Fachkommunikation: Entwicklung - Linguistische Konzepte - Betriebliche Beispiele 9783110864991, 9783110087659


199 101 11MB

German Pages 184 Year 1983

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
1. Entwicklungslinien der Fachsprachenforschung
2. Zur Geschichte der deutschen Fachliteratur
3. Zur Theorie der Fachsprachen
4. Eigenschaften von Fachsprachen
5. Praxis der Fachsprachen
6. Literaturverzeichnis
7. Namenverzeichnis
8. Sachverzeichnis
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Fachkommunikation: Entwicklung - Linguistische Konzepte - Betriebliche Beispiele
 9783110864991, 9783110087659

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Fachkommunikation Entwicklung • Linguistische Konzepte • Betriebliche Beispiele von

Walther v. Hahn

W G DE

1983

Walter de Gruyter • Berlin • New York

SAMMLUNG GÖSCHEN 2 2 2 3

Walther v. Hahn Professor für Linguistik an der Universität Hamburg

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Hahn, Walther von: Fachkommunikation : Entwicklung, linguist. Konzepte, betriebl. Beispiele / von Walther v. Hahn. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1983. (Sammlung Göschen ; 2 2 2 3 ) ISBN 3 - 1 1 - 0 0 8 7 6 5 - 0 NE: G T

© Copyright 1 9 8 3 by Walter de Gruyter &c Co., vormals G . J . Göschen'sche Verlagshandlung, J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung, Georg Reimer, Karl J . Trübner, Veit & Comp., 1 0 0 0 Berlin 30 - Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden - Printed in Germany Satz und Druck: Saladruck, Berlin - Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Buchgewerbe GmbH, Berlin.

Vorwort Die Literatur zum Thema ,Fachsprache' hat ein eigenartiges Beharrungsvermögen, das nicht durch außerlinguistische Sachzwänge zu erklären ist. Zu lange schon ist in den letzten Jahren eine recht kleine Zahl von Themen unter kaum abweichenden Gesichtspunkten immer wieder behandelt worden, ohne daß man eigentlich aus dem Stadium der Literaturkontroversen wieder herausgekommen wäre. So habe ich mich entschlossen, auf Anregung des Verlags einen Überblick zu schreiben, der zugleich berichtet über die vielen liegengelassenen Forschungsansätze früherer Literatur, über die vielen nicht weiter verfolgten Ideen verschiedenster Provenienz und über die vielen Anregungen aus den Fortschritten der Linguistik, die auch für die Fachsprachenforschung genutzt werden müssen, darunter vor allem natürlich die pragmatischen Theoreme. Gute Übersichten zum Stand der Forschung bieten nach wie vor Hoffmann (1976), Fluck (in 2. Aufl. 1980) und Beier (1980). Die wesentliche ältere Literatur liegt in v. Hahn (1981) zusammengestellt vor. Nur: diese Werke enthalten sich (ihren Zielen entsprechend) weitgehend der Forschungsperspektive. Dagegen ist das wesentliche Ziel dieses Werks, (alte und) neue Denkanstöße zu vermitteln, selbst auf die Gefahr hin, sich durch heute noch nicht aus Forschung begründbare, zu mutige Aussagen zu exponieren. Noch ein anderer Gedanke hatte für die Anlage des Buchs große Bedeutung: Das „Forschung-Fordern" ist in der FachsprachenLiteratur immer eine ungute Sitte gewesen, das „ForschungMachen" dagegen zu wenig selbstverständliche Voraussetzung des Schreibens. Auch hier habe ich die Initiative ergriffen und an einigen wichtigen Stellen (z.B. Kap.2.9 oder 5.3) versucht, neue Forschung vorzulegen. Entsprechend begebe ich mich auch hier in Gefahr, zu Vorläufiges mitzuteilen oder nur den Anlaß zu Falsifizierung zu liefern. Dennoch halte ich es für notwendig, auch mit der vorliegenden Veröffentlichung für Forschung zu werben.

4

Vorwort

So wird man vieles Gewohnte zum Fachsprachenproblem hier vermissen, nach der Lektüre aber vielleicht auch mit mir die Ansicht teilen, daß ,Fachsprache' eben nicht eine stille linguistische Nische ist, in der reduzierte Anforderungen an Methode und Innovationstempo gestellt werden, sondern daß dies ein auch heute noch unüberschaubares Gebiet moderner angewandter Sprachwissenschaft ist, in dem alles andere als Beschaulichkeit waltet. Ganz bewußt habe ich aus diesem Grunde die von der Linguistik weiter entfernt liegende Literatur aufzuarbeiten versucht (z. B. aus der Bürokommunikation, der Organisationslehre, der Künstlichen Intelligenz oder der Psychologie), um dem Leser ein Gefühl dafür zu geben, daß der Abstand zwischen den Fächern hier geringer geworden ist und daß man es bei der linguistischen Fachsprachendiskussion mit nur einem Blickwinkel dieses Wirklichkeitsbereichs zu tun hat, und: daß Kooperation dringend geraten ist. Nicht zuletzt hoffe ich, durch ein überschaubares Beschreibungsmodell (in Kap. 3.2) sowie durch die graphische Repräsentationssprache der Kommunikogramme (in Kap. 5.2.3) Möglichkeiten zum Vergleichen verschiedener Ansätze und Forschungsaktivitäten gegeben zu haben, vielleicht sogar einen Beitrag zu einem Bezugsrahmen künftiger Forschung. Das Buch ist nicht nur an die Adresse von Linguistik und Germanistik gerichtet, um dieser eine Erweiterung des Diskussionsrahmens vorzuschlagen, sondern könnte auch für die Betriebswirtschaft eine Brücke zur Linguistik schlagen und damit zugleich eine weniger mechanistische und verkürzte Theorie betrieblicher Kommunikation entwerfen. Herzlich danken möchte ich M . Korn für unermüdliche Hilfe bei der Materialbeschaffung und Unterstützung bei den Korrekturarbeiten. Petr Sgall danke ich für kenntnisreiche und konstruktive Kritik, die ich nur noch teilweise einarbeiten konnte. Rudolf Beier las eine erste Fassung des 3. Kapitels und gab mir wertvolle Anregungen. Hamburg, Juni 1 9 8 3

W. v. Hahn

Inhaltsverzeichnis

1.

Entwicklungslinien der Fachsprachenforschung

...

7

2. 2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5. 2.6. 2.7. 2.8. 2.9. 2.10.

Zur Geschichte der deutschen Fachliteratur Anfänge Das 12. Jahrhundert Das 13. Jahrhundert Das 14. Jahrhundert Das 15. Jahrhundert Das 16. und 17. Jahrhundert Das 18. Jahrhundert Das 19. Jahrhundert Das 20. Jahrhundert Quellengeschichte

12 12 17 19 22 25 29 35 42 46 48

3. 3.1. 3.1.1. 3.1.2. 3.1.3. 3.1.4. 3.1.5. 3.2.

Zur Theorie der Fachsprachen Terminologische Klärungsversuche Sprachsystem Textform Inhalt Sprecher/Hörer Intention/Funktion Gliederung der Fachsprachen

60 60 61 62 63 66 70 72

4. 4.1. 4.1.1. 4.1.1.1. 4.1.1.2. 4.1.1.3. 4.1.1.4. 4.1.2. 4.1.3.

Eigenschaften von Fachsprachen Wortschatz Struktur und Benutzung Elemente Aufbau und Erweiterung Benutzung Verstehen Vagheit und Exaktheit Lexikographie

83 83 83 83 87 91 94 98 106

6

Inhaltsverzeichnis

4.2. 4.2.1. 4.2.2. 4.2.3. 4.3. 4.3.1. 4.3.2. 4.3.3.

Syntax Anonymisierung Explizite Spezifizierung Kondensierung Textaufbau Kohärenz Texteinbettung Text-Bild-Verhältnis

111 113 115 117 119 120 122 124

5. 5.1. 5.2. 5.2.1. 5.2.2. 5.2.3. 5.3.

Praxis der Fachsprachen Pragmatische Voraussetzungen Betriebliche Kommunikation Betriebswirtschaftliche Kommunikationskonzepte Betriebspsychologie Das Darstellungsmittel Kommunikogramm Fallstudie aus der Wissenschaftsorganisation

6.

Literaturverzeichnis

161

7.

Namenverzeichnis

179

8.

Sachverzeichnis

181

126 126 130 . 132 141 144 151

1. Entwicklungslinien der Fachsprachenforschung Die Geschichte der deutschen Fachsprachenforschung ist wie die der wissenschaftlichen Germanistik kaum mehr als 100 Jahre alt. Was aber für die Germanistik noch eher zutrifft, daß man nämlich ihren Beginn mehr oder minder glücklich mit Forscherpersönlichkeiten verbinden kann, ist bei der Fachsprachenforschung nicht möglich. Ebenso im Gegensatz zur Germanistik kann die Fachsprachenforschung nicht auf eine partielle aber stetige Mitberücksichtigung ihrer Fragestellungen in übergeordneten Fachgebieten z.B. der Allgemeinen Sprachwissenschaft zurückschauen. Die Fachsprachenforschung dagegen kann allerdings auf ein lange vorhandenes Problembewußtsein in Nachbarfächern und in fast allen Gebieten praktischen menschlichen Handelns zurückblicken: Schon früh gibt es, wenn auch undifferenzierte, Hinweise auf schwerverstehbare Fachterminologie etwa konkretisiert in der „obscuritas" der antiken Rhetorik (vgl. Kalverkämper 1980), oder der Sammlung von Kunstwörtern in der frühen fachlichen lexikographischen Tradition (vgl. S.40). Leibnitz' Versuche, die fachsprachliche Brauchbarkeit der deutschen Sprache durch umfassende lexikographische Vorschläge zu beweisen (Drozd/Seibicke 1973), sind eine weitere Marke auf diesem Gebiet. Endlich sind es auch kommunikationstheoretische Erkenntnisse ganz moderner Wissenschaftsrichtungen wie der Organisationstheorie (Grochla 1975), die auf die konstitutive Rolle der sprachlichen Kommunikation im Fach hinweisen. Meist wird hier das Vorhandensein einer exklusiven Terminologie festgehalten, teils deren Mängel, teils deren Vorteil dargestellt. Das praktische Problembewußtsein von Fachsprachen ist also durchaus seit langem vorhanden. Nun wäre eine wissenschaftliche Erforschung, vielleicht eine Erklärung der Fachsprachen, aus zwei Richtungen zu erwarten gewesen. Einmal von den theoretischen Hintergrundfächern der praktischen

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Entwicklungslinien der Fachsprachenforschung

Arbeitsfelder, in denen Fachsprachen benutzt wurden, zum anderen von der Sprachwissenschaft. In ersteren wegen der zugleich mit der Theoriebildung meist vollzogenen terminologischen Festlegung. In der Sprachwissenschaft sozusagen von Berufs wegen. Nehmen wir als ein solches Praxisfeld die Technik: In der dahinter stehenden Technologiewissenschaft und deren spätere Auffächerung in spezifische Einzelgebiete an den Technischen Hochschulen etwa, ist die Problematik der Fachsprache schon bei der Gründung der Wissenschaft gesehen worden: „Keine Wissenschaft, nur die Naturkunde ausgenommen, hat mehrere und mannigfaltigere Gegenstände, und eben deswegen eine größere Menge Kunstwörter, als die Technologie" (Beckmann 1770, Bd. 16, 451). Fachterminologie ist dort seitdem auch immer wieder diskutiert worden, ihre wissenschaftliche Bearbeitung ist aber nicht vorgenommen worden. Eher wurden praktische Vorschläge zur Terminologie oder Klassifikation vorgelegt, die bisweilen eine gründliche theoretische Beschäftigung mit dem Gesamtphänomen Fachsprache eher verschütteten als förderten. Nun haben sich um die technischen Wissenschaften und ihren Theoriebildungsprozeß eine Reihe von anderen Wissenschaftszweigen gruppiert, die einerseits unter historischem Aspekt die Entwicklung symbolisch formalen und instrumenteilen Handelns untersuchen oder Technik unter dem Paradigma der Psychologie oder Soziologie bearbeiten. In jedem Falle werden auch diese Forschungsrichtungen mit dem Problem der Fachsprachen konfrontiert. In der Technikgeschichtsforschung ist die Wirkung der Entwicklung von Kommunikationstechniken bald erkannt worden und mit Recht ist ein Teil der Technikgeschichte als Kommunikationsgeschichte aufgefaßt worden (Timm 1964, vgl. auch Everling 1930). Proportional zur Kommunikationstechnologie wächst die Wichtigkeit der Fachsprachen und es ändert sich ihre Struktur und Anwendung. Allein über den Befund kam man hier im wesentlichen nicht hinaus. Die Wirtschafts- und Sozialgeschichte (z. B. Kellenbenz 1977) darf für sich in Anspruch nehmen, daß sie über die historischen Sachverhalte hinaus Anhaltspunkte zu Struktur und Entwicklung von

Entwicklungslinien der Fachsprachenforschung

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Fachsprachen (wenn auch im allgemeineren Rahmen von Kommunikation überhaupt und eher implizit) gebracht hat, Aufschlüsse, die aus den Nutzungsbefunden der gegebenen historischen Kommunikationssituation abgeleitet wurden. Die besonderen menschbezogenen Implikationen der Handlungen in Fachbezügen, z. B. in Berufssituationen, stehen im Mittelpunkt der Industriepsychologie, der Berufspsychologie sowie der Industriesoziologie. Die konkreten Fachsprachenprobleme sind, wie wir später (s. Kap. 5) sehen werden, zwar unter neuem Aspekt gesehen worden, aber es waren eher die allgemeinen Aussagen zu Kommunikation und Gruppenverhalten, die die Fachsprachenforschung anregten, als daß von der Psychologie selbst die Fachsprachen bearbeitet worden wären. Verlassen wir hier die Technik wieder und wenden uns der Sprachwissenschaft zu. Zuvor noch ein Blick auf die (über die Dialektologie) mit der Sprachwissenschaft enger verbundene Volkskunde: Sie hat die Terminologie in den sie interessierenden Sachgebieten oft sehr genau gesammelt (Möhn 1967), ohne über einen wortbezogenen Ansatz eigentlich hinauszukommen. Immerhin haben hier traditionell die engsten Beziehungen zur Sprachwissenschaft bestanden, ja gerade im Forschungsgebiet Fachsprachen hat die Sprachwissenschaft eine reliktorientierte Schwerpunktsetzung mit der Volkskunde geteilt. Die Sprachwissenschaft selbst, speziell die Germanistik, hat sich von ihrem wort- und reliktbezogenen Fachsprachen-Ansatz seit J . G r i m m (Vorrede zum Wörterbuch [vgl. Möhn 1968]) bis zu A. Schirmers erstem programmatischen und zusammenstellenden Aufsatz (in G R M 1912) nur wenig entfernt. Zwar kritisiert Schirmer die gerade im Blick auf den Fachwortschatz problematische Haltung Grimms zu den Fremdwörtern, aber die grundsätzliche lexikologisch-lexikographische Methode wird undiskutiert fortgesetzt (vgl. v. Hahn 1981 und v. Hahn 1979). Die Dialektgeographie stützt sich weitgehend (von Desideraten wie bei Möhn 1 9 6 7 abgesehen) auf ein gemeinsprachlich/fachsprachliches Mischmaterial ohne die Notwendigkeit zur Differenzierung zu sehen und ohne über einen, wenn auch z.T. gesellschaftlich einbettenden lexikologischen Ansatz hinauszukommen.

10

Entwicklungslinien der Fachsprachenforschung

Später, d. h. ab Anfang der sechziger Jahre, wird, ausgehend vom terminologischen, dann begrifflichen Zweifel an „ F a c h s p r a c h e n " das Problem der Fachsyntax wenigstens erkannt. Noch 1 9 6 8 hält D . M ö h n „es für verfrüht zu sagen, daß die Fachsprachen im Grunde nur aus Fachterminologie bestehen, und Fragen der Syntax ausschließen" (Möhn 1968). Seit der Mitte der siebziger Jahre (noch L. Hoffmann 1976 sieht sich vor einem fast unbearbeiteten Feld) kamen auf dem Gebiet der Strukturbeschreibung von Fachsprachen auch Fragen der Texteigenschaften an die Oberfläche, erst in jüngster Zeit ist das allgemeine pragmatische Interesse der Linguistik auch auf die Fachsprachen ausgedehnt worden (z.B. Brinckmann 1975) und führt hier zu einer Reformulierung von früher beschriebenen Eigenschaften vor dem Hintergrund handlungstheoretischer Konzepte (zur neueren Forschungsentwicklung vgl. v. Hahn 1981). Heute wird das Phänomen Fachsprache innerhalb der Sprachwissenschaften) vorwiegend in den folgenden Fachgebieten behandelt: — — -

Angewandte Linguistik (z. B. Übersetzung, Terminologie) Systematische Linguistik (z. B. Pragmatik, Syntax) Soziolinguistik (z.B. betriebl. Kommunikation) Stilistik (z. B. Verständlichkeit, Abfassungstechniken)

Eine Entwicklung in der Fachsprachenforschung ist daneben auch in methodischen Fragen sichtbar geworden durch ihre Einstellung zu den Daten, die zunächst relativ wahllos und disparat erhoben wurden. Erste Einschränkungen zur Verläßlichkeit aller Datentypen stammen schon aus der Dialektgeographie, wo etwa der historische Abstand zu einer abgefragten Terminologie oder Großstadtnähe als kritische Argumente aufgeführt werden. Heute erst beginnt sich ein stärkeres Bewußtsein für Datentypen (vgl. Littmann 1981 und Kapitel 2, S . 5 4 f f . ) und Quellenmaterial durchzusetzen, ein Bewußtsein, das z.B. in so anregenden Publikationen wie Petöfi/Podlech/v. Savigny 1975) noch vergeblich gesucht wird. Den deutlichsten Fortschritt ist die insgesamt von starkem Beharrungsvermögen gekennzeichnete Fachsprachenforschung im Begriff zu machen durch die Einbettung ihres Gegenstandes in große-

Entwicklungslinien der Fachsprachenforschung

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re Sach- und Forschungszusammenhänge und durch interdisziplinäre Perspektiven. Die Beschäftigung mit Implikationen etwa aus Wissenschaftstheorie, Didaktik, Informatik, Soziologie, Psychologie ist ein deutliches Signal, aber auch das Ergebnis der sich im Laufe ihrer Geschichte ständig erweiternden Forschung, die von einer lexikologischen Sammeltätigkeit ausgehend, heute die kommunikativen Voraussetzungen, Prozesse und Wirkungen in den vielgestaltigen Zusammenhängen von Arbeit beschreibt und analysiert. In einer ironischen Rekursion wird dabei die Fachsprachenforschung selbst von der Offenheit und den ungelösten Problemen ihres Gegenstandes getroffen: Die relative Inkonsistenz linguistischer Terminologie und die Inkompatibilität der verschiedenen speziellen, d.h. auf Teilphänomene begrenzten linguistischen Theorien und wissenschaftstheoretisch gebundenen Schulen hat oft genug auch in der Fachsprachenforschung zur Verwirrung geführt. Man denke nur an die sich verhängnisvoll überlagernden Termini „Wort", „Name" und „Benennung" (z.B. Schnegelsberg 1977), oder aus der „Fachsprache der Fachsprachenforschung" an die Kollision von „Fachsprache", „Fachwortschatz" und „Fachstil", die, wie Hoffmann (L. Hoffmann 1976) zeigte, viel Verwirrung gestiftet hat. So bietet ein Blick auf die Fachsprachenforschung eine beachtliche Streuung aber auch eine beachtliche Unsicherheit selbst in grundlegenden Fragen der Bestimmung des Gegenstandsbereichs und der Methoden (Kalverkämper 1980). Vordringliche Ziele der Forschung (vgl. auch Hoffmann 1982) sollten m. E. zunächst sein, — kommunikativ orientierte Analysen von fachlich gebundenen Sprachzusammenhängen zu liefern, die die Sprachwirklichkeit in typischen modernen Handlungszusammenhängen nicht nur der Industrie und Technik erheben, -

auf einem wisschenschaftlichen Niveau zu arbeiten, das dem allgemeinen linguistischen ungefähr entspricht. Erst dann kann in größerem Umfang auch die „gemeinsprachliche" Linguistik von den Ergebnissen der fachsprachlichen Forschung beeinflußt werden; etwa in der Hinsicht, daß Sprachmaterial von ihr auf seine Fachsprachlichkeit hin überhaupt deklariert wird und die

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Zur Geschichte der deutschen Fachliteratur

Fiktion „gesamtsprachlicher" Daten hinterfragt werden kann (Littmann 1979). — eine pragmatisch orientierte Fachsprachentheorie oder Ansätze dazu zu liefern. Hier läßt sich erstmals eine solidere Grundlage für Einzeluntersuchungen schaffen und vielleicht auch die Fachsprachlichkeit vorliegender allgemeiner pragmatischer Theorien beurteilen, deren handlungstheoretische Exemplifizierungen sehr häufig auf fachsprachliche Äußerungen zurückgreifen.

2. Zur Geschichte der deutschen Fachliteratur Die geschichtliche Entwicklung der Fachsprachen ist extrem ungleichmäßig untersucht. Liegen für das Mittelalter noch recht gute Beschreibungen einzelner Quellen sowie eine vorläufige Überschau (Eis 1960 sowie Assion 1973) vor, so ist für die frühe Neuzeit kaum etwas bekannt. Wir versuchen im folgenden, das ails verschiedensten Studien, oft nur Hinweisen, Erhebbare für eine gleichmäßigere Untersuchung auszubreiten. Den Charakter einer ausgewogenen Übersicht konnten wir dabei freilich nicht annähernd erreichen. Wir wollen nur einen ersten Schritt tun, gemäß unserer im Vorwort ausgedrückten Absicht, weniger Desiderate nur zu benennen, sondern Fortschritte zu versuchen. Trotzdem ist in weiten Teilen nur eine Geschichte der Bedingungen und Umgebungen von Fachliteratur zustande gekommen.

2.1 Anfänge Der Beginn der Fachsprachen-Geschichte ist zwar in der sprachhistorischen Sekundärliteratur häufiger zu orten versucht worden, (Bach 1965, §§43, 53, 66) liegt aber dann meist im „vorliterarischen Dunkel" und ihr erstes Auftreten wird abhängig von wirtschafts-, technik-, und sozialgeschichtlichen Voraussetzungen erschlossen. („Ohne Frage aber haben etwa die Schmiede bereits ihren eigenen der Allgemeinheit weniger vertrauten Wortschatz besessen, ebenso das Recht", Bach §43). Die Problematik solcher Versuche liegt vor allem darin, daß sich in ihnen zum einen die Definitionsfrage von Fachsprache in kaum

Anfänge

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aufzulösender Komplexität stellt und zweitens, daß solche Versuche über ihr Erkenntnisinteresse meist wenig Auskunft geben können. Darüber hinaus setzt man mit der Suche nach dem „Beginn" der deutschen Fachsprache durch die Kennzeichnung „Deutsch" in einen Zeitpunkt (500-800) ein, der zumindest technikgeschichtlich keinen Wendepunkt darstellt. Die Herausbildung handwerklicher Techniken liegt unangebbar weit zurück und sozialgeschichtlich läßt sich allenfalls die Bildung größerer politischer Einheiten (seit der Merowinger-Herrschaft) auch kommunikationsgeschichtlich als neues Faktum werten. Allerdings ist dieser Einfluß bei genauerer Prüfung wohl nur zweitrangig gegenüber der sehr viel früher liegenden kommunikationsgeschichtlichen Wende der Völkerwanderung und dem traditionsgeschichtlich und im Blick auf die Schriftlichkeit viel weiterreichenden Faktum der Christianisierung. Eher sinnvoll erscheint es, nach den ersten fachsprachlichen Quellen der deutschen Sprache zu fragen. G. Eis (Eis 1960) hat indes diese Frage bezeichnenderweise nicht gestellt. Denn auch diese Frage führt zu recht willkürlichen Daten und setzt in ein Kontinuum einen Terminus, dessen Verteidigung kaum gelingen kann. Nehmen wir etwa die Person Notkers des Deutschen (Labeo) (~ 950—1022): Zwar stellen seine Ubersetzungen lateinischer Fachschriften einen bedeutsamen Punkt in der deutschen Literaturgeschichte dar, aber durchaus keinen Anfangspunkt. Einerseits sind uns gerade von Notkers Verdeutschungen nur die wenigsten erhalten, über ihre Existenz wissen wir nur durch seinen Brief an Bischof Hugo von Sitten (gegen 1015). Die erhaltenen sind andererseits nicht gerade typische Fachschriften. So etwa die Schrift „de syllogismis", am ehesten fachsprachlich ist das Fragment „de musica". Gerade für diese beiden Schriften ist die Autorschaft Notkers aber nicht bewiesen, wenn auch wahrscheinlich. Die kleine Schrift „de musica" umfaßt nicht einmal 2300 Wörter und seine Teile „de monochordo", „de octo tonis", „de tetrachordis", „de octo modis" und „de mensura fistularum organicarum" sind Fragmente, die wohl aus einem größeren verlorenen Werk stammen, (einer umfangreicheren Vorlage), vielleicht nicht einmal in diese Reihenfolge gehören.

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Zur Geschichte der deutschen Fachliteratur

Gerade was den Fachwortschatz angeht, so sind diese Fragmente aber fast ein Gegenbeispiel für den Beginn einer deutschen Fachsprache:

Uuizitt därmite. dáz an démo sánge dero stimmo. échert stben

uuéhsela sínt. die virgilius héizet Septem discrimina vocum únde diu

áhtoda in qualitate diu sélba ist. so diu érista. Föne diu sint an dero lirün. únde án dero rótün io siben Seiten. (Piper, 1882, 853)

Der Text aus Notkers „de música" (de octo tonis, Zeile 5—10) läßt den Schluß zu, daß die entscheidenden Fachwörter lateinisch benutzt wurden und nur der „Beitext" aus pädagogischen Gründen deutsch dargeboten wurde, (Sonderegger 1980). Die musikalische, d. h. musiktheoretische Kunst als solche war eine lateinische Kunst, eine Tatsache, die sich für die musiktheoretischen Teile sogar noch bei Virdung 1511 nachweisen läßt. Von einem Dokument deutscher Fachsprache zu reden, erscheint also als recht kühn, wir befinden uns durchaus noch in einer Übergangszeit, auch wenn wir vom Bestehen anderer, vielleicht weniger vom lateinischen abhängigen Fächer ausgehen. Bachs Aussage, „um 800 wird im ahd. Isidor die geschriebene deutsche Sprache zum erstenmal für wissenschaftliche Zwecke angewandt" (Bach 1965, § 86) stellt die Sachverhalte auch entschiedener dar, als es der Glossencharakter, die damalige Auffassung von Wissenschaft und die zu vermutenden Gebrauchszusammenhänge derselben eigentlich zulassen. Zurück zu Notkers Schriften. Wir dürfen nicht übersehen, daß die fachlich weitaus wichtigeren Schriften, z. B. seine Arithmetik, lateinisch abgefaßt waren und eine ganz starke hier auch nachweisbare Abhängigkeit von spätantiken Quellen zeigten. Diese Schriften stellen die überwältigende Mehrzahl dar. Eggers (Eggers 1963, Bd. I, 222) trägt hierzu einen wichtigen Gedanken bei, den er für die frühen deutschen Lehnwörter geltend macht, der aber in gleicher Weise für das Verhältnis vom Lateinischen zum Deutschen gilt: Bei den ahd. Schriftstellern bestehe eine auffällige Abneigung gegen alte Lehnwörter wie pflanzon, fruht und andere. Eine Begründung dafür könne sein, daß diese Ausdrücke schon früh in eine Fachsprache der Gärtnerei, damit aber in den

Anfänge

15

Sprachgebrauch des „einfältigen Bruders Gärtner in jedem Kloster" eingeflossen seien. Diese Verwendungsumgebung disqualifiziere aber solche Wörter für den Gebrauch in der „Sprache der Gebildeten in der Schreibstube". Ganz sicher war auch die Latinität einer Terminologie ein Qualitätsausweis, und der Erfolg des Lernens einer Kunst konnte u. a. auch am Grad der Beherrschung der lateinischen Terminologie abgelesen werden. So wenig sich dabei soziologische Hintergründe explizit nachweisen lassen, so sehr müssen wir mit ihnen rechnen, besonders mit der Außenkommunikation mit der zunächst ausschließlich an Klöster gebundenen Schriftlichkeit. Notkers Stellung bei der Einführung von deutschen Fachtexten wird, besonders wenn wir den allgemeinen literaturhistorischen Kontext mitlesen, dadurch keineswegs geschmälert. In der Zeit vor seinen Schriften ist die Überlieferung spärlich. In Frage kommen allenfalls die bei Eis (Eis 1 9 6 0 , 1 1 8 4 . Dort auch alle weiterführende Literatur.) genannten Basler Rezepte (um 8 0 0 in Fulda) gegen Fieber und krebsartige Geschwulste. Von diesen Texten dürften sehr viele ähnliche existiert haben. Erhebbar ist wegen ihrer gattungsmäßigen Nähe zu Segen und Zauber vorwiegend der Bestand an Krankheits- und Arzneinamen (Tiere und Pflanzen bzw. deren Teile). Einen weiteren indirekten Weg kann man zur Erweiterung des fachsprachlichen Bildes gehen: Bei Einbeziehung der Glossen ergibt sich vom Material her ein wesentlich reicheres Bild als bei der Beschränkung auf vollständige Texte im eigentlichen Sinne. Diese sehr frühe deutsche lexikographische „Literatur" bildet zweifellos einige Ansatzpunkte für die Rekonstruktion der Lage der Fachliteratur insofern, als die Glossierungsaktivitäten etwa zu Isidors „de homine et partibus ejus" durch Walahfrid einer praktischen Notwendigkeit entsprungen sein müssen. Bei diesen vor 850 entstandenen Körperteil-Glossen wie auch bei den fachlich unspezifischen Glossen, die als „Abrogans" (790) und „Vocabularius Sti. Galli" (790/800) bekannt geworden sind, liegt die Vermutung nahe, daß sie bereits eine Art Wissenschafts-Vermittlungsprozeß darstellen. Zwar vermittelt hier nicht der Wissenschaftler sein Fachwissen selbst und schon gar nicht an nichtwissenschaftliche Laien (im

16

Z u r Geschichte der deutschen Fachliteratur

Gegensatz zu späteren Wissenschaftstransferprozessen), aber es wird fachliches Schrifttum einer veränderten sprachlichen und sachlichen Umgebung angepaßt: Zum eigenen Gebrauch und zum Gebrauch anderer werden unbekannte Terminologie-Teile vermittelt, sei es, daß sie wegen der Komplexität des Sachgebiets unbekannt waren, sei es, daß es sich um einen nicht lebendigen spätantiken Traditionszweig handelte. Einen anderen indirekten Weg geht G. Eis (Eis 1960, 1113), indem er die Interpretation eines der ältesten literarischen Zeugnisse des Deutschen, nämlich des „Wurmsegens", an ein fachliches Hintergrundverständnis bindet. Manches wird dadurch klarer und die Eingliederung dieses Denkmals in eine fachliterarische Reihe, z. B. der Arzneiliteratur, ergibt eine weitertragende Perspektive als nur die Sicht auf die altdeutsche Segen- und Zauberspruch-Gattung. Das Bestehen einer parallelen Fachsprache zu diesem Sachgebiet wird dadurch plausibel. Aus dem 11. Jahrhundert liegen außer den Notker-Schriften dann noch eine Zahl von fachlich orientierten Schriften vor, unter denen ein Physiologus-Fragment (um 1070) und allenfalls geographisch Einschlägiges im „Merigarto" zu nennen ist; außerdem das sog. „Summarium Heinrici" (um 1010), in dem auch Fachwörter vorkommen. Besonders diese Sammlung, die in Handschriften bis ins 16. Jahrhundert überliefert ist, verführt dazu, Aussagen über den Stand der mittelalterlichen Fachsprachen zu extrapolieren. Zweifellos sind die hier vorkommenden Fachwörter nicht aktuelle Neuschöpfungen, sondern gehen auf einen noch nicht aufgezeichneten Gebrauch zurück. Aber Umfang und Fächerbreite des damals an Fachsprache Vorhandenen ist nicht zu erschließen. Sicher geht das Material aber über das (oben zitierte) bei Bach (Bach 1965, § 43) genannte hinaus und erschöpft sich auch nicht in der bei Eggers immer wieder aufgeführten klösterlichen Gärtnersprache, (Eggers 1963, Band I, 222). Das von der literarischen Wirkung und der Gattung her interessanteste Zeugnis ist ohne Zweifel das Physiologus-Fragment, das aber nur ein kleiner Zweig des mächtigen literarischen Baums „Physiologus" ist, ein Traditionsbaum, der die ganze Spätantike und das Mittelalter überwölbt. An diesem Literaturwerk kann man man-

Das 12. Jahrhundert

17

ches Allgemeine über das Wesen der Fachliteratur im Mittelalter studieren. Wir folgen hier, wie an vielen Stellen, wieder G. Eis (Eis 1 9 6 0 , 1115 f.): „Den Einteilungsgesichtspunkt für diese Denkmäler (Fachschrifttum i. e. S., v. Hahn) liefert uns das mittelalterliche System der Wissenschaften oder — wie man damals sagte — „Künste". Wollte man neuzeitliche Gesichtspunkte zur Einteilung heranziehen, so müßte man dem Stoff Gewalt antun und käme trotzdem zu keiner befriedigenden Lösung. So wäre es z. B. ganz falsch, die mittelalterlichen Steinbücher als mineralogisches Schrifttum zu bezeichnen, denn das Mittelalter besaß noch keine Wissenschaft von den Mineralien um ihrer selbst willen." Der Physiologus wäre als Zoologie ebenso gründlich mißverstanden. Zwar ist diese allegorische Darstellung „geglaubte Wirklichkeit" der Natur (De Boor 1 9 6 2 , 1 2 8 / 1 2 9 ) , aber der Sinn des Textes ist ein theologischer. Sein Gegenstand ist primär die Mitteilung von kirchlichem Glaubensgut aus der Erlösungslehre und Moraltheologie. Es ist daher nicht nur falsch, die neuzeitliche Wissenschaftsgliederung in das Mittelalter zurückzuprojizieren, sondern auch unzulässig, innerhalb der Artes-Hierarchie, z.B. unter „Rhetoriken" stets dasselbe in einer diachronischen Reihe von 1000 Jahren zu verstehen. Wie wir später noch zeigen werden (S- 48 ff.), hat das vor allem erhebliche Konsequenzen für die Beurteilung von Textsorten und Quellen. So kann der Physiologus durchaus als ein Text der Theorie über der praktischen Wirklichkeit angesehen werden, wenn auch die Theorie ganz anderer Natur war als spätere wissenschaftliche Theorien und - vor allem - auf ganz andere Art zustande kam.

2.2 Das 12. Jahrhundert Der „Physiologus" ist dann auch eines der dominierenden Werke des 12. Jahrhunderts. Umfangreichere Versionen in Versen und in Prosa liegen jetzt vor. Jahrhundertelang ist der Physiologus ein immer wieder abgeschriebenes und dann auch abgedrucktes Standardwerk. Entsprechend reichhaltig ist der Anteil an deutschen Tierbezeichnungen. 2

Hahn, Fachkommunikation

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Zur Geschichte der deutschen Fachliteratur

Etwa 900 Tier-, Pflanzen- und Steinbezeichnungen sind uns auch überliefert aus den lateinischen Werken der Hildegard von Bingen. Interessantes Wortgut bietet daneben besonders der erste Teil (Schöpfung des Vaters) des „Lucidarius", einer Weltbeschreibung vor stark theologischem Hintergrund, die gegen 1190—1195 verfaßt wurde. Auch hier ist natürlich eine starke Abhängigkeit von lateinischen Vorlagen festzustellen. Das schmälert nicht, sondern begründet fast die unglaubliche literarische Wirkung dieses Werkes, dessen Traditionsgeschichte noch heute wegen der Materialfülle kaum überschaubar ist. Eis (Eis 1960, 1129) sieht im Lucidarius das zentrale fachsprachliche Werk des 12. Jahrhunderts. Einen tieferen Einblick in die lokale Praxis der Zeit bieten die aus diesem Jahrhundert zahlreicher überlieferten Rezepte. (Eis 1962, 61 ff. zur Gattung) Sie konkretisieren sich im 12. Jahrhundert zu Arzneibüchern, einer Textsorte die schon eine längere Geschichte durchlaufen hat. (Eis 1960, 1184) Zu nennen sind vor allem das Prüler Arzneibuch und das Innsbrucker Arzneibuch. Einem anderen Traditionsstrang gehört das Bamberger Arzneibuch an. Als frühe Zeugnisse einer mathematischen Fachsprache können einige ,präarithmetische' Notizen gelten, die in andere Handschriften eingestreut sind. (Eis 1960, 1136) Aus dem 12. Jahrhundert ist außerdem eine gegenüber dem vorausgegangenen Jahrhundert schon höhere Zahl an deutschen (d.h. deutschsprachigen) Urkunden nachgewiesen. Freilich geht die Zahl der Urkunden überhaupt deutlich nach oben, da in diesem Jahrhundert der Ubergang von einer eher mündlichen Rechtsabwicklung zur schriftlichen vollzogen wurde, (Eggers 1963, Band II, 26) vom Zeugenbeweis wird zum Urkundenbeweis übergegangen. Aber auch die Zahl der deutschen Urkunden steigt, wenn auch erst im 14. Jahrhundert eine wirklich starke Verschiebung der Prozentsätze sichtbar wird. Unter fachlichem Aspekt sind diese Quellen teilweise rechtlich von Interesse, nur in geringem Umfang übertragen die Urkunden Fachwörter der Sachen, die sie betreffen (Streitobjekte etc.).

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2.3 Das 13. Jahrhundert Das 13.Jahrhundert hat auf dem Gebiet des Rechts und der Urkunden einen bedeutenden Markstein in der deutschen Fassung des Mainzer Landfriedensgesetzes. 1235 wurde dieses Gesetz in zwei gleichberechtigten Fassungen - lateinisch und deutsch — gegeben. Das erste Mal wird hier ein offizielles Dokument in deutscher Sprache abgefaßt. Kaiser Friedrich II. hat überhaupt auf die Entfaltung der Fachliteratur indirekt großen Einfluß genommen durch seine prononciert reichs- und diesseitsbezogene Ideologie, die das Klima einer neuen Aufgeschlossenheit gegenüber der Wissenschaft verbreitete. Ein Vorklang der Renaissance ist dieses Bewußtsein oft genannt worden und gerade von Friedrich II. ist ein ungewöhnlicher Wissensdrang auf Gebieten des Quadriviums überliefert. (Grundmann 1 9 7 0 , 4 6 1 ) Hinzu kommt als sich entwikkelnde staatliche Organisationsform eine Frühform des zentralisierten Beamtenstaats mit bürgerlichen Beamten. Die Einführung direkter Steuern und eines stehenden Heeres sind Entwicklungsdaten dieser Epoche. Die damit aufgebauten ständigen Organisationsstrukturen brachten einen erhöhten berufsbezogenen Informationsbedarf mit sich, von dessen Befriedigung wir allerdings nichts mehr wissen, vor allem nichts darüber, wie hoch der deutsche sowie fachsprachliche Anteil gewesen ist. Ein zweites markantes Faktum des deutschen Rechtswesens im 13. Jahrhundert war der „Sachsenspiegel" des Eike von Repgow, eine Rechtsquelle erster Ordnung, dessen Wirkung auf juristischer wie sprachlicher Ebene kaum zu überschätzen ist. Die Entwicklung einer deutschen Rechtssprache ist damit eingeleitet; allerdings ist die Bedeutung des Deutschen insgesamt gegenüber dem Latein noch auf lange Zeit hinaus zweitrangig und die Abfassung des Sachsenspiegels auf deutsch war alles andere als eine Frage des Bedarfs. Erst auf ausdrücklichen Wunsch des Grafen Hoyer von Falkenstein wurde die Mühe unternommen: do ducht in daz zu swere daz her iz an dutisch wände heißt es in der Vorrede (vgl. Eggers 1963, Band III, 2 6 f.). Einer der größten Köpfe des 13. Jahrhunderts, Albertus Magnus, darf, obwohl er selbst nur lateinisch schrieb, ebenfalls als wichtiger Auslöser deutscher Fachliteratur gelten. Er war es, der den Zugang 2*

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zu Aristoteles wieder öffnete, der besonders die naturwissenschaftlichen Schriften wieder bekannt machte. In welchen Zeitgeist hinein er das tat, zeigt das noch 1210 augesprochene AristotelesVerbot in Paris. Durch Alberts Tätigkeitsfeld in Deutschland (Köln, Regensburg) stand er auch den deutschen klösterlichen Kreisen wesentlich näher als französische oder italienische Wissenschaftler seiner Zeit, wenn auch die europäische Mobilität insgesamt erstaunlich groß war. Ein anderer im 13. Jahrhundert verlängerter Traditionsstrang der Fachliteratur ist der der medizinischen Schriften. In Volmars gereimtem Steinbuch (Eis 1960, 1185, Assion 1973) ( - 1 2 5 0 ) , der Chirurgie von Nikolaus von Polen (vor 1278) und dem 1282 von Hildegard von Hürnheim verfaßten „secretum secretorum", einer Schrift aus der pseudoaristotelischen Tradition, setzt sich das Bemühen um ein Sammeln und Bewahren der Erkenntnisse der Medizin fort. Ein für die ganze spätmittelalterliche deutschsprachige Medizin grundlegendes Werk, das ständige Erweiterungen erfuhr, liegt in Handschriften seit dem 13. Jahrhundert vor: die „Praktik" des Meister Bartholomäus. Die deutschen Bearbeitungen gehen auf Prosaschriften der Salernitanischen Schule zurück. Dasselbe gilt für die Vorlage der in Deutschland in zahllosen Handschriften vorliegenden Schrift „de conservanda bona valetudine". Beide Bücher haben noch im 16. Jahrhundert hohes Ansehen. Als Seitenstück zu dieser Literatur, mit teilweise verblüffenden inhaltlichen Parallelen, hatte Meister Albrants „Roßarzneibuch" (entstanden noch vor der Mitte des 13. Jahrhundert) einen ungeahnten Einfluß auf die Veterinärliteratur bis hinauf ins 19. Jahrhundert. (Eis 1960, 1181). Von der Textsorte her werfen die nachfolgend genannten Schriften ein deutliches Licht auf die pragmatische Einbettung so mancher anderer Schrift der Zeit: Bruns von Schonebeck Partien über die Planeten im „Hohen Lied" (Eis 1960, 1141, auch für das Folgende), Heinrich Frauenlobs Astronomische Lehrgedichte (~ 1290) und die deutsche Versbearbeitung von Jacobus de Cessols Schachbuch (noch aus dem 13. Jahrhundert). Diese Schriften lassen erneut erkennen, daß nicht die sachliche Information, die wissenschaftli-

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che Durchdringung oder der Anwendungsbezug einer Technik das Entscheidende für den Benutzer dieser Literatur waren, sondern ein Teil Unterhaltung, ein Teil Spekulation und ein großes Teil Einbindung in pragmatisch wieder ganz anders bestimmtes geistiges Material der Philosophie und vor allem der Theologie. Nur eines war es nicht: Technisch-wissenschaftliches Schrifttum zum optimierten Erreichen z.B. eines instrumenteil bestimmten Ziels. Was für den Physiologus schon genannt wurde, gilt hier weiterhin. Ganz aus der Praxis und zwar aus einem Feld, das zunehmend an Bedeutung gewinnt, stammt ein Kieler Bruchstück aus kaufmännischer Buchhaltung (Ende des 13.Jahrhunderts). Sicher ist diese Quelle als historischer terminus unbedeutend, denn Handelsunterlagen sind schon seit längerem angelegt worden (Rörig 1928 b, 218/220). Rörig weist darauf hin, daß seit Mitte des 13. Jahrhunderts der Ostseekaufmann seinen Betrieb auf Schriftlichkeit aufbaute. Gleichzeitig weist er nach, wie enorm die Verluste an Urkunden gerade auf diesem Gebiet sind und wie wenig repräsentativ die Daten der zufällig erhaltenen Stücke sind. Die Entwicklung des Handels war in dieser Zeit noch weit weniger gehemmt als in der territorialen Aufgliederung des 14. Jahrhunderts. Dagegen hat dieses Bruchstück seine Bedeutung in der Demonstration einer weiteren ganz eigenen Textform, eines literarisch nicht vorkommenden Formulars, während viele frühere Quellen in poetisch-literarischen Formen auftraten, z.B. der Lucidarius und die Traktate. Vorher ist nur die Textform Rezept als typisch fachsprachlich belegt. Aber auch dabei ist zu berücksichtigen, daß der Übergang zwischen Segens- und Zaubersprüchen zu den Rezepten fließend ist und daher der genuine fachsprachliche Charakter der Rezepte nicht ohne weiteres behauptet werden kann. Allerdings sind die deutschsprachigen Anteile des Kieler Buchhaltungsfragments gering, wie überhaupt die Kürze der Urkunde eine weitere Relativierung bringt. Umgekehrt ist aber in den ersten dann später auftauchenden Handlungsbüchern (Holzschuher, Warendorp [Rörig 1928 a], Wittenborg [Mollwo zitiert in Rörig 1928 a, 167]) das Latein so unsicher und so wenig geläufig, daß mit einer großen Nähe zur Muttersprache gerechnet werden muß.

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2 . 4 Das 14. Jahrhundert Die Textsorte der Handlungsbücher ist auch im 14. Jahrhundert mit dem genannten Handlungsbuch der Holzschuher aus Nürnberg belegt (Chroust/Proesler 1934). Es kann inzwischen als das älteste dieser Art gelten. Die Fachwörter bieten neben den aus Städte- und Landschaftsnamen abgeleiteten Warenbezeichnungen einen guten Einblick in die Fachsprache; aus dem Textilbereich ist z. B. dort zu finden: cladertuch, distelsait fanden, forton, futertuch, gugelfuter, gugelir, hostuch, kolth, daneben aber auch opus varium oder pallium. Die Selbstverständlichkeit, mit der hier implizite Ausdrücke wie mitteler als Tuchbezeichnung nach der Qualität benutzt wird, zeigt übrigens die tiefe Verwurzelung von situationsgebundenen Verkürzungen in der fachsprachlichen Kommunikation. Eine Schwierigkeit bei der fachsprachlichen Würdigung solcher Quellen gibt natürlich ihr indirekter fachlicher Charakter auf: Der Wortschatz entstammt dem Warenbereich, das Textformular dem Praxisbereich des Handels, ohne daß dieses Formular je explizit vereinbart oder gar kommentiert worden wäre. Der Rückgriff auf eine Textilfachsprache ist damit höchst unsicher, wenn auch durchaus legitim (vgl. v. Hahn 1971, 18). Andererseits repräsentieren die Handlungsbücher noch keine deutsche Fachsprache des Handels, aus Mangel an spezifischer Organisation sowie fehlendem exklusivem terminologischen Bedürfnis. In einer etwas besseren Lage sind wir bei den städtischen Handwerksurkunden, wie sie für die fragliche Zeit etwa im Satzungsbuch (A) der Stadt München (Dirr 1934) (1295-1350) vorliegen: [184] Wir wellen: so man den loden von dem webaer trag, daz er hab 84 pfunt und daz alt drum 42 Ib, das lembrein drum 36 pfunt. Und soll man hundert eilen zu dem loden wurcben..." Solche Passagen sind in Zusammenarbeit mit den Fachleuten verfaßt und stellen schon vom Text her etwas dar, das in engem Zusammenhang mit der kommunikativen Wirklichkeit des Textilfachs selbst steht. Aus der Sicht eines engeren Fachverständnisses ist die Textil-Fachsprache hier allerdings stark durch die Urkundensprache überformt (v. Hahn 1971, 14).

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Urkunden solcher Art finden sich seit dieser Zeit, vor allem dann im 16.Jahrhundert, häufig (vgl. etwa Nübling 1890). Bis zum 18. Jahrhundert hin treten sogar gedruckte Handwerksordnungen auf. Im Bereich der Natursicht im weiteren Sinne entstehen im M . J a h r hundert einige bedeutende Schriften: Konrads von Megenberg „Buch der Natur", das auf eine lateinische Schrift des AlbertusSchülers Thomas von Chantimpre zurückgeht. Es behandelt den Menschen, den Himmel, die Tiere, die Bäume, Kräuter, Edelsteine, die Metalle und zuletzt die wunderbaren Brunnen. Mit Recht sieht man (Eis 1 9 6 0 , 1109) in dieser Schrift eine bedeutende Quelle für die mittelalterliche Fachsprachenforschung, wenn auch ihr Entstehen und ihre Benutzung keinen Bezug zu fachlichen Tätigkeiten hatte, wie das z. B. für die Handwerksordnungen unbedingt gilt. Die fachsprachlich-praktische Verwurzelung kann aber in einem darüber weit hinausweisenden Sinne gelten für das „Pelzbuch" des Gottfried von Franken, das Ende des 14. Jahrhunderts in deutschen Fassungen erhalten ist. Es behandelt Baumpflege und Obstverwertung, Rebenzucht und Kellermeisterei. „Besonders bemerkenswert ist, daß er auch bereits wirkliche Experimente durchführte, um bestimmte Gedanken praktisch zu erproben." (Eis 1960, 1171). Der Einfluß dieser Schrift ist bis ins 19. Jahrhundert zu verfolgen und erfaßt ganz Europa. Übrigens sind seit dem 14. Jahrhundert auch Kochbücher überliefert. (Eis 1960, 1171). Mit einem theorie- und experimentfernen Praxisbewußtsein ist das am Ende des 14. Jahrhunderts entstandene mittelniederdeutsche „Seebuch" geschrieben worden. „Das Seebuch ist die wertvollste Quelle für unsere Kenntnis des mittelalterlichen seemännischen Lebens und der Seemannssprache in Norddeutschland." (Eis 1960, 1161). Der Inhalt befaßt sich mit der Seefahrt an den europäischen Westküsten. Ein Gegenstand, der durch das Aufblühen der Hanse eine besondere Aktualität hatte. Hatten wir bei den Handlungsbüchern und deren Vorläufern erstmals ein fachsprachliches Originaldokument aus dem fachlichen Handlungszusammenhang vor uns, so erlaubt das Seebuch

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von den bisher besprochenen Quellen erstmals vorsichtige Rückschlüsse auf Eigenschaften der gesprochenen Fachsprache des Seewesens, da es ausgiebig zusammenhängenden Text bietet. Ploss (Ploss 1962, vergl. auch Eis 1960, 1148) behandelt in sehr geschickter kultur- und technikgeschichtlicher Einbettung Färberrezepte der Zeit, in denen z. T. auch der Werkstattcharakter deutlich zutage tritt, zumal die Färberei nicht wie die benachbarte Alchemie ein Geheimhaltungsinteresse am Fachwissen hatte. So sind auch die Namen der Verfasser, wenn sie überliefert sind, eher als Herkunftsbezeichnungen anzunehmen, während in der Alchemie wie in der Medizin der Verfassername als Autoritätsbeweis galt; eine ganze Reihe von Schriften werden bekannten und nicht in Zweifel zu ziehenden Fachgrößen unterschoben. So die Schrift „de secretis mulierum", für die Konrad von Megenberg als Autor unterschoben wird. Deutsche Handschriften davon existieren seit etwa 1380. Noch im 14.Jahrhundert erscheinen auch weitere für die Entwicklung der Medizin wichtige Schriften: deutsche Bearbeitungen des schon vorher in lateinisch weit verbreiteten „macer floridus" und das von des Meister Bartholomäus „Praktik" stark abhängige Bremer Arzneibuch des Arnold Doneldey (1382), das durch seine mittelniederdeutsche Sprache eine gewisse Sonderstellung einnimmt. Nicht zuletzt ist es das Arzneibuch des Ortolf von Bayerland, das eine erhebliche Wirkung in seiner Literaturgattung hat. Gegen Ende des 14. Jahrhunderts werden die ersten Schriften aus dem Kriegshandwerk in deutscher Sprache verfaßt. In mehreren Handschriften ist überliefert die „Kunst des langen Schwertes" des Johannes Lichtenauer sowie zahlreiche Büchsenmeisterbücher. (Eis 1960, 1157). Im übrigen ist auch der für die Schweizerische Geschichte sehr wichtige Sempacher Brief von 1383 als Quelle militärischen Wortguts auszuwerten. Wenn in diesen historisch fortschreitenden Abschnitten vor allem die jeweils neu auftretenden Textsorten und erstmals deutsch abgehandelten Sachgebiete in kurzer Folge vorkommen, so darf natürlich nicht vergessen werden, daß die vorher entstandene Literatur mit ihren spezifischen Traditionen weiter entfaltet wird und nach wie vor z. B. lateinisch-deutsche Vokabularien, die wir in

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Abschnitt 2.1 besprochen haben, in großer Blüte stehen. Muß man schon sicher annehmen, daß in den meisten Fällen die uns überlieferten Handschriften nicht die frühesten ihrer Gattung sind, so kommt hinzu, daß auch die Zeit, bis sie allgemein bekannt wurden und auch außerhalb der Bildungszentren zu Bedeutung kamen, unvergleichlich viel länger war als seit der Erfindung des Buchdruckes oder gar bei der Medienindustrie der Gegenwart.

2.5 Das 15.Jahrhundert Das 15.Jahrhundert ist für die Entwicklung von Fachsprachen besonders wichtig, da der auch in Deutschland um sich greifende Humanismus eine ganz neue Sicht von Natur, Geist und Wissenschaft mit sich brachte, und so die damals entstandenen wissenschaftlichen und technischen Schriften weiter in die Nähe neuzeitlicher Auffassungen z. B. über Theorie und Methode rückte. Symptome sind eine langsame Abkehr vom Traditionalismus und die erste Entwicklung einer privaten städtischen Buchkultur (Hartmann Schedel in Nürnberg, Willibald Pirckheimer und Konrad Peutinger in Augsburg, Jacob Wimpheling u. a.), ein Zeichen zudem für einen veränderten Teilnehmerkreis an Wissenschaft und Technik. Die um die Jahrhundertwende zum 16. Jahrhundert angelegte Privatbibliothek des Beatus Rhenanus in Schlettstadt ist einzig vollständig erhalten (Vorstius 1954, 27). Der Hintergrund für diese Buchkultur war aber die Erfindung des Buchdrucks, der etwa 1445 (Fragment vom Weltgericht) erste technische Erfolge hatte (Funke 1963, 77). Die darauf einsetzende dramatische Entwicklung des Buchwesens innerhalb von nur 5 0 Jahren war die entscheidende Grundlage für eine rasche Ausbreitung des Wissens in Europa. Wie häufiger bei derartigen technischen Entwicklungen ist der Beginn des Buchdrucks aber auch als Konsequenz einer schon lange angelegten kommunikationstechnischen Entwicklung zu sehen (Hiller/Strauß 1962, 15 und 23 f.). Schon 1425 bis 1467 hatte der Schullehrer Diebold Lauber einen ausgedehnten SchreibstubenBetrieb in Hagenau im Elsaß. Mehrere Abschreiber saßen jeweils zugleich an einem Werk und die Handschriften gingen in alle deutsche Lande. Belegt sind seine Abschriften von Solothurn bis an

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den Niederrhein. Von ihm ist das erste deutsche Werbeblatt erhalten. Um 1450 verteilt er ein Bücherverzeichnis mit den bei ihm erhältlichen Titeln. Demgegenüber ist übrigens das erste Werbeblatt eines Druckers (durch Schöffer 1469/70) lateinisch abgefaßt und bei weitem nicht so reichhaltig. Diese Schreibstuben- und frühe Verlagsarbeit zeigt, daß die Multiplikationsformen für Wissensträger an den Rand ihrer Kapazität gelangt waren und schnellere wie rationellere Formen gefunden werden mußten. Experimentiert wurde vor Gutenberg schon länger, da der Buchdruck ein Desideratum ersten Ranges war. So ist verständlich, daß zunächst die literarischen Massenartikel gedruckt werden. Zu ihnen gehören aber auch schon Dinge, die in die Richtung von fachlicher Kommunikation gehen: 1457 ein Aderlaß- und Laxierkalender aus der Werkstatt Gutenbergs, 1474 Bartholomäus Metlingers, „wie die kind in gesuntheit und in krankheiten gehalten werden sollen", 1485 eine Ausgabe des „Gart der Gesundheit" von Johann Wonnecke, dessen lateinische Fassung nur ein Jahr zuvor ebenfalls, und zwar bei Schöffer in Mainz, gedruckt worden war. Im selben Jahr erscheint bei Sporer in Erfurt ein Visierbüchlein. Weitaus wichtiger aus inhaltlicher Sicht sind natürlich zunächst noch immer die handschriftlichen Quellen. Gerade auf dem medizinischen Sektor sind z. B. die Schriften des Ulrich Eilenbog von einer praxisorientierten Beobachtungsgabe gekennzeichnet, die manches bisher Geschriebene überholt oder ergänzt. (Verfasserlexikon) Die „Dudesche Arstedie", das sogenannte Gothaer Arzneibuch, ist ein wichtiger Zeuge in der Reihe der niederdeutschen Bartholomäus-Tradition. Um 1420 schrieb der bis ins 18. Jahrhundert hinein zitierte Peter von Ulm eine deutsche „Cirurgia" (Eis 1960, 1194). Häufiger werden im 15. Jahrhundert die „regimina" gegen Pest und Syphilis. Die Pest hatte nach der großen Epidemie 1347—52 immer wieder ganze Landstriche verödet und die Syphilis war nach der Entdeckung Amerikas eingeschleppt worden. Beispiele der zahllosen Schriften sind Hans Rosenbuschs Pestregimen und Joseph Grünbecks Schrift über die Syphilis (Eis 1960, 1196). Eine der wichtigsten Figuren der Medizin des 15. Jahrhunderts ist Siegmund Albich von Prag, der Leibarzt Kaiser Wenzels, dessen

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„Vetularius", um 1450 lateinisch verfaßt und vermutlich von seinen Schülern ins Deutsche übersetzt, lange zu den wichtigen Schriften über das Altern gehörte. Bemerkenswert ist seine Unabhängigkeit von den Vorbildern (Eis 1960, 1190). Bezeichnend für den Stand der Literatur ist die Trennung der Fachgebiete innerhalb der Medizin, die wenigstens schon aus folgenden Teilgebieten besteht: Allgemeine Medizin, Frauenheilkunde, Kinderheilkunde, Beschwernisse des Alters, Wundversorgung, Zahnmedizin. Hinzu kommen ausgebreitete Gebiete der Epidemie-Rezept-Literatur. Zwar haben die Ärzte gewöhnlich noch alle Gebiete zusammen vertreten, aber die Differenzierung auch des Berufsbildes (und damit der Fachliteratur) setzt z. B. mit den Badern und Wundärzten ein. Im Gebiet der naturwissenschaftlich-technischen Schriften sind die „tabulae directionum" und der sogenannte „Kalender" des Johannes Regiomontanus (d. i. Johannes Müller) von besonderer Bedeutung. Erstere waren in der Nautik sehr wichtig, das letztere war mehr populären Charakters und fußte auf seiner lateinischen Schrift „Ephemerides" (1473). Eine „Geometria Culmensis" wurde gegen Ende des Jahrhunderts im Auftrage des Deutschen Ordens zur Landvermessung verfaßt. Der „Algorismus de minutiis" des Johannes Keck führt in die Bruchrechnung ein. Zwei große alchemistische Werke, in deutscher Sprache, das „Buch der heiligen Dreifaltigkeit" des Almannus sowie die „Alchymey teuczsch" von Niklas Jankowitz, Michel Prapach und Michel Wülfing entstehen im 15. Jahrhundert. Diese „Alchymey teuczsch" ist ein sehr gutes Beispiel für die Verschlüsselung der AlchemieLiteratur. Der stark induktive Charakter dieser von Spekulation und Analogiedenken durchzogenen Wissenschaft steht einem experimentellen praxisbezogenen Traditionszweig gegenüber, zu dem im 14./15. Jahrhundert z.B. folgende Verfasser (mit Schriften über gebrannte Wasser) gehören: Gabriel von Lebenstein, Michael Puff von Schrick und Kaspar Griessenpeckh. Griessenpeckh stellt die Wirkungen der gebrannten Wässer in Tabellenform zusammen und liefert damit einen frühen Beitrag zur Textform der wissenschaftlich-technischen Berichte, die deutlich der Praxis des Nach-

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schlagens und schnellen Intormierens zugewandt ist, aber auch den Sinn für eine formale Regelmäßigkeit im Gegenstandsbereich verrät. Schriften aus Handel und Wirtschaft wie die Wirtschaftsbücher des Deutschen Ritterordens (~ 1400) und Ott Rulands Handlungsbuch (1444 ff.) beweisen eine weitere Entwicklung der Schriftlichkeit im Handel. Ott Rulands Handlungsbuch bietet gegenüber dem Buch der Holzschuher schon etwas mehr deutsche Warenbezeichnungen. Die komplizierter werdende kaufmännische Rechnung gibt Anlaß zu praktisch-mathematischen Schriften wie denen Ulrich Wagners (1482), Heinrich Petzensteiners und schließlich das später noch häufiger gedruckte des Johann Widmann von Eger mit dem Titel „Behende und hübsche Rechnung auf alle Kauffmannschafft". Aus dem Bauwesen liegen die ersten deutschen Schriften vor, die über bloße Rechnungen hinausgehen. Zu nennen sind v. a. die Nürnberger Baubücher (1441 ff.), „die ein anschauliches Bild von den vielfältigen Aufgaben des Bauamts vermitteln; sie geben nicht nur über Löhne, Arbeitszeiten, Materialbeschaffung u. dergl. Auskunft, sondern enthalten auch Verträge, Eidformeln, (Beschreibungen von) Straßen, Brunnen, Feuerlöschwesen und vieles andere" (Eis 1960, 1152). Eine spezielle bautechnische Schrift druckte Matthäus Roritzer 1486 mit seinem „Puechlen von der fialen gerechtigkait". Es kann als die erste Fachschrift der Architektur in deutscher Sprache gelten. Ende des 15.Jahrhunderts wird eine sehr einflußreiche Schrift, Petrus de Crescentiis „ruralia commoda" von 1305 (!) ins Deutsche übersetzt und unter dem Titel „von dem Nutz der Dinge, die in Ackern gebaut werden" herausgegeben. Noch vor Ulrich Rüleins „Bergbüchlein" (1505) ist von L. Eglitzau „Ein Articul Puech auf ain Jedes Pergckwerch gemacht..." überliefert, dem bergmännisches Wortgut zu entnehmen ist. In losem Zusammenhang damit steht die Überlieferung der Walenbücher, Beschreibungen, wie man Gold und Edelsteine findet. Den Fachquellen im eigentlichen Sinn sind sie allerdings wegen des starken alchemistischen Einschlags schwer zuzuordnen (Eis 1960, 1151).

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Im Militärwesen ist neben den Schriften der Lichtenauer-Schüler (Eis 1960, 1200) das Nürnberger Zeughaus-Inventar des Konrad Gürtler aus dem Jahr 1462 zu nennen, aus dem die Waffen- und Ausrüstungsterminologie der Zeit in vorher nicht überlieferter Breite zu erheben ist.

2.6 Das 16. und 17. Jahrhundert Es läßt sich charakterisieren als die Zeit der ersten fachsprachlichen Krise des Deutschen und zugleich der Ausweitung und Transformation seiner Textsorten. Zur Stützung dieser Aussage müssen wir etwas weiter in kommunikationstechnische und -geschichtliche Veränderungen der Zeit ausgreifen. Die seit dem ausgehenden Mittelalter stark zunehmende Spezialisierung der Handwerke und Berufe (wir folgen in den wirtschaftsund technikgeschichtlichen Aspekten Treue 1 9 7 0 a und Timm 1964), einhergehend mit der mehr lokalwirtschaftlichen Dimensionierung seit dem Niedergang Venedigs und danach der Hanse (Treue 1970 a, 4 6 5 ff. und die dort angegebene Literatur), wird gleichwohl noch in den Organisationsformen der überschaubaren und eindimensionalen Werkstätten aufgefangen. Auch das Zunftwesen ist zunächst, was die fachliche Kommunikation angeht, noch vorwiegend mündlich organisiert. Aber gerade diese mündliche und lokale Form führt zu großen Schwierigkeiten, weil Kräfte der Abstraktion von der Spezialisierung und Lokalisierung von Arbeit mehr und mehr wirksam werden. Etwa ist die Erfindung und Entwicklung von allgemeiner benutzbaren Maschinen eine solche Gegenentwicklung (1560 verbesserte Drehbank, seit 16. Jahrhundert (Wasser-)Kraftmaschinen). Solche Maschinen produzieren erstmals kein Endprodukt. Langsam wird in fortgeschritteneren Gegenden auch die Arbeit in einzelne Schritte zerlegt und verschiedenen Personen anvertraut. Die weiter entwickelte Buchhaltung erzeugt ihre Spezialliteratur, z. B. Grammateus' (d. i. Heinrich Schreiber) „Buchhalten durch das Zornal, Kaps und Schuldtbuch auff alle Kauffmannschafft". Erfurt 1 5 2 3 , als Anhang eines kaufmännischen Rechenbuchs. Das Kapitel zur Errichtung größerer Betriebe ist nicht mehr fachgebunden und wird öfter auf Anteilschein-Basis beschafft (z.B. schon früh im

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Bergwesen). Wesentliche Verbesserungen kommen nicht mehr nur aus der Werkstatt-Praxis, sondern wieder mehr von allgemein technologisch orientierten Forschern (im 16. und 17. Jahrhundert zumal aus dem Ausland: Bacon, Descartes, Galilei, Harvey etc.). Es entsteht das Bedürfnis, über die Erfindungen überhaupt einen Überblick zu gewinnen. So wird die Schrift „de inventoribus rerum" des Polydorus Vergilius schon 1537 auf deutsch gedruckt. Diese Gesamtentwicklung führt zu einem plötzlichen Kommunikationsbedarf, der nicht mehr persönlich mündlich abgedeckt werden kann. Wissen über neueste technische und wissenschaftliche Entwicklungen muß in großem Maßstab beschafft werden, ohne daß der Weg über das individuelle mündliche Anlernen gegangen werden muß. Der Buchdruck war die technische Voraussetzung, Art und Anlage der Schriften folgt dieser Dynamik. Besonders die technischen Bücher wandeln sich innerhalb von 80 Jahren. Das Beispiel aus dem Hüttenwesen (Treue 1970 a, 462 dort genaue Nachweise) ist symptomatisch: 1480 1505 1518 1557

Darstellung im „Hausbuch" Rülein von Kalbe „Bergbüchlein" ff. „Probierbüchlein" G. Agricola „Vom Bergwerk"

Parallel dazu verläuft die Geschichte des erzgebirgischen Hüttenwesens mit ihren aus dem Boden gewachsenen „Großbetrieben": 1470 werden Funde aus Schneeberg bekannt. Dann werden innerhalb kürzester Zeit Verlage, Hütten, Orte und Städte gegründet, bis gegen 1580 die Quellen ausgeschürft sind und vielfach eine Verarmung der Gegend einsetzt. Solche Bücher zur Wissensübertragung sind zunächst recht zufällig und ohne systematischen Anspruch geschrieben, aber sie entstehen unter einem deutlichen Zwang zur Abstraktion. Ein schönes Beispiel ist: Erhard Weigel, Vorstellung der Kunst- und Handwercke / nebst einem kurtzen Begriff des Mechanischen Heb- und Ruest-Zeugs. Samt einem Anhang / welcher Gestalt so wohl der gemeinen Leibes=Nothdurfft/als des Gemueths-Wohlfarth und Gelehrsamkeit selbst/durch die Wissenschaft der Mechanischen Künste geholfen werden möge. Auf Veranlassung des im Mertzen dieses

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Jahrs erschienenen Neuen Cometen unmaßgeblich entworffen. Jena 1680. Ganz deutlich ist hier der Gedanke der Überschau und der verallgemeinernden Zusammenfassung ausgeprägt. Betrachtet man vergleichend das Messewesen, so ist, etwa in Frankfurt/Main zu Anfang des 16. Jahrhunderts ein deutlicher Übergang von der kleingewerblichen Schau zur Großhändlermesse unter geringerer Berücksichtigung der lokalen Gewerbe, Maße, Gewichte, Valuten und Rohstoffe festzustellen. Deutlich wird das schon im Titel von Lorenz Meders Handel Buch darin angezeigt wird, welcher Gestalt in den fürnembsten Handelstetten Europe, allerhand Wahren anfencklich kaufft, dieselbig wieder mit nutz verkaufft, . . . [Manuscript 1537, später öfter gedruckt]. In Leipzig wird dreimal im Jahr eine neu gegründete international zu nennende Messe abgehalten. Die Bewältigung des Organisations- und Kommunikationsaufwandes ist nur schriftlich und in festen Formen möglich. Seit 1540 gibt es Börsen in Nürnberg und Augsburg, wo mit erheblichem Anfall an Schriftstücken Papiere gehandelt werden. Eine deutliche Stabilisierung im Geldverkehr brachte im 16. Jahrhundert die neu gegründete Hamburger GiroBank, eine Einrichtung, die ohne umfangreiche schriftliche Unterlagen keine Existenzgrundlage gehabt hätte. Zwar wurden die Kommunikationsbedürfnisse gewiß durch den stark zur Geltung kommenden Buchdruck geweckt und gefördert (vgl. auch S. 2 5 f.). Aber es bleibt zu betonen, daß nach wie vor der Buchdruck zunächst vorwiegend im Dienste des Lateinischen steht (Bach 1965, § 117 und die dort zitierte Literatur). 1518 erscheinen insgesamt nur 150 deutsche Drucke. 1519 sind es 2 6 0 , gegen 1525 sind es schon rund 1000. Bach gibt für 1570 noch einen lateinischen Anteil von 70 % an allen Drucken an. Der Buchdruck seinerseits wurde ab 1554 in Meßverzeichnissen katalogähnlich zusammengestellt. Die deutschen Werke bilden zunächst nur einen Anhang. Der Aufschwung des Drucks hatte aber seinerseits wieder den Aufbau von Papiermühlen im Gefolge, dessen Entwicklung in Deutschland rapide ist: 1502 entsteht die erste, um 1600 sind es bereits über 2 0 0 .

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Aber auch die landesherrliche Verwaltung und Nutzung der im Aufbau begriffenen Techniken (geschildert etwa in: Georg Andreas Böcklers „Theatrum machinarum novum. Schauplatz der mechanischen Künsten von Mühl- und Wasserwercken", Nürnberg 1661) brachten einen neuerlichen Kommunikationsschub. Man förderte Forschung und Wissenschaft, denn das Interesse an Technik und Wissenschaft gehörte zur gehobenen Attitüde. Die ersten wichtigen oeconomischen Schriften entstehen: Hungers „Gärten und Pflanzungen mit wundersamer Zierd artlicher und seltsamer Verimpfung . . . Wes sich ein Hausvater mit seiner Arbeit das Jahr über alle Monat insonderheit halten soll" 1530 und Johann Colerus' „Oeconomia oder Hausbuch" 1593 ff. Solche Attitüde hatte überdies durchaus finanzielle Ergebnisse und wurde schon vor dem 30jährigen Krieg eine auch militärisch notwendige Investition, da das technische Kriegsgerät und die abstrakten Organisationsfragen immer größeres Gewicht für den Stand eines Staats erhielten. Im Gefolge der Landesherren oder unter ihrem Schutz in privater Inititative arbeitend, entwickelte sich nach den Hausvätern dann die Gruppe der Kameralisten, mit einer prätechnologischen, stark Buch- und schriftorientierten, aber von konkreten Produktionsoder Handelsaufgaben abstrahierenden Mentalität. „Sie waren Volks- und Privatwirte zugleich, beamtete Berater der Fürsten, Lehrer künftiger Beamter, Verfasser von frühen, im Vokabular armen, im Ausdruck unbeholfenen Technologien und anderen Schriften, Polizeiwissenschaftler, erste Systematik anstrebende Land- und Forstwirte in einer von der unsystematischen und kleinräumigen ,Hausväterliteratur' beherrschten Zeit" (Treue 1970 a, 494). Typische Vertreter waren etwa J. J. Becher mit seinem „Politischen Discurs, von den eigentlichen Ursachen des Auff- und Abnehmens der Staedt, Laender und Republicken", Frankfurt/Main 1668, später dann J. G. v. Justi. Vor dem Hintergrund dieser oft noch immer diffusen Kenntnisse wurden von Landesvätern später im 17.Jahrhundert z.B. Arbeitshäuser zur Eindämmung von Laster und Kriminalität eingerichtet. Daß deren wirtschaftlicher Erfolg meist gering war, spricht auch deutlich für die Langsamkeit, mit der solche Institutionen techni-

Das 16. und 17. Jahrhundert

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sehe Verfahren übernehmen konnten. Ein ähnliches Los hatten die früh „aus fürstlicher Liebhaberei, Großmannssucht oder Gewinnstreben" (Treue 1970 a, 458) gegründeten Manufakturen. Der fürstliche Dilettantismus, die für solche Aufgaben nicht vorbereitete Beamtenschaft und der zunächst durchaus noch provinzielle Charakter der Kameralisten-Literatur verurteilte die meisten dieser Manufakturen zum Scheitern (Ein relativ gutes Beispiel einer auf Manufakturen bezogenen Literatur ist noch Daniel Krügers „Schola textoria nova" 1688, die, trotz des lateinischen Titels, deutsch abgefaßt ist). Gesehen wurde allerdings die Aufgabe einer ständigen Information über die Entwicklung der Technik in Europa (und langsam auch über die Ressourcen in Ubersee). In sehr vielen Territorien setzte eine Reorganisation der Verwaltung und des Beamtentums ein, wodurch die — meist schriftlichen — Informationsformen und -wege festgelegt wurden. 1501 wird bei Froschauer in Augsburg herausgegeben: „Formulari vnd teutsch rhetorica wie man briefen und reden sol", Ende des Jahrhunderts sind schon feste Textformen in solchen „Briefstellern" vorhanden: „New Formular, Teutsch, Allerlei Schreiben, Als Instrument . . . Sendbrieff, Anlaß, Compost, T e s t a m e n t . . . " (Humpert 1937, Nr. 12 497). Die Festlegung des „Dienstweges" ist eine bis in diese Zeit zurückverfolgbare informationstechnische Voraussetzung höherer Verwaltungsformen, die fest mit der Schriftlichkeit verbunden ist. In der Medizin entstehen schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts die weit verbreiteten Schriften des Eucharius Röslein, der mit dem deutschen „Hebammenbüchlein" aber vor allem mit „Der schwangeren Frauen Rosengarten" Straßburg 1513 entscheidenden Anteil an der Ausbreitung einer deutschen medizinischen Fachsprache hat. Eine ebenso wichtige Stellung nimmt die „Groß-Schützener Gesundheitslehre" (vgl. Eis 1960, 1188) ein, die 1525 auf dem Gebiet der Diätetik erscheint. Die Medizin gibt den Anlaß, das erste deutsche gedruckte Fachvokabular zu verfassen: Laurentius Fries publiziert 1514 zu Straßburg die „Synonyma und gerecht usslegung der Wörter so man in der arzney allen Kräutern zuschreibt". Später sind es die Schriften des Paracelsus, die Adam von Bodenstein zu seinem „Onomasti3

Hahn, Fachkommunikation

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Zur Geschichte der deutschen Fachliteratur

con, eigene Auslegung etzlicher Wörter und Präparierungen" (Basel 1578) veranlassen. Im Gefolge erscheint Leonhard Thurneyßer zum Thums „Onomasticum oder Erklerung über etliche unbekannte Nomina", Berlin 1583. In den Naturwissenschaften ist die deutschsprachige Mathematik des Adam Ries(e) „Rechnung auff der Linihen" (1518) und „Rechenung auff der Linihen und Federn" (1522) als wichtigster und weittragender Impuls zu nennen. Albrecht Dürers „Underweysung der Messung mit dem zirckel und richtscheyt" (1525) sowie „Etliche underricht zu befestigung der stett, schloß vnd Flecken" (1527) und Joh. Keplers „Visierbüchlein" sind nennenswerte Beiträge zur Entwicklung der Fachsprachen. Einen inhaltlichen wie sprachlichen Markstein setzt 1511 Sebastian Virdungs „Musica getutscht", ein frühes eigenständiges deutsches Musikwerk (in Form eines Dialogs). Nun wird dieser allgemeine Informationsbedarf freilich bei weitem immer noch nicht allein auf deutsch befriedigt. Die Wissenschaft, soweit sie, sieht man von den Quadrivium-Nachfolgern ab, an der Philosophie orientiert war, wurde nach wie vor lateinisch abgehandelt. Zwar erweitert sich im 17. Jahrhundert langsam der Anteil praktischer und angewandter Wissenschaft und wegen der Umsetzung in die Praxis damit auch der Bedarf an deutschen Schriften, das Experiment als wichtigste Methode der Naturwissenschaft steht in hohem Ansehen. Davon wird aber die Dominanz des Latein zunächst nicht berührt. Paracelsus hält 1526 in Basel erste deutsche Vorlesungen; aber diese Tatsache ist ein krasser Einzelfall ohne breite Wirkung, der Versuch schlägt fehl. Insgesamt kann also von einer repräsentativen Breite des deutschen Fachschrifttums noch keinesfalls die Rede sein. Die Breitenwirkung des Deutschen als Fachsprache wächst aber kontinuierlich, nicht zuletzt durch das allgemeine bürgerliche Interesse an der Natur: Seit 1623 werden „Naturforschende Gesellschaften" gegründet (Rostock, Nürnberg, Erfurt, Danzig, Hamburg, Schweinfurt), deren Kommunikation mit der Wissenschaft nicht nur durch ihre wissenschaftlichen Mitglieder und durch Vorträge, sondern auch durch die Herausgabe von Fachzeitschrif-

Das 18. Jahrhundert

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ten vonstatten ging. 1689 erschienenen in Leipzig die „Monatlichen Erzehlungen allerhand künstlicher und natürlicher Curiösitäten", wenn auch zunächst nur für kurze Zeit, 1708 Joh. Gottfr. Meerheims „Discurs curiöser Sachen, insonderheit Hermetischer, Philosophischer, Physikalischer, Medizinischer und anderer Wissenschaften" ebenfalls in Leipzig. 1775 erschienen dann die ersten Monatsschriften der 1700 gegründeten Akademie zu Berlin. Die wachsende Zahl technisch-naturkundlicher Erfindungen und Entdeckungen (der oben zitierte E. Weigel hatte schon seiner „Vorstellung der Kunst- und Handwerke" ein „Erfindungsregister" beigegeben) zieht eine weitere schriftliche Kommunikationsnotwendigkeit nach sich: Den Erfinderschutz und das frühe Patentwesen. In Kursachsen und vereinzelt im Reichsgebiet werden seit dem 16. Jahrhundert patentähnliche Schriften verfaßt, die erst 1815 zu einer allgemeinen gesetzlichen Regelung in Preußen führen. 2 . 7 Das 1 8 . Jahrhundert Das 18. Jahrhundert steht im Zeichen der Herausbildung der modernen Fachsprachen durch Entwicklung der typisch neuzeitlichen Organisationsformen von Technik und Wissenschaft. Die technisch-wirtschaftliche Entwicklung strebt sehr bald von der Organisationsform des „Verlegens" zu den „Manufakturen". Halle (Joh. Sam. Halle, Werkstäte der heutigen Künste, oder die neue Kunsthistorie. Erster Band Brandenburg und Leipzig 1761, 361) bemerkt dazu 1761: „ Unter dem "Worte Manufaktur ist man gewohnt, diejenigen neueren Waaren zu verstehen, welche von Privatpersonen, die nicht unter Zünften stehen, verfertigt werden, und wozu merenteils ein Kaufmann den Verlag hergibt, die Aufsicht führt, und daraus derselbe den Nuzzen für seine Person zieht. Hierher gehören die Materien der Seide, Baumwolle, das Flachses u. s. w. Sobald man aber das Feuer und den Hammer zu den Metallen gebraucht, bekommen dergleichen Privatanstalten den Namen einer Fabrike ". Treue faßt zusammen: „Unzünftige, weiterverarbeitende, vorindustrielle, zentralisierte, innerbetrieblich arbeitsteilige Großbetriebe mit mindestens 10 Arbeitern unter Vorherrschaft der Handarbeit" (Treue 1970 a, 520). 3*

36

Zur Geschichte der deutschen Fachliteratur

In dieser Begriffsbestimmung Treues ist schon ein für diese Wirtschaftsform konstitutives Kommunikations- und Informationsnetz mitgefaßt: Absprache mit den vorherigen und nachfolgenden Bearbeitern, Berichtsabhängigkeit durch innerbetriebliche Hierarchie, Organisationsaufgaben in einer Hand unabhängig von der Produktion. War die Mobilität von Wissen bislang garantiert allein durch Reisen, Handel und Kurierwesen, so wird jetzt durch eine starke Verdichtung des Postnetzes die Kommunikation erheblich vereinfacht. Dieses Postnetz stellt auch insofern wieder eine Verallgemeinerung dar, als es von jedem benutzt werden kann und nicht wie vielfach bisher, branchenspezifisch aufgebaut ist. Nach 1750 wird, erstmals seit etwa 1500, wieder ein qualitativer Sprung im Straßenbau möglich. 1788 wird die erste Staatschaussee von Magdeburg nach Leipzig gebaut. 1781 werden Straßenverwaltungen eingerichtet. In der Folge bilden sich Chausseebau-Aktiengesellschaften. Damit wächst langsam der Grundstock der ausschließlich mit kommunikativen Leistungen befaßten Berufe und Organisationen heran, die für die Neuzeit eine zentrale Bedeutung erhalten. Handel und Technik rücken langsam in den Kreis der Wissenschaften auf und produzieren frühwissenschaftliches Schrifttum: Ökonomie wird seit 1727 als wissenschaftliches Fach an der Universität Halle gelehrt. 1777 führt J.J.Beckmann die Technologie (Zur Wortgeschichte: Seibicke 1968) als Fach in Göttingen ein. Eine unterstützende Initiative ist die Gründung von Realschulen (1745 Collegium Carolinum in Braunschweig), in denen, gegenüber der bisherigen Konstruktion mit Lateinschulen und Gymnasium, eine eher praktisch orientierte Ausbildung angestrebt wird. Auch im Gymnasium machen sich im übrigen jetzt Tendenzen zum Gebrauch des Deutschen bemerkbar. Die Chemie löst sich im 18.Jahrhundert von der Alchemie und entwickelt langsam eine rationale, zunächst lateinische Terminologie. Als ein Markstein kann hierbei die Entwicklung der Phlogiston-Theorie 1702 gelten. Schon ab 1750 entsteht eine frühe chemische Industrie, die dann vollends auf deutsche Fachliteratur angewiesen ist. Erneut zeigt sich, daß Organisation und Verwaltung auf allen Ebenen den neuen Verflechtungen von Handel, Produktion, Wis-

Das 18. Jahrhundert

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senschaft und Politik durch die bisherige lokale und branchengebundene Praxis nicht gewachsen sind. Rechts- und Organisationsfragen in Handel und Wirtschaft stellen sich erstmals in ihrer ganzen Allgemeinheit. Symptomatisch ist die Reorganisation der Preußischen Verwaltung von 1722/23 und der Departmentsgliederung. Sie ist zweifellos Folge von, aber auch Ursache für ernste Informationsprobleme bei der politischen Entscheidungsfindung. J.B. v. Rohr legt 1716 den Grund für ein modernes Wirtschaftsrecht. Auch auf der Literatur-Ebene stellt sich das Problem der Organisation der Benutzung. Tertiäre Techniken werden auch da ausgebaut: Ab 1751 erscheinen die ersten Fachbibliographien, wie Zincke, Georg Heinrich, Cameralisten-Bibliothek, worinne nebst der Anleitung, die Cameralwissenschaft zu lehren und zu lernen, ein vollständiges Verzeichnis der Bücher und Schriften von der Land- und Stadt-Oeconomie . . . zu finden, . . . Leipzig 1751. Moser, Johann Jacob, Gesammelte und zu gemeinnützigen Gebrauch eingerichtete Bibliothec von Oeconomischen-Cameral-Policey-Handlungs-Manufactur-Mechanischen und Bergwercks Gesetzen Schriften und kleinen Abhandlungen. Ulm 1758. Bergius, Johann Heinrich Ludwig, Cameralisten-Bibliothek oder vollständiges Verzeichnis derjenigen Bücher, Schriften und Abhandlungen, welche von dem Oeconomie-, Policey-, Finanz- und Cameralwesen . . . handeln. Nürnberg 1762. Schon vor der großen französischen „Encyclopédie raisonné" von Diderot und d'Alembert, die in ganz Europa einen kaum zu überschätzenden Einfluß auf die Fachliteratur hatte, entstehen in Deutschland Enzyklopädien (vgl. Zischka 1959) oder Vorläufer dazu. So mit größerem Umfang: Großes vollständiges 1732—54.

Universallexikon.

Halle

und

Leipzig

Dieses Werk wird häufig nach dem Verleger Johann Heinrich Zedier benannt und umfaßte 64 Bände sowie 4 Supplement-Bände. Das zuvor schon erschienene Lexikon Jablonski, Johann Theodorus, Allgemeines Lexicon der Künste und Wissenschaften. Königsberg und Leipzig 1721. 2 Bände

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Zur Geschichte der deutschen Fachliteratur

ist stark abhängig von dem 1694 erschienenen Dictionnaire des arts et des sciences von Thomas Corneille (dem Bruder des Dichters C.). Nach dem Vorbild von Diderot und d'Alembert projektierte dann Johann Georg Krünitz eine „Oeconomisch-technologische Enzyclopädie", die 1773 begonnen wurde und die er selbst bis zum Band 75 (bis zum Stichwort „Leiche") bearbeitete. 1858 erst war das gigantische Unternehmen, dann schon konzeptionell überaltert, mit 242 Bänden abgeschlossen. Bezeichnend ist, daß das nachfolgende lexikalische Großunternehmen, die „Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste" von Samuel Ersch und Johann Gottfried Gruber (von 1818 bis 1889) in streng wissenschaftlicher Ausarbeitung vorangetrieben wurde, dann aber nach Fertigstellung der Artikel A — Ligatur und 0 bis Phyxios mit 167 Bänden aufgegeben wurde. Wie schon bei Krünitz, dessen letzte Bände kaum Beachtung fanden, ist der Grund ein pragmatischer. Noch bei der Projektierung des ,Krünitz1 hätte niemandem das Gegenargument der Unhandlichkeit eingeleuchtet, ebensowenig war das Fortschreiten des Wissens und der Wissenschaften ein wirklich gravierender Einwand. Denn der vorauszusehende Standort des „Krünitz" waren Bibliotheken, die Benutzer Wissenschaftler, meist aber Beamte und privatisierende hochgestellte Personen. Der Wert wissenschaftlicher Literatur nahm erst etwa nach 50 bis 80 Jahren, und auch dann nur langsam ab, so daß ein Überholtwerden kaum zu befürchten war. Beide Argumente erreichten aber in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts große Wichtigkeit. Die technische Literatur wurde dann vorwiegend bei der Aus- und Weiterbildung, in den Fabriken und Labors, am Arbeitsplatz benötigt. Der Wert der kameralistischen Literatur des 18. Jahrhunderts war schon um 1830 völlig dahin, die früher einmal in eine ähnliche Rezeptionsumgebung entworfene Hausväter-Literatur und gar die Textsorte der Rezepte war ausschließlich auf den Privatbereich beschränkt. Im 18. Jahrhundert war dann auch das im 19. Jahrhundert stark vergrößerte kommunikative Netz im Umfeld der Arbeit prinzipiell ausgebildet:

Das 1 8 . Jahrhundert

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HANDEL VERLAG

WERBUNG

.„„,,„ BESTELLER

MITARBEITERVERHALTUNG

WEITERVERARBEITUNG

i *

AUSBILDUNG WEITERBILDUNG

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BILDUNG STAATLICHE INSTANZEN

Abb. 1. Umfeld der Arbeit

Eine Differenzierung dieser Grafik für ein Fachgebiet und nach den folgenden Kriterien wäre wünschenswert, ist aber bei dem gegenwärtigen Forschungsstand nicht zu leisten: — Aufkommen der kommunikativen Notwendigkeit der jeweiligen Tätigkeit (z.B. Zünfte seit 15.Jahrhundert), damit erster und zunächst mündlicher Bewältigung — ggf. schriftliche Fixierung ohne Rücksicht auf die Sprache (z. B. Doppelte Buchführung im 15. Jahrhundert) — erste deutsche Texte (z.B. Notker, de musica 1020) — erste erhaltene deutsche Quellen (z. B. Weberinventar des Jorg Hainrich 1548 [v. Hahn 1971, 18]) — erster Druck (z.B. Textform der Tabellen: Sprengel 1767 [Sprengel, Peter Nathan, Handwerke und Künste in Tabellen. Berlin 1 7 6 7 - 1 7 7 7 ] ) Ein gänzlich neuer Zug tritt im 18. Jahrhundert in der Fachliteratur zutage: Man entdeckt einen historischen Abstand zur älteren Fach-

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Zur Geschichte der deutschen Fachliteratur

terminologie und empfindet erstmals das Phänomen Fachsprache als kommunikatives Hindernis (bei völligem Fehlen von hermetischen Absichten derselben). „Auch muß zu achten, erinnert werden, daß man überall die lateinischen Terminos Technicos, oder Kunst-Wörter, behalten, da sich doch jetzo ihrer viele angelegen seyn lassen, solche in ihren Schrifften teutsch zu geben welches, gewissen Umständen nach, auch nicht zu schelten. Hier ist es geschehen (1) weil selbige schon so weit üblich sind, daß einjeder Künstler und Handwercker, der mit dergleichen Dingen umgehet, solche meist verstehet, und durch ungewöhnliche teutsche Benennungen nur confus werden würde, wie etwa schon passiret. Ferner (2) da solche Leute auch andere dergleichen Schrifften lesen wollen und sollen, die der lateinischen Terminorum sich bedienen, wird es ihnen desto leichter sein solche zu verstehen. (3) da die Mathematici, Gelehrte und andere KunstVerständige auch also reden, würden sie von Künstlern oder Handwercks-Leuthen nicht so leichte verstanden werden. Man hat aber um besserer Deutlichkeit willen meist allezeit das teutsche Wort oder Erklährung mit beygesetztet, damit beydes erkandt, und nicht so leichte vergessen wird, auch vielfältig sich mehr als einer Benennung aus eben dieser Ursachen bedienet, und also mit Fleiß Tavtologien einfließen lassen.", (Leupold, Jacob, Theatrum Machinarum Generale. Leipzig 1724, 10. Vorblatt) „... und mich nach Beschaffenheit derer Umstände, Kunstwörter bedienen, theils, weil sie von denen Arbeitern besser verstanden werden, theils weil diejenigen, die, als Aufseher über die Manufakturen, die Arbeiter anführen sollen, sie eben so gut, wie diese, verstehen müssen." (Nachricht von denen Manufakturen derer Tücher und anderer wollener Zeuge. Dresden und Leipzig 1765, S.VI) „Die Ursache, warum sich einige Schriftsteller verschiedener Nationen die Mühe gegeben haben, genaue Beschreibungen der mechanischen Künste und Handwerke zu machen, ist wohl hauptsächlich diese, daß ... Gelehrte ... sich nicht allein einen vollkommenen Begriff von den verschiedenen Arbeiten ... machen können, sondern auch die Sprache der Professionisten verstehen lernen; denn es ist bekannt, daß wenn man ein Zuhörer eines Gesprächs

Das 18. Jahrhundert

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einiger Professionisten ist, welches sie von ihren Beschäftigungen führen, man dasselbe fast gar nicht verstehen, oder aus dem Zusammenhang desselben sich keinen rechten Begriff machen kann. Sie gebrauchen nemlich Redensarten, welche außer ihnen niemand versteht, folglich ist man auch niemals im Stande von den Dingen wovon unter ihnen die Rede ist, sich eine deutliche Vorstel-

lung zu machen", (Jacobsson, Johann Carl Gottfried, Schauplatz der Zeugmanufakturen in Deutschland, das ist: Beschreibung aller Leinen= Baumwollen= Wollen= und Seidenwürcker= Arbeiten, vornehmlich wie sie in den Königlich-Preußischen und Churfürstlich-Brandenburgischen Landen verfertigt werden. Berlin 1 7 7 3 - 7 6 , Band I, S.VIII).

„Reißt ihnen während dem Waschen, ein Wickel, so nennen sie solches einen Engländer. Sie haben mir darüber keine Ursache angeben können, warum sie einen solchen gerissenen Wickel diesen Nahmen geben, welcher mit der Beschaffenheit und Natur der Sache nichts ähnliches hat. Man kann also sehen, was manchmal bey dergleichen Leuthen vor lächerliche Gewohnheiten und Gebräuche im Schwange gehen, ohne daß sie im Stande wären, den Grund anzugeben, warum dieses so und nicht anders ist." (dass. Band II, 103/104).

„Weil die deutschen Kunstwörter so sehr verdorbene französische Wörter sind... In unseren Wörterbüchern sucht man sie vergebens und Jacobsson hat sie in dem seinigen nur sehr selten berührt... und der Übersetzer muß sich nicht scheuen, alle Kunstwörter und allezweifelhaftenStellen französisch beidrucken zu lassen. Esschmerzet mich, wenn ich daran denke, daß auch dieses vortreffliche Werk in Teutschland verhunzet werden könnte." (Beckmann, Johann, Physikalisch-oeconomische Bibliothek . . . Göttingen 1770. Band X V I , 4 5 1 . Die Rede ist von: Paulet, Part du fabricant de sois, Paris 1774 ff.)

„Keine Wissenschaft, nur die Naturkunde ausgenommen, hat mehrere und mannigfaltigere Gegenstände, und eben deswegen eine größere Menge Kunstwörter, als die Technologie ... Zudem wird die Zahl dieser meistens sehr willkürlich gemachten Wörter noch durch Synonymen und Provinzialwörter vermehret, die nicht selten dem erfahrendsten Kenner unverständlich sein können. ... Schriftsteller der Naturkunde finden es gemeiniglich bequemer,

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Zur Geschichte der deutschen Fachliteratur

sich selbst eine Eintheilung der Naturalien zu entwerfen, und selbst neue Namen zu machen, als das beste vorhandene System verstehen und längst angenommene Benennungen brauchen zu lernen; aus gleicher Ursache werden der Technologie von Zeit zu Zeit neue unnütze Kunstwörter von Schriftstellern und Übersetzern aufgedrungen, welche die richtige Terminologie nicht haben erlernen mögen. Aber wenn auch der fleißigste Lexicograph alle zugängliche Werkstellen ausgefragt und alle vorhandene Bücher ausgeschrieben hat, wie wird es ihm möglich sein, die zahllose Menge der Provinzialwörter aufzufangen, die noch kein Idioticon gesammlet hat. Wie sehr wird ihm die Arbeit durch die fehlerhafte Aussprache der Künstler, durch die noch von keinem Grammatiker bearbeitete Etymologie und Orthographie derselben vervielfältigt." (Beckmanns Vorrede zu Jacobssons technologischem Wörterbuch, Band I, S. 6 und 7). Eins wird bei allen Zitaten deutlich: Zwar kritisiert man manches an den Fachsprachen, aber sie werden als Kommunikationsmittel, und zwar als einziges im Fach, respektiert und in ihren Eigenschaften der Gemeinsprache an die Seite gestellt (vgl. v. Hahn 1971, 88 ff.). Wenn man sich auch von ,Provinzialwörtern' bisweilen freihalten will, so wird doch die Eigenständigkeit der Fachsprache nicht angetastet. Zum Wort „abstechen" sagt Jacobsson in seinem technologischen Wörterbuch bezeichnenderweise: „Man bemerkt nur noch, daß die Benennung dieser ganzen Sache eigentlich abstecken heißen sollte. Denn es sind Nadelstifte, die auf dem Brustbaum stehen. Allein man muß es in diesem Fall mit dem Weber, der seine Kunstsprache selbst bildet, so genau nicht nehmen ". (Jacobsson, Johann Carl Gottfried, Technologisches Wörterbuch . . . Berlin und Stettin 1781-84, Band I, Stichwort abstechen'.) 2.8 Das 19. Jahrhundert Das 19. Jahrhundert, hier vielleicht treffender der Zeitraum von 1820 bis 1918, ist aus dem Blickwinkel der Geschichte der Fachsprache gekennzeichnet durch ein — Anwachsen der Texte im tertiären Bereich — Dilation der Fachkommunikation — weitere Vernetzung der Fachkommunikation.

Das 19. Jahrhundert

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1850 sind etwa 19 % der Beschäftigten in Deutschland im Tertiären Bereich tätig (Kellenbenz 1981,1, 108). Besonders dort, wo der direkte Zusammenhang zur Produktion nicht gegeben ist, aber über Fachzusammenhänge verhandelt wird, ist die Notwendigkeit festgelegter schriftlicher Benennungen und Beschreibungen groß. Dies trifft zu etwa für die enorm anwachsende Wirtschaftsgesetzgebung (z.B. 1845/48 Gewerbeordnungen, 1884 Einführung der GmbH), die neuen Aus- und Weiterbildungseinrichtungen (Gründung der Landwirtschaftsschulen/-hochschulen Weihenstephan, Hohenheim, 1825 Polytechnische Hochschule Karlsruhe) und den zentralen Ausbau von Versorgungs- und Versicherungswesen (seit 1883 Krankenkasse, Unfall-, Alters- und Invalidenversicherungen). Daneben wachsen die berufsständischen Vereinigungen (seit 1830 lösen Handelskammern die Zünfte ab) und Beratungsinstitutionen der Branchen. Seit Beginn des Jahrhunderts wächst die Zahl der „Wanderversammlungen" und „Tage", die das später fest etablierte Kongreßwesen einleiten. Noch 1877 wird allerdings in Meyers Conversationslexikon (3. Aufl. Band 10) abschätzig geurteilt:

„Die Resultate dieser Versammlungen für das öffentliche Leben werden regelmäßig überschätzt; eine Förderung der "Wissenschaft darf man von ihnen nicht erwarten, denn diese wird durch die Kunst Gutenbergs vermittelt". Eine allgemeine Dilation ist die Folge weiterer Abstraktion der Fachkommunikation. Sie wurde eingeleitet Jahrhunderte früher durch die Abstraktion von der Person (abnehmende Bedeutung der mündlichen Fachkommunikation und des persönlichen Briefs im frühen Mittelalter), vom Ort (Mobilität von fach(wissenschaft)lichen Schriften über den ganzen Sprachraum im späteren Mittelalter) und von der Zeit (Gründung der Naturwissenschaft auf Naturgesetze und allgemein gültige Regeln wissenschaftlicher Methodik). Durch die vehemente Vergrößerung des Kommunikationsnetzes ist aber eine starke zeitliche Dehnung (Dilation) des jeweiligen Kommunikationsprozesses eingetreten. Die mittelbaren fachsprachlichen Prozesse nehmen in einem vorher nicht gekannten M a ß zu, das Informationsangebot wächst gigantisch. Die 7 2 5 4 6 8 7 Besucher der Weltausstellung 1873 in Wien stehen vor 3 9 5 0 0 Ausstellern, gleichzeitig werden 12 Kongresse abgehalten. Auch die räumliche Weite der Fachkommunikation

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Zur Geschichte der deutschen Fachliteratur

nimmt erheblich zu. Die Wichtigkeit englischer Literatur ist überwältigend, gegen Ende des Jahrhunderts kommt langsam Amerika hinzu; Deutschland erwirbt Kolonien mit einem bedeutenden Bedarf an Technologie, Wirtschaftsentwicklung und Organisation. Zwar wird gerade aus den ersten drei Jahrzehnten des Jahrhunderts eine ganz ungewöhnliche Reiseaktivität von Deutschen nach Frankreich, aber vor allem nach England festgestellt. Es scheint allerdings eher so, als sei dies ein letzter Versuch, den direkten mündlichen Zusammenhang aufrechtzuerhalten, vor allem in einer Zeit, in der die Publikation noch nicht den steigenden Informationsbedürfnissen nachgekommen ist. Unter dem Stichwort „Fabriken und Manufakturen" bemerkt Meyers Conversationslexikon von 1870 (Band 6, S.503): „Die wesentlichste Schranke, welche hier z. Zt. noch das vollständige Eindringen des Fabriksystems in das Handwerk hindert, bildet der Mangel an Kommunikationsmitteln". Gemeint sind hier zwar hauptsächlich Transportmittel, aber auf sprachliche Kommunikation läßt sich diese Beschreibung auch sinngemäß anwenden. Die Postentwicklung stellt sich auf die „neue Zeit" ein. 1870 wird die Postkarte zugelassen, 1865 bereits die Postanweisung. 1876 umfaßt das Telegrafennetz in Deutschland 181253 km Leitung. Über die 6388 Büros werden in diesem Jahr 13 576 064 Telegramme übertragen. Die Eisenbahnentwicklung seit 1831 (Entwurf eines nationalen Eisenbahnprojekts durch List) bringt zusammen mit dem Automobilbau (seit 1885) erste technische Voraussetzungen (Treue 1970 b, 504) für die Bewältigung der sich anbahnenden allgemeinen kommunikativen Dilation. Streckennetz: 1840 1855 1860 1870 1875 1910

unter50km 7 9 0 0 km 11331km 16 800 km 27 800 km 5 9 0 0 0 km

Beförderte Personen in Berlin (und Umgebung): 1866 1913

13 Mio 1235 Mio

45

Das 19. Jahrhundert

Das ist eine Steigerung fast um das hundertfache, während die Einwohnerzahl sich nur knapp versechsfachte. Es steht außer Zweifel, daß die starke Bewegung in solchen Zahlen auch eine Folge der beruflichen Distribution von fachlichen Texten, d.h. Zeitungen, Zeitschriften, Berichten, Akten oder durch die neugeschaffenen Arbeitsplätze auf dem Gebiet der Textmultiplikation (drucken, schreiben, abschreiben etc.) in Industrie, Handel und Gewerbe ist. Der Jahresverbrauch an Papier pro Kopf in Deutschland beläuft sich um 1870 auf 4 kg. Die auf einer Handpresse herstellbaren 2000 Drucke pro Tag (durch 2 Arbeiter) werden als bei weitem zu wenig angesehen, so daß sich die „Schnellpressen" (erfunden durch Koenig 1812) in kurzer Zeit einführen. Die Buchproduktion entwickelt sich wie folgt: 1570

1600

1618

1650

1700

1750

1800

299

791

1293

725

951

1219

3 335

1840

1850

1875

1900

1913

1927

1965

34 871

37886

6904

9 053

12516

24792

27247 BRD

Nach Fächern gegliedert ergibt sich ungefähr folgende Verteilung (Meyers Conversationslexikon a. a. O. „Buchhandel") Fach

1800

1840

1873

Wissenschaften (ohne Theologie ) Wirtschaft Lehrmittel Technik

35%

34,5 %

34,4 %

4,1 % 8,6% 5,4 %

4,7 % 10,4 % 5,0 %

5,5 % 8,1 % 2,7%

Zur Auffächerung und Nutzbarmachung der Literatur wird mit J. Petzholdts Bibliotheca bibliographica, Leipzig 1866 die erste Biblio-Bibliographie größeren Stils geschrieben. Innerhalb der oben grob abgeteilten Gebiete hat sich im Laufe der Zeit eine ungeheuere Differenzierung eingestellt. Um 1870 nennt eine Wirtschaftsstatistik (Meyers Conversationslexikon, 1870, Stichwort „Gewerbestatistik") nicht weniger als 454 fachspezifische Typen von Fabrikationsstätten.

46

Zur Geschichte der deutschen Fachliteratur

2.9 Das 20. Jahrhundert Aus Gründen der zeitlichen Nähe seien nur einige Anhaltspunkte der Entwicklung genannt, eine historische Einordnung, Relativierung und Sichtung erscheint schwierig. Immerhin sind Daten in dieser letzten Periode meist überhaupt erhebbar. Ein Entwicklungsaspekt könnte die formale Optimierung der fachlichen Kommunikationsprozesse sein. In früheren Epochen hat man jeweils einen der folgenden Parameter auf Kosten eines anderen verbessert: Entfernung Teilnehmerzahl Zuverlässigkeit Tempo Das hat in der frühen Neuzeit zu einer gewissen Vernachlässigung des Übertragungstempos geführt. Durch Nutzung der Elektrizität, später der Elektronik hat dieser Parameter „aufgeholt" ohne daß nach anfänglichen Schwierigkeiten mit der Zuverlässigkeit und Teilnehmerzahl die anderen Werte dabei „bezahlen" mußten. Die Verwendung von Fachsprache am Arbeitsplatz ist auf unzählige Medien verteilt worden (vgl. Leckebusch 1981,138): Das Büro der 80er Jahre ist danach ausgestattet mit: Telefon, Fernschreiber, Postverkehr, Terminal, Fernkopierer, lokaler Kopierer, Diktiergerät, Gegensprechanlage, betriebliche Rufanlage, Mikrofilm/Mikrofiche, aber auch Papierunterlagen, Karteien, Zettel, Tafel, Bücher. Allein auf Wirtschaft und Verwaltung entfallen dabei 1980 15,8 Millionen Postsendungen pro Tag (BRD). Aber auch inhaltlich hat sich die Fachkommunikation erheblich erweitert, wie Möhn in zahlreichen Publikationen immer wieder gezeigt hat. Mit der Erweiterung der fachbezogenen Forschungsstätten auf allen Ebenen (Universität, Großforschungsstätten, Firmenforschung, kommerzielle Forschungsinstitute) ist das Fachwissen in den letzten 100 Jahren exponentiell gestiegen. Der Kommunikationsbedarf der Wissenschaft ist rapide gestiegen: Allein für die Sprachwissenschaft führen die CCL (Current Contents Lingu-

Das 20. Jahrhundert

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istik, Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt/Main 1978 ff.) mehr als 260 meist vierteljährliche direkt einschlägige Fachperiodica auf, zu denen noch einmal wenigstens 50 nicht mehr erscheinende Zeitschriften aus diesem Jahrhundert gezählt werden könnten sowie eine kaum mehr angebbare Zahl von Publikationsorganen einflußreicher Nachbargebiete. Die Zahl der Kongresse, Tagungen, Workshops etc. ist kaum übersehbar und hat in vielen Feldern zu einem wiederum abgeleiteten Phänomen der „invisible Colleges" (Neubauer et al. 1972) geführt, d.h. Gruppen von fachlich führenden Wissenschaftlern, die auf privaten Treffen, durch direkte telefonische Kommunikation oder durch Vorweginformation (über im Erscheinen begriffene Publikationen) effiziente wenn auch restriktive Fachkommunikation vollziehen. Im Gefolge der ausgeweiteten Forschung ist der nachziehende Bedarf an Aus- und Weiterbildung auf allen Ebenen enorm angestiegen. Nicht nur die Information aus Fachbüchern, speziell dazu entwickelter Lehrliteratur, sondern auch die betriebliche praktische Ausbildung, die Populärwissenschaft in den Massenmedien, die Einrichtungen der übergreifenden Organisationen von Handwerk und Wirtschaft, alle diese Institutionen haben einen unübersehbaren Neubedarf an Fachsprache und einen riesigen fachlichen Informationsumsatz aus der fachlichen Umwelt. Daran angehängt sind Aktivitäten, die metasprachlich diesen Bereich wiederum durchforschen, beobachten und regulieren: Fachsprachenlinguistik, Normung (vgl. etwa schon Wüster 1931) und Sprachlenkung, Lexikographie (vgl. Wiegand 1977) und Fachsprachendidaktik (vgl. Beier/Möhn 1981). Jede dieser Teilaktivitäten ist wiederum auf eine spezifische Terminologie angewiesen. Dabei ist, wie wir später (S. 59) zeigen, das Tempo der Erzeugung und des „Alterns" von Fachliteratur rapide gewachsen. Nur einige Stichworte seien zur elektronischen Datenverarbeitung gegeben: Ihre Nutzung steht zweifellos z. Z. vor einer strukturellen Wende. Aus dem Rechner als speziellem, vorwiegend numerischen Werkzeug von Fachspezialisten wird langsam auch ein hochflexibles und generelles Hilfsmittel (vgl. Grosz 1982) für den gelegentlichen und ungeübten Problemloser von Fachfragen. Das führt zu

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Zur Geschichte der deutschen Fachliteratur

einer grundsätzlichen Umstrukturierung des Zugangs zum Rechner, also auch seiner kommunikativen Eigenschaften. Diese werden sich in Zukunft weit mehr als bisher erwartet um den direkten schriftlichen fachsprachlichen Dialog zwischen Benutzer und Rechner gruppieren. Im Zusammenhang mit der Lösung dieses Problems wird die Fachsprachenforschung, soweit sie sich mit diesem Problemkreis auseinanderzusetzen gewillt ist, erneut mit dem Ineinandergreifen von Fachsprache, Fachwissen, fachlichen Problemlöseprozessen etc. befassen müssen, da die Kommunikationsfähigkeiten der nächsten Rechnergeneration („Artificial Intelligence") auf einer Interaktion von kommunikativen, kognitiven und sprachlichen Aspekten beruhen wird (vgl. v. Hahn 1983).

2.10 Quellengeschichte Die Geschichte der Fachsprachen läßt sich, wie im vorigen Abschnitt schon angedeutet, auch als Chronologie von Fachtexten schreiben. Ein anderer wesentlicher Aspekt ist die Geschichte der fachlichen Textsorten (vgl. Eis 1962, 61 sowie beispielsweise Benes 1969). Eine solche Geschichte weist gegenüber dem sonst vorherrschenden literarhistorischen Aspekt den wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Aspekt der Fachsprachen-Geschichte aus, er entspricht grob gesprochen dem älteren literaturwissenschaftlichen Gattungsbegriff. Die fachsprachliche Quellenkunde ist ein Teil einer noch zu verfassenden Geschichte der Kommunikation, sozusagen eine Verlängerung der Timm'schen (Timm 1964) Geschichte der Technik als Geschichte der Kommunikationstechnologie in die sprachlichen Manifeste hinein. Relativ gut erforscht ist der Anteil allgemeiner historischer Quellen (v. Brandt 1971). Auch auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Zorn 1972) liegen Untersuchungen vor (vgl. zum Ganzen Dahlmann/Waitz 1906/7). Dabei ist die sprachhistorisch interessante Frage, welche Textsorten eigentlich typisch für fachliches Handeln sind, nie gestellt worden und gerät erst langsam mit den Versuchen einer pragmatischen Sprachgeschichte in den Blick (Sitta 1980 und Schenker 1977). So wollen wir hier versuchen, weitere Materalien zu einer Geschichte nichtliterarischer Textsorten zusammenzutragen. Zwar ist

Quellengeschichte

49

der gewöhnlich angewendete Textsortenbegriff um so fragwürdiger, je weiter man historisch rückwärts geht, aber er stellt einen gangbaren Weg dar; nicht alles, was in den folgenden Tabellen genannt wird, kann wahrscheinlich auch bei näherer Prüfung als Textsorte standhalten. Wir haben allerdings Texte, die häufig in der Literatur genannt werden, in jedem Falle mit aufgeführt (z. B. Nachlaßakten, die gewiß keine Textsorte sind). Die angegebene Grobgliederung hat nur heuristische Geltung und berührt nicht die für das Mittelalter bekannten Probleme der Artes-Gliederung. Wissenschaft Zeit

Texte

Medium/Repräsentation

Gespräch Diskussion Lehrgespräch Vortrag Bericht Beratung

M, M, M, M, M, M,

Brief

HS (DR)

11.Jh. -1750 1712 14. Jh. - 1 0 . Jh.

Reisebericht Zeitungsartikel Zeitschriftenartikel Streitschrift wiss. Monographie

HS (DR) DR DR DR (F) DR

12. Jh.

Versuchsbeschreibung Befund Gutachten Notiz

HS, (DR), EDV, TF (M), HS, EDV, TF (M), HS, DR, (TF) HS

17. Jh.

Vorlesung Lehrbuch Skript Formelsammlung Lexikon Lehrprogramm Akademieakte Preisschrift Kongreßakte

M, HS, (F), (D/F) DR (HS), DR DR DR (M), DR, (F), (D/F), EDV, BS DR DR M, DR

19. Jh. 1514

4

Hahn, Fachkommunikation

(F), (F), (F), (F), (F), (F),

TF TF DF DF TF TF

50

Zur Geschichte der deutschen Fachliteratur

Politik/Verwaltung Zeit

12. Jh. 9. Jh.

1235

14. Jh.

Texte

Medium/Repräsentation

Gespräch Diskussion Besprechung

M, TF M, (F) M, (D/F), TF

Protokoll Akte/Vorakte Beleg

HS, (M) HS HS, EDV

Korrespondenz Anweisung Erlaß Gesetz Urteil Kommentar

HS M, HS, DR (HS), DR DR M, DR HS, DR

Abrechnung Dokumentation

HS, EDV DR, (D/F), EDV

Besitzaufzeichnung Steuerakten, Zoll Nachlaßakten

(HS), DR, EDV HS, EDV HS, (DR), EDV

Kongreßakten, (Tage)

M, (F),

Zeitung Flugschrift

DR DR

Die vier Listen sind alles andere als vollständig und sollen nur einen Anhaltspunkt über die Vielfalt der Texte in den Fächern geben. Am linken Rand haben wir den Versuch unternommen, eine Anfangsdatierung einzutragen, wo sie erhebbar und nicht trivial war. Diese Angaben sind sehr vorläufig und bedürfen einer genauen Überprüfung und Vervollständigung. Es zeigt sich dabei, daß wie allgemein bei der Chronologie der Fachsprachentexte auch hier oft so fließende Übergänge sind, daß man selbst in dem günstigen Falle, wo Material und Datierungen vorliegen, oft kaum

Quellengeschichte

51

Produktion Technik Zeit

13.Jh. 9-Jh.

Texte

Medium/Repräsentation

Gespräch Anleitung Merkzettel, Notiz Beschreibung Meldung

M, (F), TF M, HS, DR HS (M), HS, DR M, HS, EDV, TF

Bestellung Korrespondenz Angebot Katalog

(M), EDV, BS, TF HS HS, DR, (F), BS, TF DR, BS

Buchhaltungsakten Rechnung Beleg Lagerlisten Produktliste

HS, EDV HS, EDV HS, EDV DR, EDV, BS DR, EDV, BS

Zeitung Zeitschrift

DR DR

Lexikon

DR

Lehrbuch Anweisung Rezept

DR M, HS, TF HS, (F), BS

Gebrauchsanweisung Patent Bauanleitung Betriebsanleitung

DR, (F) DR, HS DR, (F) DR

Zunftakten Gutachten

HS (M), HS, (DR), TF

entscheiden kann, ob etwas z.B. noch eine Monographie oder schon ein Lexikon ist, ob es noch eine Notiz oder schon ein Vortrag ist, oder gar: ob etwas noch „naive" Praxis oder schon Wissenschaft ist. Diese Problematik der Zuordnung hat aber erhebliche Rückwirkung auf die Definition von Fachsprachen (vgl. S. 6 5 ff.). 4*

52

Zur Geschichte der deutschen Fachliteratur

Handel Zeit

Texte

Medium/Repräsentation

12. Jh. 13. Jh.

Verhandlung Notiz Protokoll

HS M, (HS), TF HS

Korrespondenz

HS

Angebot Bestellung Katalog Musterbuch Maßangaben

(M), DR, TF (M), HS, TF DR, (D/F) DR, (D/F) (HS), DR

Buchhaltung Steuer/Zoll

HS, EDV DR, EDV

15.Jh.

Besitzaufzeichnung Inventar Geschäftsbericht

HS, DR, (EDV) HS, DR DR

Börseninformation

(M), HS, F, BS

17. Jh.

Zeitung

DR

15. Jh. (DR) 1923 (F)

Werbung

DR, (F), BS

15. Jh. 13. Jh.

Unter den Kommunikationsmedien bzw. Repräsentationsformen haben wir ohne historische Grenzen folgende Typen deklariert: ( ) M HS

= ferner auch = mündlich = handschriftlich maschinenschriftlich DR = Druck F = Rundfunk/Fernsehen D/F = Dia, Film, Folie E D V = elektronische Datenverarbeitung BS = Bildschirm T F = Telefon, Telex

Quellengeschichte

53

Heinisch und Ludwig (Heinisch, G. F., Ludwig, J. L., Die Sprache der Prosa, Poesie und Beredsamkeit, (...) Bamberg 2. Aufl. 1867. Zitiert bei Breuer 1 9 7 4 , 1 7 3 ) führen z.B. als Prosagattungen ihrer Zeit auf: 1. Der didaktische oder lehrende Styl: Abhandlungen, Aufsätze 2. Der Dialog oder das Gespräch 3. Der historische Styl a) die Beschreibung b) die historische Erzählung 4. der Briefstyl 5. Der Geschäftsstyl a) Höherer Geschäftsstyl: offizielle Erklärungen Gesuche Bitte eines Studierenden um ein Stipendium b) Niederer oder Privatgeschäftsstyl: Schuldschein Abtretungsschein Quittung Verzichtschein Zinsschein Zeugniß (Attest) Bürgschaftsschein Vertrag Tilgungsschein Vollmacht Empfangsschein Anzeige (...) Lieferschein Bekanntmachung (...) Depositenschein Anweisung Wechselbrief Auf diese 24 nichtpoetischen „Style" folgen noch 48 poetische Gattungen, für die die Hauptmasse der Beispiele gilt. Etwas einfacher als die Textsortenfrage ist die Frage des Werts von einzelnen Quellen für die Fachsprachen-Forschung zu beantworten. Wir stellen für die Praxis fachsprachlicher Untersuchungen fest, daß gegenüber den Quellen, gerade bei historischer Arbeitsweise, kein sehr ausgeprägtes Bewußtsein für deren Originalität herrscht. Es scheint mir daher günstig, eine Hierarchie von Quellentypen auf verschiedenen Ebenen (EQ—E4) anzusetzen, wobei die Originalität nach außen (rechts) abnimmt.

54

Zur Geschichte der deutschen Fachliteratur

Abb. 2. Fachsprachliche Quellenhierarchie

Quellengeschichte

55

Die fachsprachlichen Quellen im engsten Sinne (Ej) sind also nur sprachliche Äußerungen, die bei der fachlichen Verrichtung gemeinsam mit dieser vorkommen oder gar im Sinne von Sprechakten konstitutiv sind, also empraktische Texte (Henne/Rehbock 1982). Solche Äußerungen entspringen meist der Kooperation oder der Dokumentation (im Falle von konstitutivem schriftlichen Protokoll). Dieser Ebene gegenüber führen die meisten empirischen fachsprachlichen Untersuchungen Quellen der Ebene E 2 auf. Besonders sind die Befragungen von Fachleuten durch Linguisten kein geeignetes Mittel, genuine Fachtexte zu erzeugen. Ganz abgesehen von der Schwierigkeit der zielgerichteten Kommunikation zwischen dem Fachsprachen-Fachmann (als Befrager) und etwa einem Fachmann der technischen Praxis (z.B. AutomechanikerLehrling), sind die Äußerungen der Befragten nicht einmal ein Reflex auf teilnehmende Beobachtung, sondern stellen eine neue Kommunikationssituation dar, in der die Originalität der Äußerung wegen des fehlenden originären pragmatischen Kontexts (aus Ebene E 0 ) höchst fragwürdig wird. Die weitaus meisten Fachsprachen-Untersuchungen basieren jedoch auf Quellen der Ebene E 3 . Dabei ist nicht einmal so entscheidend, wie sehr die Genauigkeit der Darstellung durch mangelndes Fachwissen abnimmt. Bisweilen ist der Effekt gerade umgekehrt: Der Fachmann, zumal in der technischen Praxis kennt zwar die Handlungen und die kookkurenten sprachlichen Äußerungen, wird aber bisweilen nicht in der Lage sein, einen für Außenstehende informativen abstrakten Bericht abzugeben oder gar das Berichtete zu erklären im Sinne einer Begründung. Vielmehr sind die Texte der Ebene E 3 in der Konzeption so unterschieden von EQ—E2, daß man sie nicht ohne weiteres als Quelle ansehen darf (v. Hahn 1971, 13-25). Gegenüber der fachbezogenen Äußerung im Zusammenhang der Tätigkeit E 0 steht eine Äußerung außerhalb des Tätigkeitszusammenhangs für ebenso außerhalb stehende Adressaten in völlig verschiedenen Kommunikationsbedürfnissen. Deutlich zeigt sich das an der Textsorte Fachbuch schon im späten Mittelalter und dessen Traditionsgeschichte: Nehmen wir Garzonis „ L a piazza universale di tutte le professione del mondo", Venedig 1585.

56

Zur Geschichte der deutschen Fachliteratur

Dieses Werk wurde 1616 ins Deutsche übersetzt, erlebte zahllose Auflagen und war unter seinem Titel „Allgemeiner Schauplatz, Marcht und Zusammenkunfft aller Professionen, Künsten, Geschafften, Händeln und Handt-Wercken.." (der genaue Titel wechselte öfter) in Deutschland die allgemein benutzte Quelle, die durch die Provenienz Italien eine zusätzliche Würde erhielt. Die Arbeit zitiert ausführlich antike und spätantike Autoren und ist vom Inhalt her durchaus ungenau, bisweilen sogar falsch. Der fachliche Wert oft ganz formal gehaltener Passagen ist höchst fragwürdig: „Davon wirdt gemacht der Barchet/dessen allerhand unterschiedliche Gattungen Igrob I rein I dick und dünne Ischmal und breitI welche ihre unterschiedliche Namen haben. Es werden auch reine und weiße Schleijer auß Baumwollen gemacht / deßgleichen auch Tuch I so sich dem leinen Tuch vergleichet / und wie derselbige zu allerhand Sachen gebraucht wirdt" (S.566 der Ausgabe Ffm 1659). Ungeachtet der Unbrauchbarkeit für den Praktiker, der ohnehin meist nicht lesen und schreiben konnte, ist dieses Werk in der Folgezeit von wenigstens (d. h. nachweisbar) acht prä-technologischen Werken ausgeschrieben worden, bis zur Wende zum 19. Jahrhundert in Ludovici, C. G., Neu eröffnete Academie der Kaufleute umgearbeitet von Joh. Chr. Schedel. Leipzig 1797—1801. Die Adressaten und tatsächlichen Leser der Werke waren offenbar so entfernt vom Korrektiv der Praxis, daß ihr Kommunikationsbedürfnis von sachlicher Unrichtigkeit unbeeinflußt blieb. Dieses herausgegriffene Beispiel zeigt, daß gerade bei der Erforschung von historischen Fachsprachen eine sehr genaue Prüfung des pragmatischen Zusammenhangs von Quellen vorgenommen werden muß, um nicht zu diffusen Befunden durch disparate oder in ihrem Wert nicht geprüfte Quellen zu kommen. Die Möglichkeiten, die spezifische Art der Verwendung von Fachliteratur allgemein und einzelner Quellen in der Geschichte nachzuweisen, sind natürlich sehr begrenzt. Einerseits läßt sich, ähnlich der in der Literaturwissenschaft bekannten Methode, feststellen, welche Werke in wessen Bibliothek standen, indem man aus dem Vorhandensein eines Werkes auf dessen Benutzung schließt und

Quellengeschichte

57

eine Beeinflussung annehmen darf. Schon im frühen 16. Jahrhundert können wir das an der Bibliothek Rhenanus als einer frühen, erhaltenen Privatbibliothek real überprüfen (Vorstius 1954, 27). Eine andere Rekonstruktionsmöglichkeit bieten in gewissen Zeiträumen die Pränumeranten-Listen, die in manchen Fällen wenigstens eine Berufsfächerung der Besteller und damit der potentiellen Leser zulassen. Jacobssons Technologisches Wörterbuch (s. S. 42) enthält eine solche alphabetische Liste. Wir haben die Einträge grob nach Berufsgruppen gegliedert. Es ergibt sich folgendes Bild: Verwaltung, mittlere und höhere Beamte Standespersonen Hohe Beamte Bildung Militär Kirche Institutionen Buchwesen Bibliotheken Handel, Gewerbe Medizin Schreiber Sonstige Berufe ohne Berufsangabe davon Adel

81 19 14 12 12 11 9 9 7 6 5 5 12 31 (7) 233

Der geringe Anteil derjenigen, deren Tätigkeiten im Wörterbuch beschrieben werden, ist erstaunlich. In den meisten Fällen wird das Werk zur Orientierung für Organisationsaufgaben benutzt worden sein, wenn nicht überhaupt nur aus Sammelleidenschaft, diffusem naturkundlichen Interesse oder als Nachschlagewerk. Unter Handel und Gewerbe finden sich lediglich ein Gerber, ansonsten Kaufleute und Fabrikanten, unter den Berufen, die zum Buchwesen zu zählen sind, Buchhändler, Buchbinder und Drucker. Die Gruppe der Institutionen spiegelt recht gut das Gesamtbild: Regierungen und Rentkammern mit einer Postverwaltung bilden

58

Zur Geschichte der deutschen Fachliteratur

einen Teil, während der Rest sich aus einer Schule, einer literarischen Gesellschaft, einer physikalischen Gesellschaft und einer Loge zusammensetzt. Die bei weitem größte Gruppe der mittleren und höheren Beamten besteht aus Obersalzinspektoren, Kreiseinnehmern, einem Oberlandschaftssyndikus und ähnlichen klangvollen Funktionen. Daneben ist bemerkenswert, wie sich überhaupt die Dauer der Zitierfähigkeit von wissenschaftlicher Literatur durch die Jahrhunderte verhält. Sicher gibt es hier starke Unterschiede von Fach zu Fach (z.B. Philosophie gegen Maschinenbau). Zweifellos verkürzt sich aber die Geltungszeit von Literatur zur Gegenwart hin erheblich. Als Stichprobe mag die Bibliographie von Rosenthal aus dem Jahre 1795 aufgeführt werden: Litteratur der Technologie das ist: Verzeichnis der Bücher, Schriften und Abhandlungen, welche von den Künsten, den Manufakturen und Fabriken, der Handlung, den Handwerkern und sonstigen Nahrungszweigen, als auch von denen zum wissenschaftlichen betriebe derselben erforderlichen Kenntnissen aus dem Naturreiche, der Mathematik, Physik und Chemie handeln. Daraus haben wir die datierten Titel der Seiten 1, 3, 5, 7, . . . 4 9 (jeweils nur die ungeraden Seiten) nach dem Erscheinungsjahr zusammengestellt. Immerhin sind dort ohne jeden Hinweis auf nur geschichtliches Interesse noch drei Werke des 15. Jahrhunderts (!) aufgeführt. Knapp 18 % der datierten Titel sind über 100 Jahre alt:

1450-1500 1500-1550 1550-1600 1600-1650 1650-1700 1700-1750 1750-1794

Anzahl

kum. %

3

0,4 1,5 3,9

8

16 28

67 94 476 692

8

17,6 31,2 100,0

59

Quellengeschichte

Bei einem Erscheinungsjahr 1795 werden zwar immerhin 7 Werke der Jahre 1794 und 1793 vermerkt, aber den insgesamt 5 7 Werken der Jahre 1 7 9 0 bis 1794 stehen 110 der Jahre 1 7 8 5 - 1 7 8 9 gegenüber. Offenbar scheint also auch die Zeit, bis ein Werk zugänglich wird, erheblich länger gewesen zu sein. Vergleicht man diese Zahlen mit neuzeitlicher Zitierfähigkeit, so wird das wissenschaftliche „Forschungstempo" sehr deutlich: Alter in Jahren seit Erscheinen -5 Rosenthal Boueke Bach

-10

-15

-20

-25

-30

-35

5 7 110 5 2 7 140 249 241

57 14 104

45 4 40

45 1 13

51 2 11

43 1 6

-A0 -AS - 5 0 älter 37 0 5

31 0 2

12 2 0 4 0 3 3 18

Verglichen wurde mit D.Boueke et al., Bibliographie Deutschunterricht 3. Auflage Paderborn 1978. S. 35 ff. jedes zweite Kapitel. Diese Bibliographie behandelt ein extrem aktuelles Thema. Daneben wurde benutzt: U.Bach/D.Wolff, Ausgewählte Bibliographie zur Psycholinguistik. Königstein 1980. S. 2 5 ff. jede ungerade Seite (jeweils bis zur Höhe der in Rosenthal erhobenen Stichprobe). Die ca. 850 Titel insgesamt bei Rosenthal (einschließlich derer ohne Jahreszahl) verteilen sich wie folgt auf die Sprachen: deutsch lateinisch französisch englisch italienisch andere

635 (incl. Übersetzungen) 92 64 32 23 4

Damit seien die spärlichen Hinweise auf die Quellengeschichte abgeschlossen im Bewußtsein, daß hier die gravierendste Lücke historischer Fachsprachenforschung wenigstens aufgezeigt, aber nicht annähernd geschlossen wurde.

60

Zur Theorie der Fachsprachen

3. Zur Theorie der Fachsprachen 3.1 Terminologische Klärungsversuche Schon ein flüchtiger Blick auf die Benennungen, unter denen Fachsprache verhandelt wird, zeigt, daß kaum ein einheitliches Schema die Forschungsgeschichte bestimmt hat, und entsprechend groß der Facettenreichtum des Problemkreises ist. Die Versuchung, die terminologische Vielfalt zu beschneiden, wie das in der Literatur bisweilen versucht wird, hat meist auch den unerwünschten Seiteneffekt, daß eine erhebliche Problemverkürzung auftritt. In alphabetischer Ordnung sind zu nennen (vgl. die bei Fluck 1980, 23, Anm. 2 angegebene Literatur sowie L. Hoffmann 1976, 83 für die fremdsprachlichen Korrespondenzen): Arbeitssprache Sachprosa Subsprache Berufssprache Sachsprache Technolekt Teilsprache Gruppensprache Sachtext Terminologie Fachkommunikation Sekundärsprache Varietät Fachprosa Sondersprache Variante Fachsprache Sprache d e r . . . Zwecksprache Fachtexte Register Die Terminologie ist grob an folgenden Dimensionen von Fachsprache orientiert: — Sprachsystem (Sprachengliederung) (Register, Varietät, Variante, Sub-, Sekundär-, Teil) — Textform (Sprachl. Material) (Terminologie, -prosa, -text) — Inhalt (Fach-, Techno-, Sprache der, Sach-) — Sprecher/Hörer (Arbeit-, Beruf-, Gruppen-, Sonder-) — Intention und Funktion (Technolekt, Zwecksprache, Register) Es scheint uns auch durchaus vernünftig, je nach den Beschreibungsschwerpunkten, die Fachsprache jeweils aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und dabei die heuristischen Vorteile der jeweiligen Dimension und der an sie gebundenen Terminologie zu nutzen.

Terminologische Klärungsversuche

61

Abb. 3. Terminologie zu „Fachsprache"

3.1.1 Sprachsystem Einigen Bezeichnungen liegt nur der formale Gliederungsgedanke zugrunde. So ist die Bezeichnung „Variante", „Varietät" nicht spezifiziert in Bezug auf die Zahl der Varianten, trägt aber einen stark korpus-linguistischen (Auburger 1981) Beiklang. Auch „Register" (Beier 1980,17), ein eher produktionslinguistischer Terminus, hat wie die beiden vorigen das semantische Merkmal der grundsätzlichen Gleichberechtigung jedes seiner Elemente. Daneben haben alle drei Termini eine fakultative Präsupposition: Eine Variante, Varietät, ein Register muß realisiert sein oder es

62

Zur Theorie der Fachsprachen

findet keine Sprache statt. In allen Fällen ist „Fachsprache" oder ihre alternativen Bezeichnungen aber als Typ von einer übrigen Sprachform, gewöhnlich als „Gemeinsprache" bezeichnet, abgesetzt. Die Problematik dieser Dichotomie in Fach- und Gemeinsprache ist schon bald gesehen worden (Möhn 1968, v. Hahn 1971). Zu den nur formal gliedernden Bezeichnungen gehören auch „Subsprache" und „Sekundärsprache". Sie setzen allerdings den Hintergrundbegriff einer Gesamtsprache viel zwingender voraus als die vorher besprochenen. Außerdem sind sie aufgrund einer vorausgesetzten Hierarchie zustandegekommen. Besonders die hinter der „Sekundärsprache" anzusetzende Sichtweise betont den abgeleiteten Charakter von Fachsprachen, den auch Auburger (Auburger 1981, 155) mit dem „Subsystem"-Ansatz und einer gewissen Parallelisierung in Hinsicht auf den Ausgangssprachen-Begriff der kontrastiven Linguistik vorsieht. Deutlicher noch in L. Hoffmanns (L. Hoffmann 1976, 166) Subsprachenbegriff kommt zum Ausdruck, daß zunächst nur eine formale Strukturierung angestrebt wird, um eine inhaltlich bzw. funktionale Gliederung erst im zweiten Schritt (Fachsprache der . . . , Axiolekt, etc.) vorzunehmen. Wir sind auch hier der Meinung, daß man die Abgliederungsversuche von Fachsprachen kaum aus einer immanenten Plausibilität heraus gegeneinander abwägen kann. Jede der konkurrierenden Begrifflichkeiten ist für einen Anwendungszusammenhang konzipiert und führt die dort heuristisch wertvollen Begriffe als nicht-abgeleitete ein und zwar im Rahmen der methodischen Strenge, die je nach Aufgabestellung notwendig ist. 3.1.2 Textform Sprachliche Merkmale im engeren Sinne bzw. sprachliche Manifestationen führen Benennungen wie Terminologie, Fachprosa oder Fachtext vor Augen. Besonders der Ausdruck „Terminologie" hat zu erheblicher Verwirrung geführt, da diese Bezeichnung zwei Bedeutungen hat: Im engeren Sinn wird damit der Fachwortschatz als hauptsächliche sinntragende Komponente von Fachsprachen umrissen. Häufig, besonders in sprachpraktischen Zusammenhän-

Terminologische Klärungsversuche

63

gen, kennzeichnet „Terminologie" aber auch - pars pro toto - die Fachsprache als die ganze fachliche „Ausdrucksweise". Fragwürdig ist ein solcher Wortgebrauch nur dann, wenn der Charakter als pars pro toto nicht bewußt bleibt, sondern Fachsprache qua Terminologie auf Wortschatz reduziert wird. 3.1.3 Inhalt Andersartige Schwierigkeiten treten auf bei einem der am Referenzbereich orientierten Bezeichnungen: Technolekt. Während Auburger diese Bezeichnung für ein „fachsprachliches Subsystem" (neben Axiolekt und Gnoseolekt) „in einem technologischen Interesse an bestimmten Wirklichkeitsbereichen" (Auburger 1981,155) benutzt, wird von anderen damit der engere Begriff der „Fachsprachen der technischen Fächer" bezeichnet. Nun zum Terminus „Fachsprache" selbst: Durchaus berechtigte Kritik daran hat vor allem Kalverkämper (Kalverkämper 1979) vorgetragen, der es kritisiert, daß in der Fachsprachen-Forschung über das Fachkriterium kaum Stichhaltiges zu finden sei, die Fachlichkeit geradezu den Status eines Axioms („Axiom von der intuitiv einleuchtenden Fachlichkeit eines Bereichs") besitze. Das Problem stellt sich in zwei Spielarten: Zunächst ist fraglich, ob bei dem Gegenstand, den man mit Fachsprache meint, die Fachlichkeit wirklich das primäre ist, oder nicht vielmehr textsortenspezifische, semantische, pragmatische oder sonstige Argumente. Zum zweiten, nehmen wir einmal an, man wollte an der Fachlichkeit grundsätzlich festhalten, ist die Frage unklar, was eigentlich Fächer konstituiert, ob z. B. Naturwissenschaft ein Fach ist, oder Chemie, oder nur die organische Chemie oder gar nur die Chemie der Aminosäuren. Entsprechend stellt sich dieselbe Frage bei der „Fachsprache der textilverarbeitenden Industrie" bezüglich deren Konsistenz und Einheitlichkeit bzw. Abgrenzbarkeit. Beginnen wir die Prüfung dieser Kritik in umgekehrter Reihenfolge: Die Abgrenzung von sehr kleinräumigen „Fachsprachen" in Titeln von Veröffentlichungen ist natürlich kein Argument. Sie sind viel richtiger verstanden als Korpuseingrenzung, die ja auch meist noch räumlich wie zeitlich vorgenommen wird (Titelbeispiel: G. Bretz, Die mundartliche Fachsprache der Spinnerei und Weberei

64

Zur Theorie der Fachsprachen

in Heitau, Siebenbürgen, Marburg 1977), nicht aber als Nachweis, nicht einmal als Behauptung der Abgeschlossenheit und vor allem Vollständigkeit der betreffenden (freilich existentiell präsupponierten) Fachsprache. Wissenschaftlich valide ist eine solche Arbeit selbstverständlich nur dann, wenn sie sich wenigstens als ein Beitrag zur Erforschung einer („größeren") Fachsprache versteht, etwa der der Textilindustrie, der Technik etc., für die dann aber eine Abgrenzbarkeit oder Konsistenz vorhanden sein muß, wenn nicht allein sprachpraktische Ziele vorherrschen (Kalverkämper gesteht der fachlichen Sprachpraxis intuitive Abgrenzung durchaus zu). In der Tat stellt sich dann aber das Problem der Fachlichkeit erneut. Gliederungsvorschläge von seiten der Klassifikationslehre (Dahlberg 1975, Schnegelsberg 1977) können nur Vereinbarungscharakter haben und sind erkenntnistheoretisch nicht tragfähig. Sie bergen zudem die Gefahr eines Zirkels (Dahlberg: Ein Fachgebiet liegt dann vor, wenn aus der jeweiligen Benennung des Gebiets zu ersehen ist, daß hier ein Tätigkeitsbereich mit einem Gegenstandsbereich vorhanden ist). Nun ist mittlerweile schon verschiedentlich (Kalverkämper 1979, Auburger 1981) aufgezeigt worden, daß der Begriff der Fachlichkeit bislang ein heuristischer ist. Und bezeichnenderweise konnte die „Fachlichkeit" und damit der Terminus „Fachsprache" durch die o. g. Arbeiten weder methodisch auf feste Füße gestellt werden, noch konnte die prinzipielle Unbrauchbarkeit dieses Terminus oder Mißverständlichkeit überzeugend dargestellt werden. Gerade darin bestand m. E. bisher ein Konsens der Fachsprachen-Forschung, daß der Fachsprachen-Begriff wie etwa auch die Termini „Gesellschaft", „Willen", „Begabung" oder andere relative Ausdrücke aus den Gesellschaftswissenschaften ein heuristischer ist, der nicht nur auffällige Randunschärfen hat, sondern sich auch unter entsprechenden extremen wissenschaftlichen Aspekten in der (All-)Gemeinsprache verflüchtigen kann (v. Hahn 1971, 124). Dessen ungeachtet ist der Fachsprachen-Begriff ein bis heute höchst wirkungsvoller und forschungsmotivierender gewesen und beweist gerade im pragmalinguistischen Kontext seine Vitalität. Diese Beobachtung wie auch theoretische Überlegungen zur Vag-

Terminologische Klärungsversuche

65

heit (Pinkal 1980, s. auch Abschnitt 4.1.2) lassen Vorsicht angeraten sein, vage Ausdrücke von vornherein zu disqualifizieren. Es scheint uns außerdem ein starker Zusammenhang zu bestehen zwischen der Beschreibungsmethode bzw. dem Erkenntnisziel an Fachsprachen und dem Präzisierungsanspruch. Strebt man eine lexikalische oder sogar statistische Darstellung an, so stellt sich viel eher die Exklusivitätsfrage und die Abgrenzung ist methodisch notwendig für die Evaluierung der statistischen Werte. Zielt die wissenschaftliche Absicht dagegen auf eine kommunikative oder pragmatische Beschreibung des Sprachzusammenhangs in einer Arbeitsumgebung, so trägt der Fachsprachenbegriff trotz seiner Unpräzisiertheit wesentlich weiter. Um nicht wieder in die m. E. zur Zeit fruchtlose Diskussion über Fachsprache und Gemeinsprache kontrastierend einzugreifen, stützen wir uns in diesem Buch auf folgende tentative Festlegung von „Fachlichkeit": Fachlich sind solche, besonders instrumenteile, Handlungen, die in zweckrationaler, d.h. nichtsozialer Absicht ausgeführt werden. „Instrumentales Handeln richtet sich nach technischen Regeln, die auf empirischem Wissen beruhen. Sie implizieren in jedem Fall bedingte Prognosen über beobachtbare Ereignisse, physische oder s o z i a l e ; . . . Das Verhalten rationaler Wahl richtet sich nach Strategien, die auf analytischem Wissen beruhen. Sie implizieren Ableitungen von Präferenzregeln (Wertsystemen und allgemeinen Maximen. . . . Zweckrationales Handeln verwirklicht definierte Ziele unter gegebenen Bedingungen" (Habermas 1968, 62). Fächer sind Arbeitskontexte, in denen Gruppen von fachlichen zweckrationalen Handlungen vollzogen werden. Fachsprachen sind demnach sprachliche Handlungen dieses Typs sowie sprachliche Äußerungen, die konstitutiv oder z.B. kommmentierend mit solchen Handlungen in Verbindung stehen (vgl. auch v. Hahn 1981 Vorwort, sowie die Diskussion S . 5 0 f . ) . Diese Festlegung gibt nun natürlich eine stringente Binnengliederung von Fächern nicht ohne weiteres her. Denn es ist aussichtslos, vom Begriff des fachlichen Handelns oder einer fachlichen Handlung her Komplexionen wie „Fächer", „Fachgebiete", „Fakultäten" oder dergleichen durch Verknüpfungs- oder Abtrennungsre5

H a h n , Fachkommunikation

66

Zur Theorie der Fachsprachen

geln festzulegen. Mit Recht zitiert Kalverkämper (Kalverkämper 1979, 64) Popper und seinen lakonischen Hinweis, daß es Fächer gar nicht gibt. Aber freilich mit der Einschränkung, nicht in einem definitorischen Wissenschaftsgliederungsentwurf, also keine „Fächer per se". Dagegen werden deren spezifischen Problemstellungen und Methoden anerkannt und entsprechend ließe sich eine heuristische Fachgliederung aufgrund gleicher oder ähnlicher Problemlösungsstrategien (v. Hahn 1981,5 f.) entwickeln. Heuristisch wieder nur deshalb, weil das Fachlichkeitsproblem von „Fach" auf die Strategien verschoben ist, worunter auch die Methoden fallen. Auf diesen Überlegungen lassen sich aber z. Z. allenfalls Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften einigermaßen exakt voneinander trennen. Der Stand der theoretischen Diskussion über den Fachsprachenbegriff läßt sich im übrigen so charakterisieren, daß entweder sehr formale Begriffe verwendet werden, deren Tragfähigkeit dann bis hin in die sprachpraktische Anwendung nicht nachgewiesen werden kann oder sogar von Anfang an fraglich ist. Oder es wird versucht, operationale Teilabgrenzungen bestimmter Fachsprachen vorzunehmen, wodurch die Begriffe weitgehend isoliert stehen bleiben bzw. ein systemoider Charakter des Gesamtgebiets Fachsprache (-Gemeinsprache) nur auf der Ebene sprachpraktischer Intuition erhalten bleibt. 3.1.4 Sprecher/Hörer Der Sprecher-Hörer-Bezug (Petöfi 1981,157) als elementarer Hintergrund eines Sprachprozesses rückt zunächst die Determinanten in den Blick, unter denen Sprecher fachsprachlich codieren. In der Tat kann man, L. Hoffmann folgend, typische Paare von Kommunikationspartnern als Bedingungen einer horizontalen Schichtung von Fachsprachen, damit aber auch als Abgrenzungskriterium gegen Gemeinsprache, annehmen. Von A bis E sieht er (L. Hoffmann 1976, 186) folgende Gliederung vor (vgl. auch S. 75): A B C

= Wissenschaftler «-» Wissenschaftler = Wissenschaftler (Techniker) Wissenschaftler (Techniker) wiss.-techn. Hilfskräfte = Wissenschaftler (Techniker) p k (gi) < pk (gi) (Dieser Ausdruck ist nicht direkt lesbar, ähnlich einer Grafik). Ebenso wird in Texte eingebettet mit: Hier, wie folgt, wie gezeigt. Während im ersten Fall der Präsentationsort beliebig ist und über den Referenzierungstitel immer eine eindeutige Zuordnung gefunden wird, muß im letztgenannten Fall der Raumkontakt zwischen verweisender Zeile und textfremden Zeichen gewahrt bleiben. Sind die Grafiken komplexer, so müssen zur Orientierung innerhalb derselben Techniken angewendet werden, wie sie bei räumlichen definiten Beschreibungen in Real-Szenen üblich sind: In der linken oberen Ecke, rechts vom Der vordere Teil der Formel bis zum

Gleichheitszeichen... Pfeil...

Das interessanteste Problem daran ist die Auswahl der Auffälligkeitspunkte in solchen Zeichenkomplexen, ein Prozeß, der völlig im dunkeln liegt, weil nie untersucht wurde, wie z.B. komplexe Grafiken gelesen werden.

4.3 Textaufbau Uber wenig Gebiete in der Fachsprachenforschung ist so viel formal Aufmunterndes (L. Hoffmann 1976, 339, auffälliger noch Kalverkämper 1980, L. Hoffmann 1982, Andrä 1982) und gleich-

120

Eigenschaften von Fachsprachen

zeitig so wenig substantiell Inhaltliches geschrieben worden, wie über die fachliche Textstruktur. Andererseits ist die auffällige Strukturiertheit von Fachtexten auf mehreren Ebenen eine schon vorwissenschaftliche Einsicht. In den folgenden Beiträgen wollen wir versuchen, einige kleinere textlinguistische Beobachtungen mitzuteilen, wohl wissend, daß damit nur ein kleiner Schritt auf eine kommunikative Beschreibung, etwa der Textsorten, getan ist (Kalverkämper 1980).

4.3.1 Kohärenz Die Zielorientiertheit von fachlichen Texten führt meist dazu, daß sie explizit kohärent formuliert werden (v. Hahn 1980). Besonders die direkte Wiederaufnahme, in nichtfachlichen Texten stilistisch problematisch, wird als strengstes Mittel der Eindeutigkeitssicherung verwendet. Beispiel:

Die Beamten, Angestellten und Arbeiter an den Hochschulen sind Angehörige des öffentlichen Dienstes der Freien und Hansestadt Hamburg. Dienstvorgesetzter aller Angehörigen des öffentlichen Dienstes an den Hochschulen ist... Teilweise wird dann eine explizite Substitution vorgenommen:

...im folgenden „der Beklagte"

genannt...

Entsprechend scheinen Pronominalisierungen bei weitem nicht die Rolle zu spielen, wie in aktuellen Dialogen mit einem Informationssystem (allerdings in Englisch) festgestellt wurde (Thompson 1980). Ebenfalls auf englischem Material fußend beschreibt Hirst (Hirst 1979, vgl. auch Grosz 1982) die formalen Analyseveifahren für Anaphora in zweckorientierten Texten (Algebraische Texte, Räumliche Handlungsbeschreibungen, Geologie, Bauanleitung). Die zwei daraus zu entnehmenden Haupttechniken sind auch im Deutschen anwendbar, vorausgesetzt, daß man ein Konzept des Hintergrundwissens in seine Sprachtheorie einbezieht: Kohärenz verläuft parallel zu einem hinter der Kommunikation stehenden „technischen" Handlungsziel. Der Zusammenhang der Textelemente ergibt sich aus den Schritten entlang einem Hand-

Textaufbau

121

lungsbaum. Dieser Baum ist entweder im Sinne eines Verfahrens festgelegt (Bauanleitung, Bearbeitungsweg, Arbeitsvorschrift) oder wird durch festliegende Methoden aktuell aufgebaut. Der „Fokus" des jeweiligen Satzes in einem Text ist ein erreichter Punkt eines solchen Schemas. Ähnlich definiert Schonebohm (Schonebohm 1979) seine Texttypen an Handlungsrollen in einem wirtschaftlichen KorrespondenzKontext. Gegenüber dieser starken referentiellen Bindung der Kohärenz werden auch eher konzeptuelle Relationen zwischen Textelementen zur Analyse der Fachtexte herangezogen. Gefunden wurden von Hirst folgende Hauptrelationen (benannt ist die Funktion des zweiten Elements zum ersten): Wirkung, Grund, Schlußfolgerung, Ausführung (Erläuterung), Gegensatz, Parallelismus, Beispiel, Zeitfolge. Derartige Relationen sind in Fachtexten sehr häufig durch Konjunktionen bzw. adverbiale Ausdrücke markiert und durch Absätze formal kenntlich gemacht (Beispiele von uns): Wirkung:

Grund:

Schlußfolgerung:

Ausführung:

Gegensatz: Parallelismus:

Damit haben wir... Was geschieht? Der Organismus färbt sich... Begründung: ... Das liegt an folgender Eigenschaft... Paß auf, das kommt daher, ... Folglich... Das läßt den folgenden Schluß zu: ... Also: ... Demnach: ... Genau genommen .., Im einzelnen... Dazu legt man den Bügel um... Andererseits... Demgegenüber... Ganz ähnlich reagiert... Sinngemäß ist zu verfahren... In analoger Weise...

122 Beispiel:

Zeitfolge:

Eigenschaften von Fachsprachen

Beispiel... z.B.... etwa... Man stelle sich ein ... vor.. Im folgenden... Anschließend wird... Nun kann... Vor Inbetriebnahme...

In mündlicher Rede wird häufig durch absolutes Gut, So, Also, Ja, Nun gegliedert bzw. die Beendigung eines Handlungsschritts angezeigt. Eine Spezialfall der Kohärenz stellen Formulare (i.e.S.) dar, bei denen eine Handlungsfolge und die damit verbundenen sprachlichen Ausdrücke so stereotyp sind, daß nur noch eine Spezifizierung und ein Vollzugszeitpunkt festgelegt werden muß. Der Spielraum ist extrem eng. In der mündlichen Rede sind Segelkommandos ein vergleichbares Beispiel. Mit einem Ist klar wird nur noch der Zeitpunkt des möglichen Beginns eines Manövers gekennzeichnet. Der Text ist nicht wählbar und bietet keine Alternativen. 4.3.2 Texteinbettung Eine mit der Kohärenz kommunikativ eng verkoppelte Eigenschaft von Fachtexten ist ihr starker Einbettungscharakter (Einzelheiten dieses Abschnitts verdanke ich der Magisterarbeit G. Stanienda, Texteinbettungsebenen in Fachsprachen, Hamburg 1981). Vgl. das Beispiel S. 123 für eine Fachzeitschrift. Die Wirkung solcher Textanordnungsstrategien ist so eindeutig, daß jeder kompetente Sprecher ein Buch oder eine Zeitschrift beim ersten Aufschlagen meist als Fachtext/Nicht-Fachtext einstufen kann. Die kommunikative Absicht ist eine optimale Anpassung an die Informationsverarbeitungsstrategie in Fachsituationen: Man hat die Möglichkeit, nur bis zu einer entscheidungsrelevanten Tiefe in eine Informationsquelle einzusteigen. Auf einer so überschaubaren Ebene kann man z. B. eine bestimmte inhaltliche Stelle rascher erreichen als durch Lesen vom Anfang an. Diesen gestaffelten Zugriff muß der Autor vorsehen wegen der Anonymität und der Unvorhersehbarkeit der Benutzungssituation.

Textaufbau

ZEITSCHRIFTENTITEL

AUFSATZTITEL

EINLEITUNG

TEXT

TEXT

VERFASSERADRESSE

AUFSATZTITEL

I I I

AUFSATZTITEL

Abb. 13. Text-Einschachtelung

124

Eigenschaften von Fachsprachen

Für eine solche gesteuerte Textbenutzung in fachlichen Zusammenhängen werden Fachtexte oft mit zahlreichen Metainformation deklariert: Bezug, Verteiler, Mitgeltende Schriften, Beschriftungsanweisungen, Formblattnummer, Randstichwörter, Schlüsselwörter, DKNr., Exemplarnummern etc. Selbst bei mündlicher Kommunikation, z.B. in Instruktionssituationen, sind solche Meta-Informationen wichtig.

Was jetzt kommt, kennen manche schon, die können jetzt weghören; ich gebe erst einen Überblick und stelle dann das Problem nach Fr. W. Kaysers Buch dar. Definitionen wiederhole ich langsam zum Mitschreiben... Mit Registern und Anhängen, Beigaben und herausnehmbaren Teilen werden Fachtexte weiterhin auf die Informationspragmatik eingestellt. Insgesamt kann man feststellen, daß bei Fachsprachen sehr viel Aufwand in die Metainformation gesteckt wird. Oft ist der Informationsanteil dem Deklarierungsteil mengenmäßig weit unterlegen (z.B. bei der amtlichen Bekanntmachung einer Änderung von Vorschriften, z.T. nur von einem Wort). 4.3.3 Text-Bild-Verhältnis Auch S. 83) einer schen

in diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal (s. auch auf das Text-Bild-Verhältnis eingehen. (Details verdanke ich Magisterarbeit von M. Korn, Untersuchungen zur graphiDarstellung wiss. Theorie. Hamburg 1982).

Folgende Typen kommen vor 1) Abbildung eines im Text genannten Objekts (Photo, Grundriß etc.) 2) Schaubildliche Umsetzung von Textdaten (Histogramm, Kurve etc.) 3) Graphisches Modell begrifflicher Zusammenhänge (Grafik i.e.S.) Die Eingliederung in den Text erfordert besonders bei (2) und (3) etwas Aufwand und folgt den beiden Typen:

Textaufbau

125

Abb. 14. Textorientierte und Bildorientierte Anordnung

Versucht man nun, einen genaueren Zusammenhang zwischen Textelementen und Bildelementen herzustellen, so zeigt sich die erste Anordnung als etwas problematisch. Wenn bei der bildorientierten Darstellung möglichst viele Elemente besprochen und mit der dahinterstehenden Hypothese (vgl. Stachowiak 1973) in konkreten Bezug gesetzt werden, so ist die Funktion in der textorientierten Darstellung eher die einer holistischen Zusammenfassung. Zweifellos hat die Grafik (man kann etwa an ein Kommunikationsmodell denken) gegenüber dem Text den Vorteil, daß der Leser noch weitergehend die Lese- *und Verstehensprozesse bestimmt als bei Texten (oder gar gegenüber gesprochener Sprache). Solche Grafiken kann man von verschiedenen Seiten beginnend abarbeiten, man kann vom Detail zum Ganzen gehen, man kann von einem Gesamteindruck zu den Details gehen etc. Wenn nun in textorientierter Darstellung keine eindeutigen Korrespondenzen in bezug auf Objekte und Relationen (z.B. Kästen und Prozeßpfeile) vereinbart sind, ist die Lesart einer Grafik gegenüber dem Text aber relativ unkontrolliert. Hinzu kommt, daß derartige Grafiken nicht formal eindeutig interpretierbar sind. Nicht einmal die Syntax ist graphentheoretisch beschreibbar. Darüber hinaus sind aber wahrnehmungspsychologisch so wichtige Eigenschaften (Daucher 1967) wie Lage im Raum, Größe, Nähe,

126

Praxis der Fachsprachen

Helligkeit, Gleichheit, Seltenheit, Grenzen, Gestaltungsinterpretation und ähnliches völlig unkontrolliert. Schlimmstenfalls kommt es zu Inkonsistenzen zwischen Text- und Bildverstehen. Offenbar ist aber das Bedürfnis nach visueller Parallelinformation sowohl für den Autor als auch für den Leser sehr wichtig. Eigenartigerweise sind auch rein begriffliche Texte (in Geisteswissenschaften) daher oft gekennzeichnet von einer topologischen Metaphorik, so daß man z. B. von einer argumentativen Topologie sprechen könnte. Dort kommen vor: einerseits, andererseits, höherrangige Ziele, Hintergrund, Raum, gebunden an, etc. Hieraus könnte man möglicherweise ableiten, daß Grafiken in wissenschaftlichen Texten auch die Funktion erfüllen, eine konkretisierende Topologie seitens des Lesers zu steuern oder zu korrigieren.

5. Praxis der Fachsprachen 5.1 Pragmatische Voraussetzungen Anknüpfend an Panthers (Panther 1981) Untersuchungen über indirekte Sprechakte (eine der Arbeiten, die Fortschritte in der Fachsprachen-Linguistik nicht fordern, sondern erreicht haben) sowie an das über Anonymisierung S. 113 Gesagte, muß bei der Erarbeitung einer pragmatischen Folie für die Fachsprachenpraxis zunächst von einer starken Rollengebundenheit in der Fachkommunikation ausgegangen werden. Gerade für die Wissenschaftssprache konstatiert Panther „Die Sprecher sind im Grunde auswechselbar, jeder (also auch der Sprecher des entsprechenden Sprechaktes) kann, darf, muß etc. die sprachliche Handlung ausführen. Von hier aus ist es nur noch ein Schritt zu dem Schluß, daß der Sprechakt überindividuell gültige Information übermittle" (das. S. 238) Entsprechendes gilt für die Empfänger: „Man findet z. B. den Fall, daß Autoren Forderungen (meist indirekt formuliert) an Forschungsdisziplinen, Theorien, Methoden etc. stellen, obwohl implizit natürlich nur diejenigen gemeint sein

Pragmatische Voraussetzungen

127

können, die diese Forschungsdisziplinen vertreten ( . . . ) " (Panther 1 9 8 1 , 240). Zweifellos birgt diese Rollenbindung die Gefahr negativer strategischer Ausnutzung gegenüber der Öffentlichkeit in Richtung auf objektivierendes Image, „Weißkittel-Gehabe" etc. Andererseits ist das Rollenverständnis vor dem Hintergrund nicht persönlicher, sondern quasi institutionell intendierter Handlungsabläufe (Arbeit) konstitutiv für die Fachkommunikation, wie Sager (Sager 1 9 8 1 , 200) in Abgrenzung zu beziehungsorientierter Sprache feststellt: Gebrauchssystem

Beziehungssystem

Die Mitglieder der F-Gruppe beteiligen sich an der Kommunikation, motiviert durch das Sachproblem.

Die Mitglieder der F-Gruppe beteiligen sich an der Kommunikation, motiviert durch die Präsenz eines oder der anderen Teilnehmer.

Die Kommunikation kann unabhängig von Motivation und Intention der Mitglieder der F-Gruppe initiiert sein.

Die Kommunikation kann nicht unabhängig von Motivation und Intention der Mitglieder der F-Gruppe initiiert sein.

Die Mitglieder der F-Gruppe Die Mitglieder der F-Gruppe sind, abgesehen von ihrer sind nicht austauschbar. sachlichen Kompetenz, austauschbar. Ein Sachthema ist fixiert und Es sind wird über eine bestimmte Zeit fixiert. (bis zur Lösung der Aufgabe/ des Problems) beibehalten.

keine

Sachthemen

5

Der Kommunikationsverlauf Der Kommunikationsverlauf ist rational und argumentativ, ist sowohl rational als auch emotional und assoziativ.

6

Die Kommunikation kann Die Kommunikation kann (oder könnte) sinnvoll vertagt nicht sinnvoll vertagt werden, werden.

Praxis der Fachsprachen

128

7

Gebrauchssystem

Beziehungssystem

Notwendigkeit und Bedürfnis (Motivation) zur Kommunikation bestehen nicht mehr nach Lösung der Aufgabe/des Problems.

Notwendigkeit und Bedürfnis (Motivation) zur Kommunikation bestehen unabhängig von der Lösung von Aufgaben/Problemen.

(F-Gruppe = Teilnehmer einer face-to-face-Kommunikation). Diese Zusammenstellung führt Habermas' (Habermas 1968, 64) frühere ähnlich aufgebaute Tabelle mit stärker pragmatischem Zugriff fort und zeigt, daß die Kommunikationspartner, deren jeweilige Sachkompetenz vorausgesetzt wird und im Selbstbild sowie gegenseitigen Partnerbild inkorporiert ist, ihre Kommunikation auf vier konstitutive Faktoren aufbauen und jeweils neu beziehen: Institution (organisatorischer Zusammenhang der Tätigkeit), Rolle in der Arbeitsorganisation, Sachproblem und fachliche Methode. Diese hier pragmatisch gewendeten Grundlagen sind alles andere als neu. Sie wurden in wesentlichen Teilen bereits 1965 von Möhn (Möhn 1965) aus einem eher volkskundlichsoziologischen Ansatz herausdifferenziert. Sie finden sich ebenso, wenn auch sporadisch, wieder in Industriepsychologie und Betriebssoziologie, soweit sich diese nicht ausschließlich mit den - je nach Couleur als disfunktional oder stabilisierend angesehenen — sozialen Kommunikationswegen und -bedürfnissen beschäftigen. Zu den erneut zu diskutierenden pragmatischen Voraussetzungen gehören auch die Implikationen von gesprochener gegenüber geschriebener Kommunikation. Zwar ist der Gegensatz „schriftlichmündlich" in der Fachsprachendiskussion immer wieder verhandelt worden. Die Pragmatik der beiden Kanäle aus der Sicht der Kommunikationspartner ist dagegen noch nicht systematisch untersucht worden. Wir legen daher eine vorläufige Liste von Eigenschaften beider Textklassen vor, die wenigstens grundlegende Unterschiede benennt.

Pragmatische Voraussetzungen

spontan gesprochen

129

geschrieben

1 sequentielle Decodierung

eingeschränkt beliebige Decodierung

2 Formulierungsprozeß offen

Formulierungsprozeß verdeckt

3 i. d. R. nicht reproduzierbar

reproduzierbar

4 schwer dokumentierbar

einfach dokumentierbar

5 geringer Zeitaufwand

höherer Zeitaufwand

6 Metainformation simultan einkanalig, getrennte explizite über Prosodie und paralingu- Metainformation istische Kanäle 7 Produktion und Rezeption Produktion von Rezeption zeit-/ räumlich getrennt zeit-/räumlich gleichphasig 8 faktische Authentizität

Authentizität bezweifelbar

9 illokutionsbetont

propositionsbetont

10 Kreis und Reaktion der Rezi- Rezeption kaum kontrollierbar pienten kontrollierbar 11 durch Rezipienten lierbar

kontrol- Autor unkontrollierbar

12 situationsimplizierend

explizit

13 aktuelle Obligationen

anhaltende bzw. explizit begrenzbare Obligationen

14 Sozialbeziehung implizierbar

Sozialbeziehung ausschaltbar

Besonders in der Organisation von Betriebskommunikation werden die pragmatischen Eigenschaften der beiden Realisierungstypen systematisch eingesetzt. Die Typen „Mitarbeitergespräch" (Neuberger 1973), „Presseerklärung" (z.B. über ein neues Produkt), „Prüfungsprotokoll" (Pelka 1971, 40) etwa zeigen, daß mündlich/schriftliche Realisierungen nicht beliebig austauschbar sind oder nur als Vorstufen zueinander verstanden werden dürfen. 9

Hahn, Fachkommunikation

130

Praxis der Fachsprachen

5.2 Betriebliche Kommunikation In diesem Kapitel wollen wir Vorschläge unterbreiten, wie ein (im Sinne linguistischer Pragmatik) pragmatischer Fachkommunikationsansatz als ein Korrektiv für bisherige betriebswirtschaftliche und industriesoziologische Interpretationen der betrieblichen Kommunikation auszubauen sein könnte. Dabei schlagen wir einen Darstellungsformalismus für Kommunikation, ein Kommunikogramm vor. Im zweiten Teil wird eine Fallstudie für die Fachkommunikation in der Forschungsorganisation vorgelegt. Neuere wirtschaftswissenschaftliche Fragestellungen im Bereich Planung und Kontrolle (Zur historischen Entwicklung vgl. Ansoff 1981) sowie in der Organisationstheorie (vgl. Grochla 1975) haben gezeigt, daß der innerbetrieblichen wie außerbetrieblichen Information bei der Betriebsführung eine ganz entscheidende Qualität zukommt. Grochla und Welge (in Grochla 1975, 93) differenzieren die Kommunikation dabei grob wie folgt:

Abb. 15. Betriebsumgebungen (Grochla/Welge)

Unter Kontext verstehen sie dabei den Markt, die Konkurrenz etc., die Systemstruktur ist die des eigenen Betriebs. Sie stellen dabei ihrerseits die bisherige Sicht der Informationsprobleme in Frage. Auch für eine genauere linguistische Untersuchung der Fachkommunikation Maßstäbe setzend ist der Versuch von Hinings/Pugh/

Betriebliche Kommunikation

131

Hickson/Tumer (in Grochla 1975, 106-117), Organisation und die dabei auftretenden Kommunikationsprozesse vor dem Hintergrund der folgenden sechs Dimensionen zu betrachten _ 1) Die Spezialisierung, die die Arbeitsteilung innerhalb einer Organisation widerspiegelt; 2) Die Standardisierung als das Ausmaß, in dem Tätigkeiten und Rollen prozeduralen Regeln unterworfen sind; 3) Die Formalisierung, die danach unterscheidet, inwieweit Kommunikation und Verfahrensweisen in einer Organisation schriftlich niedergelegt sind; 4) Die Zentralisation, die den Ort der Autorität für Entscheidungen betrifft, die für die gesamte Organisation von Bedeutung sind; 5) Die Konfiguration, bezogen auf die Organisationsform; 6) Die Flexibilität, als Ausdruck der Veränderung der Organisationsstruktur. Im Sinne einer handlungsorientierten Interpretation höchst bedeutsam ist die dann folgende nach Wichtigkeit geordnete Liste von empirisch festgestellten 16 Spezialtätigkeiten der Organisation (außer der primären Arbeit), die unter den o. g. sechs Dimensionen einen Gliederungsvorschlag zu Punkt (1) darstellen. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14.

Beschaffung und Kontrolle materieller Einsatzgüter Aufzeichnung und Kontrolle von Finanzmitteln Erhaltung und Ausbau materieller Hilfsmittel Transport von Fertigprodukten und Hilfsmitteln Betreuung und Erhaltung der Beschäftigten Qualitätskontrolle (...) Regelung und Koordination des Arbeitsflusses Disposition, Distribution und Wartung der Fertigprodukte Entwicklung neuer Produkte und verbesserter Arbeitsprozesse Personaleinstellung Regelung und Leitung der Produktion Regelung und Aufzeichnung von Verwaltungsvorgängen Weiterbildung und Schulung von Mitarbeitern Weiterentwicklung, Legitimierung und Symbolisierung des Charakters einer Organisation 15. Vertretung der rechtlichen Interessen (...) 16. Informationsbeschaffung auf dem Betriebssektor 9*

132

Praxis der Fachsprachen

Interessant ist diese Tätigkeitsliste u. a. deshalb, weil sie ganz unterschiedliches Informationsverarbeitungsverhalten erwarten läßt. Allerdings erscheint es auf den ersten Blick merkwürdig, daß die Informationsbeschaffung selbst dabei an letzter Stelle rangiert. Das hat wohl drei Gründe: Zunächst ist die zugrundeliegende Untersuchung an 52 Organisationen Mitte der sechziger Jahre entstanden, als das Informationsproblem noch nicht so klar gesehen wurde; zweitens ist in betrieblichen Organisationsformen eine explizite Spezialtätigkeit für die Informationsbeschaffung in der Tat erst ab einer bestimmten Größe vorgesehen. Drittens hat die Einführung der EDV das Bild in der „betrieblichen Informationswirtschaft" (Titel von M. Hoffmann 1976) inzwischen entscheidend verändert. Dennoch ist die Rangstellung dieser Spezialtätigkeit noch heute ein Gradmesser für die Einschätzung des Wertes und der Prozeduren von informationsbezogener Tätigkeit in einem Großbetrieb.

5.2.1 Betriebswirtschaftliche Kommunikationskonzepte Die betriebswirtschaftliche und überwiegend auch die industriesoziologische Literatur nehmen mehr oder weniger bewußt eine Verkürzung des Informationsbegriffs vor, der Art, daß unter Information nur verwertbare Daten (Pöhler 1969, 164), aber unter ihnen nur sichere, eindeutige, meist numerische Daten verstanden werden. Es ist typisch, daß der Begriff der Meldewerte dabei eine große Rolle spielt. In dieselbe Richtung geht der Informationsbegriff, der hinter folgendem Zitat steht: „Der Funktionsträger strebt nicht zwingend eine vollständige Dekkung (des Informationsbedarfs, v. H.) an, sondern begnügt sich mit einer hinreichenden Bedarfsdeckung (...). Im übrigen ist davon auszugehen, daß der menschliche Problemloser seinen (objektiven) Informationsbedarf nicht vollständig kennt." (Witte in Grochla 1975, 390). Mertens (in Steinmann 1982, 355) nennt als wesentliche betriebliche Daten, die Gegenstand der Kommunikation sind, die sog. Stammsätze:

Betriebliche Kommunikation Betriebsmittel Teile Erzeugnisstrukturen Fertigungsvorschriften Personalkapazität

133

Mitarbeiter Kostenstellen Kunden Lieferanten Projekte

sowie im „Vormerkspeicher" (leicht gekürzt): Eröffnete Angebote Noch nicht abgerechnete Aufträge Offene Posten Debitoren Offene Posten Kreditoren Noch nicht gemeldete Inventuren Offene Fertigungs- und Instandhaltungsaufträge Lagerüberweisungen Wareneingänge ohne Abrechnung Offene Bestellungen Sicher ist ein wichtiger Teil der inner- wie außerbetrieblichen Kommunikation von der Weitergabe solcher Daten bestimmt. Von kommunikationswissenschaftlicher und linguistischer Seite her ist aber der Versuch zu unternehmen, den Informationsbegriff und damit die Aussagekraft des Kommunikationsbegriffs zu erweitern und mit den dort und in der Fachsprachen-Diskussion bekannten linguistischen Sachverhalten in Beziehung zu setzen. Der eingeschränkte Blickwinkel wird andererseits in betriebswirtschaftlichen Schaubildern der externen betrieblichen Kommunikation auch faktisch überholt. So hat Grinyer (in Steinmann 1982, 206 s. auch Ansoff in Steinmann 1982, 62) in seinem Modell des „Business Strategie Planning" Pfeile mit unklaren Grenzen und schraffierter Fläche für „information from the environment" eingezeichnet. Eher nebenbei und als Beispiel für betriebliche Herrschaftsansprüche behandelt Pöhler (Pöhler 1969), „daß Sachverhalte und Prozesse in verschiedenen Sprachen mit jeweils besonderen Regeln dargestellt werden können" (das. 165). Er nennt dann aber sehr untypisch die Sprache der Buchhaltung gegenüber der wissenschaftlichen Theoriesprache; sind doch beides Ausprägungen innerhalb derer sich der positive („harte") Informationsbegriff noch recht gut wiederfinden läßt. Chorafas (Chorafas 1972, 35) führt eine Informationspyramide auf, die auf der Basis gesicherter

134

Praxis der Fachsprachen

Information steht und hinaufführt zu stark unstrukturierter Informationsumwelt:

STARK STRUKTURIERTE

INFORMATIONSUMWELT

Abb. 16. Informationspyramide nach Chorafas Schon Hinings (Hinings 1 9 6 4 ) wendet folgende Differenzierung betrieblicher Kommunikation als Gliederungskriterien einer betriebsübergreifenden Kommunikationsstudie (beschrieben in Blum/Naylor 1968) an: 1) 2) 3) 4)

Ort (der kommunikativen Tätigkeit) Zeitpunkt Dauer Aktivität:

sprechen/hören — Medium — Teilnehmer — deren Status

schreiben

— Medium — Routinegrad — Formulierungsstufe (1,2, 3,...) — Organisationszuge— Initiative hörigkeit des Adres— Organisationszusaten gehörigkeit des — Status des AdresPartners saten

lesen Medium Routinegrad

Organisationszugehörigkeit des Produzenten Status des Produzenten

Betriebliche Kommunikation

135

5) Inhalt: technisch — nicht technisch 6) Zusammenhang der Sprache mit nichtsprachl. Aktion 7) Herkunft der Inhalte der Kommunikation: selbst — andere — unbekannt 8) Eigene Funktion beim Kommunikationsprozeß: Hauptsächlich — Information abgebend — Information aufnehmend — Information austauschend 9) Bewertung: notwendig — förderlich - überflüssig Progressiv beschreibt ein Computer-Fachblatt (Computer Magazin 5, 1982, 27ff.) die „Machtergreifung der neuen Supermänner'V nämlich der Informationsmanager. „Für Futurologen zumindest ist klar, daß diese neue Spezies von Spitzenkräften auch im Firmenolymp ihren berechtigten Platz finden wird". Hier ist die Reduktion des Informationsbegriffs stark auf EDV hin vollzogen, wenn auch als „Managerielle Aufgaben" u. a. aufgeführt sind: — sinnvolle und effiziente Verknüpfung des Wissens unterschiedlicher Gebiete — Bestandsaufnahme der kommunikativen Situation im Unternehmen (...) — kontinuierliche Überwachung und Steuerung des Informationsflusses. Zwei Sachverhalte haben m. E. den in Betriebswirtschaftslehre und Industriesoziologie vorherrschenden Informations- und damit auch den Kommunikationsbegriff endgültig in Frage gestellt: 1) Das Scheitern der Management-Informationssysteme (MIS) (vgl. Lucas 1975). Von vielen Benutzern solcher Systeme wurde bemängelt, daß die Kumulation allein der harten Information, d. h. vorwiegend von Zahlenwerten, unbrauchbar sei, die kooperative Aussprache über Daten sei wesentlich problemange-. paßter (entscheidungsgerechter) und sei der lückenlosen Uberschau von Fakten allein bei weitem überlegen. Die Systemdesigner beklagten geradezu ein von vielen Managern bevorzugtes heuristisches Verhalten, eine Strategie, die, geht man davon aus, daß Manager qua definitionem erfolgreich sind, ein integriertes Element ihrer erfolgreichen Arbeit ist. Pöhler (Pöhler

136

Praxis der Fachsprachen

1969, 165) diagnostiziert ähnliche Probleme, „wenn Sachbearbeiter, Abteilungsleiter und Mitglieder des Managements Daten, die sie bisher in linguistischer Form erhielten, plötzlich in numerischer Form erhalten." Ganz offensichtlich hat die konsequente technische Umsetzung des reduzierten Informationsbegriffs die Schwächen dieses Konstrukts auch in der Praxis zutage gefördert. 2) Die Notwendigkeit eines dynamischen betrieblichen Planungskonzepts durch innovativen Wandel, nicht durch Extrapolation aus der angesammelten Datenbasis. Wandel als Planungskonzept muß, da Zukunftsdaten nicht erhältlich sind (Witte in Grochla 1975, 390), systematisch vage Information über Trends, über Geschmack, über Planungen anderer, über Prognosen etc. einbeziehen, wodurch der Gedanke der Absicherung allein durch aktuelle betriebliche Meldewerte stark eingeschränkt wird. Neben diesem Typ der Kommunikation über „harte" Daten kennt die entsprechende Literatur (auch die aus der Betriebspsychologie) nur die soziale Kommunikation unter den Mitarbeitern, die unter dem Gruppenbeziehungsaspekt betrachtet wird. Wir haben im letzten Abschnitt sehr weit in die wirtschaftswissenschaftliche und betriebssoziologische Literatur ausgeholt, um aus dem Kontrast einen breiteren Informationsbegriff zu entwickeln. Wir sind der Meinung, daß betriebliche Kommunikation nicht zerlegbar ist in soziale Kommunikation unter den Mitarbeitern, die als relevant für die „job satisfaction" geduldet wird, und betriebliche Daten, die als Kontroll- und Planungsinstrument Verwendung finden. Vielmehr ist der fachkundige Dialog als interpretierende Tätigkeit ein kommunikatives Paradigma ersten Ranges (vgl. die Übersicht von Schreyögg in Steinmann 1982, 105). Nicht nur durch damals fehlende technische Medien (bei den ersten Untersuchungen), sondern sicherlich wesentlich aus Notwendigkeit nimmt die direkte mündliche Kommunikation einen großen Anteil der Arbeitszeit von Managern ein (Neuberger 1973, 21):

Betriebliche Kommunikation Autoren Burns 1 9 5 4 Dubin/Spray 1 9 6 4

Personen

137

verbale Kontakte/ Arbeitszeit

4

80 %

8

54 %

66

63 %

Steward 1 9 6 7

160

56 %

Kevenhörster 1 9 7 2

194

42-50%

Horne/Lupton 1 9 6 5

Für den wissenschaftlichen Sektor hat Hinrichs (Hinrichs 1964) bei 2 3 2 englischsprachigen Informanten folgende durchschnittliche Verteilung der kommunikativen Aktivitäten je 8 Std.-Tag festgestellt: Keine Kommunikation Kommunikation total davon sprechen/hören davon spontan und informell Besprechungen Telefon schreiben lesen

%

39 61 35 19 10 6 16 10 100

61

35

%

Die innerbetriebliche Fachkommunikation und die Information von und nach außen besteht gegenüber den operationalisierten Reduktionen eben auch aus dem Laborgespräch, der wöchentlichen Management-Besprechungsrunde, der Nachfrage des Abteilungsleiters beim Schichtführer, der innerbetrieblichen Ausbildung, der imagepflegenden und werblichen Publikationen nach außen, und vielem anderen, dessen Wert als planungsrelevante Information kaum zu bestreiten ist. Krause (Krause 1 9 7 2 , 1 4 6 ) führt unter inhaltlichem Interesse etwa als typischen Fall der Bearbeitung eines Kundenauftrags folgende

138

Praxis der Fachsprachen BESTELLUNG

Bearbeitung der 1. P o s t e i n t r a g u n g 2. E i n h o l u n g

Bestellung:

und Bestätigung des

Eingangs

von A u s k ü n f t e n über unbekannte

Besteller

3. P r ü f u n g a u f Ü b e r e i n s t i m m u n g m i t a b g e g e b e n e n A n g e b o t e n u n d Klttrung d e r B e s t e l l u n g , I n s b e s o n d e r e d u r c h E i n s e t z e n von Werkbezeichnungen (Typen-Angaben, Prelsl1sten-Nr. usw.) k.

Klärung der Llefer- und Versandvorschrlften sowie der Zahlungsbedingungen

S. A u s s c h r e l b e n d e s K u n d e n a u f t r a g e s m i t F e s t l e g u n g d e r Auftragsnummer und Unterrichtung der beteiligten Betrlebsstellen 6. AuftragsbestfttIgung

KUNDENAUFTRAG

Kl« r u n g d e r A u f t r a g s e r l e d l g jng, d . h . A u f t r a g w l ^ d a u s g e f ü h r t clurch b)

FertIgungsauftrag

(soweit 1. F e s t s t e l t e n

des

(...) 2. F e s t s t e l l u n g d e r Versandtermine

1.

e r f o r d e r t Ich):

Zusammenste11ung der technischen Sonderwünsche des Kunden

2. A n g a b e d e r für d i e FertIgung erforderllchen Konstruktlonsunter lagen, P r ü f u n g a u f Vol 1 stSndlgkelt, Veranlassung etwaiger Neukonst rukt1onen und Abänderungen }. F e s t s t e l l u n g d e r L 1 e f e r t e r m l n e für Werkstatt, Montage, Abnahme und Versand k. A u s s c h r e l b e n d e s Fert1gungsauftrag5. Unterrichtung der betel1 igten Betrlebsstellen

LAGERVERSANDAUFTRAG

FERTIGUNGSAUFTRAG

1. E i n s i c h t in B e z u g s que11ennachwe1s 2. A n f r a g e n a n Z u l l e f e rer auf Grund der einzelnen Angaben Im K u n d e n a u f t r a g 5. Ü b e r w a c h u n g d e s E i n gangs der Angebote >t. Z u s a m m e n s t e t l u n g der Angebote S. V e r g l e i c h d e r A n g e bote und Entscheidung

6. A u s s c h r e l b e n d e s E inkaufsauftrags. Unterrichtung der betel1 Igten Bet r l e b s s t e l len

EINKAUFSAUFTRAG

Abb. 17. Arbeitsschritte einer Bestellung (Krause)

Betriebliche Kommunikation

139

Schritte auf, die fast ausnahmslos mit fachlicher, aber nicht faktenorientierter innerbetrieblicher Kommunikation verbunden sind: In allen genannten Fällen ist die Kommunikation von ihrer Struktur und von den Übertragungsprozessen her alles andere als das Übermitteln eines Werts. Daß darüber hinaus zwischen einzelnen Abteilungen des Betriebs, zwischen Gruppen und zwischen Fachleuten etwa des Rechnungswesens und der Entwicklung nicht nur eine unterschiedliche Terminologie und ein anderer Jargon geredet wird, sondern daß sie u. U. sogar länger diskutieren müssen, um sich ihre wechselseitigen Standpunkte begreiflich zu machen, ist eine linguistische wie auch betriebspraktische Binsenweisheit. Sie soll im folgenden (S. 146 f.) als „betriebliche Codierungsschwelle" behandelt werden. Die je arbeitsgerechte Zergliederung und Zubereitung von Informationen selbst im Bereich „harter" Daten wird deutlich, wenn m a n sich die allein für einen Fertigungsauftrag notwendige Zahl von speziell formatierten Unterlagen vor Augen führt (Krause 1972, 44, vgl. auch Pelka 1978) (in alphabetische Reihenfolge gebracht): Akkord-Schein Arbeitsfolgekartei Arbeitsplan Arbeitsverteilkartei Belastungsschein Bestellung Entnahme-Belastungsschein Fertigungsplan Ist-Stand-Kontrolle Laufkarte Maschinengruppenbild Maschinenbelegungsplan

Materialbereitstellungsschein Materialdisposition Materialentnahmeschein Materialtermine Pendelkarte Stammkarte Stückliste Terminkarte Wareneingangsschein Werkstattkarte Zeichnung Zentrale Verteilkartei

Wir hatten bisher die Verkürzung des Informationsbegriffs vor allem vom Inhalt her aufgezeigt.

140

Praxis der Fachsprachen

Sieht man aber einmal von der Frage ab, welcher Art die Informationen sind und wie sie formatiert sind, so ist auch die Nutzbarkeit vorhandener Informationswege nicht gleichartig. Ein bezeichnendes Licht auf die arbeitsorientierte Kommunikation selbst in der betrieblichen Kleingruppe wirft die Untersuchung von Lickert (in Neuberger 1973, 32), der folgende Selbst- und Fremdeinschätzung der Kommunikationsbarrieren festgestellt hat:

Aussage

Vorgesetzte

Meister

über Meister über sich

Meister

Untergebene

über

über sich

Untergebene

„Kann frei über Arbeits90% angelegenheiten mit Vorgesetzten reden" „Kann ziemlich frei über 10% Arbeit mit dem Vorgesetzten reden" „nicht besonders frei..." „ . . . überhaupt nicht frei..." -

67%

85%

51%

23%

15%

29%

10% -



14%

-

6%

Nimmt man hierzu die o. a. (S. 139) Verständigungsschwierigkeiten linguistischer Art sowie die zweifellos vorhandenen Probleme der korrekten Dekodierung von (besonders sprachlicher) Information aus dem „Kontext" (S. 130), so wird klar, daß man die betriebliche Kommunikation in einem revidierten Ansatz vor allem unter folgenden Aspekten studieren muß: — Wie ist Information zugänglich? — Wie wird Information kommentiert (implizite Verstehensanleitungen etc.)? — Welche Verstehensbarrieren beinhaltet ein Kommunikationsweg (Codierungsschwellen) ? — Wer löst Informationsaustausch aus (Initiative) ? — Wie manifestiert sich die Partnereinschätzung? — Welcher Art sind „Lese"- und Verstehensgewohnheiten gegenüber den einzelnen Medien (Texte, Zahlen, Grafiken, Gesprochene Sprache, Telefonat etc.)?

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— Wie frequent werden die Kommunikationswege in welchen Richtungen genutzt? — Mit welcher Absicht werden welche Kanäle gewählt? Diese alles andere als vollständige Auflistung stellt Fragen aus dem Gebiet der Pragmatik, die - das muß ebenso deutlich gesagt werden — auch von der Fachsprachenforschung noch nicht angegangen wurden.

5.2.2 Betriebspsychologie Seitdem Blum und Naylor 1968 wichtige Grundlagen moderner Betriebspsychologie vorgelegt hatten, wurden die dort aufgeführten Bedingungen sprachlicher betrieblicher Kommunikation in vielen Variationen weiterzitiert. Demnach ist für eine ungestörte Kommunikation entscheidend (Blum/Naylor 1968, 453 ff.): — Informationskanäle müssen allen bekannt sein, — sie müssen von allen zur selben Zeit benutzbar sein, — sie müssen so kurz wie möglich sein, — sie müssen „autoritativ" sein, d. h. anerkannt, dadurch daß man davon ausgeht, daß man die Information versteht, sie für übereinstimmend mit den Zielen der Organisation hält, sie für vereinbar hält mit den Zielen der Beschäftigten — sie müssen in beiden Richtungen frei benutzbar sein. Neben diesen grundlegenden, wenn auch keineswegs systematischen Aussagen, wurde etwa von Franke (Franke 1975) beigetragen, daß die Problemlösestrategien, die Art der Formulierung in der „Sprache der Situation" (S. 148, 154) eine wesentliche Rolle spielt. Gerade dieser über die bisherigen Aussagen weit hinausführende Ansatz wird aber nicht weiter ausgeführt. Auch die Untersuchungen von Dridse (Dridse 1975) führen kaum weiter aus, was an interessanten Fragen der Informationshaltigkeit von Texten angesprochen wird. Als semiotische Gruppe wird eine Gemeinschaft gleicher Terminologie und gleicher sprachlich-kommunikativer Fähigkeiten herausgestellt, das semiotische Niveau bestimmt sich nach der Fähigkeit konzeptuelle und sprachliche Kategorien zu integrieren. Leider ist die Studie zu wenig fachsprachlich (Wirt-

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schaftsbericht einer Zeitung), um in größerem Umfang einschlägig zu sein. Zudem ist die Untersuchung linguistisch wenig tragfähig, wenn auch sozialwissenschaftlich recht zuverlässig angelegt. Vikkers (Vickers 1974, 165 f.) weist unter dem allgemeinen Stichwort des Konfliktmanagements darauf hin, daß in persuasiven Situationen in der betrieblichen Wirklichkeit immer auf der Ebene der kontroversen Frage, aber auch auf der Ebene der Regelung des zukünftigen Verhältnisses der Beteiligten argumentiert werde, ja, daß diese zweite Ebene die erste oft stark überlagere. Zwei aus der Sicht der Fachsprachenforschung wesentliche Verkürzungen des Problemfeldes treten in der Literatur zur Betriebspsychologie immer wieder auf: 1) Die Perspektive ist durchgängig orientiert an Management und der sachlichen Optimierung des Betriebs. 2) Verbesserung der Kommunikation wird vorwiegend beschränkt auf idealisierte oder technische Aspekte wie Durchgängigkeit des Kanals, Verständlichkeit, Erreichbarkeit etc. In sehr praktisch ausgerichteter Literatur (etwa Korff 1974) wird entsprechend alles, was nicht sowohl betriebsfunktional als auch eindeutig codiert ist, als nichtrational zunächst ausgegrenzt. Daß später das Nicht-Rationale über den Begriff „Kreativität" wieder zu Ehren kommt, zeigt aber die Hilflosigkeit im Umgang mit diesen Begriffen als eine ausgewogene Beurteilung von menschlichem arbeitsgerichtetem Kommunikationsverhalten. Am weitesten geht auf sprachliche Phänomene dann Hacker (Hakker 1978) ein. Zwar ist sein Ausgangspunkt sozialistisch und aus der Sicht der Arbeiter formuliert, sehr schnell schwenkt der Autor aber dann in die Optimierungsthematik ein und konzentriert sich „— auf die kognitive Funktion, d. h. die Rolle sprachlicher Tätigkeit in der differenzierten Erkenntnis der Umwelt, und — die interne regulative Funktion, d. h. die ausführungsregulatorische Seite der Umsetzung von Informationen in Anweisungen oder Selbstbefehle und Aktionsprogramme sowie deren Verwirklichung und Kontrolle."

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Damit ist die Darstellung eingeschränkt auf die praktischen Fragen der Informationsverarbeitung von Termini, was Erwartung, Behalten und Erfassen angeht, sowie auf verbale Selbstinstruktion und inneres Sprechen als Optimierungsmittel mechanischer Arbeit. Die zunächst so vielversprechende Liste von Variablen sprachlicher Tätigkeit in Arbeitsprozessen wird später nicht weiter ausgeführt: „In Abhängigkeit vom Ablauf des Arbeitsprozesses können innerhalb von Kommunikationszielen, Zeichensystem und Kommunikationsnetz qualitative und quantitative Formveränderungen der Sprechtätigkeit auftreten: J e nach den Erfordernissen der Arbeit variieren: — die allgemeine Häufigkeit von Nachrichten während der Arbeit — die Wortmenge — die Dauer der Sätze. Die qualitativen Veränderungen betreffen: — den Wortschatz (Fachtermini und Verschmelzungen von Allgemeinsprache und Fachwortschatz); — phonetische Veränderungen durch arbeitsbedingte Modifikation von Tempo, Intensität oder Intonation; — morphologisch-syntaktische Veränderungen (Substantive, Adverbien oder Adjektive nehmen Imperativwert, Numera [sie!], Adjektive Substantivwert an; unvollständige „elliptische" Sätze mit dem Charakter der Tätigkeitsaufforderung)" (Hacker 1 9 7 8 , 161). Insgesamt stellt Hacker aber dennoch in der Betriebspsychologie einen erheblich reflektierteren Forschungsstandpunkt dar, als das auf Management ausgerichtete Gros der Arbeiten, die über die bekannte Teilung in präzise optimierbare Arbeitskommunikation einerseits und wegen des Betriebsklimas zu duldender Sozialkommunikation andererseits nicht hinauskommen. Realistische Arbeiten müssen zwar die betriebspsychologische Literatur berücksichtigen, aber zunächst die ganze Breite und Vielfalt betrieblicher Kommunikation einbeziehen und systematisch bearbeiten.

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Ein erster Schritt dazu könnte sein, eine vergleichbare Repräsentation (Darstellungsform) verschiedener Kommunikationsprozesse herzustellen, so daß man Typisierungen von kommunikativen Organisationsformen herausarbeiten und z.B. ihre Wirkung und Situationsangepaßtheit vergleichen kann. Nach einem solchen Repräsentationsschema könnten auch der Einsatzort und die Aufgaben eines sinnvoll eingesetzten rechnergestützten betrieblichen Informationssystems geplant werden, ohne daß man der EDV-Euphorie verfällt, alle wesentlichen Kommunikationsprozesse könnten bzw. sollten über Bildschirm und Tastatur oder gar Sprech-Ein/Ausgabe abgewickelt werden. Im folgenden soll eine formale Sprache vorgestellt werden, aus deren Elementen Repräsentationskonstruktionen (Boley 1976) aufgebaut werden können, die wir „Kommunikogramme" nennen wollen. Es handelt sich um eine Art vereinfachter und spezieller Petri-Netze (Reisig 1982).

5.2.3 Das Darstellungsmittel Kommunikogramm Kommunikogramme erlauben eine ganzheitliche Beurteilung eines institutionellen Kommunikationszusammenhangs, wobei zusammenhängend abgelesen werden kann: Beteiligte Handlungsträger Richtung einer Informationsübertragung Informationsressourcen Initiative des Austauschs Codierungsschwellen Frequenz über einen Zeitraum Kanal der Kommunikation je einzelner Übertragung Institutioneller Rahmen Bei der Darstellung des „Kommunikationsumsatzes" einer Institution kann man zudem die vorteilhaften Eigenschaften der Abstraktion und Verfeinerung bei Petri-Netzen ausnutzen. Damit können nebensächliche Bereiche oder solche, auf die in einer Arbeitsphase wenig Aufmerksamkeit gerichtet ist, sehr grob abgebildet werden, während man anderswo Details bis auf die Ebene der Arbeitsschritte formal konsistent in derselben Sprache beschreiben kann.

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Ich beschreibe hier die Darstellungstechnik Kommunikogramm in einem informellen Text. Eine formale Beschreibung folgt demnächst an anderer Stelle.



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Handlungsträger, aktive Funktionseinheit j | i

Handlungsträger höherer Ordnung. Bei einer Abstraktion sind sie als K-Elemente darstellbar

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Dateneinheit als passive Funktionseinheit

('iP)

Nachricht (pass.) kann folgenden Klassen (Kanalgruppen) angehören

Wissen (pass.)

Nt telefonisch N d direkt N s schriftlich Nachrichtenfluß, Zugriffsmöglichkeit weist auf die initiative Einheit