wegen des darın enthaltenen subjektiven Elements leicht Gefahr, nur unsere Vorurteile

bestätigen zu lassen. Man wird indessen mit einiger Sicherheit sagen können, daß die weiter entfernt wohnenden Bürger, vor allem also die Masse der Bauern, und die Theten nicht oder nur, wenn wichtige Entscheidungen anstanden, die

Volksversammlung besucht haben, weil sie der Arbeitsprozeß abhielt und die seit dem 4. Jh. gezahlten Diäten nur den Lebensunterhalt des Besuchers deck-

ten, also keinen Ersatz für den Verdienst im Arbeitsleben darstellten. Hier ist das Problem des Verhältnisses von politischer Tätigkeit und Arbeitsleben angesprochen; vgl. dazu neben 162f. auch 394ff. Man wird annehmen dürfen, daß in der

Volksversammlung die aus dem Arbeitsleben Ausgeschiedenen überrepräsentiert und darüber hinaus die Stadtbewohner stärker als die Landbewohner vertreten waren. Ausdrücklich sagt denn auch Euripides (Hiket. 420ff.), daß den

Bauer sein Tagewerk vom öffentlichen Leben fernhält, und wieder er (Orest. 918) und Arıstophanes (Vög. 111) meinen, daß unter den Richtern sich nur selten ein Bauer befindet. Xenoph. Mem. 3,7,6 und Plat. Prot. 319c8-d4 wollen

mit ihren Angaben zu den Berufen und zum sozialen Rang der Mitglieder einer Volksversammlung lediglich die Gesamtheit des Demos umreißen und geben

daher für die tatsächliche Zusammensetzung der Versammlungen nichts her, ebensowenig diejenigen Bemerkungen von Kritikern der Demokratie, nach denen die Armen in der Volksversammlung überwiegen. Aussagekräftiger sind

dagegen Wendungen, welche die Begriffsfelder Demokratie-Volksversammlung-Freiheit und Flotte-Ruderer-Seeherrschaft miteinander verbinden; vgl. etwa Aisch. Agam. 1518; Aristoph. Wespen 669f.; Arist. Pol. 1274a12-15; AP 27,1. Ein anderes Bild von der Zusammensetzung der Volksversammlung hat KLUWE (644) gezeichnet. Danach ist den Bauern und Theten die regelmäßige Teilnahme aus den genannten Gründen schwer geworden, z. T. sogar unmöglich gewesen, und selbst wenn sie die Versammlungen besucht hätten, wären sie aus Mangel an Bildung an der Gestaltung der Politik doch nicht beteiligt gewesen. Die Volksversammlungen wären somit von den „Interessengruppierungen‘“ der Oberschicht beherrscht worden. Dabei bleibt allerdings unklar, um welche Gruppierungen - sie werden von Kluwe auch „klassenspezifische Organisa-

VI. Die politischen Organisationsformen

503

tionsformen“ genannt ($.81) - es sich dabei gehandelt und welche Form die Organisationen gehabt haben sollen. Gegen diese Annahme, die gerade auch für die demosthenische Zeit gemacht wird, zuletzt mit guten Argumenten HANSEN

(627, S.185f.).

Es hat lange Zeit hindurch als opinio communis gegolten, daß angesichts der von der Demokratie gewünschten Schwäche der institutionalisierten Regierungsgewalt das Amt des Strategen als das unter den wenigen Wahlämtern einzige Amt von Bedeutung zu einem Angelpunkt politischer Macht geworden sei. Im Zusammenhang mit dieser Theorie wird stets auf Perikles verwiesen, der durch die ständige Wiederwahl die Strategie gleichsam zu einer Regierung ausgebaut hätte, und man verstieg sich unter Berufung auf Perikles sogar zu der Idee, daß der „kommandierende“ oder „regierende“ Stratege vom Volk aus allen

Phylen (also nicht aus den von der einzelnen Phyle präsentierten Kandidaten)

gewählt wurde und er demnach eine rechtlich untermauerte Hóherstellung besessen habe (so BELOCH, 654, S.274-288: „Oberstratege“ und zustimmend

neuerdings JAMESON, 727; vgl. auch HIGNETT 280, S.347-356 mit Bezug auf Perikles und Alkibiades). Das kann aber nicht daraus belegt werden, daß aus der

Phyle des Perikles zumindest vier-, vielleicht fünfmal neben Perikles ein weite-

rer Kandidat Stratege wurde; denn eine Doppelwahl kam auch nach dem Tod des Perikles vor, ohne daß einer der beiden Gewählten ein Oberkommando

erhielt, und sie dürfte daher eher darauf zurückzuführen sein, daf eine Phyle bisweilen keinen oder keinen geeigneten Kandidaten vorzuweisen vermochte,

oder es setzte sich die Volksversammlung auch einmal über die Regel hinweg, um fähige und beliebte Männer in das Amt wählen zu können (so JONES, 629,

S.256ff.). Perikles ist in jeder Hinsicht ein Sonderfall. Abgesehen von seinen

großen Begabungen und seiner persönlichen Ausstrahlungskraft hat man zu bedenken, daß er noch mit den Anfängen der Demokratie verbunden war und

als deren Geburtshelfer zusätzliches Ansehen bezog. Es hat denn auch nach Perikles kein Athener mehr mittels der Strategie Macht ausgeübt, sondern es wurde Stratege, wer bereits Einfluß hatte, wie z. B. Kleon. Wenn wir im Pelo-

ponnesischen Krieg viele einflußreiche Politiker als Strategen sehen, so deswegen, weil sie ihre vor der Volksversammlung befürwortete Politik nach Meinung

der Athener gegebenenfalls auch selbst ausführen sollten. In der Tat ist eine klare Scheidung von Politikern, die ein Amt bekleideten und sich u.U. auf es stützten, und solchen, die nur als Redner auftraten, nicht zu machen, insbeson-

dere nicht in dem Sinne einer zeitlichen Entwicklung von dem beamteten Politiker zum reinen Redner. Der Grund für die Bedeutung, die in der modernen Literatur den Strategen bzw. dem Strategenkollegium immer wieder gegeben wird, liegt wohl vor allem in der Schwierigkeit, die athenische Demokratie mit ihrem Prinzip der Umverteilung der starken Regierungsgewalt auf mehr bzw. alle Bürger zu verstehen, und in dem gleichzeitigen Bemühen, das Defizit an

Verstehen dadurch zu beheben, daß man der scheinbar kopflosen politischen Ordnung den für unabdinglich gehaltenen Kopf in Gestalt eines oder aller Strategen substituiert (und dabei auch von der falschen Meinung ausgeht, daß in modernen Gesellschaften die Entscheidung immer von denen, welche die politi-

sche Leitung haben, getragen wird). Thukydides sieht, wie POPE (31, bes.

504

ZWEITER TEIL: QUELLEN

UND FORSCHUNG

S.289ff.) in einem klugen Aufsatz gezeigt hat, in den Strategen keine politische Leitung, wie er denn von ıhnen überhaupt selten spricht; er benutzt, wenn er den Entscheidungsträger meint, das Ethnikon („die Athener“), wie er es auch

für die Entscheidungsträger nichtdemokratischer Ordnungen tut. Indem er dabei Athen nicht heraushebt, setzt er wie für die anderen Ordnungen so auch für die athenische Demokratie einen funktionierenden Entscheidungsmechanismus voraus. Die athenische Demokratie ist ein in sich ausgewogenes System von „checks and balances“, das politische Entscheidung auch bei einer schwachen

Regierung möglich macht. Der Gedanke einer faßbaren Entwicklung der Demagogie

geht schon auf

Aristoteles zurück, der eine Liste der politischen Führer der Stadt, beginnend

mit Solon, aufgestellt und den Wandel in dem Charakter dieser Führung beschrieben hat (AP 28). Er setzt den Wandel und den Beginn der Demagogie im eigentlichen Sinne mit Kleon an, da dieser sich nicht mehr auf den besseren Teil der Bevölkerung gestützt habe. Auch in der modernen Literatur werden in der Entwicklung der Demagogie verhältnismäßig scharfe Zäsuren angenommen. So setzt CONNOR (656) den Ubergang von einer mehr auf personalen Verbindun-

gen zu einer auf die Masse in den Versammlungen gegründeten politischen Führung ebenfalls mit Kleon an. Tatsáchlich lassen sich die verschiedenen Typen unter den Politikern nicht auf Entwicklungsphasen sauber verteilen; es gab weiterhin den Vornehmen, den persónliche Freundschaften stützten, ferner den

durch eine bestimmte Politik und eventuell ein erfolgreiches Kommando Emporgestiegenen, schließlich den klassischen Volkstribunen und den Berufsredner. Es war wohl weniger die Persónlichkeit und Initiative des einzelnen, die den Einfluß dieses oder jenes Typs begünstigten, als der Wandel der innenpolitischen Gesamtsituation, der für die Politik ganz andere Voraussetzungen schuf:

Der Abbau der Regierungsgewalt und die wachsende Bedeutung der Massengre-

mien sowie die zunehmende Intensitát des politischen Gescháfts brachten mit der Betriebsamkeit notgedrungen auch eine gewisse Routine in den Führungsstil hinein, der sich ebenso in der Bindung der Menge an einzelne Personen wie in der berufsmäßigen Auffassung der politischen Arbeit äußern konnte; vgl. J.K. DAVIES: Gnomon 47, 1975, 374ff. und vor allem ROBERTS (657). „Parteiführer“ wurden die Demagogen damit nicht, wie REVERDIN (653) gegenüber den For-

mulierungen mancher moderner Darstellungen mit Recht betont hat. Auch der

Berufspolitiker war auf wechselnde Mehrheiten, auf die Aktivierung neuer Freundschaften und auf die Unterstützung von locker organisierten Gruppen angewiesen (vgl. dazu u. S.337f.), und er blieb seinem Typ nach immer ein Mann, der durch seine Persönlichkeit und rednerischen Fähigkeiten, nicht durch Fach-

wissen etwa in der Administration der Stadt überzeugte (so richtig THOMPSON, 663, gegen ANDREWES, 666); allenfalls die Reformpolitiker und Leiter des Fi-

nanzwesens in der letzten Phase der Demokraue, wie Eubulos und Lykurgos,

kónnen als Fachleute gelten, doch erhielten und behielten selbst sie ihren Einfluß nicht oder doch nicht allein auf Grund ihres administrativen Kónnens, sondern auf Grund ihrer Persónlichkeit und Überzeugungskraft als Ratgeber in

Fragen der allgemeinen Politik. - Die seit dem Peloponnesischen Krieg aufkommenden Demagogen „neuen Stils“ sind in der zeitgenössischen Literatur, für

VI. Die politischen Organisationsformen

505

uns greifbar besonders bei Aristophanes und Thukydides, nicht nur wegen ihrer

Politik angegriffen, sondern auch persönlich herabgesetzt worden. Männer wie Kleon und Hyperbolos wurden gern als von niederer Herkunft und als Handar-

beiter oder Straßenhändler hingestellt. Kleon z. B. aber war nicht einfach nur Gerber, sondern der Eigentümer einer vom Vater ererbten, offensichtlich nicht sehr kleinen Gerberei; Kleophons Vater ist wahrscheinlich Stratege gewesen (E. VANDERPOOL: Hesperia 21, 1952, 114-115). In der modernen Literatur werden

nichtsdestoweniger die Urteile der antiken Kritiker nachgesprochen. Zur Richtigstellung vgl. CONNOR (656, S.151ff.) und G.E.M. de STE. CROIX: The origins of

the Peloponnesian war, 1972, S.359ff. Die Bedeutung der Demagogen für die Demokratie ist jüngst von FINLEY (655) angemessen dargestellt worden. Er hebt zu Recht gegenüber der antiken Kritik an den Demagogen hervor, daß die Leistungen der Demokratie auf

innen- wie auRenpolitischem Gebiet zu einem guten Teil ihnen verdankt wurden und ebenso das moderate Klima der politischen. Auseinandersetzungen letztlich ihnen zuzuschreiben ist. Die Quellen kritisieren ja auch nicht die Institution des Redners als solche, sondern die von dem einzelnen Redner

verfochtene Politik, und zu der Kritik am Gegenstand der Diskussion gehört

nun einmal ın der Antike auch die persönliche Verunglimpfung der Person, die ihn vertritt. Es ist daher falsch, bei dem Urteil über die Demagogie von dem

Verdikt der Alten auszugehen. - Zur Bedeutung der freien Rede und des Redners in der athenischen Demokratie zuletzt LOTZE (661). KLUWE (662) hat mit Recht

die Bedeutung der Rede für die Meinungsbildung im demokrauschen Athen hervorgehoben, der gegenüber die anderen meinungsbildenden Faktoren, wie Kunst und Literatur, zurücktraten. - Zum WillensbildungsprozeR vgl. auch u. S.337ff.

Die Bedeutung von „Parteien“ und ihrer Führer für die Entscheidungsprozesse im demokratischen Athen hat BELOCH durch sein bedeutendes Buch über „die attische Politik seit Perikles“ (654) zu einem zunächst von großen Teilen der gelehrten Welt anerkannten Grundsatz demokratischer Politik gemacht. Seine

These ist deutlich von dem in seiner Zeit sich ausbildenden Parteiwesen abhängig - Beloch spricht geradezu von ,,Klassenherrschaft* -, ist aber weder für Athen noch für die Antike überhaupt zu belegen; die von ihm und anderen vor allem herangezogene Stelle bei Aristoph. Ekkles. 197f., wo von „Armen“ und

„Reichen“ und den „Bauern“ als den Sympathisanten eines Antrags die Rede ist, kann nicht zur Stützung der These von Parteiungen im Sinne Belochs verwendet

werden. Gegen Beloch zuletzt wieder mit genauer Durchsicht der Quellen SCHMITZ (412; vgl. auch die Einleitung). In einer kleinen Schrift hat M.H. HANSEN (652) kürzlich eine besondere Auffassung von dem Prozeß der Willensbildung in Athen entworfen. Da Han-

sen heute als einer der besten Kenner der athenischen Demokratie gelten darf und er in der Schrift manches aus seinen zahlreichen Einzelforschungen zusammengefaßt hat, sei sie kurz besprochen. HANSEN glaubt, daß die Athener für alle

Entscheidungsprozesse von dem Prinzip der Gewaltenteilung ausgegangen seien, die in der Trennung von Initiative und Entscheidung gelegen habe. Von den vier großen Staatsorganen, nämlich der Volksversammlung, den Geschwo-

506

ZWEITER TEIL: QUELLEN

UND FORSCHUNG

renengerichten, den Nomotheten (die er als besonderes Organ neben den Geschworenengerichten zählt) und den Ämtern (zu denen er den Rat rechnet), hätten die drei ersteren die Entscheidungsgewalt innegehabt. Die Initiative hätte demgegenüber ὁ βουλόμενος, das heißt jeder Athener, der wollte (faktisch eine begrenzte Anzahl von Rednern/Politikern), besessen. Die Ämter (einschließlich des Rates) hätten die Initiativen vermittelt. Das Modell muß manche Ausnahmen zulassen, wie denn z.B. auch die Strategen, also Beamte, die Initiative

ergreifen durften. Diese Ausnahmen, die von besonderen Umständen erzwungen werden und darum jedenfalls dann, wenn die zugrundeliegende Regel ım übrigen deutlich erkennbar ist, vernachlässigt werden dürfen, sind gewiß kein

Einwand gegen diese Auffassung, wohl aber die Einordnung des Rates unter die (in dem Modell für die Vermittlung, nicht für die Initiative zuständigen) Ämter.

Denn die Ratsherren besitzen die Initiative gerade als eine Aufgabe, die ihnen als der „Regierung“ bzw. als das, was im demokratischen Athen dafür gelten kann, ex officio zukommt. Wenn Hansen es nahelegt ($.22), die Ratsherren dabei eher

als Bürger denn als Buleuten aufzufassen, löst er den Rat ın der Masse der Bürger auf - eine Auffassung, die vielleicht dem athenischen Demokratieverständnis,

aber nicht der Theorie von Hansen entspricht, die gerade durch das Gegenüber der Institutionen (für die Entscheidungen und die Vermittlung der Initiativen) und der Bürger (für die Initiativen) bestimmt ist. Die Konstruktion leidet vor allem auch durch die in ıhr steckende Prämisse, daß nur der einzelne, nicht auch

die kollektive Behörde eine Initiative ergreifen kann. Es ist aber gar nicht einzusehen, warum nicht auch der Mehrheitsbeschluß einer Volksversammlung,

durch den der Rat zur Vorlage eines Probuleumas aufgefordert wird, oder der Mehrheitsbeschluß des Rates über ein aus seiner Mitte angeregtes Probuleuma

nicht als Initiative angesehen werden soll. Man wird sich angesichts einer Prämisse, nach der nur der einzelne eine Initiative ergreifen kann, nicht wundern,

wenn im Ergebnis auch ebendies - nämlich die Trennung der entscheidenden

Kollektive von den initiierenden Bürgern - herauskommt. Ich glaube, daß mit dem Modell von Hansen nicht viel gewonnen ist. Lehrt es wirklich mehr, als wir schon vorher wußten, nämlich daß alle über alles entscheiden sollen, daß jeder Athener, der will und berechtigt ist, zu den Entscheidungen raten (also die

Initiative ergreifen) kann und die Regierung (Exekutive) von Rat und Beamten möglichst begrenzt bleiben soll, und benötigen wir zur Erklärung dieses unseres Wissens den modernen, den Athenern ohne Zweifel unbekannten Begriff der Gewaltenteilung? Zu den Eisangelie-Klagen vgl. THALHEIM (648), LIPSIUS (708, S.176211) und die jüngere Abhandlung von HANSEN (649, mit einer Liste der faßba-

ren Klagen im 5. und 4. Jh.) sowie die kritischen Ausführungen von RHODES

(650) zu HANSEN und dessen Replik (651). Die Streitpunkte betreffen einmal die Entwicklungsgeschichte des Verfahrens vom 6. bis zum 4. Jh., zum anderen

verfahrenstechnische Untergliederungen der Klagen sowie die Identifizierung überlieferter Klagen als Eisangelieverfahren. - Zu den Paranomie - Klagen vgl. WOLFF (812, S.45ff.) und HANSEN (645).

Eine besondere Frage ist die nach dem Personenkreis der durch politische Klagen Verfolgten. Der Natur der Sache nach treffen solche Klagen aus-

VI. Die politischen Organisationsformen

507

schließlich die im politischen Raum Tätigen, also in erster Linie militärische

Funktionsträger, die ihre militärischen Entscheidungen verantworten, eventuell sich für Niederlagen zu rechtfertigen hatten, und Bürger, die vor der Volksversammlung eine bestimmte Politik durchzusetzen suchten, also die Redner und Antragsteller. Daß nicht selten von den Hauptakteuren Strohmänner als Antragsteller aufgestellt wurden, verweist zusätzlich auf die Gefährlichkeit des

politischen Geschäfts, und wenn die Hälfte der uns bekannten Paranomie-Klagen gegen Ehrendekrete gerichtet waren, zeigt auch das deutlich, daß diese Klageform, neben der Eisangelie-Klage, für die Disqualifizierung von Politikern benutzt bzw. mißbraucht wurde. Sind alle Klagen gegen die politisch Aktiven gerichtet, ist jedoch der Kreis der (aktiven) „Politiker“ nicht leicht absteckbar.

Im Griechischen fehlt ein Begriff dafür. Das Wortpaar rhetör kai strategot, also Redner und Strategen, das wir in demosthenischer Zeit finden, trifft zwar den Kern der politisch Aktiven und Verantwortlichen, aber eben doch nicht alle, die

in politische Klagen verstrickt werden können, so vor allem nicht die im Rechenschaftsverfahren durch Euthynoi und Logistai Angeklagten, die ja auch

ganz kleine Geschäftsträger sein mochten. HANSEN (658-660; zuletzt dazu 627, S.203ff.266ff.), der dieser Frage unter Ausschöpfung aller Nachrichten sehr gründlich nachgegangen ist, hat den politischen Prozeß als einen Prozeß gegen einen Politiker („politician“) definiert (a.O. S. 204). Die Definition ist tautolo-

gisch und verleiht dem Begriff des Politikers keine Schárfe. Auch das Rechenschaftsverfahren gegen den kleinen Geschäftsträger, der sich von dem Rang seines Geschäftes her kaum unter den jeweils nicht aktiven Bürgern heraushebt, ist ein politischer ProzeR oder kann es doch sein.

Die Nomotbeten und das Gesetzgebungsverfahren des 4. Jahrhunderts Zu den im Text zitierten Quellen: Bezeichnung des Gesetzes zum Schutz der Demokratie von 410 als solonisch durch Andokides im Jahre 399: Andok. 1,95f. - Mordgesetz Drakons von 409/08: IG I? 104 = MEIGGS/LEWIS, 127, Nr. 86. -

Gesetz über den Rat von 409/08: IG I? 105, vgl. H.T. VADE-GERY: Annual of the Brit. School at Athens 32, 1932/33, 113-122. - Liste der staatlichen Opfer und Kalender (Nikomachos): Lys. 30, bes. 17ff.; zu den Fragmenten vgl. STERLING DOW: Hesperia 10, 1941, 31ff., Nr. 2. - Ausführlichste und früheste Definition

des nómos gegenüber dem pséphisma, dem ágrapbos nómos und dem Privilegium: Andok. 1,87 (400/399 v. Chr.). - Epicheirotonie der Gesetze und die Gattungen der Gesetze: Demosth. 24,20-23.- Gesetz über die jederzeitige Möglichkeit der Änderung eines Gesetzes: Demosth. 24,33. - Gesetz über die Rolle der Thesmo-

theten bei der Überprüfung der Gesetze: Aischin. 3,38-40.- Gesetz des Demosthenes über die Strafgerichtsbarkeit des Areopags von 338/37: Dein. 1,82f. -

Eisangelie-Klage gegen Nikomachos: Lys. 30. - Schriftklage wegen der Beantragung eines unnötigen Gesetzes (γραφὴ

νόμον μὴ ἐπιτήδειον θεῖναι) gegen

Leptines (355/54) und Timokrates (353/52): Demosth. 20 und 24. Einen Überblick über die Anzahl der Volksbeschlüsse und ihrer Gattungen sowie der nómoi und ihrer Thematik im 4. Jh. gibt HANSEN (680; 681; 627,

508

ZWEITER TEIL: QUELLEN

UND FORSCHUNG

$.155ff.165ff.). Dort auch die Diskussion, wieweit nach 404/03 das pséphisma

noch generelle und umgekehrt der nómos situationsbedingte Gegenstände enthielten, mit der Neigung von Hansen, die Volksbeschlüsse (pséphismata) des 4. Jhs. generellen Inhalts (etwa ein Dutzend) noch dem Jahr vor der Einführung des Nomothetenverfahrens (403/02) oder in die - gleichsam als Notstandsjahre zu wertenden - Jahre kurz vor und nach Chaironeia (340-338) zuzuweisen (627, S.172f.; 681, S.32ff.) und die Nomothetenbeschlüsse (nómor) situationsbedingten Inhalts (nur wenige Belege) herunterzuspielen (681, S.39ff.; 627, S.173).

Zu der Gesetzessammlung von 410-404 und wieder von 403-398 vgl. CLINTON (669), HANSEN

(627, S.162ff.), ROBERTSON

(670) und RHODES (684, S.10ff.;

671). Es wird vor allem der beabsichtigte Umfang der Sammlung, die nach manchen eine Art Codex war, von dem die Gesetze Drakons und Solons dezidiert zu trennen sind (so MacDOWELL, 710, S.47), und die Nähe der aufzuzeichnenden Gesetze zum alten Gesetzestext diskutiert, wie denn z. B. nach dem Vorgang von R.S. STROUD: Drakon's law on homicide, 1968 auch MEIGGS/LEWIS,

127, Nr. 86 als Vorlage des 409/08 aufgezeichneten Gesetzes das Mordgesetz

Drakons selbst sehen. Bei der Lückenhaftigkeit der Überlieferung in dieser Sache muß vieles kontrovers bleiben, doch wird man gegen MacDOWELL nicht

davon ausgehen dürfen, daß die Athener - wie schon nach 411 nicht - so auch nicht bei der Wiederaufnahme der Arbeit 403/02 daran gedacht haben, alles schriftlich fixierte normative Recht zu sammeln und entsprechend alle vor 403/02 gesetzten Normen, soweit sie nicht in die Sammlung aufgenommen worden waren, für ungültig zu erklären. Diese kritische Position hat u.a. auch CLINTON

(669) in seinem Versuch, den Charakter der Sammlung

und den

Verlauf der Kommissionstätigkeit zu rekonstruieren, vertreten. Ebenso hat man auszuschließen, daß mit der Sammlung eine qualitative Veränderung (Reform, Revision) verbunden werden sollte (richtig ROBERTSON, 670). Wie hätten die

dafür notwendigen Direktiven auch aussehen und von wem ausgehen sollen? Weder im Teisamenos-Dekret noch sonstwo finden wir denn auch dafür einen stichhaltigen Beleg. Einen ganz anderen Interpretationsansatz verfolgt NATALICCHIO (673), wenn er davon ausgeht, daß der Plan einer Gesetzesrevision ursprünglich von den Umstürzlern des Jahres 411 geplant und in Gang gesetzt worden war, nach der Wiederherstellung der Demokratie die Demokraten dann

lediglich an einige sich aus den Ereignissen von 411/10 ergebende Veränderungen dachten und nach den „Dreißig“, welche die radikale Revision wiederaufgenommen hätten, die Revision mit einem Blick auf die „Gemäßigten“, aber mit

dem Anspruch auf die volle Wiederherstellung der Tradition fortgeführt, auf jeden Fall zu keiner Zeit und von keiner Seite eine Gesamtrevision der Gesetze beabsichtigt gewesen war. Natalicchio geht bei dieser Interpretation davon aus,

was mit einer Gesetzesrevision damals jeweils politisch erreicht werden sollte. So einleuchtend dieser Ausgangspunkt ist, läßt er sich schwer verifizieren, lassen

sich etwa das überlieferte Fragment aus dem Mordgesetz Drakons und die Redaktion des Opferkalenders als Elemente einer rein politischen Revisionsabsicht schwer in diesen Zusammenhang einordnen. Es wird auch der Publikationsort der 403 und danach gesammelten bzw. neu

VI. Die politischen Organisationsformen

erlassenen Gesetze diskutiert. Nach

509

Andok.

1,82.85 war er für die Gesetzes-

sammlung von 403 die Stoa (Basileios), doch wird bei späteren Gesetzeszitaten nur auf das Archiv (Metroion) und auf die einzelne Stele verwiesen, die das

Gesetz enthält. Mit Bezug auf Demosth. 24,42, wo Diokles in seinem Gesetz über das Inkrafttreten der Gesetze die Gesetze in solche vor, während und nach dem Archontat des Eukleides unterteilt, hat HANSEN (672) auf Grund des

Wortgebrauchs der Stelle und der spáteren Zitierweise von Gesetzen geschlossen, daß die an der Wand der Stoa Basileios aufgezeichneten Gesetze wegen ständiger Veränderungen durch folgende Gesetze bald ihre Aktualität verloren

und die im Metroion aufbewahrten, auf Papyrus geschriebenen Originale der Gesetze, deren Änderung technisch einfacher war, schon wenige Jahre nach 403 den maßgeblichen Text der Gesetze gebildet hätten. Der Verweis auf Stelen zeigt allerdings, daß man nach 403 die Aufzeichnung auf Stein auch für nómoi nicht

aufgegeben hat. Im Sinne Hansens muß man annehmen, daß immer dann auf eine Stele verwiesen wurde, wenn der auf Stein aufgezeichnete Text danach nicht geändert worden war.

Zum

Verfahren

der Nomothesie nach endgültiger Etablierung der Nomo-

theten-Kommission sind neben den älteren Werken von SCHÔLL (674) und BUSOLT/SWOBODA (176, S.1010ff.) sowie von JONES (629, S.251ff.) und QuASS (678, S.68ff.) die jüngsten Beiträge von HANSEN (683; 627, S.161ff.) und RHODES (684; 685) heranzuziehen, die vor allem auch die Entwicklung des Verfahrens im

4. Jh. verfolgen. Unsere Kenntnisse dieser für das politische Denken der Athener so wichtigen Einrichtung stammen zum großen Teil von Rednern des 4. Jhs., so u.a. aus den Reden des Demosthenes gegen Leptines und Timokrates, sowie aus Inschriften, die das Verfahren voraussetzen. Trotz relativ guter Information gibt es Wissenslücken und Kontroversen über wesentliche Punkte, dies teils auch deswegen,

weil die Angaben der Redner nicht immer eindeutig und zur Durchsetzung der rednerischen Absicht gelegentlich auch absichtlich verdreht oder gar gefälscht worden sind. Es ist vor allem der Zeitpunkt der Einrichtung des uns im 4. Jh. bekannten Verfahrens strittig. Es soll nach ATKINSON (676) schon durch die

Revolution“ des Ephialtes, also gleichzeitig mit der endgültigen Etablierung der Demokratie, nach den meisten Forschern hingegen 403 oder sehr bald nach

diesem Jahr ins Leben getreten sein. Ist das letztere richtig, bleibt offen, ob es im 5. Jh. bereits ein Gesetzgebungsverfahren vergleichbarer Art gegeben hat und wie es ausgesehen haben kónnte. Ferner ist das Verhältnis des Gremiums der Nomotheten versammlung

zur

Volks-

umstritten, weil man sich nicht leicht vorstellen kann, daf die

Nomothesie den Volksbeschluß ersetzt hat und also auf dem Gebiet der Gesetzgebung an die Stelle des Souveräns getreten ist. KAHRSTEDT (675) hat indessen

gerade diesen Standpunkt besonders scharf vertreten, und er begründete seine Ansicht damit, daß nach der Vorstellung der Athener die Gesetze herrschen sollten und auch der Souverán darum nicht über sie hátte verfügen dürfen (was

allerdings auch nach Kahrstedt nicht ganz durchgehalten worden ist). Daft aber die Athener für die doch unumgángliche Korrektur und Erweiterung der Ge-

510

ZWEITER TEIL: QUELLEN

UND FORSCHUNG

setze dann auf den Ausweg verfallen sein sollen, den Gedanken der Unabhän-

gigkeit der Nomoi vom Zugriff durch das Volk dadurch zu unterlaufen, daß sie sie einem Gremium von Nomotheten, das ja nicht „das Volk“ ist, überließen,

erscheint doch eher als ein rabulistischer Trick. Atkinson 2.0. widersprach darum Kahrstedt mit Nachdruck; sie vermutete, daß die Beschlüsse der Nomo-

theten der Ratifikation durch das Volk bedurft hätten. Die Mehrzahl der For-

scher möchte wie Atkinson die Souveränität des Volkes auch gegenüber den Nomoi

gewahrt wissen, neigt aber der eher vermittelnden Ansicht zu, daß

insbesondere neue Gesetze weiter allein von der Volksversammlung entschieden worden und die Nomotheten nur für die Korrektur bzw. Ergänzung bestehen-

der Gesetze zuständig gewesen seien. Gegenüber dieser Lösung, in der die Omnipotenz des Volkswillens mit der Existenz der Nomotheten-Kommission

in Einklang gebracht worden ist, hat Quaß a.O. wieder hervorgehoben, daß bei der Nomothesie auch über neue Gesetze verhandelt werden konnte. Ist er damit der alten Position Kahrstedts wieder nähergekommen, hat sich HANSEN (681,

627, S.170ff., vgl. 680) in neueren Beitrágen ganz mit ihr identifiziert. Da die Athener offensichtlich nicht die Volksversammlung und die Volksgerichte in derselben Schárfe voneinander schieden, wie wir es von unserem verfassungsrechtlichen, von Institutionen geprágten Denken gewohnt sind (s.u. S.520f.), stellt diese Annahme in der Tat nicht die „Souveränität“ der Volksversammlung

in Frage, und man hat darum auf jeden Fall und durchaus in Übereinstimmung

mit unseren Belegen davon auszugehen, daß die von den Nomotheten verabschiedeten nömoi keiner Bestätigung durch das Volk bedurften und also den Volksbeschluf ersetzt haben. Daß die Volksversammlung und das Gericht der Nomotheten dabei von den Athenern nicht als zwei vóllig verschiedene Institu-

tionen angesehen wurden, zeigt auch der Umstand, daß die Beschlüsse der Nomotheten, die stets nómoi hießen, und die Volksbeschlüsse, die künftig nur

noch pséphismata, nicht mehr nómoi genannt wurden, nicht wie normative (materielle) und situationsbedingte (formelle) Gesetze einander gegenüberstan-

den. Obwohl der Natur der Sache nach die Nomotheten, denen (auf Antrag) die Korrektur bzw. Ergánzung der nach 403 zusammengestellten athenischen Gesetzessammlung anvertraut war, vor allem mit normativen Gesetzen zu tun hatten, sind nach Ausweis unseres Materials von ihnen ebenfalls ganz aktuelle,

an die bestimmte Situation gebundene Gegenstände behandelt und als nómoi verabschiedet worden, wie z. B. die Gesetze über Maßnahmen zum Schutz der

von akuten Fälschungen bedrohten athenischen Silberwährung (375/74; RS. STROUD: Hesperia 43, 1974, 157-188; übrigens der erste uns bekannte nómos der Nomotheten), über Ernteabgaben an das Heiligtum von Eleusis (353/52; IG II?

140) und über die Anfertigung bzw. Reparatur von Kultgegenstánden (335/34; IG IP 333). Umgekehrt kennen wir aus dem 4. Jh. Volksbeschlüsse, die auf Dauer geltende Normen, wie z. B. über die Theorika (Dem. 44,38) oder die

Strafgerichtsbarkeit des Areopags (Dein. 1,82f.), geschaffen haben. Die Athener hatten offensichtlich nicht die begrifflichen und systematischen Skrupel wie wir heute, ohne doch damit das hinter der Trennung von nómos und pséphisma steckende Prinzip, nàmlich den Schutz der Rechtsordnung durch ein besonderes Verfahren, aufzugeben. Es war ihnen offenbar daran gelegen, dieses Prinzip, an

VI. Die politischen Organisationsformen

511

dem sie festhalten wollten, mit der Aufrechterhaltung der Verfahrensherrschaft der Volksversammlung über die Gesetzgebung zu verbinden, und sie haben

dabei unbedenklich auch aktuelle Sachfragen den Nomotheten überwiesen, sei es nun zum Schutz der geltenden Rechtsordnung, sei es zur besonderen Absi-

cherung eines gerade anstehenden Problems. Es bleibt am Nomothesieverfahren und an seiner Entwicklung im 4. Jh. vieles umstritten. Für die Schwierigkeiten, sogar in grundlegenden Fragen zu einer Übereinstimmung zu kommen, ist die Kontroverse zwischen MacDOWELL (679),

HANSEN (682; 683; 627, S.165ff.) und RHODES (684; 685), die fast ausschließlich

auf der unterschiedlichen Interpretation von Passagen aus Reden des Demosthenes (bes. Nr. 20 und 24) und Aischines (Nr. 3) beruht, kennzeichnend. Es geht

dabei vor allem um das Verhältnis des die Nomothesie etablierenden Gesetzes („review law“ genannt) zu zwei späteren Gesetzen, dem „repeal law“, das das „review law“ ergänzt oder ersetzt habe, und dem „inspection law“ aus demosthe-

nischer Zeit. Auch über den Abstimmungsmodus herrscht keine Einigkeit. Für die im Text vertretene offene Abstimmung sprechen sich u.a. MacDOWELL (679, 5.70) und HANSEN (z.B. 683, S.365ff.) aus gegen RHODES (685, 5.58).

Hier ist auch wohl der richtige Ort, um einige Bemerkungen zu dem umfangreichen Buch von OSTWALD (686) über den Wandel der Souveränität des Volkes zu einer Souveränität des Gesetzes anzuschließen, denn obwohl das Buch auf

weiten Strecken den Eindruck einer Geschichte der athenischen Demokratie im 5. Jh. vermittelt (vgl. den Untertitel!), ist es doch rein institutionenkundlich und

hier wieder vornehmlich auf die Gerichtsverfassung sowie auf die Bedeutung des nómos ausgerichtet und insofern eine Art Weiterführung seines Buches über den Nomos im 6. und frühen 5. Jahrhundert (366). Das Buch enthält eine

stringente These. Danach hat das athenische Volk bzw. die Volksversammlung zunächst die volle Souveränität besessen, die nach Mißbrauch dieser Gewalt

durch Demagogen und Anfeindung durch Intellektuelle dann am Ende des 5. Jahrhunderts, nach der Aufstellung eines revidierten Gesetzeskodex und der Übertragung der künftigen Gesetzgebung auf die Nomotheten, in eine Herrschaft des Gesetzes übergegangen sei. Die sowohl in der eigenwilligen Auswahl

als auch eigenwilligen Interpretation von Quellen überreiche Schrift (vgl. die umfangreiche Rezension von N. ROBERTSON: Phoenix 43, 1989, 365-375) leidet

vor allem an einer Überzeichnung der Bedeutung der Gesetzessammlungen nach 410, insbesondere der auf Grund des Teisamenos-Dekrets angeordneten

Sammeltätigkeit, die als eine Arbeit an einem revidierten Gesetzeskodex aufgefaßt wird, der „a new order“ begründet habe. Es werden ferner Rednern und

philosophischen Theoremen eigenständige Kráfte zur Veränderung der Ord-

nung zugemessen und vor allem der Begriff der Souveränität als Erklärungsmodell herangezogen, so als ob die Nomotheten-Kommission (und die Geschworenengerichte) als Konkurrent oder eigenstándige Kraft gegenüber der Volksversammlung angesehen und der Gesetzesgehorsam der Athener als Souveränität

des Gesetzes gedeutet werden könnten. Was soll der Begriff „sovereignty of law“ meinen oder erklären? Es erscheint mir überhaupt bedenklich, das Modell einer Entwicklung der athenischen Demokratie allein mit dem Blick auf Gesetz und

Gerichtsverfassung, also ohne jeden Bezug zu den anderen Faktoren des gesell-

512

ZWEITER TEIL: QUELLEN

UND FORSCHUNG

schaftlichen und politischen Lebens, begründen zu wollen. In kritischer Distanz zu Ostwald auch RAAFLAUB (891, S.40): „Die schriftliche Fixierung politischer

und verfahrensrechtlicher Regelungen, so bedeutungsvoll diese gewiR war, (vermochte) keine neuen Impulse zu geben, die entscheidend zur Verhinderung oder Überwindung der Stasis hätten beitragen kônnen.“ Auch SEALEY (687) hat in seiner Interpretation der athenischen Demokraue den Blick starr auf die Rechtsordnung und die Institutionen der Rechtsprechung gerichtet. Er meint, daß

sowohl die Intention als auch die wesentliche Leistung der Athener in archaischer und klassischer Zeit in der Aufrichtung einer Herrschaft von faktisch dauerhaft gültigen Gesetzen gelegen habe („For the Athenians . . . a law is a law is a law“, 5.52). Die soziale, wirtschaftliche und politische Praxis des Alltags

wird mit dem Satz ausgeblendet, daß die modernen Historiker unglücklicherweise die politische Geschichte und die Verfassungsgeschichte Athens auf den Klassenkampf unter demokratischer bzw. oligarchischer Ägide reduziert hätten (was die Forschung sehr verkürzt wiedergibt). Kritik muß vor allem die übermä-

Rige Betonung des Kodifikationsgedankens bei den Athenern und die Separierung der Rechtsprechung von den übrigen staatlichen Organen, die für das klassische Athen gerade nicht stimmt, finden. Nur wer sich selbst den Blick derartig verstellt und verkürzt, kann denn auch zu dem Ergebnis kommen, daß „Athens was a republic, not a democracy" und die Bezeichnung der politischen Ordnung Athens in klassischer Zeit als démokratía nichts besage (S.146).

Der Rat (boulé) und der Areopag (Areios págos) Von dem Aufbau und den Aufgaben des Rates handelt Aristoteles in einem

zusammenhángenden Abschnitt seiner AP 43,2-49. Eine lustige Ratssitzung, die Aufschlüsse über den Sitzungsablauf enthält, hat Aristophanes, Ritter 624-682, erfunden. Die uns bekannten Teile des Ratsherreneides, die aus den verschiedensten Quellen stammen, hat RHODES (689, 5.194) zusammengestellt und kommentiert; sie lassen interessante Rückschlüsse darauf zu, was den Athenern an

der Arbeit des Rates besonders wichtig erschien, und erlauben auch einen kleinen Einblick in dessen Entwicklungsgeschichte. - Über den Rat referiert ausführlich Arist. AP 43,2-46 (vgl. auch die folgenden Kapitel); zur Dokimasie der Ritter vgl. Arist. AP 49,1, zu der der Behinderten AP 49,4, der Epheben 42,2, der Ratsherren und Archonten AP 45,3; 55,2 und zur Mitregierung des Rates auf

dem Finanzsektor AP 48. - Die Probuleumata des Rates und dessen nichtprobuleumatische Beschlüsse aus dem 5./4.Jh. hat RHODES (689, S.246ff. bzw. 259ff. und 271f.) zusammengestellt. Über die Geschichte des Rates der Fünfhundert ist uns wenig bekannt, und über das, was darüber auf uns gekommen ist, wird heftig gestritten. Einigkeit herrscht darüber, daß der Rat der Fünfhundert nicht von der Phylenreform des Kleisthenes zu trennen ist und darum seine Einrichtung ihm zugesprochen werden muß; darauf verweist auch die Nachricht des Aristoteles AD 22,2, daß der Buleuteneid, der noch bis auf seine Zeit galt, zum ersten Male unter dem

Archonten Hermokreon (wohl 501/00) geschworen wurde. Aber schon die

VI. Die politischen Organisationsformen

513

Frage, ob auch die Prytanenverfassung kleisthenisch oder erst der Zeit des Ephialtes zuzuteilen ist, wie KAHRSTEDT (688, S.8ff.) für erwiesen hält und

RHODES (689, S.17ff.) erwägt, zeigt die Bandbreite der Dissonanzen. Ebenso bleibt in der Schwebe, ob die probuleutische Tätigkeit des Rates, durch die er an

den zentralen politischen Entscheidungen teilhatte und zu der höchsten exekutiven Behörde aufgestiegen ist, schon auf Kleisthenes zurückgeht, wie unter vielen anderen auch DE LAIX in einer neueren Behandlung des Themas (691,

S.19ff.) glaubt, oder sie nicht auch erst der Demokratie der Zeit des Ephialtes bzw. Perikles angehört. Die wenigen Zeugnisse haben manche Gelehrte zu vagen Rekonstruktionen geführt, die den Interpretationsspielraum weit überzie- : hen und bisweilen auch ins Spekulative abirren, wie die Theorie von A. ANDRE-

WES: Probuleusis. Sparta's contribution to the technique of government, 1954, der die Idee des probuleutischen Rates im Sparta des 7. Jhs. entstanden glaubt. Erst in der zweiten Hälfte des 5. Jhs. erfahren wir mehr aus der nun breiter fließenden Literatur und zunehmend auch aus Inschriften. Abgesehen von BUSOLT/SWOBODA (176, S.1019ff.) und HIGNETT (280, S.232ff.)

informieren vor allem die beiden jüngeren, fast gleichzeitig erschienenen Spezialschriften zum Rat von RHODES (689) und DE LAIX (691) über alle anstehenden

Fragen. Während Rhodes die verschiedenen Aspekte des Rates in einer stärker systematisch verfahrenden Arbeitsweise zu erfassen sucht und auch noch die hellenistische Zeit mitbehandelt, konzentriert sich de Laix auf das Verhältnis von

Volksversammlung und Rat in der klassischen Zeit. Letzterer geht bei seinen Untersuchungen vornehmlich von den Verfahrensformen aus, und er kommt

dabei zu einer eher optimistischen Bewertung der politischen Rolle, die der Rat im Verhältnis zur Volksversammlung einnahm, ohne dabei jedoch die Souveränitát der Volksversammlung in Zweifel ziehen zu wollen. (Zu den beiden jüngeren Arbeiten, insbesondere zum Einfluß des Rates auf die Entscheidungen und zu den

Môglichkeiten unserer Erkenntnis vgl. CONNOR, 693). Das Verhältnis von Rat und Volksversammlung beurteilt RHODES (689, bes. 214ff.; vgl. ders., 396) ähn-

lich. Er erkennt sehr richtig, daß der Rat vor allem auf Grund seiner mannigfaltigen Kompetenz und seiner gegenüber der Volksversammlung stárkeren Prásenz (fast täglich Sitzungen; ein Drittel der Prytanen ständig anwesend) eine mächtige Institution war. Sie ist nach ihm auch mit dem Ausbau der Demokratie nicht geschwácht worden, sondern verlor erst mit der Entstehung der zentralen Finanz-

ämter und deren Besetzung durch fähige Männer (Eubulos, Lykurgos) seit der Mitte des 4. Jhs. an Einfluß, und dies dann

zusammen mit der Volksversamm-

lung. Allerdings sieht Rhodes den Rat wiederum nicht als so mächtig an, daß er deswegen durch Reformen hátte beschränkt werden müssen und also die Veränderungen des 4. Jhs. im Aufbau des Rates (Vorsitz; Sekretäre; jurisdiktionelle Gewalt) in diesem Sinne zu verstehen seien. Die letzteren seien vielmehr zur

Herstellung einer größeren Effektivität, zur Verhinderung von Vorteilsnahme

und zur besseren Verteilung der Aufgaben erfolgt (bes. 396). - Zur Strafgewalt des Rates vgl. vor allem RHODES (689, S.144ff.179ff.), wonach der Rat niemals, auch nicht, wie bisweilen angenommen wird, im 5. Jh., eine uneingeschränkte

Strafgewalt besessen habe. - Zu dem Wandel in der Organisation des Ratsschreiberamtes vgl. RHODES (689, S.154ff. und 117, S.599ff.).

514

ZWEITER TEIL: QUELLEN

UND FORSCHUNG

Im Zusammenhang der im Text näher behandelten Einzelfragen sind die Arbeiten wichtig, welche die soziale

Zusammensetzung

des Rates behan-

deln. Aus der Kombination verschiedener, meist auf Inschriften beruhender Angaben glaubt SUNDWALL (830, S.1ff.) entnehmen zu können, daß zumindest

in der Mitte des 4. Jhs. die Wohlhabenderen im Rat überwogen haben, und JONES (629, S.229f.) ist ihm darin gefolgt. RUSCHENBUSCH (692) hält es demge-

genüber für nicht möglich, daß bei Aufrechterhaltung der freiwilligen Kandidatur ohne eine nicht geringe Anzahl von Theten die Ratsstellen in jedem Jahr hátten besetzt werden kónnen. Die Quellen lassen eine gesicherte Entscheidung nicht zu; allgemeinere Erwägungen dürften eher die Überlegungen Ruschenbuschs stützen. Die gründliche, archäologische, epigraphische und literarische Quellen auswertende Untersuchung zur demographischen Struktur des kleinen Demos Atene im Südosten Attikas verweist jedoch auf eine blühende Landschaft ın klassischer Zeit, die einen hohen Prozentsatz von Theten im Landgebiet nicht stützen kann (LOHMANN, 610, S.250ff.). Zum Amtsjahr (buleutischer Kalender): Die von Arist. AP 43,2 für seine

Zeit vorgestellte Regelung wird nicht von allen Gelehrten, so nicht von MERITT (163), als feste Regel anerkannt. PRITCHETT/NEUGEBAUER (164), die sie aner-

kennen, setzen aber eine áhnliche Regelung schon für das 5. Jh. voraus; zur Diskussion vgl. RHODES (689, S.224ff.). Über das Motiv der Reform des Vorsitzes von Volksversammlung und Rat

sind die Ansichten geteilt. Da der neue Ausschuß der Prohedroi mit Sicherheit zum ersten Male im Zusammenhang der Maßnahmen zur Errichtung des ten Athenischen Seebundes genannt wird (379/78, zum Datum s.o. möchten manche den Wandel außenpolitisch begründen, doch bleiben Spekulationen vage. Andere sehen in der Reform das Bemühen um eine

Zwei5.502), solche Entla-

stung der Prytanen durch eine breitere Verteilung der Arbeit auf die Ratsherren (so u. a. H. SCHAEFER, in: RE XXIII, 1959, S.2299f. und RHODES, 689, 5.26).

Aber die Regelungen der Reform verraten zu deutlich die Absicht ihrer Erfinder, als daß die offensichtliche Wirkung, nämlich die Schwächung der Prytanie, ein ungewollter Nebeneffekt gewesen sein kann. Es ist darum die im Text vertretene und in vielen älteren Darstellungen bereits vorgetragene Motivation vorzuziehen. Zum Areopag vgl. THALHEIM (956), WALLACE (957) und HANSEN (627,

5,288- 295) sowie zu dem Umfang und der sozialen Zusammensetzung der Areopagiten wieder HANSEN (958), der unter Heranziehung demographischer Faktoren zum späten Mittelalter und zur römischen Kaiserzeit ihre Zahl mit höchstens 150 ansetzt und unter ihnen ältere und gutsituierte Männer überrepräsentiert sieht.

Die Geschworenengerichte (dikasteria) Die Geschworenengerichte sind in unseren

Quellen

nur in den „Wespen“ des

Arıstophanes (422 aufgeführt) und bei Aristoteles AP 63-69, wo die Verteilung der Richter auf die einzelnen Gerichtshöfe (63-66) und der Prozeßablauf (67-69) beschrieben sind, Gegenstand der Darstellung selbst; im übrigen müssen wir

VI. Die politischen Organisationsformen

515

unsere Kenntnisse aus z. T. weit verstreuten Belegen zusammentragen. Arist. AP 67,4 informiert auch zur Gerichtszeit eines Tages (stark verstümmelter Text) und 67,1 zur Zahl der an einem Tag von einer Sektion zu bewältigenden Prozesse; vgl. dazu den Kommentar von RHODES, 117, S.717ff. Der Heliasteneid ist in seinem vollen Wortlaut bei Demosth. or. 24,149-151 überliefert; doch es ist mit

Sicherheit nur der erste Satz, das übrige hingegen nicht zu jeder Zeit bestándiger

Teil des Eides gewesen; manche Formulierungen sind in veránderter Form oder auch überhaupt niemals gesprochen worden; zur Diskussion vgl. BONNER/ SMITH (183, Bd. 2, S.152ff.). - Zu den auf uns gekommenen

Richtermarken

(pinákia) vgl. KROLL (698; 699). Dort auch über in Gräbern gefundene pinákia. Die Täfelchen sind teils mehrfach verwendet worden. Kroll nimmt an, daf$ die

Richter zwar weiterhin jáhrlich aufgelistet wurden, faktisch aber das pinékion über längere Zeit bei dem einzelnen Bürger verblieb. Bronzene pinékia waren von ca. 378 bis zum Ende der Demokratie in Gebrauch, mit Ausnahme der spáten fünfziger Jahre, als hólzerne Täfelchen eingeführt wurden, die dann auch

noch bis 322/21 neben den bronzenen verwendet worden sind. - Die im 4. Jh.

gebräuchlichen bronzenen Abstimmungsscheiben (Abb. 5.212) sind sehr verstreut publiziert; die Publikationsorte (bis 1963) hat BOEGEHOLD (640, S.366

Anm.1) zusammengestellt. - Unter den Richtern sind Grundbesitzer aus Land und Stadt: Demosth. 45,86; 55,17.26. - Zum Wechsel in der Anrede der Richter:

z. B. Demosth. 24 ándres Atbénaíoi (6.96.106.170.186.200) im Wechsel mit dikastaí bzw. ándres dikastaf sowie Aischin. 1 durchweg ándres Athenatoi. ἡ

Allgemeine Informationen zu den Gerichten finden sich bei LIPSIUS (708, S.134166), HOMMEL

(697), BUSOLT/SWOBODA

(176, S.1150-1167), BONNER/SMITH

(183, Bd. 1, bes. S.346ff.) und MacDOWELL (710).

Es herrscht keine Einigkeit über den

Zeitpunkt, zu dem die Geschwore-

nengerichte die Form fanden, die wir aus der entwickelten Demokratie kennen.

Die Verbindung von Geschworenengericht und Demokratie ist allerdings nicht strittig, und von den meisten wird auch die wohl im frühen 6. Jh., wahrschein-

lich von Solon als Berufungsinstanz gegen Sprüche von Beamten eingerichtete Heliaia als eine Vorstufe der Dikasterien angesehen (vgl. etwa HIGNETT, 280,

S.97f£.216f.). Das genaue Datum der Einrichtung der Geschworenengerichte in ihrer uns spáter bekannten Form hángt danach wesentlich davon ab, welchen Zeitpunkt der einzelne Forscher für die Anfänge der Demokratie ansetzt. BUSOLT/SWOBODA (176, S.883f.) sehen in Kleisthenes den Reformator der Gerichte, BONNER/SMITH (183, Bd. 1, S.223f.) hingegen verbinden die Weiterent-

wicklung des Gerichtswesens mit den Veränderungen, die u.a. zur Losung des Archontats und also zur Schwächung der Beamtengewalt geführt haben, und HIGNETT (280, S.216ff.) vermutet den entscheidenden Wandel in den Jahren

unmittelbar nach dem Tode des Ephialtes. Auf diese drei zeitlichen Ansätze, die gleichzeitig als Beginn der Demokratie diskutiert werden, verteilen sich die meisten anderen Rekonstruktionsversuche. Auf der gegebenen Quellenlage ist eine sichere Entscheidung allerdings schwer möglich. Haben sich aus der Berufungsinstanz Solons schon vor Ephialtes mehrere Gerichtshöfe entwickelt, die auch bereits in erster Instanz urteilten, ist doch die außergewöhnliche Dynamik

516

ZWEITER TEIL: QUELLEN

UND FORSCHUNG

der Geschworenengerichte und ihre omnipotente Stellung innerhalb des ganzen Gerichtssystems sıcher nicht vor der Mitte des 5. Jhs. anzusetzen. Wie immer

man auch datiert, sollte die Entwicklung der Gerichtsorganisation von der der Gerichtspraxis, die den gegebenen Rahmen auch ausfüllte, getrennt werden. Zur

Rekonstruktion der Entwicklung vgl. auch o. S.457f. und dort insbesondere

HUMPHREYS (364).

In einer Spezialstudie hat sich FRÁNKEL vor allem über die óffentliche Stel-

lung des Richters

Gedanken gemacht (695, S.20ff.). Er ist es auch, der

außergewöhnliche Mühe auf den Nachweis verwendet hat, daß sich zu jeder Zeit der Demokratie, also auch schon im 5. Jh., alle Athener zum Richteramt

melden durften und angenommen wurden, also die Anzahl der Richter niemals auf 6 000 Personen, die aus den sich Meldenden auszulosen wären, beschränkt

gewesen sei. Die bei Aristophanes, Wespen 611, überlieferte Zahl läßt sich indessen nicht leicht aus dem Weg ráumen. Die Entwicklung des Systems der VerteilungderRichterauf die Geschworenenhófe ist nicht leicht zu übersehen. Nur die jüngste Phase ist durch Arist. AP 63ff. besser zu überblicken; auf die im Text beschriebene zweite Phase verweisen die beiden letzten Komödien des Aristophanes, die „Ekklesiazusen“

und der „Plutos“ (392 bzw. 388 aufgeführt). Vgl. zu den einzelnen recht kontroversen Fragen vor allem BONNER/SMITH (183, Bd. 1, S.365ff.). Das Verfahren hat neuerdings KROLL (698; 699) vor allem anhand der auf uns gekommenen bron-

zenen Kennmarken, die auch nach Aristoteles bei dem Vorgang der Losung verwendet wurden, untersucht. - Zu der Anzahl von Gerichtstagen im Jahr vgl. HANSEN (700; 627, S.186f.). - Gegen die Annahme, daß wie in der Volksver-

sammlung so auch in den Dikasterien zumindest in demosthenischer Zeit die Wohlhabenden die Mehrheit bildeten (z. B. A.H.M. JONES: Athenian democracy, 1957, 36f.), zuletzt mit guten Argumenten HANSEN (627, S.185f.). - Zu den

Prozessen auf Grund von Rechtshilfevertrágen und zum Gerichtsstand Athen

bei Prozessen gegen Bundesgenossen bzw. bundesgenóssische Stádte des Ersten Athenischen Seebundes vgl. STE. CROIX (407) und SCHULLER (401, S.48ff.), zu

der Berufung von Bundesgenossen aus abgefallenen Stádten des Zweiten Athe-

nischen Seebundes S.134ff.).

an athenische

Geschworenengerichte

Im Hinblick auf die Frage nach dem

Charakter

des

CARGILLL

(438,

athenischen

Rechts, seinen Zielen und seiner Problematik sei zunächst zur allgemeinen Information über die Richter, das materielle Recht und die Prozeßverfahren

noch einmal auf das Handbuch von LIPSIUS (708) sowie auf den jüngeren Überblick über das athenische Recht von MacDOWELL (710) verwiesen. Der Frage nach dem Charakter des athenischen Rechts geht OSBORNE (711) in einer ein-

dringenden Studie nach. In ihr rückt er vor allem die Gesetzespraxis, in der u.a. auch die verschiedenen Möglichkeiten einer Klage wegen derselben Sache erörtert werden, in den Vordergrund und bestimmt abschließend den gesellschaftlichen und „politischen“ Stellenwert des athenischen Rechts damit, daß dieses jedenfalls eher als ein „politisches“ denn als „juristisches“ System zu interpretie-

ren und es also eher um Streitschlichtung als um Rechtsfindung gegangen sei. Osborne nimmt damit einen Gedanken von FINLEY (304, S.124) auf, der unter

VL Die politischen Organisationsformen

517

Berufung auf Gernet von einer „gewollten Offenheit des Rechts“ in Athen

gesprochen hat. Wenn Finley sich dabei auf das für die meisten Zivilverfahren ın Athen obligatorische Schiedsgericht beruft, das ja von seiner Natur her offen ist, hat er damit allerdings noch wenig über die Rechtsprechung der formellen Gerichte gesagt. Positionen wie diese nehmen eine gewisse Gegenposition zu der auch von mir im Text aufgenommenen und mir keineswegs widerlegt erscheinenden Ansicht von HJ. WOLFF (vgl. insbesondere seine beiden kleinen, zusammenfassenden Aufsätze über die juristische Gräzistik, 196, und über De-

mosthenes als Advokat, 705) über den rein positivistischen Charakter des athenischen Rechtssystems ein, wonach die Billigkeit kein Kriterium der Urteilsfindung gewesen sei und hierin auch die Philosophen keinen Wandel gebracht hätten, deren Gedanken zu der Spannung zwischen Recht und Gerechtigkeit/

Billigkeit vielmehr auf den philosophischen Bereich beschränkt blieben; vgl. dazu ferner auch MEYER-LAURIN (715) und WOLFF (196, S.4ff.). Zu der Entwick-

lung der Forschung zum griechischen Recht, insbesondere auch zu ihrer Abhängigkeit von der Romanistik, und zu dem Verhältnis von griechischem und

athenischem Recht sowie zum Charakter des letzteren vgl. neuerdings TODD/ MILLETT (707).

Das Verbot der Anwendung

ungeschriebenen Rechts (ἄγραφος νόμος)

steht bei Andok. 1,85.87.89. Dazu vgl. die Spezialschrift von HIRZEL (192), der die Spannung zwischen dem ungeschriebenen und dem gesetzten Recht als einen Streit zwischen göttlichem Recht und menschlicher Satzung, zwischen dem allgemeinen Gesetz der Natur und den individuellen Rechten, sogar zwischen ,,Moralitát und Legalität“ (5.96) sieht und die gegensätzlichen Bereiche

jeweils Athen und Sparta zuordnet. Die sehr kenntnisreiche Studie leidet unter der scharfen Dichotomie der beiden Rechtssphären und unter der Interpretation ihres Spannungsverháltnisses als eines Kampfes. Sie ist indessen wohl geeignet, die Problematik dieses Verhältnisses zu verdeutlichen. - Die Anschauung von

dem góttlichen Ursprung der nómoi, sowohl der für die einzelne Stadt niedergesetzten als auch der ungeschriebenen, für alle Menschen

geltenden, hat die

Sophistik überdauert; vgl. dazu die übergreifende, für ein größeres Publikum bestimmte Skizze von LESKY (193).

Ist es deutlich, daß die Grundlage des richterlichen Urteils stets das positive Gesetz gewesen war, bleibt zu fragen, ob die Richter sich immer daran gehalten

haben oder sie nicht vielmehr ihre unabhängige, souveräne Stellung dahin geführt hat, gelegentlich oder gar oft selbstherrlich zu urteilen, und sie darin nicht Unrecht, sondern die Anwendung eines demokratischen Prinzips gesehen haben, wonach sowohl der Gesetzgeber als auch die Richter das Volk darstellten

und also Rechtsprechung und Gesetzgebung nur zwei Tátigkeiten eines

Souveräns seien. Die Selbstherrlichkeit der Richter kann sich in doppelter Weise äußern, einmal darin, daß die Gerichtshófe in der Gerichts praxis willkürlich

urteilen, zum anderen darin, daß sie Gesetzgebung auch in einem formellen Sinne ausüben, das heißt, sie Gesetze machen. Beide Aspekte sollen im folgen-

den untersucht werden. Die athenische Gerichtspraxis ist von vielen Gelehrten hart getadelt, von nicht wenigen sogar als Muster einer Willkürjustiz hingestellt worden. Als

518

ZWEITER TEIL: QUELLEN

UND FORSCHUNG

Grund werden die Menge der Richter und deren mangelnde juristische Kenntnisse genannt, aber meist die Begründung durch den Bericht von Justizskanda-

len ersetzt. Offensichtlich steht hier ein modernes Vorurteil einer angemessenen Würdigung des athenischen Rechtssystems im Wege. Dem Verdikt von M. FRÄNKEL (695, S.109f.), daß „die einzige Norm für die Urteilsfindung das subjective

Belieben des Richters“ gewesen sei, hat vor nicht allzu langer Zeit mit ähnlich

scharfer Formulierung RUSCHENBUSCH (717, S.266f.) zugestimmt. Auch wenn man davon spricht, daß die Gesetze zu großzügig ausgelegt worden oder zu wenig eindeutig und „streng“ gewesen seien (VINOGRADOFF, 188, S.63ff.; vgl. auch JONES, 191, S.64ff.135), geht man davon aus, daß das Rechtssystem der Athener den Sinn einer jeden Rechtsordnung verfehlt habe, und es wird dabei

immer wieder auf die nicht wenigen Klagen in unseren Quellen hingewiesen, nach denen die Richter willkürlich und in bewußter Rechtsbeugung gerichtet hätten (vgl. die Diskussion bei MEINECKE, 716, S.275ff.; dort und bei FRÄNKEL

a.O. auch einige Belege zu den antiken Vorwürfen insbesondere bei Aristophanes und Platon). Doch die Richterschelte ist noch kein Beweis für den Wert eines

Rechtssystems, und sie ist bei den Philosophen selbstverständlich in aller Regel

die Konsequenz ihrer antidemokratischen Grundeinstellung. Aristophanes, der sein Urteil vor dem Volk, und das heißt auch: vor der versammelten Richter-

schaft vorträgt, ist eher ein Beweis dafür, daß die Kritik Auswüchse brandmarken und also ermahnen wollte. Eine angemessene Würdigung des athenischen

Rechtssystems kann darum auch nur aus einer Interpretation der Gerichtspraxis selbst, und das heißt: der uns überlieferten Gerichtsreden erfolgen. Untersu-

chungen von WOLFF (195; zu den methodischen Problemen der Interpretation der auf uns gekommenen Gerichtsreden vgl. ders., 714) und MEINECKE (716)

haben ergeben, daß es den Rednern stets darum geht, die Richter von der Übereinstimmung ihrer Tatsachenbehauptungen mit dem Wortlaut der Geset-

zestexte zu überzeugen und gerade die angewandten Tricks, Verzerrungen und Verschleierungen ebendiesem Ziel dienen. - Das Gebot der wörtlichen Befolgung der Gesetze und das Verbot der Gesetzesinterpretation ist auch als Generalregel bewußt gewesen und im späteren 4. Jh. - ob nun zu Recht oder zu

Unrecht, sei dahingestellt - auf Solon zurückgeführt worden (Arıst. AP 11,1). Wenn Demosthenes 20,118 sagt, daß die Richter in ihrem Richtereid geschworen haben, nach den Gesetzen zu richten, sie aber dann, wenn kein Gesetz für

eine Sache vorliege, nach bestem Wissen und Gewissen (yvoun τῇ δικαιοτάτη, wörtl. „nach gerechtester Erkenntnis“) urteilen sollen, ist das gewiß nicht als

eine allgemeine richterliche Norm (und formeller Teil des Richtereides) für den Fall einer Gesetzeslücke zu verstehen (so H.J. WOLFF, in: Lexikon der Alten Welt,

1965, 2516f.; dagegen G. THÜR: Ztschr. Sav. Stiftg. 120, 1990, 443), sondern als

ein von Demosthenes an dieser Stelle ausgesprochener Gedanke, der angesichts der Vorstellung, daß die vorhandenen Gesetze im Prinzip alle denkbaren Sachen abdecken, in der richterlichen Praxis als ein Problem nicht allgemein bewußt

war und darum auch als Regel nicht formuliert werden konnte. Es gab in Athen keine Theorie, nach der Gesetzeslücken ausgefüllt werden konnten, und sie ist angesichts der Massengerichte, in denen die Urteilsgrundlage der Richter nicht

diskutiert wird und der einzelne Richter geheim abstimmt, auch ganz undenk-

VI. Die politischen Organisationsformen

519

bar. Die Interpretation eines Sachverhalts etwa nach Gesetzesanalogie durch den Richter hätte sogar als Willkür angesehen werden können. Zu dem Problem der Ausfüllung von Gesetzeslücken im griechischen Recht vgl. TRIANTAPHYLLOPOULOS (190, S.26ff. und dazu U. MANTHE: Gnomon 62, 1990, 289ff.). - Zur Bedeutung der Beweismittel für den Richter und zum Problem der Wahrheitsfindung gegenüber Tatsachenbehauptungen der Parteien und Zeugen vgl. G. THÜR: Beweisführung vor den Schwurgerichtshöfen Athens. Die Proklesis zur Banasos, Österr. Akad. d. Wiss., philos.-histor. Kl., Sitz. ber. 317. Bd., 1977, bes.

315ff. - Wenn HILLGRUBER (65) gegen diejenigen modernen Gelehrten, die in dem athenischen Rechtssystem einen strengen Rechtspositivismus verwirklicht sehen, von der 10. Rede des Lysias (gegen Theomnestos, 384/83) ausgehend, von

Gesetzesinterpretation und Gesetzesauslegung bei den Rednern sprechen zu dürfen glaubt, ist darauf zu antworten, daß es sich bei diesen Interpretationen und Auslegungen, wie Hillgruber übrigens selber sieht, um gewollte Verzerrungen, Sinnentstellungen, willkürliche Füllung von Lücken, grob falsche Wortbzw. Sinndeutung u.a. handelt. Sind solche Vergewaltigungen der Gesetzesmaterie unbestreitbar, sind sie doch keine „Interpretationen“ oder „Auslegungen“

des Gesetzes. Sie sind keine Urteilskriterien im Sinne der Rechtsordnung, sondern Mißbrauch des Rechts und als solche Zeugnis für die Schwäche der positivistischen Urteilspraxis.

Die angebliche Rechtswillkür der athenischen Gerichtshófe ist von RUSCHENBUSCH (717) auch damit begründet worden, daß über die Rechtmäßig-

keit einer Klage und über Gesetzeslücken von einer juristisch nicht gebildeten Masse nur willkürlich entschieden werden kónne; Rechtsunsicherheit sei die

Folge. Dieser Ansicht entsprechend werden dann Formulierungen des Aristoteles, die davon sprechen, daf$ das Gericht Herr (kyrios) über alles sei (z. B. Arist. AP 9,1; 41,2 und Pol. 1273b41ff.) so interpretiert, als ob sie sagen

wollten, daf$ das Volk über das Recht allmáchtig wie der Tyrann ist, und nicht, daß es allmächtig ist, insofern es der Gerichtsherr ist, der nach bestem Vermó-

gen (und mit allen denkbaren Schwächen und gelegentlichen Anwandlungen von Mißbrauch der Macht) urteilt. Eine solche Ansicht muß denn auch not-

wendig zu dem Schluf kommen, daf erst die Einrichtung einer autoritáren Kontrollinstanz in Gestalt der Nomophylakes (nomophylakes) unter Demetrios von Phaleron und die damit verbundene Entmachtung und Entlastung der Volksgerichte zu Rechtssicherheit führen und „der Politik ihre Beweglichkeit" zurückgeben konnten (a.O. S. 273).

Die Vorstellung von der Allmacht der Geschworenengerichte hat auch zu der Konstruktion einer eigentümlichen Entwicklungsgeschichte des athenischen Rechtswesens geführt. Von WEDEL (848) glaubt anhand einer Untersuchung der politischen Prozesse des 5. Jhs. feststellen zu können, daß sich die Athener in vordemokratischer Zeit, also bis ca. 462, um die Durchsetzung der Gesetze und

die Aufrechterhaltung fester Verfahrensregeln bemüht hátten; in der zweiten Hälfte des 5. Jhs. jedoch, nach Einrichtung der Geschworenengerichte in der

uns bekannten Form, sei ein Wandel eingetreten. Die politischen Prozesse seien zwar fórmlich korrekt zustande gekommen und die Richter hátten subjektiv gerecht geurteilt, doch habe deswegen, weil die Gerichte souverán waren und

520

ZWEITER TEIL: QUELLEN

UND FORSCHUNG

darum Rechtsprechung und Gesetzgebung ineinanderflossen, nur eine rein formelle Garantie für ein ordentliches Verfahren bestanden (5.158). Die abso-

lute Souveränität in der Rechtsprechung sei zum ersten Mal durch den Protest gegen die Urteilspraxis beim Arginusen-Prozeß angegriffen, darauf durch Paranomie-Klage, durch das Verbot der Zitierung ungeschriebenen Rechts, durch die Nomothesie und andere Verfahrensregelungen regelrecht eingeschränkt

worden,

so daß

man

schließlich

Rechtsstaatlichkeit“ (5.188) gekommen

im

4. Jh. zu einer „materiellen

sei. Die These ist originell; aber die

Entwicklung von Rechtspraxis und Rechtsbewußtsein in Athen als einen Kreislauf zu sehen, ist nur durch das Vorurteil möglich geworden, daß im 5. Jh.

die Geschworenengerichte in der Rechtsanwendung tatsächlich souverän verfahren seien; zudem ist hier das Vorurteil ausschließlich anhand der politischen Prozesse überprüft worden, die nicht als Maßstab der gesamten Gerichtspraxis genommen werden sollten. Die andere in dem Verhältnis zwischen Rechtsprechung und Gesetzgebung zu erörternde Frage, ob die Gerichtshöfe auch Gesetze im formellen Sinne

beschlossen haben, ist jedenfalls für die Nomothesie positiv zu beant-

worten; zur Diskussion über die damit verbundenen Probleme vgl. o. S. 509ff.

Ob über das formalisierte Gesetzgebungsverfahren hinaus jedoch das richterliche Urteil auch durch die Gerichtspraxis den Volksbeschluf$ bei Gelegenheit ersetzt hat, ist strittig. Es kommen hierfür im Grunde nur Paranomie-Klagen in Frage, bei denen es um einen Gesetzesantrag ging. Unzweifelhaft haben nun hier die Urteile der Gerichtshófe solche Volksbeschlüsse, gegen die Klage wegen

Verfassungswidrigkeit erhoben wurde, oder Antráge auf solche Beschlüsse (proboules mata) kassieren können. Aber hat das Gerichtsurteil, wie HANSEN (645)

meint, in dem Fall, daf$ eine Klage gegen einen angeblich verfassungswidrigen Antrag abgelehnt wurde, den an sich darauf noch fälligen Volksbeschluß ersetzt und das Gericht also nicht, wie in den anderen Fällen, nur kassieren, sondern

auch anstelle der Volksversammlung die positive Norm

setzen kónnen?

Die beiden einzigen Beispiele aus demosthenischer Zeit lassen diesen Schluß jedenfalls nicht mit der von HANSEN behaupteten Sicherheit zu, wie HANNICK

(647) gezeigt hat. Bei der Verschlungenheit der Entscheidungen von Volksversammlung und Gerichtshófen ist auch überlegt worden, wie denn die beiden Institutionen

sich zueinander verhalten. Sie erscheinen so eng miteinander verbunden, daß HANSEN (645, S.9ff.) meinte, die Souveränität der Volksversammlung besonders

herausheben zu müssen. Obwohl er die in Athen mangelnde Gewaltenteilung

deutlich sieht und auch die antiken Formulierungen, die Volk und Richter zusammenrücken, kennt, bestreitet er insbesondere in Absetzung zu FINLEY (655, S.10f., ähnlich schon SCHULTHESS, 696, S.18ff.), der die Gerichte nicht als Teil (reduction), sondern als Ausdruck (expression) der absoluten Volksmacht

sehen möchte, daß das Volk bzw. die Volksversammlung und die Dikasterien miteinander identifiziert werden kónnten; die letzteren hátten das Volk lediglich repräsentiert und kontrolliert. Eine scharfe begriffliche Fixierung des Verhältnisses, welche Begriffe wie „Identität“ und „Repräsentation“ ernst nimmt,

kann indessen leicht zu Mißverständnissen führen. Denn in einem formellen

VI. Die politischen Organisationsformen

521

Sinne bilden die beiden Institutionen natürlich keine Einheit, und dies hat

Finley auch nicht gemeint; ebensowenig können die Richter das Volk formell repräsentieren. Es geht lediglich darum, daß das, was der Demos in der Volksversammlung und die Richter in ihren Dikasterien beschließen, sich auf wichtigen Gebieten (Nomothesie; politische Justiz) deckt oder überschneidet und daß

die reine Masse der Richter den allgemeinen Eindruck von Volk vermitteln

kann. Es handelt sich also um einen durch die faktischen Verhältnisse vermittelten Eindruck von der Nähe der Dikasterien zur Volksversammlung und der Richter (als eine ideelle Gesamtheit) zum Demos, und gerade diesen Eindruck hat nicht erst der moderne Interpret, sondern hatten bereits die Athener selbst gewonnen. In einem späteren Aufsatz hat HANSEN (646) denn auch seine Aus-

führungen abgeschwächt; er spricht nunmehr von „a separate body of government independent of the ecclesia“ (S.146) und unterscheidet sich damit nur noch ın Nuancen von denen, welche die Dikasterien für eine andere Form der

Volksversammlung halten. Zur Kritik an Hansen vgl. auch LOTZE (819).

Zu den Rednern undder forensischen Rhetorik vgl. das monumentale Werk von BLASS (701), das auch die Biographien der Redner und ausführli-

che Inhaltsangaben aller Reden enthält, und die der Rhetorik im engeren Sinne gewidmeten Handbücher von KENNEDY (702) und MARTIN (703) sowie den kleinen Überblick von EISENHUT (704). Sehr lehrreich ist der bereits zitierte

Aufsatz von H.J. WOLFF (705) über die rhetorische Technik des Demosthenes; er zeigt, daß der Forschung noch viel zu tun übrigbleibt, um das Geflecht von

rhetorischem Handwerk, Argumentationstechnik und praktischen Tricks zu durchschauen und dabei zu der Rechtslage, die dem jeweiligen Prozeß zugrunde liegt, durchzustoßen. Dem Einfluß der rhetorischen Technik auf das Recht ist

auch E. WOLF in seinem großen Werk über das griechische Rechtsdenken nachgegangen (189, Bd. 3,2). Der Stellung von Klägern, Beklagten und ihren Helfern (Advokaten und Redeschreibern) sowie ihrer aller Arbeitsweise im Prozeßbe-

trieb hat BONNER (706) eine eigene, flüssig geschriebene Untersuchung gewid-

met.

Die Beamten

Die einzigen Quelle n, welche die Beamten Athens zusammenhängend beschreiben, sind Aristoteles, AP 47-62 und Aischin. 3,13-15.29. Auch die „Poli-

uk“ des Aristoteles enthält viele wichtige Hinweise auf die Organisation und den besonderen Charakter der demokratischen Beamtenschaft, insbesondere

12992-1300b; 1317b; 1321b12-1323a10. Im übrigen stammen unsere Nachrichten aus den verschiedensten Quellengattungen, in denen der Beamte meist nicht

um seiner selbst willen genannt ist. Zur Privilegierung des Beamten durch das Deliktrecht: Demosth. 21,32f. Als Handbuch zu den athenischen Beamten ist die Staatskunde von BUSOLT/

SWOBODA (176, 1054-1150) trotz ihres Alters und mancher Schwächen der

Darstellung und Interpretation noch nicht ersetzt worden. Das weit ausführlichere Buch von KAHRSTEDT über den athenischen Beamten (720) besticht durch

522

ZWEITER TEIL: QUELLEN

UND FORSCHUNG

Detailkenntnisse und sein in vielen Einzelfragen treffsicheres Urteil; doch hat es den schon im Titel angedeuteten Anspruch, ein Gegenstück zu dem 1. Band des „Römischen Staatsrechts“ von MOMMSEN zu sein, nicht erfüllt. Denn gerade die

durch den Vergleich erzwungene Hervorhebung des Amtscharakters verfehlt das Wesen

des athenischen

Beamten,

der eben nicht Beamter im römischen

Sinne, sondern rechenschaftspflichtiger Geschäftsträger ohne jede Eigeninitiative ist; vgl. dazu o. 5. 237ff. Eine kleinere, sehr summarische Behandlung der

Beamten findet sich bei TARKIAINEN (625, S.262ff.), eine etwas umfangreichere, die neuere Forschung einschlieRende bei HANSEN (627, S.225-245). Eine nützli-

che Hilfe ist auch die Prosopographie der athenischen Beamten bis zum Ende der Demokratie im Jahre 321 von DEVELIN (721). In ihr sind die Beamten Jahr

für Jahr aufgeführt und darüber hinaus durch Personen- und Phylen/Demen-Indices erschlossen. Die Brauchbarkeit dieses Handbuches ist dadurch wesentlich erhöht, daß der Begriff des Beamten weit gefaßt wurde; er enthält auch die

Ratsherren und die kurzfristigen Geschäftsträger, wie Gesandte und Priester

(Opferer), sowie die Antragsteller von Beschlüssen des Rates und der Volksversammlung.

Zu dem Begriff des Beamten vgl. HANSEN (722; S.152ff.). Dort hat er auch die Belege für das Mindestalter

der Beamten zusammengetragen (S.167ff.; DE-

VELIN, 723, meldet bedenkenswerte Zweifel an, ob das von Hansen und anderen

verteidigte Mindestalter von 30 Jahren - außer für militärische Beamte - wirk-

lich durchgängig galt) und die Zahl der athenischen Beamten zu bestimmen versucht. Zählt man die von Arist. AP a.O. aufgezählten Beamtenstellen zusammen, kommt man auf gut 320 Stellen; entsprechend haben die meisten Forscher, so auch noch JONES (459, S.6 mit Anm.9), die Gesamtzahl auf ca. 350 festgesetzt. Doch es fehlen bei Aristoteles wohl weit mehr Beamte, als die meisten Gelehr-

ten vermutet haben. HANSEN errechnet a.O. eine Gesamtzahl von 600-700

Beamten und bestätigt damit die von Arist. AP 24,3 angegebene Zahl von 700. Die Wendung „von den Panathenäen zu den Amtsdauer kann eine einjährige oder nachdem man die Kleinen oder die Großen in der Forschung mit beiden Móglichkeiten

Panathenäen“ zur Bezeichnung der vierjährige Amtsfrist bedeuten, je Panathenäen zugrunde legt. Es wird gerechnet, doch hat DEVELIN (724)

gute Gründe dafür vorgebracht, daß die Wendung sich immer auf einen vierjährigen Zyklus bezieht und es also ein einjáhriges Amt mit dieser Amtsfrist gar nicht gegeben hat. - Eine nicht unwichtige Kontroverse hat sich über die Bedeutung der seit Solon bestehenden Zensusklassen entwickelt. KAHRSTEDT (720, S.249ff.) vertrat die Ansicht, daß die von Solon eingerichteten und auf

Einkommen aus landwirtschaftlichen Erträgen basierenden drei Klassen der Pentakosiomedimnen, Hippeis und Zeugiten (die sogenannte vierte Klasse, die Theten, umfaßte alle Athener, die keinen Zeugitenzensus aufbrachten) niemals in Drachmen

umgerechnet worden seien (so auch STE. CROIX. 742, S.42ff.),

folglich (?) die Klasseneinteilung im 5. und 4. Jh. ohne jede Bedeutung und die Frage nach der Klasse bei der Dokimasie (Arist. AP 7,4) nur eine leere Form

gewesen sei. Wäre das richtig, sind die nicht wenigen Belege zu dem Weiterleben der Klassen jedoch nicht leicht verständlich. Wenn die Klassen auch als Qualifi-

kationsmerkmal für die meisten Ämter unbeachtet geblieben sein dürften,

VI. Die politischen Organisationsformen

523

haben sie für einige wenige doch weiterhin Bedeutung gehabt und sind auch sonst als ein Einteilungsprinzip der Bürgerschaft nicht aus dem Bewußtsein verschwunden; vgl. in diesem Sinne HIGNETT (280, S.225ff.). - Zu der Ansicht,

daf die Kollegialitát

zum Ausgleich von Inkompetenz einzelner Beamter

eingeführt und zum durchgángigen Prinzip erhoben worden sei, neigt z. B. GLOTZ (622, 5.249); dagegen mit berechtigter Kritik HANSEN (627, S.238f.). - Zu

den nicht vollstándigen Kollegien der Schatzmeister der Athena vgl. W. KOLBE: Zur athenischen Schatzverwaltung im IV. Jahrhundert, in: Philologus 84, 1929, 261-267, zu den der Poleten Margaret CROSBY: Hesperia 10, 1941, 14ff., Nr. 1 (Poletenbericht von 367/66). - Nach DEVELIN (763) ist der Vorsitz in Finanzkol-

legien in anderer Weise geregelt gewesen als in den übrigen Kollegien; die

ersteren hatten danach einen im Prytanie-Rhytmus rotierenden Vorsitzenden, der Prytanis hieß, also keinen für die gesamte Amtszeit bestellten Obmann. Für die Prozedur der Wahl sind wir auf Vermutungen angewiesen; eine erwägenswerte Rekonstruktion bietet HANSEN (632, S.49ff.; 627, S.235).

Der Grundsatz der abwechselnden Beteiligung aller an den Ámtern ist vor allem in der Wendung ἐν μέρει (,,reihum") enthalten und steht so zuerst bei

Eurip. Hiket. 406; ders. Herakl. 182 hat den Begriff auf die Fáhigkeit aller zur Teilnahme an der Diskussion bezogen. Die Bedeutung von Los und Rechen-

schaftspflicht als Instrumente der Bindung des Beamten an die Masse hat bereits Herodot 3,80,6 klar ausgesprochen. Den Gedanken, daß der Demos die Ämter beherrsche, finden wir bereits bei

dem Autor der pseudo-xenophontischen Schrift vom Staat der Athener (3,13).

Die Bedeutungslosigkeit des einzelnen Amtes reflektieren alle unsere Quellen, und sie bedarf darum nicht des Beleges; für das abnehmende Gewicht selbst der

Strategen ist Demost. 4,26 ein eindrucksvolles Zeugnis. Der durch das System vorgegebene Mangel an Einfluß aller Beamten hat in der modernen Forschung gelegentlich dazu geführt, den Untersekretären, die oft Freigelassene oder son-

stige Nichtbürger waren, und den zahlreichen Amtsdienern des Rates und der Beamten, die in aller Regel dem Sklavenstand angehörten, ein größeres Gewicht einzuräumen, weil sie allein ihren Dienst für das öffentliche Leben nicht wie die

Bürger mit zeitlicher Begrenzung, sondern oft ihr ganzes Leben hindurch ausübten und dadurch, daß sie meist viele Ämter durchliefen, eine umfassende

Kenntnis von den verschiedenen Materien und deren Behandlung gewannen. Es geht indessen zu weit, die Effektivität und Lebensfähigkeit der athenischen Verwaltung auf sie abzustellen (in diesem Sinne etwa GLOTZ/COHEN, S.264f.; vgl. HANSEN, 627, 5.245).

154,

Zu dem Streit um die Existenz eines innerhalb des Strategenkollegiums mit besonderer Vollmacht ausgerüsteten „Oberstrategen“ vgl. o. S. 503f. - Eine Liste der athenischen Gesandtschaften findet sich bei KIENAST (733, S.595ff.). Das Finanzwesen der Stadt

Noch mehr als für andere Bereiche des óffentlichen Lebens gilt für das Finanzwesen, daß wir unser Bild aus vielen Einzeldaten, die dazu oft mehrdeutig sind,

zusammensetzen müssen. Die Autoren der wenigen ókonomischen Schriften,

524

ZWEITER TEIL: QUELLEN

UND FORSCHUNG

die wir besitzen (zu ihnen vgl. o. S. 477f.), wollen weniger das Finanzwesen der

Stadt beschreiben als Ratschläge für die Verbesserung der Staatseinkünfte geben. Im folgenden sollen vor Behandlung von Forschungsproblemen einige wenige

Angaben unserer Quellen vorgelegt werden, die für die Rekonstruktion der athenischen Finanzwirtschaft wesentlich und auch ım Text besonders berücksichtigt worden sind. Daß die Autonomie der Staatswirtschaft selbst in der ausgebildeten Demo-

kratie nur mangelhaft entwickelt ist und der Bereich der öffentlichen Finanzen sich weitgehend in einer mehr oder minder mechanischen Abdeckung bestimmter Ausgaben mit bestimmten Einnahmen erschöpft, ist neben vielem anderen

auch besonders deutlich der Schrift Xenophons über die Staatseinkünfte zu entnehmen. In ihr schlägt der Autor zwecks Erhöhung der krisenfesten Einnahmen vor, daß die Stadt sukzessive soviel Staatssklaven ankaufen und an Pächter

von Bergwerkskonzessionen vergeben solle, daß jedem Athener eine Pension von drei Obolen täglich (das ist der für den Lebensunterhalt eines Sklaven hinreichende Betrag; vgl. RE IX, 1916, 1426) ausgezahlt werden könne. Xeno-

phon ist hier nicht über die Überlegungen hinausgekommen, die man in Athen am Beginn des 5. Jhs., als die Silbergruben von Laureion große Gewinne abzuwerfen begannen, über die Verwendung der Überschüsse angestellt hatte; zum Text bei Xenophon vgl. AUDRING und SCHÜTRUMPF (u. 5.589) sowie BREITENBACH (34) und GAUTHIER (35). Zur Verteilung der Überschüsse als einem ge-

meingriechischen Gedanken der älteren Zeit vgl. LATTE (737).

Es ist wichtig zu wissen, daß die verschiedenen Sparten der Einnahmen bereits im 4. Jh. abstrakt erkannt und bezeichnet worden sind. Ps.-Arist. Oec.

1346a nennt nämlıch als die drei Haupteinnahmequellen einer Stadt die Renditen aus dem städtischen Grundbesitz, die Einnahmen aus dem Handels- und Durchgangsverkehr und die enkyklischen Leiturgien. Sofern man unter den

Einkünften nur die ordentlichen versteht und unter dem städtischen Grundbesitz vor allem an die Bergwerke denkt, treffen diese Angaben im groben auch für Athen zu.

Arıstoph. Wespen 656f. nennt in einer Aufzählung der Einnahmen Athens an erster Stelle den Phoros der Bundesgenossen, dann die Zölle, die verschiedenen

Verkaufssteuern, Gerichtsgebühren, Pachtgelder aus Bergwerkskonzessionen,

Markt- und Hafengebühren, Einnahmen aus Staatsgut sowie die Erlöse aus dem Verkauf konfiszierten Gutes, und er beziffert die Gesamteinnahmen auf jährlich 2 000 Talente. Diese Summe wird indirekt durch die Kombination zweier Angaben des Thukydides (2,13,3) und Xenophon (Anab. 7,1,27) bestätigt: Der erstere

gibt für den Beginn des Peloponnesischen Krieges die jährlichen Einnahmen aus dem Phoros der Bundesgenossen mit 600 Talenten, Xenophon die Gesamteinnahmen der Stadt für dieselbe Zeit mit 1 000 Talenten an; die Einnahmen Athens

aus Attika betrugen demnach 400 Talente. Da der Phoros zur Zeit der Aufführung der „Wespen“ (422 v. Chr.) durch die Erhöhung des Jahres 425 (nominell)

knapp 1 500 Talente betrug, kommt man bei der Annahme ungefähr gleicher eigener Einnahmen auf eine Summe, die der von Aristophanes genannten nicht

sehr fern liegt. Die Zahlen geben einen Einblick in das Verhältnis zwischen den eigenen und den im 5. Jh. von den Bundesgenossen eingetriebenen Einnahmen

VI. Die politischen Organisationsformen

525

und verführen zu Rückschlüssen auf die Abhängigkeit Athens von den Marrikelbeitrágen der Bundesgenossen. JONES (459, S.5ff.) aber war der Ansicht, daß die

athenische Demokratie trotz dieser Zahlenverhältnisse unabhángig vom Seebund hätte existieren können, weil die Einnahmen aus dem Bund zum größten

Teil von den Kosten für die Flotte und die Marineanlagen aufgesogen worden wären; ferner habe die Demokratie auch nach dem Zusammenbruch der See-

herrschaft weitergelebt und sich sogar in der Zeit der größten außenpolitischen

Schwäche eine Erweiterung des Diätensystems geleistet. Das Problem der Interdependenz von Demokratie und Herrschaftsgebiet ist o. S. 396f. im Zusammenhang der Frage nach den Grenzen der Demokratie erneut aufgenommen worden. - Das konfiszierte Vermógen des Diphilos: Plut. Mor. 843D. Zur Ausgabe der Gelder: Zur außerordentlichen, direkten Anweisung von Geldern durch die Apodekten an die verbrauchende Behórde im 5. Jh., vergeben unter der Bedingung der Rückzahlung: SEG 10, Nr.138, Z.4-9 zum Jahre 407/06.

- Zum merismös: merismós der Apodekten vor dem Rat und die Rechtssprechung darüber: Arist. AP 48,2. - Erste Erwähnung des merismós: TOD, 126, Nr. 116,

Z.18-22 zum Jahre 386. - Am merismós beteiligte Behörden (Beispiele): Volksversammlung (zuerst erwähnt IG II? Nr. 106, Z.18f., 368/67; Tamias der Kasse zuerst erwähnt IG II? Nr.21, wohl 376); Aviso-Schiff Paralos (Demosth. 21,174);

Episkeuastai der Heiligtümer (Arist. AP 50,1). Zum merismós vgl. RHODES (689, S.99ff.218ff.; 396, S.309ff.). - Finanzielle Engpässe, die zur Vertagung von Dikasterien zwangen, z. B. Demosth. 39,17; 45,4.

Zu den großen Finanzámtern nach 355: Der Titel ὁ ἐπὶ τὸ θεῶρικόν ist durch IG II? Nr. 223 C, Z.5 (343/42) gesichert, ebenso relativ gut der Titel ὁ ἐπὶ τῇ (bzw. τῆς) διοικήσει (bzw. -onç) durch IG II? Nr. 463, Z.36 vom Jahre 307/06 (vgl. auch SEG 19, 1963, Nr. 119, Z.7-9, zwischen 334 und 326) in Verbindung

mit Hypereid. fr. 118 KENYON. - Zur Erhóhung der Einnahmen Athens von 130 auf 400 Talente in der Zeit des Eubulos: Demosth. 10,37f. (341/40 v. Chr.).

Unter den Urkunden zur Geschichte der athenischen Finanzen ist der von Kallias beantragte Volksbeschluß („Kallias-Dekret“, IG P Nr. 52 = MEIGGS/ LEWIS, 127, Nr. 58) für die Funktion der Tempelkassen ebenso wichtig wie für

die allgemeine Finanzpolitik und die Hóhe der Gelder, über welche die Stadt

disponierte. Das mit großer Sicherheit auf 434/33 zu datierende Psephisma enthält Bestimmungen über die Rückzahlung von Schulden an die Kasse der „anderen Götter“, die damals wohl erst errichtet worden ist. Es bleiben indessen

viele Fragen offen. Einen ansprechenden Versuch zur Lösung der Probleme hat W. KOLBE: Thukydides im Lichte der Urkunden, 1930, 5Off. versucht; weitere

Literatur bei MEIGGS/LEWIS a.O. - Zu dem Verstecken von Vermögensteilen zwecks Vermeidung bzw. Minderung der Veranlagung zur Eisphora bzw. zu Leiturgien (u. 5.527) vgl. Dein. 1,70 (aus der Rede gegen den wegen Bestechung durch Harpalos angeklagten Demosthenes, 324 v. Chr.); Demosth. 42,22f.; 45,66; Aischin. 1,101; Isaios 11,47 und dazu DAVIES (831, S.88ff.). Der Vater des

Redners Demosthenes hat mit großer Wahrscheinlichkeit, wie die Überprüfung seiner Vermögensverhältnisse ergibt, einen nicht geringen Teil seines Vermögens entweder unter Wert angegeben oder auch wohl manches überhaupt nicht deklariert, vgl. DAVIES (286, Nr. 3597, XIV-XIX). Der terminus technicus für das

526

ZWEITER TEIL: QUELLEN

UND FORSCHUNG

Delikt war ἀφανίζειν bzw. ἀποκρύπτεσθαι, also „verschwinden lassen“. Zu der

Geldnot der Athener im 4. Jh. hat STE. CROIX (210, 5.607 Anm.37) eine ganze Reihe von Belegen zusammengestellt.

Die athenischen Staatsfinanzen sind bereits in den Anfängen der modernen Geschichtswissenschaft Gegenstand des Interesses gewesen, ja mit ihrer

schung

Erfor-

beginnt die Wissenschaft von der griechischen Geschichte. Im Jahre

1817 erschien „Die Staatshaushaltung der Athener“ von August BŒCKH (734),

und dieses Buch war nicht nur eine Behandlung der athenischen Staatsfinanzen, sondern eine Einführung in die griechische Staatengeschichte überhaupt. Denn

wie B.G. Niebuhr in der Wirtschafts- und Sozialordnung der Römer das Fundament für eine angemessene Beurteilung der römischen Staatsordnung erkannt, sıe aus dem Vergleich mit modernen Verhältnissen bestimmt und auf diese Weise die moderne

Geschichtsbetrachtung mitbegründet hatte, sah, ihm darın folgend,

auch Boeckh als Historiker der Gnechen in dem Studium des Finanzwesens

Athens einen Schlüssel zum Verstándnis der Stadt und ihrer politischen Verfassung. Mit diesem Werk wandelte sich die früher eher antiquarische Sammelei von allerlei Denkwürdigkeiten zu einer umfassenden staatswirtschaftlichen Behandlung des Themas, in der das athenische Finanzwesen als Teil eines lebendigen, mit den modernen Verhiltnissen vergleichbaren Organismus angesehen und der Athener nicht lediglich mehr in seiner idealisierten Geistigkeit, sondern vor allem

als ein ökonomisch denkender und von der Ökonomie abhängiger Mensch gesehen wurde. Boeckh hat bereits die meisten Themenbereiche und großen Fragestellungen des Gegenstandes abgesteckt, und obwohl die ihm folgenden Generationen viele, ja die meisten seiner Ergebnisse verwarfen, blieben ihre Gedanken doch weitgehend in dem von ihm gesteckten Rahmen. Die weise Beschränkung auf Athen, woher das weitaus meiste Material] zu diesem Thema stammt, haben die

folgenden Generationen zunächst aufgegeben. Die insbesondere von deutschen und französischen Gelehrten geschriebenen großen Handbücher - unter ihnen besonders wichtig die von HERMANN (173), SCHOEMANN/LIPSIUS (174) und BUSOLT/SWOBODA (176), die den gesamten staatlichen Bereich behandeln, und von FRANCOTTE (222) und ANDREADES (221), die sich auf das Finanzwesen

beschränken - haben in ihrem Bemühen, ein für alle griechischen Staaten weitgehend einheitliches Bild zu entwerfen, die athenischen Verhältnisse vielfach den

anderen Städten unterstellt. Die sehr großzügige Verwendung athenischer Quellen zur Darstellung eines gemeingriechischen Finanzwesens hat die Überlieferungssituation verzerrt, und in Abwehr dessen haben manche Handbücher, wel-

che die gemeingriechischen Verhältnisse beschreiben wollen, nach den allgemeineren Aussagen die athenischen Verhältnisse gesondert behandelt (Busolt/Swoboda, Andreades). Von den genannten Handbüchern, die eine Auswahl darstellen, sind heute für das athenische Finanzwesen vor allem - neben Busolt/Swoboda -

Francotte und Andreades heranzuziehen. Zu den großen Finanzámtern der zweiten Hälfte des 4. Jhs. und den damit zusammenhängenden Fragen (Entwicklung und Bezeichnung der Ämter, Frage der Kollegialität, Wiederwählbarkeit und Amtsdauer, Stellung des Eubulos und Lykurgos zu den Ämtern) vgl. CAWKWELL (764) und RHODES (689, S.105ff.235ff.).

VI. Die politischen Organisationsformen

Die Schätzungen des athenischen

527

Volksvermögens

hängen von der In-

terpretation der teilweise nicht leicht deutbaren Aussagen unserer Quellen ab und schwanken beträchtlich. Besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang die Schätzung, die Polybios 2,62,7 zum Jahr der Steuerreform von 378/77 gibt, und die Inschrift IG V 1 Nr. 1433 über die Erhebung einer Vermögensteuer ın Messene um 100 v. Chr. Die 5 750 Talente, die Polybios als Gegenwert für das Land, die Häuser und die übrige Habe ganz Attikas angibt, werden teils als das gesamte Volksvermögen, teils lediglich als das zur Eisphora herangezogene steuerpflichtige Vermögen („Steuerkapital“) angesehen. In letzterem Sinne interpretierte die Polybios-Stelle bereits BECKH (734, Bd. 1, S.571ff.) und veran-

schlagte gegenüber dem Steuerkapital von rund 6 000 Talenten das Volksvermö-

gen auf 30 000-40 000 Talente. Ihm widersprachen unter vielen anderen BELOCH (753) und - nach Publikation der genannten messenischen Urkunde - LIPSIUS (754), doch haben ıhm kaum weniger Gelehrte zugestimmt; vgl. den Forschungsbericht bei BUSOLT/SWOBODA (176, 5.1213 Anm.2). Wer die von Poly-

bios angegebene Summe für das Gesamtvermögen Attikas hält, hat zu berücksichtigen, daß der wohlhabende Athener bei seiner Selbsteinschätzung oft große Summen verschwieg oder das Anlagevermögen zu niedrig ansetzte, um der Eisphora oder auch den Leiturgien zu entgehen bzw. um diese Verpflichtungen herabzusetzen (s.o. 5. 525f.). Wie verbreitet diese Praxis war, ist daraus ersicht-

lich, daß manche Athener Teile ihres Vermögens eigens zu dem Zweck der

Steuerhinterziehung in Vermögens-Werte umtauschten, die sich leichter verstecken ließen. Das Gesamtvermögen dürfte daher u.U. doppelt so hoch gewesen sein wie das deklarierte. Geht man davon aus, daß die 6 000 Talente des

Polybios das (deklarierte) Gesamtvermögen waren, wird das Vermögen der zur Steuer herangezogenen 1 200 Bürger (s.o. 5.250) vielleicht 4 000 Talente betragen haben. Obwohl die neuere Forschung die Berechnung Beeckhs überwiegend zurückweist und denen Belochs und Lipsius’ zuneigt, tendiere ich zu der Annahme, daß Polybios’ Angabe sich auf das steuerpflichtige Vermögen bezog.

Denn warum hätte das Gesetz von 378/77, auf das er sich ganz offensichtlich bezieht, von dem Gesamtvermögen sprechen sollen, da es doch allein mit dem

steuerpflichtigen Vermögen zu tun hatte, und auf welche Weise hätte der Gesetzgeber es feststellen können, da die nicht steuerpflichtigen Athener ihr Vermögen doch gar nicht deklarierten? Es stehen ferner die in der Blütezeit der

Stadt auf der Burg verwahrten Gelder in keinem rechten Verhältnis zum Volksvermögen, wenn dieses nur 6 000 Talente betragen haben sollte; denn bei dieser

Annahme hätte vor Ausbruch des Peloponnesischen Krieges das Guthaben der Stadt auf der Burg (nach Thuk. 2,13,3 ca. 6 000 Talente, zur Diskussion vgl.

GOMME, 755) das gesamte Volksvermögen überstiegen, und man hätte in jedem Kriegsjahr 1/6 und mehr davon ausgegeben. ANDREADES (221, S.343ff.), der erwägt, die 6 000 Talente des Polybios für das Steuerkapital der zur Eisphora herangezogenen Bürger zu halten, kommt nach der Berücksichtigung des verheimlichten und der Hinzurechnung des nicht steuerpflichtigen Vermógens auf ein athenisches Gesamtvermógen von 10 000 Talenten; doch dürfte auch diese Summe viel zu gering sein. - Bis wohin sich neuere Spekulationen zum atheni-

schen Volksvermógen vorwagen, zeigen die ,,Berechnungen" von R.W. GOLD-

528

ZWEITER TEIL: QUELLEN

UND FORSCHUNG

SMITH: Premodern financial systems. A historical comparative study, 1987,

l6ff.; an ihnen ist nur soviel vertrauenswürdig, als sie die Bedeutung des öffentlichen gegenüber dem privaten Vermögen herausstellen. Das System der

Besteuerung

(eisphora) wird zuerst 428/27 erwähnt

(Thuk. 3,19,1), und die meisten Forscher setzen, aus vielfältigen Gründen, unter

ihnen vor allem auch auf Grund der Formulierung von Thukydides a.O., die Einführung der Steuer in dieses Jahr, so u.a. ANDREADES (221, S.330ff.; vgl. aber MEIGGS/LEWIS, 127, Nr. 58 B 19 mit Kommentar); andere sehen in diesem

Datum den Zeitpunkt der Umstellung der Steuer auf eine veränderte Art der Erhebung. Nach THOMSEN (743, S.119ff., dagegen schon mit guten Argumenten MOSSÉ, 746) soll es bereits von Themistokles im Zusammenhang der Finanzierung seines Flottenbauprogramms ersonnen worden sein. Allgemeinere Er-

wägungen, die von Thomsen zur Stützung seiner Thesen herangezogen werden, können nicht ganz überzeugen. Man möchte es gern genauer wissen, weil die Einführung der Besteuerung einen nicht unerheblichen Fortschritt in der Entwicklung der staatlichen Organisation darstellt. - Umstritten sind auch manche Fragen

der Organisation

der Steuererhebung.

Bereits BŒCKH

(734, Bd.

1,

S.599ff.647ff.) hat ausführlich darüber gehandelt, und es hat sich u.a. seine Lehre weitgehend durchgesetzt, daß die Athener zwei nach Zweck und Personenkreis unterschiedliche Steuerverbände (Symmorien) besessen hätten, von denen der

frühere 378/77 zur Erhebung der Eisphora (unstrittig), der andere 358/57 durch ein von Periandros beantragtes Gesetz für die Umlage der Trierarchie, die damit aus einer Leiturgie zu einer Steuer wurde (vgl. MOSSÉ, 746, S.41), eingeführt

worden sei. Das ist trotz mancher Korrekturen im Prinzip auch heute noch anerkannt (vgl. die Forschungsübersicht bei RUSCHENBUSCH, 745, S.275,1, fer-

ner WANKEL, 90, S.563ff.). Erst neuerdings hat RUSCHENBUSCH a.O. und 747

gewichtige Argumente dafür vorgebracht, daß die Eisphora-Symmorien 358/57 - unter etwa gleichzeitiger Erhóhung der Anzahl der Symmorien von 20 (zu je 60 Personen) auf 100 (zu je 12) - auch für die Zwecke der Trierarchie verwendet worden sind; dagegen wieder im Sinne der älteren Meinung RHODES (748). Es

wird u.a. auch die Zahl der vor dem Gesetz des Periandros im Jahre 358/57 für die Trierarchie verpflichteten Personen diskutiert, die nach DAVIES (831, S.15ff.) auf 200-400 Personen beschränkt war, von RHODES (748) aber mit guten Grün-

den in etwa mit dem von dem Gesetz des Periandros erfaßten Personenkreis gleichgesetzt wird, so daß Periandros den Personenkreis im Prinzip nicht erwei-

tert, sondern lediglich den Umlagemodus gleichmäßiger verteilt hätte. Gegenüber Ruschenbusch hat GABRIELSEN (751; 752) das Weiterbestehen der 20 Sym-

morien zu je 60 Personen zu begründen versucht und die Entwicklungsgeschichte der Symmorien vor allem durch ein 340 von Demosthenes eingebrachtes Gesetz weitergeführt, das eine Gruppe von 300 P'ersonen stárker belastete und damit die Lasten den tatsáchlichen finanziellen Móglichkeiten der Symmorienmitglieder besser anpaßte. Hiergegen hat RUSCHENBUSCH (750) seine Thesen erneut verteidigt. Zu dem Mindestvermógen der zur Eisphora Verpflichteten und zu den trierarchischen Syntelien (Veranlagungsmodus; Modus der Vertei-

lung des Vermógens der Symmorienmitglieder auf die einzelnen Syntelien) vgl. RUSCHENBUSCH (749). - Die Steuerreform von 378/77 kennen wir vor allem aus

VI. Die politischen Organisationsformen

529

einem Passus bei Pollux 8,130. Während ihr Zeitpunkt unstrittig ist, wird sie doch sehr verschieden bewertet. So wird seit BŒCKH (734, Bd. 1, S.588ff.) von

manchen angenommen, daß die ältere Eisphora, für deren Erhebung móglicherweise die Zensusklassen herangezogen wurden, eine progressive Steuer gewesen und erst durch die Reform des Jahres 378/77 der proportionale Steuersatz eingeführt worden sei; dagegen mit guten Gründen STE. CROIX (742, S.35ff.) und THOMSEN (743, S.17ff.105ff.). Über die Form und Hóhe der Umlage hat Thom-

sen einige recht eigenwillige Ansichten entwickelt, die teils auf offensichtlich unrichtigen oder problematischen Übersetzungen der wenigen wichtigen Belege beruhen. Prozenten der ben, und auch ausgedrückter

So wurde mit einiger Veranlagungssumme die von den Metóken Steuersatz, nämlich

Sicherheit schon seit 378/77 die Eisphora in und also niemals als eine feste Summe erhozu zahlende Eisphora war ein in Prozenten 6%, nicht ein Sechstel der Bürgereisphora

(vgl. STE. CROIX a.O. und ders.: Class. Rev. 16, 1966, 90ff.). - Ein düsteres Bild

von der athenischen Finanzlage und Finanzorganisation zeichnet BRUN (744), der die Eisphora, die Syntaxis der Bundesgenossen des Zweiten Athenischen Seebundes und die Stratiotika zwischen 377 und 338 vor allem im Zusammenhang der finanziellen militárischen Erfordernisse der Zeit untersucht hat. Brun

sieht in der Unfähigkeit der Athener, eine angemessene Finanzierung zu schaffen und zu organisieren, eine der Gründe für den Untergang Athens als eine unabhängige Stadt, doch hat er, abgesehen von einer Reihe von Fehlern in dem

Umgang mit einzelnen Quellen, nicht immer wirklich überzeugende Folgerungen aus unserem desolaten Quellenstand gezogen, bedürfen seine Thesen jedenfalls im Einzelfalle stets einer genauen Überprüfung. Über die Leiturgien informiert noch immer gut BŒCKH in seinem monumentalen Werk über die Staatshaushaltung der Athener (734, S.533-554), ferner ANDREADES (221, S.310-313) und KAHRSTEDT (456, S.217-228). Zu der Anzahl

der Leiturgien vgl. DAVIES (739). Über das antídosis- Verfahren zur Abwendung einer auferlegten Leiturgie

herrschen weit auseinandergehende Auffassungen. Nach der durchweg auch heute in Handbüchern noch vertretenen älteren Meinung hatte die Benennung eines anderen durch den zunächst Belasteten für den Fall, daß der so Aufgefor-

derte ablehnte, den Vermögenstausch zur Folge. Die daraus resultierenden wirtschaftlichen Konsequenzen stehen indessen in überhaupt keinem Verhältnis zu der Absicht des Verfahrens, eine gerechte Verteilung der mit den Leiturgien verbundenen Lasten zu sichern, und sie sind auch nicht belegt. Das Verfahren hat mit großer Wahrscheinlichkeit vielmehr darin bestanden, daß entweder die

Parteien zwecks Beweissicherung ihr Vermögen bis zum richterlichen Entscheid gegenseitig beschlagnahmten (DITTENBERGER, 740) oder auch lediglich die Verfügungsgewalt über ihr Vermögen bis zum Urteilsspruch suspendiert wurde (FRÄNKEL, 741). In diesem Fall ist als Objekt zu ἀντιδιδόναι nicht das Vermö-

gen, sondern die Leistung (Leiturgie) zu denken. Eine Klage wegen antídosis ist die von Ps.-Demosth. gegen Pheinippos (Nr. 42).

530

ZWEITER TEIL: QUELLEN

UND FORSCHUNG

VII. Verfahrensformen zur Sicherung der demokratischen Idee Losung

Die Quellen zum Losverfahren und seiner Geschichte sind außergewöhnlich verstreut. Über die Losung der Richter im hohen und späten 4. Jh. besitzen wir eine zusammenhängende Darstellung bei Arist. AP 63-66; hier (64,4) steht auch der Grundgedanke der Losung, daß nämlich das Los, nicht der Wille des Menschen die Entscheidung trifft (hier im Hinblick auf die Zuweisung des Gerichtshofes gesagt). Die wichtigsten Belege über die demokratische Natur des Losprinzips stehen bei Her. 3,80,6; Plat. Pol. 557a2ff.; Arist. Pol. 1294b7ff. (mit Absetzung von der Wahl als oligarchisches Prinzip, vgl. 1273a17f.); Rhet. 1365b31f.; Pol. 1317b20f. Die Kritik an der Losung der Beamten steht bei Xenoph. Mem. 1,2,9 (Sokrates) und in den dissof lógoi („zwiefache Rede/Argumente"), die in das Ende des 5. Jhs. gehóren (DIELS/KRANZ, 909, Nr. 90,7). - Die

in den dreißiger Jahren auf der athenischen Agora gefundenen Losmaschinen (kleröteria) sind die neben Arist. AP wichtigste Quelle zum Losverfahren. Sie

werden zuerst von Aristoph. Ekkles. 681f. zum Jahre 392 v. Chr. erwähnt. Die uns erhaltenen Maschinen stammen aus hellenistischer Zeit und sind aus Marmor. Da sie nach Aristoph. a.O. auf den Marktplatz getragen wurden, waren sie gewiß ursprünglich aus Holz. Die Maschinen haben entsprechend ihrem man-

nigfachen Zweck eine verschieden große Anzahl von Reihen und Schlitzen. Wir haben fast nur Fragmente; eine einzige mit einer Reihe von zwölf Schlitzen ist

vollstándig erhalten. Aus den Fragmenten der anderen lassen sich aber eine ganze Reihe verschiedener Maschinen rekonstruieren; die größte hat 11 waagrechte und 50 senkrechte Schlitze. Die erste Edition der Maschinen erstellte DOW (770). Er hat sie auch in einem bahnbrechenden Aufsatz mit dem Bericht

des Arist. AP verbunden (771) und ebenso eine kurze Skizze über sie für die RE

(772) verfaßt. Einige mit der Interpretation der Maschinen verbundene Einzelfragen sind von BISHOP (773) erórtert worden. Zusammenfassende Übersichten über das Losverfahren und seine Entwicklung stammen von EHRENBERG (767), HEADLAM (765), HEISTERBERGK (766), KAHRSTEDT (720, S.39-58), HIGNETT (280, S.226- 232), STAVELEY (768, S.33-72) und TARKIAINEN (625, S.143-151); die vier zuerst genannten Autoren hatten

noch keine Kenntnis von den auf der Agora gefundenen Losmaschinen. Zur Losung der Schiedsrichter für die Agone vgl. BLUME (241, S.40ff.). Daß die Losung ihren Ursprung dem Streben der Menschen nach Erforschung des góttlichen Willens verdankt, ist unbestritten. Auch seitdem sie im politischen Leben üblich wurde, war die Vorstellung vom Los als Gottesurteil weiterhin lebendig. Das führte FUSTEL DE COULANGES (Recherches sur le tirage au sort appliqué à la nomination des archontes athéniens, in: Nouv. rev. histor. de droit franc. et étranger 2, 1878, 613ff. und La cité antique, 1864, 212ff.) und

nach ihm andere dazu, auch für die profane Verwendung der Losung religióse Wurzeln anzunehmen. Ihm sind zunächst manche Gelehrte gefolgt (vgl. auch

VII. Sicherung der demokratischen Idee

531

STAVELEY, 768, 5.56), jedoch fehlt bei dieser Erklärung jedes Motiv für ihre

jeweilige Einführung zu einem bestimmten Zeitpunkt. Vor allem aber wissen unsere antiken Autoren, mögen sie nun Historiker, Redner oder Philosophen

sein, nichts von der sakralen Bedeutung der profanen Losung. Die These Fustels ist daher in jüngerer Zeit von so gut wie allen, besonders klar von EHRENBERG (767, S.146ff.), HEADLAM

(765, S.4ff.), HIGNETT (280, S.228f.) und HANSEN

(769) zurückgewiesen und der Ursprung der profanen Losung ebenso einmütig

in dem Wunsch nach Gerechtigkeit und Gleichheit (z. B. bei der Zuteilung von Land) sowie nach Begrenzung persónlichen Einflusses (bei der Einführung der Beamtenlosung) gesehen worden. Soweit überhaupt ein góttlicher Einfluß beim Losvorgang mitgedacht wurde, ist er von sekundärer Bedeutung und beschränkt sich auf die unbestimmten Kräfte, die in den Zufall hineingelegt werden (vgl. EHRENBERG a.O. S. 1463).

Die Einführung der Beamtenlosung wird von manchen Solon zugeschrieben und dafür vor allem Arist. AP 8,1 als Beleg herangezogen (von einer

Losung der Buleuten und Heliasten unter Solon schweigt die Überlieferung). Die Archontenlosung, die Aristoteles a.O. ausdrücklich nennt, hat aber in dem solonischen Versöhnungswerk keinen Platz, und da derselbe Arıstoteles AP 22,5 ihre Einführung auch für das Jahr 487/86 berichtet, wo sie Sinn hat, ıst sie im 4. Jh. wie so vieles andere auch nur deswegen mit Solon verknüpft worden, weil

dieser als Begründer der Demokratie galt (vgl. in diesem Sinne vor allem KAHRSTEDT, 720, $.48f. und HIGNETT, 280, S.322ff. gegen EHRENBERG, 767, S.1469ff., HANSEN, 769, und andere). Die Einführung der Beamtenlosung gehört in die Entstehungsphase der Demokratie und ist von den Athenern selbst immer als ein konstitutiver Bestandteil ihrer politischen Ordnung angesehen worden (vgl. HEADLAM, 765, S.78ff.), wie u.a. auch die sofortige Abschaffung

der Losung nach den oligarchischen Umstürzen von 411 und 404 zeigt. Eine

Gegeninstanz kann auch nicht die viel zitierte Ansicht des Isokrates, Areopag. 23 sein, daß die Zufallsentscheidung des Loses oft Oligarchen begünstigt habe,

während bei der Wahl das Volk die der Demokratie gewogenen Männer ins Amt bringen könne; denn abgesehen davon, daß die von Isokrates gegebene Analyse eine völlig ungesicherte Behauptung ist, dekuvriert sie sich schon durch die

politische Absicht der Rede. Neuerdings wurde erneut in Zweifel gezogen, daß die profane Losung als ein

Instrument zur Schwächung der persönlichen Autorität ins Leben getreten und auf diese Weise ein Eckstein der Demokratie geworden sei. Viel eher, meint man, müßte der schnelle, in der Regel jährliche Wechsel der Ämter als das

dynamische Element in der Zurückdämmung des Einflusses der ehemals herrschenden Schicht und damit in der Entwicklung zur Demokratie angesehen, die Losung hingegen lediglich als eine Konsequenz dieser Entwicklung gehalten

werden, weil die durch die Ämterrotation hervorgerufene Vermassung der po-

tentiellen Kandidaten für ein Amt und auch die Masse der zu besetzenden Stellen die Wahl sinnlos gemacht und so dem Los den Weg bereitet habe. Nicht die Losung, sondern die Ämterrotation bedeutet danach den entscheidenden Schritt, und nicht jene, sondern diese ist ursächlich mit der Entstehungsgeschichte der Demokratie zu verbinden (STAVELEY, 768, S.54ff.; vgl. HEADLAM,

532

ZWEITER TEIL: QUELLEN

UND FORSCHUNG

765, S.88ff.). Doch abgesehen von den eindeutigen Aussagen der antiken Auto-

ren ist gerade die Ämterrotation ein in vordemokratischer, also aristokratischer Zeit entstandenes Prinzip und galt auch nach der Entstehung der Demokratie

weiterhin in allen Aristokratien/Oligarchien. Nach der durch die Losung eingeleiteten Entmachtung und Auflösung der Ämter mag das Losverfahren auch

durch dıe Sinnlosigkeit einer Wahl für kleine und kleinste Ämter nahegelegt worden sein. Die Ursache für die Einführung und Erweiterung des Losverfahrens liegt indessen in dem Willen nach Schwächung der Beamtenautorität (in diesem Sinne EHRENBERG, 767, S.1480f.; HIGNETT, 280, S.229ff. und TARKIAINEN, 625, S.147ff.; vgl. auch STAVELEY 2.0. 5. 57). Ebenso ist die Ausschaltung

von Ämterehrgeiz und Korruption durch die Losung nicht das Motiv für, sondern die, natürlich erwünschte und bei Gelegenheit hervorgehobene, Folge von deren Einführung (anders HANSEN, 380, S.24). - Der Autor der „Rhetorik an

Alexander“ 2,14 = 1224a17-20 hält die Losung nicht für ein demokratisches Grundprinzip der Beamtenbestellung, wenn er sagt: „In Demokratien müssen die vielen kleinen Magistrate gelost (was Streit verhindert), die großen vom Volk

gewählt werden.“ Hier ist die Dynamik des Losgedankens unterdrückt und sind die faktischen Verhältnisse, nach denen die militärischen Beamten weiter ge-

wählt werden, zum tragenden Prinzip erhoben. Die wohl mit dem letzten Editor, Manfred Fuhrmann, dem Anaximines zuzuschreibende Schrift steht

indessen ohne Zweifel bereits unter dem Einfluß eines oligarchisch aufgeweichten Demokratiebegriffs.

Die Details der Losverfahren für die einzelnen Beamtenkollegien sind weitgehend unbekannt oder unsicher. Von großem Interesse ist - neben der Archontenlosung - das Verfahren bei der Bestellung der Buleuten. Es ist uns nur aus dem 4. Jh. in groben Umrissen bekannt, dürfte sich aber von dem des 5. Jhs.

nicht wesentlich unterschieden haben. Die Angaben unserer Quellen lassen allerdings die Hauptfrage, nämlich die Form der Beteiligung der Demen, offen. Sie wird heute dahingehend beantwortet, daß die Buleuten und deren Vertreter entweder auf dem Marktplatz in Athen phylenweise aus Kandidaten, die von den Demen gewählt worden waren, entsprechend den Quoten der Demen erlost wurden (Losung aus vorgewählten Kandidaten) oder nur eine einzige Losung in Athen aus Bewerbern, die sich aus den Demen einfanden, stattfand. Die Vagheit

der Entscheidung zeigt sich darin, daß HIGNETT, ein Kenner der Materie, sich in demselben Werk einmal für die erste (280, S.150), ein anderes Mal für die zweite Möglichkeit entscheidet (S.227). STAVELEY (768, S.52ff.) befürwortet ein einziges Losverfahren, das aber seiner Meinung nach in einer Reihe von Losungen der

Demen bestanden haben soll. - In einer jüngst erschienenen Dissertation von ABEL (775) ist die These vertreten worden, daß alle Beamten wie die Archonten

aus Vorgewählten (prókritoi) erlost wurden und somit die Losung nicht als ein demokratisches Grundprinzip anzusehen sei. Die These ist eine reine Spekula-

tion und setzt zudem einen kaum denkbaren Verwaltungsaufwand voraus. Ihr hat mit Recht HANSEN (776) widersprochen, der nach Überprüfung der einschlägigen Belege zu dem Ergebnis kommt, daß wir auf der städtischen Ebene (in den Demen mögen teils andere Regelungen gegolten haben) außer für die Archonten keine Losung aus Vorgewählten kennen und auch die

VII. Sicherung der demokratischen Idee

533

Regelung für die Archonten nach 458/57 (Arist. AP 26,2) nicht mehr bezeugt ist. Überprüfung der Person vor Antritt des Amtes (Dokimasie) Die wichtigste Quelle zum Dokimasie-Verfahren ist Arist. AP 55,2-4; vgl. Xenoph. Mem. 2,2,13; Dein. 2,17f. Der Grundsatz, daß alle Wahl- und Losbeamten sıch der Prüfung zu unterziehen haben, steht Arıst. AP 55,2 und Aischin.

3,15.29. - Die in Dokimasie- Verfahren gehaltenen Reden sind: Lysias 25 (Verteidigung eines unbekannten Mannes vor einem Dikasterion; Amt unbekannt;

bald nach 403 gehalten), 31 (Anklage gegen Philon vor dem Rat; Ratsherr; wohl bald nach 403), 16 (Verteidigung des Mantitheos vor dem Rat; Amt unbekannt; 392/89) und 26 (Anklage gegen Euandros vor dem

Rat; Archon; 382). Die

beiden Anklagereden gegen Alkibiades wegen Feigheit (Nr. 14 und 15 des Lysias), gehalten 395/94 vor einem Dikasterion unter Führung der Strategen, berühren insofern eng die Dokimasie, als der Kern der Anklage den Vorwurf betrifft, daß Alkibiades ohne Dokimasie als Reiter (für welche die Dokimasie

Pflicht war) anstatt als Hoplit gedient hat. Demosth. 20,90 datiert die Einrichtung der Dokimasie in die solonische Zeit,

doch kommt dieser Angabe kein größerer Wert zu als allen jenen, die später sämtliche für typisch demokratisch geltenden Institutionen mit Solon verbin-

den und durch ihn legitimieren möchten. Die ım Text vertretene Auffassung, daß Kleisthenes die Dokimasie geschaffen hat, kann sich u.a. auf HIGNETT (280, S.205ff.) und STAVELEY (768, S.59f.) stützen.

Einen guten und wohl durchdachten Überblick über die Dokimasie in Athen hat BOROWSKI (777) vorgelegt; sie muß für alle mit ihr zusammenhängenden Fragen herangezogen werden. Es können jedoch die Gruppen der zu Überprü-

fenden nicht so scharf nach gesundheitlichen und moralischen Überprüfungskriterien geschieden werden, wie Borowski es möchte; gerade für die Beamten

sind beide Kriterien Gegenstand der Untersuchung. Auch läßt sich wohl kaum das überprüfende Gremium, nämlich Rat und Geschworenengericht, als Prüf-

stein des Alters der einzelnen Dokimasien nehmen. Borowski hält die vom Rat (Reiter, Gebrechliche, Epheben) für älter als die von Geschworenengerichten besorgten Dokimasien (Beamte, Redner). Zwar dürften die Dokimasien der ins Mannesalter eintretenden Athener und der Reiter, welche der Rat vornahm, alt sein (die der Redner hat es mit Sicherheit nicht gegeben, s. den Text), die

staatliche Prüfung für Gebrechliche - und sie prüfte der Rat - wird man aber nicht sehr gern allzu früh ansetzen wollen und die Dokimasie der Beamten zeigt deutlich, daß für sie zunächst der Rat allein zuständig war, der dann weitgehend

von den Geschworenengerichten verdrängt wurde. Es geht hier also um einen Wechsel der prüfenden Institutionen, von dem der Beginn der einzelnen Verfah-

ren unabhängig sein kann. Damit entfällt auch die Idee von Borowski, daß die Dokimasie ursprünglich nur auf körperliche (Epheben, Gebrechliche, Reiter) und erst später, wie er meint nach Einführung der von ihm „radikal“ genannten

Demokratie unter Ephialtes, auf moralische Tauglichkeit zielte.

534

ZWEITER TEIL: QUELLEN

UND FORSCHUNG

EHRENBERG (767, 5.1482), HEADLAM (765, S.97ff.), KAHRSTEDT (720, S.59f.) und HIGNETT (280, S.232) haben energisch bestritten, daR die Dokimasie als eine Eignungsprüfung anzusehen sei, welche die sich aus der Vermassung

und Losung der Beamten und Ratsherren ergebenden Gefahren für das Niveau der Amtsführung beseitigen oder verringern sollte. Sie sehen in ihr lediglich ein Verfahren zur Überprüfung der gesetzlichen Voraussetzungen für das Amt und schieben die Auslassungen der Redner zur Person ihrer Mandanten bzw. Kon-

trahenten als billige Versuche zur Beeinflussung der Richter beiseite. Daf sie deswegen irrelevant (Hignett) oder „ein Einschmuggeln falscher Gesichtspunk“ (Kahrstedt) gewesen sein sollen, ist aber nicht einzusehen, und vor allem

können abwertende Wendungen dieser Art kaum Argumente ersetzen, und sie

helfen insbesondere nicht über den Umstand hinweg, daß die Redner so gut wie ausschließlich mit solchen angeblich irrelevanten Gesichtspunkten operiert ha-

ben. Zu der ım Text vertretenen Interpretation der Dokimasie vgl. STAVELEY (768, S.59f.).

Rechenschaft Quellen: Die ım Text zitierte Herodotstelle über die Rechenschaft als demokratisches Prinzip steht 3,80,6. - Zu dem

Bewußtsein davon, daß allein die

Richter von der Rechenschaftspflicht ausgenommen sind, vgl. Aristoph. Wespen 587f. - Mit Sicherheit sind von den uns überlieferten Reden vier bei Rechenschaftsprozessen gehalten worden, nàmlich Ps.-Lysias Nr. 20 für Polystratos (kurzfrisuges Mitglied des oligarchischen Rates der 400, gehalten 410/09), Ly-

sias Nr. 12 gegen Eratosthenes (einer von den Dreißig, 403) und die Rede und Gegenrede des Demosthenes (Nr. 19) und Aischines (Nr. 2) über die „Truggesandtschaft" an Philipp (Gesandtenrechenschaft, 345), wahrscheinlich aber auch Lysias Nr. 21 für einen Unbekannten (Amt unbekannt, 402/1) und Nr. 27

gegen Epikrates (Amt unbekannt, ca. 390). Entgelt für die Tätigkeit im öffentlichen Bereich (Sold, Diäten) Wir besitzen keine in sich geschlossene Abhandlung antiker Autoren über das Diätenwesen, sondern nur eher beiläufige Erwähnungen, die im Zusammen-

hang breiterer politischer Erórterungen hier und da eingestreut sind (am aus-

führlichsten der kurze Überblick über alle Soldempfánger bei Arist. AP 24). Alle

Notizen dazu machen aber deutlich, daß den Athenern die Problematik der

Besoldung der öffentlichen Tätigkeit völlig klar war. - Der demokratische Charakter der Besoldung von Beamten, Ratsherren, Besuchern der Volksver-

sammlungen und Richtern wird oft ausdrücklich ausgesprochen oder stiilschweigend unterstellt; als locus classicus dieses Gedankens darf Arist. Pol.

1317b35ff. gelten. - Der Gedanke, daß das Volk oder ein großer Teil desselben nichts tut, als seinen Dreiobolenlohn aufzulesen, steht u.a. bei Aristoph. Ritter

800.904f. und Lysist. 576ff.; Aristoph. Ritter 945 steht der Begriff „Obolenvolk“ (ot πολλοὶ tobßoAoö), ebd. 255 ,,Dreiobolensippschaft" (φράτερες τριωβόλου),

beides bezogen

auf die Richter, wie denn diese Wendungen

meist auf

VII. Sicherung der demokratischen Idee

535

die Richtertätigkeit zielen bzw. an sie zu denken ist, z. B. auch von Aristoph. Ritter 51f. das Richten für drei Obolen pro Tag als typische Tätigkeit des Demos

hingestellt wird. Daß auch die Volksversammlungen um der Entlohnung willen besucht werden, wird von Aristoph. Ekkles. 185ff. sowie Arist. Pol. 1299b35130023 und Plat. Pol. 565a gesagt, und bei Ps.-Xenoph. 1,15f. wird den Athenern vorgehalten, daß sie aus demselben Grund Athen als Gerichtsstand für die Prozesse der bundesgenössischen Städte eingerichtet hätten; vgl. ferner Plat. Gorgias 515e. - Die Kritik des Theramenes an den Soldzahlungen steht Xenoph. Hellen. 2,3,48; der Begriff des „Vierobolenlebens“ für Soldaten (τετραβόλου βίος) bei Eustath. zu Od. 1,156. - Wenn Isokrates, ein Kritiker der Demokratie,

Areopag. 54 (vgl. Fried. 130, hier auch die Besucher der Volksversammlungen eingeschlossen) sagt, dal es bei der Losung von Richtern darum geht, ob die dafür sich meldenden athenischen Bürger das Lebensnotwendige (sc. durch den Sold) für den Tag erhalten oder nicht, ist das eine an dieser Stelle gewollte

rhetorische Zuspitzung, die schon deswegen als eine Verzerrung der tatsáchlichen Verháltnisse anzusehen ist, weil in der Regel mehr Richter gebraucht wurden, als sich meldeten. Von Gewicht ist indessen die kritische Stimme des Thukydides (6,24,3), wenn er über die Gründe, welche die Athener zu dem Beschluß über die sizilische Expedition brachten, rásonierend sagt, daß „die

grofte Menge und der (potentielle) Soldat für den Augenblick an das Geld und für die Zukunft an den Machtzuwachs, aus dem ihnen auf ewig Lóhnung (μισθοφορά) zuteil werden würde, dachten.“

Entwicklungsgeschichte, Umfang und Auszahlungsmodus der Soldzahlungen sınd überaus kontrovers; für manche Zahlungen, wie für das Theorikon und die Diobelie, ist beinahe alles strittig. Zur Diskussion der neueren Forschung vgl. insbesondere BUCHANAN

(786). Eine Übersicht über das ganze Diätenwesen

gibt SCHULTHESS in seinen beiden RE-Artikeln über Misthos und Siteresion/ Sitesis (779 und 780). Aus der umfangreichen Diskussion seien nur einige Komplexe herausgegriffen, die mir in diesem Zusammenhang besonders wichtig erscheinen. Die Beamtenbesoldung

wird von Thuk. 8,67,3 und Arist. AP 29,5 für das

Jahr 411 vorausgesetzt, doch bleibt nicht nur unklar, ob alle oder nur die meisten Beamten bezahlt wurden, sondern vor allem auch, in welchem Umfang die

Besoldung nach dem Sturz der Oligarchen 410 und dann 403 wiederaufgenommen worden ist. Nach 410 wurden mit Sicherheit nur die Archonten und einige wenige kleinere Beamte bezahlt, und HANSEN (783; 627, S.240f.) nımmt daher

an, daß seit diesem Zeitpunkt außer ihnen fast alle anderen Ämter gratis verwaltet wurden. In der Tat sind unsere Angaben für die Zeit zwischen 410 und 404

nicht immer klar und auch das ganze 4. Jh. hindurch äußerst spärlich; sie berechtigen nur selten zu ganz eindeutigen Aussagen. Da die Demokratie jedoch kaum die Abschaffung der Beamtenbesoldung durch die Oligarchen hat auf sich beruhen lassen und manche Hinweise eher auf eine breitere Beamtenbesoldung zu verweisen scheinen, darf man wohl davon ausgehen, daß, wenn nicht

die gesamte Beamtenschaft, so doch ein großer Teil Sold empfing; in diesem Sinne die neuere, umfangreiche Erörterung des Problems von GABRIELSEN

536

ZWEITER TEIL: QUELLEN UND FORSCHUNG

(784; vgl. aber D.M. LEWIS: JHS 102, 1984, 269). HANSEN 2.0. ist jedoch darin zuzustimmen, daß außer den Archonten, die aus ihrem misthös Amtsdiener zu

entlohnen hatten, alle Beamten nur jeweils für die Tage, an denen sie wirklich tätig waren, bezahlt wurden und also viele von ihnen, die, wie z. B. die Opfer-

priester, nur wenige Tage zu tun hatten, kaum nennenswerte Summen erhielten. Bei der Bedeutung der zentralen Massengremien (Volksversammlung,

Geschworenengerichte) wird auch deren soziale Zusammensetzung und die Rolle des Soldes für die Bereitschaft, zur Versammlung zu gehen bzw. sich

als Richter zu melden, diskutiert. Der nicht selten geäußerten Behauptung, die Teilnehmer an den Volksversammlungen bzw. die Richter hätten sich aus relatıv wohlhabenden Bürgern rekrutiert (z. B. JONES, 887, S.50: „middle-class citizens“), ist MARKLE (782) mit dem Nachweis entgegengetreten, daß der Sold

gerade vielen im Arbeitsleben stehenden Bürgern, die wegen ihrer Gebundenheit an den Arbeitsprozeß in den Quellen auch als „Arme“ bezeichnet werden,

die Teilnahme an den Volksversammlungen und am Richten ermöglicht hat und also der Sold seinen Sinn erfüllte. Die Bauern aber waren ohne Zweifel unterrepräsentiert (Eurip. Hiket. 420ff.; Orest. 918; Aristoph. Vög. 111; vgl.

o. S. 394ff.). - Eine Inschrift aus Iasos über die Modalitäten der Zahlung eines ekklesiastikön, die in alexandrinische Zeit gehört und deutliche Parallelen zu Athen aufweist (GAUTHIER, 972), kann ihrerseits die athenischen Verhältnisse

erhellen. Gauthier hat in der Besprechung dieser Inschrift gezeigt (S.439ff.), daß diejenigen Besucher, die nach Erschópfung der für die einzelne Versammlung ein für allemal festgesetzten Summe keinen Sold mehr erhalten konnten, nichts-

destoweniger an der Versammlung teilnehmen und abstimmen durften (gegen HANSEN, 632, S.52) und daß das Motiv der Zahlung vor allem auch in dem

pünktlichen Erscheinen der Teilnehmer zu suchen ist. - Der Richtersold ist trotz einer deutlichen Entwertung der Drachme auf 7596 und weniger des Wertes, den sie in der Mitte des 5. Jhs. hatte, nicht erhóht worden. Die Gründe dafür sind unbekannt. RHODES (396, S.317) meint, daf der Richtersold wegen des Wertverlustes des Geldes vielleicht nicht mehr so attraktiv gewesen sei. Dem ist entgegenzuhalten, daß anders als für den Besuch der Volksversammlungen, der wegen ungenügender Teilnehmerzahlen durch eine Erhöhung der Diäten

attraktiver gemacht werden mußte (s.o. S. 162), sich für die Gerichtssitzungen offensichtlich hinreichend Interessierte meldeten. Dieses Interesse aber dürfte wiederum vor allem darin begründet sein, daß die beinahe täglichen Sitzungen dem Bürger die Môglichkeit boten, auch kürzere und sich kurzfristig ergebende

Lücken im Arbeitsprozeß mit einer wenig anstrengenden, dazu noch wichtigen und u.U. erhebenden Tätigkeit zu verbringen, und daß für das Richten gerade auch die aus dem Arbeitsleben ausgeschiedenen Bürger zur Verfügung standen. Ein wichtiges, aber kaum zu lósendes Problem sind die Entstehung und der Umfang des Theorikon. Sein Ursprung wird mit Perikles, Agyrrhios (Anfang des 4. Jhs.) und Eubulos (ca. 355) verbunden. Für die Annahme seiner Einführung durch Perikles bieten die Quellen keinen sicheren Anhalt. Die letzte grófiere Abhandlung von BUCHANAN (786, S.28ff.) schreibt die Einführung Agyr-

VII. Sicherung der demokratischen Idee

537

rhios, Eubulos den weiteren Ausbau zu. Eine kritische Durchsicht der einander

widersprechenden Angaben weist indessen am ehesten auf Eubulos als auf denjenigen, der das Theorikon einführte (so OOTEGHEM, 785 und RUSCHENBUSCH, 788); letzte Sicherheit ist indessen nicht zu gewinnen. U.a. wird auch der

Umfang des Theorikon diskutiert und dabei eher überschätzt. Die von BŒCKH (734, Bd. 1, 5.284) berechneten und von BUCHANAN a.O. 8. 83ff. anerkannten

maßvollen, aber eher noch zu hohen Zahlen dürften ungefähr das Richtige treffen. - Auch das Motiv der Zahlung ist nicht klar. Wurde das Theorikon

eingeführt, um bedürftigen Athenern das zu irgendeinem Zeitpunkt des 4. Jhs. erhobene Eintrittsgeld für Festversammlungen zu ersetzen, worauf einige Quellen hinweisen, und traten dann später Gesichtspunkte der Armenfürsorge oder

der Versorgung breiterer Bevölkerungskreise hinzu? Kann man es darum seit der Mitte des 4. Jhs. als eine Fortsetzung der Diobelie, die wir mit einiger Sicherheit

als eine Nothilfe in der Zeit des ausgehenden Peloponnesischen Krieges bestimmen kónnen, verstehen (in diesem Sinne etwa VALMIN, 787, S.200ff.)? Keine

dieser Fragen läßt sich mit Sicherheit beantworten. - Die schlechte Quellenlage zur Diobelie hat HENNION (789) dazu verleitet, sie nicht aus den wenigen

konkreten Daten dazu, sondern allein aus ihrem móglichen politischen Sinn heraus zu erklären. Sein Ergebnis, daß Kleophon mit ihr die Angehörigen der drei Zensus-Klassen, die wegen der spartanischen Angriffe von ihren Hófen in die Stadt geflüchtet waren, für die Wiedereinrichtung der Demokratie gewinnen

wollte, darf daher nur den Wert einer freien Spekulation beanspruchen. Richtiger und den - zugegebenermaßen desolaten - Quellen angemessener sieht PODES (790, dort auch die gesamte Literatur zur Diobelie), der im Text geäußer-

ten Vermutung entsprechend, in der Diobelie eine nach der Beseitigung der Oligarchie 410 eingerichtete pauschale Ersatzzahlung für alle in der Zeit vor dem Putsch gezahlten Diäten.

Wegen der eventuellen Bedeutung der Seebundstribute für die Finanzierung der Demokratie ist auch die Frage nach dem Gesamtumfang der Soldzahlungen wichtig: Hat der Seebund die Diäten finanziert? Die zusátzliche Einrichtung des Ekklesiastensoldes in der Zeit größter außenpolitischer Schwäche spricht dagegen (vgl. JONES, 459, S.5ff.) und zurückhaltende Berechnungen der einzelnen Soldarten kónnen bestätigen, daf man von einer unmittelbaren Abhängigkeit der Demokratie von Tributzahlungen nicht sprechen darf. Aber auch

so ist das Problem nicht vóllig aus der Welt geschafft. Denn die Diáten waren auf jeden Fall der - nach den militärischen Ausgaben - größte Posten des Etats, und allein der Umstand, daß er derjenige Posten war, von dem sehr viele profitierten,

kann die Neigung zur Schaffung von äußeren Hilfsquellen gestärkt, gelegentlich eine dynamische Außenpolitik vielleicht erst begründet haben. Mit Tributen von Untertanen ließ sich auf dem demokratischen Parkett eben leichter wirtschaften, und ein ständiger finanzieller Engpaß, den die Soldzahlungen nun einmal schufen, ist kein Förderer einer maßvollen und defensiven Außenpolitik. Vgl. zu dem ganzen Komplex ο. $. 396f.524f. Die modernen Urteile überden politischen Wert der Soldzahlungen sind unterschiedlich und nicht selten deutlich von den besonderen politischen Anschauungen des Autors abhängig. Angesichts der in allen modernen Staaten

538

ZWEITER TEIL: QUELLEN

UND FORSCHUNG

üblichen Praxis der Diätenzahlungen an Abgeordnete und der Besoldung aller staatlichen Bediensteten einschließlich der Richter sind die athenischen Sold-

zahlungen bei niemandem auf Unverständnis gestoßen. Autoren jener liberalen Richtung, die den idealen Staat auf das gebildete und vermögende Bürgertum

gegründet sehen, halten zu dem Phänomen größere Distanz und sind sogar geneigt, in den Diäten oder in einigen ihrer Sparten Verschwendung zu sehen (vgl. BURCKHARDT, 236, Bd. 5, S.208f.), während solche mit sozialistischem

Rentnerideal sie als eine politische Notwendigkeit und kulturelle Großtat zu preisen vermögen (E. CIOCOTTI: La retribuzione delle funzioni pubbliche civili nell'antica Atene e le sue conseguenze, in: Rend. del Reale Ist. Lombardo ser. 2, vol. 30, 1897, S.1079ff., bes. 1102ff.).

VIII. Die Grundlagen des demokratischen Gedankens Gleichheit Belege zu den im Text geäußerten Gedanken und den zitierten Autoren: Die ältesten allgemeinen Äußerungen zum Wesen der Demokratie stehen bei Herod. 3,80; Eurip. Hiket. 403-462; Thuk. 2,36-41 (Epitaphios des

Perikles) und Ps.-Xenoph. - Die früheste Bezeichnung des Volkes als eine dıe Geschicke der Stadt bestimmende Menge findet sich bei Aischylos, Hiket. 365ff.603f. u.pass. (das Stück ist wohl erst in die späten sechziger Jahre des 5. Jhs. zu datieren, vgl. LESKY, 238, S.271f.). - Daß der Gleichheitsgedanke

der athenischen Demokratie von quantitativer Art sei und also eine Gleichheit nach der Zahl (arithmetische Gleichheit) herrsche, hat Aristoteles in seiner

Politik oft und dies naturgemäß in kritischem Sinne gesagt, besonders deutlich

1317a40ff., war aber schon lange vor ihm ausgesprochen. Thukydides z. B. läßt die gemäßigten oligarchischen Führer des Umsturzes von 411, welche die politische Basis von den faktisch regierenden 400 Ratsmitgliedern auf die ursprüng-

lich vorgesehenen 5 000 Bürger übertragen wollen, sagen, daß die Verfassung so „gleicher“ würde (τὴν πολιτείαν Voattépav καθιστάναι, 8,89,2; vgl. 8,92,11).

Der quantitative Charakter des (son wird gewöhnlich durch seinen Bezug auf alle Athener ausgedrückt, wie z. B. Lys. 2 (Epitaphios) 56; 12,92. - Belege für die Gleichheit als gleiches Recht für alle (Gleichheit vor dem Gesetz) s.o. S. 463.

- Den Gedanken, daß die Gleichheit von Natur gegeben, ein die Menschen und Städte verbindendes und unter ihnen Frieden stiftendes Element sei, vertritt bei

Eurip. Phoen. 527ff. lokaste gegenüber ihrem Sohn und Machtmenschen Eteo-

kles. Auch Isokr. Paneg. 105 sagt, daß der Mensch von Natur aus politisch handelnder Bürger (Polite) sei. - Der oligarchische Autor der ps.-xenoph. Schrift vom Staat der Athener verwendet die Gruppenbezeichnungen und Epi-

theta für Adlige und Nichtadlige noch nach dem Usus aristokratischer Vorherrschaft, in den „Fröschen“ des Aristophanes v.727f. (405 aufgeführt) werden, vielleicht nicht ganz ohne Ironie, Begriffe wie εὐγενεῖς, σώφρονες, δίκαιοι und

καλοί κἀγαθοί auf alle Bürger bezogen, und entsprechende Wendungen finden

VIII. Die Grundlagen des demokratischen Gedankens

539

sich dann häufig. - Frühe Belege, in denen das Raten und Reden ın den Mittelpunkt der demokratischen Idee gestellt ist: Eurip. Hiket. 438ff.; Ps.-Xenoph. 1,2.6.9.

Der Sache nach muß der Begriff parrhesta jünger sein als iségoría, doch läßt sich

von unserer lückenhaften Quellenbasis keine deutliche zeitliche Abstufung ge-

winnen. /ségoria erscheint zuerst bei Herod. 5,78 und Eupolis fr. 291, parrhesta bei Eurip. Hippol. 421ff. (428 v. Chr. aufgeführt), lon 671f. (zwischen 421 und 413) und Phoen. 391 (nach 412), in den beiden ersten Stellen als ein den Athenern

zukommendes Verhaltensmuster zitiert. Das Wort des Diogenes zur Parrhesie steht bei Diog. Laert. 6,69. - Beide Begriffe, Isegorie und Parrhesie, sind im politischen Raum entstanden, doch bleibt ihm Isegorie wegen seines strengen Bezugs auf die Gleichheit fester verhaftet als Parrhesie, die sich in einem eher

allgemeineren Sinne mit der demokratischen Staatsform verbindet und auch in andere geistige Bereiche leichter überwechseln kann. Eine Begriffsgeschichte der beiden Worte, die SCARPAT (800) versucht hat, muR bei unserem Quellenstand immer ein Wagnis bleiben. Für die „Freiheit der Rede in der politischen Versamm-

lung“ verwenden unsere Quellen neben iségoria auch die Wendung, daß jeder das Wort ergreifen darf, der will (λέγειν ἐξεῖναι τῷ βουλομένῳ, z. B. Ps.-Xenoph. 1,2.6). - Die Gedanken über die Lethargie der Volksversammlung, die Thukydides Kleon in den Mund legt, stehen 3,38. - Das Solon zugeschriebene Gesetz über das Verbot der üblen Nachrede: Plut. Sol. 21,1; der Antrag des Diopeithes: Plut. Perikl. 32,2. - Ausschluß der Unerfahrenen von der Rede in der Versammlung: z. B. Xenoph. Mem. 3,6; Plat. Protag. 319b-d.

Zum Straftatbestand der Volkstäuschung vgl. Demosth. 20,100.135 und Arist. AP 43,5, zum Prozeß gegen Miltiades Her. 6,132-136, bes. 136,1, zu dem gegen

die Ankläger der Feldherren der Arginusen-Schlacht Xenoph. Hellen. 1,7,35. Eine in sich geschlossene Rechtfertigung für die Herrschaft der Massen

finden wir in den Quellen nicht; Ansátze finden sich erst in der

„Politik“ des Aristoteles.

Die Kritik des Autors der ps.-xenophontischen Schrift vom Staat der Athener an der Gleichheitsvorstellung der Demokratie: 1,5; 2,17; 3,3 u.pass.; vgl. Arist. AP 27,4. - Demokratie als Klassenherrschaft: Thuk. 4,86,4.126,2. - Die

Kritik Platons am demokratischen Gleichheitsbegriff: u.a. Kriton 46a-d; Pol. 55729-558c6, die des Aristoteles vor allem Pol. 1282b14ff. (hier ist Z.21-23 das

Grundproblem besonders klar ausgesprochen) und 1283a23ff. - Der Ausspruch Solons, daf die Gleichheit Streit unterbinde, steht bei Plut. Sol. 14,4. Der

Gedanke ist auch von dem Autor der Grabrede auf Gefallene des Korinthischen Krieges (Lys. 2,18, ca. 392 v. Chr.) in etwas abgewandelter Form verwendet worden: „Die Athener haben die Demokratie eingerichtet in der Meinung, daß

die Freiheit aller das höchste Maß an Eintracht garantiere.“ Die Fähigkeit der Masse zur Politik: Thuk. 2,40,2; 3,37,3; Isokr. Paneg. 105. Das Ganze ist mehr als seine Teile: Thuk. 6,39; Arist. Pol. 1281b32ff.; 1282a1423; 1283a23ff. und 1286a24ff.; vgl. Plat. Protag. 319a-323b. Der aus Her. 3,80,6 zitierte Satz lautet: Ev γὰρ τῷ πολλῷ Evı τὰ πάντα. - Es ist zu bezweifeln, daß

Aristoteles für seine Gedanken über den Kollektiventscheid in der Demokratie

auf eine ältere Theorie zurückgegriffen hat. Er dürfte vielmehr für die

540

ZWEITER TEIL: QUELLEN UND FORSCHUNG

Rechtfertigung der Demokratie innerhalb seiner eigenen staatstheoretischen Überlegungen volkstümliche Gedanken der politischen Praxis bzw. sprichwórtliche Weisheiten aufgenommen haben, und es sind mit Sicherheit diese Gedanken auch nicht als Rechtfertigung der realen athenischen Demokratie, sondern der innerhalb der aristotelischen Verfassungsmodelle konstruierten Demokratie zu verstehen und auch dann nicht als eine innere Zustimmung des Aristoteles

selbst zur Demokratie, sondern als Rechtfertigung des Modells anzusehen. Diese Verháltnisse hat vor einigen Jahren mit hinreichender Klarheit TOULOUMAKOS (803, S.37ff.) dargestellt, der darin auch die verschiedenen Ansätze vor allem der neueren Aristoteles-Literatur verarbeitet hat; aus ihr vgl. besonders E. BRAUN:

Die

Summierungstheorie

des

Aristoteles,

in: STEINMETZ,

108,

S.396ff.). Die Verbindung von #son und dikaion außerhalb der Verfassungstypologie z. B. Demosth. 14,3: 19,5; Arist. Nik. Eth. 1331a10ff.; auf die Demokratie bezogen z. B. Demosth. 21,67; Plat. Menex. 238e-239a; Arıst. Pol. 128027-31; 1317a40-b17.

Zum Wechsel von Herrschen und Beherrschtwerden neben der im Text genannten Stelle: Arist. Pol. 1261a37-b5; Nik. Eth. 1334b15.

Die Zusammengehörigkeit von Demokratie und Freiheit wird von allen antiken Autoren, die das Thema berühren, gesehen und bedarf nicht des Beleges. Besonders eindrucksvolle Zeugnisse sind außer den im Text genannten: Plat. Pol. 562a4-563e1; Arist. Pol. 1310a25-36; Rhet. 136624; Demosth. 15 (Rede

für die Freiheit der Rhodier, d. h. für die Wiedereinführung der Demokratie in

Rhodos, gehalten 351 v. Chr.), bes. 17-21. - Gleichsetzung von Gleichheit und Freiheit etwa bei Eurip. Hiket. 434-438 (Gleichheit vor dem Gesetz); vgl. Her. 5,78 (Gleichheit durch Befreiung von dem Tyrannen). Zur Forderung nach einer Neuaufteilung des Bodens (ἀναδασμὸς τῆς γῆς) im Athen der solonischen Zeit vgl. Sol. fr. 23, bes. Z.19-21, im Kolonisationsgebiet (Kyrene im 6. Jh.) Herod. 4150,28 163,1. - Güter-, Frauen- und Kinderge-

meinschaft: Arıstoph. Ekkles. 588-727; Plat. Pol. 416d-420a; 457b-461e (vgl. dazu die Kritik des Aristoteles Pol. 1261b16-1264b24). Unter den Theoretikern forderte Phaleas von Chalkedon Gleichheit des Besitzes (bei Arist. Pol. 1266231-1267b21, mit Kritik des Aristoteles), ebenso - im Gegensatz zu der Gütergemeinschaft in seiner „Politeia““- Platon in seinen „Nomoi“ (745b2-e6, dazu die Kritik des

Aristoteles Pol. 1264b24-1266228). - Die Parodie des auf Gleichheit versessenen Mannes (ἰσονομικὸς ἀνήρ) bei Platon: Pol. 562a-563e (hieraus hat Cicero, de rep.

1,66-67 wörtlich zitiert). Die Anmaßung des Sohnes, dem Vater gleichzustehen, hat auch Aristophanes in der Sokrates-Kritik seiner ,, Wolken" persifliert (1321-

1475, bes. 1414). Zu den über den politischen Gleichheitsbegriff hinausgehenden Gleichheitsvorstellungen vgl. auch HIRZEL (187, S.262ff.). Zur modernen Diskussion des Gleichheitsgrundsatzes vgl. DANN (791).

Die Forschung zum athenischen Gleichheitsbegniff ist bereits o. S. 461ff. angeführt und besprochen worden. Darauf sei hier verwiesen. In der Literatur wird nicht selten das moderne Ideengut den athenischen Verháltnissen unreflektiert unterstellt, so besonders kraß von GLOTZ/COHEN (154, S.216ff.), wo von der

VIII. Die Grundlagen des demokratischen Gedankens

541

athenischen Demokratie ein Bild entworfen wird, als ob in ihr die Ideale der Franzôsischen Revolution mit denen der liberalen und sozialen Demokratie vereinigt worden wären und lediglich der Ausschluß der Fremden und Sklaven von den Segnungen der Demokratie als eine in den ansonsten fleckenlosen

Rahmen schlecht passende Abweichung vom Ideal anzusehen sei. - Zum Weiterleben adliger Werte und Verhaltensweisen in der Demokratie vgl. GSCHNITZER (179, S.126ff.).

Über die Entwicklungsgeschichte und den Inhalt von Isegorie ist in jüngerer Zeit wiederholt

gehandelt

worden,

so auch von

RAAFLAUB

(798; 379,

S.277ff.), der sämtliche Belegstellen zitiert und erörtert und die gesamte ältere Literatur aufgearbeitet hat, und LEWIS (796). Über die Grenzen der Isegorie haben sıch insbesondere BONNER (792) und FINLEY (801) Gedanken gemacht.

Bonner erörtert neben den faktischen (z. B. mangelnde Redefähigkeit, Jugend) und gesetzlichen Einschränkungen (Verbot der Schmährede, Atimie) vor allem

auch die Bemühungen der Athener, unwürdige und verantwortungslose Bürger durch angemessene Strafandrohungen (wegen Täuschung, Bestechung, Ver-

leumdung usw.) am Sprechen zu hindern oder doch einzuschüchtern, wodurch die Redefreiheit weniger eingeschränkt als vielmehr die Möglichkeit ihrer Ausübung erst gesichert wird. Finley richtet seine Aufmerksamkeit vor allem auf die

durch die Religion gesetzten Grenzen der Redefreiheit. Er interpretiert die Asebie-Prozesse des ausgehenden 5. und beginnenden 4. Jhs. gewiß richtig als Symptome einer allgemeinen Verunsicherung, nicht als konkrete Einschränkungen der Isegorie. Den Hermokopidenfrevel von 415, bei dem vor Ausfahrt der

Flotte nach Sizilien zahlreiche Hermes-Stelen verstümmelt und die Mysterien verunglimpft worden waren, erörtert er ebenfalls im Zusammenhang der Grenzen der Isegorie, doch gehört er nicht dorthin. Denn bei ihm geht es nicht um eine Begrenzung der Rede- bzw. Gedankenfreiheit, sondern um die Schändung von Heiligem, die zu jeder Zeit und nicht nur in Athen unter Strafe stand; es

erschrickt hier lediglich die Menge der Klagen und die Härte der Strafen. Die Annahme von Finley, daß die Verächter der religiösen Tradition ebenso wie deren Verteidiger in den oberen Schichten zu suchen seien und also die große Masse dem Votum der Reichen nur gefolgt sei, ist aus den Quellen schwer zu belegen. - Sokrates war schon Jahrzehnte vor seinem Prozeß ein allen Athenern

bekannter Mann, und auch die Kritik an ihm war alt, wie die 423 aufgeführten „Wolken“ des Aristophanes, dieses gegen die „Denkfabrik“ (phrontisterion) des Sokrates gerichtete Stück beweist. Ob nun Arıstophanes Sokrates wirklich ver-

standen und das Sokratische seines Denkens für besonders gefährlich gehalten hat und darum warnen wollte (so H. ERBSE: Über das politische Ziel der aristophanischen Komödie, in: Studi in onore di Arıstide Colonna, 1982, 104ff.), oder

ob er in ihm jede geistige Spekulation angreifen oder auch nur persiflieren wollte (in diesem Sinne etwa ΚΙ]. DOVER in seinem Kommentar zu den „Wol-

ken“, 1970), mag dahingestellt sein. In jedem Fall hat sich in dieser Zeit die Kritik sozusagen auf Kabarett-Ebene bewegt; das Volk lachte und wurde bestenfalls für die angesprochene Sache empfindsamer; aber es reagierte nicht mit gesetzlichen Verboten. Zum Sokrates-Prozeß und den Schwierigkeiten, den historischen Sokrates aus dem beinahe undurchdringlichen Gespinst von Dich-

542

ZWEITER TEIL: QUELLEN

UND FORSCHUNG

tung und Legende herauszuschälen, vgl. O. GIGON: Sokrates. Sein Bild in Dich-

tung und Geschichte, 1947. 1979, bes. 69ff. - Die Entwicklungsgeschichte der Isegorie wird in der Forschung bisweilen durch den Gedanken verzerrt, daß sie von irgendeinem Politiker, so nach LEWIS (796) wahrscheinlich von Kleisthenes, wie ein Recht „eingeführt“ worden sei. Damit folgt man antiken Vorstellungen,

wie denn Lysias, Aischines und Demosthenes die Isegorie auf ein Gesetz Solons zurückführen. Die Freiheit der Rede in der Versammlung kannten indessen bereits die Aristokraten der archaischen Zeit. Zum politischen Schlagwort und damit zur Entstehung des Begriffs konnte es jedoch erst kommen, als es um die Redefreiheit für die breite Masse ging, und diese ist ebensowenig wie die Demokratie

„eingeführt“,

sondern

als

Konsequenz

der

errungenen

politischen

Gleichheit durch ihre allmähliche praktische Anwendung durchgesetzt worden. In diesem Sinne etwa GRIFFITH (794), der die allmähliche Durchsetzung der

Isegorie auf die Zeit nach 462 ansetzt und bei dieser Entwicklung den Vorsitzenden der Versammlungen, die überwiegend nicht mehr den oberen Schichten angehörten, eine aktive Rolle beimißt. Nach WOODHEAD (795) war es vor allem der Rat, der der Isegorie zum Durchbruch verhalf, weil in ihm seit Kleisthenes

Menschen aller Schichten saßen und der Zwang zum Reden erheblich stärker

war als in der von großen Massen besuchten Volksversammlung. Später hat ohne Zweifel die demokratische Idee, daß man das politische Recht nicht nur besitzen, sondern auch praktisch ausüben solle, dazu beigetragen, die Isegorie auf breiterer Grundlage zu nutzen.

Den rein politischen Charakter der Gleichheitsvorstellung hat Ch. MEIER in vielen seiner Schriften, am anschaulichsten vielleicht in einem kleinen Essay

über „Bürger-Identität und Demokratie“ (338, bes. S.57f.76ff.) dargelegt und dabei vor allem auch den Bezug des Bürgers zum privaten Lebensbereich, der

getrennt vom öffentlichen besteht, berücksichtigt. Danach bildet sich der Raum des rein Politischen als Betätigungsfeld des Bürgers vor allem in der Auseinan-

dersetzung mit den Adligen und identifiziert sich der Bürger zunehmend mit seiner Zugehörigkeit zu dem Bürgerkollektiv; diese „Bürger-Identität“ ist das

»Kraftzentrum" der Bürgerschaft (5.87). Der Bürger artikuliert dabei nach Meier vornehmlich die Interessen seiner Stadt, nicht die seines privaten Be-

reichs, doch tut er dies gegebenenfalls durchaus auch mit einem Blick auf seinen häuslichen Nutzen, erzwingt diesen aber nicht durch die Instrumentalisierung der Politik zu egoistischem Zweck (bes. S.79ff.). Der Bürger/Soldat steht gleichsam neben dem Hausherrn, und der „öffentliche Bereich wurde damit stärker als zuvor“ (sc. in der vorkleisthenischen Zeit) „eine Welt für sich“ (S.82).

Über die Freiheit als den Schlüsselbegriff der athenischen Demokratie ist in álterer und jüngerer Zeit viel gehandelt worden. In den meisten Schriften wird jedoch zur Bestimmung des Inhalts des Begriffs nicht der Wortgebrauch

untersucht, sondern werden statt dessen die Organisationsformen und Ideen der Demokratie sowie das praktische Leben in ihr beschrieben. Hier ist der Bedeutungsgehalt von Freiheit unreflektiert vorausgesetzt, nicht aus dem Wortgebrauch herausgeholt worden. Ein typisches Beispiel für diese Darstellungsweise ist der die athenische Demokratie betreffende Teil des umfangreichen Werkes von M. POHLENZ: Griechische Freiheit. Wesen und Werden eines Lebensideals,

VIII. Die Grundlagen des demokratischen Gedankens

543

1955. Andere Arbeiten beschränken sich darauf, den besonderen Gebrauch des

Freiheitsbegriffs bei einzelnen Autoren zu untersuchen. Das hat etwa D. NESTLE:

Eleutheria. Studien zum Wesen der Freiheit bei den Griechen und im Neuen Testament, Bd. I: Die Griechen, 1967, mit gutem Gewinn für die Erforschung

der behandelten Autoren getan. Da alle Autoren des 5. und 4. Jhs. indessen ihre politischen Vorstellungen dem realen Leben in der athenischen Demokratie entnehmen, kann auch der politische Inhalt des Freiheitsbegriffs nur dem Wort-

gebrauch innerhalb der politischen Ordnung, auf den die verschiedenen Autoren sich beziehen, entnommen werden. Die Analyse hat demnach sowohl den

allgemeinen politischen Hintergrund, der durch die Organisations- und Le-

bensformen der Demokratie bestimmt ist, als auch die Absichten des jeweiligen Autors zu berücksichtigen, der den Freiheitsbegriff gegebenenfalls eigenwillig oder einseitig verwendet. Ein ernstes Hindernis für das Verständnis des griechischen und speziell athenischen Freiheitsbegriffs liegt auch darin, daß von vielen Gelehrten die griechische eleutheria mit modernen Vorstellungen und Begriffen verbunden wird. Das

soll gewiß nicht heißen, daß man für die Erklärung historischer Begriffe keine modernen heranziehen dürfe; im Gegenteil kann die Differenz der Bedeutungsinhalte gerade das Wesen eines historischen Begriffs erst deutlich machen und umgekehrt auch einem klareren Verständnis des modernen Begriffs dienen. Aber es wird häufig der moderne Begriff nicht lediglich als Instrument zur Analyse der historischen Verhältnisse herangezogen; vielmehr bemüht man sich, dessen konkrete Bedeutung in dem untersuchten historischen Gegenstand

wiederzufinden. So mag der Streit, ob es den Gedanken der individuellen Freiheit und der aus ihm resultierenden Persönlichkeitsrechte bereits bei den alten Griechen gab, für diejenigen, welche diese in klassischer Weise konzipierten,

also etwa für Benjamin Constant und John Stuart Mill, als Hintergrund ihrer auf die Moderne gerichteten Gedanken einen Sinn haben, und man mag auch einem Mann wie George Grote, der - gegen Constant - die Existenz dieser liberalen Freiheit in Athen zu finden glaubte, zugestehen, daf$ ihn die Nähe zu der

modernen Diskussion und die Distanz zu den Fachgelehrten seiner Zeit für die Problematik des Vergleichs blind machte. Es wirkt hingegen befremdend, wenn nicht wenige moderne Historiker die Verwirklichung der liberalen Freiheits-

rechte im einzelnen in Athen aufzuspüren suchen, wie es auch etwa ein so herausragender Staatsrechtler wie Georg JELLINEK („Allgemeine Staatslehre“, 1921. 1928°, 7.Neudruck 1960, S.294ff.; er spricht hier S.304 allerdings von faktisch vorhandener individueller Freiheit) und unter den Althistorikern

GOMME (793) getan hat, ohne sich dabei wohl immer der Problematik bewußt

zu sein. E.A. HAVELOCK: The liberal temper in Greek politics, 1957, hat gar ein ganzes Buch der Frage gewidmet, wem von den großen Geistern unter den Griechen des 5. und 4. Jhs., die er offenbar alle für Politiker hält, eine liberale

Einstellung zugesprochen werden kann (nach Havelock z. B. Perikles, Protagoras, Euripides, Herodot) und wem nicht (Platon, Aristoteles). Abgesehen davon,

daß Havelock den Begriff des Liberalen mit dem der Aufklärung und des Rationalismus in eins setzt und ıhn damit unstatthaft dehnt, kann die Sonde des

modernen Begriffs hier nur die hinter den griechischen Begriffen steckenden

544

ZWEITER TEIL: QUELLEN

UND FORSCHUNG

Vorstellungen verzerren und falsche Werturteile hervorbringen. Auch HANSEN (380, S.8ff.) teilt grundsätzlich die Annahme, daß wir im demokratischen Athen

von als Freiheit verstandenen Individualrechten ausgehen müssen. Dafür spre-

chen jedoch weder die von ihm angeführte Möglichkeit des Rückzugs ın die private Sphäre und der politischen Enthaltsamkeit noch der auch in Athen gegebene Schutz gegen die Exekution ohne Urteilsspruch und gegen Folter,

spricht ebenso nicht der Schutz für die Unversehrtheit des Hauses und des Eigentums oder der gegen die Willkür von Magistraten. Denn die politische Untätigkeit, die, obwohl unerwünscht (Thuk. 2,40,2), doch auch als Freiheit

gedacht werden kann (Eurip. Hiket. 440f.), ist in Athen kein Individualrecht,

und die Individualrechte, die von Hansen mit den modernen verglichen werden (s.o.), sind überall und zu jeder Zeit denkbare rechtliche Grundsätze, die in

Athen aber gerade nicht als Freiheit, sondern als gesetzlicher Schutz gegen den

willkürlichen Zugriff von Magistraten und Privaten begriffen wurden. Es fehlt in Athen das Erlebnis einer politischen Rechtlosigkeit und eines Kampfes um das politische Recht gegen eine als Despotismus aufgefaßte monarchische Gewalt sowie die Forderung nach freiheitlichen Grundrechten, wie sie das 18. und

19. Jh. kannte. Die Beamten in Athen stehen daher auch dann, wenn bei Gelegenheit ein einzelner Beamter der Übeltäter ist, gerade nicht als eine öffentliche Gewalt (Exekutive) den jeweils nichtbeamteten Bürgern gegenüber (so HANSEN a.O. S. 16f.); die Ohnmacht des einzelnen Geschäftsträgers ebenso wie der

demokratische Gedanke der Vermassung der Gescháftstráger lassen die Vorstellung einer exekutiven Gewalt gar nicht zu. Zu Recht hat demgegenüber u.a. I. BERLIN: Four essays on liberty, 1969, XLf., vor allem aber in einem glänzenden Essay R. MULGAN: Liberty in ancient Greece, in: Z. PELCZYNSKI/J. GRAY (Hrsgg.): Conceptions of liberty in political philosophy, 7-26, gezeigt, daß die Abstraktion individueller Freiheit und deren Anerkennung als politischer Wert den Griechen fremd war, und ebenso hat FINLEY (797; 801, S.81f.) mit Nach-

druck auf die historische Bedingtheit auch des modernen Freiheitsbegriffs und der aus einer bestimmten Auffassung von Freiheit abgeleiteten „unverlierbaren“ bzw. „natürlichen“ Rechte hingewiesen. Zur Kritik vgl. ferner T.A. SINCLAIR: Phoenix 13, 1959, 78-80. Was die Griechen unter Freiheit verstanden, läßt sich nur anhand einer sich eng an den historischen Raum, in dem das Wort gebraucht wurde, haltenden

Begriffsgeschichte erarbeiten. Das ist von RAAFLAUB geleistet worden, der zu-

nächst Materialien und vorbereitende Untersuchungen zum Freiheitsbegriff (378), darauf eine Monographie, die erweiterte Habilitationsschrift, zu demsel-

ben Thema (379) veróffentlichte. Seine Thesen zur Entwicklung des Freiheitsbegriffs und anderer politischer Begriffe (isonomia, démokratía) decken sich in vielen Fällen mit den schon in der 1.Auflage dieses Buches geäußerten Ansichten. Es ist ihm jedenfalls darin zuzustimmen, daß die Griechen den Freiheitsbegriff (eleutheria) innerhalb der Polis zunächst ausschließlich in dem Verhältnis

zur Sklaverei benutzten. Als Begriff kollektiver Freiheit begegnet er anfangs nur im außenpolitischen Bereich, nach Raaflaub aber noch nicht in der archaischen Zeit (Gegenbeleg ist Her. 1,142 zum Jahre 522 v. Chr., wonach Maiandrios in Samos aus Anlaß des Todes des Polykrates einen Altar für Zeus Eleutherios

VIII. Die Grundlagen des demokratischen Gedankens

545

stiftete), sondern erst nach Ausbildung eines kollektiven politischen Bewußtseins der Politen in den Perserkriegen, für uns erkennbar besonders in dem Motiv für die Gründung des athenischen Seebundes, der, so Raaflaub, in der

„Befreiung“ der Hellenen von persischer Herrschaft bestanden habe. Die Bedeutung dieses Zieles für große Teile der hellenischen Polis-Welt hätte für die schnelle Verbreitung des politischen Freiheitsbegriffs gesorgt und die Gleichsetzung des Gegners, des persischen Großkönigs, mit dem Tyrannen dann den

Freiheitsbegriff auch in die innere Sphäre der Stadt eingeführt. Mit der Demokraue sei der Begriff aber erst seit den vierziger Jahren (S.277) verbunden worden, als die Kritiker der Demokratie in dieser nicht mehr die Herrschaft der

Gesamtheit der Bürger, sondern nur noch die einer Gruppe (Theten) sahen, demgegenüber bei den politischen Gegnern, den Demokratie-Anhängern, die Vorstellung einer Herrschaft der „Wenigen“ (oligarchia) aufkam und schließlich

die Verfechter der Demokratie ihr ebenso wie der Tyrannis gegenüber nun Demokratie als Freiheit auffaßten. Der Versuch einer Rekonstruktion der Be-

griffsgeschichte von eleutherta durch Raaflaub ist beeindruckend, aber man darf nicht vergessen, daß für die entscheidenden Nahtstellen nicht selten die Belege

fehlen und an ihre Stelle eine Hypothese die Lücke zu überbrücken sucht. So dürfte Raaflaub zwar darin Recht haben, daß der Bundeszweck im Jahre 478/77 in der Befreiung der Griechen von der Perserherrschaft lag, doch es fehlen

zeitgenössische Belege darüber, ob diese Befreiung auch mit dem Begriff elewtherta ausgedrückt wurde. Vielleicht lagen für die ,,Befreiungstat" zunächst andere Vorstellungen vor und wurden mit anderen Formulierungen umrissen, wie denn etwa Thuk. 1,96,1 von der Vergeltung für die durch die Perser den

Griechen zugefügten Leiden spricht, und es überzeugt wenig, wenn Raaflaub zur Abdeckung des Schweigens unserer Quellen sagt (S.106f.), daf der eigentliche Zweck des Bundes, nàmlich - neben der Sicherung der Freiheit des Mutterlandes - die Befreiung der Hellenen, „zwar allen bewußt“ war, aber nicht „offen

proklamiert" werden durfte. Auch fehlen jegliche Hinweise darauf, daß der Begriff démokratía zuerst von den Kritikern der Demokratie geprägt und also pejorativ verstanden wurde (S.270). Wo er für uns zuerst erkennbar wird, ist er

stets positiv gemeint, und es wird bei einer angenommenen pejorativen Anwendung des Begriffs auch nicht deutlich, wie und warum er denn von den Demokraten schließlich aufgenommen und im positiven Sinne verwendet worden ist. Die Ausbildung einer nicht nur dezidierten, sondern auch schon begrifflich ausgeformten Demokratie-Kritik wird hier sehr früh angesetzt, der Sache nach schon seit dem „Umsturz des Ephialtes“, und damit in eine Zeit verlegt, für die

wir weder démokratía noch oligarchta als politische Begriffe nachzuweisen vermögen, geschweige denn in dieser Zeit eine komplexe Entwicklungsgeschichte, die zudem nicht mit der Verwendung der Begriffe bei deren ersten Erscheinen in unserer Überlieferung übereinstimmt, wahrscheinlich machen kónnen. Es ist

Raaflaub jedoch darin beizupflichten, daß das Kernwort für die isonome Ordnung im ausgehenden 6. und beginnenden 5. Jh. isonomía war (oder eher &on,

isótés, weil die begriffliche Abstraktion der isonomen Ordnung doch wohl später ist als die Formulierung der Sache, auf der sie fußt), nach Raaflaub

allerdings zunáchst von den Adligen im Kampf gegen den Tyrannen geprägt und

546

ZWEITER TEIL: QUELLEN UND FORSCHUNG

benutzt wurde (vgl. o. S. 463). Der innenpolitische Freiheitsbegriff steht also auch nach Raaflaub nicht in einer adligen Tradition; er ist unabhängig von ihr: Freiheit im politischen Sinne ist, ganz im Gegensatz zu der römischen libertas, kein Adelswort, sondern als Ausfluf des Gleichheitsstrebens eine Schópfung der Demokratie. - Der Freiheit der Intellektuellen, insbesondere der Philoso-

phen und Dichter, hat DOVER (799) eine besondere Studie gewidmet, deren Ergebnisse sich in etwa mit den im Text vertretenen Gedanken decken.

Die Verwirklichung der Gleichheit in der politischen Praxis Zur Losung und zu den Diäten vgl. vor allem o. S. 265ff. und 280ff. sowie im Forschungsteil S.530ff. und 534ff., zu der Struktur von Rat und Beamten bes.

199ff. und 237ff. Das Stasis-Gesetz Solons steht bei Arist. AP 8,5 und Plut. Sol. 20,1, weitere Belege bei A. MARTINA: Solon, 1968, 174ff. Die Authentizität des Gesetzes

wurde oft bestritten (so u.a. auch von RUSCHENBUSCH, 305) und als Erfindung einer späteren Zeit hingestellt (HIGNETT, 280, S.26f.), doch haben es neuerdings u.a. GOLDSTEIN (804) und BERS (805) wieder für Solon in Anspruch genommen,

der letztere mit der Variante, daß es bereits in den ersten Anfängen der soloni-

schen Tátigkeit zur Unterstützung des Reformwerkes selbst, nicht als Handlungsmaxime künftigen politischen Verhaltens gedacht war. Von allen, die tiefer darüber nachgedacht haben, wird die Schwierigkeit hervorgehoben, sich eine

effektive Anwendung des Gesetzes überhaupt vorstellen zu kónnen (selbst von GOLDSTEIN, $.538). Was man sich von einem solchen Gesetz versprochen haben kónnte, wird nicht erkennbar, und so überrascht es nicht, wenn es mit dem

Nachweis des Gesetzes in der politischen Praxis schlecht bestellt ist. Der einzige, aber immerhin wichtige Beleg dafür, daß der Gedanke in der politischen Realität tatsächlich Bedeutung hatte, nämlich die Rede des Lysias gegen Philon (31) - in ihr bildet der Vorwurf der Apolitie beim Bürgerzwist von 403 den Kern

der Argumentation gegen Philon -, enthält bei aller förmlichen Ausprägung des

Gedankens, daß der Bürger zur Parteinahme verpflichtet sei, doch nicht nur keinen Hinweis auf einen entsprechenden nómos, sondern umgekehrt das ausdrückliche Eingestándnis des Lysias selbst, daß es gerade kein Gesetz über diesen Tatbestand gab (31,27). Da dem Lysias ein solches Gesetz, und besonders

eines, das den Namen Solons trug, kaum entgangen wáre, wenn es existiert hätte, kommen wir um die Feststellung nicht herum, daß ein Gesetz dieser Art z. Zt. des Prozesses gegen Philon (ca. 398) und also z. Zt. der ersten Erwáhnung in unseren Quellen nicht bekannt war. Es ist demnach erst nach diesem Prozeß

und vor Abfassung der aristotelischen Schrift vom Staat der Athener, in dem es zuerst erwähnt wird, erfunden worden. Die Rede gegen Philon beweist hingegen, daß das politische Engagement den Wert einer (nicht gesetzlichen, aber) ethischen Norm hatte, und darüber haben wir ja auch sonst Belege (bes. Thuk.

2,40,2). Die Überspitzung der Norm als eine Forderung nicht nur nach Aktivi-

tát, sondern nach unbedingter Parteinahme im politischen Streit dürfte erst die

IX. Ziele der Politik

547

besondere Situation nach 403 zur Voraussetzung haben, als die Partei in der Stadt (Athen) und die im Piräus sich als Folge des Streits um die „Dreißig“

einander gegenüberlagen und sich also in ihr (und damit in der Formulierung des sogen. Stasis-Gesetzes) die Zwietracht dieses Jahres widerspiegelte. In diesem Sinne BLEICKEN (806).

Freiheit als neues Lebensgefühl Die Charakterisierung der Demokratie als freiheitliche Lebensordnung steht bei Thukydides (Grabrede des Perikles) 2,37-39, die Rede des Nikias bei Thuk. 7,69,2, die Hauptstelle der aristotelischen Definition der Freiheit Arıst. Pol. 1317240-b17; vgl. 1310a28-34; 1319b30 sowie Plat. Pol. 557b; Lach. 179a. Der Ausspruch des Euripides steht bei Arist. Pol. 1310a33ff.(= NAUCK, fr. 883), die

Kritik Platons Pol. 557a-564e und Nomoi 698a-701b, wo die Entwicklung einer

maßvollen Freiheit zur Zeit der Perserkriege, in der die Athener sich den Gesetzen freiwillig gebeugt hätten, zu einer zügellosen Herrschaft des Theaterpubli-

kums (theatrokratia), in der Menschen ohne Sachverstand sich durchgesetzt

hátten und niemand mehr den Gesetzen gehorcht hátte, dargestellt wird. Belege für die demokratische als einer den Athenern eigentümlichen Lebensart finden sich háufig auch bei den Rednern, vgl. z. B. Lys. 6,48; 13,16 und vor allem 2,18 (Epitaphios auf im Korinthischen Krieg Gefallene), wonach die Athener auf Grund ihrer demokratischen Verfassung „freien Herzens sich als Bürger betäti-

gen“. 4€

IX. Ziele der Polıtik Der Nutzen der Stadt als gängiges Beweismittel der Argumentationslehre bedarf nicht des Beleges; vgl. z. B. Demosth. 23,18; 24,108; Pollux 8,44 und RAUBOLD

(377, S.93ff.). Daß das Wohl der Stadt über dem Vorteil des einzelnen steht, sagt z. B. Thuk. 2,60,2-4; milder formuliert Andok. 2,1 mit der Wendung, daß wie

die Stadt so auch der Vorteil allen Bürgern gemeinsam sei. - Macht als Wert an sich: Thuk. 2,60-64 (Vermächtnisrede des Perikles, bes. 62,2-3; 63,1; 64,3-5);

Melierdialog: Thuk. 5,85-113. - Aristophanes über die Athener als die Herren eines großen Untertanengebietes z.B. Ritter 965f.1086ff.1330.1333; Wespen 669ff. Daß die Armen in der Demokratie die Mehrheit bilden, ist ein tragender Gedanke schon der anonymen Schrift über den Staat der Athener (Ps.-Xenophon) und ist oft ausgesprochen worden; vgl. auch S. 343f. - Für Armut und Reichtum als Kriterien von Demokratie und Oligarchie bei den Philosophen sei nur die wichtige Passage bei Arist. Pol. 1279b11-128026 genannt. - Die Gier der Athener nach dem Geld der Bundesgenossen z. B. bei Ps.-Xenoph. 1,15f.; Thuk. 3,39,8. - Der Nutzen der Athener aus der Herrschaft über die Seebundstaaten ist

besonders wirkungsvoll von Plut. Perikl. 12 dargestellt worden; dort auch die Haltung des Perikles zur Herrschaft der Athener und dazu ferner Thuk. 2,43,1

(Grabrede des Perikles: Macht ein Wert an sich) und 2,62-64 (Vermächtnisrede des Perikles).

548

ZWEITER TEIL: QUELLEN UND FORSCHUNG

Zu den Kleruchien vgl. BUSOLT/SWOBODA (176, S.1271ff.), GSCHNITZER (428,

S.98ff.), BRUNT (429) und SCHMITZ (412, S.79ff.298ff.).

Zum Wohnungsbau als demokratisches Programm: Über die Häuser im Piráus ist jüngst durch die Thesen der Archáologen HOEPFNER und SCHWANDNER (275; ohne Einwand anerkannt von E. KLUWE: Polisideologie und Handwerk, in: Klio 71, 1989, 414-419) eine Diskussion entstanden, die wegen der damit ver-

bundenen weitgehenden Konsequenzen für den demokratischen Gedanken Be-

achtung verdient und darum hier besprochen werden muß. Nach den genannten Archäologen soll der bekannte Staatstheoretiker Hippodamos von Milet, der nach einem eigenen System (κατὰ τὸν νεώτερον καὶ τὸν 'Imzoóápetov τρόπον,

Arist. Pol. 1330b21ff., bezogen auf die privaten Wohngebiete) angeblich auch Stadtanlagen konstruiert hat und nach den Perserkriegen u.a. am Ausbau des

Piräus beteiligt war, in seinem Stadtplan durch die Gleichartigkeit der Häuser (von den zitierten Archäologen „Typenhäuser“ genannt) den demokratischen Gedanken sozusagen in die städtebauliche Wirklichkeit getragen haben. Typen-

häuser können die Archäologen zwar vielerorts für die klassische Zeit nachweisen, so in Milet, Olynth, Kassope/Epirus und Priene, und sie glauben diese auch

im Piräus gefunden zu haben. Aber gegen diese These ist schon wegen ihrer naiven Verbindung archäologischer Denkmäler mit geistigen Ideen Wider-

spruch einzulegen. Für den Nachweis verhältnismäßig gleichartiger Häuser bietet sich zunächst die Erklärung an, daß angesichts der wirtschaftlichen Verhältnisse für den Durchschnittsbürger in dieser frühen Zeit nicht viele Möglichkeiten der Variation von Hausgrundrissen bestanden haben. Vor allem aber ist der Massenbau von Häusern, der eine noch stärkere Verallgemeinerung erzwang, nirgendwo als eine Folge demokratischer Umwälzungen belegt, sondern in aller Regel nach der Zerstörung oder Verlagerung von Städten erfolgt und

also als Folge außenpolitischer Ereignisse oder naturgegebener Veränderungen (Erdbeben, Verschlammung usw.) zu sehen, wie es denn auch tatsächlich dort,

wo die Autoren „Typenhäuser“ und regelmäßige Stadtanlagen aufweisen können (Milet, Olynth, Kassope und Priene), der Fall ist. Ferner darf die von

Aristoteles und anderswo überlieferte städtebauliche Tätigkeit des Hippodamos nicht einfach mit seinen verfassungstheoretischen Spekulationen, die wir aus Arıst. Pol. 1267b22ff. im groben kennen, verbunden werden (vgl. GEHRKE, 275, II S.58ff.); dies tut auch Aristoteles nicht, nach dem die verfassungspolitischen

Theorien des Hippodamos durchaus nichts mit Demokratie zu schaffen haben. Weiter hat die Idee der Demokratie, soweit wir wissen, die ökonomische Pro-

grammatik weitestgehend ausgeklammert: Demokratie ist eine Idee des rein politischen Bereichs (s.o. S. 318ff., ferner auch D. HENNIG, 275, II S.25ff.). Und

was schließlich den Piräus angeht, hat EICKSTEDT (266) dort weder ein re-

gelmäßiges Straßenschema ($.96) noch eine durchgehende Einheitsbebauung (5.107) erkennen können (vgl. auch H. KNELL: Bonner Jahrb. 188, 1988, 560ff.).

Die Verbindung von Hausarchitektur und Demokratie ist hier wie anderswo im antiken Raum nicht zu belegen; sie enthält eine aus der Moderne stammende Prämisse. Daß nicht nur die athenische, sondern die gesamte „griechische Innenpolitik eine Funktion der Außenpolitik war“, hat HEUSS (802, S.83) am schärf-

IX. Ziele der Politik

549

sten formuliert. Denselben Gedanken stützt RUSCHENBUSCH (808, S.15ff.) mit

der Behauptung, daß die Außenpolitik alle anderen Aktivitäten der Athener überwogen habe und auch sie allein eine politische Konzeption verrate, die Innenpolitik hingegen nur aus Verwaltung bestanden habe. Er sucht dies mit einer inhaltlichen Analyse der 182 überlieferten Volksbeschlüsse bis z.J. 403 zu belegen, von denen 26 Kultus, Bauten und Finanzen, nur drei innenpolitische

Fragen im eigentlichen Sinne (unter ihnen zudem ein Ehrendekret) und alle anderen die Außenpolitik betroffen hätten. Wieweit aber die Beschlüsse über äußere Fragen nicht die Konsequenz innerer Probleme gewesen sein könnten, wird von ihm ebensowenig beachtet, wie der Begriff der „Verwaltung“ nicht definiert ist. Erschópft sich das Bau- und Finanzwesen in der Organisation von Neubauten und Reparaturen bzw. in der Anweisung und Aufbewahrung von

Geldern, oder kann mit ihnen nicht auch ein politisches Ziel verbunden sein? Der Wille der Athener nach Hegemonie und Herrschaft ist oft konstatiert worden. Der allmáhlichen Herausbildung dieses Ehrgeizes in der Zeit

zwischen Kleisthenes und den ersten Anfángen des Seebundes sind H.D. MEYER (415) und KIECHLE (416) nachgegangen; eine kurze Zusammenfassung des Aspektes bringt SCHULLER (401, S.189ff.). EHRENBERG (814) hat in einem ein-

drucksvollen Aufsatz den athenischen Herrschaftswillen mit der Vielgeschäftigkeit (polypragmosyne) in der Demokratie verbunden, sah seine in Athen beson-

ders ausgeprägte Form also nicht im Streben nach wirtschaftlichem Vorteil, sondern in einer demokratischen Tugend (oder einem Laster, wie man will) begründet. Ch. MEIER (809) hat die auftenpolitische Dynamik der Athener und die Wechselwirkung zwischen ihr und der Demokratie hervorgehoben und auf die damit zusammenhángende Wandlung der militärischen Operationen von vereinzelten Unternehmungen mit begrenzten Zielen zu langfristigen strategischen Planungen, die nun auch die Finanzierungsprobleme einschlossen, aufmerksam gemacht. Neben dem Herrschaftswillen betont MEIGGS (400, bes. S.404ff.) das wirtschaftliche Interesse. Ebenso erórtert SCHMITZ (412) ausführ-

lich den Zusammenhang zwischen der Außenpolitik und den wirtschaftlichen Wünschen der Athener, aber er ist es auch, der nach dem Vorgang vieler Gelehr-

ter immer wieder hervorhebt, ja es zur Grundthese seines Buches gemacht hat,

daß es in Athen zum einen für eine dynamische Außenpolitik bzw. Herrschaftspolitik im Prinzip keine divergierenden Ansichten gegeben, zum anderen aber hinter der Außenpolitik keine wirtschaftlichen Interessengruppen gestanden hätten (vor allem auch nicht im Hinblick auf die Kleruchien, S.79ff.298ff.), daß

Außenpolitik mithin nicht Sozialpolitik im Interesse bestimmter Gruppen war. Demgegenüber betont STE. CROIX (210, bes. 5.293) mit Nachdruck, daß nicht nackte Herrschaftsgier, sondern wirtschaftliche Interessen, insbesondere die Sicherung der Getreiderouten, den „naval imperialism“ der Athener aufrechter-

halten hätten. Ebenso ist nach FINLEY (807, vgl. 375) der materielle Vorteil die

beherrschende Antriebskraft für die Herrschaftspolitik gewesen und haben gerade die Ärmeren, nicht die Reichen, durch Kleruchien, Sold, Diäten, Arbeitsbe-

schaffungsprogramme usw. von der Herrschaft am meisten profitiert. Finley geht so weit zu behaupten, daß in einer Wechselwirkung zwischen äußerer Herrschaft und innerer Verfassung die Demokratie sich erst unter dem

550

ZWEITER TEIL: QUELLEN UND FORSCHUNG

Druck vor allem der ärmeren Leute ausgebildet habe. Die athenische Demokratie sei ohne die finanziellen Ressourcen des Seebundes nicht denkbar und also

dıe Herrschaft über den Seebund die Voraussetzung der demokratischen Verfassung gewesen. - In jüngerer Zeit ist auch die Einstellung der Bundesgenossen

zur athenischen Vormacht diskutiert worden. Im Anschluß an George Grote hat STE. CROIX (407) die These vertreten, daß Athen vor allem wegen der wirtschaftlichen Vorteile, welche die Herrschaft brachte (Frieden, freier Handel), bis

gegen Ende des Peloponnesischen Krieges bei den meisten Bundesstaaten populär blieb; diesem Sachverhalt widersprechende Passagen bei Thukydides werden mit dessen Sympathie für oligarchische bzw. gemäßigt demokratische Politik begründet. Dem haben BRADEEN (410), der in dem Freiheitsstreben der Grie-

chen das entscheidende Motiv für die Haltung gegenüber Athen erkennt, und QUINN (411) widersprochen.

Zu den Bauten in Athen und Attika allgemein vgl. TRAVLOS (259; 260) und speziell zu der Bautätigkeit in Athen bis 404 v. Chr. mit dem Schwerpunkt auf die peisistratidische und perikleische Zeit den guten Überblick von BOERSMA (258). Speziell zu den Bauten auf der Akropolis sind vor einigen Jahren zwei umfangreichere Darstellungen von MUSS/SCHUBERT (263) und SCHNEIDER/ HÖCKER (264) erschienen, von denen die erstere stärker systematisch-antiqua-

risch gegliedert ist, die zweite eine chronologisch-historische Sehweise bevorzugt; beide Bücher wenden sich an ein breiteres Publikum, erörtern aber nichts-

destoweniger mit Blick auf das Wesentliche die Fachprobleme und führen durch den Anmerkungsapparat weiter. Speziell zum Parthenon und Pheidias ROBERTSON (244, S.292ff.).

Über die Identifikation, Datierung und Funktion der beiden Athena-Tempel und ihrer Vorgänger auf der Akropolis, insbesondere auch über die Funktion des Parthenon, ist in einer umfangreichen Literatur viel gestritten worden.

Neben dem Tempel der Athena Polias aus spätpeisistratidischer Zeit, dem sogen. Dörpfeld-Tempel, der in archaischer Zeit mehrere Bauphasen durchmachte, stand der Parthenon mit seinen zwei Vorgängerbauten, nämlich dem Ur-Parthenon aus den sechziger Jahren des 6. Jhs. (ein Poros-Tempel, der doch wohl mit dem Hekatompedon der Inschrift IG I? 1, Nr. 4 zu identifizieren ist) und dem Vor-Parthenon (der erste Parthenon aus Mamor, gebaut wahrscheinlich vor dem großen Perserkrieg, aber er wird auch danach datiert; die Verbindung dieses

Tempels mit Kimon beruht auf reiner Spekulation). Zur Geschichte des alten Poros-Tempels (Dórpfeld-Tempel) vgl. W.B. DINSMOOR: The burning of the opisthodomos at Athens, in: Amer. Journ. Archaeol. 36, 1932, 143-172.307-326,

der gegen Xenophon den Brand des Tempels statt auf 406 auf 377/76 und dessen endgültige Aufgabe auf 358 v. Chr. datiert; ferner dazu und zu den Vorgángerbauten des Parthenon MUSS/SCHUBERT (263, S.51ff.) und SCHNEIDER/HÓCKER (264, S.95ff.).

Die Funktion des Parthenon als Schatzhaus ist schon früh vertreten vorden (vgl. auch Dem. 22,76: ἀνάθημα), zuletzt mit nüchterner Distanz von ZINSER-

LING (422; 423) und PREISSHOFEN (424). Die Athena Parthenos des Pheidias ist

nicht als die Statue eines gesonderten Kultes anzusehen, sondern bezieht sich auf die Polis (vgl. HERINGTON, 598, S.33f. und pass., der sein Ergebnis allerdings

IX. Ziele der Politik

551

mit einer schwierigen, kaum nachvollziehbaren Konstruktion belastet; ZINSERLING, 422, $.237f.: „Weihgeschenk an die Athena Polias“). Es gibt nur einen Altar, nämlich den, vor dem der Panathenäenzug endet, und nur

einen

Kult

der Athena, nämlich den der Polias, auch nur eine Priesterin. Neben dem Kult

der Polias kennen wir auf der Akropolis nur den der Athena Nike, die nach dem Gründungsdekret von 424/23 eine eigene Priesterin erhielt und für die solenne Opfer vorgesehen waren (MEIGGS/LEWIS, 127, Nr. 71). Der Beiname „Parthe-

nos“ erscheint weder in klassischer Zeit noch später auf einem offiziellen Dokument (HERINGTON, 598, S.8ff.). Wie der Parthenon, der allerdings νεώς genannt

wird, vor allem als Schatzhaus angesehen worden sein dürfte, hat man offenbar auch die Statue der Parthenos selbst als Teil des Schatzes betrachtet (40 Talente abnehmbaren Goldes, Thuk. 2,13,5). - Unter dem Einfluf$ antiker Literatur, insbesondere von Plut. Perikl. 12-14, wurde die Idee, die Durchsetzung und

Durchführung des Akropolis-Ausbaus einseitig Perikles zugewiesen, mit dem wiederum

Pheidias als dessen Freund, Künstler und Oberaufseher über die

Bauten verbunden erscheint. HIMMELMANN (425) aber hat gezeigt, daß einer

Oberleitung durch Perikles mit einem Episkopos Pheidias dem archáologischen Befund, der viele Werkstätten mit unterschiedlicher Qualitát der Produkte vor-

aussetzt, widerspricht. Die einheitliche Bauführung ist auch mit der demokratischen Wirklichkeit, nach der viele, jáhrlich wechselnde Kommissionen die Bauten beaufsichtigten und lenkten und von der wir aus den Bauinschriften manches wissen, schwer zu vereinbaren. Der Anteil des Perikles hat sich wohl auf die

Initiative zu diesem und jenem Bau und auf gelegentliche Eingriffe beschränkt.

Seine Omnipotenz beim Ausbau Athens ist eine durch den Mangel literarischer Quellen für diese Zeit verursachte und durch die Wertschätzung der archäologi-

schen Hinterlassenschaft geförderte Projektion des politischen und künstlerischen Zeitgeistes auf seine Person: In ihm verdichtet sich das, was der Nachschauende - und nicht erst der moderne, sondern schon der antıke - der Zeit

seines politischen Wirkens an Vorstellungen und Ideen, insbesondere auch ästhetischen Werturteilen zumaß, und Perikles erscheint so als der gleichsam

entindividualisierte Repräsentant dieser Zeit. Mit klarem Blick für die Problematik der Quellen hat AMELING (427) die den Ausbau der Akropolis betreffenden Kapitel des Plutarch (s.o.), die immer wieder als Beleg für die Rolle des Perikles und Pheidias beim Ausbau der Akropolis herangezogen werden, analy-

siert; danach gehören bis auf wenige Grunddaten, die auf eine ältere Tradition zurückgehen dürften (Opposition des Thukydides, des Melesias Sohn, gegen das von Perikles vertretene Ausmaß des Akropolis-Programms wegen der dadurch möglichen Rückwirkung auf die Bundesgenossen; Katalog der Bauten in Athen und Attika), die Gedanken und Interpretationen Plutarchs großen Teils einer späteren Zeit an und sind insbesondere auch aus ästhetischen Vorstellun-

gen des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts herausgesponnen worden. In der Tat sind diese uneinheitlichen, aus mannigfachen Quellen gespeisten Kapitel

eher auf spáte Reflexion denn auf alte Tradition gegründet. Nichtsdestoweniger verbinden viele Arbeiten von Althistorikern und Archäologen meist unreflektiert weiterhin Perikles/Pheidias mit dem Gesamtkonzept der Akropolis (so auch ZINSERLING, 423, S.28f.) und kann als Beweis für diese Rolle u.a. die

552

ZWEITER TEIL: QUELLEN UND FORSCHUNG

angebliche Abbildung des Perikles - neben der des Pheidias selbst - als einen der Kämpfer gegen die Amazonen auf dem Rundschild der Parthenos gelten (Plut. Perikl. 31,3; Dio Chrysostomus or.12,6; Schild Strangford, Brit. Mus. 302 und

dazu T. HÖLSCHER: Athen. Mitt. 91, 1976, 116ff. und Erika SIMON, ebd. 136f., letztere mit der erfrischenden Bemerkung: „Mummenschanz“). Neben der maßlosen Überzeichnung der Person des Perikles ist es auch die enge Verbindung des Bildprogramms des Parthenon mit zeitgenössischer politischer Thematik, die dann wieder in Perikles personalisiert wird, die Kritik herausfordert.

Als Bildbezug läßt sich aber zunächst neben Poseidon und Pandora, also Gottheiten der Akropolis, allein Athena erkennen (beide Giebel: Geburt der Athena; Streit um das attische Land mit Poseidon; Kultbildbasis: Geburt der Pandora),

dann die Stadt Athen in Theseus (Metopen und Schild: Kentauromachie, Amazonomachie) bzw. die Stadt als Vorkämpfer gegen asiatische Völker bzw. Barbaren (Metopen und Schild: Kentauromachie, Ilioupersis und evt. Gigantomachie). Bei diesen letzten Themen, insbesondere bei der Amazonomachie und der

Ilioupersis, haben wir gewiß auch wohl an die Perserkriege zu denken (vgl. SMARCZYK, 413, S.301ff.), aber man sollte nicht vergessen, daß es die Darstel-

lung dieser Mythen in Athen natürlich lange vor der Invasion der Perser gab (die Deutung der Bildthemen der Westmetopen als Szenen aus den Perserkriegen, etwa aus der Schlacht von Marathon, ist umstritten und angesichts der ansonsten ausschließlich mythischen Thematik eher unwahrscheinlich). Man sollte

sich davor hüten, die Bildthematik des Parthenon zu stark mit aktuellem politischen Gegenwartsbezug aufzufüllen. So ist denn auch der Gedanke einer dahinterstehenden panhellenischen Idee (natürlich des Perikles!) abwegig, ganz abgesehen davon, daß der Begriff hier anachronistisch ist (nicht nur der politische Panhellenismus, wenn es ihn denn in der Antike je gab, sondern auch der literarische Panhellenismus etwa eines Isokrates setzt eine zumindest partielle Affirmation bzw. die Chance dazu bei den Objekten einer solchen Geisteshaltung voraus); er wird nichtsdestoweniger auch in neuester Literatur vertreten, zuletzt, soweit ich sehe, besonders eindringlich von KNELL (426, S.11.31ff.47),

dessen totale Identifikation der Bildthemen des Parthenon mit politischen Absichten des Perikles an ältere Arbeiten, insbesondere an die von F. SCHACHER-

MEYR über die Religionspolitik und Religiositát (sic) bei Perikles (Sitz. ber. Osterr. Akad. d. Wiss., philol.-histor.Kl. 258,3, 1968) erinnert, die besser dem Vergessen anheimgefallen wáre (nüchterner urteilen SCHNEIDER/HOCKER, 264,

S.151ff.). Interpretationen dieser Art ist schwer beizukommen, denn sie sprechen von historischen Begriffen und Ideen, so als ob man sie unabhängig von der jeweiligen historischen Situation, der sie verhaftet sind, in Zeit und Raum beliebig versetzen kann. Im Grunde haben Arbeiten dieser Art die „Geschichte“

gar nicht im Blick. Sie reagieren nur auf zeitgenóssische Bedürfnisse und kommen darum bei den Zeitgenossen auch an. Der Parthenon und die übrigen

Bauten der Akropolis scheinen sich für solche Geschichtsklitterung wegen ihrer langen Wirkungsgeschichte zu eignen. Vor dem Parthenon darf jeder „abheben“. Die Bildthematik des Parthenon bezieht sich aber, soweit sie über Athen

hinausweist, auf keine konkrete Politik, sondern gibt eine allgemeinere politische Idee wieder, nämlich die Idee des Kampfes der Griechen gegen die Barba-

IX. Ziele der Politik

553

ren und stellt den Anteil Athens daran vor, und diese Idee ist selbstverständlich

in den Mythos verlegt. Der Parthenon will zusammen mit dem gesamten Ensemble darüber hinaus durch seine Monumentalität und sein künstlerisches

Niveau auch von der Macht Athens und vom Stolz der Athener darauf künden. „Macht“ ist jedoch hier als Geltung Athens unter den Griechen (vgl. etwa SCHULLER, 401, S.121f.), nicht als Herrschaft über die Seebundsstaaten zu ver-

stehen; anderenfalls hátten die Athener ja ihre Herrschaft formal als eine Tyrannis etikettiert.

Gegen die Annahme, daß der Ausbau der Akropolis vor allem auch der Arbeitsbeschaffung gedient, ja von dort sogar seine Impulse empfangen habe, zuletzt mit guten Gründen AMELING (427, vgl. auch bereits NIPPEL, 899, S.67 Anm.14). Vor derartigen Spekulationen sollte allein die Tatsache des hohen Anteils von Metóken und Sklaven an den Bauarbeiten, wie sie für die Arbeiten am Erechtheion beobachtet wurde, zurückhalten; vgl. RANDALL, 526). - Zu der

Verehrung der Athena Polias und anderer Gottheiten der Stadt bei den Bundesgenossen Athens vgl. SCHULLER (401, S.113.117f.168ff.) und vor allem die große

sorgfältige Untersuchung von SMARCZYK (413, bes. S.58ff.). Wieweit für den Ausbau der Akropolis Bundesgelder verwendet worden sind, wird kontrovers diskutiert. Nach jüngeren Berechnungen kostete der Parthenon weniger als 470 (RS. STANIER: The cost of the Parthenon, in: JHS 73, 1953, 68-76) oder doch nicht mehr als 700-800 Talente (MEIGGS/LEWIS, 127, Nr. 59; die von BELOCH, 152, Bd. 2,2 S.335f. errechnete Summe von 1 000 Talenten für die

Gesamtkosten der Akropolis ist gewiß zu niedrig). Rechnet man die Kosten für die anderen Bauten und die Kultstatue dazu, kommt man auf eine Summe, die das

Sechzigstel, das der Góttin Athena seit 454/53 aus den Bundesgeldern zustand (jährlich ca. 7-8 Talente), weit übersteigt. Doch hat GIOVANNINI (760) in einem

klärenden Aufsatz gezeigt, daß eine sorgfältige Analyse unserer epigraphischen und literarischen Zeugnisse über Geldbestánde und Geldbewegungen sowie der auf uns gekommenen Abrechnungen für den Parthenon, die Propyläen, die Goldelfenbeinstatue der Athena und für das Erechtheion zu dem Schluß führen, daß

die Athena außer dem ihr zustehenden Sechzigstel des Phoros keine Bundesgelder unter ihren eigenen Geldern hatte. Dieses Sechzigstel war danach vielmehr der einzige (und reguläre) Zuschuß aus der Kasse der Hellenotamiai, konnte Athena ferner die Ausgaben für den Ausbau der Akropolis durchaus auch aus ihren eigenen Einnahmen, unter denen der ihr zustehende Zehnte der Kriegsbeute des Bundes ein sehr gewichtiger Posten war, finanzieren und war schließlich der Seebund nicht so flüssig, daß er sich als Kapitalgeber gleichsam aufdrängte, sondern er nach Abzug der jáhrlichen Mindestkosten für die Bundesaufgaben im Jahre 450 wohl kaum 5 000, eher 1 500 Talente an ÜberschuR hat ausweisen kónnen (eine etwas optimistischere Berechnung hat UNZ, 759, angestellt) und er

sich daher umgekehrt bei Gelegenheit sogar Geld hat vorschieften lassen müssen. Die Angabe bei Plut. Perikl. 12,1-4 (vgl. zu dieser Stelle auch AMELING, 427),

wonach Perikles die Bundesgelder u.a. auch für den Ausbau der Akropolis reklamierte, ist nach Giovannini daher als eine Unterstellung der Gegner der perikleischen Außenpolitik zu verstehen oder vielleicht sogar die Erfindung einer späteren Generation, die über die Herkunft der Gelder für die Bauten spekulierte.

554

ZWEITER TEIL: QUELLEN UND FORSCHUNG

Schutz der politischen Ordnung Ein Gesetz gegen die „Auflösung des Volkes“ überliefert Aristoteles AP 8,4 bereits für Solon und ders. AP 16, 10 eines gegen die Tyrannis für die vorpeisistratidische Zeit, Bestimmungen, die in arıstotelischer Zeit wohl als zu einem

Gesetz gehörig angesehen wurden. In der modernen Forschung wird diese

Gesetzgebung durchweg für historisch gehalten und auf Solon (BUSOLT/SWOBODA, 176, 5.233) oder gar auf Drakon (OSTWALD, 810, S.103ff.) zurückgeführt.

Der Begriff der „Auflösung des Volkes“ aber setzt die isonome Ordnung des Kleisthenes voraus, und auch die institutionalisierte Abwehr der Tyrannıs dürfte

in Athen kaum älter als die Vertreibung der Peisistratiden sein. Auf ein älteres (wohl kleisthenisches) Tyrannen-Gesetz dürfte sich das Gesetz des Demophantos vom Jahre 410 gestützt haben, das nach der Wiederherstellung der Demokraue von allen Athenern einen Eid gegen die „Auflösung des Volkes“ verlangte (Text bei Andok.

1,96-98). Das 1952 auf einer Stele gefundene Gesetz eines

Eukrates vom Jahre 336 gegen die „Auflösung des Volkes‘ und Tyrannis (Text bei B.D. MERITT: Hesperia 21, 1952, 355-359) ıst seinerseits wiederum von dem

Gesetz des Demophantos abhängig (dazu OSTWALD, 810, S.120ff.). - Auch der Ostrakismos ist als eine Abwehrmaßnahme gegen die Tyrannis anzusehen; vgl. THOMSEN (346). - Zum Buleuteneid vgl. o. S. 512, zum Heliasteneid S.515.

Zu den Grundlagen der Einrichtungen zum Schutz der demokratischen Ordnung im Sinne der im Text gemachten Ausführungen ausführlicher BLEICKEN (813). Das Phänomen wird von allen denjenigen Arbeiten berührt, welche die

im Text genannten Verfahren, also vor allem die Nomothesie, das Eisangelie-

und das Paranomieverfahren, in ihrem Verhältnis zum Rechtsgedanken allgemein untersuchen. PAOLI (811) hat für das Bewußtsein vom Wert der Rechtsord-

nung, das aus ihnen spricht, den Begriff der Legalitát verwendet. Das ist sicher gewagt, weil der Begriff die Problematik der positiven Ordnung und die sich

daraus entwickelnde Legitimitátsdiskussion voraussetzt. Vorsichtiger und ohne Zweifel richtiger sieht H.J. WOLFF (812, bes. S.45ff.) in der Nomothesie sowie in

der (im Text nicht erwähnten) Klage gegen die Einbringung eines unzweckmäfügen Gesetzes (νόμον μὴ ἐπιτήδειον θεῖναι) und dem Paranomieverfahren Ansätze einer Normenkontrolle, die nicht nur den Wortlaut der gesetzlichen Normen, sondern gelegentlich auch bereits den hinter ihnen stehenden rechts-

politischen Gedanken schützen will. Rechtsschutz und Rechtssicherheit sollen neben den genannten Verfahren auch das Verbot, staatliche Akte auf ungeschriebene Gesetze zu stützen, sowie der Vorrang der Nomoi vor den Psephismata und die Unzulässigkeit des gegen den einzelnen Mann gerichteten Gesetzes (νόμος ἐπ᾿ ἀνδρί; alle drei Bestimmungen zitiert bei Andok.

1,87; vgl. WOLFF

a.O. S.73ff.) gewährleisten. Der Paranomie-Klage haben WOLFF 2.0. S.45ff. und HANSEN (645), der Eisangelie-Klage THALHEIM (648, er hat ein älteres Eisangelie-Verfahren aus solonischer oder kleisthenischer Zeit von dem uns aus dem 4. Jh. bekannten, vielleicht 411/10 geschaffenen getrennt) und wieder HANSEN (649) besondere Abhandlungen gewidmet. HANSEN (645, 5.50) ist es, der in der Nomothesie das Zweikammersystem verwirklicht sieht. Vgl. auch LIPSIUS (708, S.176ff.).

X. Form und Intensität der politischen Praxis

555

X. Form und Intensität der politischen Praxis Das politische Engagement der Athener

Quellen: Der locus classicus für die vor allem außenpolitische Aktivität der Athener sind zwei Kapitel aus der Rede der Korinther in Sparta bei Thuk. 1,70-71. Im übrigen vgl. die o. S.224f. (zum Geschworenengericht) und S.539f. (zur Verwirklichung der Gleichheit) angegebenen Belege.

Zum Vorkommen und zur Bedeutungsgeschichte von polypragmosyne und verwandter Begriffe vgl. EHRENBERG (814), zur philotimia und deren Hochschätzung im demokratischen Athen WHITEHEAD (822). LOTZE (819), der in einem

wichtigen, die mannigfachen Aspekte des Problems berücksichtigenden Aufsatz das Engagement der Bürger in den Demen und den Besuch der Volksversammlungen und Geschworenengerichte untersucht hat, ist zu einem sehr posi-

tiven Bild politischer Anteilnahme in Athen gekommen, die trotz vieler praktischer Hinderungsgründe insbesondere für den Besuch der Volksversammlungen auch und gerade im 4. Jh. relativ rege war; auch die Bauern, die nicht allzu fern

von Athen lebten, hat die Landarbeit jedenfalls in einem groRen Teil des Jahres nicht an der Móglichkeit gehindert, sich am politischen Leben zu beteiligen (MARKLE, 821). Ebenso hat HANSEN (611) auf Grund von Demenangaben fest-

gestellt, daß im 4. Jh. nur ein Viertel der Rhetoren, Antragsteller, Strategen, Ratsherren und Richter zum Asty-Bereich gehórten, was selbst bei Annahme einer starken Binnenwanderung (bei Beibehaltung der alten Demenzugehóngkeit) doch auf die Bereitschaft einer stattlichen Anzahl von Bürgern verweist, für

das politische Gescháft die Mühen und Kosten einer nicht immer sehr kleinen Reise auf sich zu nehmen. Vgl. auch SINCLAIR (820, bes. S.106ff.), dessen Aus-

führungen aber nicht immer sehr prázise sind und bisweilen das Wesentliche der Forschungsdiskussion nicht treffen. Zu der Rekrutierung der Ratsherren vgl. o. S. 191ff.514, zu der der Richter S.210ff.516.

In einem vielbeachteten Aufsatz hat STRASBURGER (815) die These ent-

wickelt, daß es den Griechen, abgesehen von Sparta, an Gemeinschaftssinn gefehlt habe. Der einzelne habe sich vielmehr aus Erwägungen individueller Nützlichkeit an die Polis gebunden gefühlt und in ihr darum eher eine anerkannte Notwendigkeit als einen Gegenstand von Anhänglichkeit gesehen. Nómos, díké und die Gótter seien die Elemente seiner Bindung gewesen, denen er eher rational als emotional Gehorsam geleistet habe: „Die Idee der politi-

schen Gemeinschaft (ist) graduell zurückgeblieben hinter der Ethik der persónlichen Bindungen“ (S.115), und diese aus der aristokratischen Ära überkommene Einstellung habe trotz gelegentlicher idealistischer Positionen (Thukydides/Perikles; Platon, Kriton) sich grundsätzlich nicht gewandelt. Diese Vorstellung von einem freiheitlichen Selbstbewußtsein des Individuums, das zur Stadt eine vornehmlich rationale, utilitätsbezogene Bindung hat, suchte SCHAEFER

(816) in einer Entgegnung auf dem Historikertag in Ulm (1956) dahingehend zu korrigieren, daß er bei prinzipieller Zustimmung doch dem Gemeinschaftssinn ein gleiches Gewicht wie dem individuellen Freiheitsstreben zuwies. Wenn

556

ZWEITER TEIL: QUELLEN UND FORSCHUNG

Schaefer mit dieser Kritik wohl im Recht sein dürfte, überzeugt die Art seiner Beweisführung wenig. Schon seine Voraussetzung, daß Freiheit bei den Griechen immer „Freiheit im Staat", niemals „Freiheit vom Staat“ gewesen sei,

bringt die gerade von Strasburger vermiedene moderne Begrifflichkeit ins Spiel,

durch die ein abstrakter Staatsbegriff unterstellt wird. (Schaefer kennt auch eine „Freiheit neben dem Staat“, nàmlich die aristotelische Freiheit, zu tun, was man

will). Hingegen dürfte Strasburger in der Tat das Individuelle in den Handlungs-

maximen der Griechen zu stark herausgestrichen haben, ihm jedoch sowohl darın zuzustimmen sein, daß jedenfalls außerhalb der Demokratie in den grie-

chischen Städten der Gemeinschaftssinn nicht außergewöhnlich ausgeprägt war (dies sicher eine Konsequenz der archaischen Zeit), als auch darin, daß die

Bindung an die Stadt und die Mitbürger im Vergleich zu heute weniger gefühlsbetont war. Doch

fehlen emotionale Verhaltensmuster nicht, und vor allem

haben wir gerade für die Demokratie das Vorhandensein eines Gemeinschaftssinns zu konstatieren, dem wir im Athen des 5. und 4. Jhs. allenthalben begegnen und ohne den die Höhe und Dauerhaftigkeit des politischen Engagements auch nicht erklärt werden kann. Wie immer dieses Gemeinschaftsgefühl nun beschaffen war und worın es seine Ursache hatte, der moderne Betrachter wird

es im demokratischen Athen in der regen Anteilnahme einer Mehrzahl der Bürger am politischen Leben erkennen und darüber erstaunt sein, wie lange es aufrechterhalten wurde. Dies hat denn auch FINLEY (801; 823) wiederholt be-

wogen, es gerade gegenüber der modernen Apathie der Massen hervorzuheben;

er sieht es an einer Stelle (823, S.34) vor allem durch die Religion und die

Mythen gefestigt und erkennt in ihm die Kraft, welche die in der extremen Entscheidungsbefugnis von Volksversammlung und Gerichten sowie in der Zu-

fallsentscheidung des Loses liegenden Gefahren ausgeglichen habe. Einen auf den ersten Blick vielversprechenden Ansatz unternahm CARTER (817) mit dem Versuch, die politische Inaktivität der Bürger in der athenischen

Demokratie etwas näher zu bestimmen. Er scheiterte vor allem dadurch, daß er die politische Inaktivität (apragmosyné) nicht nach ihren verschiedenen Ursa-

chen gliederte (berufliche Unabkómmlichkeit, situationsbedingte und grundsätzliche Opposition gegen die Demokratie, Drückebergerei vor den bürgerlichen Lasten usw.) und also im Sinne des Erkenntniszieles eine Definition von

dem vorausschickte, was er als apragmosÿné verstehen will. So entsteht in seinem recht lockeren, teils sogar unübersichtlichen Aufriß angesichts der unvermittelt nebeneinander stehenden Gruppen der Inaktiven kein Bild von der Bedeutung

des Phänomens für die Demokratie. Darüber hinaus sind die Interpretationen literarischer Partien schon wegen einer mangelnden Distinktion der Aussagefähigkeit der doch recht unterschiedlichen Autoren (Thukydides, Euripides, Pla-

ton usw.) nicht selten überzogen oder sogar nicht nachvollziehbar. In der Summe

wird man aus dem Buch herauslesen können, daß viele reiche und

vornehme Bürger zur Inaktivität neigten, was nicht neu ist und wofür natürlich Gegenbeispiele bereitliegen; vgl. die Rezension von Elke STEIN-HÖLKESKAMP: Gnomon 64, 1992, 321-325. - Sind das politische Geschäft und der politische

Ehrgeiz demokratische Werte, wird das weder durch Bekenntnisse zu politischer Enthaltsamkeit widerlegt, die vielmehr als mögliche Lebenseinstellung

X. Form und Intensität der politischen Praxis

557

gedacht werden kann und auch ausdrücklich eingeräumt wird (vgl. Eurip. Hiκεῖ, 440f. und o. 5.290), noch selbst durch solche (wie Lys. 19,55 und Isokr. peri antid. 38), die vor demokratischen Gremien (Geschworenengerichten) in der

Öffentlichkeit gefallen sind: Vor Gericht will der Sprecher mit solchen Äußerungen nicht seine politische Untátigkeit preisen oder die politische Tätigkeit

herabsetzen, sondern zielt darauf, sich im Zusammenhang seiner Verteidigungsstrategie als friedliebenden Bürger und einfáltig-geraden Menschen hinzustellen und sich so von der Raffinesse und Gescháfts- wie Gesinnungstüchtigkeit des Gegners abzusetzen (anders HANSEN, 658, S.45f. und 380, S.10f.).

Der Bürger als Tráger der staatlichen Aktion

Mit Nachdruck hat F. VAHRNCKE: Die demokratische Staatsidee in der Verfassung von Athen, 1951, die Meinung vertreten, daß in der antiken Demokratie auch der Reprásentationsgedanke nicht gefehlt habe. Er sieht ihn nicht nur im Rat, sondern sogar auch in den Geschworenenhófen Athens verwirk-

licht, weil in der Vorstellung der Athener das Richtergremium als Volk angesprochen werde und ,,weiter . . . ja in der Tat der Repräsentationsgedanke nicht getrieben werden (kann) als in der Vorstellung der unmittelbaren Identität“ (145). Hier wird die moderne Lehre von der Reprásentation, die in der Tat nicht

nur als Vertretung, sondern auch als Identitát des Volkes gedacht werden kann, der athenischen Demokratie unterstellt. Die Athener haben jedoch die Richter nicht auf Grund der Fiktion einer politischen Theorie, sondern allein auf Grund

ihrer großen Zahl mit dem Volk gleichgesetzt. Sie vermochten schon wegen der überschaubaren Verhältnisse der Stadt nicht den Begriff der Repräsentation auch nur zu denken. Es ist bezeichnend, daß Aristoteles anläßlich der Erörte-

rung der angemessenen Größe für den besten Staat als eine Bedingung einer jeden Polis die Unmittelbarkeit der politischen Ordnung setzt: „Wer nämlich

soll noch Stratege einer ganz unübersehbaren Menge oder wer Herold sein, wenn er nicht eine Stentorstimme hätte“ (1326b5-7; vgl. Nik. Eth. 1170b31f.).

Zum Charakter der unmittelbaren Demokratie und ihren Konsequen-

zen gibt es keine Spezialliteratur, sondern lediglich in verstreuten Schriften eher beiläufige Bemerkungen. Die Spannung zwischen politischer Ordnung und gesellschaftlicher Realitát ist von HEUSS (802, S.85f.) erórtert worden. Er kommt

zu dem Ergebnis, daß auch „die attische Demokratie . . . entgegen ihren eigenen Prátentionen nicht unmittelbar Ausdruck eines gesellschaftlichen Zustandes, sondern Herrschaft des Staates, das heißt, des Herrschaftsapparates über die

Gesellschaft und deshalb schließlich über Menschen“ war (S.85). - Zur direkten

Demokratie in Athen (face-to-face society) und der politischen Bildung der Athener vgl. HOPPER (818) und die geistreichen Ausführungen von FINLEY (823,

bes. S.20ff.; dort auch über das Fehlen einer politischen Elite in Athen). Daß die Tragödie des 5. Jhs. eine politische Funktion besessen habe, hat Ch. MEIER in verschiedenen Schriften, besonders breit in seinem Tragódienbuch (242) und besonders gedrángt in einem Spezialaufsatz zum Thema (243) dargelegt. Nicht Weltsicht, Fragen der Werthaftigkeit des Verhaltens, nicht Leiden, Bewährung und Versagen des Menschen in Situationen des Konflikts,

558

ZWEITER TEIL: QUELLEN UND FORSCHUNG

dargestellt im Mythos, sei das Thema der Tragödie, sondern eine von ihm vorweg behauptete politische Aufgabe, die darın liege, den gleichsam plötzlich

in die Politik, ja in die Weltpolitik aufgebrochenen Athenern die „mentale Infrastruktur“, das „nomologische Wissen“, also ein Wissen davon, „was richtig

und falsch, was gerecht und ungerecht ist“ (243, 5.78), zu liefern. Die Tragödie setzt danach nicht ein schon vorhandenes, dem Dichter und seinen Zuhörern gemeinsames Weltbild voraus, sondern „sie hat in vieler Hinsicht das Weltbild

der attischen Demokratie bestimmt“ und also die Funktion der Kanzelrede des Pfarrers unserer Tage übernommen (243, 5.79; vgl. 242, 5.112). So sind nach Meier die „Hiketiden“ des Aischylos (242, S.99ff.; 243, S.80ff.) das Lehrstück für

die Identität von Polis und Bürger sowie für die neue Entscheidungsgewalt des Volkes nach dem „Umsturz“ des Ephialtes von 462/61 (die m.E. aber niemals, auch nicht vor der Demokratie, bestritten wurde und im Drama des Aischylos

doch überhaupt nicht problematisiert ist, sondern hier vielmehr lediglich dramatische Funktion hat, vgl. Meier selbst 242, 5.109; auch spielt das Stück in Argos, nicht in Athen und ist zudem 463/62, also vor dem Umbruch des

Ephialtes, aufgeführt worden) und ist die „Orestie“ das Lehrstück für die Schaffung eines neuen Rechts, das nach der Entmachtung des Areopags 462/61 die politische Zukunft bestimmt (242, S.117ff.; 243, S.82; vgl. dazu o. S.455ff.). Ich

kann in Aischylos nicht einen Mann sehen, der gegenüber seinen Zuschauern beansprucht hätte, in einem höheren Maße politische Erkenntnis zu besitzen, und dies ôffentlich zur Schau gestellt hátte. Hätte das Publikum überhaupt solche Belehrung ertragen? Schon um den Sieg im Wettbewerb mit den Konkurrenten davonzutragen, hätte der Dichter die Rolle des politischen Übervaters meiden müssen. Was er in politicis allenfalls leisten konnte, war die Herausstellung eines politischen Selbstbewufitseins - soweit gehe ich mit Meier -, das Dichter und Zuschauer teilten, das sie zusammenband und das der Dichter ideell überhóhen mochte, wie es Aischylos in den „Persern“ und auch etwa

Euripides in den „Hiketiden“ (s.o. 5.336) taten. Doch ist der eigentliche Raum

der Politik der Komódie vorbehalten, die zeitgenóssische Politik nicht Thema der Tragódie und wird diese in ihr jedenfalls in der Regel nicht mitbedacht, sondern bedarf dazu eines besonderen Anlasses. Denn die Tragödie ist zunächst auf den Menschen selbst, auf seine schicksalshafte Verstrickung, nicht auf die

besonderen Verhältnisse der Gegenwart gerichtet. Wenn MEIER (242, S.112) zu den „Hiketiden“ des Aischylos sagt, sie hätten „zur Orientierung, Legitimie-

rung und Selbstvergewisserung der attischen Bürgerschaft" Wesentliches geleistet, so allenfalls das letztere, aber auch das nicht in diesem Stück (s.o.), sondern in den „Persern“.

Der ProzeR der Willensbildung ist schon bei der Darstellung der Volksversammlung behandelt (o. S.165ff.502ff.) und ebenfalls sowohl dort als auch in

dem Kapitel über die innere Opposition (376ff.) die Bedeutung der persónlichen Verbindungen und Abhängigkeiten für die Willensbildung gewürdigt worden. In der Tat muß die institutionell-formale Seite des Willensbildungsprozesses durch den Hinweis auf das Wirken „informeller“ Kräfte ergänzt werden,

die im Aufbau der demokratischen Organisation nicht erkennbar, aber faktisch vorhanden sind und bisweilen sogar dem Zweck der Organisationsform zuwi-

X. Form und Intensität der politischen Praxis

559

derlaufen. Bei den Entscheidungen vor allem der Volksversammlung hat nicht nur

in den Anfängen der Demokratie, als die Politik noch weitgehend von Adligen getragen wurde, sondern zu jeder Zeit das personale Element eine ungemein wichtige Rolle gespielt. Bei durchweg gleicher politischer Grundanschauung, die wir in demokratischer Zeit voraussetzen dürfen, folgte der Athener im aktuellen

Fall vielfach einzelnen Persönlichkeiten und trat die Sache oft hinter die Person zurück. Diese Verhältnisse haben u.a. CONNOR (656), für den bleibenden politi-

schen Einfluß von Adligen bis auf die perikleische Zeit MARTIN (349), GEHRKE (825) und MacKENDRICK (343), für das 4. Jh. schließlich, in dem die Politik vor

allem von Strategen, Demagogen und, seit den fünfziger Jahren, auch von den außerordentlichen Finanzbeamten formuliert wurde, in einer Reihe von Aufsätzen SEALEY (gesammelt 827, S.59ff. 75ff. 111ff. 133ff. 164ff.) und PERLMAN (828;

829) aufgezeigt. Den politischen Gruppen des 4. Jhs. hat LONGO (826) eine eigene Monographie gewidmet, in der sie den Wandel von den konspirativen, demokra-

tiefeindlichen Hetärien vom Ende des 5. Jhs. zu den lockeren Gruppierungen um führende Politiker und Strategen im 4. Jh. heraushebt, die, in mannigfacher Weise zusammengesetzt, neben „Freunden“ auch eine Anhängerschaft enthält, die u.U. materielle Vorteile aus dieser Bindung zieht und für die der Begriff der Hetärie,

wenn überhaupt noch benutzt, in mannigfacher Bedeutung gebraucht werden kann; zur Hetärie vgl. auch u. 5.572. Auch STRAUSS (834, bes. S.11ff.) hat für das frühe 4. Jh. die Anhängerschaft der politischen Führer als temporäre, an persónli-

che, sachliche und klassenspezifische Rücksichten gebundene kleine, lockere Gruppen („factions“) analysiert. Gerade diese Überlegungen sind geeignet, die berechtigte Skepsis von FUNKE (433, S.23f.) über die Möglichkeit, Gruppen mit spezifischen Zielvorstellungen in dieser Zeit selbst für kürzere Zeiträume auszu-

machen, zu stützen und entsprechende Versuche ın den Bereich der Spekulation zu verweisen. - Zur Rolle der Aristokraten im klassischen Athen und der Einstellung der nichtadligen Bürger zu ihnen vgl. ARNHEIM (180, S.131-157, S.156: „democratic Athens was simultaneously anti-aristocratic in government and aristocratic in ethos“).

Bleibt das personale Element immer ein wesentlicher Faktor, liegt doch die

eigentlich interessante Frage darin, wie sich die personalen Bindungen in demokratischer Zeit gegenüber denen des 6. Jhs., als der maßgebliche Einfluß noch bei den Adligen lag, gewandelt haben. Darauf sind naturgemäß die meisten Gelehrten, welche die personalen Bindungen im Athen des 5. und 4. Jahrhunderts untersucht haben, eingegangen. So hat Gehrke in dem oben genannten Aufsatz herausgestellt, daf schon im 5. Jh. neben das personale Element die sachorientierte Politik trat, mit der einzelne Adlige für sich warben, und auch

die Struktur der Anhänger sich ánderte. Ferner hat DAVIES (831, bes. S.88ff.) in seiner sorgfáltigen Analyse der den Willensentscheid der Menge bestimmenden Abhängigkeiten im Athen der klassischen Zeit drei Entwicklungsstufen ausgemacht: Die erste sei noch von den Adligen geprágt gewesen, die neben ókonomischer Macht auch durch die von ihnen beherrschten Kulte EinfluR behalten bzw. gewinnen konnten; in der zweiten, mit dem Peloponnesischen Krieg be-

ginnenden Periode treten dann neben die Adligen vermógende Personen nichtadliger Herkunft, und in der dritten gewinnt schließlich durch die Erfordernis

560

ZWEITER TEIL: QUELLEN

UND FORSCHUNG

von Spezialkenntnissen, insbesondere von rhetorischer Ausbildung, eine neue Gruppe von Politikern Einfluß. Nimmt man dieses Schema nicht allzu starr, hält die Übergänge fließend und sieht in den herausgearbeiteten Gruppen der

politisch Einflußreichen keine feste Gruppierungen, dürften Wandel und Kontinuität der Voraussetzungen für die politische Willensbildung richtig getroffen

sein. RHODES (833) hat bei grundsätzlicher Anerkennung dieser Ergebnisse die im einzelnen sehr komplexen und für den bestimmten Augenblick schwer zu verifizierenden Verhältnisse der Abhängigkeiten noch differenziert und SEAGER (832) dargelegt, wie die Athener die tatsächliche Existenz von durch Herkunft

und Reichtum ausgezeichneten Politikern mit der demokratischen Idee dadurch

zu versöhnen suchten, daß sie deren Leistungen bzw. die ihrer Vorfahren für die Demokratie herausstellten. Man wird das so gewonnene Bild im Sinne von CONNOR (656, S.87ff.) auch noch darin ergänzen dürfen, daß nicht nur Abhän-

gigkeiten der verschiedensten Art (Ökonomie; Freundschaft; Nachbarschaft; Zugehörigkeit zum Demos und zur Phyle; Leistungen für die Stadt; rhetorische Ausbildung usw.), sondern seit dem letzten Drittel des 5. Jhs. nicht selten auch

ein Mann durch den direkten Kontakt mit der Menge, allein durch die Überzeugungskraft des Wortes und/oder der Sache, die Willensentscheidung beeinflußt hat (Kleon!), und daß schließlich durchaus nicht immer der Redner der bestimmende Mann war, sondern er nicht selten auch nur auf offensichtliche Wünsche

des Volkes reagierte (vgl. MONTGOMERY, 667, für Demosthenes und Aischines). - In einem ganz anderen, durch neuere sozialwissenschaftliche Methoden gekennzeichneten Ansatz hat OBER (835) es unternommen, den lensbildung aus einem Ausgleich zwischen der Masse und der ieren und in dem guten Funktionieren dieses Ausgleichs die Stabilität der Demokratie zu sehen. Den Kontakt zwischen

Prozeß der WilElite zu konstruUrsache für die Masse und Elite

sieht Ober in einer Art ritualisierter Verhaltensstrategie der Elite, deren Basıs wegen des egalitären Anspruchs der Demokratie die Forderung ist, die Zugehörigkeit zur Elite zu verbergen (in den Gerichten) bzw. glaubhaft zu machen (im

Rat und in der Volksversammlung), daß sie ihre Fähigkeiten ausschließlich zum Besten der Menge einsetze. Das Problem dieser These liegt in der Konstruktion der Redner und Antragsteller als Elite. Denn deren Charakteristikum besteht

nach Ober darin, daß sie sich als solche nicht zu erkennen gibt, sondern sich gerade umgekehrt in die Masse und deren Vorstellungen sklavisch eingliedert.

Wie kann eine Elite, die vorgibt, das Sprachrohr des Volkes („mouthpiece of public opinion“) zu sein, Partner des Volkes werden und zu ihm ein Gegengewicht bilden? Diese Elite kann überdies nur wirken, wenn völlig ruhige politische Verhältnisse herrschen. Denn wie will sie, die nur Sprachrohr der Menge ist, in einer Krise auftreten, ohne sich als antidemokratische Autorität zu demas-

kieren? Sie setzt daher die Stabilität, die gerade durch ihre Verhaltensstrategie erklärt werden soll, voraus. Dieses Erklärungsmodell, das auf einen kaum faßbaren und in krisenhaften Situationen immer unsicheren, weil durch keinen Grup-

penkomment gestützten sozialen Kontakt verkürzt ist, kann nicht überzeugen. Es erklärt insbesondere nicht, warum denn die Athener sich gerade im 4. Jh. so außergewöhnliche Mühe mit dem institutionellen Ausbau ihrer Demokratie gegeben haben. Gerade er aber ist ein wesentliches Stück der Balance zwischen

X. Form und Intensität der politischen Praxis

561

dem Anspruch der Gleichheit und dem für das Funktionieren der politischen Ordnung unentbehrlichen Individuum, das rät und führt. - Die Interaktion zwischen dem Redner und der Volksversammlung erörtert auch MONTGOMERY (667) anhand von Reden des Demosthenes und anderer Redner seiner Zeit. Die

sorgfältige Analyse ist nicht nur auf den Redner und seine formale und inhaltliche Argumentationsweise gerichtet, sondern sucht gerade auch den Anteil der Zuhörer an der Entscheidungsfindung und deren Motive aufzuspüren. - Den personalen Charakter aller politischen Willensbildung bei den Griechen der klassischen Zeit hat auf breitester Basis ebenfalls GEHRKE (824) dargestellt.

Zur Erforschung der Demokratie hat gerade auch in jüngerer Zeit die Archäo- ἡ logie sehr viel beigetragen, und der Historiker wird hier auch neuartige Wege, wie sie z. B. mit so großem Erfolg in der Feldforschung beschritten wurden,

gern begrüßen. Aus bildlichen Darstellungen hingegen verschiedene politische Einstellungen herauslesen zu wollen, ist schwierig und verlangt darum eine sichere methodische Absicherung. In Weiterentwicklung einer anerkannten und auch den Historiker weiterführenden Lehre, welche die Darstellungsweisen

großplastischer Figuren mit Verhaltensidealen verbindet, hat H.-H. HOLLEIN: Bürgerbild und Bürgerwelt der attischen Demokratie auf rotfigurigen Vasen des 6.-4. Jahrhunderts v. Chr., Diss. Hamburg 1985, 1988, die männlichen Mantelfi-

guren aus dem Athen der demokratischen Zeit vor allem auf Grund des jeweils anderen Standmotivs (Standbein/Spielbein-Stellung, gleichmäßige Belastung der Füße) und des Bereichs ihres Auftretens (Gymnasium, Symposion usw.) grundsätzlich unterschiedliche Lebensauffassungen (verharrend, dynamisch, progressiv, handlungsbereit usw.) zu erkennen geglaubt, diese dann bestimmten Schichten (Arıstokratie, Mittelschicht) und politischen Einstellungen (konservativ/aristokratisch und innovativ/progressiv/demokratisch/bürgerlich) zugeordnet und schließlich die statistische Häufigkeit des Vorkommens mit dem Wandel der politischen Verhältnisse bis zum Ende der Demokratie in Athen verbunden. Scheint das Ergebnis eher aus der sonstigen Überlieferung herausge-

lesen als durch die Statistik der Typen belegt zu sein, muß vor allem die Möglichkeit einer durchgängigen politischen Interpretation von Bewegungsweisen typisierter Figuren zurückgewiesen werden. Wer in Bewegungsformen typisierter Figuren des 5. und 4. Jhs. Verhaltensideale erkennen will - und die Möglichkeit dazu soll nicht grundsätzlich bestritten werden -, und diese nicht zuvör-

derst mit der jeweiligen Bildwelt, in die sie der Künstler hineingestellt hat (Palaistra, Symposion usw.), verbindet und aus ihr heraus interpretiert, sondern

sie über die mannigfachen Bildsituationen hinweg abstrakt-politisch deuten möchte, sollte sich auch vor Augen halten, daß die athenischen Demokraten das aristokratische Lebensideal in vielfacher Weise adaptiert und sie zu keiner Zeit die demokratische Lebensart als ein Feld der „Innovation“ oder der „Progressi-

vitát" empfunden haben. Es fehlt schon jede zeitgenössische Begrifflichkeit für eine solche Einstellung; der athenische Demokrat war nach seiner Lebensauffassung auch im politischen Bereich ein stockkonservativer Mensch. Zu dem Problem von arm und reich vgl. vor allem STE. CROIX (210, S.72ff.; zu den Prämissen des Buches 5.0. 5.483) und GEHRKE (836). Wird im allgemei-

nen angenommen, daß der Abstand von arm und reich im Athen des 4. Jhs.

562

ZWEITER TEIL: QUELLEN

UND FORSCHUNG

gegenüber dem vorangehenden Jh. vor allem durch die Folgen des verlorenen Peloponnesischen Krieges größer geworden ist (zuletzt, soweit ich sehe, in diesem Sinne STRAUSS, 834, S.42ff.), hat Gehrke gezeigt, daß wir das Schema

arm - reich bis in das 5. Jh., in Athen besonders bei Aristophanes und Ps.-Xenophon greifbar, zurückverfolgen kónnen. Es ist danach offensichtlich in der Demokratie als ein Element der Demokratie-Kritik, wenn nicht entstanden, so

doch durch sie im politischen Bereich heimisch geworden, kann nach Gehrke aber vielleicht schon auf die pythagoreische Philosophie und auf sophisusche Traktate zurückgehen. Erst im politischen Raum erhielt es jedoch Farbe und Virulenz, ist dann aber bereits im 4. Jh. jedenfalls in der theoretischen Reflexion ein Topos, der in aller Regel nicht aus der Betrachtung tatsächlicher sozialer Verhältnisse gewonnen, sondern, besonders bei Aristoteles, im vorhinein durch

verfassungstheoretische oder ethische Implikationen überlagert wird. Daß die Armen und Reichen in Athen keine Gruppierungen bildeten, die sich mit den „Demokraten“

und ,,Oligarchen“ deckten, hat u.a. auch NIPPEL (899, bes.

S.98f.) gezeigt. - Zur Definition von Demokratie und Oligarchie mittels der ökonomischen Situation der politisch Berechtigten vgl. über die im Text genannten Stellen hinaus Arist. Pol. 1291b14-30; Xenoph. Mem. 4,2,37 (der démos sind die Armen); Plat. Pol. 5654 (démos sind diejenigen, die mit ihren eigenen

Händen ihr Brot verdienen: ædbtoupyoi); Arist. Pol. 1296b24ff., bes. 34ff. - Zur Popularklage vgl. RUSCHENBUSCH (712) und GERST (837).

Der Text des von Perikles durchgesetzten Bürgerrechtsgesetzes

steht

bei Arist. AP 26,4 (vgl. ders. Pol. 1278234) und Plut. Perikl. 37,3; es wurde nach dem Sturz der „Dreißig“ im Jahre 403 erneuert (Schol. zu Aischin. 1,39). Wahr-

scheinlich hat in dem Gesetz nicht mehr gestanden, als unsere Quellen überliefern, nämlich daß Athener nur sei, wessen beide Elternteile Athener (bzw. ἀστός, astös, also einheimischer Bürger der Stadt) seien (PATTERSON, 841, S.130).

Das Gesetz zielte selbstverständlich auf den politischen Status des Atheners; die Kinder aus Mischehen durften nicht in die Listen der Demen und Phratrien aufgenommen werden und hatten damit keinen Anteil am bürgerlichen Leben. Es hatte aber auch eine privatrechtliche Konsequenz, weil die nicht in die Bürgerlisten eingetragenen Kinder wie außereheliche bzw. nicht in vollgültiger Ehe gezeugte Kinder, also als illegitim (νόθοι, nótboi) galten (vgl. HUMPHREYS,

839; PATTERSON, 841, bes. S.15ff.129ff.). Über das Motiv des Gesetzes sind die Ansichten nicht einheitlich, doch sehen die weitaus meisten Gelehrten darin die

Konsequenz einer Entwicklung, die den Bürgerstatus durch die machtpolitische Stellung der Stadt und die aus ihr und der demokratischen Verfassung flieRen-

den Vorteile zu einem hohen Wert gemacht hatte, und diese Meinung wurde auch im Text vertreten. Manche Forscher, die diese Interpretauon teilen, verurteilen indessen die hinter dem Gesetz stehende Politik als „engherzig“ (BELOCH, 152, Bd. 2, S.192) oder gar „gefährlich“ und „egoistisch“ (BENGTSON, 157, 5.200; ähnlich auch ADCOCK, 153, Bd. 5, S.167f.). Dieses wohl vom römischen

Beispiel und von moderner Bürgerrechtspolitik inspirierte Urteil geht völlig an den Möglichkeiten einer griechischen Stadt vorbei. Die Polis ist eine Kulturund Rechtsgemeinschaft, deren politische Möglichkeiten an einen überschaubaren Raum gebunden sind. Eine liberale, womöglich die geographischen Gren-

X. Form und Intensität der politischen Praxis

563

zen der Stadt sprengende Bürgerrechtspolitik hebt die Voraussetzungen auf, unter denen es ein städtisches Leben geben kann. Sie vernichtet insbesondere auch die Voraussetzungen der Demokratie, die in der unmittelbaren Präsenz einer noch überschaubaren Menge liegt. Vgl. in diesem Sinne GOMME (838), der

darum umgekehrt mit Arist. AP 26,4 ein Hauptmouv des Gesetzes in der Beschränkung der Bürgerzahl sieht, durch welche die Demokratie arbeitsfähig gehalten werden sollte (5.87). Aber war die Zunahme der Bürgerzahl durch Heiraten mit nichtathenischen Frauen so groß, daß diese Gefahr bewußt wer-

den konnte? - Andere Forscher móchten mit dem Gesetz keine weitschauende Bürgerrechtspolitik verbinden, sondern sehen in ihm lediglich ein Instrument im politischen Tageskampf: JACOBY (Nr. 328, fr. 119, III b, Suppl., S.471ff., bes. 477ff. JAC) meinte, daß Perikles damit seine politischen Hauptgegner, wie Kimon und Thukydides, des Melesias Sohn, deren Mütter Fremde waren, ausschalten wollte. Diese These setzt voraus, daft das Gesetz rückwirkende Kraft

hatte; dagegen u.a. GOMME a.O. S.88. Das politische Klima Quellen: Aristoteles über den Mittelstand als stabilisierenden Faktor: Pol. 1295b1-1296221, bes. 1296a7ff.: „Daß aber die mittlere Verfassung (sc. in der die

Bürger ein mittelgroßes, hinreichendes Vermögen haben) die beste ist, leuchtet ein; denn sie allein ist ohne inneren Aufruhr. Wo nämlich der Mittelstand stark

ist, gibt es die wenigsten Aufstánde und Spaltungen unter den Bürgern. Es sind ja auch die großen Staaten aus dem Grund von Aufständen frei, weil in ihnen der Mittelstand zahlreich ist, während in den kleinen alle Bürger leichter in zwei

Lager auseinanderfallen können, so daß kein Mittelstand übrigbleibt und alle entweder arm oder reich sind. Auch sind Demokratien sicherer und dauerhafter als Oligarchien, weil der Mittelstand zahlreicher ist und in stärkerem Maße an

der Besetzung der Ämter beteiligt ist als in Oligarchien . . .““ - Die aristokratische Gesinnung (ἀριστοκρατεῖσθαι) als Vorwurf der Demokraten z.B. Aristoph. Vögel 125; zur Tyrannis vgl. o. S. 325ff. - Der Prozeß des Miltiades: Her. 6,136. - Die Verfluchung der Redner, die das Volk táuschen, in dem Eingangsge-

bet der Volksversammlung wird zuerst von Aristoph. Thesmoph. 335ff. (aufgeführt 411), spáter ófter bei den Rednern, im Wortlaut am genauesten von De-

mosth. 23,97 erwähnt. - Der Demos als Tyrann u.a. auch bei Aristoph. Ritter 1111ff.; vgl. Xenoph. Mem. 1,2,39-46. - Der Vorwurf, daß das Volk die Reichen durch ungerechte Anklagen ausplündere, steht ófter bei den Philosophen, so bei Plat. Pol. 565a; Arist. Pol. 1304b19-24; 132024-22, und auch von Xenophon

(Mem. 4,8,5) wird über die athenischen Richter gesagt, daß sie viele Unschuldige

getótet und viele Schuldige freigesprochen hätten. Zur konservativen Grundhaltung der Athener und deren Ursachen vgl. JONES (458, bes. S.90ff.), zu den Bauern EHRENBERG (457, S.83ff.). Zum Delikttatbe-

stand der Volkstáuschung bzw. des unerfüllten Versprechens und zu dessen prozessualer Behandlung vgl. LIPSIUS (708, S.211ff.), BUSOLT/SWOBODA (176, S.998.1010), E. BERNEKER: προβολῇ, in: RE XXIII (1957), 43-48 und HARRISON

564

ZWEITER TEIL: QUELLEN UND FORSCHUNG

(709, S.59ff.). Die historische Entwicklung des Verfahrens ist unsicher. Das Sonderverfahren des » Vorwurfs" (προβολή, probolé), das vom Kläger beim Rat

eingereicht und von diesem mit der Frage an die Volksversammlung weitergegeben wurde, ob ein Strafverfahren einzuleiten sei, ist ohne Zweifel erst in einem

spáteren Stadium dem Geschworenengericht vorausgeschickt worden. Es sollte

offenbar die Stichhaltigkeit der Klage prüfen. Die Rolle der Rechtsordnung in der Demokratie Quellen: Vgl. die o. $.203f.224f. gegebenen Belege. - Aristoteles über die Auflósung der Rechtsordnung in der Demokratie: Pol. 129224-13; zu den drei Entwicklungsstufen der Demokratie bei Aristoteles O. GIGON: Der Begriff der Freiheit in der Antike, in: Gymnasium 80, 1973, 30 und o. S.466f. - Aristopha-

nes hat neben dem im Text zitierten Sykophantenexkurs auch einen für den gewerbsmäßigen Ankläger von Bundesgenossen, der im Seebund umherreist

und Klagen für die athenischen Gerichtshófe sammelt, geschaffen: Vögel 14101481. - Zum Gesetzesgehorsam der Athener vgl. u.a. Thuk. 2,37,3; Lys. 2,18f.; Demosth. 21,188; 22,46; 24,5.75-76.152; Aischin. 1,6; Lykurg. Leokr. 4; Hyper.

3,5 sowie die von RAUBOLD (377, S.54ff.) angegebenen Stellen. - Die Stadt ist auf Gesetze gegründet: Demosth. 21,150; Aischin. 1,4ff.; 3,6. - Vorwurf der Richter-

bestechung: z. B. Arist. AP 27,3 zum Jahre 409. - Abhängigkeit des Volkes in Volksversammlungen und Dikasterien von Táuschungen der Redner und von Hurra-Geschrei z. B. Aischin. 1,178.

Zur Struktur des athenischen Rechts und den Geschworenengerichten vgl. o. S. 219ff. und 516ff., zu den Verfahrensformen, welche die bestehenden Ge-

setze schützen und etwaige Ánderungen überwachen sollten (Klage wegen rechtswidriger Anträge, Nomothesie) o. S. 179f.187ff.509ff.554. Der Arginusen-Prozef ist in der Forschung immer wieder behandelt worden; trotz der umfangreichen neueren Literatur über ihn ist jedoch die ausführliche Darstellung von GROTE (1, Bd. 8, S.443-470) noch immer lesens-

wert. An der Beurteilung des Prozesses scheiden sich die Geister. Die Mehrzahl ist geneigt, der Darstellung Xenophons Hellen. 1,7 zu folgen, der die Verurteilung der Feldherren als einen schweren Rechtsbruch hinstellt und dessen Angaben im Prinzip von den anderen Quellen, insbesondere Diodor 13,101,6f., bestätigt werden. Es wird indessen immer wieder der Versuch unternommen, das Verfahren zwar als moralisch bedenklich, aber formal korrekt zu erweisen und

Xenophon eine tendenzióse Berichterstattung zugunsten der Feldherren zu unterstellen. So halten FRÁNKEL (695, S.79ff.) und danach BELOCH (152, Bd. 2, S.420f.) das Verfahren für korrekt, weil es durch einen Volksbeschluß legalisiert

worden sei; dem Verfahren entgegenstehendes Recht sei eben durch den Souverän suspendiert worden. Danach sanktioniert also der Volksbeschluß bzw. das

richtende Volk jeden spontanen Willen, macht somit auch aus Unrecht Recht. Offenbar haben die Vertreter dieser These nicht gesehen, daß mit der formalen Rechtfertigung gerade die Voraussetzung für ein auf die Rechtsordnung gegründetes Urteil entfállt und die athenische Demokratie als eine Willkürherrschaft

X. Form und Intensität der politischen Praxis

565

hingestellt wird, in der anstelle des Rechts der Volksbeschluß steht. Der Versuch

der Entlastung führt hier zum Beweise dessen, was man eigentlich widerlegen wollte. Erwägenswerter sind darum andere, besonders Jüngere Versuche, die der Darstellung Xenophons, die allein Details enthält, tendenziöse Verzerrungen nachweisen möchten oder die vorgeworfenen Rechtsbrüche einzeln zu entkräften suchen. So hat ANDREWES (842) auf Unterschiede zwischen Xenophon und Diodor aufmerksam gemacht, die eine gewisse Befangenheit des ersteren vermuten lassen. MEHL (843) hat auf breiterer Grundlage dann die Thesen von Andre-

wes nicht nur bestätigt, sondern auch die Rechtsbrüche im einzelnen als nicht

stichhaltig zu erweisen gesucht. Aber es ist nicht nachweisbar, daß Beamtenkollegien auch dann, wenn die Vorwürfe nicht auf alle Beamten zugleich zutrafen, dennoch kollektiv angeklagt und verurteilt worden sind, zumal nicht, wenn wie

im Arginusen-Prozeß die individuelle Behandlung ausdrücklich gefordert worden ist. Selbst wenn es im Ermessen gelegen hätte, individuell oder kollektiv zu

verfahren, hätte man gegen den Sinn der Rechtsordnung verstoßen, wenn das Ermessen in einer das Rechtsbewußtsein verletzenden Weise genutzt worden wäre. Ebenso ist die These sehr gewagt, daß es in dem Prozeß um die Bergung

der Toten, nicht um die Rettung Schiffbrüchiger gegangen und wegen der Unterlassung der Bergung nach dem Rechtsdenken der Zeit die Todesstrafe angemessen gewesen sel. Es gab selbstverständlich ein Bestattungsgebot, das indessen Sittengesetz (ἄγραφος νόμος), nicht positives Recht war. Ging es aber

überhaupt um die Bergung von Toten? Wenn Xenophon, unsere Hauptquelle, davon nichts weiß, leuchtet die von Mehl gegebene Erklärung, daß er bereits in neuen, sophistischen oder sokratischen Denkweisen dachte und darum den

wahren Anklagegrund (weil er ihm unverständlich war?) einfach unterschlagen habe, nicht ein. Aber selbst wenn es um die Bergung von Leichen gegangen war: Rechtfertigte das Versäumnis die Todesstrafe? Es bleibt bei der Rekonstruktion des Prozesses gewiß manches offen. Aber sowohl die kollektive Anklage, die Einschränkung der Verteidigung, die rohe Einschüchterung derjenigen, die eine

Gegenklage wegen Gesetzwidrigkeit erhoben, und schließlich der Umstand, daß der Tatbestand des Versáumnisses bei der Rettungs- oder Bergungsaktion wegen des aufkommenden Sturmes wohl kaum erwiesen war, müssen zu der Überzeugung führen, daß gegen das Rechtsbewußtsein der Zeit, gegen die

Rechtspraxis und gegen das Gesetz, allein auf Grund der Behauptung, daß das Volk beschlieRen kónne, was es wolle, verurteilt worden war. - NÉMETH (845)

versucht, dem Arginusen-ProzeR einen aktuellen politischen Hintergrund zu geben. Der „radikale Demokrat“ Archedemos, vor allem aber Theramenes und

die hinter ihm stehende Gruppe der Oligarchen hätten durch die Verurteilung der Strategen, von denen zumindest fünf in einer engen Beziehung zu Alkibiades gestanden hätten, den Einfluß des Alkibiades in Athen ausschalten wollen.

Die Zuweisung der hinter dem Prozeß stehenden Personen zu politischen Gruppierungen ist indessen bei einer genauen Analyse vor allem des Xenophon-Textes wohl nicht so einfach. Auf Grund einer kritischen Durchleuchtung des von

den Quellen gegebenen Ablaufs der Ereignisse, einer Prüfung der rechtlichen Formalien und der vorgetragenen Anklagegründe hat LANG (846) gezeigt, daß Xenophon den ProzeRverlauf so darstellt, wie ihn die reumütigen Athener im

566

ZWEITER TEIL: QUELLEN

UND FORSCHUNG

nachhinein sehen wollten. Damit ist dem Prozeß zwar nichts von seiner Irregularıtät genommen, aber in der „revisionistischen“ Schau der Ereignisse erschei-

nen doch die handelnden Personen durch eventuell nachträgliche Schuldzuweisung bzw. Entlastung in einem anderen Licht. Theramenes ist nach Lang der offizielle Ankläger gewesen, zwar Gegner der Generale, aber doch kein „radika-

ler“ Scharfmacher. Über die politische Justiz der Athener hat Jacob BURCKHARDT (236, bes.

Bd. 1, S.231ff.) ein vernichtendes Urteil gefällt, und viele haben es ihm nachgesprochen. Nach Max WEBER: Wirtschaft und Gesellschaft, 1922, 157f. ruhten die Urteile der athenischen Geschworenenhöfe gar auf keinen formalen, „rationalen“ Urteilsgründen und waren mithin „Kadi-Justiz“: „Prozesse“ (sc. in der

griechischen

„Demokratie“

der perikleischen und

nachperikleischen

Zeit)

„wurden nıcht, wie der römische, von dem vom Prätor bindend instruierten

oder gesetzgebundenen Einzelgeschworenen und nach formalem Recht entschieden. Sondern von der nach „materialer‘“ Gerechtigkeit, in Wahrheit: nach

Tränen, Schmeicheleien, demagogischen Invektiven und Witzen entscheidenden Heliaia (man sehe die „Prozeßreden“ der attischen Rhetoren . . .). Die Unmög-

lichkeit der Entwicklung eines

formalen Rechts und einer formalen Rechts-

wissenschaft römischer Art war die Folge. Denn die Heliaia war „Volksgericht“

ganz ebenso wie die ,,Revolutionsgerichte" der franzósischen und der deutschen (Räte)Revolution ...“ Es kann die heutige Weber-Renaissance nicht darüber

hinwegtäuschen, daß die altgriechischen Verhältnisse - und nicht nur sie Weber sehr fremd waren und von ihm daher in vóllig verzerrender Weise dargestellt wurden; vgl. auch die berechtigte Kritik von FINLEY (304, S.120ff.) an den Urteilen Webers zum griechischen bzw. athenischen Rechtssystem.

Die politischen Prozesse in der Zeit der athenischen Demokratie sind in mehreren jüngeren Abhandlungen zusammenhängend behandelt und teils ausführlich gewürdigt worden. Die Prozesse des 5. Jhs. hat v. WEDEL (848) untersucht, doch leiden seine Interpretationen an der schwer nachvollziehbaren Pramisse, daß die Gerichte im 5. Jh. „souverän“ gewesen seien (vgl. o. S.519f.). ROBERTS (8482) und BAUMAN (849) liefern detaillierte Besprechungen aller

wichtigen Prozesse des 5. und 4. Jhs. Das Buch von Bauman ist nicht nur wichtig wegen vieler guter Beobachtungen zu den einzelnen Prozessen, sondern auch weil der Autor die auRerathenische griechische Welt einbezogen hat und bis in die frühhellenistische Zeit ausgreift. Roberts, die sich auf Athen be-

schränkt, hat sich neben der Behandlung der einzelnen Prozesse auch um ein

Gesamturteil über den politischen Prozef in Athen bemüht. Sie konstatiert zu Recht die gegenüber der Moderne außergewöhnliche Härte und Unerbittlichkeit, mit der die politisch Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen wurden;

die von ihr angeführten Gründe für diese Verhaltensweise (hohes Maß an bürgerlicher Verantwortlichkeit; Neid/Konkurrenzkampf; große Emotionalität) ist zu ergänzen durch den Hinweis auf die unmittelbaren Gefahren und Schädigun-

gen, die in einer unmittelbaren Demokratie bei Fehlverhalten von politisch Verantwortlichen den einzelnen Bürger u.U. sehr hart trafen und darum eine für den Bürger auch erkennbare Effektivität der politischen Kontrolle geradezu erzwangen. Großes Interesse hat naturgemäß die Asebie-Klage gefunden, der

X. Form und Intensität der politischen Praxis

567

innerhalb der politischen Klagen in der Tat eine zentrale Rolle zukommt; sie deckt jedoch nur einen Teilaspekt ab. Über sie existiert für die Philosophenprozesse eine nicht immer eigenständige Monographie von DERENNE (850). RUDHARDT (851) ıst der wichtigen Frage nachgegangen, welche Tatbestände unter Asebie subsumiert wurden. Seine Auffassung, daß das Delikt durch ein Gesetz kasuistisch definiert worden sei, widerspricht der älteren und dem athenischen Prozeßwesen wohl eher angemessenen Ansicht von THALHEIM (RE II, 1896, 1529-1531) und LIPSIUS (708, S.359f.), die den Deliktsbegriff für unbestimmt

und dehnbar hielten. Zu den politischen Implikationen der Asebie-Klage, insbesondere auch zu denen des Prozesses gegen Sokrates, ist jetzt vor allem auch BAUMAN (849, S.105ff.) heranzuziehen. - Für die Prozesse des 5. und 4. Jhs.

gegen Strategen und Politiker hat CLOCHE (853; 854) gezeigt, daß sie weit

weniger von Parteileidenschaft überschattet und auch weit weniger zahlreich waren, als oft angenommen wird. Zur Sykophantie vgl. vor allem BONNER/SMITH (183, Bd. 2, S.39-74) sowie die umfangreiche Untersuchung von LOFBERG (855), der ein jüngerer Aufsatz

von BOCKISCH (857) kaum Neues hinzugefügt hat. Von LOFBERG sind auch die Schutzeinrichtungen gegen den Mißbrauch der Popularklage behandelt worden (S.86ff.). Auf welche Tatbestandsmerkmale die besondere Mißbrauchsklage (γραφὴ

συκοφαντίας)

zielte, ist unsicher.

- Die Ableitung des Wortes sy

kophäntés von demjenigen, der den Übertreter des Feigenausfuhrverbots anzeigte und verklagte, wie die Alten meinten, ist unsicher; vgl. LATTE (856).

Die in neueren Darstellungen oft anzutreffende Behauptung, daß es regelrechte Vereine von Sykophanten gegeben habe, ist zu Unrecht aus einigen übertreibenden Bemerkungen von Rednern herausgelesen worden. In einem Verein, dessen Vereinszweck in der gewerbsmäßigen Verfolgung von Delikten

liegt, ist nicht nur der Sinn der Popularklage, der auf die Verantwortlichkeit aller zielt, aufgehoben, sondern wird auch das besondere Interesse des Sykophanten

nicht befriedigt, das gerade darin liegt, daß er als Vertreter der Gesamtheit, nicht eines Gewerbes auftritt. Er muß ja auch oft, z. B. wenn er für einen angeblichen

Freund eine Scheinklage erhebt, das Gewerbsmäßige seines Tuns gerade tunlichst verbergen oder doch zumindest den Schein des Gerechten wahren; vgl. gegen CALHOUN (906) und LOFBERG (855, S.59ff.) in diesem Sinne E. ZIEBARTH: Das griechische Vereinswesen, 1896, 5.93 und LATTE 2.0. $.1031. - OSBORNE

(858) hat in einem wichtigen, provokativen Aufsatz die Rolle der Sykophantie

als eines Instrumentes herausgestellt, das gerade auch den wohlhabenden Bürger an das Gesetz binden und darüber hinaus die politische Bindung des Reichtums sichern wollte, und er hält den professionellen Sykophanten für durch die

Quellen nicht belegt. Dieser sehr positiven Deutung der Sykophantie, die hier ausdrücklich nicht als Mißbrauch der Popularklage gesehen wird, hat HARVEY (859) direkt geantwortet und darin die traditionelle Sehweise verteidigt, indem

er u.a. auf die pejorative Verwendung des Begriffs und die vielfach zu beobachtende Verbindung des Sykophanten mit schlechten bzw. als schlecht erachteten Verhaltensweisen (Geldgier, falsche Anschuldigungen, Verleumdung, Spitzfindigkeit usw.) hinweist, und er hält auch an der Möglichkeit professioneller

Sykophantie fest. So sehr die auf Quellen gestützte, sehr sorgfältige Analyse von

568

ZWEITER TEIL: QUELLEN UND FORSCHUNG

Harvey die Sykophantie als Mißbrauch der Popularklage belegt und daraus klar wird, daß der Begriff der Sykophantie für diesen Mißbrauch der geläufige Ausdruck war, hat Osborne doch mit seinem Hinweis auf die Notwendigkeit der Einrichtung für die Demokratie recht. Die Popularklage (nicht natürlich deren Mißbrauch, die Sykophantie) war systemimmanent, und wegen der den Menschen eigenen Neigung, Konflikten, die sie selbst nicht betreffen, aus dem

Wege zu gehen, ist auch die Belohnung des erfolgreichen Anklägers unverzicht-

barer Teil dieser Klage und der Mißbrauch der Klage zu gewinntrichtigem Zweck, wenn nicht unverzichtbar, so doch ohne Zweifel um der Effektivität der

Klage willen hingenommene Begleiterscheinung. - Daß die Unbestechlichkeit

des athenischen Richters eine Folge des Geschworenensystems ist, hat bereits GROTE (150, Bd. 5, S.516ff.) in aller Klarheit gesagt. - Die Kritik BURCKHARDTSs an der Sykophantie (236, bes. Bd. 1, S.225ff.) ist gleichzeitig Kriuk an der Demokratie. Danach werden Volksversammlung und Volksgericht von Dernagogen und Sykophanten beherrscht, beide gleich verwerfliche Typen. Wenn BURCKHARDT

(5.228) meint, daß durch „die öffentliche Anerkennung einer

solchen sozialen Pest“ (nämlich der Sykophantie, die er auch als öffentlichen Terrorismus bezeichnet) ,,die Staatsidee über das Vermógen der normalen Men-

schennatur weit hinausgeschraubt war“, hat er damit in der Tat die unaufheb-

bare Antinomie zwischen der Forderung nach Effektivität des Gesetzes und der dafür unabweislichen Notwendigkeit von Prámien für erfolgreiche Anklagen klar erkannt. Die Verselbständigung eines öffentlichen Bereichs Die Verselbständigung eines öffentlichen Bereichs und das Verhältnis des Privaten dazu hat erst in jüngerer Zeit Aufmerksamkeit gefunden. SPAHN (861) hat die zunehmende Bedeutung des Bereichs der Polis gegenüber dem Oikos an-

hand einer Analyse von Hinweisen aus Hesiod, Solon und Aischylos dargelegt und u.a. an der wachsenden Rechtsgewalt der Polis gegenüber dem einzelnen verdeutlicht. Auch MEIER (338, bes. S.76ff.) hat die Herausbildung eines Raumes

des Politischen in kleisthenischer Zeit, der getrennt vom privaten Bereich bestehe, beschrieben (vgl. o. S. 542). Es war aber vor allem HUMPHREYS (bes. 860,

dort auch u.a. zur Rolle von Gymnasion und Symposion), welche die Bedeutung der Demokratie für diesen Vorgang gebührend herausgestellt, gleichzeiug aber auch den Mangel einer scharfen Trennung und das Ineinanderwirken der beiden Bereiche hervorgehoben hat. Wie Humphreys betont auch ROBERTS (863) die Rolle der Demokratie und in ihr die des Perikles für die Verselbständigung des Offentlichen, und auch sie sieht das traditionelle Verhalten bis in das 4. Jh. hinein lebendig. MUSTI (862) hat in einem eindringenden und klaren Aufsatz

nicht nur diese Ergebnisse bestátigt, sondern darüber hinaus zu Recht hervorgehoben, daß sich bei diesem Vorgang keine Abstraktion des „Öffentlichen“ und „Privaten“ bildete, man vielmehr nur von einem Vordringen des Öffentli-

chen sprechen darf; der politische Raum als ein öffentlicher dominiert danach zwar, dies aber nicht in einem formalen, sondern allenfalls ıdeellen Sinne, und

der private Raum steht unabhängig daneben. Insofern jedoch der öffentliche

XI. Die innere Einstellung zur Demokratie

569

Raum der privilegierte ist, kann er latent zum privaten in einer Spannung stehen (S.11f.). Letzterer wird nach Musti allerdings im Vergleich zu Sparta auch als

Bereich besonderer geistiger und materieller Freiheit gewürdigt, was vor allem im Epitaphios des Perikles bei Thukydides zu erkennen ist (2,37f.), wie denn dieser ein zentraler Beleg für die Verselbständigung des Politisch-Öffentlichen

darstellt. Der Volksbeschluß über das Brunnenhaus vom Jahre ca. 437/36: ATL II D 19 (der Name des Perikles in Z.13 ist ergänzt).

XI. Die innere Einstellung des Atheners zur Demokratie Lebenssituation und Mentalität des Bürgers im demokratischen Athen Quellen: Die Mentalität des athenischen Demokraten lernen wir aus einer Fülle von Einzelinformationen vor allem der politischen Komödie, der Tragôdie, der historiographischen Literatur und der Gerichtsreden sowie aus Ehren-

und Weihinschriften für bzw. von Bürgern kennen. Am ergiebigsten sind die Reden und unter ihnen vor allem diejenigen, die anläfilich von Dokimasie-Kla-

gen gehalten wurden (aufgezählt o. S. 533f.). Unter den letzteren vgl. etwa die Verteidigungsrede des Mantitheos aus dem Jahre 392/89 (Lys. 16, bes. 10-19) und die Anklagerede gegen Philon, gehalten bald nach 403 (Lys. 31, bes. 5-6.9.20-22), unter den übrigen Gerichtsreden z. B. die Verteidigungsrede für

Polystratos aus dem Jahre 410/09, der wegen Beteiligung an dem Oligarchenregiment von 411 angeklagt worden war (Lys. 20, bes. 22-25.30-36). - Daß bei Dokimasie-Klagen das ganze Leben des Bürgers in die Argumentation der Parteien einbezogen werden soll, sagt Lysias ausdrücklich in der MantitheosRede (16,9, ähnlich 20,30ff.). Die Bezeichnung des Demokraten als ἀγαθός z.B. Lys. 13,2, als χρηστός Andok. 2,26; Lys. 16,14; 20,2.32; 31,25, als κόσμιος Lys. 15,9; 16,18f.; 22,19. Für

die gute Gesinnung gegenüber der Demokratie ist auch der Begriff εὔνοια üblich, z. B. Lys. 13,10.13.20; 20,1f.17; 22,11.13; 31,18. φιλοτιμία zur positiven

Bewertung der politischen Aktivität auf inschriftlichen Ehrenurkunden z. B. IG II-IIP Nr. 1156,33; 1187,14. Die Lebensweise des guten Demokraten heißt τὰ

χρηστὰ ἐπιτηδεύματα (z. B. Lys. 31,25). - Die Athener als ein Volk von Rude-

rern z. B. Aristoph. Ritter 785.1181f. Über die Lebenssituation der Athener informieren die Bücher über das Privatleben bzw., wie es in älterer Zeit hieß, die Privatalterthümer der Griechen.

Auch wenn diese Bücher durchweg behaupten, von den Griechen zu berichten, stammen die Belege doch zumeist aus Athen. Noch immer brauchbar sind die alten Handbücher von K.F. HERMANN in der Neuauflage von H. BLÜMNER (864) und von I. v. MÜLLER (865). Aus der Fülle der neueren Literatur nenne ich das vor nicht allzu langer Zeit ins Deutsche übersetzte Buch von FLACELIERE (866) und das sich auf Athen konzentrierende Werk von WEBSTER (867); zur Kleinfamilie vgl. ferner LACEY (869), zur Frau s.o. S.96ff. - In einem interessanten, umfang-

570

ZWEITER TEIL: QUELLEN UND FORSCHUNG

reichen Aufsatz hat HARVEY (878) nachgewiesen, daß die große Mehrheit der Athener lesen und schreiben konnte und lediglich manche Bauern ländlicher Distrikte Attikas und viele Frauen Analphabeten waren oder nur geringe Lese-

und Schreibfähigkeiten besaßen. Einer der Gründe für den guten Bildungsstand in Athen lag nach dieser Untersuchung in der demokratischen Lebenssituation, die in dieser Hinsicht von dem Athener mehr forderte als von Griechen, die

nicht oder nur in geringem Umfang politisch tätig waren. Auch BURNS (879) schätzt die Lesefähigkeit selbst der intellekruell anspruchloseren Bürger Athens im 5. Jh. hoch ein. - Einen anregenden, für einen breiteren Kreis bestimmten

Aufsatz über das Leben eines Atheners in Familie und Öffentlichkeit hat BONNER (880) verfaßt. - STRAUSS (874) glaubt, im 5. Jh. eines Generationenkonflikt

erkennen zu können. Danach hatte sich die väterliche Gewalt über den Sohn

durch die Demokratie in den Jahrzehnten vor dem Ausbruch des Peloponnesischen Krieges zunächst nur verhalten gelockert, war seit dem Ausbruch des Krieges latent gefährdet und wurde dann nach der Sizilischen Expedition die „Revolte der Söhne“ als Katastrophe gesehen; als die Athener besiegt waren, sei

dann nach der Wiederherstellung der väterlichen Autorität gerufen worden. Mag es im 5. Jh. auch gelegentlich Generationenkonflikte z. B. im Gefolge sophistischer Lehren gegeben haben, wie es uns die „Wolken“ des Arıstophanes zeigen, herrschte doch in der Demokratie über alle Grenzen der Generationen

hinweg eine auf die geltende Rechts- und Sittenordnung ausgerichtete und festgelegte konservative Gesinnung vor; die Demokratie war lediglich in der Außenpolitik „neuerungssüchtig“ (s.o. $.322ff.). Der Ruf nach der väterlichen

Verfassung seit dem Höhepunkt des Peloponnesischen Krieges ıst nicht mit einem (angeblichen) Ruf nach der Autorität des Vaters über den Sohn gleichzu-

setzen. Politik und Vater-Sohn-Verhältnis gehen in Athen nicht parallel. Zum Begriff der Mentalität in der modernen Forschung vgl. den bahnbrechenden Aufsatz von DUBY (881), ferner SPRANDEL (882) und den besonders zur Einführung geeigneten Essay von TELLENBACH (883). Zur Mentalität des athenischen Demokraten gibt es keine Spezialliteratur, doch ist das Wesentliche in den übergreifenden Werken zu dem allgemeinen ethischen Verhalten der Griechen (popular morality) gesagt worden. Die meisten Bücher dieser Richtung, die nicht ideale, sondern die tatsächlich wirksamen Anschauungen über das Verhalten der Menschen beschreiben wollen, beschränken sich indessen auf einzelne Schriftsteller - Epiker, Tragödiendichter und Historiker -,

bei denen die gelebte Ethik von den besonderen Ansichten des Autors überdeckt,

zumindest in eigenwilliger Weise akzentuiert wird. So überwiegen bei PEARSON (884), der die Zeit bis zum 5. Jh. behandelt, die Aussagen der großen Autoren. ADKINS (885), der dieselbe Zeit behandelt, schließt für das späte 5. Jh. immerhin

die Aussagen von Rednern mit ein (S.99ff.). Aber erst DOVER (886), der sich auf das späte 5. und vor allem das 4. Jh. konzentriert, hat diejenige Literatur in den Vordergrund gerückt, die sich an einen breiten Zuhörerkreis wendet und darum

deren Anschauungen voraussetzt, das heißt vor allem die politische Komödie und die Redner. Da Dover sich mit den allgemeinen ethischen Grundanschauungen der Griechen befaßt, tritt in seiner Darstellung zurück, wie sich die Bürger zur Demokratie verhalten haben; vgl. aber S.288ff.

XL. Die innere Einstellung zur Demokratie

571

Zu den Wohnverhältnissen in Athen und Attika haben wir aus klassi-

scher Zeit keine sehr ins Detail gehenden Angaben, und die Archäologie kann gerade für Athen/Piräus auf Grund der ununterbrochenen Bebauung nur wenige Daten liefern, die zusammengenommen auch kein deutliches Bild ergeben. Zu klassischen Häusern in Athen, darunter auch solche gehobener Ansprüche, vgl. zuletzt GRAHAM

(273). Zu der These eines „demokratischen Wohnungs-

baus“ 5.0. 5. 548. - Zur Kallirrhoë und anderen Brunnenhäusern in Athen vgl. TRAVLOS (259, 5.204) und CAMP (262, S.42ff.).

Die innere Opposition gegen die Demokratie Quellen: Zeugnisse für die Kritik an der Demokratie sind bereits bei der

Darstellung der einzelnen Sachbereiche, auf die sie sich beziehen, zitiert worden, und zwar: Mangelnde Sachkenntnis und Urteilsfähigkeit des Volkes: S.298ff. - Bereicherung durch ungerechte Urteile: 5.349.563 - Bereicherung durch Diäten 286.534f. - Das Volk stellt sich über die Gesetze: S.203f. 353ff. 564ff. - Kritik am Losprinzip: S.282.530. Arıstoteles über die Art von Demokratie, ın der alles nach Volksbeschlüssen

anstatt nach dem Gesetz (nómos) entschieden wird: Pol. 1292a4-7. - Plut. Perikl.

11,1ff. verbindet (anachronistisch) den Beginn einer oligarchischen Opposition in Athen mit Thukydides, dem Sohn des Melesias. - Zu dem Umsturz von 411 vgl. Thuk. 8,48ff.; Arist. AP 29-33, zu dem von 404/03 Arist. AP 34-40. - Der

Text des Tyrannengesetzes von 337/36: Hesperia 21, 1952, 355ff. (B.D. MERITT). -

Das positive Urteil des Thukydides über die Verfassung der 5 000 aus dem Jahre 411, die das politische Recht an die Selbstausrüstung (Hoplitenzensus) band und damit an die Zeit vor den Perserkriegen anknüpfte: Thuk. 8,97,2 („maßvolle

Mischung zwischen Oligarchie und Demokratie"). - Schwurgenossenschaften zur Unterstützung von Amtskandidaten und Prozessierenden sowie ihr Anteil an dem Umsturz von 411: Thuk. 8,54,4.

Gute Überblicke über die Argumente und die Form der Kritik bzw. Opposition gegen die Demokratie haben JONES (887), der sich auf die Aussagen der Philosophen

und des Thukydides konzentriert, LARSEN (888) und H. woLrr (889)

verfaßt. Vor allem der Beitrag von Wolff ist methodisch klar und überzeugend. Für die Zeit vor dem Peloponnesischen Krieg enthält auch PRESTEL (890) viel

Material, doch hat er die Kritik an der Demokratie nicht immer klar genug von

der an einzelnen Politikern geschieden. Eine breite Darstellung der sich entwickelnden oppositionellen Kráfte gegen die Demokratie von den Anfángen der perikleischen Zeit bis zur sizilischen Katastrophe bzw. dem oligarchischen Putsch von 411 hat OSTWALD (686, S.175-333) vorgelegt. . Zu

einzelnen

Schriftstellern,

Politikern

und

den

Umstürzen:

Über Thukydides, des Melesias Sohn, hat H.D. MEYER (892) gegenüber älteren Arbeiten, die in jenem vor allem einen Gegner der Seebundspolitik des Perikles sahen, eine angemessene Skizze entworfen; vgl. auch KLEIN (893). Zu dem Putsch von 4 11 vgl. FLACH (901), zu dem von 404/03 CLOCHÉ (903), LEHMANN

(904) und KR ENTZ (905), zu beiden NIPPEL (899, S.64-98), der in ihnen gewiß

572

ZWEITER TEIL: QUELLEN

UND FORSCHUNG

nicht unrichtig vor allem die Reaktion eines Teils des Adels und der Wohlhabenderen auf die Einengung individueller Aktion und die Abschnürung von dem Adel anderer Städte durch die Demokratie sieht. - Die Einstellung der Schriftstel-

ler des ausgehenden 5. Jhs. zur Demokratie hat MEDER (894), nur die der Tragiker und Komödiendichter FREY (895) und speziell die des Aristophanes haben STARK (896) und FORREST (897, nur zur Seebundspolitik) behandelt. RAAFLAUB (891) hat

die gesamte Literatur des späten 5. Jhs., insbesondere auch Euripides und unter

Einbeziehung Platons, vor dem Hintergrund der verfassungspolitischen Krise Athens gesehen, dabei die unternommenen Versuche zu einer politischen Lösung in einem breiten Zusammenhang erörtert und mit Nachdruck auf den moralischen Aspekt solcher Lösungsmöglichkeiten hingewiesen. - Zu Isokrates vgl. BUCHNER (949) und BRINGMANN (950), wonach Isokrates ein Vertreter der Vermögenden, nicht Demokrat ist und sich bei ihm keine Entwicklung der

politischen Grundanschauungen - auch nicht der (negativen) zur athenischen Herrschaftspolitik - feststellen läßt: Isokrates hielt seine Auffassungen mit bemerkenswerter Festigkeit durch. BRINGMANN (950, S.75ff.) hat auch gezeigt, daß Isokrates sachlich mit den Zielen des Theramenes-Kreises von 411 übereinsumm-

te. Seine politischen Ideen sind oligarchisch: Die Gesittung, ἤθη, steht über der gesetzlichen Regel, νόμος; Gesetze sollen zwar nicht fehlen, aber das wichtigste

ist die richtige Erziehung, welche die Gesetze überflüssig macht. Über die Hetárien hat CALHOUN (906) aus den weit verstreuten Quellen

alles Wesentliche zusammengestellt. Er hat in diesem, mit großem Einfühlungsvermógen in die athenischen Verhältnisse geschriebenen Buch dennoch der Hetárie eine eher zu feste Funktion im politischen Leben der Stadt zugewiesen. Von jüngeren Autoren, wie von CONNOR (656, S.25ff.) und AURENCHE (908),

werden demgegenüber die mangelnde feste Organisationsform und die Mobilitát der Hetärie, ihre Gebundenheit an Personen und vorübergehende Situationen sowie der fließende Übergang zwischen Hetairoi und Freunden betont. SARTORI (907) hat die Rolle der Hetärien in der athenischen Geschichte des 6.

und 5. Jhs. genauer zu verfolgen versucht. Vieles muß hier in der Schwebe bleiben; unsere Quellen gestatten meist nur zurückhaltende Aussagen. Neuerdings wird einer strikt antidemokratischen Opposition, die dann im Jahre 411 zur Tat schritt, schon Jahre vor dem Putsch eine festere Organisation zugemessen und ihr Entstehen teils bis in die Zeit des Perikles und sogar in die Anfánge der Demokratie zurückverlegt. So erkennt LEHMANN (902) die Um-

risse der Opposition zumindest etliche Jahre vor 411, und er nimmt darüber hinaus an, daß auch sophistische Lehren, wie die gegen das geschriebene Gesetz gerichteten, den Bürgerverband zusätzlich polarisiert, den Generationenkonflikt begünstigt und damit zur Vertiefung und Verbreiterung einer oppositionellen Haltung beigetragen hátten (vgl. dazu u. S.578f.). RAAFLAUB (379, bes.

268ff.296ff.; vgl. zu ihm auch o. S.544f.) sieht eine - wenn auch noch nicht politisch aktive und greifbare - Opposition mit radikaler Ablehnung der Demokratie sogar schon 20-30 Jahre vor 411 und glaubt, daß ihre Entstehung im Zusammenhang einer Entwicklung gesehen werden muß, in der spätestens, wie er meint, seit 444/43 die Demokratie (durch Perikles) inhaltlich auf die „Partei-

herrschaft der Massen" festgelegt worden sei (S.275f.).

XI. Die innere Einstellung zur Demokratie

573

Sophistik und Rhetorik Die fragmentarische Überlieferung der sophistischen Schriftstellerei ist am

bequemsten in der Ausgabe von DIELS/KRANZ greifbar (909, mit Teilübersetzungen). Die neuere Ausgabe von UNTERSTEINER (910) ist in der Auswertung der platonischen Dialoge zu optimistisch. Aus der Fülle der Übersetzungen seien hier die in Deutschland leicht erhältlichen Sammlungen von NESTLE (911) und CAPELLE (912) genannt.

Mit der Sophistik befaßt sich ein besonderer Forschungszweig der Philosophie und Klassischen Philologie; er wird durch die Menge der gelehrten Erzeugnisse fast schon ähnlich unübersichtlich wie die Platon- und Arıstoteles-Forschung.

Im Rahmen eines Überblicks, der lediglich für die Zwecke dieses Buches einige Hinweise geben möchte, kann kein detaillierter Forschungsbericht erwartet werden. Ich beschränke mich darauf, Handbücher zu nennen und im übrigen

auf diejenigen Spezialdarstellungen hinzuweisen, die das Verhältnis der Sophistik zur Politik und insbesondere zur Demokratie beleuchten. - Wer sich über den Stand der Forschung informieren will, sei auf die Literaturberichte von HOWALD (923) und CLASSEN (924) verwiesen. Der letztere hat auch eine um-

fangreiche Bibliographie zusammengestellt (925, Forschungsstand: 1984). An kurzen Überblicken über die gesamte Sophistik mangelt es nicht. Sehr flüssig ist die Skizze von LESKY (238, S.387-408) geschrieben, stärker vom Philosophischen her sind die Handbücher von UEBERWEG/PRAECHTER (913) und

GRAESER (918) konzipiert worden. Bei der sehr schwierigen Quellenlage neigen manche Autoren dazu, die Basis unserer Kenntnis durch Zeugnisse (vor allem

aus Platon) zu erweitern, deren Zuweisung zu einzelnen Sophisten strittig ist (z. B. UNTERSTEINER, 914). Als eine umfangreichere Darstellung der Sophistik, die dieser Gefahr nicht erliegt und eine besonnene, klare Auffassung von den Problemen hat, darf der Abschnitt über die Sophisten in der Geschichte der

griechischen Philosophie von GUTHRIE (915) gelten. Von großem Wert sind auch die beiden Monographien von GOMPERZ (919) und NESTLE (920) zu den

Sophisten. Der erstere hat vor allem den Zusammenhang von Sophistik und

Rhetorik in den Vordergrund gerückt. Sachliches und formales Interesse gehen danach bei den Sophisten fließend ineinander über. Man hat also deren Interesse am Sprachlich-Formalen nicht von der späteren Rhetorik als einer reinen Rede-

kunst her zu sehen; für die Sophisten ist das formale Argument oft zugleich ein philosophisches. Nestle nimmt vor allem durch die lebhafte und klare Form der Darstellung ein, und in der Tat hat sein Buch noch heute einen festen Platz unter den Geistesgeschichten der griechischen Frühzeit; zu seinen Thesen über die politische Bedeutung sophistischer Theorien vgl. u. Das allen Sophisten ge-

meinsame Ziel, Rat zur Lebensbewältigung zu vermitteln, hat besonders zutreffend und eindringlich BUCHHEIM (921, bes. 80ff.) herausgestellt. - Für eine gründliche Information eignet sich auch die von CLASSEN (922) herausgegebene und eingeleitete Sammlung von Aufsätzen.

Zu einigen Einzelproblemen: Zu der Begriffsgeschichte von sophistés hat CLASSEN (922, S.1ff.) einen guten Überblick bis in die neueste Zeit gege-

574

ZWEITER TEIL: QUELLEN

UND FORSCHUNG

ben. George GROTE (150, Bd. 8, S.579ff.) hat danach nicht das Verdienst, die

Sophisten als erster wieder mit einem positiven Urteil bedacht zu haben, doch kommt bei der Verbreitung des Werkes seinem Urteil großes Gewicht für ein allgemeines Umdenken zu. - Daß die Sophisten in erster Linie mit dem Anspruch auftraten, als Erzieher zu gelten, hat JAEGER (934, Bd. 3, S.105ff.) in

seinem umfassenden Werk über die erzieherischen Absichten der griechischen Literatur herausgestellt, aber dabei diesen Aspekt zu Lasten anderer wichtiger

Anliegen überbetont. - Zur Interpretation des homo-mensura-Satzes des Protagoras vgl. NEUMANN (938), v. FRITZ (937, S.913ff.), GUTHRIE (915, S.181ff.), GRAESER (918, S.21ff.) und BUCHHEIM (921, S.43ff.). - Zur Lehre des Protagoras

über die Götter vgl. MÜLLER (939), zur Religionskritik allgemein FAHR (936). Das Verhältnis der Sophisten zu ihrem gesellschaftlichen und politischen Umfeld sowie zur Demokratie wird in den meisten Darstellungen berührt, von manchen, wie vor allem von Nestle in seiner oben zitierten Monographie und in einem Aufsatz (926), besonders herausgestellt. Nestle sieht das

Verhältnis der Sophisten zu ihrem politischen Umfeld wie manche andere Gelehrte viel zu stark von Athen her, und er weist den Gedanken einzelner Sophisten einen unverhältnismäßig großen Einfluß auf die praktische Politik zu. Er faßt bestimmte sophistische Lehren geradezu als politische Theorien auf, die eine enge Verbindung zur politischen Praxis gehabt und hier antidemokratisch gewirkt hätten (bes. 926). So sieht er erwa die Wurzeln der Lehre vom Recht des Stärkeren in dem Widerspruch oligarchischer Kreise in Athen gegen die Demokratie liegen (920, S.335f.). Nur durch diese enge Verbindung von Sophistik und Politik ist es auch zu erklären, daß er die geistige Physiognomie des Knuas vor allem aus dessen politischer Biographie belegt (920, S.400ff.). Die Sophistik hat bei ihm insgesamt den Stellenwert einer Aufklárung, die wir mit der des 18. Jhs. vergleichen sollen. Sie erscheint somit als eine selbständige politische Kraft, die

in die Geschicke der Stadt eingreift und die Politik mitgestaltet. Ohne die These Nestles von der Rolle der Sophistik in der politischen Praxis zu teilen, spricht auch PATZER (927) davon, daß die Sophisten den Anspruch auf eine „wissenschaftliche Politik“ erhoben. Das geht wohl insbesondere auf die Behauptung des Protagoras im gleichnamigen Dialog Platons (317eff.) zurück, daß Staatskunst (πολιτικὴ τέχνη) lehrbar sei; doch sind seine Aussagen hier zu sehr

mit Platonischem verwoben, als daß sie ganz für den historischen Protagoras beansprucht werden kónnten, und ist auch der Bezug auf das, was Protagoras gemeint haben kónnte, zu allgemein, als daf damit konkret etwas anzufangen wäre (Steht hinter der πολιτικὴ τέχνη bei Platon vielleicht nur ein ed λέγειν des

historischen Protagoras?). Auch MARTIN (928) entwickelt eine besondere These

zu der politischen Wirkung der Sophistik. Es ist sein Anliegen, die Bedingungen für die Entstehung und Entfaltung der Sophistik nachzuweisen. Er sieht sie

darin, daß die Adligen nach dem Sturz der Tyrannis und der Etablierung einer neuen Gesellschaft die veránderte politische Situation zu bewältigen hatten, sie diese entweder hinnehmen, ihr ausweichen oder ihre Ansprüche unter den veränderten Verhältnissen aufrechterhalten mußten. In dieser Situation hätten ihnen die Sophisten für die verschiedenen Optionen das geistige Rüstzeug gelie-

fert. Die interessante Studie ordnet die Sophisten gut in die politische Entwick-

XI. Die innere Einstellung zur Demokratie

575

lung der Zeit ein; aber sie ist nicht nur zu sehr von Athen her gedacht, sie

begreift auch die Sophistik zu stark als ein vornehmlich politisches Phänomen und engt sıe darüber hinaus zu sehr auf eine politische Gruppe, nämlich den Adel, ein. - Über das Verhältnis der Sophisten zur Demokratie in Athen wird

man mit Sicherheit nur sagen können, daß die Sophisten durch ihre rhetorischen Lehren auf die demokratische Willensbildung gewirkt haben, dies aber nicht in dem Sinne, daß sie für den demokratischen Willensbildungsprozeß oder umgekehrt die Demokratie für die Ausbildung der Rhetorik ein konstitutives Element gebildet hätten. Für die Sophisten ergab sich das Interesse am Sprachlich-Formalen und an der Argumentationstechnik aus ihrem Wunsch nach Breitenwirkung. Insofern war dort, wo die Gesellschaft nach Umfang und Aufgeschlossenheit gegenüber dem Neuen am größten war, auch der beste Nährboden für die Ausbildung einer Rhetorik, und für die Demokratie bedeutete sie das nun für jedermann bereitstehende Mittel, durch das die Bürger

überzeugt bzw. überredet werden konnten. Die Rhetorik dürfte daher ım Athen der zweiten Hälfte des 5. Jhs. ihre stärksten Impulse empfangen haben (so auch zuletzt SCHINDEL, 931, bes. 5.18).

Trotz dieser und anderer Versuche, das Verhältnis der Sophisten zu der sie umgebenden Gesellschaft und zur Politik näher zu bestimmen, wird das Thema doch, im ganzen gesehen, selten aufgegriffen, und es fehlt auch eine detaillierte Gesamtdarstellung. Das ist wohl kaum zufällig. Denn wenn es auch dem Sophisten darum geht, die Tugend (aret&) des Bürgers zu festigen, und er sich deshalb an die Öffentlichkeit wendet, legt ihn sein Denken doch nicht auf eine bestimmte Politik oder ein bestimmtes politisches Verhalten fest. Kein Sophist hat eine politische Theorie im strengen Sinne des Wortes, und ich bezweifle, daß

irgendeiner von ihnen in der praktischen Politik überhaupt etwas lehren wollte. Die Themen sophistischer Lehre, wie Religion, Erziehung, Gesetz, Natur und

Tugend, bringen zwar jeden Sophisten mit politischen Fragen in Berührung; aber die Begegnung erfolgt auf einem Vorfeld konkreter Politik und kann zu sehr verschiedenen Einstellungen in der politischen Praxis führen. Nicht von ungefähr schwanken in der modernen Literatur die Ansichten darüber, ob die Lehre des Kallikles von dem Recht des Stärkeren einen demokratischen oder oligarchischen Hintergrund habe. Es ist daher wenig sinnvoll, mit M. DREHER (Die Sophisten - Parteigänger der Demokraten oder der Oligarchen?, in: Studi e Ricerche II, Istituto di Storia, Univ. di Firenze, 1984, 63-88) danach zu fragen,

welche Sophisten auf Grund ihrer uns überlieferten Aussagen Demokraten oder Oligarchen waren. Daß das zu nichts führt, sieht am Ende auch Dreher ein. Die

Sophisten erörterten weitgehend geistiges Allgemeingut, das unter Umständen zu Reflexionen anregen konnte, aber nicht Gegenstand politischen Streits war. Das Wesen des Nomos, insbesondere seine Verfügbarkeit war am Ende des 5. Jhs. für einen Demokraten oder Oligarchen kein Streitpunkt und war es auch früher gewiß niemals gewesen. Es ging um die spezifische Organisationsform der Stadt, nicht um die Legitimation des Rechts. Für die politische Praxis war darum das Interesse der Sophisten am Formalen, nämlich die Ausbildung zum richtigen Reden (εὖ λέγειν), das Wesentliche (so richtig PATZER, 927, S.34f.). Kallikles, den wir nur aus dem , Gorgias" Platons kennen, bleibt eine

576

ZWEITER TEIL: QUELLEN UND FORSCHUNG

schemenhafte Figur. Es ist sogar bestritten worden, daß er eine historische Person sei. Man hielt ihn für eine literarische Fiktion oder für die Maske einer bekannten Persónlichkeit, die nicht genannt werden sollte (Alkibiades, Kritias);

doch fehlt ein präziser Anhaltspunkt für diese extreme Kritik; vgl. zur Diskussion UNTERSTEINER (914, Bd. 22, $.220 Anm.40) und GUTHRIE (915, 5.102).

Zu [sokrates vgl. die Handbuchartikel von MÜNSCHER (945) und LESKY (238, S.653ff.) sowie den Isokrates betreffenden Abschnitt aus dem großen Werk über die attische Beredsamkeit von BLASS (701, Bd. 2, S.1-331), der u.a. auch

ausführliche Inhaltsangaben der Reden enthält. - Zu dem Bildungsideal des Isokrates vgl. WERSDÖRFER (946; zum umfassenden Bildungsbegriff des Isokrates), STEIDLE (948; u.a. zur Stellung des Isokrates im Streit über den Vorzug des geschriebenen oder gesprochenen Wortes) und WILCOX (947; besonders zur zeitgenóssischen Kritik gegen ihn). Sein Verháltnis zu den Sophisten erórtert GRAESER (918, S.80ff.). BUCHNER (949) und BRINGMANN (950) haben sich mit den politischen Ideen des Isokrates auseinandergesetzt, vgl. dazu o. S. 572.

XII. Symptome einer Schwächung der demokratischen rundlagen im 4. Jahrhundert

Über den Niedergang der athenischen Demokratie haben sich die Autoren aller

übergreifenden Darstellungen zur griechischen Geschichte und darüber hinaus einzelne Historiker in Spezialabhandlungen Gedanken gemacht. Hier seien nur die umfangreichen Werke von MOSSE (952) und STE. CROIX (210) sowie die Überblicke von KOERNER (954) und PECIRKA (955) genannt.

Viele Gelehrte glauben, im 4. Jh. eine deutliche Schwächung der athenischen Demokratie erkennen zu kónnen, und die weitaus meisten von ihnen begründen sie ausschliefllich oder doch vornehmlich mit einem Wandel der allgemeinen sozialen und wirtschaftlichen Gesamtsituation der Stadt. Verelendung der Massen, Arbeitslosigkeit, Konzentration des Grundeigentums in den Händen weniger, Zunahme der Sklavenarbeiter, Schrumpfung des Marktes infolge von wirtschaftlicher Verselbstándigung früher abhängiger Märkte und ein hoher Anteil von Fremden (und Sklaven) am Wirtschaftsleben sind die Sympto-

me, die das politische Bewußtsein aller Griechen und eben auch das der Athener verändert, das politische Interesse geláhmt und die Spaltung der Bürger in einander feindlich gegenüberliegende Lager herbeigeführt haben sollen. Die verschiedenen Theorien zu diesem Prozeß der Veränderung sind o. S.478f. erörtert worden und sollen hier nicht wiederholt werden. Es seien lediglich einige Punkte herausgehoben, welche die athenischen Verháltnisse des 4. Jhs. besonders betreffen. Es ist zunächst festzuhalten, was in der Forschung auch bereits

mehrfach nachdrücklich hervorgehoben oder auch widerstrebend eingeráumt wurde, daß die Verhältnisse in Athen dem allgemeinen Bild vom wirtschaftli-

chen Niedergang und klassenkämpferischer Spaltung nicht entsprechen (vgl. FRENCH, 510). Wer das, wie MOSSE (952) und speziell für den agrarischen Sektor AUDRING (514), übersieht, muß sich sogar von denen, die viele ihrer Prämis4c

Y

XII. Symptome der Schwächung

577

sen teilen, das Gegenteil sagen lassen (u.a. PECIRKA, 955, S.6f., STE. CROIX, 210, 5.294 und GLUSKINA, 509; ANDREEV, 520, betont gerade die Kontinuität zum 5. Jh.; MOSSÉ selbst hat ihre Thesen teils relativiert, vgl. o. 5.482), und in der Tat kann das auch nur übersehen, wer es nicht sehen will. Es ist ferner zu konstatie-

ren, daß unsere Quellen für die Verhältnisse außerhalb Athens außergewöhnlich spárlich sind, mithin zumindest nicht von den etwa dort konstruierten Entwicklungen auf die weit besser dokumentierte Entwicklung in Athen geschlossen werden darf. Schließlich muß von einer relativen Stabilität der Eigentumsverhältnisse auf dem Lande ausgegangen werden (s.o. S. 112f.). - Von den immer

wieder verwendeten Klischees bedarf vor allem auch dasjenige einer genauen ' Überprüfung, das von der Existenz fester politischer Gruppierungen ausgeht und sie den einzelnen sozialen Gruppen mit womôglich festen politischen Programmen zuordnet; es wird oft von einer „demokratischen Partei" der Be-

sitzlosen und einer „oligarchischen Partei“ der Besitzenden gesprochen, bisweilen auch noch eine ,,Mittelstandspartei“ hinzugedichtet. Die Entscheidungen wurden in Athen auch im 4. Jh. von wechselnden Mehrheiten getroffen, und

diese bildeten sich nicht auf Grund ideologischer Prámissen, sondern persónlicher Bindungen, von Sachzwängen und von Patriotismus oder Tradition geprägten Emotionen bzw. aus einem Syndrom dieser Motive. In den politischen Grundanschauungen haben sich die einzelnen Gruppierungen, soweit sie über-

haupt als solche greifbar sind, offensichtlich nur unwesentlich unterschieden; sie scheinen vor allem durch Persónlichkeiten konstituiert worden zu sein, und dies auch wohl dann, wenn tatsächlich, wie in der Makedonenfrage, einmal

deutlich unterschiedliche Positionen vertreten wurden (vgl. o. $.558f. und von der dort zitierten Literatur insbesondere die Arbeiten von Sealey und Perlman). Wir haben für Athen keinen Hinweis auf ein politisches Potential, das den Umsturz der herrschenden Ordnung geplant hätte (so selbst STE. CROIX, 210, S.290.292.294.298). Das Ende der Demokratie wurde, wie die Intermezzi von

411 (indirekt) und 404 zeigen, von auswärtigen Kräften herbeigeführt. Daß Athen an innerer Schwäche zerbrach, wie u.a. MOSSE (952) glaubte, findet in den Quellen keine Stütze; in diesem Sinne etwa auch GOMME (951). Ernster zu

nehmen haben wir Hinweise, die auf ein Nachlassen des politischen Engagements verweisen. Auch hier kann es natürlich nicht darum gehen, aus einzelnen

Äußerungen bzw. sinngemäßen Interpretationen solcher Äußerungen und anderen historischen Daten auf eine allgemeine Entpolitisierung der Bürger

schließen zu wollen, wie es etwa AUDRING (514) speziell für den agrarischen Sektor tut, und es ist auch der jeweilige Zusammenhang eines Zeugnisses zu berücksichtigen. Wenn Isokrates (z. B. peri Antid. 159ff., vgl. auch Areopag. 35) die Apolitie der Bürger beklagt, zielt er natürlich auf die Wohlhabenden, gerade nicht auf die große Masse der Bürger, ebenso Isaios (vgl. WEVERS, 81, S.121). Doch geben etwa die Entpolitisierung der Komódienthematik, die Zunahme des

Söldnerwesens und eine gewisse Überrepräsentation von Teilen der Oberschicht bei einzelnen Ämtern (s.u.) zu denken. Wie VANNIER (736) gezeigt hat, wurden Veränderungen auch darin sichtbar, daß die ökonomischen Aktivitäten, die selbstverständlich für den Bürger schon immer eine große Rolle gespielt hatten, auch ideell einen höheren Stellenwert erhielten.

578

ZWEITER TEIL: QUELLEN UND FORSCHUNG

Gelegentlich wird, so von KOERNER (954), die Übertragung von Gerichtsverfahren von der Volksversammlung

an die Geschworenenhöfe als eine

Schwäche der Demokratie empfunden. Indessen ist, wie im Text dargelegt, die Volksversammlung stets Herr aller Entscheidungen geblieben (Verfahrensherrschaft), und dies sowohl formal als auch tatsächlich. Die Gerichte schließlich, an

welche die Verfahren übergingen, sind in Athen keine Organe, die man von dem Demos als Ganzen getrennt sehen könnte, sondern gerade Ausdruck der unmit-

telbaren Volksgewalt. Ebenso halte ich die von Koerner a.O. verfochtene These, daß die Demokratie in Athen durch die Vermehrung der Beamten die „Merk-

male einer langsam erstarrenden Bürokratie" aufweist (S.142), für abwegig.

„Bürokratie“ und „Verwaltungsapparat“ gab es in Athen gerade nicht; die Vermehrung der Beamten sowie die Spezialisierung ihrer Zustándigkeitsbereiche sind ein typisch demokratischer Zug. Das Problem liegt nicht in der Vermehrung der Beamten, sondern in der Kontrolle über sie. Wir haben keine Hinweise darauf, daß diese vom Rat, den Rechenschaftsbeamten und den Gerichten sowie

von den in die Beamtenkollegien selbst gelegten Sicherungen nicht mehr wirksam gesichert werden konnte.

Zu den formalen und inhaltlichen Veránderungen der Alten Komódie, die den Übergang zu einer ganz anderen Auffassung von dem Stellenwert der Komódie in der athenischen Gesellschaft bilden, insbesondere zu dem völligen Verzicht, einzelne Personen (Politiker, Dichter, Weisheitslehrer) zu verspotten (ὀνομαστί κωμῳδεῖν,

„mit

Namensnennung

verspotten"), vgl. W. SCHMID/O.

STÄHLIN

(237, S.441ff.).

Über die soziale Zusammensetzung von Rat, Beamtenschaft und Rednern im 4. Jh. läßt sich nicht leicht etwas aussagen. Die Untersuchungen von SUNDWALL (830, nur für die Zeit von 360-322 v. Chr.) und JONES (629, S.229f.)

lassen vermuten, daß die gutsituierten oder gar wohlhabenden Bürger jedenfalls stark vertreten waren. Neuerdings hat DAVIES (831) die Frage auf breiter und methodisch sichererer Grundlage wiederaufgenommen. Danach haben sich bei ungefáhr gleichbleibender Anzahl der Wohlhabenden sowohl die Zusammen-

setzung als auch die Lebens- und Verhaltensweise des politisch aktiven Teils der Oberschicht vom 5. zum 4. Jh. stark verändert; so sind etwa die Generals- und

Offiziersstellen im 4. Jh. nicht mehr so eng mit der politischen Führungsschicht verbunden wie früher. Die Annahme von STRAUSS (834, S.70ff.), daß die (angeb-

lich) maßvolle Restauration der Demokratie nach 404 - Strauß spricht mit einem Wort von A.H.M. Jones von „an increasingly bourgois tone" (S.177) - ihre

Ursache in den gegenüber den Hopliten hóheren Verlusten der Theten (nach dieser Berechnung hätten die Hopliten die Theten nach 404 um mindestens 20% überstiegen!) zurückzuführen sei, muß - abgesehen von dem Fehlen eines klaren Hinweises, worin sich die Demokratie nach 404 von der davor liegenden unterschieden hätte, und eines Nachweises dessen in der konkreten Politik - schon

daran scheitern, daß die Berechnung der Verluste bei Schiffsuntergángen spekulativ sind (man vgl. die Auflistungen S.179ff.); denn wir wissen durchweg nicht,

wie viele Ruderer ertrunken sind und wie hoch der Prozentsatz an Bürgern unter der Rudermannschaft jeweils war. Zur pátrios politeía vgl. FUKS (962), RUSCHENBUSCH (963), RAAFLAUB (891,

XIII. Demokratien außerhalb Athens

579

S.37ff.) sowie die Literatur zur inneren Opposition (Nr. 887ff.) und die Bemerkungen o. S.61ff. zu der Herausbildung einer Entwicklungsgeschichte der De-

mokratie seit dem Ende des 5. Jhs., ferner zu den politischen Ideen des Isokrates im ,Areopagitikos" BRINGMANN (950, S.75ff., dort auch zur Datierung der Schrift; auf den Herbst 357, also vor den Beginn des „Bundesgenossenkrieges“, datiert sie im Gefolge von W. Jaeger auch O.St. DUE: The date of Isokrates' Areopagitikos, in: Stud. in Anc. Hist. and Numism. pres. to Rudi Thomsen, 1988, 84-90) und WALLACE (957, S.145ff.). WALTERS (964) hat in einem wichtigen Aufsatz dargelegt, daß das politische Programm einer Rückkehr zur „väterli-

chen Verfassung" nicht schon zur Zeit der beiden oligarchischen Umstürze 411 und 404 konzipiert gewesen sein kann, damals sich vielmehr πάτριοι νόμοι auf geltende Gesetzgebung bezogen. Nach Walters hat erst Androtion in einem

Mißverständnis der politischen Absichten des Theramenes den Begriff pátrios politeía als „Verfassung der Väter“ in die Welt gebracht, von dem ihn dann Aristoteles übernommen habe. Man wird danach das Konzept einer „väterli-

chen Verfassung“ und damit also auch die Rechtfertigung oligarchischer Ambitionen aus der Tradition nicht mehr unbedenklich schon im 5. Jh. ansetzen

dürfen. Auch wenn man Walters in seiner Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte der politischen Idee (Androtion!) nicht folgen will, kann sich deren Transferierung in das späte 5. Jh. jedenfalls nicht auf konkrete Belege stützen. Über die Erweiterung der Zuständigkeiten des Areopags nach 355 informieren u.a. THALHEIM (956), WALLACE (957, S.174ff.), CARAWAN (960, S.124ff.) und

insbesondere in einer abgewogenen Studie ENGELS (961). Letzterer hebt mit Recht hervor, daß der Areopag in dieser neuen Rolle keine oligarchische Tendenz verfolgte, sondern er meist auch im Interesse der radikaleren, antimakedo-

nischen Kreise agierte. Allerdings ist nicht zu verkennen, daß der Areopag eher

auf Frieden mit den Makedonen aus war, also innere Stabilität durch außenpolitischen Verzicht suchte. ,,Das Eukratesgesetz mit seiner besonderen Spitze gegen den Areopag“ (Engels, S.203) ist darum doch auch wohl mit Engels und gegen MOSSÉ (959), die darin, schwer verstándlich, einen Beweis des guten

Willens („la bonne foi“) Athens gegenüber Philipp II. sehen möchte, als eine Art Denkzettel für den Areopag zu verstehen. Die Entwicklung der Zustándigkeit des Areopags im 4. Jh. hat THALHEIM (956) behandelt. Zur Demokratie in hellenistischer Zeit vgl. STE. CROIX (210, S.300ff.), zur Geschichte Athens in

dieser Zeit FERGUSON (966) und HABICHT (967; 968).

XIII. Demokratien außerhalb Athens im 5. und 4. Jahrhundert Eine Geschichte der Demokratien auRerhalb Athens gibt es nicht, und sie wird auf Grund der desolaten Quellenlage auch wohl kaum jemals geschrieben wer-

den kónnen. Eine kurze Skizze, die als Ersatz dienen mag, steht in der umfassenden Darstellung der griechischen Geschichte von E. WILL (158, Bd. 1, $.461-464).

Auf die Bedeutung Athens für die Entstehung von Demokratien außerhalb dieser Stadt hat SCHULLER (969) in einer eigens dieser Frage gewidmeten Schrift nachdrücklich hingewiesen.

580

ZWEITER TEIL: QUELLEN UND FORSCHUNG

Verhältnismäßig gut sind wir über die Rolle der demokratischen Verfassung für die athenische Machtpolitik unterrichtet. Neben den großen Autoren (Arıstophanes, Thukydides,

Xenophon,

auch

Ps.-Xenophon)

besitzen wir eine

Reihe von Inschriften des 5. Jhs., die einen Verfassungsumsturz betreffen oder ihn voraussetzen, vor allem das Erythrai-Dekret von 453/52 (MEIGGS/LEWIS,

127, Nr. 40; KOCH, 404, S.61ff.), Kolophon-Dekret von 447/46 (MEIGGS/LEWIS, 127, Nr. 47), Chalkis-Dekret von 446/45 (MEIGGS/LEWIS, 127, Nr. 52; KOCH, 404, S.135ff.) und Samos-Dekret von 439/38 (MEIGGS/LEWIS, 127, Nr. 56). - Der

Grundsatz, daß die innere Verfassung durch die Außenpolitik bestimmt und also Demokratie und Oligarchie mit Athener- bzw. Spartanerfreundlichkeit gleichzusetzen sind, wird von unseren literarischen Quellen durchweg vorausgesetzt, aber auch oft direkt ausgesprochen, so z. B. von Ps.-Xenoph. 1,14; 3,10f.; Thuk. 3,47; 4,86-87 (hier ergibt sich der Grundsatz daraus, daß Brasidas

zwar keinen

Umsturz

will, aber auch

keinen Widerstand

ihm angebotene Autonomie duldet); 8,64; Isokr. Paneg.

gegen die von

104-107; Arist. Pol.

1370b22-25. Bisweilen wird ausdrücklich gesagt, daß man eine Demokratie nach dem Muster Athens einrichten wolle, Thuk. 4,76,2: (die Böoter) Bovλομένων μεταστῆσαι τὸν κόσμον καὶ ἐς δημοκρατίαν ὥσπερ οἱ ᾿Αθηναῖοι τρέψαι - Zum Sendungsbewuftsein der Athener, insbesondere zum Export der

Demokratie als einer Leistung, die Befreiung der Menschen von Unterdrückung bedeutet, vgl. Lys. 2,55-57; Isokr. Paneg. 100-109; Panathen. 54.59.61.68.

Die verfassungspolitische Entwicklung im athenischen Seebund haben u.a. MERITT/WADE-GERY/McGREGOR

(403, S.149-154; Zurückweisung der These,

daß Athen generell in den Seebundsstádten die Demokratie förderte; vgl. aber WILL und SCHULLER a.O.), WILL (158, Bd. 1, $.187-201), MEIGGS (400, S.203ff.) und SCHULLER (401, S. 82-98; hier S.97f. auch zu dem Unterschied der sozialpo-

litischen Gesamtsituation in Athen einerseits und in den abgeleiteten Demokratien andererseits) nachgezeichnet. - Zur Bedeutung des Verfassungsoktroi für das verfassungspolitische Denken der Griechen vgl. BLEICKEN (381). Über Diätenzahlungen in Demokratien aufterhalb Athens informiert ein kleiner Artikel von STE. CROIX (971). Zur Inschrift von lasos über die Zahlung eines ekklésiastikón aus der Zeit Alexanders (ca. 330-325) vgl. GAUTHIER (972); die

Zahlungsmodalitáten, insbesondere die feste Summe, hier pro Monat ausgeworfen, ferner die Identifizierung der Besucher mittels Ausweismarken und die Rolle der Phylen weisen deutliche Parallelen zu Athen auf. - Die Verfassungsentwicklung von Argos im 5. Jh. hat WÖRRLE (973), die von Syrakus HÜTTL (974) behan-

delt. Letzterer nennt jedoch die uns gänzlich unbekannte Verfassung, die ca. 520 nach Vertreibung der Gamoren eingerichtet wurde, bereits „Demokratie“. Demgegenüber hat BERGER (970) in einer nüchternen Analyse aller (sehr spärlichen)

Hinweise auf demokratische Institutionen des 5. und 4. Jhs. in Städten des grie-

chischen Westens (Syrakus, Tarent, Thurioi) festgestellt, daß hier nicht demokratische Einrichtungen Athens Modell gestanden haben, sondern vielmehr lokale Besonderheiten für die Interpretation als demokratische Institution in Anspruch genommen wurden und sich auch noch ganz gut der sozialpolitische Hinter-

grund solcher angeblich demokratischen Einrichtungen ausmachen läßt, die nicht auf Demokratie, sondern auf Aristokratie/Oligarchie verweisen.

XIV. Über antike und moderne Demokratie

581

XIV. Über antike und moderne Demokratie Überlegungen zu einem Vergleich der athenischen mit der neuzeitlichen Demokratie hat in jüngerer Zeit M.i. FINLEY (801; 807; 823) angestellt. - Zur Geschichte des Begriffs Demokratie in der Neuzeit vgl. den betreffenden Artikel der „Geschichtlichen Grundbegriffe“ von MAIER/KOSELLECK/CONZE (975, Bd.

1, S. 839-899). Ein eingehender Überblick über die Wirkungsgeschichte der athenischen Demokratie von der Antike bis zur neueren Zeit fehlt. Sie kann hier nicht nachgeholt werden. Es sollen im folgenden lediglich einige besonders markante Äußerungen von modernen Historikern zur Demokratie in Athen vorgestellt werden.

Die erste große Griechische Geschichte des 19. Jhs. stammt von George Grote (1794-1871), und obwohl er kein Fachhistoriker war, kann sie als die erste

umfassende wissenschaftliche Behandlung der Griechischen Geschichte gelten. Mit intimster Kenntnis der Quellen, nüchterner Einschätzung des historisch

Möglichen und feinem Urteilsvermögen hat Grote die einzelnen Sachprobleme 2. T. außergewöhnlich breit und doch nicht ohne Spannung behandelt sowie Urteile gefällt, die vielfach heute noch oder wieder Gültigkeit haben. Der athenischen Demokratie schenkte er seine besondere Aufmerksamkeit, dies ange-

sichts der antidemokratischen Grundstimmung seiner Zeit in England - die Französische Revolution wirkte noch nach - ein origineller Ansatz. In manchen Interpretationen scheint er seiner Zeit hundert Jahre voraus zu sein. Mit Nach-

druck lobt er die politische Bildung und das politische Engagement der Athener, hebt ganz im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen ihre Toleranz hervor - der Sokrates-Prozeß ist von ihm zu Recht nicht als Symptom, sondern als Unfall der Demokratie angesehen worden - und bemüht sich darum, die politischen Pro-

zesse, die nach Umfang und Durchführung bis heute beinahe einmütig als eines der Grundübel der Demokratie angesehen werden, nicht einfach als Ausdruck

der Unbeständigkeit und Emotionalität des Volkes hinzunehmen, sondern aus der jeweiligen historischen Situation heraus zu begründen und zu erklären. Grote besaß soviel Einfühlungsvermögen, gegen alle unsere antiken Quellen ın

Kleon einen Politiker mit Verstand und Einsicht zu sehen, nicht einen Tölpel oder Schmeichler des Volkes, wie es uns vor allem Aristophanes und Thukydides glauben machen wollen. Er ist mit erstaunlicher Unabhängigkeit gegenüber

den befangenen Darstellungen unserer Quellen zu einem echten Verständnis der Demokratie in Athen vorgestoßen. Seine Auffassung verdient um so größere Anerkennung, als sie weder dem Zeitgeist entsprach noch die Fachgelehrten hinter sich wußte.

Mit seinem Urteil blieb Grote lange allein. Was im 19. und frühen 20. Jh. zur athenischen Demokratie gesagt wurde, beschránkte sich durchweg auf kritische Bemerkungen, ja es war den Gelehrten das Thema überhaupt verleidet. Jacob Burckhardt (1819-1897) hat in seiner ,,Griechischen Kulturgeschichte" ausdrücklich erklärt, daß das politische Leben der Griechen kein Gegenstand modernen Interesses sein könne (236, Bd. 1, S.224). Was er dann zur athenischen

Demokratie sagt - und das ist doch nicht wenig -, zeugt von äußerster Distanz

582

ZWEITER TEIL: QUELLEN

UND FORSCHUNG

und schärfster Kritik. Burckhardt machte die Antinomie von Staatsgewalt und individueller Freiheit zur Grundlage seines Urteils. Von hierher erschien ihm die

griechische Polis ganz allgemein, insbesondere aber ihre demokratische Ausformung als Inbegriff der Allmacht des Staates und der Unterdrückung des Individuums: „Und zwar besteht diese Staatsknechtschaft des Individuums unter allen Verfassungen (sc. der antiken Poleis), nur wird sie unter der Demokratie, als sich

die verruchtesten Streber für die Polis und deren Interesse ausgeben, d. h. den Satz salus rei publicae suprema lex esto in ihrem Sinne interpretieren konnten, am drückendsten gewesen sein“ (a.O. Bd. 1, S.77). Für Burckhardt hatte die Terron-

sierung des Individuums durch die Masse - praktiziert vor allem mittels politischer Prozesse der Volksversammlung und der Geschworenengerichte, mittels Ostrakismos und Popularklage - die Konsequenz, daß sich die Fáhigen aus dem öffentlichen Leben zurückzogen (,,Apolitie der Besten“).

In Burckhardt hat eine extrem liberale Anschauung ihr Verdikt über die

athenische Demokratie gefällt. Sie begegnet uns bis weit in das 20. Jh. hinein bei vielen Historikern. Die Volksversammlung und Volksgerichte als der allmäch-

tige Herr über den einzelnen Bürger, von Stimmungen abhängig, dazu geldgierig und machthungrig: Das ist das Bild, das die gelehrten Bücher beherrscht. Schon der Altmeister der Wissenschaft von den Griechen, August

Beeckh,

hatte in seinem großen Werk über den Staatshaushalt der Athener die politische Praxis der Demokratie, insbesondere deren Finanzgebarung, getadelt und damit das Mißvergnügen seiner Zeit an demokratischer Betriebsamkeit ausgedrückt: „50 gewöhnte man die Bürger durch Spenden und Besoldungen in Friedenszeiten an Trägheit und an den Gedanken, der Staat sei verpflichtet, sie zu ernähren“, schreibt er, und „die Verschwendung zu Hause, der Aufwand im Felde, die

schlechte Verwaltung hier und dort“ habe zur Unterdrückung der Bundesgenossen geführt und damit letztlich das Ende der Freiheit gebracht (734, Bd. 1,

5.709). Wie Boeckh klagt auch ein anderer Kenner des athenischen Finanzwesens, A. Andreades (221, S.270), daß die Diäten der Ruin der Stadt gewesen

seien. Hier scheint antike Kritik wiederaufgenommen worden zu sein, doch

liegt die tiefere Ursache der inneren Ablehnung bei den meisten an ihrem liberalen Weltbild, in dem die Freiheitsrechte den Mittelpunkt einnehmen. So mißt auch einer der bedeutenden Rechtshistoriker unseres Jahrhunderts, Leopold Wenger, die athenische Demokratie an dem Begriffspaar Staat - Freiheit (Ztschr. Sav. Stiftg. 36, 1915, $.453), aber vor allem finden wir diese Grundeinstellung auch bei einem Mann, der sich als einer der ersten Althistoriker intensiver der sozialen Frage in der Antike zuwandte und von hierher einen anderen Ausgangspunkt hätte gewinnen können: Robert von Pöhlmann (18521914). Pöhlmann hatte kurz nach dem Erscheinen seiner „Griechischen Ge-

schichte“ (1889) eine kritische Rezension der doch bereits vor einem Menschenalter verfaßten „Griechischen Geschichte“ von George Grote geschrieben (981),

durch die er sich von dem Werk seines großen Vorgängers, insbesondere von dessen Auffassung zur athenischen Demokratie, absetzen wollte. In beiden Schriften geht er unentwegt mit den Athenern hart ins Gericht. Er ließ kaum ein antikes oder modernes Vorurteil aus und rückte seine Quellen entsprechend zurecht. Er identifizierte den Demos mit der Masse der Armen und konstruierte

XIV. Über antike und moderne Demokratie

583

einen Klassengegensatz zwischen arm und reich, verstand die Herrschaft des Volkes - er wurde nicht müde, für sie immer neue abwertende Wendungen zu erfinden: „Pöbelherrschaft“, „Massenmehrheit“, „Massentum“, „Staatsform des

Dilettantismus“, „Demokratismus“ usw. - als Ausbeutung der Besitzenden und als Justizterror. Die Französische Revolution und die von dorther rührenden Ängste des Bürgertums vor dem Phänomen der Masse schaut hinter jeder dieser Formulierungen hervor. Pöhlmanns gängige Reaktion auf die Äußerungen des politischen. Alltags in Athen ist die bedingungslose Abwehr mittels verbaler Injurien. Er hat mit seinen Ansichten im damaligen Deutschland keine Empórung ausgelöst; mit dem „radikalen Demokratismus" konnte man die meisten, zumal die Gebildeten, bange machen. Zudem schien er durch die Aufnahme sozialwissenschaftlicher und nationalókonomischer Denkkategorien ein eher moderner Historiker zu sein. Wenn seine Wirkung hier gering war, lag das neben seiner sehr vom Subjektiven geprágten Denkungsart - vor allem daran, daß er die modernen Begriffe der Staats- und Sozialwissenschaft recht unbedenklich an den antiken Stoff angelegt hatte und man die daraus herrührenden Verzerrungen des historischen Gegenstandes bald erkannte. Heute denkt man über die athenische Demokratie nüchterner, ist vorsichtiger im Urteil geworden und meidet jede Emphase. Die Analyse erhebt sich kaum über den wissenschaftlichen Diskurs und scheut den Vergleich mit modernen Verháltnissen, der doch letzten Endes immer nur Unvergleichbares zusammenstellen kann. Die Wissenschaft verlangt den gedämpften Ton, meint man, und so ist denn das Urteil meist von unvergleichlicher Abgeklärtheit; die Absicherung des gewonnenen Ergebnisses gegen alle denkbare Kritik erstickt den großen

Ausblick. Bei aller Gelehrsamkeit ist die Grundtendenz der Modernen gegenüber der athenischen Demokratie

stets freundlich; die Demokratie hat heute

allerorten Sympathien. Man kónnte sie ungeniert loben, aber davor scheut man sich, jedenfalls in Deutschland. Zu hart wirken die Urteile der Vergangenheit nach; aber vor allem stößt das unmittelbare, nicht durch Gelehrsamkeit gefil-

terte Gefühl gegenüber dem historischen Gegenstand überall auf deutliche Zurückhaltung. Die Wirkung der subjektiven Befangenheit und des Zeitgeistes auf

den wissenschaftlichen Gegenstand, die so viele Fehlurteile hervorgebracht haben, liegt offen zutage und lähmt das unbefangene Räsonnement, und folglich tun sich die Gelehrten schwer, die Geschichte der Demokratie in Athen für den

Geschichtsunterricht oder die politische Bildung aufzubereiten. Ich kenne kein

Gesamturteil über die athenische Demokratie von einem deutschen Historiker der Nachkriegszeit, das den Namen verdiente. In England sieht es anders aus. A.W. GOMME (628) und A.H.M. JONES (629) etwa sind aus einer genauen Analyse

des Ablaufs politischer Willensbildungsprozesse und Verhaltensweisen zu neuen Wertungen der athenischen Demokratie gelangt. Sie und andere haben dabei ihr Interesse in erster Linie darauf gerichtet, wie der politische Alltag

aussah und welche sozialen und wirtschaftlichen Voraussetzungen er hatte. So haben z. B. die beiden genannten Gelehrten u.a. die Bedeutung der Verfahrensformen für den ProzeR der Willensbildung sowie die der Gesetzestreue und der Vermógensverteilung für die Stabilität der Demokratie herausgestellt. Im deut-

schen Sprachbereich hat vor allem H.J. Wolff in mehreren Abhandlungen das

584

ZWEITER TEIL: QUELLEN

UND FORSCHUNG

Rechtsbewußtsein der Athener analysiert und die Praxis der Volksgerichte von dem Vorwurf der Justizwillkür befreit. Der englische Althistoriker P.J. Rhodes und sein dänischer Kollege M.H. Hansen bemühen sich neben vielen anderen ın zahlreichen Monographien und Einzelstudien um eine verbesserte Kenntnis der demokratischen Organisationsformen, wodurch insbesondere auch die Bedeutung dieser Formen für das praktische politische Leben schärfer in das Bewußtsein getreten ist. In den vergangenen 20-30 Jahren hat die athenische Demokratie ein Zentrum des Interesses der althistorischen Forschung gebildet; die gewaltige Arbeit, die geleistet wurde, scheint die Nichtachtung des Gegenstandes im

19. und in der ersten Hälfte des 20. Jhs. wiedergutmachen zu wollen. Die mühselige Kleinarbeit hat sich gelohnt. Die demokratische Gesellschaft in Athen, ihre Verhaltensformen und Mentalität, ihre Wünsche und Ideale treten

nun deutlicher hervor. Die athenische Demokratie ist kein Unfall der Weltgeschichte mehr; sie ist auch nicht der Idealstaat, in dem nicht nur die geistige und künstlerische, sondern auch die politische Kultur ihren einsamen Hóhepunkt hatte. Sie ist vielmehr der historische Beleg dafür, daß die unmittelbare Herr-

schaft einer Masse auch unter dem Vorzeichen einer radikalen politischen Gleichheit über lange Zeit hindurch wirklich funktioniert hat.

Zu den genannten Historikern sind heranzuziehen: zu George Grote CLARKE (976) und MOMIGLIANO (977), zu Jacob Burckhardt KAEGI (978), LOWITH (979) und CHRIST (980, S.119-158) und zu Robert v. Pöhlmann ebenfalls CHRIST a.O. S. 201-247.

Dritter Teil:

LITERATURVERZEICHNIS

587

A. Ausgaben, Kommentare und Literatur zu ausgewählten Quellen Solon Werke

Ausgabe: Anthologia lyrica Graeca, fasc. 1, ed. E. DIEHL, 1949? (Bibl.Teubn.). lambi et elegi Graeci ante Alexandrum cantati, vol. II, 119-145, ed. M.L. West, 1972.

Übersetzung: Sämtliche Fragmente, von E. PREIME, 1945 (Heimeran). Literatur: s. auch Nr. 305-323 des Literaturverzeichnisses.

Ps.-Xenophon Staat der Athener

Ausgabe: Xenophon, Opera Bd.V, ed. E.C. MARCHANT.

1920 (Bibl. Oxoniensis).

Übersetzung u. Kommentar: 1. KALINKA, E: Die pseudoxenophontische Athenaion politeia. Einleitung. Übersetzung. Erklárung, 1913. 2. FRISCH, H.: The constitution of the Athenians. A philological-historical analysis of Pseudo-Xenophon's treatise de re publica Atheniensium, 1942 (Text, Einführung, Kommentar). Literatur:

3. TREU, M.: Ps.-Xenophon, in: RE IX A (1967), 1928-1982.

4. CANFORA, L.: Studi sull’ Athenaion politeia pseudosenofontea, in: Memorie dell'Acad. delle Scienze di Torino II. Classe di scienze morali, storiche e filologiche, ser. V, vol. 4, 1980.

5. FUKS, A: The „old oligarch", in: Scripta Hierosolymitana I, 1954, 21-35 (= ders.: Social conflicts in ancient Greece, 1984, 198-212). 6. CATALDI, 5.: La democrazia ateniese e gli alleati (Ps.-Senofonte, Athenaion politeia, I,

14-18), 1984.

588

DRITTER TEIL: LITERATUR

Herodot

Ausgabe: Herodoti historiae, ed. C.HUDE, 2 Bde., 1908. 1927? (Bibl. Oxoniensis).

Übersetzung: : Herodot. Historien, von A. HORNEFFER, neu hrsg. und erläutert von H.W. HAUSSIG und mit einer Einltg. von W.F. OTTO, 1971* (Kroner). Herodot. Geschichten und Geschichte, übers. von W. MARG, 2 Bde., 1973 und 1983, Bd. 2 bearb. von Gisela STRASBURGER mit einem Essay ,, Herodot als Geschichtsschreiber“ von H. STRASBURGER (Artemis). Kommentar:

7. STEIN, H.,1893-1908*'5. 8. HOW, W.W./WELLS,J.: A commentary on Herodotus (Einltg., Komment., Appendices), 2 Bde., 1912.

19282.

Literatur: 9. JACOBY, F.: Herodotos, in: RE Suppl. II (1913), 205-520.

10. FEHLING, D.: Die Quellenangaben bei Herodot. Studien zur Erzáhlkunst Herodot, 1971.

11. IMMERWAHR, H.R.: Form and thought in Herodotus, 1966. 12. COBET, J: Herodots-Exkurse und die Frage der Einheit seines Werkes, 1971. 13. FORNARA, C.W.: Herodotus. An interpretative essay, 1971. 14. BICHLER, R.: Die „Reichsträume“ bei Herodot. Eine Studie zu Herodots schöpfen-

scher Leistung und ihre quellenkritische Konsequenz, in: Chiron 15, 1985, 125147.

15. MULLER, D.: Topographischer Bildkommentar zu den Historien Herodots. Griechenland im Umfang des heutigen griechischen Staatsgebiets, 1987. 16. SHIMRON, B.: Politics and belief in Herodotus, 1989. 17. ERBSE, H.: Studien zum Verständnis Herodots, 1992. 18. MARG, W. (Hrsg.): Herodot: Eine Auswahl aus der neueren Forschung, 1982? (Auf-

satzsammlung).

Aristophanes Komôüdien

Ausgabe: Comoediae, ed. F.W. HALL/W.M. GELDART, 2 Bde., 1906-07? (Bibl. Oxoniensis).

Übersetzung: Sämtliche Komódien, mit Einltg. von O. WEINREICH, 1968? (Bibl. der Alten Welt).

Antike Komödien. Aristophanes, Übers. neu bearb. von L. SEEGER, einglt. und mit einem Nachwort versehen von H.-J. NEWIGER, 1974 (Wiss. Buchges.).

Literatur: 19. NEVIGER, H.-. (Hrsg.): Aristophanes und die Alte Komödie, in: Wege d. Forschg. 265, 1975 (Aufsatzsammlung mit ausführlicher Bibliographie auch von Kommentaren). 20. DOVER, KJ.: Áristophanic comedy, 1972. 21. HEATH, M.: Political comedy in Aristophanes, 1987.

s. auch Nr. 457 des Literaturverzeichnisses.

A. Ausgewählte Quellen

589

Thukydides Der Peloponnesische Krieg Ausgabe: Historiae, ed. H.St. JONES,/J.E. POWELL, 2 Bde., 1900. 19022 (Bibl. Oxoniensis). Historiae, ed. C. HUDE, 2 Bde., 1901 (Bibl. Teubn.).

Übersetzung: Der Peloponnesische Krieg, von A. HORNEFFER, mit einer Einltg. von H. STRASBURGER, 1957. Geschichte 19772).

des

Peloponnesischen

Krieges,

von

G.P. LANDMANN,

1960

(=

dtv,

Kommentar:

22. GOMME, A.W./ANDREWES, A./DOVER, KJ.: À historical commentary on Thucydides, 5 Bde., 1945-1981.

Literatur:

23. CONNOR, W.R.: Thucydides, 1984. 24. REGENBOGEN, O.: Thukydides als politischer Denker, in: Das human. Gymnasium 44, 1933, 2-25.

25. STRASBURGER, H.: Die Entdeckung der politischen Geschichte durch Thukydides, in: Saeculum 5, 1954, 395-428 (= H. HERTER, Hrsg.: Thukydides, in: Wege d. Forschg. 98,

1968, 412-476).

26. STRASBURGER, H.: Thukydides und die politische Selbstdarstellung der Athener, in: Hermes 86, 1958, 17-40.

|

27. STAHL, H.-P: Thukydides. Die Stellung des Menschen im geschichtlichen Prozeß, 1966.

28. FLASHAR, H.: Der Epitaphios des Perikles, 1969. 29. GAISER, K.: Das Staatsmodell des Thukydides. Zur Rede des Perikles für die Gefallenen, 1975.

30. HORNBLOWER, 5.: Thucydides, 1987. 31. POPE, M: Thucydides and democracy, in: Historia 37, 1988, 276-296. 32. HERTER, H. (Hrsg.): Thukydides, in: Wege d. Forschg. 98, 1968 (Ausatzsammlung).

Xenophon Ökonomik, Einkünfte (poroi) Ausgabe: Opera Bd. II (Oikonomikos), V (poroi), ed. E.C. MARCHANT, 1920 (Bibl. Oxoniensis).

Übersetzung: AUDRING, C.: Xenophon. Über die Einkünfte (Poroi), in: Jahrb. f. Wirtschaftsgesch.

1978/11, 241-254.

SCHÜTRUMPF, E.: Xenophon. Vorschläge zur Beschaffung von Geldmitteln oder über die Staatseinkünfte, in: Wiss. Buchges., Texte zur Forschg. 38, 1982 (Text, Übers.,

Einltg.). Kommentare und Literatur | 33. MEYER, K:: Xenophons „Oikonomikos“, Diss. Marburg 1975 (Übers., Kommentar).

590

DRITTER TEIL: LITERATUR

Literatur: 34. BREITENBACH, H.R.: Xenophons „Poroi““ - „Oikonomikos“, in: RE IX A (1967), 17531761.1837-1871.

35. GAUTHIER, Ph: Un commentaire historique des poroi de Xenophon, 1976.

Aischylos Tragödıen Ausgabe: Tragoediae, ed. ©. PAGE, 1972 (Bibl. Oxoniensis).

Übersetzung: von J.G. DROYSEN, neu bearb. von F. STOESSL, 1952 (Bibl. d. Alten Welt). von J.G. DROYSEN, neu bearb. von W. NESTLE, 1977* (Kröner). Kommentar:

36. ROSE, H.J.: A commentary on the surviving plays of Aeschylus, 2 Bde., 1957-1958. Literatur: 37. MURRAY, G.: Aeschylus. The creator of tragedy, 1940. 38. REINHARDT, K.: Aischylos als Regisseur und Theologe, 1949. 39. LESKY, A: Die tragische Dichtung der Hellenen, 1972?, S. 65-168. 40. PODLECKI, AJ.: The political background of Aeschylean tragedy, 1966. 41. HOMMEL, H. (Hrsg.): Wege zu Aischylos, 2 Bde., in: Wege d. Forschg. 87/465, 1974

(Aufsatzsammlung).

Sophokles Tragodien Ausgabe: Fabulae, ed. A. C. PEARSON, 1928? (Bibl. Oxoniensis). Sophocle, ed. A. DAIN/P. MAZON, 3 Bde., 1955-1960. Bd. 1-2 in 2. Aufl. 1962-1965 (Text u. franz. Übers.). Übersetzung: von H. WEINSTOCK, 1953? (Kroner). von E. BUSCHOR u. W. SCHADEWALDT, 1968 (Bibl. d. Alten Welt). Kommentar: 42. erklärt von AW. SCHNEIDEWIN /A. NAUCK, /E. BRUHN /L. RADERMACHER, 1909-1914.

8 Bde.,

43. KAMERBEEK, 1.C.: The plays of Sophocles. Commentaries, 6 Bde. (fehlt noch Oed. Col.), 1953-1980.

Literatur: 44. REINHARDT, K.: Sophokles, 1933. 1976*.

45. WEBSTER, T.B.L.: An introduction to Sophocles, 1936. 19692, 46. EHRENBERG, V.: Sophokles und Perikles, 1956.

47. LESKY, A: Die tragische Dichtung der Hellenen, 1972?, S. 169-274. 48. DILLER, H. (Hrsg.): Sophokles, in: Wege d. Forschg. 95, 1967 (Aufsatzsammlung).

A. Ausgewählte Quellen

591

Euripides Tragôdien Ausgabe: Fabulae, ed. G. MURRAY, 3 Bde., 1902. 19132? (Bibl. Oxoniensis).

Übersetzung: von J.J. DONNER., bearb. von R. KANNICHT u. B. HAGEN, 2 Bde., 1967? (Kroner). von E. BUSCHOR u. W. BINDER, hrsg. von G.A. SEECK, 6 Bde., 1972-1981 (Text u. Übers.). Literatur:

49. 50. 51. 52.

ZUNTZ, G..: The political plays ol Euripides, 19632. WEBSTER, T.B.L.: The tragedies of Euripides, 1967. LESKY, A: Die tragische Dichtung der Hellenen, 1972?, S. 275-522. SCHWINGE, E.-R. (Hrsg.): Euripides, in: Wege d. Forschg. 89, 1968 (Aufsatzsammlung).

Antiphon Reden

Ausgabe: Orationes et fragmenta, ed. F. BLASS/Th. THALHEIM, 1914 (Bibl. Teubn.).

Übersetzung: (engl.) von KJ. MAIDMENT: Minor Attic orators I, 1941, 1-317 (Loeb Class. Libr.). Kommentar:

53. EDWARDS, M./USHER, S.: Greek orators I. Antiphon & Lysias, 1985. Literatur:

54. BLASS, F.: Die attische Beredsamkeit I, 18875, 91-203. 55. JEBB, R.G.: The Attic orators from Antiphon to Isaios I, 1962, 1-70.

56. ANASTASSIOU, A./IRMER, D: Kleinere attische Redner, in: Wege d. Forschg. 127, 1977.

57. HEITSGH, E.: Antiphon aus Rhamnus, in: Abhandlg. der Akad. d. Wiss. u. Lit. Mainz, geistes- u. sozialwiss. Kl., Jahrg. 1984, Nr.3. Andokides Reden

Ausgabe: Orationes, ed. F. BLASS/C. FUHR, 1913* (Bibl. Teubn.). Übersetzung: (engl.) von KJ. MAIDMENT: Minor Attic orators I, 1941, 319-583. Kommentar:

58. MacDOWELL, U.: Andokides on the mysteries, 1962 (Text und Komment.). Literatur: 59. BLASS, F.: Die attische Beredsamkeit I, 1887?, 280-339. 60. JEBB, R.C.: The Attic orators from Antiphon to Isaios I, 1962, 71-141.

592

DRITTER TEIL: LITERATUR

61. ANASTASSIOU, A/IRMER, D.: Kleinere attische Redner, in: Wege d. Forschg. 127, 1977.

62. MISSIOU, Anna: The subversion oratory of Andokides. Politics, ideology and decision-making in democratic Athens, 1992. Lysias Reden

Ausgabe: Orationes, ed. C. HUDE, 1912 (Bibl. Oxoniensis).

Orationes, ed. Th. THALHEIM, 1913? (Bibl. Teubn.). Übersetzung: (engl.) von W.R.M. LAMB, 1930 (Loeb Class. Libr.). Kommentar:

63. Ausgewählte Reden des Lysias, erklärt von R. RAUCHENSTEIN, neue Aufl. besorgt von K. FUHR, 2 Bde., 191712, 189710 (Weidmann).

64. EDWARDS, M./USHER, S.: Greek orators I. Antiphon & Lysias, 1985. 65. HILLGRUBER, M.: Die zehnte Rede des Lysias. Einleitung, Text und Kommentar mit einem Anhang über die Gesetzesinterpretationen bei den attischen Rednern, 1988. 66. WEISSENBERGER, M: Die Dokimasie-Reden des Lysias (or. 16, 25, 26, 31), Diss.

Düsseldorf 1987 (Übers. und ausführlicher Kommentar). Literatur: 67. BLASS, F.: Die attische Beredsamkeit I, 1887), 339-644. 68. JEBB, R.C.: The Attic orators from Antiphon to Isaios I, 1962, 142-316.

69. DOVER, KJ.: Lysias and the corpus Lysiacum, 1968. 70. ANASTASSIOU, A./IRMER, D: Kleinere attische Redner, in: Wege d. Forschg. 127, 1977. Isokrates Reden

Ausgabe: Orationes, ed. G.E. BENSELER/E. BLASS, 2 Bde., 1878-1879 (Bibl. Teubn.).

Übersetzung: (engl.) Isocrates, von G. NORLIN/L. VAN HOOK, Libr.).

3 Bde., 1928-1945 (Loeb Class.

Kommentar:

71. Isokrates. Ausgewählte Reden, erklärt von O. SCHNEIDER, neue Aufl. besorgt von M. SCHNEIDER, 2 Bde., 1886-1888? (Weidmann).

72. Ausgewählte Reden des Isokrates. Panegyrikos und Areopagitikos, erklärt von R. RAUCHENSTEIN, neue Aufl. besorgt von K. MÜNSCHER, 1908? (Bibl. Teubn.). Literatur:

73. BLASS. F.: Die attische Beredsamkeit II, 1892", 1-331. 74. JEBB, R.C.: The Attic orators from Antiphon to Isaios II, 1962, 1-260.

75. MIKKOLA, E.: Isokrates. Seine Anschauungen im Lichte seiner Schriften, 1954. 76. BUCHNER, E.: Der Panegyrikos des Isokrates, 1958. 77. BRINGMANN, K.: Studien zu den politischen Ideen des Isokrates, 1965. 78. SECK, F.: Isokrates, in: Wege d. Forschg. 351, 1976 (Aufsatzsammlung).

lsaios Reden

Ausgabe: Orationes, ed. Th. THALHEIM, 1903? (Bibl. Teubn.). Kommentar:

79. W. WYSE: The speeches of Isaeus with critical and explanatory notes, 1904. Literatur: 80. BLASS, F.: Die attische Beredsamkeit II, 18982, 486-577.

81. WEVERS, R.F.: Isaeus: Chronology, prosopography, and social history, 1969. Aischines Reden

Ausgabe: Orationes, ed. F. BLASS/U. SCHINDEL, 1978? (Bibl. Teubn.).

Übersetzung: (engl.) von Ch.D. ADAMS, 1919 (Loeb Class. Libr.). Literatur:

82. BLASS, F.: Die attische Beredsamkeit III 2, 1898?, 153-266.

83. RAMMING, G.: Die politischen Ziele und Wege des Aischines, Diss. Erlangen-Nürnberg 1965. Lykurgos Reden

Ausgabe: Oratio in Leocratem, ed. N.C. CONOMIS, 1970 (Bibl. Teubn.).

Übersetzung: (engl.) von J.O. BURTT: Minor Attic orators II, 1954, 1-157. Kommentar:

84. Lykurgos' Rede gegen Leokrates, erklárt von C. REHDANTZ, 1876 (Bibl. Teubn.). Literatur: 85. BLASS, F.: Die attische Beredsamkeit III 2, 18982, 95-135. 86. ANASTASSIOU, A./IRMER, D.: Kleinere attische Redner, Wege d. Forschg. 127, 1977.

Hypereides Reden Ausgabe: Orationes et fragmenta, ed. F.G. KENYON, 1907 (Bibl. Oxoniensis). Orationes VI cum ceterarum fragmentis, ed. Ch. JENSEN, 1917 (Bibl. Teubn.).

Übersetzung: (engl.) von J.O. BURTT: Minor Attic orators II, 1954, 363-605.

594

DRITTER TEIL: LITERATUR

Literatur:

862. BLASS, F.: Die attische Beredsamkeit III 2, 18982, 1-95. 87. ANASTASSIOU, A./IRMER, D.: Kleinere attische Redner, Wege d. Forschg. 127, 1977. 88. ENGELS,J.: Studien zur politischen Biographie des Hypereides. Athen in der Epoche der Iykurgischen Reformen und des makedonischen Universalreiches, Diss. Köln 1987, 1989.

Demosthenes Reden

Ausgabe: Orationes, ed. F. BLASS, 3 Bde., 1888-1892, neue Ausgabe von G. FUHR/). SYKUTRIS nur Bd. 1-2, 1, 1914-1937 (Bibl. Teubn.). Orationes, ed. 5. H. BUTCHER/W. RENNIE, 3 Bde., 1903-1931 (Bibl. Oxoniensis).

Übersetzung: (engl.) Demosthenes, von J.H. VINCE/C.A. VINCE/A.T. MURRAY/NJ. u. N.W. DE WITT, 7

Bde., 1926-1949 (Loeb Class. Libr.). Kommentar: 89. Ausgewählte Reden des Demosthenes, erklärt von A. WESTERMANN, neue Aufl. be-

sorgt von E. ROSENBERG, 3 Bde., 190210, 19037. 1890) (Weidmann).

90. WANKEL, H.: Demosthenes Rede für Ktesiphon über den Kranz, 1976. 91. ISAGER, S./HANSEN, M.H.: Aspects of the Athenian society in the fourth century B.C. A historical introduction to and commentary on the paragraphe-speeches and the

speech against Dionysodorus in the Corpus Demosthenicum (XXXII-XXXVIII and LVI), 1975 (dán. Originalausgabe 1972).

Literatur:

92. 93. 94. 95.

BLASS, F.: Die attische Beredsamkeit III 1, 1893. SCHAEFER, A.: Demosthenes und seine Zeit, 4 Bde., I-III: 1885-18872. IV: 1858. JAEGER, W.: Demosthenes. Der Staatsmann und sein Werden, 1939. CLOCHE, P.: Démosthènes et la fin de la démocratie athénienne, 1957.

96. SCHINDEL, U. (Hrsg.): Demosthenes, Wege d. Forschg. 350, 1987 (Aufsatzsammlung).

Platon

Staat (politeía) Ausgabe: Opera Bd. IV, ed. 1. BURNET, 1902 (Bibl. Oxoniensis).

Übersetzung: Platon. Sämtliche Werke, Bd. III: Phaidon. Politeia, von F. SCHLEIERMACHER, 1958 (Rowohlts Klassiker der Literatur u. Wissenschaft).

Platon: Der Staat, von R. RUFENER, mit Einltg. von Ο. GIGON, 1973? (Artemis).

Kommentar:

97. GAUSS, H.: Philosophischer Handkommentar zu den Dialogen Platos, Bd. II 2: Phädo, Symposium, Staat und Phädrus, 1958. 98. ADAM, J./REES, D.A.: The republic of Plato, 2 Bde., 1963? (Text u. Komment.)

A. Ausgewählte Quellen

595

Literatur: 99. BARKER, E.: The political thought of Plato and Aristotle, 1959. 100. GROSS, R.C/WOOZLEY, A.D.: Plato's republic. A philosophical commentary, 1964. 101. DERBOLAV, J.: Von den Bedingungen gerechter Herrschaft. Studien zu Platon und Aristoteles, 1979. Gesetze (nómoi)

Ausgabe: Opera Bd. V, ed. 1. BURNET, 1907 (Bibl. Oxoniensis). Übersetzung: Platon. Sämtliche Werke, Bd. VI: Nomoi, von Hieronymus MÜLLER, 1959 (Rowohlts Klassiker der Literatur u. Wissenschaft). Platon. Gesetze von O. APELT, 2 Bde., 1916 (mit Erláuterungen; Philosophische Bibl.

Bd. 159).

Kommentar:

102. ENGLAND, E.B.: The laws of Plato, 2 Bde., 1921 (Text und Kommentar).

103. GAUSS, H.: Philosophischer Handkommentar zu den Dialogen Platos, Bd. III 2: Philebus, Timaeus, Critias und Gesetze, 1961. Literatur:

104. BARKER, E.: Greek political theory. Plato and his predecessors, 19605. 105. STALLEY, R.F.: Àn introduction to Plato's laws, 1983. s. auch unter Platon, Staat.

Aristoteles Politik

Ausgabe: Politica, ed. w.D. ROSS, 1957 (Bibl. Oxoniensis).

Übersetzung: Politik, von F. SUSEMIHL, bearb. von N. TSOUYOPOULOS u. E. GRASSI, 1965 (Rowohlts Klassiker der Literatur und Wissenschaft).

Politik, von O. GIGON, 1971?. 1973 (dtv). Kommentar: 106. NEWMAN,

W.L: The

politics of Aristotle, 4 Bde.,

1887-1902

(Einführung

u.

Komm.).

107. SCHÜTRUMPF, E.: Aristoteles. Politik, Buch I, 1991 (mit Übersetzung). Literatur: 108. STEINMETZ, P. (Hrsg.): Schriften zu den Politica des Aristoteles, 1973.

109. MULGAN, R.G.: Anstotle and the democratic conception of freedom, in: HARRIS, ΒΕ. (Hrsg.): Auckland Classical Essays pres. to E.M. Blaiklock, 1970, 95-111.

110. BIEN, G.: Die Grundlegung der politischen Philosophie bei Aristoteles, 1973. 111. DOLEZAL. J.P.: Aristoteles und die Demokratie, 1974.

112. SCHÜTRUMPF, E: Die Analyse der Polis durch Aristoteles, 1980. 113. TOULOUMAKOS, J.: Aristoteles' „Politik“ 1925-1985, in: Lustrum 32, 1990, 177-282

(Forschungsbericht). s. auch unter Plato, Staat.

596

DRITTER TEIL: LITERATUR

Ökonomik, 2. Buch

Ausgabe: Oeonomica, ed. F. SUSEMIHL, 1887 (Bibl. Teubn.).

Übersetzung: Über Haushaltung in Familie und Staat, von P. GOHLKE, 19532.

(franz.) Économique, von A. WARTELLE, 1968 (Text u. Übers.; Ed. Bude). Kommentar:

114. VAN GRONINGEN, B.A.: Aristote. Le second livre de l'Éonomique (Einführung, Text u. Komment.),

1933.

Staat der Athener (AP)

Ausgabe: Atheniensium respublica, ed. F.G. KENYON, 1920. Übersetzung und Kommentar:

115. (engl.) SANDYS, JE: Aristotle's constitution of Athens, 19122 116. (engl.) FRITZ, K. von/KAPP, E: Arıstotle’s constitution of Athens and related texts, 1950.

117. RHODES, PJ: À commentary on the Aristotelian Athenaion politeia, 1981. 118. CHAMBERS, M.: Aristoteles. Staat der Athener, 19%. Literatur:

119. DAY, J./CHAMBERS, M.: Aristotle's history of Athenian democracy, 1962. Plutarch von Chaironeia

Große Griechen und Römer Ausgabe: Vitae parallelae, ed. K. ZIEGLER, 4 Bde., 1957-1980 (Bibl. Teubn.).

Übersetzung: Große Griechen und Römer, von K. ZIEGLER, 6 Bde., 1954-1965.

Kommentar: 120. FROST, FJ.: Plutarch's Themistocles. A historical commentary, 1980. Literatur: 121. ZIEGLER, Κι: Plutarchos von Chaironeia, in: RE XXI (1951), 636-962, bes. 895ff.

Fragmentsammlungen 122. JACOBY, F.: Die Fragmente der griechischen Historiker, 5 Tle. (1: Genealogie und Mythographie, Nr. 1-63; II: Zeitgeschichte, Nr. 64-261; III: Geschichte von Stádten und Vólkern, Nr. 262-856) in mehreren Bánden, 1923ff. ND 1961-1969 (Text und

ausführlicher Kommentar; noch nicht vóllig abgeschlossen). Inschriftensammlungen 123. Inscriptiones Atticae Euclidis anno anteriores (= Inscriptiones Graecae I7), ed. Fr. Frhr. HILLER von GAERTRINGEN, 1924 et (Inscriptiones Graecae I^: Decreta et tabulae magistratuum) D. LEWIS, 1981. - Inscriptiones Atticae Euclidis anno postenores (= Inscriptiones Graeeae 11,1112), ed. J. KIRCHNER, 1913-1940.

A Ausgewählte Quellen

597

124. MERITT, B.D/WADE-GERY, H.T./McGREGOR, ΜΕ: The Athenian tribute lists, 4 Bde.,

1939-1953 (ATL).

125. BRODERSEN, K./GÜNTHER, W./SCHMITT, H. (Hrsg.): Historische griechische Inschrif-

ten in Übersetzung I: Die archaische und klassische Zeit, 1992. 126. TOD. M.N.: A selection of Greek historical Inscriptions I (to the end of the fifth

century B.C.), 1933. 19462, II (from 403 to 323 B.C.), 1948. 127. MEIGGS, R./LEWIS, D.: À selection of Greek historical Inscriptions to the end of the

fifth century B.C., 19752.

128. BADIAN, E./SHERK, R.K. (Hrsg.): Translated documents of Greece and Rome I: Ch.w. FORNARA: Archaic times to the end of the Peloponnesian war, 1977. 19832, Il: Ph.

HARDING: From the end of the Peloponnesian war to the battle of Ipsus, 1985 (Übersetzung von Quellen, darunter vornehmlich von Inschriften mit kurzen Erláuterungen). Sammlungen von Dokumenten 129. BENGTSON, H.: Die Vertráge der griechisch-rómischen Welt von 700 bis 338 v. Chr., 1962, in: ders.: Die Staatsverträge des Altertums II.

B. Literatur zur athenischen Demokratie

Das Verzeichnis folgt den Kapiteln im Text. Die allgemeinere Literatur zu einem Kapitel ist Jeweils vorangestellt; die speziellere folgt der Darstellung ım Text ın der Weise, daß Zusammengehöriges möglichst auch zusammen steht. DAI GGA GRBS HZ JHS ND RE TAPhA ZPE

Deutsches Archäologisches Institut Gôttingische Gelehrte Anzeigen Greek, Roman and Byzantine Studies Historische Zeitschrift Journal of Hellenic Studies Nachdruck PAULYS Realenzyklopädie der classischen Altertumswissenschaft (PAULY-WISSOWA) Transactions and Proceedings of the American Philological Association Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik

Alle anderen Zeitschriften und Reihen sind so abgekürzt, daß sie unmittelbar verständlich sind.

1. Allgemeine Literatur zur griechischen Geschichte der klassischen Zeit a. Darstellungen der griechischen Geschichte

150. GROTE, G.: History of Greece, 12 Bde., 1846-1856. 1869-1870? (deutsche Übers. der

2. Aufl. 1880-1882 von Th. HOFMANN). 151. MEYER, Eduard: Geschichte des Altertums, 5 Bde., 1884-1902. 1910-195824; weitere Aufl. im ND. 152. BELOCH. KJ.: Griechische Geschichte (bis 217 v. Chr.), 4 Bde., 1893-1904. 191219272.

153. The Cambridge Ancient History vol. V: The fifth century BC (D.M. LEWIS/. BOARD-

MAN/K. DAVIES/M. OSTWALD) 1992? (1.Aufl. von E.M. WALKER/F.E. ADCOCK/W.S. FERGUSON u. a. 1927); VI: Macedon 401-301 B.C. (M. CARY/A.W. PICKARD-CAMBRIDGE

u.a.), 1927.

154. GLOTZ, G./COHEN, R: Histoire grecque Bd. 2: La Grèce au V* siècle, in: Histoire Générale, 1931. 1948,

155. BERVE, H.: Griechische Geschichte, 2 Bde., 1931-1933. 1950-19512.

B. Literatur zur athenischen Demokratie

599

156. HEUSS, A: Hellas. Die Archaische Zeit. Die Klassische Zeit, in: Propyläen-Weltgeschichte 3, 1962, 69-400.

157. BENGTSON, H.: Griechische Geschichte, 1950. 1977? (Handb. d. Altertumswiss. III 4).

158. WILL, E: Le monde grec et l'Orient I: Le V* siècle (510-403), II (zusammen mit Claude

MOSSÉ und P. GOUKOWSKY): Le IV* siècle et l'époque hellénisuque, 1972-1975. 159. SCHULLER, W.: Griechische Geschichte, 1980. 1991?. 160. WELWEI, K.-W.: Athen. Vom neolithischen Siedlungsplatz zur archaischen Großpolis, 1992.

b. Handbücher zu einzelnen Bereichen der griechischen Geschichte. Chronologie 161. SAMUEL, A.E.: Greek and Roman chronology. Calendars and years in classical anti-

quity, 1972 (Handb. d. Altertumswiss. I 7). 162. MERITT, B.D.: The Athenian calendar in the fifth century, 1928. 163. MERITT, B.D.: The Athenian year, 1961. 164. PRITCHETT, W.K./NEUGEBAUER, Ο. The calendars of Athens, 1947. 165. MIKALSON, J.D.: The sacred and civil calendar of the Athenian year, 1975.

Religion 166. MUTH, R.: Einführung in die griechische und rómische Religion, 1988. 167. WILAMOWITZ-MOELLENDORFF, U. von: Der Glaube der Hellenen, 2 Bde.,1931-

1932. 168. NILSSON, M.P.: Geschichte der griechischen Religion, Bd. 1, 1955? (Handb. d. Alter-

tumswiss. V 2.1). 169. BURKERT, W.: Griechische Religion der archaischen 1977. 170. SIMON, Erika: Die Götter der Griechen, 1969. 1985.

und klassischen Epoche,

171. GRAF, F.: Griechische Mythologie, 1985. 1987? (Artemis Einf. 16). 172. KIRK, G.Sı.: Griechische Mythen. Ihre Bedeutung und Funktion, 1982 (engl. Origi-

nalausgabe 1974). Staat und Gesellschaft 173. HERMANN, K.F.: Lehrbuch der griechischen Staatsalterthümer, aus dem Standpunkte der Geschichte entworfen, 1831. 18362, 4. Aufl. bearbeitet von Th. THALHEIM. 174. SCHOEMANN, G.F./LIPSIUS, J.H.: Griechische Alterthümer, 3 Bde., 1897- 1902° (1. 175.

Aufl. von SCHOEMANN: 1855). WILAMOWITZ-MOELLENDORFF, U. von: Staat und Gesellschaft der Griechen, in: Die Kultur der Gegenwart IV 1, 1910.

176.

BUSOLT, G./SWOBODA, H.: Griechische Staatskunde, 2 Bde., 1920-1926? (Handb. d. Altertumswiss. IV 1).

177. EHRENBERG, V.: Der Staat der Griechen, 1932. 19652. 178. JONES, N.F.: Public organization in ancient Greek. A documentary study (Athen:

S.28-72), 1987. 179. GSCHNITZER, F.: Griechische Sozialgeschichte von der mykenischen bis zum Aus-

gang der klassischen Zeit, 1981. ARNHEIM, M.T.W.: Arıstocracy in Greek society, 1977. 180. 181. SINCLAIR, T.A.: À history of Greek political thought, 1951. 182. MEIER, Ch.: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, 1980.

600

DRITTER TEIL: LITERATUR

Privat- und Strafrecht 183. BONNER, RJ./SMITH, G.: The administration of justice from Homer to Aristotle, 2 Bde., 1930-1938. ND

1968.

184. WEISS, E.: Griechisches Privatrecht auf rechtsvergleichender Grundlage I. Allgemeine Lehren (mehr nicht erschienen), 1923. 185. GERNET, L.: Droit et société dans la Grèce ancienne, 1955. 1964 (mit erweiterter Bi-

bliographie). 186. GAUTHIER, Ph.: Symbola. Les étrangers et la justice dans les cités grecques, 1972. 187. HIRZEL, R.: Themis, Dike und Verwandtes. Ein Beitrag zur Geschichte der Rechtsidee bei den Griechen, 1907.

188. VINOGRADOFF, P.: Outlines of historical jurisprudence II: The jurisprudence of the Greeks, 1922.

189. WOLF, Erik: Griechisches Rechtsdenken, 4 Bde., 1950-1970. 190. TRIANTAPHYLLOPOULOS, J.: Das Rechtsdenken der Griechen, 1985 (dazu U. MANTE: Gnomon 62, 1990, 289-298).

191. JONES, j.W.: The law and legal theory of the Greeks. An introduction, 1956. 192. HIRZEL, R.: Ἄγραφος νόμος, in: Abhdlg. der philol.-histor. Classe der Königl. Sächs. Akad. d. Wiss. Bd. 20, 1903, Nr. 1.

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Beitrags).

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vgl. auch Nr. 791-803. 3. Zum Problem des Beginns der Demokratie und deren Einheit im 5. und 4. Jahrhundert 390. SCHAEFER, H.: Staatsform und Politik. Untersuchungen zur griechischen Geschichte des 6. und 5. Jahrhunderts, 1932.

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vgl. auch Nr. 179. Wirtschaftliche Grundlagen 505. ZIMMERN, A: The Greek commonwealth. Politics and economics in fifth-century

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vgl. auch Nr. 199-2222.

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vgl. auch Nr. 166-172.

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vgl. auch Nr. 339-343.

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Nr. 630, S.103-121, mit Addenda). 642. GAUTHIER, Ph.: Quorum et participation dans les démocraties grecques, in: C. NICO-

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1979, 27-53 (= Nr.630, $.179-206, mit Addenda). 682. HANSEN, M.H.: Athenian nomothesia in the fourth century B.C. and Demosthenes’

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athenischen Aristoteles 698. KROLL, J.H.: 699. KROLL, J.H.:

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MILLETT

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Zum athenischen Recht allgemein 708. LIPSIUS, J.H.: Das Attische Recht und Rechtsverfahren, mit Benutzung des Attischen Processes, 3 Bde., 1905-1915. 709. HARRISON, A.R.W.: The law of Athens, 2 Bde., 1968-1971. 710. MacDOWELL, D.M.: The law in classical Athens, 1978. 711. OSBORNE, R.: Law in action in classical Athens, in: JHS 105, 1985, 40-58. 712. RUSCHENBUSCH, E.: Untersuchungen zur Geschichte des athenischen Strafrechts, 1968. 713. HANSEN, M.H.: Apagoge, endeixis and ephegesis against kakourgoi, atimoi and

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scher Gerichtsreden, in: Atti del Secondo Congresso Intern. dell Soc. Ital. di Storia del Diritto. La critica del testo, vol. 2, 1971, 1123-1135. 715. MEYER-LAURIN, H.: Gesetz und Billigkeit im attischen Prozeß, 1965. 716. MEINECKE, J.: Gesetzesinterpretation und Gesetzesanwendung im Attischen Zivil-

prozeß, Diss. iur. Freiburg i. Br. 1970/71, in: Rev. Intern. des Droits de l'Antiqu., 3.sér. 18, 1971, 275-360. 717. RUSCHENBUSCH, E.: Δικαστήριον πάντων κύριον, in: Historia 6, 1957, 257-274 (= E.

BERNEKER: Zur griechischen Rechtsgeschichte, Wege d. Forschg. 45, 1968, 350373). 718. COHEN, E. E.: Ancient Athenian maritime courts, 1973. 719. TODD, St.: The purpose of evidence in Athenian courts, in: P. CARTLEDGE/P. MILLETT (Hrsgg.): Nomos. Essays in Athenian law, politics and society, 1990, 19-39.

vgl. auch Nr. 173-177.183-197.280.842-859. Die Beamten 720. KAHRSTEDT, U.: Untersuchungen zur Magistratur in Athen. Studien zum öffentli-

chen Recht Athens II, 1936. 721. DEVELIN, R.: Athenian officials, 684-321 B.C., 1989. 722. HANSEN, M.H.: Seven hundred archai in classical Athens, in: GRBS 21, 1980, 151173.

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159. 724. DEVELIN, R: From Panathenaia to Panathenaia, in: ZPE 57, 1984, 133-138. 725. HANSEN, M.H.: Perquisites for magistrates in fourth-century Athens, in: Class. et Mediaev. 32, 1980, 105-125. 726. FORNARA, Ch.W.: The Athenian board of generals from 501 to 404, 1971. 727. JAMESON, M.H.: Seniority in the strategia, in TAPhA 86, 1955, 63-87. 728. PIÉRART, M.: Les euthynoi athéniens, in: L'Antiquité Class. 40, 1971, 526-573. 729. BRILLANT, M.: Les secrétaires athéniens, 1911. KY

1

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DRITTER TEIL: LITERATUR

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1982 (Santander), 1985, 31-40. 733. KIENAST, D.: Presbeia. Griechisches Gesandtenwesen, in: RE Suppl. XIII (1973), 499-628.

vgl. auch Nr. 173-177.280.765-790.

Das Finanzwesen der Stadt 734.

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735. BELOCH, ΚΙ: Zur Finanzgeschichte Athens I: Die Bundessteuer, II: Der Staatsschatz, III: Die eigenen Einnahmen der Tempelschätze, IV: Der Richtersold, V: Die Kosten des Peloponnesischen Krieges, VI: Das Amt der Poristen, in: Rhein. Mus. 39, 1884, 34-64.239-259. 736. VANNIER, F.: Finances publiques et richesses privées dans le discours aux V* et IV*

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vue sur la fiscalité antique, 1979, 31-42. 747. RUSCHENBUSCH, E.: Symmorienprobleme, in: ZPE 69, 1987, 75-81. 748. RHODES, P.J.: Problems in Athenian eisphora and liturgies, in: Americ. Journ. of Hist. 7, 1982, 1-19. 749. RUSCHENBUSCH, E.: Ein Beitrag zur Leiturgie und zur Eisphora. Die merarchischen

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Mediaev. 40, 1989, 145-159, 752. GABRIELSEN, V.: Trierarchic symmories, in: Class. et Mediaev. 41, 1990, 89-118. 753. BELOCH, K.J.: Das Volksvermógen von Attika, in: Hermes 20, 1885, 237-261.

B. Literatur zur athenischen Demokratie

754. LIPSIUS, J.H.: Die attische Steuerverfassung Rhein.

623

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Mus. 71, 1916, 161-186.

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761. CLINTON, K.: The sacred officials of the Eleusinian mysteries, Transact. of the Amer.

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RIGSBY (Hrsg.): Stud. pres. to Sterling Dow, 1984, 51-60. 763. DEVELIN, R.: Prytany systems and eponyms for financial boards in Athens, in: Klio 68, 1986, 67-83.

764. CAWKWELL. G.L.: Eubulus, in: JHS 83, 1963, 47- 67.

vgl. auch Nr. 173-178.221-222a.

VII. Verfahrensformen zur Sicherung der demokratischen Idee Losung 765. HEADLAM, J.W.: Election by lot at Athens, 1891. 766. HEISTERBERGK, B.: Die Bestellung der Beamten durch das Los, in: Berliner Stud. für

klass. Philol. u. Archäol. 16, 1896, Nr. 5. 767. EHRENBERG, V.: Losung, in: RE XIII (1927), 1451-1490. 768. STAVELEY, E.S.: Greek and Roman voting and elections, 1972. 769. HANSEN, M.H.: When was selection by lot of magistrates introduced in Athens}, in:

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in: Hesperia Suppl. I, 1937, S. 198-215: Allotment maschines. 771. DOW, S.: Aristotle, the kleroteria, and the courts, in: Harv. Stud. in Class. Philol. 50, 1939, 1-34. 772. DOW, S.: Kleroterion, in: RE Suppl. VII (1940), 322-328. 773. BISHOP, JD: The cleroterium, in: JHS 90, 1970, 1-14. 774. LANG, Mabel: Allotment by tokens, in: Historia 8, 1959, 80-89. 775. ABEL, V.L.S.: Prokrisis, Diss. Stanford Univ., 1983. 776. HANSEN, M.H.: Κλήρωσις Ex προκρίτων in fourth-century Athens, ın: Class. Philol. 81, 1986, 222-229.

vgl. auch Nr. 173-177.7 20, S.39-58; 280, S.226-232; 698-699.

Überprüfung der Person vor Antritt des Amtes 777. BOROWSKI, F.S.: Dokimasia: A study in Athenian constitutional law, Diss. Univ. of Cincinnati 1976. vgl. Nr. 708, S. 269-285; 720, S. 59-63; 768, S. 57-60.

624

DRITTER TEIL: LITERATUR

Rechenschaft 778. ROBERTS, Jennifer T.: Accountability in Athenian government, 1982. vgl. Nr. 708, S. 286-298; 720, S. 165-180.

Entgelt für die Tätigkeit im öffentlichen Bereich (Sold, Diáten) 779. SCHULTHESS, O.: Misthos, in: RE XV (1932), 2078-2095. 780. SCHULTHESS, O.: Siteresion/Sitesis, in: RE III A (1927), 382-391.

781. RUSCHENBUSCH, E.: Der perikleische Wohlfahrtsstaat? Die Diäten, in: ders.: Athenische Innenpolitik im 5. Jahrhundert v. Chr. Ideologie oder Pragmatismus?, 1979, 76-82.

782. MARKLE, M.M.: Jury pay and assembly pay at Athens, in: P.A CARTLEDGE/F.D. HARVEY (Hrsgg.): Crux. Essays pres. to G.E.M. de Ste. Croix, 1985, 265-297. 783. HANSEN, M.H.: Misthos for magistrates in classical Athens, in: Symbolae Osloenses 54, 1979, 5-22.

784. GABRIELSEN, V.: Remuneration of state officials in fourth century B.C. Athens, 1981. 785. OOTEGHEM, J. van: Démosthène et le théorikon, in: Étud. Class. 1, 1932, 388-407.

786. BUCHANAN, JJ.: Theorika. A study of monetary distributions to the Athenian citizenry during the fifth and fourth centuries B.C., 1962.

787. VALMIN, N.: Diobelia and theorikon, in: Acta Instituti Atheniensis Regni Sueciae, ser. in 4°, X (Opuscula Atheniensia VI), 1965, 171-206. 788. RUSCHENBUSCH, E.: Die Einführung des Theorikon, in: ZPE 36, 1979, 305-308. 789. HENNION, R.B.: The diobelia, Diss. Columbia Univ. 1952.

790. PODES, Sc: Zur Problematik der Diobelie und Obolos-Zahlungen, in: Grazer Beitr.

18, 1992, 35-45.

vgl. auch Nr. 720, S. 181-186.

VIII. Die Grundlagen des demokratischen Gedankens Gleichheit 791.

DANN, O.: Gleichheit, in: O. BRUNNER/R. KOSELLECK/W. CONZE (Hrsgg.): Geschicht-

liche Grundbegriffe.

Historisches

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794. GRIFFITH, G.T.: Isegoria in the assembly at Athens, in: Ancient society and institutions. Studies pres. to Victor Ehrenberg on his 75% birthday, 1966, 115-138. 795. WOODHEAD, A.G.: IEHTOPIA and the council of 500, in: Historia 16, 1967, 129140.

796. LEWIS, J.D.: Isegoria at Athens: When did it begin? in: Historia 20, 1971, 129-140. 797. FINLEY, M.1: The freedom of the citizen in the Greek world, in: Talanta 7, 1975, 1-23.

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B. Literatur zur athenischen Demokratie

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799. DOVER, K.J.: The freedom of the intellectual in Greek society, in: Talanta 7, 1975, 2454.

800. SCARPAT, G.: Parrhesia. Storia del termine e delle traduzioni in latino, 1964. 801. FINLEY, M1: Sokrates und die Folgen, in: ders.: Antike und moderne Demokratie, 1980 (Reclam), 76-106 (engl. Originalausgabe 1973).

802. HEUSS, A.: Herrschaft und Freiheit: Der entwickelte griechische Stadtstaat, in: Pro-

pyläen-Weltgeschichte. Summa Historica, 1965, 74-86. 803. TOULOUMAKOS,J.: Die theoretische Begründung der Demokratie in der klassischen Zeit Griechenlands (die demokratische Argumentation in der „Politik“ des Aristoteles), 1985.

vgl. auch Nr. 369-379. Verwirklichung der Gleichheit ın der politischen Praxis 804. GOLDSTEIN, J.A.: Solon's law for an activist citizenry, in: Historia 21, 1972, 538545.

805. BERS, V.: Solon's law forbidding neutrality and Lysias 31, in: Historia 24, 1975, 493498.

806. BLEICKEN,J.: Zum sog. Stasis-Gesetz Solons, in: ders. (Hrsg.): Symposion für Alfred Heuß, 1986, 9-18.

vgl. auch die unter VII 1 und 4 genannte Literatur und Nr. 814-822.

IX. Ziele der Politik 807. FINLEY, ML: Demokratie, Konsens und nationales Interesse, in: ders.: Antike und moderne Demokratie, 1980 (Reclam), 43-75 (engl. Originalausgabe 1973).

808. RUSCHENBUSCH, E.: Gestaltung und Inhalt der Politik, in: ders.: Athenische Innenpolitik im 5. Jahrhundert v. Chr. Ideologie oder Pragmatismus?, 1979, 12-17. 809. MEIER, Ch.: Die Rolle des Krieges ım klassischen Athen, ın: HZ 251, 1990, 555-

605. Zum Verfassungsschutz

810. OSTWALD, M.: The Athenian legislation against tyranny and subversion, in: TAPhA 86, 1955, 103-128.

811. PAOLI, U-E.: La sauvegarde de la légalité dans la démocratie athénienne, in: Festschr. Hans Lewald, 1953, 133-141.

812. WOLFF, HJ: „Normenkontrolle“ und Gesetzesbegriff in der attischen Demokratie, Sitz. ber. Heidelberger Akad. d. Wiss., philos.-histor. Kl., 2. Abhdlg., 1970. 813. BLEICKEN, J.: Verfassungsschutz im demokratischen Athen, in: Hermes 112, 1984, 383-401.

vgl. auch Nr. 645-651.837.

X. Form und Intensität der politischen Praxis Das politische Engagement der Atbener und der Bürger als Tráger der staatlichen Aktion 814. EHRENBERG, V.: Polypragmosyne: A study in Greek politics, in: JHS 67, 1947, 4667.

626

DRITTER TEIL: LITERATUR

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HZ 183, 1957, 5-22 (= ders.: Probleme der Alten Geschichte. Gesammelte Abhand-

lungen u. Vorträge, 1963, 307-322 = F. GSCHNITZER, Hrsg.: Zur griechischen Staatskunde, Wege d. Forschg. 96, 1969, 139-160). 817. CARTER, L.B.: The quiet Athenian, 1986. 818. HOPPER, R.J.: The basis of the Athenian democracy, Inaugural Lectures of the Univ. of Sheffield, 1957. 819.

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Zeittafel 9./8. Jh. ca. 624 594/93

Attika wird eine politische Einheit. Erste Rechtskodifikation ın Athen durch Drakon. Reformgesetzgebung Solons, insbesondere: Befreiung der Bauern aus Schuldknechtschaft; Ablösung der reinen Adelsherrschaft durch eine

561-510

508/07 506 500-494 493 490 487/86 482 480

479 478/77 462/61 460-446 460-445 460/54 451/50 449 447-406 432 431-404 429

timokratische Ordnung; Schaffung eines neuen Rates als AppellauonsInstanz. Tyrannis des Peisistratos (mit Unterbrechungen bis 528/27) und seiner Söhne. Phylenreform des Kleisthenes. Die Athener siegen über Böoter und Chalkidier. Aufstand der ionischen Städte Kleinasiens gegen die Perser. Archontat des Themistokles. Ausbau des Piräus zum Kriegshafen. Landung der Perser in Attika. Schlacht bei Marathon. Einrichtung des Ostrakismos; das Archontat wird ein Losamt. Beginn des (von Themistokles angeregten) großzügigen Ausbaus der Flotte. Invasıon der Perser unter Führung des Großkönigs Xerxes. Schlacht bei den Thermopylen. Seeschlachten am Kap Artemision und bei Salamis. Der Großkönig kehrt nach Asien zurück. Schlacht bei Platää gegen den persischen Feldherrn Mardonios. Seeschlacht an der Mykale. Gründung des Ersten Athenischen Seebundes, errichtet zur Befreiung der noch von den Persern abhängigen Griechen. Entmachtung des Areopags durch Ephialtes: Durchbruch zur Demokratie. Krieg Athens gegen Sparta und seine Verbündeten. Bau der Langen Mauern: Feste und sichere Verbindung Athens mit dem Piräus und mit Phaleron durch ein diese drei Städte zusammenfassendes geschlossenes Mauerwerk. Expedition und Niederlage der Athener und ihrer Bundesgenossen in Ägypten. Bürgerrechtsgesetz des Perikles. Ende der Kampfhandlungen mit den Persern (sog. Kallias-Friede). Ausbau der Akropolis (mit Unterbrechungen). Megarisches Psephisma. Peloponnesischer Krieg. Tod des Perikles.

635

Zeittafel

421-414 415-413 42 411/10 406 405 404/03 403 399 395-386 392 378/77 371 362 359-336 357-355 354-350 338/37 338 336 336-330

Friede mit Sparta (Nikias-Friede).

Expedition der Athener nach Sizilien. Hermokopidenfrevel (415). Persien tritt in die Kriegsfront gegen Athen ein. Sturz der Demokratie; ca. 1 Jahr herrscht in Athen eine Oligarchie.

Sieg der Athener in der Seeschlacht bei den Arginusen. Vernichtung der letzten athenischen Flotte bei Aigospotamoi. Athen kapituliert vor den Spartanern unter Lysander. Herrschaft der „Dreißig“ in Athen.

Wiederherstellung der Demokratie. Aufzeichnung der Gesetze. Prozeß und Hinrichtung des Sokrates. Korinthischer Krieg (Korinth, später Athen und andere gegen Sparta. 386 Anualkidas-Friede).

Einführung eines Tagegeldes von 3 Obolen für den Besuch der Volksversammlung (Ekklesiastensold). Gründung des Zweiten Athenischen Seebundes. Sieg der Thebaner unter Epaminondas über die Spartaner bei Leuktra. Beginn des Niedergangs Spartas. Aufstieg Thebens. Sieg der Thebaner über die Spartaner bei Mantineia; Tod des Epaminon-

das. Philipp IL, zunächst Regent, dann Kónig der Makedonen.

Krieg Athens gegen einen großen Teil seiner Bundesgenossen (Bundesgenossenkrieg), von denen bei FriedensschluR weit über die Hälfte nicht mehr in den Bund zurückkehren. Eubulos Vorsteher des Theorikons; er saniert die athenischen Finan-

zen und bleibt bis 338 einer der einflußreichsten Politiker.

Lykurgos erhält das Sonderamt eines hóchsten Finanzbeamten; er bleibt bis zu seinem Tode (324) ein einflußreicher Politiker und Finanzfachmann.

Sieg Philipps über die Griechen bei Chaironeia. Philipp eróffnet den Krieg gegen Persien. Streit zwischen Demosthenes und Aischines um die richtige Politik gegenüber Philipp, ausgefochten anhand der Frage, ob die Ehrung des Demosthenes durch einen Kranz rechtmäßig gewesen war („Kranzrede" des Demosthenes).

334 333 330

323 323/22

Alexander setzt über den Hellespont: Beginn der Niederwerfung des Perserreiches (Alexanderzug) Niederlage des persischen Großkönigs bei Issos, 331 bei Gaugamela.

Niederbrennung der persischen Kónigsburg Persepolis. Ermordung des Großkönigs; Alexander fühlt sich als Nachfolger der Achämeniden. Tod Alexanders in Babylon. Antipater erhált den Oberbefehl in Europa. Antipater wird von den Griechen unter Führung Athens in Lamia eingeschlossen (Lamischer Krieg).

322

Sieg der Makedonen über die athenische Flotte bei Amorgos; zu Lande werden die Griechen bei Krannon in Thessalien besiegt. Ende der Demokratie in Athen: Einrichtung einer gemäßigten

317-307

Oligarchie unter Leitung von Phokion und Demades. Hinrichtung des Hypereides. Demosthenes begeht auf Kalauria Selbstmord. Demetrios von Phaleron leitet als eine Art Statthalter der Makedonen

322

die Staatsgescháfte in Athen.

Verzeichnis der im Forschungsteil zitierten modernen Autoren

Abel, V.L.S. 532

Adcock, F.E. 562

Bonner, R.J. 443, 454f., 489, 515f., 521, 541, 567,

570

Adkins, A.W.H. 570

Borecky, B. 463

Ameling, W. 551, 553

Borowski, F.S. 533

Amit, M. 493f.

Bourriot, F. 438f.

Andreades, A. 438, 526ff., 582

Bradeen, D.W.

Andreev, V.N. 482, 485ff., 582

Braun, E. 540

Andrewes, A. 459, 491, 500, 504, 565

Breitenbach, H.R. 524

Ardaillon, E. 488

Brenne, St. 451

Arnheim, M.T.W. 559

Brenot, A. 491

Atkinson, K.M.T. 509 Audring, G. 486, 524, 576f.

Bringmann, K. 572, 576, 579 Brockmeyer, N. 474

Aurenche, 0. 572

Brun, P. 529

Austin, M. 485

Brunnsaker, St. 447 Brunt, P.A. 548

Badian, E. 453 Bauman, R.A. 566f.

Buchanan, JJ. 535f. Buchheim, Th. 573f.

Beloch, K.J. 451, 470, 480, 485, 503, 505, 527, 553, 562, 564

Buchner, E. 572, 576 Buck, R.J. 453

Berger, Sh. 580

Bugh, G.R. 491

Berlin, I. 544

Burckhardt, J. 358, 411f., 423, 537, 568, 581f.,

Bengtson, H. 445, 489, 562 Berneker, E. 563

550

Bücher, K. 480, 485 584

Bers, V. 546

Burckhardt, L. 492

Berve, H. 393, 437, 446, 454

Burns, A. 570

Beschi, L. 494 Bicknell, R.J. 448f.

Busolt, G. 438, 443, 455, 493, 495, 498f., 509, $13, 515, 521, 526f., 948, 554, 565

Bishop, J.D. 530 Blackman, D. 493

Cahn, H.A. 444

Blass, F. 521, 576

Calhoun, G.M.

Bleicken, J. 461, 463, 469, 547, 554, 580 Blume, H.-D. 495, 530

Camp, J.M. 469, 571 Cantarella, Eva 477

567, 572

Blümner, H. 569

Capelle, W. 573

Bokisch, Gabriele 567.

Carawan, E.M. 579

Boegart, R.J. 487 Boegehold, A.L. 501, 515

Carter, L.B. 556 Cartledge, P. 490

Boeckh, A. 262, 470, 480, 493, 526ff., 582

Cargill, J. 516

Verzeichnis der im Forschungsteil zitierten modernen Autoren

637

Casson, L. 486, 488f., 494 Cawkwell, G.L. 354, 526

Finley, M.I. 423, 439, 441, 472, 475, 478f., 484f., 487, 489, 505, 516f. 520f., 541, 544, 549,

Chambers, M. 453

556f., 566, 581 Flaceliére, R. 569

Christ, K. 584 Ciocotti, E. 537 Clarke, M.L. 584

Classen, C.J. 573 Clerc, M. 472

Clinton, K. 508 Cloché, P. 567, 571

Flach, D. 571

Foley, V. 493f.

Forbes, R.J. 488 Forrest, W.G. 448, 572 Frinkel, M. 516, 518, 529, 564 Francotte, H. 526

Coates, J.F. 493f. Cobet, J. 466

Frei, P. 459f.

Cohen, D. 477 Cohen, R. 523, 540

Frey, V. 572

Conacher, D.J. 456 Connor, W.R. 446, 504f., 513, 559%., 572 Conze, W. 581 Cook, R.M. 487 Cornelius, F. 445

Crosby, Margaret 523

French, A. 441, 486, 488, 576 Fritz, K. von 574 Frolov, E.D. 485 Frost, F.J. 449, 453 Fuhrmann, M. 532 Fuks, A. 438, 578 Funke, P. 442, 559

Fustel de Coulanges, N.D. 530f.

Curtius, E. 469

Damsgaard-Madsen, A. 497 Dann, ©. 540 Davies, J.K. 440, 464, 504, 525, 528f., 559, 578

Debrunner, A. 460f., 468 Delbrück, H. 489

Derenne, E. 567

Deubner, L. 446, 495 Develin, R. 522

Gabrielsen, V. 528, 535

Gajdukevic, V.F. 489 Garland, R. 492f., 495

Garnsey, P.D.A 489

Gehrke, H.-]. 455, 483, 548, 559, 561f. Gernet, L. 474

Gerolymatos, A. 474

Dittenberger, W. 529

Gerst, K. 443, 562

Dodds, E.R. 456

Gigon, O. 542, 564

Dover, K.J. 457, 477, 541, 546, 570

Dow, St. 507, 530 Dreher, M. 575

Duby, G. 570

Due, O.St. 579 Duncan-Jones, R.P. 472 Effenterre, H. van 449 Ehrenberg, V. 452f., 463, 467, 470, 475f., 499, 530f., 534, 549, 555, 563

Eickstedt, K.V. von 469, 492f., 548 Eisenhut, W. 521

Eliot, C.W.]. 496

Engels, J. 474, 497, 579 Erbse, H. 541 Erxleben, E. 487f.

.

Gauthier, Ph. 473, 501, 524, 536, 580

Ghinatti, F. 445

Giovannini, A. 553 Glotz, G. 523, 540 Gluskina, Lea M. 473, 482f., 577

Goette, H.R. 498 Goldsmith, R.W. 527 Goldstein, J.A. 546 Gomme, A.W. 453, 463, 470, 476, 497, 500, 526,

543, 563, 577, 583

Gomperz, H. 573 Gould, J. 476 Graeser, A. 573f., 576 Graf, F. 495

Graham, J.W. 571 Graser, B. 493

Griffith, G.T. 542 Grote, G. 411, 480, 550, 565, 568, 574, 581f., 584

Gruben, G. 492 Fahr, W. 574

Gschnitzer, F. 473£., 541, 548

Fawcus, G.E. 489

Guthrie, W.K.C.

573f., 576

Fehr, B. 495

Ferguson, W.S. 496, 579 Figueira, T. 488

Habicht, Ch. 579

Fine, J.V.A. 441

Hannick, J.-M. 520

638

Verzeichnis der im Forschungsteil zitierten modernen Autoren

Hansen, ΜΗ. 443, 450, 463, 468, 470ff., 486ff., 491, 497ff., SOOff., 505ff., 514, 516, 520ff., 530ff., 535f., 544, 554f. 557, 584

Hanson, V.D. 486, 490f. Harnson, A.R.W. 441, 563

Kistner, U. 474 Kahrstedt, U. 509f., 513, 521f., 529ff., 534

Kalcyk, H. 488 Kasper-Butz, Irmgard 455, 495 Kaupert, A. 469 Kearns, Emily 496

Harvey, D. 567f. Harvey, F.D. 570

Kennedy, G. 521 Kiechle, F. 549 Kienast, D. 448, 523

Hasebroek, J. 478, 480, 485ff. Haussoullier, B. 498

Havelock, E.A. 543

Kinzl, K.H. 462, 466 Kirchner, J. 440 Kirk, G.St. 495

Head, B.V. 444

Headlam, J.W. 530, 534 Hedrick, Ch.W. 495f. Heidbüchel, F. 445 Heine, Susanne 477

Kirsten, E. 469, 496

Klees, H. 474 Klein, R. 571

Heisterbergk, B. 530 Hennion, R.B. 537

Kluwe, E. 445f., 502, 505 Knell, H. 548, 552 Koch, Ch. 460, 489, 580

Herington, C.]. 550f. Hermann, K.F. 526, 569

Kóhler, U. 444 Koerner, R. 576, 578 Kohns, H.P. 488

Hennig, D. 548

Henry, A.S. 520

Heu, A. 441, 454, 548, 557 Hignett, C. 437f., 441ff., 452, 455, 503, 513, 515, 523. 530ff., 546

Kolb, F. 446, 500 Kolbe, W. 523

Hill, I.Th. 469

Koselleck, R. 464, 581 Kourouniotes, K. 501

Hillgruber, M. 519 Himmelmann, N. 474, 551

Kraay, C.M. 444 Kraft, K. 444

Hirzel, R. 462, 517, 540

Kraiker, W. 469 Krentz, P. 571

Höcker, Ch. 469, 550, 552

Kroll, J.H. 444, 491, 515f.

Hóckmann, O. 493f. Holscher, T. 552

Kromayer, J. 489, 493f.

Hoepfner, W. 442, 471, 548 Hollein, H.-H. 561

Kron, Uta 460

Hommel,

Labarbe, J. 453 Lacey, W.K. 438, 569 Laix, R.A. de 513

H. 473, 515

Hopper, R.J. 486, 488, 557 Howald, E. 573

Humphreys, Sally C. 360, 475, 479, 482, 562, 568

Larsen, J.A.O. 394, 468, 571

Hüttl, W. 580

Latte, K. 443, 496, 524, 567

Isager, S. 486ff.

Lauffer, S. 472, 475, 488

Jacoby, F. 437, 455, 563 Jaeger, W. 574 Jameson, M.H. 475, 503

Jardé, A. 488 Jellinek, G. 543 Jones, A.H.M.

429, 470, 475,

483, 489, 499f.,

503, 509, 514, 516, 522, 525, 536f., 563, 571, 578, 583 Jones, J. W. 518 Jones, N.F. 499

Jordan, B. 493 Judeich, W. 469

Just, R. 477 Kaegi, W. 584

Lang, Mabel L. 565 Langdon, M.K. 497

Lauter, H. 449, 499 Lehmann, G.A. 452, 571f. Leipen, N. 495 Lesky, A. 467, 517, 538, 573, 576 Lewis, D.M. 443, 448f., 460, 489, 500, 507f., 525, 528, 536, 551, 553, 580

Lewis, J.D. 541f. Lipsius, J.H. 443, 473, 498, 506, 51 Sf., 526f., 554, 563, 567 Löwith, K. 584

Lofberg, J.O. 567 Lohmann, H. 475, 492f., 498f., 514

Longo, Chiara P. 559 Lorimer, H.L. 490 Lotze, D. 449, 468f., 471, 485, 505, 521, 555

Verzeichnis der im Forschungsteil zitierten modernen Autoren

MacKendrik, P. 441, 448, 559

Ober, J. 469, 492, 560 Oliva, P. 441

Maier, H. 581 Manthe, U. 519 Marek, Ch. 473

Osborne, R. 488, 499, 516, 567f. Ostwald, M. 443, 463f., 511£., 554, 571

MacDowell, D.M. 508, 511, 515f.

Markle, M.M.

639

Ooteghem, J. van 537

536, 555

Martin, Jochen 452ff., 466, 559, 574 Martin, Josef 521 Marun, M.A. 491 Martına, A. 546 McCredie, ].R. 469, 492

McGregor, M.F. 580 Meder, A. 572 Mehl, A. 565 Meier, Ch. 447, 455f., 460, 464ff., 542, 549, 557f.

Meiggs, R. 443, 460, 489, 500, 507f., 525, 528, 549, 551, 553, 580

Meijer, F. 493f. Meinecke, J. 518 Meritt, B.D. 514, 554, 571, 580

Meyer, Ed. 474, 480, 485 Meyer, H.D. 549, 571 Meyer-Laurin, H. 517 Milchhófer, A. 450 Millett, P. 441, 487, 517

Miltner, F. 493f. Mitchell, B.R. 471 Mitchell, F. 502

Paoli, U.E. 476, 554

Parke, H.W. 446, 495 Patterson, C. 562 Patzer, H. 574f. Pearson, L. 570

Petirka, J. 441, 485, 576f. Pélékidis, Ch. 492

Perlman, Sh. 483, 559, 577 Petzold, K.-E. 448, 463

Philippson, A. 469 Pickard-Cambndge, A. 446

Podlecki, A.J. 453 Pohlenz, M. 542

Pöhlmann, R. von 481, 582f., 584

Polanyi, Karl 478f. Pomeroy, Sarah B. 476 Praechter, K. 573

Preißhofen, F. 550 Prestel, G. 571 Pringsheim, F. 441 Pritchett, W.K. 489, 502, 514

Momugliano, A. 584 Mommsen, À. 495

Mommsen, Th. 522

Quafi, F. 446, 509f.

Quinn, T.J. 550

Monceaux, P. 473 Montgomery, H. 560f. Mossé, Claude 442f., 477, 482f., 528, 576f., 579

Raaflaub, K. 437, 447, 460, 463f., 512, 541, 544f., 572, 578

Müller, C.W. 574 Müller, I. von 569

Randall, J.H. 487, 553

Morrison, J.S. 493f.

R.-Alföldı, Maria 444

Münscher, K. 576 Mulgan, R. 544

Rankin, D.]. 488 Raubitschek, A.E. 446, 452, 460

Muss, Ulrike 469, 550 Musu, D. 568 Muth, R. 495

Reinmuth, O.W. 492 Reiter, H.A. 473f.

Raubold, A. 547, 564

Reverdin, O. 504

Rhodes, P.J. 438, 445, 449, 452ff., 469, 472, 492, 506, 508f., 511ff., 515, 526, 528, 536, 560, 584

Nakategawa, Y. 463 Natalicchio, A. 508 Neesen, L. 485 Németh, G. 565 Nestle, D. 543

Ridley, R.T. 490

Neugebauer, O. 514

Roberts, Jennifer T. 504, 566, 568 Robertson, M. 550

Neumann, À. 574

Niebuhr, B.G. 526 Niemeyer, H.G. 495 Nilsson, M.P. 495

Nippel, W. 454, 479, 481, 553, 562, 571 Noack, F. 492

Riezler, K. 477 Robert, L. 492

Robertson, N. 508, 511

Rosivach, V.J. 494f. Rostovtzeff, M. 409, 481f., 484 Roussell, D. 438 Rudhardt, J. 567

640

Verzeichnis der im Forschungsteil zitierten modernen Autoren

Ruschenbusch, E. 437ff., 454£., 470ff., 493, 514, 518f., 528, 537, 546, 549, 562, 578

Thalheim, Th. 506, 514, 554, 567, 579 Thompson, H.A. 446, 469, 501

Thompson, W.E. 449, 485, 497, 504 Salmon, J. 490

Sargent, R.L. 472 Sarton, F., 572 Savalli, Ivana 477

Scarpat, G. 539 Schachermeyr, F. 552

Schaefer, H. 447f., 453, 464f., 468, 514, 555 Schefold, B. 479 Schindel, U. 575

Schmid, W. 578

Thomsen, R. 451f., 528f., 554

Thür, G. 518f. Tod, M.N. 489, 525 Todd, St. 517

Toepffer, J. 438, 440 Touloumakos, J. 459f., 540 Traill, [.(5. 496ff.

Travlos, J. 469, 492, 550, 571 Triantaphyllopoulos, J. 519 Turasiewicz, R. 463f.

Schmitz, W. 505, 548f.

Schneider, L. 469, 550, 552

Scholl, R. 509 Schoemann, G.F. 498, 526 Schubert, Charlotte 469, 550

Schuchhardt, W.-H. 495

Schütrumpf, E. 524 Schuller, W. 449, 461, 474, 477, 483, 495, 516, 549, 553, 579f.

Schultheß, O. 520, 535 Schwandner, E.-L. 442, 471, 548 Sealey, R. 443f., 454f., 462, 477, 483, 512, 559f., 577

Shapiro, H.A. 446 Siewert, P. 449f., 497 Simon, Erika 495, 552 Sinclair, T.A. 555 Skinner, Marilyn 477 Smarczyk, B. 495, 552f. Smith, G. 443, 454f., 515f., 567 Snodgrass, A.M. 489f. Soedel, W. 493f. Spahn, P. 440f., 451, 568

Sprandel, R. 570 Stahl, M. 439f., 442ff. Stählin, O. 578 Stanier, R.S. 553 Stark, Isolde 572

Starr, Ch.G. 475 Staveley, E.S. 501, 530ff. Ste. Croix, G.E.M. de 482, 505, 516, 522, 526, $29, 549f., 561, 576f., 579f.

Steidle, W. 576

Stein-Hólkeskamp, Elke 439f., 451 Strasburger, H. 493, 555 Strauss, B.S. 486, 559, 562, 570, 578

Überweg, F. 573 Untersteiner, M. 573, 576 Unz, R.K. 553 Ure, P.N. 445

Valmin, N. 537

Vanderpool, E. 505 Vannier, F. 577

Veith, G. 489, 493 Vernant, J.-P. 484 Vidal-Naquet, P. 485

Vinogradoff, F. 518 Vittinghoff, F. 485 Vlastos, G. 459, 463

Vogt, ]. 474, 476 Wade-Gery, H.T. 507, 580 Wagner, F. 479 Wahrncke, F. 557 Wallace, R.W. 441, 454f., 514, 579

Wallinga, H.T. 493f. Walters, K.R. 438, 579 Wankel, H. 528

Waser, O. 459 Wassermann, F.M. 500

Weber, Max 478, 480f., 566 Webster, T.B.L. 569

Wedel, W. von 519, 566 Welwei, K.-W. 439

Wenger, L. 582 Wersdörfer, H. 576

Westermann, W.L. 474 Wevers, R.F. 577 Whitehead, D. 473, 499, 555

Stroud, R.S. 508, 510 Sundwall, J. 514, 578 Swoboda, H. s. Busolt

Wilamowitz-Moellendorff,

Tarkiainen, T. 522, 530, 532 Tellenbach, G. 570

Willemsen, F. 451

491, 495

Wilcox, St. 576 Will, E. 488, 57%. Williams, G.E.M. 453

U. von

437, 473,

641

Personen- und Sachregister Williams, R.T. 493f. Wörrle, M. 488, 580

Wolf, E. $21 Wolff, H. 571 Wolff, HJ. 439, 443, 506, 517f., 521, 554, 583 Wood, Ella M. 472, 475

Woodhead, A.G. 500, 542 Woodhouse, W.]. 441 Wrede, W. 492

Wycherley, R.E. 446, 469 Young, Ph. H. 446 Ziebarth, E. 567 Ziehen, L. 495 Zimmermann, H.-D. 489 Zimmern, A. 486, 488

Zinserling, G. 550f. Zoepffel, Renate 476

Personen- und Sachregister Abstimmung (Geschworenengerichte) 216f.

Arbeitsbeschaffung 320f., 324, 553

— (Rat) 198 — (Volksversammlung) 171, 184

Arbeitslosigkeit 104, 321, 408, 576

Adel 19ff., 35(f., 47ff., 246ff. 438ff., 444f., 4474. Ágina 41f., 127f. Agonotheten 149 Agora 163 — (der Demen) 158

— (der Phylen) 159f. Agoranomen 243 Agyrrhios 537

Archedemos 565 Architheone 252

Archon (eponymos) 165, 241 —

Basileus 147, 219, 241f.

— Polemarchos 87, 90, 242 Archonten 20, 41, 46, 51, 211ff., 234f., 237f., 240ff., 439, 453 406f., 454ff., 514, 579

Arginusen

Aischylos, Eummeniden 455ff.

297, 348, 354, 520, 564. Argos 419f., 580

Akropolis 144f., 248, 320f., 550ff. Alexander d. Große 79ff., 400, 407 Alkibiades 72ff., 377, 400, 565, 576

(Schlacht/Prozeß) 74, 122, 134ff.,

Aristides 67

Aristogeiton 35, 39 Aristokratie (Begriff) 19f., 438ff. anstokratisches Erbe in der Demokratie 111if.,

Alkidamas 91, 387 Alkmioniden 29, 447f.

232,

Areopag 20, 43ff., 185, 189, 191, 241f., 375f.,

Aischines 78, 80f., 226, 258, 343

— , Hikeuden 467f. Akontisten 122

228f.,

290ff., 335, 341, 369

Aristophanes 224f., 305f., 323, 372f., 382, 404f.,

Alphabetismus 364f., 569f.

524

Amorgos (Schlacht) 81, 140, 409

Aristophon 295

Amtsanrritt 231f.

Aristoteles 62, 220, 225, 245f., 265, 273, 285f.

Amtsfrist 231, 522

299f., 302, 305, 310f., 313, 343£., 348, 354,

anagrapbets (für Gesetze) 185

407, 417, 524

andkrısis 215, 278

Armut/Arme 301, 305f., 319, 343f., 348, 404f.,

Anaxagoras 295

408, 422, 561f.

Annuität s. Befristung Antialkidas-Friede s. Königsfriede

Artemis (Brauron) 145f.

antidosis 252, 345, 529 Antipatros 80f., 140 Antiphon (Redner) 377, 385f. — (Sophist) 385ff.

Astynomen 243 Atelie 90

Apaturien 151

Apodekten 202, 249, 254f.

Asebie 219, 242, 295f., 355, 566f.

Athena (Stadtgótun) 31, 142,

144f., 148, 523f.,

495f., 550ff. — Bulaia 195 —

Phratria 151, 154

Apollon 150 — Patroos 230, 273, 292

— (Kult auf der Akropolis) 323f., 550ff. — (Sechzigstel) 253, 320

apophorá 93, 103f.

Aumie 238, 274, 365

Arbeit und Politik 162, 394ff.

Atthidographen 437f.

642

Personen- und Sachregister

Attika (Landschaft) 54, 83f., 98ff., 469, 477f.

Aushebung

36, 88, 119f., 156, 160, 359, 449f.,

491

— (Flotte) 133ff., 494f. Ausschüsse des Rates 198f.

Demetrios von Phaleron 406, 410 Démokratía (Kult) 460

Demokratie, Beginn der 61ff., 467f. — , Begniff/Begriffsgeschichte 54ff., 62, 343f., 459ff., 467f., 545, 562

Außenhandel 109f., 488f.

— , egalitäre 5386.

Außenpolitik 41ff., 52, 58f., 203, 319ff., 331f.,

— , Einheit der 64ff., 403, 468f.

398f., 419f., 548f.

— , Entwicklung der 47ff., 62, 417f., 467f.

Autonomie 75f.

— , Kritik an der 62, 341, 371ff., 406f., 581ff. — , maßvolle 375f., 406f., 578f.

Babeuf 290, 423, 433

Basileus s. Archon

— , „radikale“ 62, 317f., 377, 406 — , unmittelbare 329, 337, 424f., 557 — , nicht-athenische 417ff., 579ff.

Beamte 228ff., 521ff. — (Amtsantnit) 235

— und Herrschaft 322ff., 376, 409, 414f., 418, 549f.

Banken s. Geldgeschäft

— (Begriff) 228ff., 5221.

Demophantos-Dekret 185, 326, 554

— (Kontrolle) 202f.

Demos (Bezirk) 38, 156ff., 367, 449, 496ff.

— (Vermassung) 237ff., 308

— (Volk) 27f., 288, 343f. u.pass. Demosthenes (Feldherr) 71f.

— (Wahl) 179, 232ff., 266f., 523, s. auch Lo-

sung Befestigungsanlagen s. Mauern, Festungen Befristung (Amt) s. Amtsfrist Begriffsgeschichte 461ff.

béma 172, 195

Bendis 150 Bergwerke (Attika) 105ff., 475, 487

Berufung (éphesis) 24, 207, 443, 458

— (Redner) 78ff., 226, 258, 373, 518 Demoukon 38, 292

diacbeirotonía 171

Diäten s. Tagegelder Diäteten 207, 243

Diagoras von Melos 385

Dikasteria s. Geschworenengerichte Diobelie 73, 253, 282ff., 322, 537

Bestechung 358 Betriebsformen, wirtsch. 102ff., 110

Diogenes von Sinope 293 Dionysien 31, 145, 149.

Billigkeit (Recht) 220

Dionysos (Eleutherai) 31, 145f., 149f., 446

Binnenwanderung 497f. Bogenschützen 121f.

Diopeithes 295

Boulé s. Rat

— (Rat) 202, 217f., 230

Bouleuterion (Bau) 195 Brunnenaufseher 244, 366

Drakon 21, 184ff.

Dokimasie 273ff., 369f., 533f., 569

Dualismus, athen.-spartan. 68ff.

Bürgerliste 158f., 161 Bürgerrechtsgesetz 155, 161, 346f., 562f. Bürokratie 344f., 578

éghtésis 90

Buonarrotti, Filippo 433

Ehe 365

Burckhardt, Jacob 358, 411f., 423, 581f.

Ehrenbeschlüsse 181

Chabrias 76, 405 Chaironeia (Schlacht) 79f., 409 Chares 78

— (Epheben) 119, 492

Eid 151, 326f., 554

Charidemos 78, 407 cheirotonía 171

Choregie 160, 252 Constant, Benjamin 431f., 543

— (Geschworene) 208, 326, 515, 554 — (Prozeß) 216 — (Ratsherren) 192, 326, 512, 554

eisagógeís 243

Eisangelie-Klage 179f., 218, 279, 309, 327, 329, 457, 506, 554

Eisphora 87, 250f., 259f., 528f. Dekeleia 101, 106

eleusinische Mysterien 146, 149

Delion (Schlacht) 124f.

Eleusis 31, 74f.

Demades 80, 284

Eleutherai 58

Demagogen 172ff., 342f., 375, 399, 504f.

Elfmänner 206, 242

Demarchos 158 Demenrichter 32, 245, 458 Demeter (Eleusis) 31, 146, 149

Elite 340ff., 399, 428f., 560

Epaminondas 77, 124f. Ephebie 119, 158, 366, 491f.

643

Personen- und Sachregister

Ephialtes 43ff., 51, 53, 63, 68, 280, 318, 454ff.,

Geschworenengerichte 45f., 203ff., 273, 351ff.,

558 Epibaten 133, 494

— (Begriff) 203ff.

403ff., 413, 457f., 514ff.

epibolé 206

— (Unteilsfindung) 219ff., 517ff. — (Verfahren) 215ff. — (Verteilung der Richter) 209ff.

epibolía 217 Epicheirotonie (Beamte) 178, 218 — (Gesetze) 187

— (Zusammensetzung) 207f., 536

eptdosis 322

— (und

Epimeleten (Emporion) 115, 244

517ff. — (und Volksversammlung) 225f., 353ff., 520f.,

— (der Phylen) 159

Rechtsordnung)

226f.,

353ff,

374,

578

— (Schiffshäuser) 140

Epistates (der Prohedroi) 165ff., 196f. — (des Rates, der Prytanie) 165ff., 196f.

Gesetzesauslegung 517f.

éranos 94

Gesetzesgehorsam 220, 313, 352f., 427f.

Erziehung 246, 364f., 574

Gesetzespositivismus s. Rechtspositivismus Gesetzgebungsverfahren s. Nomothesie Gesetzwidrigkeit, Klage wegen, s. ParanomieKlage

— , politische 334, 558

Getreide 99ff., 115

Eubulos 78, 81, 257f., 399, 408, 504, 513, 537

Eukrates-Dekret 326, 407, 554, 579

Getreidehandel 115ff., 549 Getreidemangel 100f.

Eumolpiden 146

Getreideversorgung

Erechtheion 144 Erechtheus 144

115ff., 243f.,

322, 397f.,

488f.

Eunomie 26, 48, 56, 459, 464

Eupolis 290, 342 Euripides 60f., 311 Euthynie s. Rechenschaft

Gewaltenteilung 226, 433f., 505f.

Gewerbe s. Handwerk

Euthynoi (Amt) 199, 202, 218, 237, 278f.

Exekutive s. Regierung

Gewohnheit (Recht) 220 Gleichheit, politische 37, 39, 56f., 287ff., 370ff., 394, 411f., 430ff., 459, 461ff., 5386.

—, natürliche 290. 387f. —, 6konomische 304ff. —, soziale 304ff., 371, 432f.

Familie 364ff., s. auch ofkos Feste, athen. 31, 446, 495

— vor dem Gesetz 56, 289, 463

Festungen (Attika) 127, 492 Finanzbeamte s. Schatzmeister, Tamias

Gorgias von Leontinoi 220, 384f.

Finanzwesen 246ff., 407f., 523ff. Flotte 42f., 127ff., 369, 409, 454£., 493ff.

Flottenbau 42f., 128, 137ff., 454f. Frauen 96ff., 476f.

Freigelassene Freiheit (Begriff) 60f., 75f., 302£., 310ff., 430ff., 460, 542ff.

Grammateus (Rat) 198 Grote, George 411, 543, 581f.

Grundeigentum 87, 115, 231 Gymnasiarchie 160, 252 Hafenanlagen s. Piráus Haftung, persónliche 329 Handel 25, 106ff.

Freilassung 94f.

Handelspolitik 117f., 489

Fremde in Athen 89ff.

Fremdengericht 87 Führungsstil, persönlicher 341f., 504f., 558ff., 977

Handwerk 25, 32f., 102ff., 487 Harmodios 35, 39

Heer s. Hopliten Hektemoroi 441

Fürsorge s. Sozialpolitik

Heliaia s. Geschworenengenchte Hellenotamiai 251, 254

Geldgeschäft

110ff., 487, s. auch

Kreditge-

scháft Genos 19, 438f., 496 Gerechtigkeit 220, 301, 413

Gerichtshof (einzelner) 207ff. Gerichtswesen, athen. 24f., 179f., 201£., 205ff.,

Hellespontophylakes 115 Hermokopidenfrevel 296, 348, 541 Herodot 59f., 265, 300 Heroen-Kult 141ff. Herrschaftswille der Athener 70, 322ff., 336, 369, 376, 390, 409, 414, 549f.

Gesandte 244f.

Hesiod 21 Hestia 146

Gescháftstráger s. Beamte

— Bulaia 195

214ff., 242f., 442ff., 457ff.

644

Personen- und Sachregister

Hestiasis 160, 252 Hetärien 377f., 559, 572

Kompetenz (Beamte) 229f., 236 —

(Rat) 201ff.

Hieropoioi 149, 244 Hipparchos (Reiterführer) 121, 245 — (Tyrann) 29, 35 Hippias (Tyrann) 29, 35 — von Elis 381

— (Volksversammlung) 177ff.

Hippodamos von Milet 548 Hippotoxen 121f., 491 Hodopoioi 243

Korinthischer Bund 80f. Koroneia (Schlacht) 125

Homer 143f. Homosexualitát 477

Kreditgeschäft 108, 111 Kriegsschiff s. Triere

Konon 75, 126 Kontinuation (Amt) 232

Kontrolle der Beamten 45f., 454ff. Korax 385

Kosmeten 246

Hopliten 23f., 36, 48f., 56f., 119ff., 489ff.

Knuas 74, 386, 574, 576

Horoi 441 Hyperbolos 174, 505

Kultbeamte 147, 244, 495

Hypereides 81, 373

Kumulation (Amt) 232

bypéresta 132f., 493

Kulte 141ff., 495

Lade (Schlacht) 135 Initiativrecht 168ff., SOSf. Iphikrates 120, 122, 405

Isagoras 35f. Isaios 577

Isegorie (Begriff) 57, s. auch Redefreiheit Isokrates 299, 372, 375f., 388f., 406f., 531, 534, 572, 576f.

Isonomie (Begriff) 56f., 463, s. auch Gleichheit,

politische

Laureion (Bergwerke) 42, 100, 105f., 475, 488

Lebenshaltungskosten 113 Lebensmittelversorgung 99ff. Leichtbewaffnete 122f.

Leiturgie 138, 160, 247, 251f., 259, 529 Lenäen 149 Leuktra (Schlacht) 77, 124f. Lochos

Isotelie 88 Iteration (Amt) 232

121

Logistai 199, 202, 218, 236f., 277f.

Kalender, Amts- 196, 514

—, Fest- 148

Lager, militär. 125

Landwirtschaft 101f., 475, 486

|

Logographen 216, 221f. Lohnsklaven 105f. Losmaschinen 268ff., 530 Losung 265ff., 307, 374f., 530ff.

Kallias-Friede 69

— (Archonten) 41, 266, 453 — (Beamte) 232ff., 531f.

Kallikles 387, 575f. Kampfesweise (Flotte) 135ff. — (Heer) 123ff.

— (Richter) 207ff., 210ff., 267ff. — (Verfahren) 267ff., 532f.

Kallias-Dekret 317

— (Rat) 191ff., 532

Katalog der Hopliten 119

Lykurgos 81, 258, 373, 399, 504, 513

Katalogeis (Reiter) 202

Lysander 74

Kimon 43ff., 67, 69, 286, 563 Klage, politische 179f., 205f., 217ff., 355f., 506f.,

Lysias 274, 372, 546

566, 581

Klageformen 214, 205ff., 217ff., 298 Kleisthenes 18, 36ff., 50f., 54, 63f., 155ff., 266, 271, 275f., 439, 447ff., 451f., 512

Mably, Gabriel Bonnot de 432

Marathon (Schlacht) 125, 170, 367 Marmorbrüche (Atuka) 100

Kleomenes, spart. Kónig 35f.

Masse (Charakter) 288, 298ff., 351f., 399f., 412f. 429, 431f.

Kleon 68, 174f., 282, 295, 399, 505, 581

Mauern (Stadt-) 125ff., 492

Kleophon 73, 174, 283, 537 Kleroteria s. Losmaschinen Kleruchien 74f., 77, 79, 320f., 548 Kónigs-Friede 76

Megarisches Psephisma 71, 117f.

Kolakreten 254f.

Kollegialität (Amt) 234f., 523 Kommandoverhiltnisse (Heer) 122f. Komódie

150, 414, 578

Melier-Dialog 316, 388

Mentalität 363ff., 368ff., 569f.

Merismos 202, 255ff., 259 Metóken 86ff., 103f., 106, 109, 147ff., 320f., 409,

472f., 529

— (Anzahl) 85, 472 Metoikion 86f., 250, 529

Personen- und Sachregister Metronomen 243

645 Pasion 111f.

Michels, Robert 427f.

pätrios politela 62, 74, 375, 438, 443, 466f., 578f.

Mill, John Stuart 427, 431, 543 Miltiades (Vater Kımons) 297, 350

Patronymikon 38, 292

Monarchie (Begriff) 460 Monatsklagen 118, 243

Peisistratos 28ff., 49f., 145, 444ff. Peloponnesischer Krieg 65, 71ff., 101, 486

Peisandros 377, 406

Mosca, Gaetano 427

Peltasten 122, 125

Münze, athenische 20f., 25, 32, 107, 118, 443f. Munichia/Piräus 139.

Pentakosiomedimnoi 23, 230 Pentekontere 128

Mythos 143f. Mytilene, Bestrafung von 175

Periandros 139, 528

Naukrarien 137, 155 neória s. Werften

Perserkneg 41f., 63

Neoroi 140 Nikias 72

Pheidias 104, 144, 324, 550ff.

Nikomachos 185 Nomophylakie 246, 454f., 457 Nomos 183ff., 351f., 374, 464, s. auch Rechts-

ordnung

—, dgraphos 186, 221, 517 — und Physis 387f. — und Psephisma 182, 184, 186, 508, 510f. Nomothesie 75, 183ff., 187ff., 201, 317, 328f., 507ff., 511f., 554

Nomotheten s. Nomothesie Nutzen, öffentl. (symphéron) 316, 335 Offentlichkeit, Bereich der 358ff., 568f. — der Politik 412 ofkos (Familie) 19f., 438f. Oligarchie (Begriff) 59, 343f., 374, 377, 406, 410, 419, 460, 462, 545, 562, 575

oligarchischer Umsturz von 411 73, 177, 184, 330, 375, 377f. — von 404 74, 177, 184, 375, 378

Olivenól 99

Olympische Götter 143f. Opfer, religiöse 147f., 151, 244

Opposition gegen Demokratie 371ff., 571f. Orgeones 496 Oropos 38 Ostrakismos 40f., 51, 309, 450f.

Pachten s. Verpachtungen Panathenäen 31, 148f., 232

Perikles 46, 68ff., 173, 281ff., 323f., 331, 340, 347, 360, 362, 399, 503, 537, 551f., 563, 568f.

Phalangiten/Phalanx 21, 39, 120, 123ff., 489ff. Philemon 91

Philipp II. von Makedonien 78ff., 116 Philokrates-Friede 78

Philosophie,

nachsokratische

Phokion 407 Phoros (Seebund) 67, 251, 253, 396f., 553 Phratriarchos 154 Phratrie 38, 153ff., 496

Phratne-Register 154 Phrynichos 73, 377 Phylarchos 121, 245

Phyle 37f, 153, 155ff, 159f, 234, 448ff, 496ff.

Phylenkónig 147, 153 Phylenkulte 141, 143 Phylenreform 37ff., 63, 305ff., 360, 427, 439, 447f1.

pindkion (Richtermarke) 212f., 515 Piräus 42, 98, 125f., 139f., 453f., 492

Platää (Schlacht) 125 Platon 220, 265, 286, 299, 304f., 382, 388, 417

Pnyx 163, 500f. Polemarchos s. Archon Poleten 105, 249, 254

Polis, Genese 19f., 439f. Polizei 243

Polyperchon 410

polypragmosÿné 225, 333, 367, 555f.

Popularklage 24, 49, 205f., 275, 278ff., 309, 327, 345, 353, 357, 360, 443, 567f.

Poseidon 145

paramoné 94 Paranomie-Klage 45, 180, 218, 295, 309, 327ff, 458f., 506, 520, 554

Präventivsicherung 328f.

Parrhesia 170, 293, 302f., 539 Parthenon 144, 148, 322f., 550ff.

388f.,

philotimia 332, 334, 362, 370, 555, 569

Panhoplie 148, 324

Pareto, Vilfredo 427f. Parhedroi (Beisitzer) 235 Parmenides 383

372f.,

42%.

Praktores 243, 249, 254

Priester s. Kultbeamte probolé 218, 564 Probouleuma

168f., 201, 328f., 512f.

Probouloi 73 procbeirotonía 168

prodikia 90

646

Personen- und Sachregister

Prodikos von Keos 381, 386

Schatzmeister der Göttin 230f., 253f. — der anderen Götter 253f.

Prodromoi 122, 491

Produktivweise s. Betnebsformen

Scherbengencht s. Ostrakismos

Proeisphora 250ff., 259 Prohedroi 196f.

(Rat,

Volksversammlung)

165ff.

prókiésis (Vorladung) 215

Schriftlichkeit von Amtsgescháften 65, 469 Schumpeter, Joseph A. 427, 430 Sc ete s. Hopliten, Phalangiten

Prokritoi 41, 232, 240f., 266, 453, 532f.

Prosopographie 440f. Prostates (Metóken) 87, 473

Seebund, 150, 553. Seebund,

Protagoras 383f., 574 Proxenie 89ff., 473f. Prozefi, politischer s. Klage, politische

Prozeßverfahren 205ff., 214ff.

prytaneía (Gerichtsgebühr) 90, 249 Prytanen/Prytanie 156, 165ff., 196ff. Ps.-Xenophon 60f., 225, 299f., 302, 372ff.

Quorum (Volksversammlung) 162 Rat der 500 24, 38, 156f., 165ff., 190ff., 239, 255, 259f., 273, 375, 403f., 452, 512ff.

— (Zusammensetzung) 191ff., 514, 578 —

Seebundspolitik Seebundstribute s. Phoros Seedarlehen 111 Seehandel 106ff., 487 Seeräuber 115f., 488 Seisachtheia 21f., 441 Sekretäre des Rates s. Grammateus Selbsthilfe 345f., 368 Sendungsbewußtsein, athen. 336, 369, 580

Silbergruben 100, 105f., 249, s. auch Laureion Sitophylakes 115, 244 Sizilische Expedition 72f., 400

Ratsherr 191ff. — (Qualifikation) 193, 273

Sklaven 91ff., 103f., 106, 147, 4746.

Rechenschaft (allgemein) 277ff., 534

— (Anzahl) 85, 472

— (Beamte) 236f., 239 — (Rat) 193

Rechtshilfevertráge 89 Rechtsordnung 219ff., 223f., 226f., 317, 327ff., 351ff., 433f., 516ff., 564ff. Rechtspositivismus 219ff., 351f., 5176, Redefreiheit 170, 290, 292ff., 391, 539, 541f.

1374,

342ff., 399, 504ff., 558ff. Regierung 51, 190, 197, 199f., 238, 258, 303, 399f., 407, 427, 429f.

Reichtum/Reiche 112f., 301, 305f., 319, 341, 343f., 348f., 404f., 408, 422, 561f. Reiterei 121, 123, 491,

Rekrutierung s. Aushebung Rentnerideal 112, 114f.

Reprásentation/Reprásentative 557 Rhetorik 193ff., 221ff., 293, 381, 384f., 388ff., 521, 560, 573, 575 Richter 204ff., 351ff., 514ff.

Rousseau, Jean-Jacques 426, 432 Ruderer 42f., 52, 129ff., 288, 369, s. auch Triere Ruderwerk (Triere) 132, 137, 494 Salamis (Insel) 38, 52 Salamis (Schlacht) 66, 127, 133, 367

Erster Athen. 45f., 52, 58, 66ff., 117f., 219, 251, 320f., 376, 396f., 414f., 459, 580 Zweiter Athen. 76, 219, 320ff., 397

Sitones/Sitonia 116

der 400 24, 191, 443

Redekunst s. Rhetorik Redner (Gericht) 215f., 222f., 521 — (Volksversammlung) 172ff, 297f,

Schiffbau 100 Schiffshäuser s. Werften Schreiber des Rates s. Grammateus

— (Arbeit) 92f., 95f. Skythen (Versammlungsordner) 93, 170 Sóldnerwesen 120, 122, 405 Sokrates 214, 200, 295f., 382, 390, 541f., 581 Sold (Soldaten) 120, 135, 248, 281f.

Solon 17f., 22ff., 33f., 48f., 53E., 183ff., 309f., 352, 360, 368, 441ff., 546

Sophisten 296, 316, 364f., 379f£., 573ff. — und Demokratie 389ff., 574f.

Sophokles 373 Sophronisten 246

Sozialpolitik 318ff., 331, 338f., 549 Sparta 45, 58, 68f., 75, 312, 374, 398, 419

Spartokiden 115f. Spezialisierung 65 Sphendoneten 122 Stabilität der Demokratie 348ff., 352, 413 Stasis-Gesetz 309f., 546 Steuern 30, 250f., 528f.

Strafgelder 249 Strafrecht s. Gerichtswesen

Strategen 38, 43f., 120, 122f, 173f, 179, 197, 218, 232, 240, 244f., 278f., 503f., 523

Strauotikon (Kasse) 231, 257f. Sulla 126 Sykophantie 218, 279, 353, 356f., 567f.

Syllogeis 171 Symmonen

139, 245, 250, 528

647

Personen- und Sachregister Syndikoi (Nomothesie) 188 — (Prozeß) 215

Triptolemos 31f. Tnttys 37f., 155ff., 160, 448ff., 496ff.

|

Synegoroi (Nomothesie) 188

Trophe s. Getreideversorgung

— (Prozeß) 215

Tyrannengesetze 326, 554 Tyrannis (in Athen) 28ff., 49f., 56f., 326f., 444ff., s. auch Peisistratos

Syngrapheis (Gesetzgebung) 184 Synomosie 377f. Synteleis 139, 528 Syntrierarchie 139

— (Begriff) 460

Syrakus 304, 398, 420, 580

Unterhaltszahlungen 322 Unzweckmäßigkeitsklage 189f., 218, 554

Täuschung des Volkes (Delikt) 297f., 329, 350, 563

Tagegelder 46, 75, 248, 253, 280ff., 308, 396f.,

Verfassung (Begriff) 55f., 460 Verfassungsdenken 55ff., 419, 580

420, 534ff. — (Beamte) 235, 282, 285, 535f. — (Rat) 195, 282 — (Richter) 208, 282, 285, 536

Verfassungsdualismus 58f., 70, 188, 398f., 419%. 460f., 580

— (Volksversammlung) 162, 282f., 536

Verkaufssteuer 251 Vermógenseinschátzung 345

Verfassungsschutz 325ff.

Verfassungswächter s. Nomophylakie

— (Gesamthöhe) 284f., 537

Tagesordnung (Volksversammlung) 178f., 500 Taktik (Flotte) 135f.

— (Heer) 123#f.

576 Verpachtungen (Stadt, Tempel) 249ff.

Tamias 231 Taxiarchos 120, 122, 245

Viehwirtschaft 99ff.

Technik, Entwicklung der 104

Vierzig (Richter) 218, 245, 278

Volksvermógen 262, 527f.

Teisamenos-Dekret 185, 508, 511 Teisias 385 Tempelkassen 247f., 253ff., 259. Theben 76f., 79f. Themistokles 41f., 138, 451, 453 Theorikon (Diäten) 283, 536f. — (Kasse) 78, 231, 257f. Theoroi 244 Theramenes 73f., 286, 299, 377, 565f., 579 Theseion 192, 232, 270 Theseus 368 tbesrnás 464 Thesmotheten

Vermógenssteuer s. Eisphora Vermögensverteilung 112f, 408, 486f., 489,

Volksversammlung 161ff., 374, 499ff.

— (Beschluß) 171£., 501, 507f.

— (als Gesetzgeber) 181f., 188f., 5O9ff.

— (als Richter) 179f., 353.

— (und Nomothesie) 509ff., 520f. — (Verfahrensherrschaft) 169, 188f., 257, 404, 510, 578

— (Zusammensetzung) 162f., 502f., 536 Volkswille 426ff., s. auch Willensbildung

Vorsitz (Rat, Volksversammlung) 165f., 196f., 514

41, 209, 211ff., 218f., 232, 242,

269. Theten 23, 43, 46, 52, 192, 241, 442, 578

Wasserversorgung 244, 366, 488

Tholos 195f.

Wegenetz Artikas 32, 449f.

Thrasybulos 73f. Thrasymachos von Chalkedon 385, 387 Thukydides

(Historiker)

60,

280,

292,

300,

310ff., 318f., 322f., 348, 372, 376f., 398, 504

— (des Melesias Sohn) 174, 376f., 551, 563 Timokratie 48, 442, s. auch Zensus-Klassen Tocqueville, Alexis de 427, 431, 433 Toxoten s. hützen Traditionalismus 317, 330, 432f.

Wehrpflicht 119 Werften 139f. Wieland, Christoph Martin 425 Willensbildung (Geschworenengericht) 214ff., 337ff.

— (Rat) 195ff., 337ff. — (Volksversammlung)

165ff,

— (Entwicklung der) 478ff. — (Forschungsgeschichte) 478ff.

Trierarchie 138f., 528

Wirtschaftskrise 408f., 481ff., 576

Tniere 42, 128ff., 493ff.

Trieropoioi 139, 199

341ff.,

Wirtschaft (Begriff) 113ff., 478ff., 484f.

Trierarch 42, 132, 138f.

Tragódie 31, 143, 150, 270, 283, 372f., 557f.

337ff.,

505f., 558ff.

Wirtschaftspolitik, Ansätze zu einer 117f. —, Fehlen einer 113ff.

648

Personen- und Sachregister

Wohnungen 365f., 548

Zeugen (Prozeß) 216, 221, 368

Xenophon 99, 114f., 372, 524

Zeus Agoraios 146

—, Pseudo— s.Pseudo-Xenophon Xenos/Xenoi s. Fremde

— Bulaios 195 — Herkwios 144, 146, 230, 273, 292 — Phrarrios 151, 154 Zölle 251 Zwölfgötteraltar 32, 446

Zehnte (der Göttin) 247, 249 Zensus-Klassen 22f., 86, 119,

Zeugiten 23, 46, 231, 241

121,

133, 231,

522f., 537

Bildquellenverzeichnis: Harvard University Press, Cambridge, Mass.: 164 (2), 268; Staatliche Kunstsammlungen, Dresden: Titelbild; Nationalmuseum, Athen: 130, 212; Editions A. et J. Picard, Parıs: 126; Trireme Trust, England: 131 (Zeichnungen: John F. Coates; aus: J.S. Morrision/J.F. Coates, The

Athenian Trireme. The history and reconstruction of an ancient Greek warship, Cambridge, Cambridge University Press, 1986); Verlagsarchiv F. Schóningh, Paderborn: 124, 167, 194, 256.

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