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German Pages [299] Year 2019
Martin Erian / Primus-Heinz Kucher (Hg.)
Exploration urbaner Räume – Wien 1918–38 (Alltags)kulturelle, künstlerische und literarische Vermessungen der Stadt in der Zwischenkriegszeit
Mit 14 Abbildungen
V& R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber https://dnb.d-nb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung des Vizerektorats fþr Forschung der UniversitÐt Klagenfurt, des Dekanats der FakultÐt fþr Kulturwissenschaften der UniversitÐt Klagenfurt und Overheadmitteln des FWF-Projekts P-27549. Diese Publikation ist peer-reviewed. 2019, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Wien Museum, Carry Hauser : Laster, 1923 (Inventarnummer: 101234/9) Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-7370-1071-9
Inhalt
Martin Erian / Primus-Heinz Kucher Exploration urbaner Räume – einleitende Bemerkungen
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Walter Fähnders Berlin, Paris, Moskau – und Wien. Metropolenwahrnehmung im Vergleich, mit Blick auf Hugo Bettauer und andere . . . . . . . . . . . . .
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Primus-Heinz Kucher Zwischen Revolution, Spekulation, Inflation und Kastration. Literarische Streifzüge durch das Wien der 1920er Jahre . . . . . . . . . .
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Thorsten Carstensen Die Kommerzialisierung des Alltags in Felix Dörmanns Roman Jazz . . .
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Hildegard Kernmayer Poetik des Urbanen: das Feuilleton und die Stadt
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I.
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Martin Erian »Pflichtbewußte Tagesschriftsteller« im Wien um 1918: Zu den Reportagen Else Feldmanns und Bruno Freis im Abend . . . . . . . . . . 107
II. Evelyne Polt-Heinzl Von oben – Wolkenkratzer und Überblick. Großstadtwahrnehmung zwischen den Kriegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
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Inhalt
Rob McFarland Wiens mediale Wolkenkratzer : vermittelte Urbanität in Ann Tizia Leitichs Amerika-Reportagen 1923–1932 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Rebecca Unterberger Wo »alles erhältlich ist, was es in dieser Welt gibt: Ware, Vergnügen, Elend, Liebe und Seelenheil«: Das Warenhaus als Kult(ur)-Tempel . . . . 165 Ruth Hanisch Muriel, Gina und der Herr Professor : Interieurs für die Wiener Intelligenzia der Zwischenkriegszeit von Hofmann & Augenfeld . . . . . 183
III. Veronika Hofeneder Am Rande der großen Stadt – Potenziale und Grenzen urbaner Raumerfahrungen von Frauen in Wien-Romanen der Zwischenkriegszeit
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Martina Zerovnik Kino – Moloch – Stadt. Das Kino der Zwanzigerjahre als diskursiver Ballungsraum städtischer Konflikte am Beispiel Wiens . . . . . . . . . . 217 Aneta Jachimowicz »Segn S’, so heiter ist das Leben in Wien«. Das Großstadtbild in Marta Karlweis’ Familienroman Schwindel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Juliane Werner »La fin de Vienne 8tait dans l’air«. Das Wien der 1920er Jahre aus amerikanischer und französischer Sicht: William Carlos Williams und Emmanuel Bove . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Anne Hultsch »Eine Stadt ohne Sonne«? Elitenwechsel im Wien der Zwischenkriegszeit in Tadeusz/Thaddäus Rittners Romanen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Beiträgerinnen und Beiträger Personenregister
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287
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I. Vor zehn Jahren (November 2009 bis März 2010) war im Künstlerhaus Wien eine vom Wien-Museum gestaltete Ausstellung unter dem Titel kampf um die stadt mit Fokus auf die Jahre um 1930 zu sehen, zu der auch ein ansehnlicher KatalogBegleitband vorgelegt wurde. Als Kurator der Ausstellung fungierte Wolfgang Kos, vielseitiger (Kultur- und Kunst-)Historiker sowie Radio- und Musikpraktiker, der in diesem Band nicht nur die Konzeption erläuterte, sondern dabei zugleich die Problematik des historischen Erinnerns und Verdrängens, der dominanten Narrative und somit auch bereits mögliche Zugänge zu Forschungsfragen mitansprach. Durch eine Reihe weiterer Beiträge wurden diese fallbeispielartig und in interdisziplinärer Sicht vertieft.1 Bis heute darf diese Ausstellung und der aus ihr hervorgegangene Begleitband mit seinen Beiträgen als einer der substantiellsten, jedenfalls innovativsten Versuche angesehen werden, dem Phänomen Großstadt – und damit ist im österreichischen Kontext naturgemäß Wien gemeint – auf den Grund zu gehen. Die Literaturwissenschaft, aber auch andere kulturwissenschaftlich ausgerichtete Disziplinen haben dabei zwar mitgewirkt, aber daraus keine weiterführenden Initiativen entwickelt, sieht man von sehr spezialisierten Einzelforschungsvorhaben ab. Zu letzteren zählt z. B. eine Studie von Hermann Schlösser unter dem Titel Die Wiener in Berlin, welche, thematisch an den Profile-Band Wien-Berlin anknüpfend, den vielfältigen Austauschbeziehungen zwischen diesen beiden Städten und ihren Intellektuellen und Künstlern entlang kanonischer Repräsentanten (Bergner und Kortner für den Film, Schnitzler, Zweig, Polgar, Roth für die Literatur, Lenja, Eisler und Reinhardt für die Schnittbereiche zwischen Musik und Theater) nachgeht, aber 1 Vgl. Wolfgang Kos (Hg): kampf um die stadt. politik, kunst und alltag um 1930. Wien: Czernin 2010, 22012. Unter den Beiträgerinnen und Beiträgern finden sich Deborah Holmes, Lisa Silverman, Walter Schübler (Literatur), Siegfried Mattl (Politik & Reklame), B8la R#sky (Politische Inszenierung und Festkultur), Ernst Hanisch (neue Sachlichkeit, Habitus), Roman Horak (Skandalfall Josephine Baker), Andreas Nierhaus (Bauen und Wohnen) u. a.m.
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auch weniger bekannte Akteurinnen und Akteure, die zu ihrer Zeit jedoch zum Kreis der Arrivierten bzw. interessanten Newcomer gerechnet wurden (z. B. Stefan Großmann als Herausgeber der Zeitschrift Das Tage-Buch oder die Autorinnen Vicki Baum und Gina Kaus) würdigt. Ferner zählen dazu der komparatistisch angelegte Sammelband Großstadt werden! Metropole sein! sowie die entsprechenden Abschnitte in Evelyne Polt-Heinzls Plädoyer für eine Kanonrevision, beide aus dem Jahr 2012.2 Während Robert Musil im ersten Kapitel seines epochalen Romans Der Mann ohne Eigenschaften (1932) einerseits formuliert »Städte lassen sich an ihrem Gang erkennen wie Menschen…« und ihnen somit eine spezifische Individualität beimisst, andererseits eine solche noch auf derselben Seite durch Typologisches substituiert – »Wie alle großen Städte bestand sie aus Unregelmäßigkeit, Wechsel, Vorgleiten, Nichtschritthalten, Zusammenstößen von Dingen und Angelegenheiten […] aus Bahnen und Ungebahnten, aus einem großen rhythmischen Schlag und der ewigen Verstimmung und Verschiebung aller Rhythmen gegeneinander«3, also eine wesentlich durch Rhythmus und Bewegung, durch Abstraktion und Flucht vor dem Konkreten bestimmte Identität aufweise, verfährt ein Bilanzierungsversuch Joseph Roths in Lemberg, die Stadt, veröffentlicht in der angesehenen Frankfurter Zeitung (1924), wesentlich zurückhaltender. Dort lesen wir nämlich: »Es ist eine große Vermessenheit, Städte beschreiben zu wollen«, um jedoch sofort klarzustellen, worauf zu achten sei, wenn man sich auf sie, wie Roth es ja selbst unermüdlich getan hat, einlasse: »Städte haben viele Gesichter, viele Launen, tausend Richtungen, bunte Ziele, düstere Geheimnisse, heitere Geheimnisse. Städte verbergen viel und offenbaren viel…«4 Musil und Roth zählen neben einer Reihe weiterer Autorinnen und Autoren, z. B. den in den letzten Jahren wieder entdeckten und z. T. neu aufgelegten wie Hugo Bettauer, Else Feldmann, Gina Kaus, Anton Kuh, Joe Lederer oder Robert Neumann sowie neben dem häufig unterschätzten Alfred Polgar zweifellos zu zentralen Aushängeschildern zwischenkriegszeitlicher urbaner Prosa in den 2 Vgl. Hermann Schlösser : Die Wiener in Berlin. Ein Künstlermilieu der 20er Jahre. Wien: Ed. Steinbauer 2011; Ferner : Bernhard Fetz, H. S. (Hgg.): Wien-Berlin. Mit einem Dossier zu Stefan Großmann. Wien: Zsolnay 2001 (= Profile, Bd. 7), Dagmar Kosˇt’#lov#, Erhard Schütz (Hgg.): Großstadt werden! Metropole sein! Bratislava, Wien Berlin. Urbanitätsfantasien der Zwischenkriegszeit 1918–1938. Frankfurt/M.: Peter Lang 2012 (dieser Band enthält jedoch nur einen Wien-Beitrag und zwar zu Robert Musil und Otto Neurath), Evelyne Polt-Heinzl: Österreichische Literatur. Plädoyer für eine Kanonrevision. Wien: Sonderzahl 2012, bes. darin Teil III: Großstadtleben und Medienwelten, S. 187–297. 3 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. In: R. M.: Gesammelte Werke in neun Bänden. Bd. 1. Hrsg. von Adolf Fris8. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978, S. 10. 4 Joseph Roth: Lemberg, die Stadt. In: Frankfurter Zeitung, 22. 11. 1924. Abgedruckt in: J. R.: Werke II. Das journalistische Werk 1924–1928. Hrsg. von Klaus Westermann. Frankfurt/M., Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989, S. 285–289, hier S. 285.
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hierfür dominanten Genres des Romans und des Feuilletons. Selbstverständlich haben Musil, Roth und gelegentlich auch Polgar in der Literatur- und Kulturwissenschaft ihren gebührenden Platz gefunden, bei Erhard Schütz wie bei Sabina Becker und zuvor schon bei Angelika Corbineau-Hoffmann, um nur drei prominente Stimmen anzuführen.5 Allerdings wurden sie dabei nicht selten in eine Perspektive platziert, die den aufwändigen Recherchen des diesem Band zugrundeliegenden (FWF-)Projekts tendenziell zuwiderlaufen, nämlich dem Forschungsnarrativ, demzufolge Berlin maßgeblich die Gegenwart erfasst, an das Tempo der Technomoderne, des ›Gleisdreiecks‹, dessen präziseste zeitgenössische Beschreibung bekanntlich Roth vorgelegt hat, angedockt und mit neusachlicher Präzision und Montagetechnik eine moderne, kühne Tatsachenpoetik hervorgebracht habe. Wien dagegen sei eher in der Bilanzierung der Epoche im Vorfeld der Urkatastrophe von 1914–18 sowie in deren Nachwirkungen und Nachwehen stehen und stecken geblieben, verfangen im Blick auf eine Vergangenheit, welche die kakanischen Weiten eines halbasiatischen Ostens reinszenierte oder sich alsbald mit den Mythen der Scholle und aufdringlich vorpreschender Ansprüche der Provinz, der Länder herumzuschlagen hatte. Zweifellos vermochte diese ›Welt von Gestern‹ Mächtigkeit und Präsenz zu behaupten und konnte sich seit Ende der 1920er Jahre, vor allem aber nach 1933, nicht zuletzt als Gegenwelt zum aufziehenden Nationalsozialismus, als nostalgisches Verlust- und Fluchtnarrativ in die literarisch-kulturelle Erinnerung zurückrufen. Dieses geschmähte, mitunter belächelte und doch heiß umstrittene Wien hat allerdings nicht wenige Texte, innovative künstlerische Tendenzen, z. B. in der Stadt- oder Bühnen-Architektur, in der Musik, aber auch in der Alltagsund Gebrauchskultur nach 1918/19 im beständigen Austausch mit den Moderne- und Avantgardezentren schlechthin, mit Berlin, Paris, aber auch mit Sowjetrussland hervorgebracht. Dass diese Leistungen durch eine problematische Rezeptionsgeschichte im Zuge des Exilbruches von 1938f. in den Hintergrund bzw. ins Vergessen abgedrängt wurden, steht wissenschafts- und kulturgeschichtlich gesehen weitgehend außer Streit. Er hat maßgeblich dazu beigetragen, dass sich ein den realen Umbruchserfahrungen, den bedeutenden Demokratisierungsschüben und urbanen Markierungen korrespondierendes Moderne-Narrativ im kulturellen Gedächtnis kaum etablieren konnte, nicht zuletzt aufgrund von ideologischen Polarisierungen, die z. T. bis heute eine angemessene Einschätzung der Leistungen insbesondere des ›Roten Wien‹ belasten, wenn nicht gar verzerren. Eine 5 Vgl. Angelika Corbineau-Hoffmann: Kleine Literaturgeschichte der Großstadt. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003. Corbineau-Hoffmann widmet sich darin auch Wien und zwar im Zusammenhang mit der Beziehung zwischen Großstadt und Feuilleton, wobei sie letzteres als das dem »Tempo der Metropolen« angemessene Genre herausarbeitet und Alfred Polgar als dafür modellbildend einstuft (Ebd. S. 118–129).
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Gewichtung, die zwar durch neuere Forschungen inzwischen relativiert erscheint6, aber noch immer präsent genug ist, um in Literatur- und Kulturgeschichten eine z. T. fatale Diskursmächtigkeit zu entfalten und reduktionistische Einschätzungen weiter zu tradieren. Übersehen wird bzw. wurde dabei nicht selten, was – der übrigens auch von den Autoren der Wiener Moderne, einschließlich Hugo v. Hofmannsthal, gelesene – Georg Simmel bereits um 1900/ 1910 herausgearbeitet hat: dass die großstädtische Dynamik nicht nur ein Oberflächenphänomen quantitativer Ausbreitung – ein Hineinfressen der Stadt ins umliegende Land –, sondern ein soziologisch-habituelles Großprojekt war, eine permanente Herausforderung aufgrund ständiger Umschichtungen, inklusive Schockerfahrungen, im Bereich des materiellen wie des ideologischen Substrats ihrer Kultur.7 Dass tiefgreifende Wandlungsprozesse alle Bereiche der Kunst und Kultur erfasst hatten, nicht selten in konflikthaltiger oder pointierter Zuspitzung, im ›Kampf um die Stadt‹ und bald auch um ihre vielgeschmähten Straßen, ihren Asphalt und ihre Schienenstränge (die nicht immer, um ein Karl-Kraus-Bonmot aufzugreifen, mit Kultur gepflastert waren), liegt auf der Hand. Sie waren Teil der komplexen sozialen und kulturellen Transformationsprozesse ebenso wie auch ihrer literarisch-künstlerischen Reflexion und politisch-ideologischen Überformung. Und gerade das Rote Wien, zu dessen Leistungen nicht nur ein Sozialund Fürsorgeprogramm zählte, nicht nur der Bau von über 60.000 Wohnungen modern-funktionalen Zuschnitts im bestaunten und mitunter belächelten Gemeindebau, wie dies Karl Ziak in seinem propagandistischen Text Wien. Heldenroman einer Stadt (1931) beschrieben hat8, sondern auch ein die Hoch-, die 6 Vgl. dazu z. B. Walter Fähnders: Avantgarde und Moderne 1890–1933. Stuttgart: Metzler 2 2010, S. 279f. sowie Sabina Becker : Topografien der Moderne. Wien und Berlin in den Zwanziger Jahren. In: Primus-Heinz Kucher, Julia Bertschik (Hgg.): »baustelle kultur«. Diskurslagen in der österreichischen Literatur 1918–1933/38. Bielefeld: Aisthesis 2010, S. 29–45, bes. S. 43f. Ferner : P.-H. K.: Verdrängte Moderne – vergessene Avantgarde. Diskurskonstellationen zwischen Literatur, Theater, Kunst und Musik in Österreich 1918–1938. Göttingen: V& R unipress 2016, S. 8f. (Einleitende Bemerkungen). Vgl. dazu etwa die Beiträge von Zoltan Peter und Barbara L8sak in diesem Band zu Aspekten eines ›dritten‹ Weges in der Wiener Avantgarde der 1920er Jahre im Umfeld des Architekten und Theoretikers von Raumkonzepten Josef Frank bzw. zur Theateravantgarde Wiens und deren internationalen Kontextualisierung. Zur Rezeption der russischen Kunst, Kultur und Literatur vgl. neuerdings auch P.-H. K., Rebecca Unterberger (Hgg.): Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹. Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938. Berlin: Peter Lang 2019 (= Wechselwirkungen. Österreichische Literatur im internationalen Kontext, Bd. 22) verwiesen. 7 Vgl. Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben [1903]. In: G. S.: Aufsätze und Abhandlungen 1903–1908. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995 (= Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd. 7), S. 116–131. 8 Vgl. Karl Ziak: Wien. Heldenroman einer Stadt. Wien, Leipzig: Fiba 1931, bes. das Kap. Häuser, S. 117–123; dazu auch Helmut Weihsmann: Das Rote Wien. Sozialdemokratische
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Unterhaltungs- und die Alltagssparten einschließendes Kulturprogramm, setzte neue Standards, wie sie kaum eine andere vergleichbare Stadt-Metropole erreichen konnte: selbst so traditionelle Institutionen wie Burg-, Raimund-, Opernund Deutsches Volkstheater verdankten ihm durch zahlreiche Förderungen auch in Zeiten galoppierender Inflation Absicherungen (Kartenstützungen, Gastspiele etc.). Vor allem aber erfreuten sich zahllose Initiativen im Operetten-, Cabaret-, Tanz-, Ausstellungs-, Musik- und Kleinkunstbereich beständiger Aufmerksamkeit durch Kulturpolitiker vom Schlag eines David J. Bach oder Hans Tietze, welchen es gelang, den Großen Konzerthaussaal ebenso zu einem vitalen Begegnungsort zwischen Klassik, Wiener Lied (Ralph Benatzky/Josma Selim), Neuer Musik und phasenweise auch dem Jazz zu machen, wie die Urania oder die verschiedenen Volksheime und Volkshochschulen zu attraktiven, zeitgemäßen, offenen Foren wissenschaftlicher, kultureller und – natürlich auch – politischer Arbeit. Die Stadt, so marginalisiert, geschlagen und real verarmt sie nach 1918/19 auch gewesen sein mag, glänzte zwar jahrelang nicht aufgrund typischer Modernisierungsmarker wie beschleunigtem Tempo, Automatisierung, Waren- und Hochhäuser, Reklameinstallationen und flanierenden Massen. Und doch: Die Zahl der Radiobesitzerinnen und Radiobesitzer zählte alsbald zu den höchsten unter den europäischen Großstädten, die Kinolandschaft entwickelte sich ebenso rasant wie die Qualität und Dichte der Arbeiterbüchereien; als europäisches Ereignis galt die Ausstellung neuer Theatertechniken und Bühnenkonzepte 1924, zu dem sich die De Stijl-Gruppe, das Bauhaus, die italienischen Futuristen und die Reste des sowjetrussischen Proletkult monatelang in Wien versammelten und austauschten, – zwar nicht als programmatische Initiative des Roten Wien, aber als eine wesentlich durch es mitermöglichte. Bei Vicki Baum, um nur ein Beispiel zu nennen, mit dem z. B. Polt-Heinzl ihren Einstieg im Kontrast zu Musil eröffnet und Dimensionen des veränderten Tempos und der Alltagswahrnehmung anzeigt, erscheinen die Nerven eines Protagonisten, des Baron von Gaigern im (Berlin-)Roman Menschen im Hotel, nicht nur gesteigert durch einen abstrakten urbanen Sound, sondern durch Benzin und Scheinwerfer der Reklamewelt; in Max Brods Die Frau, die nicht enttäuscht ist die Rede davon, dass »wir […] Abschnitte unserer Nerven an Architektur und Kommunalpolitik 1919–1934. Wien: Promedia 22019 sowie Helmut Konrad, Gabriella Hauch: Hundert Jahre Rotes Wien. Die Zukunft einer Geschichte. Wien: Picus 2019 (= Wiener Vorlesungen, Bd. 193). Kritisch auf die Gemeindebau-Euphorie reagierten in den frühen 1930er Jahren (verständlicherweise) Autoren der österreichischen Sektion des ›Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller‹ in Feuilletons und Erzähltexten der (Wiener) Roten Fahne wie z. B. Karl Fink mit 24 Stunden vorher oder Erich Barlud mit Der Weg in die Zukunft. Vgl. dazu das Themenfeld Proletarisch-revolutionäre Literatur in Österreich 1918–1934 von Martin Erian, bes. Kap. 6: https://litkult1920er.aau.at/themenfelder/proletarisch-revolutiona ere-literatur-in-oesterreich-1918–1934/ (Zugriff: 19. 7. 2019).
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Autolärm, Staub, Rauch, Gestank [und] Gebrauchsmusik [verpfänden]«9, womit gleich schon Leitvokabel der neuen, mitunter anstrengenden Kultur angesprochen werden, die sich wie Leitchiffren auch durch Texte von Joe Lederer und Robert Neumann ziehen. Insgesamt scheint die literarästhetische Raum-Semantik signifikante Verschiebungen zu erfahren: man zieht sich nicht mehr in Sanatorien zurück, hält sich weniger in repräsentativen Salons auf, lebt häufiger in Hotels, in Mietshäusern, auch in Absteigen, in denen mitunter überraschend anmutende Durchlässigkeiten von Oben und Unten zum Tragen kommen, insbesondere im Zuge der Inflationserfahrungen zwischen 1921 und 1924, die, zumindest in mehreren Wiener Stadtromanen, auch entsprechende Gestaltung finden und Techniken der narrativen Dynamisierung, der Reportage, der plakativen feuilletonistischen Zuspitzung wie der subtilen Tiefenexploration erkunden. Die nachfolgenden Beiträge wollen denn auch anzeigen, wie jene materiellen Substrate auch in die Kultur einzudringen im Stande waren und die Textproduktion mitgeprägt haben: Waren- und Reklamewelten – wer denkt da nicht an die amerikanisierte Mariahilferstraße mit Krupnik und STAFA (und Romane wie Weib in Flammen von Georg Fröschel, Erfolgsautor mit Standbeinen im Film und in der Berliner Ullstein-Welt, aber auch an die Warenhaus-Feuilletons der großen Zeitungen bürgerlicher wie nichtbürgerlicher Provenienz), an die KinoWirklichkeit sowie, am Höhepunkt der Inflationsjahre, an abenteuerliche Kapitalisierungsstrategien, an das Spekulationsfieber, halsbrecherische Autofahrten und an deren Abstiegs-Kehrseiten, wie sie z. B. bei Dörmann, Lederer oder Neumann thematisiert und gestaltet werden. In diesem Kontext ist auch an den Jazz, an seine illusionsaffirmative aber auch synkopisch-rhythmusbrechende Funktion zu erinnern, der – frappierend genug – in Österreich erstaunlich häufig Eingang in die Hochkultur gefunden hat: in die Literatur mit drei Jazzromanen und unzähligen Jazz-Referenzen in etwa zwanzig weiteren Texten oder in jene der modernen Musik, wie z. B. das Schwerpunktheft der wichtigen Plattform für Neue Musik, die Musikblätter des Anbruch (April 1925), dokumentieren, aber auch in das heute kaum mehr bekannte Genre der Jazzoperette. So füllten den traditionsreichen Musikverein-Saal mit seinen knapp 1500 Sitzplätzen im Jahr 1928 im Zuge ihrer kontinentaleuropäischen Tourneen auch die Orpheans Savoy Band (August), die Gruppe Sam Woodings Neger Jazz (September) oder die Jack Hylton Big Band (Dezember) gut zehnmal Mal randvoll, sodass die meisten Konzerte um zusätzliche Termine verlängert werden musste und Jazzoperetten waren seit etwa 1923 regelmäßig im Wiener Programmangebot vertreten.10 9 Vgl. Polt-Heinzl, Österreichische Literatur, S. 187. 10 Vgl. Primus-Heinz Kucher : »Das wahre Programm der Zeit hieß: Jazz«: Zum Stellenwert des Jazz als (musik)kulturelle und literarische Chiffre in der österreichischen Zwischenkriegs-
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Da die FWF-Tagung, aus der dieser Band erwachsen ist11 und die eingelangten Beiträge einige Phänomene der Exploration und Besetzung urbaner Räume, z. B. im Bereich der (propagandistischen) Festkultur unter der Perspektive einer neuen Massenkörper-Ästhetik und -Choreographie, aber auch der Ausstellungsinitiativen und des sozialen Wohnbaus mit seinen strukturellen UmGewichtungen nicht behandelt haben, darf hier, vor einer Synopse der Beiträge, noch kurz auf solche hingewiesen werden. Die eingangs erwähnte Ausstellung ›kampf um die stadt‹ hat in einem eigenen Raum sowohl die sozialistisch-austromarxistischen Inszenierungen der Masse im Rahmen der Mai- und Republik-Festzüge seit 1925/26 oder der Zweiten Arbeiter-Olympiade (1931), aber auch des ›Politischen Kabarett‹ dokumentiert als auch das imposante traditionelle Deutsche Sängerbundfest und die mit ihm verbundene Schubert-Zentenarfeier sowie die Inszenierungen des austrofaschistischen Ständestaats.12
II. Ausgehend von der Wahrnehmung des Metropolendreiecks Berlin, Paris und Moskau als metonymisches Abbild von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unternimmt Walter Fähnders in seinem den Band eröffnenden Beitrag den Versuch, Wien in diesem Spannungsfeld zu verorten. Dazu dienen neben expressionistischen Gedichten Albert Ehrensteins sowie Ernst Fischers popkulturellen Zeugnissen und den feuilletonistischen Wien-Berlin-Debatten vor allem die Wien-Romane Hugo Bettauers, die schon paratextuell auf Aktualität pochen bzw. Zukunftsorientierung für ihren Schauplatz beanspruchen. In ihnen verzichtet der Vielschreiber Bettauer auf gängige Attribuierungen großstädtischen Treibens ebenso wie auf eine wehleidige Habsburg-Nostalgie. Den Kampf um Wien als Reisebericht deutend, offenbart der Roman vom Tag die von der NewYork-Erfahrung geprägte Wien-Wahrnehmung des reichen Heimkehrers Ralph O’Flanagan, der sich schon eingangs – so die Überschrift des Auftaktkapitels – »wundert«, wie belebt und gleichzeitig »gemütlich« sich die Stadt und ihre zeit. In: Journal of Austrian Studies Vol. 47 (2014), Nr. 3, S. 69–92, bes. S. 75f. sowie Matthis De Ridder : »This Music Has Arisen from the Trenches«: Jazz as a Measure of Modernity in European Literature after World War I. In: Kirsten Krick-Aigner, Oliver Schuster (Hgg.): Jazz in Word. European (Non-)Fiction. Würzburg: Königshausen & Neumann 2018, S. 43–54. Zur Jazzoperette vgl. den Eintrag im Online-Lexikon unseres FWF-Projekts: https://litkul t1920er.aau.at/litkult-lexikon/jazzoperette/ (Zugriff: 19. 7. 2019). 11 Die Tagung Exploration urbaner Räume fand im Oktober 2016 an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt statt. Das Programm ist hier zu finden: https://litkult1920er.aau.at/dasprojekt/tagungen-und-workshops/ (Zugriff: 19. 7. 2019). 12 Vgl. dazu B8la R#sky : Choreographie der Massen. Politische Großinszenierungen als neue Bühne für Propaganda und Festkultur. In: W. Kos (Hg.), kampf um die stadt, S. 87–95.
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Straßen präsentieren, eine Wahrnehmung, die Auskunft über die Subjektivität der Zuschreibungen gibt. Wie es auch Erhard Schütz dem Berliner Feuilleton zu Wien attestierte, beschreibt Bettauer die österreichische Hauptstadt in seinen Romanen als Stadt der Gegenwart, aber auch als eine von der Vergangenheit belastete und letztlich ohne Zukunftsperspektive. Doch die Analyse verdeutlicht, dass dieser Bestsellerautor, ähnlich wie Robert Musil, die Widersprüchlichkeit generalisierender Zuschreibungen, die derlei Städtebilder stets darstellen, gezielt problematisiert. Thematisch und vom Textspektrum her an Fähnders anknüpfend konzentriert sich Primus-Heinz Kucher auf die deregulierenden Kräfte, welche der Umsturz von 1918 sowie die nachfolgenden Inflationsjahre ausgelöst haben. Er geht dabei der Frage nach, inwiefern sich dabei der Stadtdiskurs als »Schule der Wahrnehmung des Heterogenen« (im Sinn von Erhard Schütz) bewährt oder inwiefern sich kontrastierend oder ergänzend zu den etablierten Diskurschiffren Geschwindigkeit, Verkehr, Masse, technischer Fortschritt spezifisch österreichische Perspektivierungen ergeben. An Bettauers Romanen Hemmungslos (1921) und Das entfesselte Wien (1924) kann gezeigt werden, dass die Wiener Stadttopographie mit ihren einerseits privaten, verborgenen aber auch mit ihren öffentlichen, den Massen Bühne bietenden Räumen ein reiches Ensemble an Kriminalisierungsschauplätzen anbietet, die für Deklassierungsverdrängungen wie für Spekulationsprojekte operative Basen bilden. Gezielt kommen dabei auch kulturell dominante urbane Muster (Pferderennen, Salons, Theater), aber auch subversiv Neues ins Spiel (Variet8s, Jazz, Spelunken und Straßen-Kontrastbilder), mitunter auch Politisches, letzteres z. B. in Dörmanns Jazz-Roman (1925) mit seinen Anspielungen auf die (gescheiterte) ungarische Räteregierung, die Genfer Sanierung von 1922 oder die Franc-Spekulation von 1924. Einen markanten Akzent setzten schließlich die beiden ausgreifenden Inflationsromane aus dem Jahr 1929: Sintflut von Robert Neumann und Eros und der Wahnsinnige von Kurt Sonnenfeld, markant deshalb, weil in ihnen ansatzweise Montagetechniken exploriert werden, aber auch heterotopische Räume zur Sprache kommen, während Theodor Csokors Ballade von der Stadt, ursprünglich als (spätexpressionistisches) Drama konzipiert, in ihrer Hörspielfassung vom 1. 5. 1928 wiederum stärker ins Mythische tendierte. Mit Dörmanns Jazz-Roman befasst sich auch Thorsten Carstensen, der ihn einerseits würdigt, weil er »ein eindrückliches Bild des urbanen, von Schwarzhandel, Hungersnot und Hyperinflation geplagten Alltag« entwerfe und dies in Anbindung an Döblins Kinostil-Forderung, andererseits auf seine Ambivalenz und Schwachpunkte hin, z. B. den auktorialen Gestus betreffend, ausleuchtet. Mit der Tatsachenphantasie, auch dies ein Schlüsselbegriff der zeitgenössischen neusachlichen Ästhetik, korrespondierten zwar dominante kulturelle und habituelle Phänomene, doch diese wären zugleich in eine tendenziell bürgerlich
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konservative Kulturkritik eingebunden, welche am Jazz als Chiffre für den Unterhaltungsbetrieb die subversiven Komponenten weitgehend ausblendeten und die Alltagsrealität wie die konkrete Raumdimension zu eher stereotypen Ritualen und Formeln gerinnen lasse. Mit dem Feuilleton nimmt Hildegard Kernmayer die ›kleine Form‹ in den Blick, die ihre Gattungspoetik stets an den neuen urbanen Seins- und Wahrnehmungsweisen ausgebildet hat. Ihre Entwicklung bzw. schrittweise Institutionalisierung, die Ende des 18. Jahrhunderts in Paris ihren Ausgang genommen hat, ist eng mit den Urbanisierungs- und Modernisierungstendenzen des 19. Jahrhunderts verbunden und findet in den Jahren der Zwischenkriegszeit ihre zumindest vorläufig letzte Hochphase. Kontinuität beweist das Feuilleton dabei sowohl in der Verquickung zwischen literarischer Produktion und dem Merkantilen, für das der Autor seine »Subjektivität zu Markte tragen muß« (Peter Utz), wie auch in der Annahme der steten Modernität feuilletonistischer Verfahrensweisen, die seit Heinrich Heine publizistische Wirkungsabsichten und literarischen Stilwillen gleichermaßen zu bedienen versuchen. Als genuin urbanes Phänomen und durch stilprägende Ausdrucksformen wie die Flanerie erscheint das Feuilleton zumindest Alfred Polgar entgegen früherer Todeserklärungen in der Phase zunehmender Beschleunigung des urbanen Alltags als einzig adäquate literarische Ausdrucksform. Ebenfalls im Feuilleton, noch vor der Republikgründung und damit auch vor Egon Erwin Kischs Programmtexten positionierten sich Else Feldmann und Bruno Frei mit Sozialreportagen im publizistischen Feld der untergehenden habsburgischen Metropole. Das Frühwerk der beiden untersucht Martin Erian und kehrt dabei besonders die Bedeutung der linksliberalen Zeitungsgründung Der Abend hervor, die in den Tagen des Ersten Weltkrieges das Wirken »pflichtbewußte[r] Tagesschriftsteller« als Teil der Blattlinie definierte, deren Entwicklung aber auch als Zeugnis für die Situation der Medien um 1917/18 dient. Die exemplarische Analyse ihrer Arbeiten als Beispiele einer Wiener Schule der Reportage, ihre bewusst eingenommene gesellschaftliche Funktion und noch stärker die öffentliche Wirkung machen dabei auf Erwartungshaltungen aufmerksam, die auch Geschlechterstereotypen sichtbar werden lassen, die für die Reportage der Zwischenkriegszeit trotz des verstärkten Auftretens von Autorinnen kennzeichnend bleiben. Evelyne Polt-Heinzls Beitrag zur Großstadtwahrnehmung zwischen den Kriegen, der den zweiten Abschnitt eröffnet, fokussiert auf die Bedeutung von Wolkenkratzern als ein Urbanität mitkonstituierendes Merkmal, das nicht nur in den Amerika-Berichten von Ann Tizia Leitich, Maria Leitner, Arthur Rundt oder Arthur Holitscher Niederschlag findet. Der Blick auf die nicht selten ironische Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex Hochhaus im Feuilleton bei Joseph Roth, Robert Musil oder Alfred Polgar, der die kleine Form als zeitgemäßer
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als geschriebene Wolkenkratzer erachtet, verdeutlicht die stimulierende Wirkung der Bauprojekte, selbst wenn sie zuallermeist vergeblich auf ihre Realisierung warten. So blieb es wie bei zahlreichen Initiativen zuvor auch bei dem Vorhaben Rudolf Fraß’ mit 235 Wohneinheiten, präsentiert bei einer Ausstellung des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums 1929, einmal mehr bei einem Gedankenexperiment. Tatsächlich umgesetzt wurde – als Indiz der politischen Tragweite des Hochhausbaus – das 1931/32 abgewickelte Projekt in der Herrengasse, das im Auftrag der christlichsozialen Bundesregierung als Gegenpol zum Roten Wien ein sechzehnstöckiges Hochhaus in den ersten Wiener Gemeindebezirk brachte. Im Feuilleton von prononcierten Vertretern ambivalent diskutiert und das urbane Imago modifizierend, fand es mehrmals Eingang in literarische Texte, so etwa bei Raoul Auernheimer, in Publikationen der kurzlebigen Schriftstellervereinigung Der Turm sowie bei Annemarie Selinko, die in Morgen ist alles besser (1938) eine »Wohnung im Himmel« präsentiert. Rob McFarland vertieft diesen Diskurs, indem er den Beitrag der (Großstadt-)Feuilletonistin und Amerika-Expertin Ann Tizia Leitich in den Mittelpunkt rückt und zwar ausgehend von ihrem 1932 vorgelegten, mit Illustrationen versehenen Band New York und zurückblendend auf ihre ersten Berichte für die Neue Freie Presse ab 1924. Dabei wird deutlich, dass Leitich nicht nur eine der vielen Vermittlerinnen amerikanischer Lebenskultur und Protagonistin in der 1925–26 geführten Kultur-Zivilisationsdebatte war, sondern offenbar eine Schlüsselfigur für die Ausbildung medialer Amerikafantasien, die seit den späten 1920er Jahren insbesondere die Warenhauswerbung, Filmplakate und sogar einen sozialdemokratischen futuristischen Werbefilm des Wahlkampfes 1932 inspiriert haben, – im Gegensatz zur skeptischen Zurückweisung kühner architektonischer Entwürfe im Umfeld der Monumentalbauten des Roten Wien. Dass in diesem Kontext der Institution ›Warenhaus‹ verstärkte Aufmerksamkeit zukommen musste, zumal es im Stadtbild präsent war, und zwar über ideologische Grenzen hinweg, hat schon Otto Wagner in dem 1917 in der Neuen Freien Presse veröffentlichten Feuilleton Wien nach dem Krieg vorhergesehen. Davon ausgehend unternimmt Rebecca Unterberger einen Streifzug durch die feuilletonistische Textlandschaft zu den die 1920er kennzeichnenden Warenhäuser Gerngroß, Herzmansky, Stafa und Krupnik und deren Sogwirkung für die Straßen, in denen sie standen. Ihr Augenmerk liegt dabei einerseits auf den Zuschreibungen, die den Warenhäusern als »Herzadern der Großstadt«, als »Stadt von Morgen, Metropolis mit Wolkenkratzern…« zuteil wurden, andererseits auf technischen Veränderungen und neuartigen Verknüpfungen von Kultur und Ökonomie, die im verarmten Wien einen matten Glanz von Teilhabe an der amerikanischen Moderne aufkommen ließ. Insbesondere die Inszenierungen über sogenannte Effektbeleuchtungen, Reklame-Angebote, Schaufenstergestaltung, Sonderschauen, Rolltreppen etc. boten immer wieder Anlass zur
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Berichterstattung, aber auch zu kritischer Reflexion durch die jungen Linken, die an der kapitalistischen Verführungsstrategie ihren rebellischen Geist, aber auch Optionen subversiver Partizipation zu schärfen versuchten. Selbstverständlich kommen in diesem Zusammenhang die prekären Arbeitsverhältnisse der ›neuen‹ Frauen zur Sprache, auch in der Literatur, wie ein Stück für die Meidlinger Volksbühne sowie ein Fortsetzungsroman von Scheu-Riesz im Kleinen Blatt dokumentieren. Ruth Hanisch schließlich beleuchtet in ihrem Beitrag die Haltung einer Generation von (Innen-)Architekten zum epochemachenden Bauhaus-Stil um Walter Gropius und Bruno Taut. Die Vertreter des Wiener Wohnens um Josef Frank und Oskar Strnad treten diesem, dadurch mit dem Verdacht der Rückständigkeit konfrontiert, prononciert entgegen, indem sie Typisierung, Massenproduktion und die »Tyrannei des Lebenslosen« (Taut) ablehnen und stattdessen für ein individualisiertes Wohnen in der neuen Ära alternativer Lebensentwürfe eintreten. Aus der Reihe der Absolventen der Wiener Kunstgewerbeschule wird Felix Augenfeld hervorgehoben, der, ursprünglich aus dem Loos-Kreis stammend, vor dem Schritt ins Exil als umtriebiger Innenarchitekt der gebildeten Mittelschicht reüssierte und dabei nicht nur als Besucher des Caf8 Herrenhof mit Muriel Gardiner, Gina Kaus und der Familie Freud in Kontakt stand. Krisen- und Konflikterfahrungen wiederum stehen im Mittelpunkt des dritten Abschnittes. Ausgehend von der von Martina Löw wirkmächtig formulierten Vorstellung des Raumes als dynamisiertes Konzept schlägt Veronika Hofeneder den von der Stadt auf den Bewohner übertragenen Urbanitätsbegriff Peter Dirksmeiers vor, um soziale Konfrontationen in urbanen Randzonen zu erfassen. Dazu dient eine vergleichende Lektüre von Gina Kaus’ Morgen um Neun (1932), Joe Lederers Musik der Nacht (1930), Mela Hartwigs Bin ich ein überflüssiger Mensch? (1930/31) und Therese Ries Das entschwundene Ich (1924), die nicht nur die vielfältigen Sinneswahrnehmungen der Großstadt und die Potenziale urbaner »Transit-Orte« (Ralf Wilhelmer) verbindet. Die in ihren Schicksalen und Kontexten divergierenden Protagonistinnen eint der Versuch, das Potenzial der Urbanen für das individuelle Schicksal – die Palette reicht von Minderwertigkeitskomplexen über Konstellationen der Fremdbestimmtheit bis hin zum mit Krisenmomenten konfrontierten Typus der Neuen Frau – nutzbar machen zu wollen. Der Erfolg des Vorhabens wie überhaupt das Bestehen am urbanen Terrain ist nicht nur vom residenziellen Kapital der Figuren abhängig, sondern, wie Fanny in Das entschwundene Ich beweist, auch vom Vermögen, sich die Konfrontation mit der Foucault’schen Heterotopie zur Überwindung der eigenen Schwäche zu eigen zu machen. Auf Facetten der Freizeitkultur rekurriert Martina Zerovnik, die das Kino als konkreten Ort, als Bild- und Projektfläche sowie als diskursiven Raum erfasst
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und die damit verbundenen Auseinandersetzungen im Wien der 1910er- und 1920er Jahre exemplarisch aufgreift. Anknüpfend an die ab 1905 aufflammende Kino-Debatte wird die Schaulust, die durch Plakate und Ausrufer auf den Straßen der Großstadt befeuert wird, auch in der Zwischenkriegszeit über ideologische Grenzen hinweg kritisiert, wie Beiträge aus der Reichspost, der Neuen Freien Presse und dem Arbeiterwillen illustrieren. Dabei wird das Kino, anhaltend dem Vorwurf der Effekthascherei ausgesetzt, vom Raum der Welterfahrung zum Verursacher der Reizüberflutung umgedeutet; es steht damit in Kontinuität mit moralisch-kulturellen Vorbehalten, die der großstädtischen (Massen-)Kultur mit ihren zwischen Hypersensibilität und Unempfindlichkeit changierenden KonsumentInnen anhaltend entgegentreten. Dennoch wird das Kino in den Zwanzigerjahren zum Indikator des Städtischen und auch am Schauplatz Wien durch Richard Guttmann und, retrospektiv wirkmächtiger, Bel# Bal#zs grundsätzlich als kulturelles Phänomen beleuchtet. Dies tut not, befürchtet Hugo Bettauer, drohe doch sonst eine »Verdorfung« der österreichischen Kapitale. Zeitgenössisch in der Neuen Freien Presse in Fortsetzungen abgedruckt und in der Neuen Rundschau mit Virgina Woolfs Romanen verglichen, rückt Aneta Jachimowicz den lange vergessenen Marta-Karlweis-Roman Schwindel. Geschichte einer Realität (1931) in seiner Konzeption als künstlerisch geschlossenes Epochenbild in die Nähe der späten Werke Joseph Roths, von Musils Mann ohne Eigenschaften oder von Felix Brauns Agnes Altkirchner. Im psychologisch wie soziologisch aufschlussreichen Familien-, Großstadt- und Inflationsroman, der vor dem Ersten Weltkrieg einsetzt und bis in die späten 1920er Jahre reicht, werden Schwindel und Betrügereien zum Signum der Zeit erhoben, für das symbolisch ein Wiener Zinshaus mit seinen Bewohnern steht. Kennzeichnend für die Urbanität des Geschehens ist daher der zunehmende Verfall der Wohnorte, die den Untergang der Monarchie sowie die Krisenerfahrungen der jungen Republik widerspiegeln. In einem komparatistischen Beitrag präsentiert Juliane Werner die literarischen Auseinandersetzungen der »ortsfremden Chronisten« William Carlos Williams und Emmanuel Boves mit dem Wien der Zwischenkriegszeit als dritten Weg der subjektiven Stadterschließung zwischen der Eingenommenheit der Eingeborenen und der tendenziell systematischen Erschließung durch Touristen. Das häufig als autobiographischer Reisebericht aufgefasste Romandebüt A Voyage to Pagany (1928) des 1883 in den USA geborenen Lyrikers Williams fußt auf Erfahrungen einer mehrwöchigen Wienreise des Autors im Frühjahr 1924. Er lässt mithilfe präzisen Lokalisierungen, die dem Text zugeschriebenen impressionistischen Züge zuwiderlaufen, seinen Protagonisten Evans vorrangig die Innere Stadt zu Fuß erschließen und verzichtet dabei auf typische Modernitätsmarker wie den Lärm des großstädtischen Verkehrs. Dominierend ist dagegen die multiple Verfallserfahrung, die ihn mit Boves Roman Un Soir chez
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Blutel verbindet. Sein 1898 in Paris geborener Autor, der kurz vor Jahresbeginn nach Tulln bei Wien zog und das Krisenjahr 1922 in Österreich erlebte, siedelt den Text in Wien-Hietzing und damit im Abstand zur City an, ohne diese zum Gegenentwurf zu erheben. Obwohl folglich auch hier Symbole urbanen Lebens eine marginale Rolle spielen, akzentuiert Bove nicht nur die Sehnsucht des Protagonisten Maxime nach räumlich-sozialer Positionierung, sondern bezeugt auch die Fluidität menschlicher Beziehungen im Großstadttreiben. Vier zwischen 1918 und 1921 auf Deutsch erschienene Romane des 1873 in Lemberg geborenen Tadeusz Rittner bilden den Ausgangspunkt des den Band beschließenden Beitrags von Anne Hultsch, der die Erfahrung der Wende 1918 in Wien als Elitenwechsel zeigt. Rittner setzt sich vor der Publikation seiner Romane bereits im Feuilleton polnischer Periodika mit dem Wien des beginnenden 20. Jahrhunderts auseinander und erkennt in der Stadtbahn Otto Wagners einen maßgeblichen neuen Impuls für den urbanen Organismus. In einem Beitrag, in dem er als Flaneur die ersten zehn Bezirke durchschreitet, attestiert Rittner den Wienern die keineswegs neue Haltung, sich in Vergnügungen vor dem nüchternen Leben zu verschließen. Die Romane Das Zimmer des Wartens, noch in den ersten Jahren nach 1900 angesiedelt, und Die Brücke sind durch autobiographische Züge gekennzeichnet und präsentieren aus der Provinz in die Hauptstadt gezogene Gymnasiasten, die am urbanen Treiben selbst nicht partizipieren können. Die Geister der Stadt und Die andere Welt, gemeinhin als Revolutionsromane etikettiert, führen in die nach dem Krieg veränderte Großstadt, die in den Texten in erster Linie durch Erfahrungen der Not und des moralischen Verfalls eine Identität erhält. Die Analyse zeigt, dass Rittner nicht nur die politische und soziale Revolution abbildet, sondern in der Kritik der Stadt in dieselbe Kerbe schlägt wie Architekturtheoretiker der Zeit. Ebenso wesentlich ist die Beobachtung, dass Rittner trotz einer sich von pro- zu retrospektiv wandelnden Sehnsucht denjenigen, die vom Land in die Stadt kommen, am ehesten das Potenzial zur positiven Veränderung attestiert.
III. Abschließend darf festgehalten werden, dass die nachfolgenden Explorationen der Großstadt in der österreichischen Zwischenkriegszeit zwar nicht epochale Texte wie Berlin. Alexanderplatz oder Manhattan Transfer hervorgebracht haben, aber dennoch in ein vielfältiges, über die Literatur weit hinausreichendes Spektrum an Auseinandersetzungen mit und Gestaltungen des traumatischen Umbruchs sowie des von Hoffnungen begleiteten Aufbruchs nach der einschneidenden Inflationserfahrung nach 1919 und insbesondere 1922–25 Eingang finden konnten. Es handelt sich dabei um ein Text- bzw. Werkefeld, das sich
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in der Literatur wie in der Architektur, Malerei, Musik und Alltagskultur ästhetischer Mittel bediente, die entgegen zeitgenössischer wie retrospektiver Vorbehalte der Wiener Kultur dieser Jahre gegenüber sehr deutlich am Puls der Zeit und ihrer Debatten orientiert waren. Unterstrichen darf hier auch werden, dass dieser Band ohne die mehrjährigen Arbeiten im FWF-Projekt »Transdisziplinäre Konstellationen in der österreichischen Literatur, Kunst und Kultur« (2014–2018) und diesen bereits vorangegangenen Bemühungen nicht denkbar gewesen wäre. Den internen wie externen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und dem dynamischen, über lange Jahre hindurch entwickelten ExpertInnen-Netzwerk sei an dieser Stelle ebenso ausdrücklich gedankt wie den Institutionen, welche die Drucklegung mit ermöglicht und den Reviewern, die in der Finalisierungsphase die Beiträge kritisch und bereichernd begutachtet haben. Schließlich knüpft dieser Band an einige der vorangegangenen in manchen Aspekten (diese aufgreifend oder vertiefend) an, etwa an den Band Verdrängte Moderne – vergessene Avantgarde (2016) oder Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹ (2019) und weist auf einen weiteren zu transdisziplinären ästhetisch-kulturellen Konstellationen (geplant für 2020) voraus.13
13 Vgl. Primus-Heinz Kucher (Hg.): Verdrängte Moderne – vergessene Avantgarde. Diskurskonstellationen zwischen Literatur, Theater, Kunst und Musik in Österreich 1918–1938. Göttingen: V& R unipress 2016 bzw. P.-H. K., Rebecca Unterberger (Hgg.): Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹. Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938. Berlin: Peter Lang 2019 (= Wechselwirkungen. Österreichische Literatur im internationalen Kontext, Bd. 22) (= FWF-gefördert PUB554G30). Online zugänglich unter : http://www.oapen.org/search?identifier=1005025.
I.
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Berlin, Paris, Moskau – und Wien. Metropolenwahrnehmung im Vergleich, mit Blick auf Hugo Bettauer und andere »Wozu die Mahnung an eine alte Vergangenheit, da Wien im Begriffe ist, einer neuen anheimzufallen?« (Joseph Roth 1919)1
Wenn im Folgenden von dem Metropolendreieck Berlin, Paris und Moskau aus der Blick auf Wien geworfen wird, so gewiss nicht im Sinne einer Hierarchisierung oder einer Konstruktion von Zentrum und Peripherie. Es geht vielmehr darum, das jeweils Andere und Fremde oder auch Vergleichbare bei der Wahrnehmung dieser Städte zu analysieren und für die Exploration urbaner Räume nutzbar zu machen. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass insbesondere in der zeitgenössischen Reiseliteratur der Zwischenkriegszeit, aber auch in anderen Textsorten wie Feuilletons oder fiktionalen Werken, den drei Metropolen Berlin, Paris und Moskau regelhaft die Attribute Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zugeschrieben wird (für Zukunft steht alternativ auch Chicago oder New York).2 Das sind Fremdbestimmungen, nicht Selbstdefinitionen aus diesen Metropolen, also Blicke von außen, Blicke der jeweils anderen.
Berlin, Paris, Moskau oder: Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft Berlin, Paris, Moskau – es geht um die Wahrnehmung dreier sehr verschiedener europäischer Metropolen in der Zwischenkriegszeit. Das hypermoderne Berlin mit seiner beschleunigten Urbanität steht dabei für Zeitgenossenschaft, Gegenwärtigkeit und Gegenwart, eine Entwicklung, die 1933 mit Gewalt gebrochen wird. Paris gilt als Hort der demokratischen Aufklärungstradition, also der Vergangenheit, Moskau dagegen erscheint als Ort des Sozialismus, der roten Utopie oder, je nach Blickwinkel, des roten Terrors, auf jeden Fall für die Zu1 Josephus [d.i. Joseph Roth]: Die Toten vom Stephansplatz. In: Der Neue Tag, 31. 7. 1919, S. 5. 2 Ich beziehe mich im Folgenden u. a. auf Walter Fähnders, Nils Plath, Hendrik Weber, Inka Zahn (Hgg.): Berlin, Paris, Moskau. Reiseliteratur und die Metropolen. Bielefeld: Aisthesis 2005 (= Reisen Texte Metropolen, Bd. 1), darin besonders auf die Einleitung, S. 9–29, sowie auf: Wolfgang Asholt, Claude Leroy (Hgg.): Die Blicke der Anderen. Paris – Berlin – Moskau. Bielefeld: Aisthesis 2006 (= Reisen Texte Metropolen, Bd. 2).
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kunft. Kurz: Berlin, Paris und Moskau markieren Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Freilich sind diese Zeitschichten so eindeutig nicht zu handhaben, worauf bereits zeitgenössische Beobachter verwiesen haben. Der Reporter Egon Erwin Kisch geht diese Problematik in seinem »Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft« überschriebenen Kapitel von Asien gründlich verändert3 explizit an und plädiert für »dreidimensionale Darstellungen«4. Die kommunistische Reporterin Frida Rubiner hebt gar die Differenzen der drei Zeitebenen auf, wenn sie 1930 über die Topographie Moskaus schreibt: »Hart im Raum beieinander stehen hier gleichzeitig Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.«5 Paris. Bei Paris scheinen die Zuschreibungen am wenigsten kontrovers. Walter Benjamins Diktum vom Paris als der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, der Vergangenheit also, findet in der Literatur der Zwischenkriegszeit vielfache Bestätigung. So bemerkt der Paris-Reisende Kurt Tucholsky 1924: »Was die Kunst angeht, so ist Paris eine Stadt des ›Noch‹. Sie liegt von Amerika und von Rußland viel weiter entfernt, als die Karte angibt.«6 Bei Raoul Hausmann, der als ›Dadasoph‹ in die Avantgardebewegung eingegangen ist, heißt es: »Ja, Paris ist groß […]. Gleichzeitig alt, Vergangenheit, Haltung, stellt sich gut dar, drin moderner Verkehr.«7 In einem deutschen Paris-Roman der zwanziger Jahre äußert der Held, als er, von Berlin kommend, in Paris anlangt: »Alles war noch da, war noch so, wie es vor zwei Jahren gewesen war […]. Das beruhigte. In zehn Jahren würde es genau so sein.«8 Hugo Bettauer spricht in seinem Roman Faustrecht von 1919 ganz ähnlich vom »äußerlich unveränderte[n], innerlich aber sehr müde[n] Paris«.9 Diese Konnotation mit der Vergangenheit schließt aber nicht, dass Paris, so bei Joseph Roth, als »Hauptstadt der Welt«10 gelten kann, – ein Attribut, das Goethe in seiner Italienischen Reise noch Rom zuerkannt hatte. Moskau. Moskau steht für die Zukunft, für das Zukünftige des Sozialismus. Nur wenige Jahre nach der Oktoberrevolution, 1921, schreibt ein Autor von den 3 Egon Erwin Kisch: Asien gründlich verändert. In: E. E. K.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Hrsg. von Bodo Uhse und Gisela Kisch. Bd. 3. Berlin-Weimar : Aufbau 1980, S. 221–403, hier S. 357–363. 4 Vgl. Daniela Ihl: Egon Erwin Kischs Reportagebuch »Landung in Australien«. Eine historisch-literarische Studie. Frankfurt/M.: Peter Lang 2010, S. 36. 5 Frida Rubiner: Der große Strom. Eine unromantische Wolgafahrt. Wien, Berlin: Verlag für Literatur und Politik 1930, S. 16. 6 Kurt Tucholsky : Gesammelte Werke in 10 Bänden. Bd. 3. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1975, S. 381. 7 Raoul Hausmann. Hyle. Ein Traumsein in Spanien. Frankfurt/M.: Heinrich Heine Verlag 1969, S. 140. 8 Peter Mendelssohn. Paris über mir. Roman. Leipzig: Reclam 1931, S. 83. 9 Hugo Bettauer : Faustrecht. Salzburg: Hannibal 1980 (= Gesammelte Werke, Bd. 5), S. 97. 10 Joseph Roth: Die Flucht ohne Ende. Ein Bericht. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1994, S. 142.
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»Quellen« der »kommunistischen Zukunft«,11 die bereits sichtbar würden, und der Maler und Russland-Reisende Heinrich Vogeler berichtet 1925 vom »Willen des Volkes für das Zukünftige«12. Der deutsch-tschechische Schriftsteller und Kommunist Franz Carl Weiskopf betitelt 1932 sein Russlandbuch programmatisch mit Zukunft im Rohbau, sein erstes Russlandbuch hieß Umsteigen ins 21. Jahrhundert (1927), als Fortsetzung war geplant: Aussteigen im 21. Jahrhundert. Die Dimension des Zukünftigen ist Moskau und oft auch Sowjetrussland insgesamt eingeschrieben, dementsprechend wird dieses Attribut gehandhabt: »Platz der Zukunft!« und »Sturz der Vergangenheit!« lauten komplementäre Parolen des sowjetrussischen Selbstverständnisses, die Weiskopf seinerseits zustimmend zitiert.13 Und Weiskopf ist es auch, der folgende so elegante wie paradoxe Formulierung eines vor Ort tätigen Architekten zitiert: »Moskau ist heute eine Stadt, in der eigentlich das Morgen immer schon ein Gestern ist.«14 Moskau freilich ist nicht der einzige Ort, der für ›Zukunft‹ steht – und umgekehrt: ›Zukunft‹ wird nicht ausschließlich mit Moskau verbunden, wie die etwas verwickelten Berlin-Stereotype zeigen. Berlin. Berlin sei, so das vielzitierte Diktum von Karl Scheffler aus dem Jahr 1910, »dazu verdammt: immerfort zu werden und niemals zu sein«,15 Ernst Bloch spricht von einer »stets neuen Stadt«.16 Damit ist eine Perspektivierung gegeben, die Prozesshaftes und eben auch zeitlich Offenes festschreibt. Französische Berlin-Besucher der Zwischenkriegszeit beschreiben Berlin als eine Stadt der Zukunft und bestätigen insofern indirekt, dass sie ›aus der Vergangenheit‹ reisen. Für den Erzähler und Reiseschriftsteller Paul Morand ist Berlin demgemäß »das New York Alt-Europas«.17 Damit ist die Zukunfts-Topographie erweitert: Auch New York, öfters Chicago, Amerika überhaupt, womit stets die USA gemeint sind, stehen für die Zukunft und werden als Referenz herangezogen, um
11 Edwin Hoernle: Der silberne Wald. In: Antonie Günther, Brigitte Struzyk (Hgg.): Smoking braucht man nicht. Moskauer Skizzen 1918–1932. Berlin, Weimar : Aufbau 1975, S. 38–44, hier S. 39. 12 Heinrich Vogeler : Reise durch Rußland. Die Geburt des neuen Menschen (1925). Hrsg. von Dietger Pforte. Gießen: Anabas 1974, S. 35. 13 Franz Carl Weiskopf: Umsteigen ins 21. Jahrhundert. Berlin: Malik 1927, S. 142. 14 Franz Carl Weiskopf: Zukunft im Rohbau. 18000 Kilometer durch die Sowjetunion. Berlin: Malik 1932, S. 20. 15 Karl Scheffler : Berlin. Ein Stadtschicksal. Berlin: Erich Reiss 1910, S. 267. 16 Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985, S. 212. 17 Zit. n. Rolf-Peter Baacke (Hg.): Berlin im »Querschnitt«. München: Quadriga 2001, S. 22. Vgl. Friedbert Aspetsberger: Arnolt Bronnen. Biographie. Wien, Köln, Weimar : Böhlau 1995 (= Literatur in der Geschichte, Geschichte in der Literatur, Bd. 34), S. 357f., dort weitere Belege.
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das absolut Neue, Moderne, Zukünftige zu markieren.18 Mit Berlin aber ist jene Metropole lokalisiert, in der sich »die Impulse aus der Sowjetunion mit den Impulsen aus den USA mischen«.19 Das lässt sich auch mit einem deutschen Text von 1932 illustrieren, der mit reaktionärer Perspektive den liquiden, hybriden Charakter Berlins akzentuiert und auf den Helmut Lethen im Zusammenhang mit Fragen der Metropolenkultur hinweist. Unter der Überschrift Der Kampf gegen das rote Berlin wird Berlin als Ort fremder Einflüsse charakterisiert: Chicago oder Moskau? Chicago und Moskau! Berlin hat es fertig gebracht, diese scheinbaren Gegensätze in sich zu vereinigen. Aber es sind ja nur scheinbare Gegensätze […]. Es ist ja nicht zufällig, daß das tektonische Gewicht Berlins amerikanischbolschewistisch ist. Daß der neue Alexanderplatz ebenso in die Richtung Chicago wie Moskau weist.20
Gerade diese Mischung, so wird deutlich, scheint nun aber das Aktuellste und Modernste zu sein, das die Gegenwart zu bieten hat. Wie denn Berlin überhaupt der Nimbus des Außerordentlichen zugeschrieben wird, so auch von Bettauer, der in seinem in Berlin spielendem Kriminalroman Der Frauenmörder (1922) seinen Protagonisten bemerken lässt, dass »dieses Berlin allen anderen Großstädten an Möglichkeiten weit überlegen«21 sei. Das ließe sich mit einem Diktum Robert Musils in Bezug setzen, der die Wiener Theaterszene von 1921 aufs Korn nimmt, ihr vorwirft, sie halte sich für die »führende deutsche Theaterstadt« und sodann zu dem Schluss kommt: »alles Bedeutsame kam aus Berlin oder Moskau«.22 Die Städte Chicago, Moskau und eben vorrangig Berlin stehen also metonymisch für etwas prinzipiell Neues, sie markieren zudem die Zukunft in der Gegenwart. »Berlin liegt mitten in Amerika«, heißt es 1927 in einem Feuilleton von Heinrich Eduard Jacob.23 In Lion Feuchtwangers Liederbuch PEP ist es der 18 Vgl. Nils Plath, Walter Fähnders: ›Chicago‹ in Berlin und Moskau. Belegstellen zu einem Metropolenbild in der Moderne des frühen 20. Jahrhunderts. In: Wolfgang Kissel (Hg.): Flüchtige Blicke. Relektüren russischer Reisetexte des 20. Jahrhunderts. Bielefeld: Aisthesis 2008 (= Reisen Texte Metropolen, Bd. 3), S. 559–579. 19 Helmut Lethen: Chicago und Moskau. In: Jochen Boberg, Tilman Fichter, Eckhart Gillen (Hgg.): Die Metropole. Industriekultur in Berlin im 20. Jahrhundert. München: Beck 1986, S. 190–213, hier S. 190. 20 Zit. n. ebd. S. 190, Hervorhebung im Original. 21 Hugo Bettauer : Der Frauenmörder. Wien: Gloriette-Verlag 1922, S. 59. 22 Zit. n. Nicole Streitler: »… und alles Bedeutsame kam aus Berlin« – Berlin in den Theaterkritiken Musils. In: Annette Daigger, Peter Henninger (Hgg.): Robert Musils Drang nach Berlin. Internationales Kolloquium zum 125. Geburtstag des Schriftstellers. Bern [u. a.]: Lang 2008 (= Musiliana, Bd. 14), S. 253–263, hier S. 253. 23 Heinrich Eduard Jacob: Berlin Amerika. Notiz von einer Abreise (1927), zit. n. Christian Jäger, Erhard Schütz: Städtebilder zwischen Literatur und Journalismus. Wien, Berlin und
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Herr B.W. Smith, der als Fremder die Leipziger Straße in Berlin inspiziert und zu diesem Schluss kommt: Herr Smith betrachtete zunehmend freundlicher Häuser, Gesichter, Autos, Schaufenster, Leute. Er konstatierte als guter Onkel, London sei eine Mischung von gestern und morgen, Paris sei von gestern, New York von morgen, Berlin sei von heute.24
Großstadtkritik und Wienkritik Vor der Übertragung dieser Zeitkategorien auf Wien soll ein Topos betrachtet werden, der Stadt und Großstadt – und auch Wien – radikal negativ fasst, zugespitzt im auf die Johannes-Offenbarung zurückgehenden Topos von der »Hure Babylon«. Kritiker der Großstadt konnten sich bereits auf Nietzsche als Ahnherren beziehen, der seinen Zarathustra unter Anspielung auf Sodom und Gomorrha ausrufen ließ: »speie auf die große Stadt, welche der große Abraum war, wo aller Abschaum zusammenschäumt! […] Wehe dieser großen Stadt! – Und ich wollte, ich sähe schon die Feuersäule, in der sie verbrannt wird!«25 Eine solche Position ist dabei keineswegs Sache traditionalistischen oder völkischen Denkens allein, wie es sich in Deutschland in der »Los von Berlin«-Bewegung seit der Jahrhundertwende von 1900 massenwirksam etablierte. Auch und gerade in Moderne und Avantgarde ist eine Position geläufig, die die Großstadt zumindest ambivalent sieht, wenn sie diese nicht radikal ablehnt; bekannt ist Alfred Döblins Aufnahme des Motivs von der Hure Babylon in Berlin Alexanderplatz.26 Der junge Ernst Fischer, in seinen literarischen Arbeiten der frühen zwanziger Jahre bekanntermaßen dem Expressionismus verhaftet, lässt in seiner Erzählung Der Tod in der Stadt für den Grazer Arbeiterwillen seinen Protagonisten von der »Bestie Stadt!«, vom »Mordgehirn Stadt!«, vom »Massengrab Stadt!« halluzi-
das Feuilleton der Weimarer Republik. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag 1999, S. 166. 24 Lion Feuchtwanger : Herr B.W. Smith besichtigt die Leipziger Straße. In: Waltraut Wende (Hg.): Großstadtlyrik. Stuttgart: Reclam 1999 (= Reclams Universal-Bibliothek, Bd. 9639), S. 156–157, hier S. 157. 25 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. In: F. N..: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Bd. 4. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1980, S. 224f. 26 Vgl. Armin Leidinger: Hure Babylon, Großstadtsymphonie oder Angriff auf die Landschaft? Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz und die Großstadt Berlin. Eine Annäherung aus kulturgeschichtlicher Perspektive. Würzburg: Königshausen & Neumann 2010, besonders S. 356ff.
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nieren.27 In der Metropolenwahrnehmung wird, wie angedeutet, die Stadt häufig als Frau allegorisiert. »Wien weint hin im Ruin«, beginnt das Gedicht Wien des österreichischen Expressionisten Albert Ehrenstein, gleich der zweite Vers lautet: »Wien, du alte, kalte Hure«.28 Ehrensteins Verdikt folgt dem Topos von der weiblichen Stadt, der Stadt als Hure, und ist auf ein Wien gemünzt, das metonymisch für das ganz Land steht: Nun hungernd unkst Du unter deiner Laster Last: Du hast ein Reich verpraßt, Das nie den Armen nährte
Sein Gedicht endet rhetorisch-anaphorisch erhitzt in einer Vernichtungsphantasie: Ich beschwöre euch, zerstampfet die Stadt, Ich beschwöre euch, zertrümmert die Städte, Ich beschwöre euch, zerstört die Maschine: Ich beschwöre euch, zerstört den Staat!
Wien als alte und kalte Hure steht erkennbar in einem Diskurs, der sich durch AHistorizität auszeichnet, die Großstadt als Entität wahrnimmt und nicht mehr als historisches Gebilde mit je individuellen Eigenschaften, und seien es die der hier in Anschlag gebrachten drei Zeitebenen. Es ist gewiss eine Ausnahme, wenn, so ein Zufallsfund aus dem Neuen Wiener Tagblatt von 1933, Babylon positiv konnotiert ist: Berlin, so heißt es dort, sei »Babel der Lebensfreude, der tobenden Arbeitsenergie, des künstlerischen Experiments«.29 Die Stadt als Frau konstruiert auch Hugo Bettauer, auf den nun den Blick gerichtet werden soll. In seinem Roman Das entfesselte Wien heißt es über eine der beiden Protagonistinnen: Eine entfesselte Frau! Irgendwie erinnert sie mich an Wien, an diese seit dem Umsturz entfesselte Stadt. Wien hat alle Fesseln der Tradition zerbrochen, wird von der großen Vergangenheit nicht mehr getragen, sondern belastet, ist zügellos geworden, ohne frei zu sein, weiß nicht welcher Richtung es sich bekennen soll. […] Wien ist entfesselt und schlenkert mit den befreiten Armen und Beinen umher, aber es weiß nicht, wie man die Glieder gebrauchen muß, um vorwärts zu kommen.30 27 Ernst Fischer : Der Tod in der Stadt: In: E. F.: Neue Kunst und neue Menschen. Literarische und essayistische Texte aus seinen Grazer Jahren (1918–1927). Hrsg. von Jürgen Egyptien. Graz: Clio 2016, S. 65–72, hier S. 71. 28 Albert Ehrenstein: Wien. In: Wende, Großstadtlyrik, S. 153–154; dort auch die folgenden Zitate. 29 Emanuel Häußler : Boheme von heute. Weltstadtjugend gründet ein Kabarett. In: Neues Wiener Tagblatt, 26. 4. 1933, [o.S.]. 30 Hugo Bettauer : Das entfesselte Wien. Ein Roman von heute. Salzburg: Hannibal 1980 (= Gesammelte Werke, Bd. 2), S. 100.
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Hier ist es die sexuell »entfesselte« Frau, die den Vergleich mit der Stadt evoziert, die aber nicht in den Dienst von Dämonisierung und Verurteilung der Stadt gestellt wird. Das ›Entfesselte‹ der Stadt Wien erscheint als Produkt des Verlustes von Vergangenheit, es ist eine Entfesselung, die das Bild einer ungewissen Gegenwart und einer völlig offenen Zukunft bestimmt, einer Stadt im aktuellen Schwebezustand. In seinen Wien-Romanen hat Bettauer dies weiter ausgeführt.
Die Wien-Romane Hugo Bettauers Der 1872 in der Nähe von Wien geborene und 1925 an den Folgen eines politischen Attentats gestorbene Hugo Bettauer ist ein Wien-Autor par excellence. Einige seiner rund 20 Romantitel verweisen auf das Wien-Sujet und zugleich auf die hier debattierten Zeitebenen: Hemmungslos. Kriminal-Roman aus der jüngsten Zeit (1920), Der Kampf um Wien. Ein Roman vom Tag (1923), Das entfesselte Wien. Ein Roman von heute und Die freudlose Gasse. Ein Wiener Roman aus unseren Tagen (beide 1924), schließlich sein erfolgreichstes Werk, Die Stadt ohne Juden. Ein Roman von übermorgen (1922). Es geht also, wie die Untertitel signalisieren, um die Gegenwart und einmal auch um die Zukunft. Im Folgenden können keine eingehenden Romananalysen oder eine literarhistorische Würdigung Hugo Bettauers, dem Anton Kuh einmal »Anti-CourthsMahler-Gesinnung in der Courths-Mahler-Sprache«31 bescheinigte, unternommen werden, sondern allein die Metropolen-Konstruktion dieses ungemein produktiven Autors kann hier beleuchtet werden. Dass er, biographisch gesehen, über einschlägige Großstadterfahrung verfügte, sei hier nur angedeutet – lebte er doch des längeren sowohl in Berlin als auch in New York und in Wien. Bereits in der zitierten Stelle aus dem Entfesselten Wien finden sich die einschlägigen Schlüsselbegriffe: Tradition und Vergangenheit der Stadt seien abgestreift, die Gegenwart des Nachkriegs-Wien, in der die meisten Romane spielen, scheint instabil, eine neue Zielrichtung, das Vorwärts-Kommen, bleibt ungewiss, Sicherheiten scheinen sich nicht aufzutun. Wien wird also eine Gegenwart bescheinigt, deren Zukunft offen ist – anders als bei der Gegenwart Berlins, die wie gezeigt mit einem positiv gesehenen Zukünftigen verbunden oder damit auch identifiziert wurde. Wiens Gegenwart dagegen impliziert Vergangenheit, mit deren Erbe man sich abmüht und schwertut – noch im Bild der Entfesselung bleibt das, wovon man befreit ist, bewahrt, kurz: »Wiens Gegenwart steht unter dem Bann der Vergangenheit«.32
31 Zit. n. Murray G. Hall: Der Fall Bettauer. Wien: Lo¨ cker 1978, S. 144. 32 Jäger/Schütz, Städtebilder, S. 217.
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Eine in dieser Hinsicht aufschlussreiche Selbstaussage Bettauers stützt diese Vermutung. Im Linzer Tagblatt kommentiert er 1924 seinen Roman Die freudlose Gasse und bemerkt zur Topographie eben dieser Gasse, der Melchiorgasse: Wien hat sich nicht wie andere Großstädte organisch, nach einem bestimmten Plan, nach dem Westen zu entwickelt, sondern bildet ein wüstes, unorganisches, sinn- und zweckloses Durcheinander. Es gibt in Wien Straßen, die fünf Jahrhunderte verkörpern, Häuser aus dem Jahr 1600, Biedermeierhäuser, Rokokobauten, Ungetüme im Sezessionsstil, grauenhafte Mietskasernen aus der Gründerzeit und moderne schmucke Villen. Wir haben kein einheitliches Wohn- oder Villenviertel, kein [sic] City, nicht einmal ausgesprochene Arbeiterdistrikte.33
Wenn Bettauer hier die Macht der Vergangenheit, die die Gegenwart bestimme, aufruft, so folgt er nicht der seinerzeit virulenten Traditionsbildung, nämlich die auf regressive Eindeutigkeit zielende Habsburg-Nostalgie, sondern er führt die unterschiedlichsten Zeitschichten an, welche die Stadt geformt haben und die als gleichwertig gewichtet werden. Insgesamt also liefert er kein generalisierendes, auf Einheitlichkeit bedachtes Städtebild, sondern einzelne Mosaiksteine, er präsentiert topographische Details, wie Schmidt-Dengler betont: »Schauplätze sind Kleinbürgerwohnungen und Großbürgervillen, Caf8s, Nachtlokale und triste Absteigen […]. Es dominiert die Kleinräumigkeit.«34 Eine derartige Raumgestaltung von Urbanität bei auffälligem Verzicht auf zu seiner Zeit geläufige und beliebte Attribute der ›modernen‹ Großstadt – Geschwindigkeit, Verkehr, Asphalt, Licht etc. – verweist darauf, dass Bettauers Wiener Romane sich an Wien-Leser bzw. Wien-Kenner richten, denen man die Stadt nicht zu erklären brauchte, weil sie sich allemal auskannten.35 Insofern schienen narrative Innovationen bei der Repräsentation der Stadt nicht vonnöten. Die erzählerische Machart hat denn ja auch etwas Journalistisches an sich, wie die Einbeziehung tagesaktueller Details ebenso bezeugt wie die Mischung von Fiktionalem und Faktualem, so wenn Bettauer im Kampf um Wien zeitgenössische Wiener Autoren – Schnitzler, Hofmannsthal und andere – unverschlüsselt auftreten lässt.36 Dies dürften Faktoren sein, die zu Bettauers Publikumserfolgen gerade auch seiner Wien-Romane beigetragen haben.
33 Hugo Bettauer : Die freudlose Gasse. In: Tagblatt, 15. 3. 1924, S. 6. 34 Wendelin Schmidt-Dengler: Schienenstränge. Wien – Berlin und zurück. Literarische Spiegelungen. In: Bernhard Fetz, Hermann Schlösser (Hgg.): Wien-Berlin. Wien: Zsolnay 2001 (= Profile, Bd. 7), S. 79–91, hier S. 81. 35 Alexandra Rabl: Hugo Bettauers Wien. Stadtromane der Zwischenkriegszeit. Wien, Dipl.Arbeit, 2013, S. 26. 36 Ebd. S. 74.
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Wiener Gegenwart Bettauers Roman Der Kampf um Wien ist von seiner narrativen Anlage her einem Reisebericht vergleichbar, ein Ansatz, der für die Darstellung von Fremderfahrung des Urbanen geradezu prädestiniert scheint. Der Untertitel Ein Roman vom Tag signalisiert als Zeitebene die Gegenwart. Der 1923 erschiene Roman handelt von Ralph O’Flanagan, einem Amerikaner österreichischer Abstammung und wohl reichsten Mann der Welt, der sich anschickt, Wien, die Heimatstadt seiner verstorbenen Mutter, zu besuchen. Wien, von Nachkriegsproblemen und der Inflation gebeutelt, identifiziert er als »verelendete Stadt, die das Mitleid der ganzen Welt beanspruchte«, die »Stadt der Arbeitslosen, Abgebauten, der hungernden Pensionisten und verzweifelten Rentner, die Stadt, die ihre Bildungsstätten verkümmern lassen, Spitäler schließen, Wohlfahrtseinrichtungen aufgeben mußte«.37 Ralph erwägt, diese Stadt materiell zu unterstützen und vor ihrem definitiven Ruin zu bewahren, wobei er rasch Objekt verschiedener Begierden wird, von Politikern wie von Frauen. Um den üblen Intrigen, die man spinnt, zu entgehen, setzt er das Gerücht seiner plötzlichen Verarmung in die Welt, so lösen sich die Intrigen schließlich auf, der Protagonist heiratet seine Angebetete – natürlich eine Wienerin –, und beide verlassen Wien und begeben sich in die USA. Im Anfangskapitel, überschrieben mit »Flanagan kommt nach Wien und wundert sich«, geht es bereits um die Urbanität Wiens, die aus der Sicht des New Yorkers so gesehen wird: In flotter Fahrt ging es die Mariahilferstraße abwärts […]. Es war neun Uhr und viele Leute gingen die Straße entlang, aber der junge Mann vermißte das Großstadttempo, es schien ihm, als ob alle diese Männer und Frauen einen schleppenden Gang hätten, als ob niemand in Eile wäre. Hie und da gingen Menschen langsam statt auf dem Bürgersteig auf dem Fahrdamm, und dann dröhnte warnend und mißtönig die Autohupe, und die Bedrohten fluchten und sprangen in komischem Zickzack hin und her, bis sie in Sicherheit waren. Der junge Mann lächelte vergnügt und dachte: Dies gehört wohl zur Gemütlichkeit, die ja in Wien ihre Heimat haben soll! Ich werde mich an vieles gewöhnen, vieles verstehen lernen müssen.38
Großstadttempo versus Gemütlichkeit – hier wird mit Großstadttopoi und Vorurteilen bzw. Stadt-Images gespielt, die die Wien-Wahrnehmung des Reisenden vorbestimmen. So empfindet Ralph einmal in der Kärntner Straße, tatsächlich »in einer Großstadt zu sein. Die Straßen fast so belebt wie das New
37 Hugo Bettauer : Der Kampf um Wien. Salzburg: Hannibal 1980 (= Gesammelte Werke, Bd. 1), S. 151. 38 Ebd. S. 2f.
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Yorker Tenderloin«39, wie denn die New Yorker Stadterfahrung anfangs die Wien-Wahrnehmung prägt: Er, der eben aus New York kam, wagte kaum, den Platz [am Schottentor] zu queren. Von links und rechts, von vorne und rückwärts kamen Straßenbahnwagen, Autos und Schwerfuhrwerke, und vergebens sah sich Ralph nach dem amerikanischen Policeman um, der drüben […] mit der Hand Ordnung zu machen versteht.40
Ein Großstadtverkehr von New Yorker Dimensionen, also im ›wahren‹ urbanen Ausmaß, wird Wien hier konzediert, wenn auch das Verkehrschaos selbst unamerikanisch scheint. Das Klischee der zitierten, sprichwörtlichen Wiener »Gemütlichkeit« wird dabei durch die Kategorie der Verlangsamung in Szene gesetzt, die als scharfer Gegensatz zum Urbanen erscheint: Schon fühlte sich Ralph vom Tempo des Wiener Lebens erfaßt, langsam wie noch nie in seinem Leben schlenderte er bis zum Stephansplatz, blieb mit weit aufgerissenen Augen vor dem Dom stehen und schloß sich dann dem Mittagsbummel auf dem Graben an.41
Dies mag man als Hinweis auf eine zunehmende Anpassung bzw. genauere WienWahrnehmung unseres Billionärs lesen, die sich durch dessen sehr genaue Beobachtung der unterschiedlichen sozialen Milieus um 1920 ergibt. Für sie stehen diverse Orte im Stadtbild Wiens zur Verfügung. Ganz deutlich wird dieses Verfahren in der Freudlosen Gasse, wo eben kein genuin urbaner Raum, sondern ein vor-urbanes, gleichwohl virulentes, quasi ›ungleichzeitiges‹ Relikt, eben eine Gasse, zum topographischen Fluchtort des Erzählten avanciert. Gemeinsamer Nenner derartiger Operationen ist die Ausdifferenzierung der Entität Wien in Richtung auf differente Einzelelemente, die sozial und nicht zeitlich geprägt sind. Dafür stehen die entsprechend unterschiedlichen Orte und Räumlichkeiten, vom Caf8haus bis zu Gasse und Vorort, auf deren genaue Beschreibung freilich wie bereits betont zumeist verzichtet wird – da reicht beispielsweise die bloße Nennung eines Straßennamens wie Kärntner- oder Mariahilferstraße schon hin, um bestimmte Großstadt-Assoziationen zu erwecken bzw. zu ermöglichen, ohne dass eine weitere Schilderung der besonderen Urbanität dieser Straße nötig scheint. Dies ist ein Verfahren, das urbane Gegenwart und Gegenwärtigkeit nur aufruft, nicht ausführt, wobei die elementare soziale und ökonomische Krise vom Alp der Vergangenheit gespeist bleibt. Um die Zukunft geht es dabei nicht bzw. sie erscheint als offen und eher düster, es scheint völlig ungewiss, welchen Fortgang und Ausgang die aktuelle Krise der frühen zwanziger Jahre nehmen wird. Der diesbezügliche Ratschlag von Ralphs in Wien ansässigem Onkel lautet: 39 Ebd. S. 11f. 40 Ebd. S. 37. 41 Ebd. S. 12.
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Wir brauchen aber weder Geld noch Kredit, sondern einen neuen Organismus. Wir dürfen nicht aufgebaut werden, sondern müssen uns selbst aufbauen. Erst wenn alles das, was aus der Kriegszeit stammt, abgefault, verwest sein wird, kann aus dem mit Blut und Leichen gedüngten Boden eine neue Saat aufgehen.42
Wien ist eine Stadt der Gegenwart im Schwebezustand der Krise – ohne Zukunft oder : noch ohne Zukunft. In Hemmungslos heißt es: »Aus allen Zukunfts- und Gegenwartssorgen flüchtete man zu Gott Eros […]. Alles wollte leben, das Heute genießen, da man nicht wußte, welche Schrecken das Morgen bringen würde.«43 Selbst Bettauers Roman von übermorgen, so der bereits zitierte Untertitel von Die Stadt ohne Juden von 1922 bietet keine Orientierung auf der Zeitebene der Zukunft, wie der eindeutige Paratext ja eigentlich verheißt. Es geht um die Vertreibung aller Juden aus Wien und die dergestalt »übermorgen« neu eingerichtete Stadt Wien ohne Juden. Eine markante Stelle belegt auf paradoxe Weise, wie wenig zukünftig diese Zukunft ist: Als man in Wien zunehmend die ökonomischen, sozialen und kulturellen Folgen zu spüren beginnt, mehren sich die Stimmen, die eine Revision der Vertreibung fordern. Es macht das Schlagwort von der »Verdorfung Wiens« die Runde: »Wien verdorft!«, heißt es auf Plakaten eines ominösen »Bundes wahrhafter Christen«, und: »Wien verdorft! Wiener, sehr Ihr es denn nicht? Noch ein paar Jahre und aus der alten ehemaligen Kaiserstadt wird ein schäbiges, vergessenes Nest geworden sein!«44 Der Zukunftsdiskurs bewegt sich hier also ganz im kategorialen Rahmen des Alten, der Vergangenheit – Verdorfung eben. Wien ist also eine Stadt der Gegenwart – aber es ist eine der Offenheit, Unbestimmtheit, belastet von der Vergangenheit und ohne Zukunft, so ließe sich der diesbezügliche Blick auf Bettauers Wien-Romane resümieren. Diese Gegenwart Wiens ist aber für Bettauer eine der ungelösten, offenen Krise, es ist, wie es im Kampf um Wien heißt, eine »Zeit, die an der Gegenwart verzweifelt«.45 Gegenwart erscheint dabei als Sache von Aktualität, weshalb Bettauers Wiener Romanen zu Recht als »Zeitromane« gelten.46 Es geht ihm nicht um Urbanität und Modernität der Stadt, im Gegenteil, »Tempo und Großstadtverkehr werden vom Leser ferngehalten«47. Bettauers Bild der Großstadt unterscheidet sich also markant von anderen Großstadtwahrnehmungen der Zwischenkriegszeit, die
42 Bettauer, Kampf um Wien, S. 412. 43 Hugo Bettauer : Hemmungslos. Salzburg: Hannibal 1980 (= Gesammelte Werke, Bd. 6), S. 61. 44 Hugo Bettauer : Die Stadt ohne Juden. Salzburg: Hannibal 1980 (= Gesammelte Werke, Bd. 4), S. 144. 45 Bettauer, Kampf um Wien, S. 452. 46 Vgl. u. a. Svenja Keup: Hugo Bettauer. In: https://litkult1920er.aau.at/litkult-lexikon/bettau er-hugo/ (Aufruf 19. 7. 2019). 47 Schmidt-Dengler, Schienenstränge, S. 81.
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größeres Gewicht auf die genauere Gestaltung von Urbanität und Modernität Wiens legen, wie Evelyne Polt-Heinzl aufgezeigt hat.48 Bettauers Verfahren ist erkennbar eines der Krise, entstanden und zugespitzt auf die politisch und sozial gänzlich unsichere Lage nach dem verlorenen Krieg mit allen daraus folgenden mentalen und kulturellen Verwerfungen. Gegen Ende der zwanziger Jahre, als die ökonomische Katastrophe der Inflation, die den Hintergrund von Bettauers Wien-Romanen bildete, überwunden war und eine gewissen Stabilität die Verunsicherungen der Nachkriegskrise beendet hatte, scheint sich auch das Bild der Metropole Wien zu ändern. Der Wiener Journalist Walter Süß publizierte 1928 ein Feuilleton mit dem Titel Mariahilfer Straße, in dem er des Längeren über diese, so der Untertitel, »Herzader der Großstadt« räsoniert.49 Reichte Bettauer die bloße Nennung dieses exponierten Straßennamens, um Assoziationen des Urbanen hervorzurufen, so stellt Süß in aller Ausführlichkeit eine Straße vor, die zum Sinnbild der Großstadt überhaupt wird. Sie erscheint als, wie zitiert, »Herzader«, als »Seele der Großstadt«, als »Symphonie von Luxus, wohlhabender Behäbigkeit und traurigem Elend«, als »Märchen von Licht, eine Symphonie von Farben«. Die Straße sei »Granitwüste, Sumpf, Korso«. Sodann werden der Straße die drei hier zur Debatte stehenden Zeitebenen zugeordnet: eine der großen Heerstraßen der Zivilisation, durch die der R[h]ythmus des Jahrhunderts dröhnt, flankiert von Bauten einer geruhigen Vergangenheit und überschattet vom Traum der Zukunft: der Stadt von morgen, Metropolis mit Wolkenkratzern und flammenden Lichtfontänen inmitten brüllender Verkehrskatarakte, Mariahilferstraße in tausendster Potenz.
Das ist ein anderer Ton als ein Jahrfünft zuvor bei Hugo Bettauer : Die mit dem altertümelnden Attribut »geruhig« ausgestattete und durchaus positiv zu sehende Vergangenheit korrespondiert zum lustvollen Optimismus, mit dem die Zukunft eines utopisch anmutenden »Metropolis« ausgemalt wird, und dies in einem Duktus und mit Motiven, die aus anderen ›modernen‹ Stadtbeschreibungen geläufig ist, von der Lichtmetaphorik bis zu den »Verkehrskatarakten«. Die Straße gerät dabei zur Metonymie für Wien: »Hundert Gesichter hat diese Straße und hundert Gesichte vermittelt sie. Sie ist Wien«. An dieser Stelle werden erneut die drei Zeitebenen aufgerufen: Diese Straße ist das Wien von gestern, dort, wo noch die alten Häuser stehen und zwanzigstes Jahrhundert an die Mauern des achtzehnten brandet, vergessener Barock im Brausen 48 Evelyne Polt-Heinzl: Österreichische Literatur zwischen den Kriegen. Plädoyer für eine Kanonrevision. Wien: Sonderzahl 2012, besonders S. 187–192. 49 W. S. [d.i. Walter Süß]: Mariahilfer Straße. Die Herzader der Großstadt. In: Das Kleine Blatt, 19. 5. 1928, S. 3f.; ich danke Rebecca Unterberger (Klagenfurt) sehr herzlich für diesen Hinweis.
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der Moderne, sie ist das Wien von heute, leuchtende Schrift bunt und eindringlich hoch über flammenden Schaufensterfronten. Und sie ist das Wien von morgen, dessen Zentrum langsam gegen Westen tendiert. Sie führt nicht nur nach Schönbrunn, die Mariahilferstrasse. Sie führt in die Zukunft ….50
»Das wahre Bild der Stadt« Werner Sombart stellte bereits 1907 einen Vergleich zwischen Berlin und Wien an und konstatierte technologischen Fortschritt und »Kapitalismus« in Berlin, zu Wien bemerkte er, dieses »schreitet nicht fort«.51 Ähnliches bestätigen Stimmen aus dem Berlin der zwanziger Jahre. So heißt es 1927 in einem Berliner Feuilleton: »Der Schnellzug Berlin-Wien durchquert ein Jahrhundert. Man fährt abends von der brausenden Gegenwärtigkeit des Anhalter Bahnhofs ab und langt in einem stillen Vormärz an.«52 Heinrich Eduard Jacob notiert 1922, die »Einheit von Berlin und New York« liege »im Wollen«, »die Einheit von London, Paris und Wien« dagegen liege »im Sein«.53 Das führt zurück zur Trias Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft und dem Metropolendreieck Paris, Berlin und Moskau. Dies sind Großstadt-Konstruktionen, bei denen, so Erhard Schütz, zu berücksichtigen gilt, dass es sich hierbei um »ein unentwirrbarer Mix aus je spezifischer Geschichte und den Zuschreibungen – sei es zur Selbst- oder Fremdbildkonturierung« handelt: »Da ist dann eben im direkten Vergleich Berlin der Kopf und Wien das Herz, Berlin die werdende, Wien die verharrende Stadt.«54 Dass derartige Zuschreibungen trotz aller Problematik ihren Sinn haben, verdeutlichen analytische Blicke auf solche Konstruktionen, die gerade auch deren Prämissen und ihre Implikationen bewusst machen. Ansatzweise findet sich in Bettauers zitiertem Kampf um Wien eine solche Selbstreflexion. Als der Held einer Silvesterfeier beiwohnt, wird u. a. der Schlager Wien, sterbende Märchenstadt dargeboten. Dieser ganz aktuelle, von Hermann Leopoldi vertonte Schlager aus dem Jahr 1922 hat den Refrain: Wien, Wien, Wien, sterbende Märchenstadt, die noch im Tod ein freundliches Lächeln hat.
50 Alle Zitate ebd. S. 3, Hervorhebung im Original. 51 Zit. n. Walter Fähnders: Avantgarde und Moderne 1890–1933. Stuttgart, Weimar : Metzler 2 2009, S. 120. 52 Hans Tietze: Der neue Wiener Vormärz (1927), zit. n. Jäger/Schütz, Städtebilder, S. 163. 53 Jacob, Berlin Amerika, zit. n. ebd. S. 165. 54 Erhard Schütz: Wo liegt Europa in Berlin? Berlin-Darstellungen als Paradigma für eine europäische Moderne. In: Walter Fähnders, Wolfgang Klein, Nils Plath (Hgg.): Europa. Stadt. Reisende. Blicke auf Reisetexte 1918–1945. Bielefeld: Aisthesis 2006 (= Reisen Texte Metropolen, Bd. 4), S. 11–39, hier S. 34.
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Wien, Wien, Wien, einsame Königin im Bettlerkleid, schön auch im Leid bist du, mein Wien.55
Im Roman nun wird diese Performance wie folgt dargeboten: Wie eine Primadonna bejubelt, setzte sich der [d.i. der »Liebling des Wiener Publikums, Hermann Leopoldi«] an das Klavier, und sang, sich selbst begleitend, mit weicher, sympathischer Stimme ein neues Lied mit dem Refrain: »Wien, Wien, sterbende Märchenstadt – –« Und die Stimmung schlug um, die Menschen, die eben noch wiehernd gelacht, hatten Tränen in den Augen, tiefe Stille senkte sich über den Saal. Sterbende Märchenstadt – schön noch im Bettlerkleid – – Ralph summte die Melodie mit, konnte sich einer gewissen Ergriffenheit nicht erwehren. Verlogene Sentimentalität, Selbstbeweihräucherung, echtes Empfinden verwoben sich miteinander, und seufzend sagte sich der Amerikaner, daß er dieser Stadt wie einem Rätsel gegenüberstand. Bettlerkleid und Duliähstimmung, sterbende Schönheit und leichtsinnige Lebenslust – die Dinge sind nicht so einfach, sind kompliziert, immer wenn ich glaubte, das wahre Bild der Stadt erfaßt zu haben, entstand vor meinen Augen ein anderes, flossen die Linien durcheinander.56
Indem Bettauer die Schwierigkeiten seines Protagonisten benennt, ein authentisches, ein »wahres Bild der Stadt« zu erfassen, deutet er auf hellsichtige Weise das Widersprüchliche solcher Städtebilder an. Diese Offenheit bei derartigen Konstruktionen mag an Musils Verfahren erinnern, der bei Wien, also einer Stadt, auf deren Namen »kein besonderer Wert gelegt werden« soll und deren Namen er auch nicht nennt, eine kontingent scheinende Fülle von Attributen anführt, die eine Einheitlichkeit nicht erkennen lassen: Wie alle großen Städte bestand sie aus Unregelmäßigkeit, Wechsel, Vorgleiten, Nichtschritthalten, Zusammenstößen von Dingen und Angelegenheiten, bodenlosen Punkten der Stille dazwischen, aus Bahnen und Ungebahntem, aus einem großen rhythmischen Schlag und der ewigen Verstimmung und Verschiebung aller Rhythmen gegeneinander, und glich im ganzen einer kochenden Blase, die in einem Gefäß ruht, das aus dem dauerhaften Stoff von Häusern, Gesetzen, Verordnungen und geschichtlichen Überlieferungen besteht.57
Nun mag man aber wenigstens in der Pluralität derartiger Zuschreibungen einen Hinweis auf eine »wahres« Bild der Stadt erkennen. Zum guten Schluss sei freilich auf jenes Diktum verwiesen, nach der alle Städte allesamt ihre eigenen 55 Abdruck bei Wendelin Schmidt-Dengler: Ohne Nostalgie. Zur österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit. Wien, Köln, Weimar : Böhlau 2002, S. 32f. Vgl. dazu auch Ester Saletta: Schnitzlers Fräulein Else in der österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit. Wien, Köln, Weimar : Böhlau 2006, hier S. 21f. 56 Bettauer, Kampf um Wien, S. 152f. 57 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. Bd. 1. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1975, S. 10.
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Gerüche haben und auf das Erhard Schütz aufmerksam macht. Er zitiert eine schöne Passage aus dem 1933 in Ungarn erschienenen Roman Die Abenteuer des Korn8l Esti von Dezsö Kosztol#nyi: »Alle großen Städte haben ihren eigenen Geruch. Budapest riecht nach Ersatz-Kaffee, […] Warschau nach Karamellzucker, Madrid nach Schokolade, Brüssel nach Vanille, London nach Talg, Paris hingegen roch nach geschmolzener Butter.«58 Und Berlin? »Berlin nach Rauch.« Und Wien? »Wien nach Gebäck.«59 Oder in der Version eines aktuellen Gegenwartsromans, in dem es über Wien heißt: »Die Stadt roch nach Parfüm.« Und über Berlin: »Berlin stinkt immer nur nach billigem Parfüm.«60
58 Zit. n. Schütz, Europa in Berlin?, S. 34. 59 Ebd. 60 Julia Zange: Realitätsgewitter. Roman. Berlin: Aufbau 2016, S. 16.
Primus-Heinz Kucher
Zwischen Revolution, Spekulation, Inflation und Kastration. Literarische Streifzüge durch das Wien der 1920er Jahre
1.
Die Erkennbarkeit der Stadt
»Städte lassen sich an ihrem Gang erkennen wie Menschen…«, formulierte bekanntlich Robert Musil im ersten Kapitel seines ab 1932 veröffentlichten Romans Der Mann ohne Eigenschaften (MoE), um diese mit Verve vorgetragene Befundung bereits durch den Kapiteltitel Woraus bemerkenswerterweise nichts hervorgeht ironisch zu brechen.1 Die aus »schmalen tiefen Straßen in die Seichtigkeit heller Plätze« hervorschießenden Autos, verantwortlich für eine geradezu atmosphärisch fühlbare, irritierende Geschwindigkeit, Chiffre für den zeitgenössischen Großstadtdiskurs, werden denn auch schon im Nachsatz auf einen »gleichmäßigen Puls« eingeschworen.2 Als gelte es, die zum urbanen Code gewordene Befindlichkeit vom gesteigerten Nervenleben, verursacht durch die Gleichzeitigkeit von Eindrücken und durch exponentiell gesteigertes Tempo nicht über Gebühr zu strapazieren, ja seinen Protagonisten als darüber erhabenen zu positionieren, relativiert Musil in einem seiner Nachsätze die Unregelmäßigkeit, aber auch die Schläge der Stadt, von der es heißt, ihr Name wäre belanglos, wenngleich selbst bei geschlossenem Auge erkennbar, zu einer »kochenden Blase«. Zum Glück sei diese in einem Gefäß eingeschlossen, bestehend aus stabilisierenden Elementen wie Architektur, Institutionen, Traditionen und einem soliden Überbau an Bürokratie. Lange Zeit wurde der MoE als vorwiegend ironischer Abgesang auf die schwüle Atmosphäre des habsburgischen Vorkriegsösterreich gelesen; erst neuere Arbeiten haben sein Potential als kultur1 Vgl. Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. In: R. M.: Gesammelte Werke. Bd. 1. Hrsg. von Adolf Fris8. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1980, S. 9, neuerdings dazu auch die digitale Textedition: http://musilonline.at/musiltext/ (Zugriff: 19. 7. 2019). 2 Dazu Christian Jäger, Erhard Schütz: Städtebilder zwischen Literatur und Journalismus. Wien, Berlin und das Feuilleton der Weimarer Republik. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag 1999. Ferner : Walter Fähnders u. a. (Hgg): Berlin, Paris, Moskau. Reiseliteratur und Metropolen. Bielefeld: Aisthesis 2005 (= Reise Texte Metropolen, Bd. 1), bes. Einleitung S. 9– 29.
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Primus-Heinz Kucher
kritisch reflektierende Auseinandersetzung mit zentralen Modernisierungsmarkern der Zeit wahrgenommen. Dabei wird dem Urbanen als Brut- und Triebgefäß für ein weitgespanntes Netz an Ideen, Projekten, als Handlungsraum für »soziale Diversität« und in weiterer Folge für die Ausbildung des Möglichkeitssinns, der beständig an der Verschiebung des Wirklichen arbeite, Bedeutung zugestanden.3 Es darf in diesem Kontext daran erinnert werden, dass Musil nicht nur ein Produkt der Mährisch-Weißkirchner Internatsjahre, sondern auch und wahrscheinlich viel stärker der rasant sich entwickelnden Metropolen Berlin und Wien gewesen ist. Sie haben seinen Habitus und seine Schreibstrategien, aber auch die Räume, auf die sie Bezug nehmen, wesentlich geprägt. Dass Musil mit der Arbeit an seinem Roman, der auf eine spezifische Weise auch zum Stadtdiskurs der Zwischenkriegszeit zu rechnen ist, etwa zeitgleich zu den tiefgreifenden, revolutionär-republikanischen Umbruchserfahrungen von 1918/19 eingesetzt hat, ist durch eine Reihe von Tagebuch-Notizen belegt.4 Dies darf hier zur ersten Fragestellung überleiten, nämlich, inwiefern die Zäsur von 1918–19 den Großstadtdiskurs und seine österreichischen Spezifika und Dynamiken literarisch begleitet bzw. einer mehr oder weniger kritischen kulturell-politischen wie auch ästhetisch-formalen Reflexion unterzogen hat.
2.
Revolution und Inflation als urbane Chiffren um 1919
Ein publikationsgeschichtlich frühes Romanbeispiel, in dem Revolution und Inflation als wesentliche urbane Parameter nach 1918 ins Spiel kommen, stellt Hugo Bettauers Roman Hemmungslos dar, dem Untertitel nach ein ›Kriminalroman aus der jüngsten Zeit‹, der 1920 im Verlag Erwin Müller (geführt vom Bruder des Schriftstellers Robert Müller) erschien.5 Es muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass sich kürzere Texte, lyrische, erzählerische und feuilletonistische freilich schon seit Ende 1918 dieser Zäsur des Umbruchs gewidmet 3 Vgl. dazu den Beitrag ›Stadt‹ von Alexander Honold. In: Birgit Nübel und Norbert Christian Wolf (Hgg.): Robert-Musil-Handbuch. Berlin, Boston: de Gruyter 2016, S. 587–593. Honold hält bereits einleitend fest: »Die (große) Stadt spielt als ein in sozialer Diversität entfalteter Handlungsraum für Robert Musil eine herausragende Rolle für das Verständnis moderner Kultur. Sie gibt eine verdichtete Vorstellung der Prozesse von Arbeitsteilung, Entfremdung, beschleunigtem Umschlag und Austausch von Gütern sowie wachsenden Bewegungsbedarf und Verkehr.« Ferner A. H.: Die Stadt und der Krieg. Raum-Zeitkonstruktionen in Robert Musils Roman »Mann ohne Eigenschaften«. München: Fink 1995 (= Musil-Studien, Bd. 25), bes. S. 124f. 4 Vgl. dazu die Notizhefte 9 und 10 in: Robert Musil: Tagebücher. Hrsg. von Adolf FrisH. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1976. 5 Der Text wird zitiert nach der Ausgabe: Hugo Bettauer : Hemmungslos. Roman. Mit einem Nachwort von Peter Larndorfer. Wien: Milena Verlag 2009 und im Fließtext mit der Sigle ›H‹ versehen.
Zwischen Revolution, Spekulation, Inflation und Kastration
41
haben, der im weitesten Sinn als Initialsignal für Inflation (der Werte, des Habitus wie des Geldes) und Spekulation aufgefasst wurde. Als wohl bekanntestes und in seiner Zuspitzung umstrittenes Beispiel gilt das mit Wien betitelte expressionistisch-anarchische Gedicht von Albert Ehrenstein, das, einsetzend mit der Zuschreibung der Stadt als »kalte Hure«, die »ein Reich verpraßt« und »den Armen nie genährt« habe, in einen Aufruf zur Vernichtung der Stadt als Ort einer devastierenden technischen Zivilisation einmündet: Ich beschwöre euch: zerstampfet die Stadt, Ich beschwöre euch: zertrümmert die Stadt, Ich beschwöre euch: zerstört die Maschine, Ich beschwöre euch: zerstöret den Staat!6
Diesem Gedicht nahezu diametral gegenüber steht eine Erzählung von Raoul Auernheimer, die unter dem Titel Die adelige Stadt. Ein republikanisches Märchen 1919 in der Wiener Zeitschrift Moderne Welt erschien.7 Sie thematisiert in einem vor dem Zusammenbruch stehenden, von einem langen Krieg erschöpften Reich im Osten unerwartet auftretende subversive Tendenzen, die sich in Ansammlungen eines »unzufriedenen« Volkes in der Metropole, einer »Stadt am Strom« (AS, 6), manifestieren. Indem dieses Volk die Verfassungsfrage stellt, zielt es auf die Beseitigung der Dynastie und der sie tragenden Eliten. Gegen diese Ansinnen sucht der Herrscher nach einem Gegenmittel, das angesichts der zusammenbrechenden Machtbasis nicht mehr weitere Unterdrückung sein kann. In Gestalt eines Ablenkungsmanövers wird nun eine besondere Form von Demokratisierung per Dekret verkündet. Diese besteht in einer Rangerhöhung aller männlichen Einwohner auf Vorschlag seines Beraters, der eigentlich sein Fußsohlenkitzler ist. Die Anspielungen auf Wien und die Habsburger sind trotz der orientalischen Verfremdung und Ironisierung unübersehbar ; allerdings erscheinen die urbanen Koordinaten letztlich nicht die tragenden zu sein. Pointierter und die Dynamik der Zeit treffender erfassend präsentieren sich einige frühe Feuilletons von Joseph Roth, die dieser 1919/20 in der Wiener Zeitung Der Neue Tag veröffentlicht hat. Im Besonderen ist auf jenes unter dem Titel Hausse und Baisse zu verweisen. In ihm spitzt Roth als einer der Ersten die grundlegende Erfahrung der Zeit auf eine alle Bereiche durchdringende Spekulation zu, die sich von vorangegangenen dramatischen Erfahrungen wie Krieg und Revolution dadurch unterscheide, dass die bisher verbindlichen Wertbe-
6 Albert Ehrenstein: Wien. In: A. E.: Werke. Bd. 4/1: Gedichte. Hrsg. von Hanni Mittelmann. München: Boer Verlag 1997, S. 173–174. 7 In: Moderne Welt 1 (1919), H. 4, S. 6–8, weiterhin zit. mit der Sigle ›AS‹.
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griffe in bloße Börsenwerte umgewertet würden.8 Ohne auf die Stadt direkt einzugehen – diese ist impliziter Schauplatz der meisten der im Neuen Tag veröffentlichten Feuilletons – wird klar, dass Spekulation und Werte-Inflation mit dem Schauplatz Großstadt über das Signal Börse untrennbar zusammenhängen, ja darüber hinaus bereits eine universale Dimension angenommen haben: »Die ganze Schöpfung ist die verfehlte Börsenspekulation eines Gottes, der pleite gegangen ist« (HuB, 189). Eine Facette dieser verfehlten Spekulation, welche den Menschen zum Spielball bzw. zum Jeton reduziere, blitzt denn auch in Roths frühem Roman Die Rebellion (1924) auf, in dem der Protagonist Andreas Pum, ein Kriegsinvalide, auf die ihm zustehende Prothese, Symbol einer äußerlich wiederhergestellten Ordnung, verzichten muss: »Statt ihrer kam die Unordnung, der Untergang, die Revolution…«9
3.
Bettauers Hemmungslos und Müllers Wien-Essay
Auf Bettauers Hemmungslos zurückkommend stellt sich umgehend die Frage, inwieweit darin die Stadt, hier Wien, in das Konzert der »Schulen zur Wahrnehmung des Heterogenen«, einzustimmen vermag, für Erhard Schütz ja eine zentrale Funktion moderner Metropolen und über vordergründige Modernitätsmarker wie Technik, Masse, Dynamismus, Verkehr und soziale Mobilität hinausreichend ein oft unterschätzter Aspekt im Großstadtdiskurs.10 Bleibt die Stadt bei Bettauer zunächst zwar ungenannt, so erschließt sie sich rasch über die Identität des Protagonisten, eines demobilisierten, hochdekorierten k.u.k. Offiziers, der im Oktober 1918 noch »sein Bataillon von Italien heimwärts brachte« (H, 12), sowie über einige, im kollektiven Bild gut verankerte topographische Signale wie ›Graben‹, ›Theresianum‹ oder ›Kärntnerstraße‹, Chiffren, die auf exklusive Wiener innerstädtische Schauplätze verweisen. Dieser Kontrast zwischen einer Oberflächen-Exklusivität und einer mittel- wie nutzlosen Kriegsheimkehrer-Realität, der sich der Protagonist, vormals Freiherr Kolomann von Isbaregg, nun, »nichts mehr an Hab und Gut als die verschlissene Uniform ohne Distinktion« besitzend (H, 13), hungernd und von seiner Zim8 Vgl. Josephus (d.i. Joseph Roth): Hausse und Baisse. In: Der Neue Tag, 7. 12. 1919, S. 4–5, zit. n. J. R.: Werke I. Das journalistische Werk 1915–1923. Hrsg. von Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989, S. 187–189. Im Folgenden zitiert mit der Sigle ›HuB‹. 9 Joseph Roth: Die Rebellion. Berlin: Die Schmiede 1924, hier zit. n. J. R.: Werke 4. Romane und Erzählungen 1916–1929. Hrsg. von Fritz Hackert. Köln: Kiepenheuer & Witsch, S. 243–323, hier S. 249. 10 Vgl. Erhard Schütz: Wo liegt Europa in Berlin? Berlin-Darstellungen als Paradigmen für eine europäische Moderne. In: Walter Fähnders, Wolfgang Klein, Nils Plath (Hgg.): Europa. Stadt. Reisende. Blicke auf Reisetexte 1918–1945. Bielefeld: Aisthesis 2006, S. 11–40, hier S. 13.
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mervermieterin mit Delogierung und einer Existenz auf der Straße bedroht, ausgesetzt sieht, bestimmt den Einstieg in den Roman. Der grundlegend veränderte soziale Status – arbeitsloser Offizier und seines Adelstitels verlustig geratener Angehöriger der sozialen Elite, sichtbar auch in der Demontage seines vollen Namens auf die republikanisch-pragmatische Kurzform ›Kolo‹ – zwingt ihn, alternative und erfolgversprechende Handlungsmodelle zu überlegen. Wenn Anarchie und Zerfall der alten Ordnung, so seine Überlegung, die Grundlage der neuen Wirklichkeit bilden, so kodiert er in der Folge die Werteskala moralischen Handelns entsprechend um. Aus dem Umsturz der Ordnung und seiner sozialen Hierarchie lasse sich daher das Narrativ des Kriminellen als ein gerechtfertigtes ableiten, um legitim erscheinende Ansprüche durchsetzen zu können. Der Raum der Stadt mit ihrem »Menschengewühl« (H, 15) stellt hierfür das kongeniale Bewegungs- und Aktionsfeld bereit. Diszipliniert und präzise, auch diese Ausdruck moderner (Verhaltens)Technik, geht Isbaregg ans Werk: zum einen in Form einer Aufspaltung seiner Identität in eine korrekt-aristokratische äußere Form (Habitus ohne Substanz) und zum anderen in das Innenprofil eines zynisch kalkulierenden, Aufwand, Mittel und Erfolgsaussicht abschätzenden Kriminellen, der sein Handwerk im Krieg erfolgreich unter Beweis gestellt hat. Auf der Handlungsebene des Romans selbst realisiert sich dies in drei Verbrechensakten, die einen Steigerungsgrad an Komplexität aufweisen sowie von Anpassungs- und Re-Definierungsstrategien begleitet sind. Als ersten, das Modell auslotenden Verbrechensakt suggeriert Kolo Interesse an einer offenbar vermögenden Dame, die ein Delikatessengeschäft verlässt und ihn mit dem »schamlosen Blick des alternden, von unbefriedigter Sinnlichkeit verwüsteten Weibes« (Ebd.) eine Einladung zu signalisieren scheint. Indem Kolo diese Signale (auch gegen sein erotisches Begehren) aufgreift, durchbricht er eine erste Hemmschwelle: er kalkuliert wider Willen einen sexuellen Akt im Abtausch gegen Brot oder Geld ein, eine Form von Prostitution, die seinem aristokratischen Männlichkeitsprofil eigentlich zuwiderlaufe: »Koloman, Freiherr von Isbaregg, weißt du, wie du früher über Männer, die Liebe für Geld verkauften, gedacht hast?« »Quatsch« antwortete Kolo sich. »Das war der Baron mit den vielen Ahnen und der großen Karriere vor Augen! Heute bin ich der obdachlose Isbaregg, der seit vierundzwanzig Stunden nichts gegessen hat und die Welt von unten ansieht.« (H, 16)
Zwar kommt ihm der Zufall entgegen, als sich ihm in der vollen Straßenbahn die Gelegenheit zum Diebstahl ihres Portemonnaies bietet, die den aus seiner Sicht entwürdigenden Abtausch-Akt erübrigt. Doch die Disposition zum kriminellen Akt (an Stelle des sexuellen) hat ihre Bewährungsprobe bestanden. Der Diebstahl bedarf allerdings einer Form von Legitimation, die Kolo in einer bündigen
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Reflexion nachliefert, um für sich, der sich seinem aristokratischen Habitus gegenüber Rechenschaft legen will, ein fortan plausibles Handlungsmodell zurecht zu legen. »Alle Moral [ist] ein vollständiger labiler Begriff« wie die »Moralpächter der ganzen Welt« bewiesen hätten, womit, im Anschluss, auch mit Beispielen illustriert, an den Weltkrieg angespielt wird. Denn »[p]lötzlich wurde aus dem Mord eine Tugend, aus dem Diebstahl eine Selbstverständlichkeit, und Brandlegung, Raub, Entführung, Erpressung und Gewalttätigkeit waren ganz ihres verbrecherischen Charakters entkleidet worden« (H, 21). So habe »nicht Gott« oder eine andere Instanz die moralischen Parameter diktiert, »sondern einzig und allein die Zweckmäßigkeit der Stunde« (H, 22). Mit dieser Begründung verwandelt sich Kolo aus einem deklassierten Heimkehrer wieder in einen »eleganten Herrn« (Ebd.) und bezieht eine seinem Stand entsprechende Pension am Schwarzenbergplatz. Fortan spaltet der Protagonist seine Identität entsprechend der Zweckmäßigkeit in eine auf, die an alten Formen festhält und Status suggeriert, sowie in eine andere, die zynisch-kriminelle Optionen durchkalkuliert und umsetzt. Hierzu setzt er die Technik der Karnevalisierung, z. B. in Form eines parallelen Doppellebens in einer Pension und einem Absteigequartier, geschickt ein. Das nächste Opfer ist ein durch den Krieg reich gewordener Spekulant, »ein Schieber und Kriegsgewinnler schlimmster Sorte« (H, 25), dessen fragwürdiges Agieren bereits die moralische Rechtfertigung liefert. Indem nämlich dieser Spekulant ohnehin »sein ganzes Leben lang geraubt, gewuchert und betrogen« habe, müsse er »zu meinem Heil und dem anderer vernichtet werden« (H, 27). Mit diesem Kapitalverbrechen überschreitet Kolo eine kategoriale Grenze innerhalb der Hierarchie krimineller Handlungsoptionen. Durch die perfekte Spurenverwischung und Aneignung des Vermögens des Opfers gelingt ihm nunmehr ökonomisch eine glänzende Re-Integration in jene Eliten, die nach dem ersten Schock der Umbruchsmonate auch in Wien, wenngleich nun durchmischter als zuvor, wieder ihre alten Positionen einzunehmen versuchen. Das nächste Projekt zielt daher auf eine standesgemäße Verbindung im Sinn einer nachhaltigen Reparatur seiner aus den Fugen geratenen Welt. Eine »öffentliche« Redoute, Sinnbild der alten wie der neuen Ordnung, vor allem aber Tauschbörse von Geld und Status sowie Bühne für soziale, durch Masken akzentuierte Durchlässigkeit, über der […] »eine schwüle Atmosphäre voll wilder, brutaler Erotik [schwebte«], bietet hierzu den idealen Rahmen (H, 52). Dort trifft der demobilisierte Offizier auf eine vermögende und zugleich verwitwete Dame, Erbin eines beträchtlichen Vermögens dänisch-englischer Herkunft und damit Garantin für Stabilität. Gegen ihre Selbstsicherheit, Ausweis modernen weiblichen Habitus, bringt Kolo nicht nur sein Männlichkeitskapital in Stellung, sondern auch seinen neuen, wenngleich auf kriminelle Weise erworbenen sozialen Status. Einem wohldosierten Kalkül folgend zielt Kolo auf die Mobilisie-
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rung des Sinnlichen, weniger dagegen auf die Konsumation desselben, denn, so »wusste Kolo ganz genau, daß diese Frau mit erregten Sinnen auf ihn wartete« […] ihn selbst jedoch »vollständig kalt ließ« (H, 76). Wie bereits in ihrer ersten Ehe mit einem ungarischen Offizier fällt diese an sich modern konturierte Frau neuerlich einem Hasardeur und beziehungsunfähigen Menschen, als der sich Kolo immer deutlicher entpuppt, zum Opfer. So rettet ihn wohl die Eheschließung vor einem neuerlichen Bankrott im Zuge eines katastrophalen Wetteinsatzes bei einem Pferderennen. Doch dieser Schachzug liefert ihm, der »nichts von Leidenschaft und Lust« zu empfinden vermag (Ebd.) bereits den Vorwand, Dagmar später zu ermorden und dies als Freitod durch eine Überdosis Morphium zu maskieren. Denn die Eheschließung versteht er nicht anders als einen Akt prostitutiver Auslieferung aus einer ökonomischen Zwangslage heraus: »Dagmar hatte ihn einfach gekauft, wie man einen teuren Hund, ein gutes Pferd kauft.« (H, 94) Zwar gelingt einem Reporter gegen Ende des Romans die Aufklärung dieses Mordfalls, und das Ganze scheint seiner detektivischen Auflösung entgegenzugehen. Doch im Zuge der Gerichtsverhandlung wird das Gebäude von revoltierenden Menschenmassen gestürmt, nicht der Verhandlung wegen, sondern als Folge eines Aufstands, womit der Text auf die historisch verbürgten Putschversuche vom April bzw. Juli 1919 anspielt und den Zeitbezug, wie im Untertitel der Erstausgabe angedeutet, unterstreicht, gleichwohl auch überzeichnet. So unverkennbar Bettauers Roman mit Elementen der Kolportage arbeitet, Figuren plakativ in Szene setzt und filmähnliche Sequenzierungen vornimmt und sich damit dem Vorwurf geringer psychologischer Verdichtung und Spekulation auf Lesererwartungen aussetzt, so sollte nicht übersehen werden, dass er die elementare Schockerfahrung des Zusammenbruchs von 1918 und der Deklassierung der alten, vermeintlich staatstragenden Eliten mit zum Thema macht und dafür eine angemessene narrative Form sucht. Diese Umsturz-Erfahrung ist für die Relativierung des Moralbegriffs, für dessen Instrumentalisierung im Deregulierungschaos ebenso wie für die kriminell grundierten ReDefinierungsakte zum Zweck der Wiedererlangung eines zuvor in diesem Ausmaß nie besessenen Status verantwortlich bzw. wird hierfür verantwortlich gemacht.11 Auf der Handlungsebene erlaubt sie Protagonisten-Zeichnungen, die außerhalb der konventionellen Moral- und Wertbegriffe agieren können, ohne von vornherein als moralisch fragwürdige Identitäten konfiguriert zu erscheinen. Ferner entwirft dieser Roman eine Typologie von Verhaltensweisen, die in nachfolgenden Romanen Bettauers wiederkehren und sich weiter ausdifferen11 Vgl. dazu Evelyne Polt-Heinzl: Österreichische Literatur zwischen den Kriegen. Plädoyer für eine Kanonrevision. Wien: Sonderzahl 2012, bes. Kap. I.5: Deregulierung politisch, S. 84–91 und Kap. I.7.1: Alles wird relativ oder die Werte purzeln, S. 107–112.
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zieren. Man kann von einer Art Matrix sprechen, innerhalb welcher eine »Vielfalt der unanständigen Überlebensmöglichkeiten« experimentiert und ausgeführt werden, die auch im zeitgenössischen Kino, man denke nur an die Filmversion von Bettauers Freudlose Gasse, mitunter grell, aber psychologisch durchaus stringent in Szene gesetzt werden.12 Nicht alle Figurenkonstellationen überzeugen, doch alle entspringen urbanen Biotopen, bewegen sich anpassungsfähig durch die sozialen Landschaften, durch freudlose Gassen wie durch die Tempel der alten Eliten und, vor allem, durch jene der neuen Parvenus und Deregulierungs-Gewinner. Modernität im Sinn von Tempo und Großstadtverkehr, von aktiven Menschenmassen, die sich durch die Stadt bewegen, sei es zu bzw. von ihren Arbeitsplätzen, sei es zu Versammlungen, auch Protesten, oder sei es durch die Einkaufsstraßen, – eine Modernität, wie sie als typisch für Berlin, aber auch für Chicago und New York angesehen wird –, steht bei Bettauer nicht im Vordergrund13. Trotzdem ist auch sein Wien als Chiffre von Modernität zu lesen, als beklemmende von entfesseltem Kapitalismus und sozialem Hasard, der zweifellos eine Variante der spezifisch österreichischen, in diesem Fall wenig gemütlichen, sondern egozentrischen Raubritter-Nachkriegswirklichkeit darstellt. Und zudem blitzt ein Wien auf, dem ein weiterer Seismograph jener Jahre, Robert Müller, in einem ausgreifenden Stadt-Essay nachspürt.14 Auch er konstatiert in Wien (1921) eine Differenz zu den Leitmetropolen und tritt der Stadt mit beträchtlicher Skepsis gegenüber, zeige sie sich aufgrund ihrer Größe zwar als »räumliche und statistische Großstadt« (W, 104), jedoch als »keine in jenem modernen technischen Sinn«. Was die Stadt kennzeichne sei vielmehr »Durchdringung von Osten und Westen«, zugleich eine »Humusschicht des Ineinander Verwesungsprozesses der Rassen« (W, 100), in der die Zuwanderer Wien einen Rest alten Glanzes und matten Lebens verleihen, eine Art »Amerikanismus und Berlinismus mit halben Mitteln« (W, 110). Damit relativiert Müller den Anspruch auf Partizipation an zeitgenössischen Entwicklungen und verweist die Stadt – »nicht Großstadt, nicht Kleinstadt, aber Intensivstadt im Sinn geistiger 12 Vgl. Daniela Sannwald: Bilder der Großstadt. Wien und Berlin im Kino der zwanziger und frühen dreißiger Jahre. In: Bernhard Fetz, Hermann Schlösser (Hgg.): Wien-Berlin. Wien: Zsolnay 2001 (= Profile, Bd. 7), S. 117–135, hier S. 117. Zur Verfilmung von Bettauers Roman Freudlose Gasse (1923) vgl. Jan-Christopher Horak: Der Fall Die Freudlose Gasse. Eine Rekonstruktion im Münchner Filmmuseum. In: Ursula von Keitz (Hg.): Früher Film und späte Folgen. Restaurierung, Rekonstruktion und Neupräsentation historischer Kinematographie. Marburg: Schüren 1998 (= Schriften der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Gesellschaft, Bd. 6), S. 48–65. 13 Vgl. Wendelin Schmidt-Dengler: Schienenstränge. Wien – Berlin und zurück. Literarische Spiegelungen. In: Fetz/Schlösser (Hg.), Wien-Berlin, S. 79–91, hier S. 81. 14 Vgl. Robert Müller: Wien. Erstdruck in: Ganymed. Blätter der Marees-Gesellschaft (1921), Bd. 3, S. 112–130, hier zit. n. R. M.: Rassen, Städte, Physiognomien. Kulturhistorische Aspekte. Hrsg. von Stephanie Heckner. Paderborn: Igel 1992, S. 99–136. Im Beitrag hier zitiert mit der Sigle ›W‹.
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und ästhetischer Entfaltung« (W, 111) – auf einen Status außenseiterisch-exotischer Existenz, in der zwei z. T. fragwürdige Herausstellungsmerkmale den Ton angeben: die Flucht in die Musik, nicht selten eine Mischung aus »Klassik und Neurasthenie« (W, 116), sowie der spezifische »Verkehr der Geschlechter« (W, 111), durch den, ebenfalls nicht unproblematisch, »die Wiener Frau, auch die Kokotte, die kleine Soubrette, das süße Mädel […] die fremde Valuta [assimilieren] und den »östlichen Zustrom« erfolgreich mit dem beinahe degenerativen »Erschöpfungszustand der Rasse« (W, 124) [!] und der Stadt amalgamierten.
4.
Hyperinflation und Entfesselungsdiskurse
In diese Matrix passt auch die Figurenkonstellation in Bettauers Roman Das entfesselte Wien (1924), der die Hyperinflationsjahre 1922/23 (mit Verweisen auf die sogenannte Genfer Sanierung von 1922 und die Franc-Spekulation vom März 1924) als historische Folie besitzt und eine Variante der Isbaregg-Figur ins Zentrum stellt.15 Diese wird durch den vom Klein- zum Großbürger und Bankdirektor aufsteigenden Paul Mautner verkörpert, dem eine ihm mehr als ebenbürtige Mitund Gegenspielerin (Sonja Gordon) korrespondiert. Vor dem Hintergrund einer zur Entstehungszeit von Hemmungslos noch nicht vorstellbaren SpekulationsRealität wird darin die Parallelisierung zwischen ökonomischer und moralischer Deregulierung nicht zuletzt durch eine akzentuierte Verschränkung von Kapital und Körperlichkeit und einer sich kontinuierlich steigernden Volatilität beider Dimensionen nochmals zugespitzt. Nach desaströsen Fehlkalkulationen, die einen sozialen Absturz einleiten und »Urinstinkte« hervorbrechen lassen, die sich u. a. darin äußern, dass »sich der gesittete Mensch in ein reißendes Raubtier [wandelt], das nach Beute sucht« (EW, 35), trifft Mautner auf jene Gegenspielerin, die nur als Produkt jener urbanen Transgression, welche die Inflationsund Deregulierungsrealität mit sich brachte, denkbar ist. Als Mautner nämlich jene vermögende, mysteriös-attraktive Sonja Gordon besucht, um ihr den Hof zu machen, ergreift diese blitzartig die Initiative und kommt ihm insofern zuvor, als sie seine Pläne durchschaut und diese aufgreift, um auch für sich selbst eine offenbar unbefriedigende Lage ins Lot zu bringen: »Und nun sitzen Sie da, lieber Paul Mautner, und möchten gerne, weil sie total zusammengebrochen sind, mein dritter Mann werden, was?« (EW, 72) Dem sprachlos kalkulierenden Werber hält sie dann noch entgegen: »Sie gefallen mir. Körperlich und auch sonst, weil ich Männer mit Charakter nicht ausstehen kann und Sie keinen Funken davon 15 Hugo Bettauer : Das entfesselte Wien. Ein Roman von heute. Wien: Löwit Verlag 1924. Im Text zitiert mit der Sigle ›EW‹.
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Abb. 1: H. Bettauer: Das entfesselte Wien. Cover der Originalausgabe 1924
haben.« (EW, 73) Lächelnd nimmt sie daraufhin seinen noch gar nicht gestellten Heiratsantrag als Konvenienz, als offenbar Best-Case-Szenario, an. Bettauer konfiguriert hier die Sonja-Figur mit Attributen, die einerseits eher quer zum zeitgenössischen weiblichen Rollenprofil stehen, andererseits männliche Verhaltensweisen für eigene Entscheidungen als quasi selbstverständliche beanspruchen und solche, gestützt auf die überlegene ökonomische Situation, im entwaffnenden Konversationston vortragen. Das auf Jagd ausgerichtete Raubtier Mautner, um eine Selbstzuschreibung aufzugreifen, wird unvermutet zum Gejagten. Er passt in das Beuteschema einer Frau, die für ihre aktuelle Lebensplanung einen passenden Partner (neben einer Partnerin) benötigt und ihn dabei gleichzeitig bloßstellt – »als Mann ohne Charakter«. Unmissverständlich kommt hier eine Umkehr der üblichen Rollen-Konstellation und sozialen Hierarchie zum Tragen: der künftige Gatte wird aus seiner Rolle katapultiert und auf die einer mehrfach verwendbare Dienstleistung (Repräsentations- und Sexualobjekt) hin modelliert. Im nachfolgenden Verlobungsakt muss er diesen quasi ohnmächtig hinnehmen: Mit halb geöffnetem Munde ließ sie sich zuerst bewegungslos küssen. Bis sie plötzlich zur auflodernden Flamme wurde und seine Zärtlichkeit mit einer wilden, ungehemmten Gier erwiderte, wie er sie noch nie erlebt hatte. Mit einer Gier, die ihn abstieß und ihn das Furchtbare der Zukunft erkennen ließ. Gekauft wie eine Sache, genommen
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wie eine käufliche Dirne. Sein Herrenbewußtsein bäumte sich auf, der Griff seiner Hände wurde brutal. Aber der Wunsch nach Reichtum und Glanz war stärker als der männliche Instinkt. (EW, 76)
In diesem Entfesselungsakt, zugleich eine akzentuierte Verschränkung von Ökonomie, Sexualität und Körperlichkeit, werden traditionelle kulturelle und habituelle Muster subversiv kommentiert. Der Körper – hier jener beider Geschlechter – ist unübersehbar zum Abtausch-Objekt geworden, einem Zirkulationsfluss von Kapital-Zuschreibungen überlassen.16 Nur vordergründig flackert ein Begehren auf, das weniger emotional-erotisch gesteuert erscheint, als vielmehr funktional. Es folgt hier einerseits einem Triebprinzip von punktueller Gier nach Genuss, Komplement zu jenem nach Besitz – überraschend dem Weiblichen zugeordnet –, andererseits einem rational-zynischem Kalkül, d. h. der Gier nach sozialem und ökonomischem Status, hier dem Männlichen zugeordnet (eine Umkehr des Versorgungsprinzips gemäß der Geschlechterdebatte seit Otto Weininger). Konstellationen dieser Art mögen nicht repräsentativ erscheinen, sie dürfen aber über den Charakter plakativ inszenierter Weiblichkeitsphantasien hinaus auch als Ausdruck einer tiefen Infragestellungen der Werte-Parameter in jener brüchig-rasanten Nachkriegsphase angesehen werden.17 In ihrer strukturellen Orientierungslosigkeit korrespondieren sie dem Labyrinth-Charakter der neuen urbanen Realitäten der frühen 1920er Jahre und beschränkten sich keineswegs nur auf Prosatexte, sondern reüssierten auch im Theaterbetrieb. Ein Beispiel dafür wäre Paul Wertheimers im Februar 1924 am Deutschen Volkstheater aufgeführtes Tendenzstück Menschen von heute, das ebenfalls den Kontrast zwischen Spekulationsexistenzen und bürgerlicher Erosion innerhalb einer äußerlich intakten Familie zum Thema hat und bei der Kritik auf hohe Aufmerksamkeit stieß.18
16 Dieser Aspekt wurde insbesondere in der Verfilmung der tendenziös bearbeiteten Romanvorlage durch Heinz Hanus unter dem Titel Schwüle Stunden akzentuiert, wie Fritz Rosenfeld in seiner Besprechung kritisch anmerkte; in: AZ, 21. 10. 1928, S. 21. Bereits 1927 wurde Bettauers Roman, versehen mit dem Untertitel Seine Hoheit, der Eintänzer, durch Karl Leiter verfilmt und lief ab März in vielen Wiener Kinos. 17 Vgl. dazu bereits Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit: Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979. 18 Vgl. z. B. die Besprechung durch Helene Tuschak im Neuen Wiener Tagblatt, 12. 2. 1924, S. 10.
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»Größe und Grauen der Zeit…«: Dörmanns Jazz – Deregulierung total?
Vor diesem Hintergrund sind auch zwei weitere Prosatexte, beide um 1925 veröffentlicht, zu sehen: zum einen die – in vielfacher Hinsicht als Meilenstein geltende – Erzählung Fräulein Else von Arthur Schnitzler sowie der Roman Jazz von Felix Dörmann. Beide Autoren kommen aus dem Wiener Fin de SiHcle, gelten als Exponenten der spezifischen Wiener Moderne-Debatte und standen zugleich den medialen wie habituellen Um- und Aufbrüchen nach 1918 (Stichwort: Film, bei Dörmann ferner das Unterhaltungstheater) bei aller kritischen Distanz, vor allem seitens Schnitzlers, durchaus aufgeschlossen gegenüber. Bereits SchmidtDengler hat schon vor dem Erscheinen der Tagebücher Schnitzlers (1985f.) eine Fräulein Else-Studie unter dem Titel Inflation der Werte und Gefühle vorgelegt, die außerdem auf den Jazz-Roman von Dörmann verwies (der zu diesem Zeitpunkt völlig vergessen war).19 Akzentuierter, auch plakativer als Schnitzler verankert Dörmann seinen Roman in den Wiener Nachkriegswirren seit 1919.20 Darunter sind zunächst die Anstrengungen der Protagonistin (Marianne v. Hartenthurn) zu sehen, mit den kargen hinterlassenen Mitteln einer väterlichen k.u.k.-Offiziersexistenz, die gleich zu Romanbeginn zu Grabe getragen wird, zurecht zu kommen, also noch vor dem Boom der ›Neuen Frau‹-Bewegung Mitte der 1920er Jahre, selbständig ein Leben in die Hand zu nehmen. Darunter fallen aber auch die vielfältigen Deregulierungsphänomene der frühen 1920er Jahre, die im Roman schrittweise die Perspektiven bestimmen: Parallelexistenzen, die tagsüber einem wenig profitablen Beruf nachgehen (oder dies versuchen) und abends oder nachts ein zweites Leben führen, semi-klandestin, am Rande oder schon jenseits der Legalität: Schmuggel, Hasard, Prostitution, Spekulation etc. In dieses Spektrum sind nicht nur deklassierte Vertreter der alten Welt involviert, die sich neu positionieren müssen, auch biedere Kleinbürger arbeiten mit oder zu, Beamte z. B., die einen Teil ihrer Wohnung vermieten. Und natürlich auch typische Figuren, welche die Zeit auf den Markt konkurrierender Ideen und Projekte wirft: anfangs idealistische, später korrumpierte Revolutionäre wie z. B. der aus Ungarn geflüchtete Ernö Kalmar (womit die gescheiterte Räterepublik von 1919 in den Blick kommt). Ihm gelingt es, die junge Frau für seine Vorhaben einzuspannen, ihr ein Gefühl von Wertigkeit zu geben, indem er sie in vermeintlich karitative 19 Wendelin Schmidt-Dengler: Inflation der Werte und Gefühle. Zu Arthur Schnitzlers Fräulein Else. In: Giuseppe Farese (Hg.): Akten des Internationalen Symposiums »Arthur Schnitzler und seine Zeit«. Bern, Frankfurt [u. a.]: Peter Lang 1985, S. 170–181, wieder abgedruckt in: W. S.-D.: Ohne Nostalgie. Zur österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit. Wien, Köln, Weimar : Böhlau 2002 (= Literaturgeschichte in Studien und Quellen, Bd. 7), S. 53–64. 20 Vgl. dazu auch den Beitrag von Thorsten Carstensen in diesem Band.
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Projekte einbindet (Begleitung von Kindern in die Schweiz, um de facto einen illegalen Juwelenschmuggel zu decken), Projekte, die sie in ihrer Tragweite nicht durchschaut. Daraus erwächst ein Bindungsverhältnis, auch ein erotisches, das sukzessive in Abhängigkeit kippt und Marianne in den Strudel des Spekulationsund Vergnügungszirkels zieht. Sie lässt sich manipulieren, wird Tänzerin, um diese – ihr bewusst werdende Entfremdung – zu verdrängen, und bricht mit spektakulärer Geste während einer Vorführung in der Maske einer russischen Prinzessin – die Anspielungen auf die zeitgenössischen Tanzvorführungen Tänze des Lasters, des Grauens und der Grausamkeit von Anita Berben 1922/23 in Wien scheinen durch – aus dieser Welt auch wieder aus und denunziert sie. Als sichtbare Chiffren der Verdinglichung sowie eines enthemmten Lebensund Deregulierungsrhythmus’ fungieren im Roman neben klassischen ImportExport- bzw. Devisen-Valuta-Spekulationskarrieren der Jazz und der ekstatische Tanz. Dörmann ordnet ihn, d. h. den Jazz zwar der mondän-kapitalistischen Spekulationswelt zu, entfremdet ihn damit seinen ursprünglich emanzipatorischen Zügen (auf die Karl Tschuppik in einer Besprechung des Southern Syncopated Orchestra 1922 und nach ihm Arthur Rundt in einem Harlem-Feuilleton 1926 hingewiesen haben)21, lässt ihn aber nicht nur als billige antiamerikanische Kulturkritik im Raum stehen. Indem er ihn zugleich zur Chiffre des Verfalls im ekstatischen Moment provokanter Grenzüberschreitungen macht, weist er – verdeckt – auf sein kulturkritisches Potential hin, das sich freilich der Leseerwartung auf den ersten Blick entzieht. Hans Janowitz wird dafür in seinem Jazz-Roman 1927 eine Erklärung anbieten, wenn er darauf hinweist – und dies sprachlich auch konsequenter als Dörmann umsetzt – dass ein Jazz-Stück eben »anderen Gesetzen« folgt als »es die Gesetze einer Sonate für Klavier oder Geige sind«. Daher gehe ein Jazz-Roman analog zu einem Jazz-Stück seine eigenen Tonwege bzw. vertrete den Anspruch, seine Jazz-Textur auch »kapriziös und eigenwillig« (so Willy Haas in der Literarischen Welt) umzusetzen.22 Freilich, so kapriziös wie Janowitz, ist Dörmanns Roman auf der sprachlichen Ebene wie auf jener der narrativen Struktur wieder nicht, – er nützt nur in Form deskriptiver Steigerungen das synkopische Element der Musik und schließt es mit markanten Handlungsszenen kurz. Etwa in jener Ausbruchszene, als der ›bacchantische Tanz‹ (so die Ankündigung), »ein Tanz der Besessenheit« (J, 116), in der ideologisch alle Richtungen von Marseillaise über Cancan zu sowjetischen Revolutionshymnen amalgamiert sind, von ihr abgebrochen wird und der Text dabei rhythmisch synkopische Züge (Wechsel von kommentierenden mit elliptischen 21 Vgl. Karl Tschuppik: Der Neger im Prater. In: Prager Tagblatt, 8. 5. 1922, S. 3–4 sowie Arthur Rundt: Amerika ist anders. Berlin 1926, S. 134–140. 22 Hans Janowitz: Jazz. Berlin: Weidle 1999, 111f. Erstdruck: Berlin: Die Schmiede 1927. Im Text zitiert mit Sigle ›J‹. Die Haas-Würdigung zit. n. ebd. (Klappentext).
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Sätzen bzw. Satzfragmente) annimmt, – unter dem Konsum von Kokain, wie man später erfährt (J, 136): Die Größe und das Grauen der Zeit lag in diesem Tanz. Die Verzweiflung und die grelle Lustigkeit der Verzweiflung im Shimmytakt getanzt. Grelles Blech, winselnde Geige, schrille Pfeifen – alles war zusammengefaßt zu einem Cancan der Vernichtung – zu einem Jazzband der Verzweiflung… Stimmung der Zeit! Terror! (J, 117)
Am Höhepunkt seines rasanten Aufstiegs – Ernö hat ein Palais einer Aristokratenfamilie gekauft, deren Sohn (Leo) Mariannes verstorbenen Vater geschätzt hat – zwingt Ernö Marianne, in einem Pantherfell vor der Clique der Neureichen zu tanzen – »Bestie, du wirst tanzen« –, was sie auch ausführt, um ihn daraufhin zu verlassen, – ihr vermeintlicher Befreiungstanz (J, 161f.). In Szenen wie den erwähnten kommt die totale Verdinglichung der Welt, die Zurschaustellung körperlichen Kapitals (Sensationstanz mit erotischer Signalkraft, der nicht entfesselt, sondern Fesselung bedeutet) und damit die (Selbst)Entfremdung der Person, zum Ausdruck. Sie bilden zugleich aber auch Einfallstore für Akte widerständischen Aufbegehrens. Marianne flieht aus der Beziehung mit Ernö, flieht mit Leo, der für sie die idealisierte Vatergestalt in Erinnerung ruft, den Sommer über in die Tiroler Berge. Doch nach Wien zurückgekommen, wo die beiden ein neues Leben beginnen wollen, finden sie sich im Strudel der forcierten Inflation wieder, welche sie zwingt, Möglichkeiten der Finanzierung des Alltags zu explorieren, sich somit auch zu re-definieren. Leo hat sich, in Anspielung auf die historisch existente Clart8-Bewegung in Wien23, pazifistischen Ideen verschrieben, (J, 174), doch ist er nicht in der Lage, daraus ein tragfähiges Lebensprojekt zu entwickeln. Das treibt Marianne, resignierend – »wozu tauge ich…? […] Ich muß wieder tanzen im Kokainrausch… halb nackt…dafür bin ich bestimmt…« (J, 180) – neuerlich in die Fänge des Spekulanten Kalmar. Ein Tanzabend, der von Leo und Marianne (als Natascha) angekündigt wird und viel neureiches Publikum anzieht, gerät zum Fiasko, tragen nämlich die beiden dem Publikum pazifistisch-messianische Texte vor und provozieren es damit. Trotz stürmischem Verlangen des Publikums verweigert sich Marianne dem erwarteten Sensationstanz, worauf Leo es mit drastischen Schimpfwörtern (»Schweine«; J, 186) zurechtweist. Die Häme in der Presse folgt auf den Fuß, Leo zieht daraus die Konsequenz – »ich habe kein Recht auf sie« (J, 187) – und erschießt sich. Marianne ist somit wieder Kalmar ausgeliefert, der sie gewissermaßen ›saniert‹ und ›rettet‹ wie der Völkerbund im Oktober 1922 Österreich durch eine Anleihe saniert, kontrolliert und – gede23 Vgl. dazu den Eintrag: https://litkult1920er.aau.at/litkult-lexikon/clarte/ (Zugriff: 19. 7. 2019).
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mütigt hat. Sanieren impliziert meist auch ruinieren: wie der Staat partiell durch die Genfer Sanierung ruiniert wurde, so auch Marianne durch das Wiederauftauchen von Kalmar. Sie kann ihn zwar zunächst in Schranken weisen, als er von ihr Emotion erhofft – »Ich tanze! Ich trage die Kleider, die du mir schenkts und den Schmuck – ich bin deine lebendige Reklame! […] Ich glaube, ich erfülle meine Pflicht!« (J, 205) –, aber sie wird ihn nicht mehr los. Obwohl sie in dieser Phase eine intensive Beziehung zu einer Frau eingeht, was Marianne für Kalmar nur noch interessanter macht und seinen autoritären Anspruch auf sie bekräftigt (J, 219), lässt sie sich schlussendlich in eine (Konvenienz)Ehe drängen, womit Dörmann auch auf verdrängte Beziehungsmuster Anfang der 1920er Jahre anspielt. Sie versteht im Zuge seiner Annäherungen auch, dass Ernö am Freitod Leos seinen Anteil hatte und dies nun als Triumph ausspielen will. Bestärkt durch Ratschläge ihrer Freundin Olga entwickelt Marianne in der Folge einen diabolischen Plan, einen »eisernen Vernichtungswillen« (J, 227): sie setzt sich selbst als Gewinn für seine Ruinierung ein, indem sie sich einem Bankdirektor (Wiesel), der schon zu Beginn des Romans sein erotisches Interesse penetrant formuliert hatte, offeriert: Wollen Sie mich haben? Ja. Herr Präsident, merken Sie sich gut, was ich Ihnen sage: An dem Tag, an dem mein Mann ruiniert ist und am Boden liegt, gehöre ich Ihnen! (J, 244)
Parallel zur historischen Franc-Spekulation vom März 1924 bricht Kalmars Bank zusammen und er mit ihr ; jener Bankdirektor Wiesel hatte bei den letzten Fehlspekulationen seine Finger im Spiel. Die von Kalmar frei gewordene Marianne gibt Wiesels Drängen nach, mit dem Auto an die Riviera zu reisen. Während der Fahrt bittet sie ihn plötzlich um die Rückgabe ihres Wortes: »Geben Sie mir mein Wort zurück… ich kann nicht… ich kann nicht wieder einem Mann gehören… und noch einem […] und das nimmt kein Ende« (J, 266). Doch der »Geldmann« repliziert, er sei Geschäftsmann – »Ich bestehe auf unserer Vereinbarung. Einmal will, nein, muß ich Sie haben. Was Sie dann machen, ist mir egal« (J, 267) – und spricht damit, ohne es zu ahnen, sein Todesurteil aus. Denn Marianne, die den Wagen lenkt, erhöht auf einer abschüssigen Straße in den Dolomiten die Geschwindigkeit und lenkt ihn über den Rand hinaus in den Abgrund. Dieses dramatische, unerwartete Finale rehabilitiert die weibliche Protagonistin und zeigt sie am Ende stärker als die Else-Figur bei Schnitzler. Sie, die sich zu Beginn noch naiv auf Kalmars zynische Spekulationsprojekte eingelassen, die den falschen Glamour kapitalistisch-urbaner Transgression und Deregulierung ausgekostet hat, in mehrfache Dependenz geschlittert ist, bringt am Ende die Kraft auf, zu rebellieren. Zwar ist der Preis hoch, aber symbolisch wegweisend:
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Er vernichtet nämlich auch die Repräsentanten jener brutalen Welt, in der nur der finanzielle Gewinn zählt, auch um den Preis der Pauperisierung der Massen, des Staates, des sozialen Gefüges, – eine frühe Antizipation späterer Wert-Zerfalls-Ideen, z. B. jener von Hermann Broch. An diesem Textspektrum können wir ersehen, dass in Wien die traumatischen wie komplexen Relationen von Kriegsende, Deklassierung, soziale Deregulierung und ökonomischer Hasard, der alle Beziehungen kontaminiert und vor allem das Erotische als sexuelle Tauschrelation in die spekulative Kapital-Zirkulation einbringt bis hin zur kastrationsartigen Selbstvernichtung, schon sehr früh, früher als selbst in Berlin, auf das Interesse zeitgenössischer Autoren gestoßen ist. Neben den erwähnten Zeitromanen, die zwar nicht prominent im Kanon vertreten sind – eine Ausnahme bildet Helmuth Kiesels neue Geschichte der deutschen Literatur 1918–1933 (2017)24 – haben die hier angesprochenen Stadt-Konstellationen auch über die literarischen Gattungsgrenzen hinaus Aufmerksamkeit erregt und zu Werkprojekten geführt. Es darf hier kurz an eines dieser Projekte erinnert werden: an die Ballade (von) der Stadt von Franz Th. Csokor, die, angeregt von einem Großstadtzyklus des Malers Carry Hauser, als Dramenprojekt 1925 in einer ersten Fassung abgeschlossen war und 1928 als Hörspielfassung »bei dem Preisausschreiben der Reichsrundfunkgesellschaft in Deutschland Aufsehen erregte«25. Von der Radiobühne der RAVAG für das Februarprogramm angekündigt, konnte es in einer überarbeiteten Fassung schließlich am 1. Mai 1929 ausgestrahlt werden.26
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Zwischen Revolution und Inflation: Neumanns Stadt- und Zeitroman Sintflut
Das Spektrum der Zeitromane, die zugleich präzise Anbindungen an reale Problem- und Diskurslagen der 1920er Jahre aufweisen, lässt sich bis in die frühen 1930er Jahre noch um einige Beispiele erweitern, die hier nur kursorisch behandelt bzw. benannt werden können: um den als ›Großstadtroman‹ im Untertitel explizit ausgewiesenen Text Eros und der Wahnsinnige von Kurt Sonnenfeld (1929) sowie um den im Engelhorn-Verlag erschienenen Roman Sintflut von Robert Neumann, ebenfalls 1929, oder um Joe Lederers Musik der Nacht (1931). Neumanns Roman hat immerhin Stefan Zweig in einer einlässlichen 24 Vgl. Helmuth Kiesel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918–1938. München: C.H. Beck 2017, S. 345f. 25 So der Bericht in der Zeitung Der Tag, 28.8. 1928, S. 5, in der dieses Hörspiel als Teil des »Programm des Winterhalbjahres« angekündigt wurde. 26 Vgl. Radio Wien 5 (1929), Nr. 20, S. 328f. mit einer erläuternden Vorbemerkung Csokors bzw. Radio Wien 5 (1929), Nr. 30, 1929, S. 497 mit einer Synopse des Hörspiels in 18 Bildern.
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Besprechung in der Neuen Freien Presse als technisch perfekten wie von der Themendimension überwältigenden, hart an der Wirklichkeit entlang schreitenden Roman der Inflation par excellence gerühmt. Trotz Züge des Maßlosen, des Dämonischen, der Verzerrung und des Verbrecherischen sei er auf Grund der spezifischen Verschränkung von Leidenschaftlichkeit und Sachlichkeit großen Autoren zur Seite zu stellen: Balzac, Dostojewski und Zola.27 Die Dimension des Urbanen nimmt bei Neumann auf verschiedene Weise eine zentrale und im Vergleich zu anderen Texten jener Zeit ungewöhnliche Rolle ein. Der Roman beginnt mit einem als Vorspiel bezeichneten Auftakt in der unmittelbaren Vorkriegszeit und führt dabei in eine Art Mietskaserne am Stadtrand von Wien, die zugleich Schauplatz einer dynamischen, unübersichtlichen sozialen Gemengelage von unberechenbarer Durchlässigkeit ist. In ihr geben Aspekte von Macht und Gewalt einerseits und die einer zunehmenden Verdinglichung der Beziehungen, des Körperlichen im Besonderen andererseits den Ton an und den sprachlichen Rhythmus vor. Der Ich-Erzähler registriert und vermisst diese Gemengelage zwar mit auktorialem, zugleich aber erstaunt-irritiertem Blick, versucht zu ordnen, was zunehmend aus den Fugen gerät, um nicht zufällig im Kriegsausbruch von 1914 zu enden. Das nachfolgende erste Buch Sturz nach oben führt in das Jahr 1922, in dem das Ich nach vierjähriger Kriegsgefangenschaft aus Russland zurück in seine Stadt kommt, die ihm zunächst im Bild einer Schlafstätte für junge Männer entgegentritt, die von Bettgehern, Gestrandeten des Krieges und grell geschminkten Knaben geprägt ist. Nur langsam gelingt es ihm, sich zurechtzufinden, die alten Gassen und das Mietshaus aufzusuchen, um dabei bemerken zu müssen, dass von den brüchigen Idyllen der Jugendzeit auch der letzte Firniss abgebröckelt ist, dass sich nahezu alles in einen Zirkel undurchsichtigen Kapital- und Körper-Verkehrs verwandelt hat: Väter, die ihre Töchter verkaufen, Mütter und Töchter, die sich prostituieren (müssen), ehemalige (Klein)Fabrikanten, die zu Spekulanten im großen Stil geworden sind und Jugendfreunde, die entweder zwielichtigen Beschäftigungen nachgehen oder bereits vom mächtigen, grellen Strudel dieser Kapitalisierung und Inflationierung gebrochen wurden, ein Kosmos, dem er sich als abgehetzter, müder Flaneur – »die neue Art ist mir fremd. Ich spreche nicht ihre Sprache…« (SF, 140) – zu nähern versucht. Dabei markiert er seine Distanz zu einer entfremdeten Welt ebenso wie seine Fähigkeit, genau zu beobachten und sich mit provokanten Gesten dem Mainstream der Zeit entgegenzusetzen: Ob ich schlief, ob ich durch die nahen Gassen mit ihrem Lärmen kleiner Leute mich drückte, ob ich meine Streifzüge weiter ausdehnte bis in die Straßen der eigentlich 27 Vgl. Stefan Zweig: Roman der Inflation. In: Neue Freie Presse, 8. 3. 1929, S. 1–3, bes. S. 3. Robert Neumanns Roman Sintflut wird im Folgenden nach der Erstausgabe, Stuttgart: Engelhorn 1929 im Text mit der Sigle ›SF‹ zitiert.
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gellenden Stadt – es war im Grunde doch immer nur ein Kreis, den ich abschritt, und irgendwann fand ich immer in das alte Haus zurück und auf meine Pritsche. Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, des Abends vor den Theatern und großen Restaurationen die Menschen zu beobachten, die aus- und eingingen, und da war es mir eine grimmige Freude und ein aufwühlendes Abenteuer, in meiner Felduniform unter all diesen Gutgekleideten, mich zu bewegen, anzustreifen an diese Pelze, Kleider, Leiber, denen mich nichts, nichts, nichts verband. Einmal wurde ich verhaftet – als Taschendieb. Man fand nichts bei mir. Ein Tag glich dem anderen. (SF, 125)
Dieses Ich versteht sich jedoch nicht nur als Flaneur, es ist auch das Gedächtnis der Zeit, Reflektor-Instanz ihrer ökonomischen, ideologischen, habituellen Brüche und Verwandlungen, ihrer Flut an Bildern, mit denen es zu Rande zu kommen hat. Es rekapituliert minutiös den Aufstieg der Abel-Werke durch kriminelle Abwicklung von Kriegsaufträgen wie z. B. Lebensmittelfälschungen (SF, 152), durch Hereinnahme findiger Spekulanten, welche enorme Transaktionen über Optionen, Versicherungen, (Simultan)Hypotheken – »Geld wurde gemacht ohne Geld« bzw. »da griff eins nur in die Luft und hatte Geld in den Fingern (SF, 177 bzw. 182, 213f.) – erfanden und teils über Schieber- und Scheingeschäfte abwickelten, sowie deren brüskes Ende (SF, 310f.). Und es wird in diesen Abschnitten, im zweiten und dritten Buch, selbst Teil jener Welt, um sie noch präziser von innen heraus schildern zu können, Zugang zu erlangen zu den diese Spekulationsrealität begleitenden nächtlichen Exzessen, die in StakkatoStil und Rhythmus, untermalt von Jazzbands, eine gleichermaßen beklemmende wie gewaltige, dem Puls der Zeit nachfühlende Atmosphäre skizzieren: »Mirjam schrie noch immer. Riß das Hemd sich von den Schultern und schrie. Stand nackt und schrie. Musik brach ab. Tanz stockte. Stummes Starren war da.« (SF, 255). Untermalt wird dieses Hinabgleiten in die Abgründe der Zeit auch von reißerischen Presseberichten, die, dem zeitgenössischen Fall der B8kessySkandalpresse nachempfunden, in den Roman einmontiert werden und das Geschehen nicht nur zu kommentieren, sondern, im Zusammenhang mit einem Mordfall, auch zu instrumentalisieren unternehmen (SF, 350f.). Zu einer weiteren Komplexitätssteigerung tragen, parallel zu den Börsenspekulationen und dem Doppelleben ihrer Protagonisten in der Finanzwelt wie in jener des Mietshauses, weitere Volten bei, die manche der Romanfiguren vollziehen. Die zeitweise hart am Prostitutionsgewerbe schrammende Mirjam Feuerbach sowie Ignaz Klein, phasenweise Kompagnon des Industrie-Spekulanten Abel, entpuppen sich im zweiten Buch auch als Parteigänger der weitgehend im Verborgenen mit russischen und ungarischen Emissären wirkenden KPÖ, in deren politische Flügelkämpfe, Strategien und Räterepublik-Phantasien der Ich-Erzähler hautnah einführt. Neumann zeigt sich dabei überaus modulationsfähig, als Erzähler, der zwischen Reportage, inszenierter Faktualität, Dokumentarismus – man denke nur an die sachlich-distanzierte Darstellung der Exhumierung
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des ermordeten Abel (SF, 362f.) –, Sozialroman und individuellen Tragödien beständig hin und her wechselt, dabei aber auch eine fast unübersichtliche Perspektivenvielfalt durch teils schrille Doppellungen der Identität mancher Figuren heraufbeschwört. Dies und die politisch mitunter brisante indirekte Kommentierung bzw. Aussparung des Roten Wien hat Kritiker wie Fritz Rosenfeld, der Neumann vermutlich auch als Vortragenden in sozialdemokratischen Institutionen kannte, Schwierigkeiten bereitet, ihm zu folgen. Zwar begrüßte Rosenfeld in der Zeitschrift Bildungsarbeit den Roman als »… der erste Roman der Inflation, der erste, der kein Einzelschicksal aus den Nachkriegsjahren erzählen, sondern Geist und Gesicht der Epoche gestalten will.« Doch Neumann, so Rosenfeld, sei »so stark […] von der Mode der Reportage [beeinflußt], daß er Geist und Gesicht der Inflation nur in ihrer äußeren Erscheinung sieht.«28 Unter äußerer Erscheinung verstand Rosenfeld »photographische Bilder«, rasante, »farbenkräftige« zwar, aber eben nur Bilder, die letztlich keine »ausgeglichene, bedeutsame Dichtung« ergeben würden, nur einen interessanten Versuch, die Epoche bis an die Ereignisse vom Juli 1927 heranzuführen. Allerdings sei es ihm gelungen, Börsenszenen zu gestalten, aus denen »Gier und Tempo einer Zeit, Geldhunger und Skrupellosigkeit, alle Verbrechen der Inflation mit großer Kraft […]«29 hervortreten. Auch Hans Margulies fällt im Tag ein eher zwiespältiges Urteil, indem er den Text einerseits prominenten Zeitromanen (Heinrich und Thomas Mann, Frank Thieß) zur Seite stellt, andererseits eine Nähe zu letzterem insinuiert und, ähnlich Rosenfeld, die künstlerische Durchgestaltung bemängelt: In der »Sintflut« geschieht ungeheuerlich viel. Neumann nahm die Haarmann-Affäre, nahm Emmerich B8kessi, der bei ihm Emmerich Farkas heißt, nahm den Schattendorfer Prozeß, die Juli-Unruhen, den Prozeß Stolper-B8kessi und gruppierte diese Geschehnisse um den Aufstieg und Zusammenbruch eines Finanzritters, der keine Schlüsselfigur ist […] Zahllose Menschen tauchen auf und man muß Neumann zugestehen, daß es ihm gelingt, diese Geschehnisse und diese Menschen so stark herauszuarbeiten, daß sie fesseln und interessieren. Vielleicht fehlen letzte Konturen, ja es scheint wiederholt seine Absicht zu sein, die Ränder verschwimmen zu lassen, statt sie markant und unwiderruflich festzulegen. Darunter aber leidet der Roman.30
Was Margulies (und Rosenfeld) als Mängel am Roman diagnostizierten, ließe sich im Licht des Berliner Programms von Döblin zumindest dem Ansatz nach als – von den Kritikern – nicht erkannter Versuch eines neuen, urban-experi28 F. R. [d.i. Fritz Rosenfeld]: Robert Neumann: Sintflut. [Besprechung] In: Bildungsarbeit. Blätter für sozialistisches Bildungswesen XVI (1929), Sonderbeilage: Arbeiterbücherei, S. 50. 29 Ebd.; Ernst Fischer dagegen charakterisierte den Stil Neumanns im Zuge einer Lesung als »erregende Sachlichkeit« und geprägt von »kalte[r] Leidenschaft«; in : Arbeiter-Zeitung, 1. 11. 1930, S. 33. 30 Vgl. Hans Margulies: Der Zeitroman. In: Der Tag, 27. 3. 1929, S. 6.
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mentellen Romans lesen: die Zerschlagung einer traditionellen SchlüsselfigurInstanz, die Reihung von Bildern im Sinn der Kinostil-Idee, die psychopathologischen Konstellationen anstelle der psychologischen Verdichtung und Motivierung sowie der Montageaspekt durch Verschränkung zeitgenössischen Materials (Prozesse, Zeitungsberichte z. B.) mit der Geschichte von Romanfiguren. Auffällig sind dabei freilich auch die politisch-ideologischen Positionierungen: Neumann, der zur selben Zeit in die Bildungsarbeit des ›Roten Wien‹ eingebunden war und wiederholt Vorträge in Volkshochschulen anbot, enthielt sich – im markanten Unterschied zu Karl Ziak – einer entsprechend positiven Kommentierung oder Zeichnung der als urbane und kulturelle Leistungen gefeierten Errungenschaften wie z. B. im sozialen Wohnbau. Dagegen fokussiert der Roman vielmehr auf die Rivalität zwischen dem kommunistischen Untergrund, der, auch das ein brisantes Zeitsignal, sich provokant und bewusst in die Juli-1927Konfrontation am Ende des Romans einbringt, und der sozialdemokratischen Stadtverwaltung, die tendenziell als Herrschaftsapparat dargestellt wird – wohl auch ein Irritationssignal für Kritiker wie Rosenfeld.31
Abb. 2: K. Ziak: Wien. Heldenroman einer Stadt. Cover der (einzigen) Ausgabe von 1928.
31 Zur Tätigkeit Neumanns in der sozialdemokratischen Bildungs- und Parteiarbeit vgl. die Ankündigungen in der Arbeiter-Zeitung über Rednertätigkeit für die Konsumgenossenschaft Wien oder über Lesungen (1928–30).
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Revolutionär-anarchische Projekte und heterotopische Räume: Sonnenfelds Eros-Roman
Ein verhaltenes, aber auch überaus zwiespältiges Echo hat trotz eines engagierten Vorworts von Felix Salten Kurt Sonnenfelds Roman Eros und der Wahnsinnige erzielt, der allerdings noch im Jahr seines Erscheinens (1929) eine zweite Auflage erlebt hat. Dabei handelt es sich, wie Salten knapp, aber treffend andeutet, um einen Roman, der »in die Tiefen der Großstadt und in die Tiefen menschlicher Verirrungen führt«.32 Das Großstädtische, wiederum in der für Wien-Romane quasi typischen, durch Sonnenfeld nochmals zugespitzten Verschränkung von Eros, nervöser Spannung, Grauen und Entsetzen, tritt schon im ersten Kapitel mit zeittypischen (Wiener) Attributen entgegen:33 Maskenball mit Jazzband-Untermalung, transgressive Körperlichkeit, labyrinthisches Getümmel, Zufallsbegegnungen, hastige Gespräche eines Paares, als »müßten sie nur schnell, schnell alle Fremdheit wegtilgen und auslöschen, ehe sie ineinander in die Arme sinken« (Eros, 17). Und doch steckt mehr in dieser Ouvertüre, – eine Begegnung, wie sie nur in der großen und zugleich geschlagenen Stadt möglich ist: die junge Frau, Anna, eine Verkäuferin, einundzwanzigjährig, Halbwaise, die mit sechzehn Jahren ihre erste Affäre mit einem holländischen Touristen in der »Inflationszeit« hatte (womit die Zeitebene freigelegt wird: 1928) und seither gemieden wurde, allein geblieben ist. Er, Hugo, ein ehemaliger Baron, Flieger im Krieg, zu Kriegsende ein »roter Oberleutnant«, dann – wegen einer Kriegsverletzung – nur mehr Chauffeur, eine Abstiegskarriere, wie viele im Wien der Jahre nach 1918. Nebenbei noch Radioamateur mit einem kleinen Atelier, womit der technomediale Wandel, Chiffre urbaner Modernität, angesprochen wird, ist er zudem überzeugter Sozialist, weshalb er seinen Statusverlust keineswegs beklagt, im Gegenteil. Er versucht Anna vielmehr die »Morschheit und Fäulnis des alten Reiches« begreiflich zu machen, von der ihre Kolleginnen im Geschäft wieder zu träumen beginnen, stürzt sich mit ihr – nach hungrigen Liebesstunden – »ins Abenteuer der Hegelschen Dialektik« (Eros, 45). Als ihm diese zu wenig konkret werden, fängt Hugo an, sie dort zu suchen, wo es keinen Staat mehr gibt, in anarchisch-pazifistischen Gruppen, derer es in den frühen 1920er Jahre einige in 32 Felix Salten: Geleitwort. In: Kurt Sonnenfeld: Eros und der Wahnsinnige. Ein Großstadtroman. Wien, Leipzig: Salzer 1929, S. 11. Sonnenfelds Roman wird im Folgenden im Text mit der Sigle ›Eros‹ zitiert. 33 Auf diese machen auch die meisten Besprechungen aufmerksam. U. a. spricht z. B. Dora Stockert-Meynert davon, dass sich Sonnenfelds Roman nicht nur als Großstadtroman präsentiere, sondern in seiner Abgründigkeit und in den »furchtbaren Zügen« des Eros den Danteschen Höllenringen anschließen könnte.« In: D. St.-M.: Eros und der Wahnsinnige. In: Wiener Zeitung, 19. 11. 1929, S. 5.
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Wien gegeben hat, etwa im Umfeld der Zeitschrift Neue Erde oder um Pierre Ramus und dessen Zeitschrift Erkenntnis und Befreiung.34 So gerät er schrittweise an die Peripherie, sozial, politisch, habituell und dies auch im topographischen Sinn: in Caf8s und private Versammlungsorte in Ottakring, – also in den Bauch von Wien, der in der Literatur nur selten zum Thema wird. In einer dieser Versammlungen tritt auch ein Arzt auf, der nicht nur gegen den neuen Militarismus das Wort ergreift, sondern auch ein Plädoyer für die Abschaffung des § 144 hält, wofür er später denunziert wird.35 Inzwischen ist dieses Thema auch für das junge Paar relevant geworden: Anna hat nicht nur Radio und Hegel-Texte bei Hugo gehört, sie ist auch schwanger geworden und steht vor der Frage, wie es weitergehen soll. Nach einigem Hin und Her entschließen sich die beiden zu einem operativen Eingriff bei ihm, illegal und mit dramatischen Folgen: Anna erleidet einen Blutsturz und verstirbt trotz aller Bemühungen des an sich erfahrenen Arztes. (Eros, 119) Kurz darauf wählt der Arzt, zuvor bereits mehrmals von Unbekannten bedroht, den Freitod, indem er sich aus dem Fenster stürzt: »Klatschend schlägt Doktor Zirkas Körper auf das Pflaster des Lichthofes, eine Blutlache beginnt sich unter ihm auszubreiten…« (Eros, 126), womit der erste von drei Teilen dramatisch ausklingt und der Roman das politisch-habituelle Ausgangsnarrativ um das des kriminell-mysteriösen anreichert. Der zweite Teil des Romans führt vordergründig in kleinbürgerliche Milieus wie z. B. in einen Friseurladen, doch zugleich von dort in hochambivalente Räume, die mit Foucault als Heterotopien bezeichnet werden können, z. B. in ein Dampfbad, Treffpunkt (homo)erotischer Träume und Ausschweifungen, wie z. B. Drogenkonsum und Drehscheibe damit verbundener krimineller Akte.36 Und er führt eine für das weitere Geschehen wichtige Figur ein, Franz Spurny, über den verschiedene, zunächst isoliert wirkende Episoden, sich als mitein34 Zu Ramus (d.i. Rudolf Großmann) vgl. Beatrix Müller-Kampel (Hg.): »Krieg ist der Mord auf Kommando«. Bürgerliche und anarchistische Friedenskonzepte. Bertha von Suttner und Pierre Ramus. Nettersheim: Verlag Graswurzelrevolution 2005. 35 Im Vorfeld der Arbeit am Roman wurde z. B. im Februar 1928 von der ›Österreichischen Liga der Menschenrechte‹ eine Vortragsreihe zum Thema Der Paragraph 144 und die Menschenrechte (Mitwirkende u. a. der Schriftsteller Johann Ferch und die sozialdemokratische Nationalratsabgeordnete Adelheid Popp) angeboten, im April 1928 auf der Wiener Rolandbühne das ›Tendenzstück‹ Paragraph 144 von Lothar Ring und Rudolf Huppert gegeben sowie im Oktober 1928 das Stück Der Frauenarzt von Hanns Rehfisch im Carltheater. Zu letzterem vgl. Der Morgen, 15. 10. 1928, S. 5. Im Jahr 1929 erschien schließlich das vieldiskutierte Stück Cyankali von Friedrich Wolff, über das auch in der zeitgenössischen österreichischen Presse berichtet wurde. Vgl. z. B. Herbert Ihering: Cyankali – Der größte Erfolg der Berliner Spielzeit. In: Der Tag, 17. 9. 1929, S. 8. 36 Vgl. dazu Michel Foucault: Die Heterotopien/Les h8t8rotopies. In: M. F.: Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge. Übersetzt von Michael Bischoff. Mit einem Nachwort von Daniel Defert. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2013, 22014, S. 7–22, bes. S. 13ff.
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ander verbunden erweisen werden. Ein Kaleidoskop grenzwertiger Gestalten und gespalten wirkender Identitäten, das sich, so der Erzähler, einerseits als »eine verweichlichte, nervöse, vielleicht auch ein bißchen verdorbene Jugend, Großstadtpflanzen, wie sie auf dem Asphalt gedeihen« präsentiert (Eros, 141), andererseits expliziter als »Burschen in Weiberkleider« und »allerhand Gesindel« (Eros, 144), aber auch und insbesondere als »das dritte Geschlecht« (Eros, 145) auftreten, das »von einem erbarmungslosen Paragraphen in Geheimnis und Erpressung, Schande und Schmutz, Verbrechen und Selbstmord hineingehetzt« werde. (Ebd.) Aus diesem kristallisiert sich mit dem Gymnasialprofessor und klassischen Philologen Lobaur eine integre, aber in diesem Umfeld zum Opfer geradezu prädestinierte Gestalt heraus, der dieser Jugend mit scharfem Blick »zügellose[n] Profithunger wie ein Bazillus im Blut« attestiert (Eros, 157) und zugleich auf seine eigene »unstillbare Sehnsucht und dunklen Schreie« (Eros, 155) Rücksicht nehmen muss. Vor diesem Hintergrund ist auch seine dezidierte Freigeistigkeit zu sehen, die ihm einen permanenten intellektuellen Frontwechsel ermöglicht, eine Freigeistigkeit, die bei ihm »weder Widerspruchsgeist noch Pose ist, sondern nur die Unfähigkeit, in Reih’ und Glied zu marschieren« (Eros, 226). Trägt sie ihm auch viele Anfeindungen unter den Kollegen ein, so treten ihm die Schüler, meist »Bekenner der neuen Sachlichkeit« (Eros, 227), mit Nachsicht entgegen. Wenn also auf der einen Seite der Krieg in Menschen wie Lobaur die Hoffnung auf eine offene soziale und gesellschaftliche Emanzipation entzündet und dabei die Entdeckung einer zuvor verdrängten geschlechtlichen Disposition erfolgen kann, wofür die Nachkriegszeit mit ihrer vielfältigen Deregulierungsrealität zumindest an Ausnahme-Orten, an spezifischen urbanen Biotopen auch Spielund Existenzräume zu eröffnen scheint, so formieren sich an anderen Orten Deklassierte wie ehemalige Offiziere und Angehörige des Adels, die den Verlust ihres Status in revanchistische Projektionen kanalisieren und den Bodensatz für eine mit inbrünstigem Hass genährte Verachtung der »Pöbelrepublik« bilden, von der man freilich »allmonatlich seine Pension in Empfang« nimmt (Eros, 164). Zu den Außenseitern, typologisch komplementär, aber intellektuell durchaus konträr, gesellt sich mit einem »Lyriker und Schnorrer, Gauner und Heiliger, Hanswurst und Genie in einer (gesperrt gedr. im Originaltext) Person« (Eros, 174), eine zwar hünenhafte, aber ob seines ausschweifenden Lebenswandels und Kontakten zu »arbeitsscheue[n] Burschen vom fauligen Rand der Großstadt« (Eros, 176), zwielichtige Gestalt, die zugleich Anziehungspunkt für »nach Sensationen begierige Literaten« und »Entdeckungsreisende in dunkeln Gebieten der Seele« (Eros, 178) wird und dabei auch die Lobaur-Figur in Bann zieht, insbesondere über die ›schwarzen Messen‹ verglichenen abendlichen Tafelrunden im Zimmer seiner Quartierfrau (Eros, 233f.) .
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Der dritte Teil des Romans rollt nicht nur die Familiengeschichte der Spurnys auf, sondern, mit ihr verknüpft, eine weitere dunkle Seite großstädtischer Wiener Realität, nämlich Doppelexistenzen, die sich zwischen bürgerlichen Fassaden und exzessiven, meist nächtlichen Eskapaden entfalten und von psychophysisch destabilisierenden Pathologien begleitet sind. (vgl. Eros, 315ff.). So haben z. B. die Großmutter und der Vater dieses Franz Spurny bereits während seiner Kindheit jeglichen rationalen Bezug zur Wirklichkeit verloren, sei es durch Trunksucht und »hemmungslose Umgangsformen« (Eros, 336) auf der Seite des Vaters, sei es durch Eskapaden in anrüchigen Etablissements, die zu Internierungen der Großmutter in psychiatrischen Anstalten (u. a. in Steinhof) und zu einer fast permanenten Abwesenheit des Vaters führen, weshalb eine erbliche Belastung für das eigene exzentrische Verhalten (Eros, 326) indiziert wird. Damit kommen zugleich Räume und Aspekte der urbanen Wirklichkeit in den Blick, die nicht zum Kanon der gängigen Großstadt- bzw. Wien-Bilder zählen, Wirklichkeiten, die jene ›anderen‹ Räume ansprechen, welche in Dimensionen der Realitätsauflösung, wahnartigen bzw. abseitigen Verhaltens, der (Selbst)Ausgrenzungen und in der Folge zu geschlossenen Orte wie Gefängniszellen oder psychiatrischen Anstalten überführen. So zählt denn auch ein Besuch in Steinhof, bei dem Franz erstmals auf seinen zuvor als verstorben ausgegebenen Vater trifft, zu den Schlüsselszenen jenes Abschnitts: Sein Gesicht ist leer, ausgelöscht, verwischt als wäre das Schicksal mit einem nassen Schwamm darüber hinweggefahren. Der Blick flattert unstet umher, es gibt kein Mittel, ihn festzuhalten […] Robert Spurny hat vielleicht nicht ganz unrecht mit seiner Meinung, er sei längst gestorben und schleppe nur seinen verwesenden Leichnam mit sich herum« (Eros, 361)
Überraschend dazu die Reaktion des Sohnes Franz, der diese verstörende Szene als gleichsam unabänderliche Bestimmung auch für sich selbst, als im Traum bereits erfahrene, an- und hinnimmt: Mit grübelnder Neugierde, die Unterlippen zwischen die Zähne geklemmt, blickt Franz auf seinen Vater. Er ist nicht entsetzt, er fühlt sich nicht abgestoßen. Diese Szene wirkt auf ihn so sonderbar vertraut, als habe er sie schon einmal im Traum gesehen. Schatten greifen nach ihm, Narren und Süchtige umtanzen ihn mit tollen Grimassen […] und grüssen ihn als Blut von ihrem Blut. (Eros, 364)
Der Roman wechselt in seinem Schlusskapitel mehrmals die Zeitebene; Rückblicke und Gegenwärtigkeit retardieren und dynamisieren den Handlungsverlauf und den Reflexionshorizont, als prasselten ständig wechselnde Eindrücke und Herausforderungen auf dieses heranwachsende Ich herein. Um in dieses gesteigerte, von unerwartet extremen, rasch aufeinanderfolgenden Eindrücken geprägten und traumatisierten Nervenleben ein Mindestmaß an Ordnung und Orientierung zu bringen, entwickelt Franz, bewusst und kompensatorisch, eine
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detektivische, aber auch voyeuristische Anlage, wird bereits als Fünfzehnjähriger Rechercheur in einem Detektivbüro, scheint ihm doch »die Welt ein schauriges Geheimnis« sein, dessen Triebkräfte es zu entdecken gelte und zudem bislang ungekannte Befriedigungen versprechen würden: Er späht und schnüffelt, überall wittert er Unrat und Schmutz, Verbotenes und Verborgenes, Versteck und Schlupfwinkel gräßlichen Geschehens. Rasender Trieb, Geheimnisse zu enthüllen, Verborgenes preiszugeben, Türen aufzusprengen, Decken wegzureißen. (Eros, 364f.)
Die Triebkomponente des jungen Mannes tritt hier deutlich zu Tage, ebenso das sich abzeichnende Manko, mit anderen Personen reale Beziehungen aufzubauen. Je tiefer Franz durch seine Fixierung auf das Aufdecken von Geheimnissen in die Abgründe der Stadt und ihrer Menschen eintaucht, desto mehr entfernt er sich von ihrer sozialen Oberfläche, isoliert sich zunehmend, bis seine Mutter im Zuge eines Arztbesuches eine sexuelle »Anomalie, eine Verkümmerung« als Diagnose entgegennehmen muss (Eros, 375). Ist sich Franz dieser auch noch längere Zeit nicht bewusst, so weiß der Leser doch, dass gerade darin seine »abseitige Lust« (Eros, 387) wurzelt, deren ohnmächtige und zugleich destruktive Revanche vor allem in der Bloßstellung der Lust und der Vernichtung Anderer besteht, – ein verzweifelt armseliges Aufbäumen im Zeichen falschen Größenwahns – »aus den Pavillons am Wienerwaldhang greifen Gespensterhände nach dem Verlorenen […] umtanzen ihn mit gefletschten Zähnen […] grüßen ihn als Blut von ihrem Blut« (Eros, 398) – gegen die eigene Auslöschung. Mit dieser sexualpathologischen Metapher rückt Sonnenfeld auch der Stadt im Zuge ihres einer Kastration – »Glieder abgetrennt…« – vergleichbaren Reduktionstraumas, zu Leibe, in spätexpressionistisches Pathos getaucht, aber doch auch vom Versuch getragen, einer Symptomatologie auf die Spur zu kommen: Wien flackert im Fieber. Durch eine radikale Operation sind dem gewaltigen Körper, dessen pochendes Herz diese Stadt gewesen ist, mit scharfem Schnitte Glieder abgetrennt worden. Alle Zuckungen des verstümmelten Rumpfes pflanzen sich in gesteigerten Reflexen in dieses gequälte Herz fort, in die fiebernde Stadt. (Eros, 392)
Als Folge dieser Verstümmelung setze sich die Stadt trotz ihrer Attraktivität neuen Begehrlichkeiten und Gefährdungen aus, etwa dem näher rückenden Dorf, das sich im »verkrüppelten Land« in einer von Tag zu Tag vorteilhafteren Lage wähnt und sich die Stadt als Dirne unterwerfen möchte: Mit ihren prunkenden Straßen und Prunkpalästen, ihrem Gewimmel und Gesumme unzähliger Fremder, ihren Bars und Variet8s hat sie Allüren der großen Dame. Aber das Land draußen, das zusammengeschrumpfte, durch Amputationen verkrüppelte Land blickt voll Argwohns und Abneigung auf die auch noch in ihrem Fieber Verführerische.
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Das Dorf rückt gegen die Stadt vor und möchte die geschminkte Schöne am liebsten in eine Stalldirne verwandeln. (Eros, 393)
Setzt Sonnenfelds Großstadtroman auch mit einem zum Entstehungszeitpunkt schon mehrfach gestalteten Motiv ein, d. h. der Begegnung eines Deklassierten (ehemaliger Baron, roter Oberleutnant und dann bloß Chauffeur) mit einer selbstbewussten jungen Frau, die an einer aus ökonomischen Gründen erfolgten Abtreibung verstirbt, so wechselt er nach wenigen Kapiteln bereits in eine Vielzahl von abgründigen Rändern und zwielichtigen Tiefen der Stadt. Weisen diese einerseits Züge des Hasards, der Spekulation und somit dominanter Narrative des Wiener Stadtromans auf, so machen sie andererseits Aspekte der Peripherie in mehrfacher Hinsicht zum Thema. Der Roman spricht dabei realgeschichtliche Konfliktlagen an und rückt heterotopische Räume in das Blickfeld, wie sie, ungeachtet des mitunter störenden postexpressionistischen Pathos, in der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur neben Döblins Kneipen- und Gewaltszenen in Berlin. Alexanderplatz, nur selten anzutreffen sind. Die hier vor- bzw. zur Diskussion gestellten Texte (Romane wie Erzählungen) bestätigen die eingangs formulierte These, wonach der Wien betreffende literarische Großstadt-Diskurs in den 1920er Jahren wesentlich und wohl auch kennzeichnend von der Umsturzerfahrung und einer daraus resultierenden Inflations- und De-Regulationsdynamik geprägt und mitbestimmt war, insbesondere von einer damit verknüpften Umkodierung grundlegender kultureller wie sozialer Hierarchien und Werte bis hin zur Aufwertung des Kriminalitätsdispositivs oder des Abgleitens in abseitige und pathologisch konturierte Handlungsräume. Stehen im Unterschied zu Berliner Romanen auch die experimentell-montageartigen Verfahrensweisen, weniger exponiert im Vordergrund, so kann nicht übersehen werden, dass Autorinnen und Autoren wie Bettauer, Dörmann, Neumann und Sonnenfeld, aber auch (die hier nur kurz angesprochenen) Lederer, Musil, Roth oder Müller die von Döblin bereits 1913 verlangten Akzentverschiebungen wie die Infragestellung der Autor-Instanz, das Abrücken vom psychologisch motivierten Erzählen zugunsten psychopathologischer Settings oder das montageartige filmische Erfassen einer über das Individuum hereinflutenden Wirklichkeit ihren Texten mit zugrunde gelegt haben. Und nicht zuletzt bekräftigen das Figurenspektrum wie die Handlungsoptionen der meisten Romane die These Robert Müllers aus seinem Wien-Essay, wonach diese »Stadt im glänzenden Elend« ihre zähe und überraschende Überlebenskraft nicht zuletzt aus der beständigen »Durchdringung von Osten und Westen« beziehe, der ihr neben all ihren anderen Schwächen (Amerikanismus und Berlinismus mit halben Mitteln; Skespis einem »fort-
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schrittlichen Betrieb« gegenüber) den Charakter einer »Intensivstadt« verleihe, einer Art »Großstadt nach innen«.37
37 Vgl. Müller, Wien, bes. S. 108 und 111.
Thorsten Carstensen
Die Kommerzialisierung des Alltags in Felix Dörmanns Roman Jazz
Als Felix Dörmann am 26. Oktober 1928 im Alter von 58 Jahren an den Folgen einer Lungen- und Rippenfellentzündung starb, würdigten die Wiener Tageszeitungen den Dichter mit insgesamt wohlwollenden Nachrufen. Diese thematisierten nicht nur Dörmanns produktives Wirken in so unterschiedlichen Gattungen wie der Lyrik, dem Film und der Operette; als größte Stärke des Autors wurde allenthalben sein waches Auge für die gesellschaftlichen Verhältnisse hervorgehoben. In der Wiener Zeitung erinnerte Rudolf Holzer daran, dass es die Lyrik gewesen sei, die Dörmann, der mit bürgerlichem Namen Biedermann hieß, in den 1890er Jahren »fast meteorhaft« zu einer Berühmtheit der Kulturszene gemacht habe. Er sei denn auch »einer der markantesten Vertreter« des »Jung-Wien«.1 Die Arbeiter-Zeitung widmete sich in ihrem Nachruf Dörmanns dramatischem Werk und gab sich großzügig in der Beurteilung des Autors und seines literarischen Erbes. Als Nachfahre des Naturalismus habe Dörmann mit seiner »satirisch ehrlichen Gesellschaftsschilderung« zu überzeugen gewusst; aus seinen dramatischen Arbeiten spreche ein tiefes Verständnis »für die gegenwärtigste Zeit, den allernächsten Ort«. Dem 1925 erschienenen Roman Jazz, so der Verfasser des Nachrufs, sei allerdings keine breitere Leserschaft vergönnt gewesen;2 in Holzers Nachruf fand dieser Text, der dank einer kommentierten Neuauflage seit 2012 auch im Buchhandel wieder verfügbar ist, nicht einmal Erwähnung. Die Tatsache, dass Dörmann Mitte der zwanziger Jahre nur mehr eine Randfigur des städtischen Kulturlebens darstellte und seine größten Publikumserfolge – nicht zuletzt infolge des Weltkriegs und der sich verändernden Rahmenbedingungen – bereits Jahrzehnte zurücklagen, ließ sich schwerlich übersehen, wurde von einigen Blättern allerdings auch eigens akzentuiert. Zuletzt habe der Autor hauptsächlich »von dem Ruhm vergangener Zeiten« gezehrt, konstatierte Leopold Jacobson gleich im ersten Satz seines Nachrufs im Neuen 1 Rudolf Holzer : Felix Dörmann. In: Wiener Zeitung, 28. 10. 1928, S. 9. 2 N.N.: Felix Dörmann. In: Arbeiter-Zeitung, 28. 10. 1928, S. 10f., hier S. 10.
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Wiener Journal. Neben der Lyrik und den populären Operettenlibretti – etwa für Oscar Straus’ Walzertraum (1907) – galt zum Zeitpunkt seines Todes die »Sittenkomödie« Ledige Leute (1897) als Dörmanns vorrangiges Werk, für das Jacobson denn auch lobende Worte fand: »Die Charaktere waren prachtvoll geschildert, ein frischer, witziger Dialog belebte dieses Stück und der Erfolg war betäubend.«3 Dörmann habe als Schriftsteller jedoch der Geschmack gefehlt, und in seinen letzten Stücken und Romanen hätten ihn »alle guten Geister verlassen«. Jacobsons Fazit ist denkbar ernüchternd: Nun ist er, ein Enttäuschter und ein im Innersten schwer verbitterter, Dichter tot. Er hatte sich selbst überholt und wußte, daß seine Zeit längst vorüber war. Diese Erkenntnis muß wohl das Schmerzlichste für einen sein, der einmal im Glanz des Tagesruhms gestanden hat. Nichts schwerer, als die Rolle eines Gewesenen zu spielen.4
In der Forschung ist das umfangreiche Werk Felix Dörmanns bislang auf nur geringes Interesse gestoßen.5 Allenfalls die frühen Gedichtbände werden im Kontext des Jungen Wien gelegentlich diskutiert. Der Roman Jazz (1925)6 ist hingegen kaum eingehend untersucht worden, dabei entwirft der Text ein eindrückliches Bild des urbanen, von Schwarzhandel, Hungersnot und Hyperinflation geprägten Alltags am Beginn der Ersten Republik. In die Literatur der zwanziger Jahre finden die gesellschaftlichen Umbruchserfahrungen nach Kriegsende »sowohl als utopische Potentiale als auch als traumatische Deklassierungserfahrungen«7 Eingang. Bei Dörmann ergänzen sich diese beiden Perspektiven. Der Protagonistin Marianne Hartenthurn, einer nach dem Krieg verarmten, in Wien lebenden Baronesse, scheint der aus den USA importierte Jazz zunächst die bitter nötige Chance eines sozialen Aufstiegs zu eröffnen. Was als Versuch der Emanzipation gedacht ist, gerät jedoch zum desillusionierenden Kompromiss mit einem entmenschlichenden System, in dem sowohl der weibliche Körper wie auch die neue Musik Warencharakter besitzen und in Beziehung stehen zu den »kühnen Beutezügen« (J 199), die den ökonomischen Alltag im Wien der zwanziger Jahre prägen: »Der große Ausverkauf ist im vollen Gange.
3 Leopold Jacobson: Dörmann. In: Neues Wiener Journal, 27. 10. 1928, S. 5f., hier S. 5. 4 Ebd. S. 6. 5 Die einzige Gesamtdarstellung zu Dörmann ist eine vor fast drei Jahrzehnten verfasste Dissertation. Vgl. Helmut Schneider : Felix Dörmann. Eine Monographie. Wien: VWGÖ 1991. 6 Felix Dörmann: Jazz. Wiener Roman. Mit einem Nachwort von Alexander Kluy. Wien: Edition Atelier 2012. (Seitenangaben nachfolgend mit der Sigle J im Fließtext.) 7 Primus-Heinz Kucher : ›Eine der stärksten Zeiten der Weltgeschichte‹ (R. Musil). Der Umbruch 1918/19 und der Anbruch der 20er Jahre in der Wahrnehmung bei Hermann Bahr, Karl Kraus, Arthur Schnitzler, Hugo v. Hofmannsthal und Eugen Hoeflich. In: P.-H. K. (Hg.): Literatur und Kultur im Österreich der Zwanziger Jahre. Vorschläge zu einem transdisziplinären Epochenprofil. Bielefeld: Aisthesis 2007, S. 47–82, hier S. 47f.
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Alles ist am Markte zu haben. Kommerzwaren und Kunstschätze, die Ehre der Frauen und die Gesinnung der Männer.« (J 26) Der nachfolgende Beitrag untersucht, welche Facetten des modernen urbanen Alltags und des Alltäglichen Jazz in den Blick nimmt. Die neue Musik steht in Dörmanns Roman stellvertretend für den Verlust jener Automatismen, die die Navigation des Menschen durch den Alltag gemeinhin erleichtern. Wie sich zeigen wird, thematisiert der Roman weniger die gewöhnlichen, sich wiederholenden Routinen des Alltags, sondern vielmehr dessen moralische Aushöhlung und seine fortschreitende Unterwanderung durch ökonomische Interessen. Der Jazz fungiert dabei, wie Siegfried Mattl prononciert, als »Leitmedium« eines hemmungslosen Vergnügungsbetriebes, der »um kurzlebige Sensationen« kreist und von »kommerziellen Winkelzügen« geprägt ist.8 Von besonderer Bedeutung ist Dörmanns Erzählverfahren. Anders etwa als in Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf (1929), wo einerseits die Wahrnehmung der Großstadt an das Bewusstsein eines Subjekts gebunden ist und andererseits die Montagetechnik hilft, Schlagzeilen und andere Alltagstexte in den Roman zu integrieren,9 wird die Darstellung des Alltags bei Dörmann – wie es für die moderne Unterhaltungsliteratur typisch ist – von einer unabhängigen Erzählinstanz geleistet, die nicht nur in der Manier eines Referenten über die fiktionale Handlung hinweggleitet, sondern auch die wirtschaftliche Entwicklung plakativ, aber durchaus kenntnisreich kommentiert. Da der Roman »in hohem Maße von den Techniken der Kulturphänomene infiziert [ist], die er denunziert«,10 arbeitet Dörmann, ohne tiefere Einblicke in die Psyche der Figuren zu gewähren, mit einer Art »Kinostil«, der schnelle Perspektivwechsel garantiert und somit zum Ausdruck für das Tempo und den Rhythmus der Zeit wird – einen Rhythmus, der als Jazz-Metapher titelgebend ist und den Figuren letztlich zum Verhängnis wird.
8 Siegfried Mattl: Dunkles Wien. Felix Dörmanns Jazz und die Wiener Unterhaltungskultur nach dem »Großen Krieg«. In: Am#lia Kerekes, Magdolna Orsz u. a. (Hgg.): Pop in Prosa. Erzählte Populärkultur in der deutsch- und ungarischsprachigen Moderne. Frankfurt/M.: Peter Lang 2007 (= Budapester Studien zur Literaturwissenschaft, Bd. 11), S. 99–114, hier S. 105f. 9 Christian Sieg: Montagetechnik und moderner Alltag in Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz. In: Thorsten Carstensen, Mattias Pirholt (Hgg.): Das Abenteuer des Gewöhnlichen. Alltag in der deutschsprachigen Literatur der Moderne. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2018 (= Philologische Studien und Quellen, Bd. 267), S. 293–306. 10 Mattl, Dunkles Wien, S. 99.
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1.
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Vom Skandalautor zum Gesellschaftskritiker
Mit seiner sprachlichen wie thematischen »Hypererotik«11 war Felix Dörmanns erster Lyrikband, Neurotica (1891), ein handfester Skandal. Schon der »willenlos dahingegeben[e]« Leib der Frau, der in dem Gedicht »Stumme Liebe« in den Armen des lyrischen Ichs ruht, konnte als Provokation aufgefasst werden. Gedichte wie »Souvenir«, das sich durch masochistische Fantasien auszeichnet, sorgten dafür, dass Dörmann fortan als verwegener, in geschlechtlichen Dingen sich offenherzig aussprechender Literat galt: O grabe der herrlichen Zähne Blauschimmernde Perlenreihn In raubtierwild-rasenden Küssen Tief in die Schulter mir ein! Wir wollen noch einmal erkämpfen Den heißesten, höchsten Genuß, Eh’ von dem erschlaffenden Körper Die Gierde weichen muß. Der brennenden fiebernden Wunde Wollustdurchfolterte Qual, Sie sei unsrer sterbenden Liebe Blutiges Totenmal.12
Nachdem der Band konfisziert worden war und Dörmann Einspruch eingelegt hatte, kam es im Mai 1892 zur Gerichtsverhandlung, in der der Staatsanwalt davor warnte, die Gedichte trügen in ihrer offenkundigen Gotteslästerung und durch die Darstellung »sinnlicher Exzesse« zur »Entsinntlichung des Volks« bei.13 Doch nicht nur juristisch war die Lyrik eine heikle Angelegenheit, auch die ästhetische Kritik ließ nicht lange auf sich warten. Mit seiner Stilisierung von Gefühlen und Erlebnissen und der Orientierung an Baudelaire und Byron14 setzte sich Dörmann dem Vorwurf aus, der »schlimmste Epigone«15 zu sein, wie Hermann Bahr rügte. Derweil notierte Arthur Schnitzler im Tagebuch, die Neurotica enthielten »neben sehr schönen Sprach- und Stimmungseinzelheiten« eben auch »Brutalitäten und Geschmacklosigkeiten, lyrische Unwahrheiten und Schlam11 Jens Rieckmann: Aufbruch in die Moderne. Die Anfänge des Jungen Wien. Österreichische Literatur und Kritik im Fin de SiHcle. Königstein/Ts.: Athenäum 1985, S. 112. 12 Felix Dörmann: Souvenir. In: F. D.: Neurotica. Dresden & Leipzig: E. Pierson 1891, S. 59. 13 N.N.: Aus dem Gerichtssaale. (Eine Gedichte-Sammlung vor Gericht.) In: Die Presse, 6. 5. 1892, S. 11. 14 Vgl. hierzu Rieckmann, Aufbruch in die Moderne, S. 113–120. 15 Hermann Bahr : Das junge Oesterreich. In: H. B.: Studien zur Kritik der Moderne. Frankfurt/ M.: Literarische Anstalt Rütten & Loening 1894, S. 73–96, hier S. 90.
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pereien«.16 Nach einigen weiteren Lyrikbänden verlegte sich Dörmann bald auf Novellen, Opernlibretti und Theaterstücke, die beim Publikum durchaus Anklang fanden; seine Komödien wurden vor vollem Haus gespielt. Als 1925, knapp dreieinhalb Jahrzehnte nach seinem literarischen Auftakt im Umfeld des Jungen Wien, der Roman Jazz erschien, galt Felix Dörmann nur mehr noch als Randfigur des Literaturbetriebs. Die Kritiker der einflussreichen Wiener Tageszeitungen nahmen das Buch, in dem der Autor den Puls der Zeit exakt zu fühlen wusste, dennoch überwiegend positiv zur Kenntnis. Dörmann präsentiere dem Leser »kühn zugespitzte Szenen mit starker gestaltender Kraft«, schrieb der Rezensent der Neuen Freien Presse, der sich insbesondere von den »stürmisch dramatischen Bilder[n]« beeindruckt zeigte, welche »im schärfsten Tempo« am Leser vorbeijagen würden. Zugleich entwerfe der Roman »Gesellschaftsfresken und freskenhafte Charaktere« von universeller Relevanz, wodurch er sich – nicht zuletzt dank des »üppig lyrischen Faltenwurf[s]« der Sprache – von bloßen zeitaktuellen Milieustudien absetze.17 Nicht weniger angetan war Hermann Menkes, langjähriger Kritiker und Redakteur des Neuen Wiener Journals, der Dörmanns Buch in seiner Rezension Seite an Seite mit Max Brods Reubeni-Roman und Franz Kafkas Process besprach. Zwar erkannte Menkes das Grundproblem des Romans, indem er beanstandete, dass die Figuren »mehr zu Typen als zu Individualitäten« gerieten und der Autor »kaum dichterisch eingestellt, sondern journalistisch auf das Aktuelle gerichtet« sei. Allerdings sei Dörmann ein »kultivierter, technisch virtuoser Erzähler«, der die Spannungsmomente beherrsche und sich auf die wirkungsvolle Steigerung des Geschehens verstehe: »Wie von zähen Wellen werden die Menschen zu einem treulosen Glück emporgetrieben oder in den Abgrund geschleudert.«18 Tatsächlich ist das Inventar von Jazz der Großstadtliteratur der Weimarer Republik nicht unähnlich, und doch haben wir es mit einem speziell ›Wiener Roman‹ zu tun, der nicht etwa einen wie auch immer gearteten ›habsburgischen Mythos‹19 aufgreift, sondern vielmehr ein zwar teilweise triviales, aber dafür umso dynamischeres Zeitgemälde entwirft. Mit den »aus allen Gegenden herbeigeströmten Abenteurern und Glückssuchern«20 ist Dörmanns Wien der Nachkriegszeit ein regelrechter ›melting pot‹. Die im Jahr 1920 einsetzende Handlung changiert zwischen verruchten Nachtlokalen, Bars und Revuen ei16 Zit. n. Dagmar Lorenz: Wiener Moderne. Stuttgart, Weimar : Metzler 22007 (= Sammlung Metzler, Bd. 290), S. 90. 17 P. W. [d.i. Paul Wertheimer]: Rezension von Felix Dörmann, Jazz. In: Neue Freie Presse, 20. 12. 1925, S. 34. 18 Hermann Menkes: Neue Romane. In: Neues Wiener Journal, 15. 12. 1925, S. 6. 19 Claudio Magris: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur [1966]. Wien: Paul Zsolnay 2000. 20 Menkes, Neue Romane, S. 6.
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nerseits und ehrwürdigen Palais, die zu Investitionsobjekten werden, andererseits. Prostitution, Drogenmissbrauch und zwielichtiges Spekulantentum bilden den Hintergrund für die kolportagehafte Geschichte. Zahlreiche Motive und Handlungsklischees des Romans werden einige Jahre später in Ödön von Horv#ths Geschichten aus dem Wiener Wald (1931) wieder auftauchen: Die weibliche Hauptfigur des erfolgreichen Volksstücks trägt gar denselben Vornamen wie Dörmanns Protagonistin.21 Die zu Beginn des Romans 20-jährige Marianne Hartenthurn ist die Tochter des verarmten Baron Franz, eines k. u. k. Generals, der seinen Adelstitel verloren hat und pensioniert wurde und den man nun, damit setzt die Handlung ein, »wie den nächstbesten Menschen« (J 7) begraben hat. In ihrer Wohnung befindet sich ein schmales Feldbett, und ein »alte[r] Maria-Theresia-Schreibtisch« (ebd.) dient als Erinnerung an die Epoche des Adels. Marianne lässt sich mit dem zwanzig Jahre älteren Ernö Kalmar ein, einem »aus dem tiefsten, armseligsten, schmutzigsten Ungarn« (J 76) geflüchteten Revolutionär, der in Wien zunächst im »Sowjetzimmer« des Caf8 Imperial mit anderen ungarischen Exilanten verkehrt (J 22f.) und für die fiktive Zeitung Der freie Mensch arbeitet, bald jedoch seinen Idealismus abstreift und – nach einer kleinkriminellen Phase, in der er mit Kokain handelt und allerlei Schmuggel betreibt – zum universell erfolgreichen Geschäftemacher avanciert. Mit Währungsspekulationen gegen die österreichische Krone bringt es Kalmar in Zeiten grassierender Armut und Hyperinflation22 zu fantastischem Reichtum, denn er ist Profiteur des allgemeinen Niedergangs: »Und sein Vermögen wuchs mit dem Elend Österreichs. Eine Besserung der Zustände wäre nur eine Verminderung seiner Erfolgchancen gewesen.« (J 103) Mariannes Körper begreift er als Spekulationsobjekt, welches – die richtige Investitionsstrategie vorausgesetzt – eine ansehnliche Rendite abwerfen kann. So übernimmt er denn auch die Kosten, um den »Plan ihrer Ausbildung zur Tanzattraktion« (J 79) umzusetzen. Noch vor ihrem ersten Auftritt als Tänzerin wird Marianne der Warencharakter ihrer Kunst vor Augen geführt, wenn es heißt:
21 Vgl. hierzu Wendelin Schmidt-Dengler : Ödön von Horv#ths Geschichten aus dem Wiener Wald und der triviale Wiener Roman der zwanziger Jahre. In: Traugott Krischke (Hg.): Ödön von Horv#th. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 57–66. »Horv#th löst mit seinen Volksstücken nicht die Muster des traditionellen Volksstückes ein, sondern verwendet Themen und Stoffe, die zu seiner Zeit oder knapp davor episch gestaltet wurden, und bettet sie in den Kontext der von ihm anvisierten Erneuerung des Volksstückes ein. Was im epischen Werk [etwa in Dörmanns Jazz; T.C.] durch Distanzlosigkeit zur kolportageartigen naiven Gestaltung des Zeitgeschehens wird, kann durch die von Horv#th vorgenommene Reduktion auf der Bühne Gültigkeit erhalten.« (S. 63) 22 Erst durch eine Währungsreform im Dezember 1924 konnte die vernichtende Hyperinflation gestoppt werden.
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Die Theaterfachleute warnten: Die Zeit sei schlecht, die Lokale wären schwach besucht – die Ausländer fort, und die Einheimischen hätten kein Geld. Es wäre klüger, auf eine Besserung der wirtschaftlichen Zustände zu warten – auf die versprochenen Auslandshilfen und Kredite, auf eine Börsenstimmung, die weniger trostlos sei als die jetzige. So wie jetzt könne es nicht bleiben. Es müsse eine Wendung kommen – hinauf oder hinunter. Staatsbankrott oder Sanierung … völliger Zusammenbruch oder Aufschwung. (J 101)
In diese Stimmung hinein platzt der Jazz als »Spiegel ökonomischer Improvisation«,23 aber auch als Chiffre für die gesellschaftliche Debatte über sich wandelnde Werte und Normen.24 Unter dem Künstlernamen »Natascha«, deren Debüt die Alltagsmedien – von den Illustrierten bis zur Sascha-Film – begleiten, wird Marianne über Nacht zur Sensation der Wiener Variet8-Szene: Die Bewegungen der jungen Tänzerin zum neuen Rhythmus der Jazz-Musik, die als fremdes Element in den europäischen Alltag eindringt, sind etwas Niedagewesenes. Ebenso plötzlich verliebt sich Marianne jedoch in einen jungen Grafen, Leo, einen ehemaligen Offizier, der nun »wie ein Heiliger und Einsiedler« (J 124) lebt, dem Konsum abgeschworen hat und die junge Tänzerin aus dem Vergnügungsbetrieb retten und von ihrer Kokainsucht befreien will. Als das Paar eine Veranstaltung organisiert, auf der Marianne von der Weltversöhnung spricht, kommt es zum Eklat: Der in seiner Ehre gekränkte Kalmar ist im Publikum und fordert sie auf, sich zu entkleiden und zu tanzen, die Masse ist kaum zu bändigen. Im Anschluss daran nimmt die Geschichte ihren verhängnisvollen Lauf: Leo begeht Selbstmord, Marianne kehrt zwar zurück zu Kalmar, fasst aber bald den Entschluss, diesen zu ruinieren, um sich für Leo zu rächen. Zu diesem Zweck lässt sie sich mit dem Finanzier Wiesel ein, dessen Zudringlichkeiten sie anfangs noch zurückgewiesen hatte. Als Kalmar tatsächlich zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wird, beschließt Wiesel, der »nackte Macht- und Tatsachenmensch« (J 267), sich jenen Lohn zu holen, von dem er glaubt, dass er ihm zustehe. Auf einer Autofahrt in den Dolomiten kommt es zum Showdown, der Roman endet mit Mariannes erweitertem Suizid. »Vom neusachlichen Roman«, hat Jürgen Heizmann mit Blick auf Joseph Roth festgestellt, »kann man überpointiert sagen, daß er sich, nicht ohne Zynismus, darin gefällt, aufzuzeigen, wie prosaisch die Verhältnisse geworden waren.«25
23 Alexander Kluy : Die Welt war Jazz geworden. Nachwort. In: Dörmann, Jazz, S. 269–277, hier S. 270. 24 Vgl. hierzu für den Kontext der Weimarer Republik Jonathan O. Wipplinger : The Jazz Republic. Music, Race, and American Culture in Weimar Germany. Ann Arbor, MI: University of Michigan Press 2017. 25 Jürgen Heizmann: Joseph Roth und die Ästhetik der Neuen Sachlichkeit. Heidelberg: Mattes Verlag 1990, S. 6.
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Dörmanns Jazz, eine Art gesellschaftskritischer Unterhaltungsroman26 mit neusachlichen Elementen, führt bereits jene Situation des Wertezerfalls vor, die Hermann Broch einige Jahre später in seiner Schlafwandler-Trilogie als konstitutiv für die Moderne darstellen wird. Von einer modernistischen Sprachkritik finden sich bei Dörmann allerdings keine Spuren. Nicht nur wirken die Dialoge größtenteils hölzern, auch die narrative Darstellung des urbanen Alltags und der ihn grundierenden ökonomischen Verhältnisse gerät mitunter floskelhaft. Die auktoriale Erzähldistanz kommentiert häufig die Empfindungen der Figuren, streut Bemerkungen über die gesellschaftliche Lage ein und referiert die Volatilität der Finanzmärkte im Stile einer Nachrichtenschau, die sich eng an den historischen Fakten – und auch an den Wirtschaftsteilen der Tageszeitungen – orientiert.27 Dass der Roman dabei auf eine mehrdimensionale Psychologisierung der Figuren verzichtet, mag einerseits den Gesetzen der Unterhaltungsliteratur geschuldet sein, an denen Dörmann sein Projekt wohl nicht zuletzt deshalb ausrichtet, um wieder einen durchschlagenden Erfolg beim größeren Publikum zu landen. Andererseits lassen sich aber auch Parallelen zu Alfred Döblins Berliner Programm erkennen, wie im folgenden Abschnitt angedeutet werden soll.
2.
Kinostil und urbaner Alltag
Wie die Literatur der Moderne mit neuen Erzählverfahren auf die Herausforderungen des urbanen Raums reagiert, ist in der Forschung hinlänglich erörtert worden. Demnach wird der Umstand, dass der Alltag der modernen Großstadt die Wahrnehmungskapazitäten des Subjekts überfordert, nicht nur zum Thema der literarischen Darstellung; die Reizüberflutung macht auch ein neues Erzählen erforderlich.28 Vielleicht am offenkundigsten ist die Reaktion der Literatur auf das gesteigerte Tempo der urbanen Lebenswirklichkeit in Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz. Seine spezifische Erzählstrategie will nicht nur den grundlegenden Wandel alltäglicher Erfahrungen darstellen, sondern gleichsam auch die veränderte Perzeption des Alltags. Das Nebeneinander unterschiedli26 Mit Thomas Mann ließe sich von einer Literatur des »Gutgemacht-Mittlere[n]« sprechen. Thomas Mann: Romane der Welt. Geleitwort [1927]. In: Anton Kaes (Hg.): Weimarer Republik. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1918–1933. Stuttgart: Metzler 1983, S. 287–289. 27 Vgl. Schneider, Felix Dörmann, S. 343–346, der Jazz daher als »Schlüsselroman« liest, der reale Personen wie den Finanzmagnaten Sigmund Bosel und historische Ereignisse – etwa den Niedergang der Nordisch-Österreichischen Bank – verarbeitet. 28 Vgl. Sabina Becker : Urbanität und Moderne. Studien zur Großstadtwahrnehmung in der deutschen Literatur 1900–1930. St. Ingbert: Röhrig 1993.
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cher Diskurse und die nach dem Prinzip der Collage erfolgende Anordnung der Szenen verweisen auf eine Welt, die nur noch fragmentarisch wahrgenommen werden kann. Schon im Mai 1913 war in der von Herwarth Walden herausgegebenen Zeitschrift Der Sturm Döblins avantgardistisches Manifest »An Romanautoren und ihre Kritiker« erschienen. In diesem meist als Berliner Programm bezeichneten Text fordert Döblin die Abkehr von der »psychologische[n] Manier«, die ein »Grundgebrechen« der Gegenwartsliteratur sei.29 Man müsse erkennen, »daß die Romanpsychologie, wie die meiste täglich geübte, reine abstrakte Phantasmagorie ist«. Er empfiehlt stattdessen: »Man lerne von der Psychiatrie.« Als einzige Wissenschaft befasse sie sich »mit dem seelischen ganzen Menschen«, da sie das »Naive der Psychologie« erkannt habe. Döblins literarische Strategie basiert auf der bloßen »Notierung der Abläufe, Bewegungen«, begleitet von »einem Kopfschütteln, Achselzucken für das Weitere und das ›Warum‹ und ›Wie‹«. Für den Autor gilt es, sich auf die Reize der Außenwelt zu konzentrieren und sein Erzähltempo an die Geschwindigkeit eben dieser äußeren, »entseelten Realität« anzupassen. Deren Darstellung erfolgt mittels des Kinostils; an die Stelle der kontinuierlichen Entwicklung einer Geschichte tritt die stichwortartige Reihung: Die Darstellung erfordert bei der ungeheuren Menge des Geformten einen Kinostil. In höchster Gedrängtheit und Präzision hat die »Fülle der Gesichte« vorbeizuziehen. […] Der Erzählschlendrian hat im Roman keinen Platz; man erzählt nicht, sondern baut. Der Erzähler hat eine bäurische Vertraulichkeit. Knappheit, Sparsamkeit der Worte ist nötig; frische Wendungen. Von Perioden, die das Nebeneinander des Komplexen wie das Hintereinander rasch zusammenzufassen erlauben, ist umfänglicher Gebrauch zu machen. Rapide Abläufe, Durcheinander in bloßen Stichworten; wie überhaupt an allen Stellen die höchste Exaktheit in suggestiven Wendungen zu erreichen gesucht werden muß. Das Ganze darf nicht erscheinen wie gesprochen, sondern wie vorhanden.30
Jazz macht sich Elemente dieses Kinostils zu eigen, um das manische Tempo der Zwischenkriegszeit in eine Erzähltechnik zu überführen, die so avanciert wie kolportagehaft ist. Felix Dörmanns Anverwandlung des Kinostils kommt nicht von ungefähr, hatte er doch 1912 gemeinsam mit dem Architekten Neumann Tropp die ›Vindobona-Film‹ gegründet.31 Dörmann arbeitete bis 1914 als Filmproduzent, wobei er teilweise selbst Regie führte, Drehbücher schrieb und 29 Alfred Döblin: An Romanautoren und ihre Kritiker. Berliner Programm. In: A. D.: Aufsätze zur Literatur. Olten/Freiburg i. Br. 1963, S. 15–19. Dieses und die folgenden Zitate S. 16. 30 Döblin, An Romanautoren und ihre Kritiker. 31 Die Produktionsgesellschaft wurde in den Folgejahren zunächst in »Helios«, darauf in »Duca« und schließlich in »Austria« umbenannt.
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sogar als Schauspieler in Erscheinung trat.32 Überaus positiv wurde sein Erstling, der 22-minütige Stummfilm Die Zirkusgräfin (1912), von der Kritik aufgenommen. Der Rezensent der Kinematographischen Rundschau, der Teile des Films in einer Voraufführung zu sehen bekam, war regelrecht euphorisch und sah in Dörmann einen großen Gewinn für die sich gerade entwickelnde österreichische Filmkunst. Der Film erbringe den Beweis, dass »eine wahre Dichternatur […] auch auf der Leinwand, die die Welt bedeutet, ein ebenso großes Betätigungsfeld finden kann, wie auf den weltbedeutenden Brettern der Schauspielbühne«. Dörmann verstehe es, die Liebeshandlung »lebenswahr und mit tiefer dichterischer Gestaltung« vorzuführen.33 Mit seinem Fokus auf Klassenunterschiede, Genderrollen und eine Zirkustänzerin, die die Liebe zu einem Clown für das Leben an der Seite eines reichen Gutsbesitzers eintauscht, nimmt der Film tatsächlich Themen und Konstellationen vorweg, die Dörmann später in Jazz entfalten wird. Dörmanns Erzählung der Stadt Wien ist als »Tatsachenphantasie« im Döblinschen Sinne gestaltet. Dass der Roman »der Erzählstruktur des Films verpflichtet«34 ist, macht schon die erste ›Einstellung‹ deutlich. Im Stile eines Drehbuchs vermittelt der Auftakt die Atmosphäre eines auf generische Art grauen Herbstabends in der Stadt. Zugleich führt die auktoriale Erzählinstanz ohne Umschweife bereits die Hauptfigur und deren sozioökonomische Situation ein. So vermitteln schon die ersten Sätze des Romans eine Reihe von Teilreferenzen, die für die diskursive Stadtkonstitution von Belang sind, indem sie sich – wie von Döblin gefordert – auf »die Straße, die Laternen«35 besinnen: Ein grauer Novemberabend. Trüb flackern die fahlen Lichter durch die schweren Nebel. Die Pflastersteine glänzen feucht. Unsichtbare Lasten liegen schwer auf allen Seelen. Marianne Hartenthurn kommt vom Begräbnis ihres Vaters. Frierend, müde und verhungert klettert sie keuchend und mit versagenden Kräften die drei Stockwerke zu der kleinen Vorstadtwohnung empor, in der sie von jetzt ab allein mit der alten Fanny hausen soll – vorausgesetzt natürlich, daß Fanny nicht doch nach Böhmen zurückkehrt, wo sie zu Hause ist und wo es ihr jedenfalls besser gehen würde als im hungernden Wien, das derzeit von den Almosen mitleidiger Ausländer lebt. (J 6)
32 Vgl. zu Dörmanns cineastischem Werk immer noch den knappen Überblick von Walter Fritz: Felix Dörmann – Literat, Theatermann und Filmgestalter. Aus den Anfängen des literarischen Films in Osterreich. In: Modern Austrian Literature 4 (1971), H. 1, S. 49–56. 33 N.N.: Die Zirkusgräfin. Kino-Drama von Felix Dörmann. In: Kinematographische Rundschau, 18. 8. 1912, S. 7–9, hier S. 8. 34 Schneider, Felix Dörmann, S. 329. 35 Döblin, An Romanautoren und ihre Kritiker, S. 17.
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Mit einer für die mimetische Konstitution des Stadtraums charakteristischen Technik36 stellt der letzte lange Satz des Romanauftakts reale und fiktive Referenzen nebeneinander, um einen größtmöglichen Realitätseffekt zu erzielen. Hungersnot, Migration, bescheidene Mietverhältnisse in der Vorstadt – die Situation Mariannes und ihrer Haushälterin wird sogleich in Beziehung gesetzt zu den übrigen »Seelen« der Stadt und zur größeren sozioökonomischen Situation. Dass die referentielle Stadtkonstitution mithilfe prototypischer Referenzen auf Straßennamen, Bauwerke, Sehenswürdigkeiten und andere Details der Stadtlandschaft eine literarische Strategie ist, die sich bei Dickens ebenso findet wie bei Fontane oder Döblin, hat Andreas Mahler dargelegt.37 Auch Dörmanns Jazz arbeitet mit genauen Lokalisierungen und zahlreichen tagesaktuellen Verweisen auf die politische und wirtschaftliche Lage, um Wien als eine »Stadt des Realen«38 zu modellieren – als einen mimetisch abgebildeten Raum. So bestätigt der Roman die These, dass es sich bei der österreichischen Literatur der zwanziger Jahre um »eine Literatur der Kapitale«39 handelt. Trotz aller Referenzen nehmen konkrete urbane Alltagspraktiken im Diskursuniversum dieses Textes allerdings einen erstaunlich geringen Stellenwert ein. Vergleichsweise wenig erfährt der Leser über die visuelle Kultur der zwanziger Jahre, über Dresscodes oder Konsumvorlieben. Während schillernde Werke wie Robert Neumanns Die Sintflut (1929), Kurt Sonnenfelds Eros und der Wahnsinnige. Ein Großstadtroman (1929) und Joe Lederers Musik der Nacht (1930) das zeitgenössische Wien mit seinen nächtlichen Vergnügungen, der omnipräsenten Reklame und den aufeinander prallenden sozialen Milieus mit psychologischer Schärfe abbilden, beschränkt sich Jazz auf die Präsentation ausgewählter Wirklicheitsausschnitte. Die fassbare Alltäglichkeit urbaner Interaktion gerät dabei in den Hintergrund. Stattdessen zeichnet Dörmanns Roman das durchaus anschauliche Bild Wiens als einer Stadt des Übergangs, aus der sich der Staat zurückgezogen hat, indem er summarisch auf einzelne Orte und die dort verkehrenden Personen fokussiert: Ab und zu wagt Kalmar bereits in den eleganten Schieberlokalen aufzutauchen, wo nächtlicherweise die Tausender fliegen. Wo die Offiziere auswärtiger Missionen ihren 36 Andreas Mahler: Stadttexte – Textstädte. Formen und Funktionen diskursiver Stadtkonstitution. In: A. M. (Hg.): Stadt-Bilder. Allegorie, Mimesis, Imagination. Heidelberg: Winter 1999, S. 11–36, hier S. 30. 37 Ebd. S. 14–16. 38 Ebd. S. 26–35, wo Mahler den Typus der »Stadt des Realen« in Abgrenzung zur allegorischen Konstituierung von Städten einerseits und zur imaginären, metaphorischen Raumkonstruktion andererseits. 39 Wendelin Schmidt-Dengler : Wien 1918. Glanzloses Finale. In: W. S.-D. (Hg.): Ohne Nostalgie. Zur österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit. Wien, Köln, Weimar : Böhlau 2002, S. 24–52, hier S. 31.
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Sold verprassen und Rosenschlachten mit Wiener Mädeln ausfechten, die der Hunger, der Leichtsinn und die Lebensgier in die Hände der Zahlungskräftigen treibt, die auswärtige Valuten besitzen. Denn Wien gehört bis auf weiteres den Schiebern, die im Gefolge der diversen Missionen aufgetaucht sind, die sich in den Hotels, Palästen, Caf8s und Nachtlokalen breit machen, Stadt und Land ausräubern und von der Not der Stadt zehren und profitieren. (J 26)
Die im letzten Satz erwähnten Hotels, Paläste, Caf8s und Nachtlokale sind die Orte, an die der Roman seine Leser führt. So erfährt man, dass das ehemals ehrwürdige Caf8 Imperial mittlerweile von Schiebern, Schmugglern und Agenten in Beschlag genommen worden ist. »Dazwischen drängt sich allerhand Weibliches, teils mit erotischen, teils mit politischen Absichten. Dirnen und Damen in engster Nachbarschaft.« (J 22) Der auktoriale Erzähler belässt es jedoch bei Andeutungen; zu einer konkreten Erzählung der Vorgänge in Caf8s wie diesem kommt es in Jazz nicht. Die urbane Geographie wird nicht wirklich vermessen, sondern vielmehr als gegeben hingestellt. Dabei bedürfen die Wiener Orte keiner genaueren Beschreibung; ein einfaches Namedropping scheint Dörmann ausreichend, wenn zum Beispiel mitgeteilt wird, dass Kalmar eine kaiserliche Villa samt herrlichem Park »[d]icht bei Schönnbrunn« (J 195) erworben habe. Lediglich in Ausnahmesituationen begleitet der Leser die Figuren auf ihren Wegen durch die Stadt. So etwa, als Kalmar eines Nachts – wie stets – gegen drei Uhr morgens den Salon verlässt, »um sich müde nach Hause zu begeben«, und auf dem Heimweg von zwei Männern überfallen und verschleppt wird: »Sein Weg führte über die dunkle Ringstraße zwischen Justizgebäude und Parlament hindurch gegen die Josefstadt zu. Es war der Weg, den er täglich ging.« (J 70) Dass der Leser nicht komplett in den urbanen Alltag einzutauchen vermag, hängt auch damit zusammen, dass die Stadtkonstitution bei Dörmann zumeist nicht an eine subjektive Wahrnehmungsinstanz gebunden ist, sondern distanziert, aus überlegener Perspektive vermittelt wird. Über weite Strecken ist der Roman nach einem Top-down-Prinzip gestaltet, das realistische Dialoge und ein tatsächliches Erzählen von Vorgängen durch synthetisierende Zusammenfassungen ersetzt, wobei die allgemeine Stimmung in der von Spekulanten beherrschten Stadt stilistisch eingefangen werden soll: »Dörmann findet kaum Zeit für eingehendere Betrachtungen, er wirft die Sätze von sich wie die Glücksritter im wirtschaftlich ruinierten Wien ihre Millionen.«40 Die sozialen Disparitäten der Nachkriegszeit schildert die auktoriale Erzählinstanz, indem sie im Kolportagestil die unvereinbaren Welten gegenüberstellt. Während die Gewinnler in den feudalen Räumen des Hotel Bristol beim französischen Wein zusammen-
40 Schneider, Felix Dörmann, S. 336.
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sitzen, weil ihnen für Geld »alles zu Gebote« steht, bleibt das Gros der Gesellschaft ausgesperrt: Der Haute Sauterne des »Hotel Bristol« war noch Friedensware. Und wenn draußen auch die dunkle Masse nach Arbeit schrie und hungerte, wenn der Mittelstand und alle Geistigen an den Bettelstab kamen, wenn das Heer der Arbeitslosen auch unheimlich anschwoll – im warmen, hell erleuchteten Saal des »Hotel Bristol« war von all dem nichts zu merken und zu spüren. (J 103)
Was Joseph Adler 1913 in seiner Rezension von Döblins Sammlung Die Ermordung einer Butterblume notiert, gilt auch für Jazz: Im modernen Erzählen ist für »schleppende Handlungen, Postkutschenstil und pschologische Kleinarbeit« kein Platz mehr.41 Dabei unterscheidet sich Jazz aber auf grundlegende Weise von Döblins Berlin Alexanderplatz, der auf der Vorstellung gründet, dass für die angemessene Behandlung des Großstadtstoffes ein Erzähler notwendig ist, der die Unsicherheit der neuen Erfahrungswirklichkeit verkörpert. Bei Döblin wird der Erzähler zur flexiblen Instanz, die zwischen den einzelnen Diskursen und Sprachspielen changieren muss. Dörmanns Darstellung entspricht eher dem Diktum Volker Klotz’, nach dem die Darstellung der Großstadt im Roman einen Erzähler erfordere, »der sich mehr oder minder faßbar in seiner alles vermittelnden Stimme ausweist«, um den Stoff »episch auszubreiten«.42 So wechselt Jazz zwar laufend die Perspektive und montiert dokumentaristische Beschreibungen, welche die eigentliche Handlung flankieren, doch die auktoriale, alles vermittelnde Erzählinstanz bleibt stets spürbar. Besonders deutlich wird dies, wenn der Roman sich im Stile einer Chronik mit den ökonomischen Prozessen auseinandersetzt:43 Alle Nachtlokale, Bars und Theater klagen über schlechten Besuch. Der Steuerdruck steigt, die Abgebauten und Arbeitslosen mehren sich, die Geschäfte verkaufen nichts, Banken und Börsen sind auf flau gestimmt. Alles wartet auf den neuen Aufschwung. Die Lebenskosten steigen enorm, aber die Rieseneinnahmen und die Riesenverdienste haben nachgelassen. Die Phantasiekurse bröckeln ab. Die Ängstlichen verkaufen und machen die Situation noch ärger. Die Mutigen und Gläubigen warten und sitzen auf ihren Papieren. Es muß ja wieder besser werden. (J 244f.)
So bindet Jazz die Darstellung der wirtschaftlichen Situation nicht etwa an das Bewusstsein einer Figur, um sie dadurch psychologisch zu unterfüttern, sondern verfällt stattdessen immer wieder in den Modus des Konstatierens. 41 Joseph Adler : Ein Buch von Döblin. In: Der Sturm 4 (1913), Nr. 170/171, S. 71. 42 Volker Klotz: Die erzählte Stadt. Ein Sujet als Herausforderung des Romans von Lesage bis Döblin. München: Hanser 1969, S. 19. 43 Vgl. Mattl, Dunkles Wien, S. 108.
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»Jazzband der Verzweiflung«
Als Anfang der zwanziger Jahre in deutschen Städten erstmals Jazz erklang, schrillten in konservativen Kreisen sogleich die Alarmglocken. Hinter dem bewussten Bruch mit Hörgewohnheiten meinte man eine Bedrohung der einheimischen Leitkultur zu entdecken: Das aus Amerika importierte »wahre Programm der Zeit«44 schien nicht nur zu sexueller Freizügigkeit und moralischer Hemmungslosigkeit aufzufordern, sondern auch der Nivellierung nationaler Identitäten Vorschub zu leisten.45 Was Marc A. Weiner für die Weimarer Epoche feststellt, lässt sich auf den Wiener Kontext übertragen: Der Jazz war die Folie, auf die sich Ängste angesichts der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen projizieren ließen.46 Dies gilt auch für Felix Dörmanns Roman, der die neue Musik zwar explizit – und möglicherweise auch verkaufsfördernd – im Titel trägt, dabei jedoch eine allenfalls oberflächliche Auseinandersetzung mit der Ästhetik des Jazz unternimmt. Wie Siegfried Mattl festhält, verweist die Chriffre »Jazz« nicht auf einen musikalischen Stil, sondern bezeichnet vielmehr »ein loses und variables Ensemble exaltierter Tanzbewegungen, rhythmisch akzentuierter wie akzelerierter Musik, ungewohnter Soundfarben, das Aufbrechen konventioneller musikästhetischer Formen und […] ungewohnte Lautstärke«.47 Auch bei Dörmann kommt der Jazz vor allem als »Epochensymbol«48 für jenes Gefühl einer allgemeinen Deregulierung zum Einsatz, das die im Roman dargestellte Krisensituation prägt. Der Jazz ist, wie Kucher darlegt, »Teil der Käuflichkeit der Welt« und verweist damit auf »eine hochambivalente Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Modernitätschiffren«: Die Tatsache, dass er bei Dörmann von Beginn an der »mondän-kapitalistischen Waren- und Spekulationswelt« zugeordnet wird, lässt ihn als »seinen Urspru¨ ngen entfremdet« erscheinen.49 So ist der Jazz bei Dörmann Chiffre für Modernisierung und Verfall zugleich.50 Indem der Roman die »Beutezüge« der Spekulanten im Nachkriegs-Wien zum »Toben 44 So die treffende Formulierung in Hans Jannowitz’ ebenfalls Jazz genannten Roman aus dem Jahr 1927. In: Hans Jannowitz: Jazz. Roman. Hrsg. und mit einem Nachwort von Rolf Rieß. Bonn: Weidle Verlag 1999, S. 7. 45 Vgl. Marc A. Weiner : Urwaldmusik and the Borders of German Identity : Jazz in Literature of the Weimar Republic. In: The German Quarterly 64 (1991), H. 4, S. 475–87, hier S. 476. 46 Ebd. 47 Mattl, Dunkles Wien, S. 103. 48 Ebd. S. 100. 49 Primus-Heinz Kucher : ›Das wahre Programm der Zeit hieß: Jazz‹: Zum Stellenwert des Jazz als (musik)kulturelle und literarische Chiffre in der österreichischen Zwischenkriegszeit. In: Journal of Austrian Studies 47 (2014), H. 3, S. 69–92, hier S. 76. 50 Vgl. Markus Kreuzwieser : »Die Welt war Jazz geworden.« Die Literatur der 1920er Jahre in der schulischen Realität. In: Kucher (Hg.): Literatur und Kultur im Österreich der Zwanziger Jahre, S. 227–237, hier S. 232.
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der Jazzbande« (J 199) in Beziehung setzt, wird die neue Musik metaphorisch zum Rhythmus eines anything goes – einer Epoche, die mit den vertrauten Werten und Hierarchien der alten Gesellschaftsordnung bricht: Wieder einmal fliegt die Welt im Tanzschritt um das goldene Kalb und betet zu ihm im Rhythmus des Modetanzes Jazz … Paukenschläge und Gelächter … Und drüben am anderen Ufer die Dummen und Elenden, die Hungernden und Entsagenden, die es nicht weghaben, wie man es macht und treibt und schiebt, um die Milliardengewinste einzuscheffeln. (J 199)
Dörmanns Roman hat Teil an einer zeitgenössischen bürgerlich-konservativen Kulturkritik, die im Jazz eine »entseelende, willenlos machende Kraft« sah, wie Andreas Anglet gezeigt hat.51 Mariannes erster Abend als Tänzerin unter dem Namen Natascha im Variet8 Ronacher – dem traditionsreichen Theater im 1. Wiener Gemeindebezirk, das in den Jahren 1887–88 als »Concert- und Ballhaus« auf dem Grundstück des 1884 niedergebrannten Wiener Theaters errichtet wurde – zeigt, wie der Jazz in Österreich auf den Trümmern der Geschichte eingeführt wird. Der Hintergrund für die Jazz-Nummer wirkt »düster und starr – wie eine verbrannte Welt« (J 116). Angekündigt wird die Tänzerin durch das rote Licht der Scheinwerfer und eine spektakuläre Kaskade aus Windstoß, Blitz und Einschlag – der Jazz kommt als Naturereignis daher, als musikalische Entsprechung jener Umwertung aller Werte, die der Roman vorführt. »Über das flatternde Haar eine rote phrygische Mütze gestülpt, in durchscheinende rote Schleier gehüllt, die bei jeder Wendung einen anderen Teil des Körpers durchschimmern lassen.« (Ebd.) Die Musik ist Tanzmusik, die »offenbachisch« wirkt und das Publikum mit »infernalische[r] Lustigkeit« (ebd.) zum Zittern bringt:52 Ein Blutrausch war es – ein Tanz der Besessenheit, von einer unheimlichen, aufpeitschenden Großartigkeit, der an den Nerven zerrte und die Herzen zertrat. Die Größe und das Grauen der Zeit lag in diesem Tanz. Die Verzweiflung und die grelle Lustigkeit der Verzweiflung im Shimmytakt getanzt. Grelles Blech, winselnde Geigen, schrille Pfeifen – alles war zusammengefaßt zu einem Cancan der Vernichtung – zu einem Jazzband der Verzweiflung, die mit ihrem eigenen Elend Schindluder treibt. Stimmung der Zeit! Terror! (J 116f.)
Es offenbart sich hier die grundlegende Ambivalenz, mit der Dörmann die JazzMetapher verwendet. Nicht nur die »Größe« der Zeit liegt in dem neuen »Tanz 51 Andreas Anglet: Die Avantgarden in Frankreich und Deutschland zwischen 1912 und 1930 und der amerikanische ›Jazz‹. In: Hartmut Kircher, Maria Klanska, Erich Kleinschmidt (Hgg.): Avantgarden in Ost und West. Literatur, Musik und Bildende Kunst um 1900. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2002, S. 57–90, hier S. 85. 52 Auch Hans Jannowitz’ Jazz nimmt auf den deutsch-französischen Komponisten Jacques Offenbach Bezug: »Die Zeit hatte ihren Offenbach gefunden: Er hieß Jazz!« (S. 8)
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der Besessenheit«, sondern eben auch ihr »Grauen«; Verzweiflung mischt sich mit Lust an der Verzweiflung. Im innovativen Potential des Jazz verkörpert sich die Moderne, als Prozess der schöpferischen Zerstörung, in ihrer Reinform: Das kulturelle und seelische Unterfutter des Wiener Habits ist durch die fremde Musik bedroht. Die politische Umwälzung wird zu einer Umwälzung im kulturellen Bereich. Der »fremde Takt« […] grundiert metaphorisch die Stimmung jener Zeit: der Rhythmus des Lebens hat sich gewandelt, das Verhältnis der Menschen zur Zeit ist ein grundsätzlich anderes geworden.53
Die zitierte Romanszene verdeutlicht, dass nicht nur Tanz und Musik von Neuem künden; auch in der unmittelbaren Reaktion auf die Darbietung zeigt sich der Einbruch der Moderne. Jene Schockerfahrung, die laut Georg Simmel den Alltag des Menschen in der Großstadt prägt, macht nämlich auch das Publikum des Variet8-Theaters. Der Jazz zerrt – ähnlich wie das frühe Kino der Attraktionen54 – an den Nerven: Auf den fremden Takt, in dem sich die Künstlerin auf der Bühne bewegt hat, antwortet das Publikum mit »hysterische[m] Rufen und Schreien, tierische[m] Beifallsgebrüll« (J 117). Es kommt zu einem allgemeinen Beherrschungsverlust. Wie beim Popkonzert »verlassen [die Leute] ihre Plätze und stürmen zur Rampe« (ebd.), wo sie den Namen der Tänzerin rufen, um sie zu Zugaben zu animieren. Dass die Tänzerin selbst sich nach der Show in einem »Erregungszustand« befindet, gar »infolge der Aufregung ohnmächtig geworden« ist, wie dem Publikum mitgeteilt wird, bleibt freilich »ohne Konsequenzen und Bedeutung« (ebd.), denn der ökonomische Erfolg scheint gesichert: »Der Direktor strahlt! Er hat für Wochen ausgesorgt! […] Eine Tanzgröße von internationaler Bedeutung ist geschaffen worden an diesem Abend. Fünfzig ausverkaufte Häuser berechnet der Direktor.« (J 118) In einer Karriere als Tänzerin sieht Marianne anfangs die Chance, sich von Kalmar zu emanzipieren, der zwar als ihr Gönner und Geliebter auftritt, an einer ehelichen Bindung allerdings zunächst kein Interesse zeigt: »Sie empfand es jetzt deutlich – sie mußte als Künstlerin etwas erreichen. Das bedeutete Selbständigkeit, bedeutete Geltung, unabhängig von dem Mann, der für einen sorgt, vielleicht sogar die Möglichkeit der freien Wahl.« (J 101) Die Mechanismen des Erfolgs sorgen jedoch dafür, dass Marianne schon nach ihrem ersten Auftritt zum Spielball der Unterhaltungsindustrie gerät. Am Morgen nach der als Sensation gewerteten Vorstellung kommen »Gedichte, Blumen und Bettelbriefe […] in Stößen« (J 121), und Marianne ist angehalten, Ansichtskarten mit ihrem Künstlernamen »Natascha« zu unterschreiben und sich in die Rolle der russi53 Schmidt-Dengler, Wien 1918, S. 34. 54 Vgl. Tom Gunning: The Cinema of Attractions: Early Film, Its Spectator and the Avant-Garde. In: Thomas Elsaesser (Hg.): Early Cinema: Space Frame Narrative. London: British Film Institute 1990, S. 56–62.
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schen Prinzessin zu fügen, als die sie zuvor auf der Bühne stand: »Mechanisch und ganz unpersönlich erledigt sie alle diese Dinge. Sie hat überhaupt keine Empfindung und denkt nur immer wieder : Bin ich das wirklich?« (J 120) Auf den Vorwurf Kalmars, hervorragende Gelegenheiten zur Beziehungspflege leichtfertig auszuschlagen, reagiert Marianne mit einem naiv-bewundernswerten Festhalten daran, sich nicht von der Entertainmentbranche vereinnahmen zu lassen. Das Argument Kalmars, eine Künstlerin müsse »sich zeigen« und »auch in der Gesellschaft eine Rolle spielen« (J 121), lässt sie nicht gelten: »›Ich will ja keine Geschäfte machen‹, ist die bissige Antwort. ›Abends kann mich jeder sehen, der mich sehen will und seinen Platz bezahlt. Tagsüber gehöre ich mir und keinem sonst.‹« (J 121) Eine derartige Trennung von Geschäftssphäre einerseits und privatem Alltag andererseits ist in der ultrakapitalistischen Welt des schönen Scheins, wie sie der Text schildert, freilich nicht mehr möglich. Der in der Variet8-Szene mit dem Jazz assoziierte »Terror« der Zeit verweist somit auch auf den Primat der Ökonomie, dem insbesondere der weibliche Körper unterworfen wird. Wie Kucher hervorhebt, ist der Tanz in Dörmanns Roman »weniger einem emanzipatorischen Habitus der Zeit verpflichtet als der zynischen Überlegung, den Körper als Kapital in eine entstehende Beziehung einzubringen«.55 Die Tatsache, dass andere Männer dafür zahlen, seine Geliebte im Variet8 tanzen zu sehen, verschafft Kalmar derweil große Befriedigung: »Das sinnliche Feuer, das in den anderen erwacht, schürt auch ihn. Und welcher wundervolle Gedanke: Ihr alle, alle begehrt sie – und ich bin der Mann, der einzige, der sie besitzt.« (J 122) Die Abgründe dieser Konstellation begreift Marianne, als sie sich in Leo Wartenstein verliebt, einen ehemaligen Offizier mit »reinen und tiefen Kinderaugen« (J 138), der genügsam von seiner Abfindung lebt und ob seiner lebensreformerischen Friedens- und Erlösungsfantasien von seiner Mutter »kleine[r] Heiland« (J 124) genannt wird: Er gehörte allerlei Bünden an, wie der Vereinigung »Neue Menschen«, dem »Kulturbund«, der »Nie wieder Krieg Gesellschaft«. Er hielt Vorträge, schrieb Gedichte und Broschüren, ging zu Versammlungen mit ethischen Zielen – aber aus dem Jockeyclub war er ausgetreten, und mit dem Frontkämpferverband und anderen Überbleibseln der Kriegszeit wollte er nichts zu tun haben. (J 124)
Auch die Wartensteins, eine alte Adelsfamilie, die im Zuge des Umsturzes »den festen Boden unter den Füßen verloren« hat und der Anfang der zwanziger Jahre deshalb »nichts geblieben [ist] als wertlose Kriegsanleihe und das kleine Wiener Barock-Palais in einer stillen Seitengasse der Inneren Stadt« (J 123), fallen Kalmars Geschäftsgebaren zum Opfer. Dem Spekulanten gelingt es nämlich, das 55 Kucher, ›Das wahre Programm der Zeit hieß: Jazz‹, S. 75.
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Palais der Wartensteins, das zwar mit einer herrlichen Fassade aufwartet, dessen unbeheizbare Prunksäle aber ebenso unbewohnbar sind wie die eigentlichen, inzwischen geplünderten Wohnräume, zu einem unverschämten Spottpreis zu erwerben. Nachdem Marianne die Bekanntschaft Leo Wartensteins gemacht hat, steigert sich dieser in die Rolle des Retters hinein, dessen Mission darin liegt, die kokainsüchtige Tänzerin aus der Sphäre des Verderbens zu befreien. Dass Marianne eine »geheime Brücke« (J 130) zwischen sich und dem ehemaligen Offizier zu erkennen glaubt, hängt wiederum damit zusammen, dass Leo im Krieg unter dem General Hartenthurn diente. Während eines tränenreichen Gesprächs im Schönbrunner Palmenhaus vermag er »ein liebevolles« Bild des Vaters vor dessen gesellschaftlicher Demütigung zu entwerfen: »So wie er ihn gekannt hatte, ehe die Mittellosigkeit und die Aussichtslosigkeit der Situation auch ihn zermürbt hatten.« (J 135) So bestimmt der Vater auch nach seinem Tod Mariannes Schicksal: Während Kalmar die Rolle des Ersatzvaters zukommt, dient die Annäherung an Leo dazu, das Gedenken an den Verstorbenen zu erhalten.56 Zum Eklat zwischen Kalmar und Marianne kommt es, als diese sich weigert, bei dessen Wohnungseinweihung für die Gäste zu tanzen. Kalmar schlägt die Frau, die er eigentlich zu heiraten gedenkt, woraufhin Marianne zu Leo flüchtet. Gemeinsam verbringen sie einen harmonischen Sommer im Inntal: Reine alltägliche Liebe jenseits der Käuflichkeit existiert allenfalls »im ›wirtschaftsfreien Raum‹ der österreichischen Provinz«,57 wo das Paar mit einer Abendveranstaltung für das Wiener Publikum denn auch eine Art Gegenprogramm zum Jazz»Terror« vorbereitet – eine christliche Friedensfantasie für eine Zeit, in der die Anständigkeit, wie Leo klagt, zur »Luxusware« (J 181) geworden ist: Zuerst wird Leo einen kurzen, ernsten Vortrag halten. Dann wird Marianne hinaustreten, ganz schlicht in einem dunkelvioletten, wallenden Gewand, und wird Christusworte sprechen, von einer Orgel begleitet … und dann Worte von Romain Rolland und schließlich die Hymnen der Liebe von Leo Wartenstein … ganz süß und leise … von einer einzigen Geige nur begleitet. Wie eine Andacht soll das Ganze werden … Eine weihevolle Vorahnung besserer … reinerer … kommender Tage … (J 174)
Als Anachronismus muss jemand wie Leo Wartenstein, der sich den Gesetzen des Marktes verweigert, freilich »unter die Räder der unablässig vorwärts stürmenden utilitaristischen Zeit«58 kommen. Da Mariannes Beziehung zu Kalmar von Beginn an auf der Vorstellung beruht, dass sich aus der Fetischisierung ihres 56 Evelyne Polt-Heinzl: Aktion Vaterversorgung. Überlebenskampf, private Nischen, öffentliche Aufgaben. In: Stefan Krammer, Marion Löffler, Martin Weidinger (Hgg.): Staat in Unordnung? Geschlechterperspektiven auf Deutschland und Österreich zwischen den Weltkriegen. Bielefeld: transcript 2012, S. 75–90, hier S. 80. 57 Schneider, Felix Dörmann, S. 340. 58 Kluy, Die Welt war Jazz geworden, S. 273.
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Körpers als zukunftsfähiger Ware für beide Seiten Gewinn schlagen lasse, ist es gewissermaßen nur konsequent, wenn sie nach dem Selbstmord Leos schließlich doch noch einwilligt, ihren Investor-Entdecker zu heiraten. Der Dynamik des Profits kann sie sich damit nicht mehr entziehen: »Der Taumel ergreift auch sie. Leben – genießen – und nicht nachdenken! Allmählich ist sie mürbe geworden … Kalmar hat sie auch innerlich besiegt.« (J 194) Als Kalmar ihr jedoch – nach Heirat und Hochzeitsreise – im Zuge eines Wutanfalls gesteht, Leos Selbstmord provoziert zu haben, fasst Marianne den Entschluss, ihren Mann mit Hilfe des Finanziers Wiesel wirtschaftlich und seelisch zu ruinieren, auf dass er sich »in Eifersucht und Selbstvorwürfen verzehren« (J 223) möge. Dem Bankpräsidenten stellt sie dabei ihren Körper in Aussicht: »An dem Tag, an dem mein Mann ruiniert ist und am Boden liegt, gehöre ich Ihnen!« (J 244) Da Wiesel seinen Teil der geschäftlichen Abmachung einhält und Kalmar ins geschäftliche Verderben stürzt und gar ins Gefängnis bringt, erwartet er von Marianne, dass sie ihrerseits ihm zur Verfügung stehe. Als die beiden im Auto Richtung Süden fliehen, kommt es in den Dolomiten zum Showdown, den Dörmann wieder im Kinostil schildert: »Am Volant sitzt eine junge Dame, die den Wagen mit Kraft und Sicherheit führt, neben ihr ein kleiner, zierlicher, schwarzer Herr, der sie bewundernd anstarrt, ganz in ihrem Bann.« (J 265) Abrupt endet der Roman damit, dass Marianne den Wagen absichtlich und mit voller Geschwindigkeit gegen eine Mauer lenkt, um sich den beharrlich an sie herangetragenen Besitzansprüchen unwiderruflich zu entziehen. Die spektakuläre Unfallszene antizipiert in ihrer Visualität den amerikanischen Film Noir : Krachend fährt der Wagen gegen die Mauer an – und durchbricht sie … überschlägt sich im Anprall … schleudert zwei Körper weit in die Luft – und stürzt ihnen nach – über die Felsen in die Felizon-Schlucht, die unten, zweihundert Meter tiefer, ihren hungrigen Rachen weit aufsperrt. (J 268)
Wie in Arthur Schnitzlers Fräulein Else59 bleibt als letztes Mittel, um sich der Reduktion auf den Warenwert zu verweigern und »nicht wieder einem Mann gehören« (J 266) zu müssen, nur der Freitod. Im Bild des »hungrigen Rachen[s]« ist allerdings selbst in dieser finalen Szene die allgemeine Gier der Zeit präsent – eine Gier, der alle Figuren des Romans zum Opfer fallen.
59 Vgl. Schneider, Felix Dörmann, S. 340.
Hildegard Kernmayer
Poetik des Urbanen: das Feuilleton und die Stadt
I. Im ersten Kapitel seines Romans Der Mann ohne Eigenschaften aus dem Jahr 1930 beschreibt Robert Musil die Großstadt Wien vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Wie alle großen Städte bestehe diese »aus Unregelmäßigkeiten, Wechsel, Vorgleiten, Nichtschritthalten, Zusammenstößen von Dingen und Angelegenheiten, bodenlosen Punkten der Stille dazwischen, aus Bahnen und Ungebahntem, aus einem großen rhythmischen Schlag und der ewigen Verstimmung und Verschiebung aller Rhythmen gegeneinander«1. Mit seiner metonymischen Charakterisierung der modernen Großstadt über deren Vielzahl an Eigenschaften, unter denen die eine die spezifische Stadt bezeichnende Eigenschaft nicht auszumachen sei – ausdrücklich soll auf den Namen der beschriebenen Stadt ja auch »kein besonderer Wert gelegt werden«2 –, überträgt Musil das Attribut der Eigenschaftslosigkeit vom Mann auf die Stadt. Deren Identität ist nicht mehr Ergebnis und Ausdruck einer scheinbar unveränderlichen Substantialität – Musil spricht in diesem Zusammenhang vom »dauerhaften Stoff von Häusern, Gesetzen, Verordnungen und geschichtlichen Überlieferungen«3, die das materielle Gefäß bilden, in der ungewisse und sich ständig verändernde urbane Seinsweisen ihren Ort haben –, die Identität jeder Großstadt resultiert vielmehr aus der instabilen Versammlung der Attribute urbaner Existenz selbst: aus Bewegung und Rhythmus, Beschleunigung und Verlangsamung, Progression und Digression, aus der Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem, aus dem Nebeneinander von Narrativen, Interessen und Teleologien. Dass diese Qualitäten der modernen Großstadt nicht substantiell, sondern vielmehr als Erfahrungskomplexe gegeben und folglich an die ungewissen und flüchtigen 1 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Hrsg. von Adolf Fris8. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2014, S. 10. 2 Ebd. 3 Ebd.
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Wahrnehmungen von ihrerseits instabilen Subjekten gebunden sind, lässt die moderne Großstadt zusätzlich zu jenem Ensemble nur scheinbar stabiler Konfigurationen werden, von dem in Musils Mann ohne Eigenschaften die Rede ist. Die Großstadt nicht räumlich, sondern als sozio-materiales Produkt raumproduzierenden Handelns4 zu begreifen, ist bereits um 1900 auch jenseits von Kunst und Literatur gängige Praxis. Georg Simmel etwa spricht von der Großstadt als einer »soziologische[n] Tatsache, die sich räumlich formt«5. Ihr »bedeutsamste[s] Wesen« – so Simmel in seinem Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben aus dem Jahr 1903 – liege »in dieser funktionellen Größe jenseits ihrer physischen Grenzen«.6 Abstraktheit, Universalität, Heterogenität und vor allem Mobilität kennzeichnen dabei die moderne Großstadt, die selbst zum Ort des beständigen Wandels, des technologischen Fortschritts und der sozialen Veränderungen wird, der spezifisch moderne Seins- und Wahrnehmungsweisen generiert. Georg Simmel zufolge ist die Großstadt vor allem der Ort der universell gewordenen modernen Geldwirtschaft, deren Logik der Objektivierung und Rationalisierung zur dominierenden Logik moderner Existenz schlechthin wird. Der Geist der »reine[n] Sachlichkeit in der Behandlung von Menschen und Dingen«7, der die moderne Geldwirtschaft erst ermöglicht, geht dabei Hand in Hand mit der Ausbildung des intellektualistischen Charakters des – wie Simmel es nennt – »großstädtischen Seelenlebens«8. In seiner 1900 erschienenen Schrift Philosophie des Geldes konstatiert Simmel entsprechend: »Das Geld stellt Handlungen und Verhältnisse des Menschen so außerhalb des Menschen als Subjektes, wie das Seelenleben, soweit es rein intellektuell ist, aus der persönlichen Subjektivität in die Sphäre der Sachlichkeit, die es nun abspiegelt, eintritt.«9 Wie in anderen Moderne-Theorien ist auch bei Georg Simmel Bewegung ein wesentliches Merkmal der Moderne. Simmel nimmt in seiner Auseinandersetzung mit der modernen Großstadt indes nicht die sinnlich wahrnehmbaren Formen der Mobilität in den Blick, die sich als Funktion der modernen 4 Vgl. Christopher Dell: Epistemologie der Stadt. Improvisatorische Praxis und gestalterische Diagrammatik im urbanen Kontext. Bielefeld: transcript 2016, S. 9f. Vgl. dazu auch Uwe Prell: Theorie der Stadt in der Moderne. Kreative Verdichtung. Opladen, Berlin, Toronto: Barbara Budrich 2016, S. 214–220. 5 Georg Simmel: Soziologie des Raumes [1903]. In: G. S.: Schriften zur Soziologie. Hrsg. von Heinz-Jürgen Dahme und Otthein Rammstedt. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983 (= SuhrkampTaschenbuch Wissenschaft, Bd. 424), S. 221–242, hier S. 229. 6 Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben. In: G. S.: Soziologische Ästhetik. Hrsg. und eingel. von Klaus Lichtblau. Darmstadt: Verlag für Sozialwissenschaften 1998, S. 119–133, hier S. 129. 7 Ebd. S, 121. 8 Ebd. S. 120. 9 Georg Simmel: Philosophie des Geldes. Hrsg. von David P. Frisby und Klaus Christian Köhnke. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989 (= Georg Simmel: Gesamtausgabe, Bd. 6, Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 806), S. 602.
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Technik ausdrücken und die im zeitgenössischen Diskurs insgesamt als zentrale Charakteristika der Moderne wahrgenommen werden. Für Simmel ist es vielmehr das Kursieren des Geldes, das als entmaterialisierte Form der Bewegung zur funktional bedeutendsten Form moderner Mobilität wird und als solche – wie Lothar Müller feststellt – »den Lebensrhythmus insgesamt dynamisiert und die Techniken der äußeren Bewegung als materiell-räumlicher Fortbewegung aus sich heraustreibt«10. Folglich erscheint auch die Großstadt bei Simmel nicht mehr als undurchschaubare Welt der äußeren Bewegung, sondern »als diffiziles Gewebe äußerst fein abgestimmter und auf Berechenbarkeit angelegter ›Wechselwirkungen‹ zwischen den Individuen«11. Das materielle Großstadtgeschehen in seinen vielfältigen Wirkungszusammenhängen zu erfassen, suchen vor allem die Kunst und Literatur der Moderne. So entdeckt etwa die Malerei »seit dem Impressionismus in der Großstadt nicht nur einen neuen Kontinent von Motiven«, sondern gewahrt »eine Herausforderung des Augensinns, auf die sie mit der Revolutionierung der eigenen Formensprache antwortet«; von der Moderne erzählt – folgt man Lothar Müller – selbstverständlich die genuin moderne Kunstform des Films, »der in der Großstadt zu Hause ist und ihre von Beginn an ambivalente Erfahrung in Chiffren der Faszination wie des Schreckens übersetzt«; und nicht zuletzt erklärt die Literatur der Moderne die Großstadt zu ihrem Ort und entwickelt ihrerseits Formen und Verfahrensweisen, die die ästhetischen, sozialen und technologischen Qualitäten der modernen Großstadt lesbar machen.12 Montagetechnik, die Darstellung von Schockwahrnehmungen, die Priorität des Augenblickes vor der langzeitlichen Erfahrung, die Auflösung der chronologischen Linearität der Ereignisse oder daraus resultierend die Verräumlichung der temporalen Strukturen kennzeichnen die großen Stadtromane von Dos Passos bis Döblin als paradigmatische Ausdrucksformen literarischer Moderne. Jenseits der großen ästhetischen Formen der sogenannten klassischen Moderne setzt sich jedoch auch die kleine Form, das Feuilleton, nicht nur thematisch mit der Großstadt auseinander, es bildet vielmehr seine spezifische Gattungspoetik entlang der neuen urbanen Seins- und Wahrnehmungsweisen aus. Nicht von ungefähr vollzieht sich seine Institutionalisierung parallel zum Aufstieg der Großstadt Paris zur ›Hauptstadt des 19. Jahrhunderts‹, begleiten die Feuilletons der großen europäischen Tageszeitungen aber auch die Urbanisierungs- und Modernisierungsprozesse Londons, Berlins oder Wiens medial. 10 Lothar Müller: Die Großstadt als Ort der Moderne. Über Georg Simmel. In: Klaus R. Scherpe (Hg.): Die Unwirklichkeit der Städte. Großstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1988 (= rowohlt enzyklopädie, Bd. 471), S. 14–36, hier S. 18. 11 Ebd. S. 17. 12 Ebd. S. 14.
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Anders als der Großstadtroman entsteht das moderne Feuilleton dabei bereits an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Entsprechend spiegelt sich in seiner Entwicklung von seinen Anfängen in der postrevolutionären Pariser Presse oder von den Reisebriefen Heinrich Heines und Ludwig Börnes bis zu seiner letzten Hochzeit in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts auch die Vielzahl und Vehemenz der sozio-ökonomischen, aber auch psychophysischen Transformationsprozesse wider, die das lange 19. Jahrhundert prägen: das Feuilleton zeugt vom Wandel von Subjektivitätskonzepten ebenso wie von der Veränderung von Wahrnehmungsweisen und nicht zuletzt von jenen technologischen und sozialen Umformungen, denen moderne Großstädte im Zuge der sich zum 20. Jahrhundert hin verstärkenden Urbanisierungsprozesse unterliegen.
II. Bereits in seinen Anfängen in der postrevolutionären Pariser Presse der 1790er Jahre fungiert das Feuilleton als Forum großstädtischer Kommunikation, das vorerst ein ausschließlich großstädtisches Publikum adressiert. Denn das ›Feuilleton‹ – zu dem Zeitpunkt das Synonym für die zahlreichen Beilagen oder Beihefte der Pariser Tageszeitungen – enthält, was im Hauptteil der Blätter keinen Raum findet und vorerst auch nur für einen Teil der Leserinnen und Leser als relevant erachtet wird, nämlich das Pariser Theaterprogramm, kurze Besprechungen des auf Pariser Bühnen Dargebotenen, die Annoncen (meist von Pariser Wirtschaftstreibenden), Rätsel, kurze Gedichte oder auch die ersten Leserbriefe. Mit der Auslagerung dieses heute wohl als ›Vermischtes‹ zu bezeichnenden Zeitungsteils in die Beilage, also ins ›Feuilleton‹, kann das ›eigentliche‹ Corpus der Zeitungen in den Jahren nach der Revolution den umfassenden Berichten von den Sitzungen der Nationalversammlung, den Wirtschaftsnachrichten sowie den politischen Kommentaren vorbehalten bleiben. Diese Praxis hat nicht nur raum-, sondern vor allem auch distributionsökonomische Gründe: Separat gedruckt, wird das ›Feuilleton‹ nur den Paris-Ausgaben der Zeitungen beigelegt, wodurch sich die Auslieferung der ›eigentlichen‹, weil politischen Blätter in die ›Provinz‹ beschleunigt.13 Dass ab 1799 etliche Zeitungen in einem verlängerten Seitenformat erscheinen und das ›Feuilleton‹ nun im verlängerten Teil ›unter dem Strich‹ platzieren können, dankt sich vor allem medientechnischen Innovationen. Mit der Entwicklung neuer und leistungsstärkerer Druckerpressen und der dadurch er13 Vgl. Ingemar Oscarsson: De suppl8ment ind8pendant / un rez-de-chauss8e sous le filet. In: Annales historiques de la R8volution franÅaise (1993), H. 292, S. 269–294, hier S. 274–276.
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möglichten Einführung von eigenen Zeitungsformaten kann die Zeitung auch formal erstmals anders denn als Variante des Buches gefasst werden, die sich von diesem lediglich durch ihre Periodizität unterscheidet.14 Ingemar Oscarsson hat nachgewiesen, dass die Pariser Tageszeitung Le Propagateur als erste Zeitung der Pressegeschichte am 1. Juli 1799 ein Feuilleton ›unter dem Strich‹ einführt, dieses trägt den Namen Bulletin litt8raire.15 Am 28. Januar 1800 greift das Journal des D8bats diese medientechnische Innovation auf und baut sein Feuilleton aus, das im 19. Jahrhundert europaweit richtungsweisend für die Entwicklung sowohl der Rubrik wie auch des Genres sein wird.16 Bemerkenswert ist dabei, dass das Journal des D8bats noch eine Zeit lang in zwei Ausgaben unterschiedlichen Formats erscheint: in einer für Paris bestimmten, die die verlängerten Seiten mit dem Feuilleton aufweist, und einer kleinformatigen für die ›Provinz‹ bestimmten Ausgabe ohne Feuilleton. Noch bis 1827 präsentiert sich das Feuilleton du Journal des D8bats, wie der Teil ›unter dem Strich‹ betitelt wird, in der für die Zeit typischen Gestalt. Es enthält das Pariser Theaterprogramm, Werbeeinschaltungen von Buchhandlungen und Druckereien, gereimte Rätsel, kleine Prosaskizzen etwa zu historischen Ereignissen, aber auch offiziöse Kundmachungen und nicht zuletzt Buchbesprechungen und Theaterkritiken. 1889 schreibt Georges Viollat in einer Festschrift zum hundertjährigen Bestehen der Zeitung über das in den ersten Jahrzehnten bestehende Durcheinander (»pÞle-mÞle«) im Feuilleton: Neben einem Artikel ihres berühmten Feuilletonredakteurs Julien-Louis Geoffroy, dem Balzac 1843 den Beinamen »le pHre du feuilleton«17 verleihen wird, oder einer Abhandlung eines Gärtners über die Gewinnung von Honig finden sich im Feuilletonteil der Zeitung Rätsel, in denen es den Namen Bonapartes zu erraten gilt, oder ausgewählte Arbeiten eines jener Autoren, die damals ein gewisses Ansehen genossen und Delille, Esmenard, Dewailly, La Harpe oder Colin d’Harleville heißen mochten.18
14 Vgl. Joseph Jurt: Das Jahrhundert der Presse und der Literatur in Frankreich. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL) 38 (2013), H. 2, S. 255–280, hier S. 257. – Vgl. auch Jeremy Popkin: Une reprise en main et un nouveau d8part. La pr8sentation du texte dans les journaux entre 1794 et 1807. In: Pierre R8tat (Hg.): Textologie du journal. Paris: Minard 1990, S. 83–98, hier S. 83. 15 Vgl. Oscarsson, De suppl8ment ind8pendant, S. 286. 16 Vgl. Claude Bellanger et al. (Hgg.): Histoire g8n8rale de la presse franÅaise. Bd. 2: De 1815 / 1871. Paris: Presses universitaires de France 1969, S. 37ff. 17 Honor8 de Balzac: Monographie de la presse parisienne [1843]. In: H. d. B.: Les Journalistes. Monographie de la presse parisienne. Les Salons litt8raires. Paris: Arl8a 1998, S. 13–144, hier S. 98. 18 Vgl. Georges Viollat: A travers le feuilleton (1800–1830). In: Le Livre du centenaire du Journal des D8bats (1789–1889). Paris: Plon 1889, S. 582–588, hier S. 583.
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Erst am 1. Dezember 1827 lagert das Journal des D8bats die Annoncen in einen eigenen Anzeigenteil aus und erhöht gleichzeitig ihre Zahl. Die Maßnahme ist auch eine Reaktion auf den Erlass eines Pressegesetzes, in dessen Folge sich die Distributionskosten der Zeitung drastisch erhöhen und das Blatt sich gezwungen sieht, verstärkt Werbeeinnahmen zu lukrieren.19 Mit der Gründung von Emile de Girardins Zeitung La Presse im Jahr 1836 entsteht in Paris schließlich die erste Tageszeitung, die nach rein marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten geführt wird. Deren – auch finanzieller – Erfolg basiert zu einem großen Teil auf dem radikalen Ausbau des Inseratenwesens, der es ermöglicht, die Zeitung zum halben Preis der Konkurrenzblätter anzubieten. Daneben setzt Girardin aber auch auf den großzügigen Ausbau des Feuilleton-Ressorts, von dem er sich eine weitere Steigerung des Umsatzes verspricht. Das Feuilleton, in der Zwischenzeit zwar räumlich von der Annonce getrennt, bedient jedoch nach wie vor die ökonomischen Interessen der Zeitung. Sollte es in seinen Anfängen noch die Vermarktung einzelner Waren unterstützen, so befördert es nunmehr die Absatzsteigerung des Blattes selbst, das durch die Erhöhung seiner Auflage wiederum weitere Anzeigenkunden werben kann. Spuren der Verquickung des Feuilletons mit dem Merkantilen meinen spätere Feuilletonkritiker auch im feuilletonistischen Text selbst zu erkennen. Inhaltsleere und Oberflächlichkeit, schließlich die zum stilistischen Dogma erhobene Belanglosigkeit des Feuilletons führten zwangsläufig zur kulinarischen Rezeption der kulinarischen Nebensächlichkeit20 ›Feuilleton‹ und ließen erst das Bündnis zwischen Annonce und Feuilleton21 produktiv werden.
III. Dass das Feuilleton eine moderne Gattung sei, wird bereits zur Zeit seiner Einführung in der Publizistik des Vormärz konstatiert. Heines Schreibweise stehe – so Arnold Ruge bereits 1838 – »entschieden in der modernen Entwickelung«, in seiner Poesie lebe nicht nur »eine Emanzipation von dem alten Autoritäts-
19 Vgl. ebd. S. 586. 20 Vgl. Joseph Roth: Feuilleton. In: Die deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse. Hrsg. von Walter Killy. Bd. 7: 20. Jahrhundert. München: Beck 1967, S. 274–276. – Vgl. auch Joseph Roth: Brief an Benno Reifenberg vom 22. 4. 1926. In: Joseph Roth: Briefe 1911–1939. Hrsg. von Hermann Kesten. Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1970, S. 87–89, hier S. 87. 21 Vgl. Günter Oesterle: »Unter dem Strich«. Skizze einer Kulturpoetik des Feuilletons im neunzehnten Jahrhundert. In: Jürgen Barkhoff, Gilbert Carr, Roger Paulin (Hgg.): Das schwierige neunzehnte Jahrhundert. Germanistische Tagung zum 65. Geburtstag von Eda Sagara im August 1998 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 77), Berlin: de Gruyter 2000, S. 229–250, hier S. 237.
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glauben«, sondern auch »ein neues Genre« auf.22 Die Literarisierung der Publizistik, die ja als eine der herausragenden Leistungen der Heine’schen Prosa gilt, scheint sich dabei nicht nur zeitungsimmanenten Logiken zu danken, sondern diese stellt sich, nimmt man poetologische Entwicklungen der Literatur des beginnenden 19. Jahrhunderts in den Blick, durchaus als Funktion eines erweiterten Konzepts des Poetischen heraus. So weist etwa Wolfgang Preisendanz im Hinblick auf Heinrich Heines Reisebilder nach, dass in diesen die »publizistische Intention« einen »eigenwertigen, mit […] ästhetischen Kategorien erfassbaren Ausdrucks- und Darstellungswillen[]« motiviere.23 In der Verschränkung von Literatur und Publizistik und damit im komplementären Zusammenwirken von ideologischer Hermeneutik und poetischer Heuristik24 konstituiert sich Preisendanz zufolge der spezifische Prosastil Heinrich Heines, der wiederum vorbildlich für die Entwicklung der deutschsprachigen Feuilletonistik im 19. Jahrhundert sein wird. Das Ineinandergreifen von publizistischer Wirkungsabsicht und literarischem Stilwillen charakterisiert indes nicht nur die Prosa Heines. Es ist vielmehr in den ausgehenden zwanziger und beginnenden dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts Bedingung für die Entstehung jenes ›modernen‹ Prosastils, der als einzig adäquate Form gesehen wird, den sich im Gesellschaftspolitischen nach und nach vollziehenden Wandel literarisch und publizistisch zu befördern. Die Feuilletonisierung der publizistischen Zweckformen äußert sich am augenscheinlichsten in deren Subjektivierung. Das Merkmal der Subjektivität teilt das Feuilleton mit anderen ebenfalls ›subjektivistischen‹ publizistischen Gattungen, etwa dem Essay oder auch dem Brief. Die generische Verwandtschaft von Essay und Feuilleton erhellt dabei deutlich aus der gattungspoetologischen Engführung der beiden Formen. Eignet etwa Theodor W. Adorno zufolge dem Essay die »Spontaneität subjektiver Phantasie«25, so äußert sich das »Wesen des Feuilletons« – folgt man Ernst Ecksteins bereits 1876 erschienenen Beiträgen zur Geschichte des Feuilletons – im »Durchschimmern der Subjectivität«. Der Feuilletonist, so Eckstein, gebe »uns die Dinge, wie sie sich in seiner Persönlichkeit widerspiegeln; er beleuchte[] alles mit den Strahlen seiner individuellen
22 Arnold Ruge: Heinrich Heine charakterisiert nach seinen Schriften. In: Die deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse. Bd. 6: 19. Jahrhundert. Hrsg. von Benno v. Wiese. München: Beck 1965, S. 333–340, hier S. 335. 23 Wolfgang Preisendanz: Der Funktionsübergang von Dichtung und Publizistik. In: W. P.: Heinrich Heine. Werkstrukturen und Epochenbezüge. München: Fink 1973 (= UTB, Bd. 206), S. 21–68, hier S. 29. 24 Vgl. ebd. S. 47, S. 52. 25 Theodor W. Adorno: Der Essay als Form. In: Th. W. A.: Noten zur Literatur. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt/M.: Suhrkamp 41989 (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 355), S. 9–33, hier S. 11.
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Stimmung; er [verrate] überall die Theilnahme an dem Gegenstande«.26 Doch nicht nur die Perspektivierung des Mitgeteilten resultiert aus dem Moment der Subjektivität, auch die stilistischen Gesten des Feuilletons, etwa die ›Gebärde‹ der Leichtigkeit, die Imitation des Mündlichen im Schriftlichen, die Momente des Spielerischen und des Assoziativen (letztere prägen auch den Essay) sind jeweils an im Text entworfene ästhetische Subjekte gebunden, deren Wahrnehmungen und Gestimmtheiten der feuilletonistische Text vor allem wiedergibt. Das Subjekt, dessen Wahrnehmungen im feuilletonistischen Text mitgeteilt werden, ist dabei nicht mehr das moralisch-souveräne Allgemeinsubjekt der Aufklärung,27 sondern ein Ich, das unterschiedliche Formen, sich mit der Welt in Beziehung zu setzen, erprobt und das sich je nach Bedarf etwa als politisches, als kontemplatives, als spielerisches, als konsumtorisches, aber immer als ästhetisches entwirft. Das feuilletonistische Ich ist mithin auch nicht mit dem Feuilletonisten gleichzusetzen, vielmehr ist es, wie Peter Utz feststellt, der »Oberflächenausdruck des Feuilletonisten, der seine Subjektivität zu Markte tragen muß, wie sie das Medium von ihm verlangt«28. Die Subjektivierung der Publizistik und damit einhergehend das Oszillieren zwischen Sachgebundenheit und formaler Verwandlungsfreiheit ist Gegenstand jener zahlreichen feuilletonkritischen Einlassungen, die das Genre seit seiner Entstehung in der französischen Presse des beginnenden 19. und bis in die vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts ständig begleiten und die sich in kulturkritischen, modernekritischen, deutschnationalen und antisemitischen Invektiven äußern. Umgekehrt generiert dieses Oszillieren jene innertextuelle Bewegung, die die feuilletonistische Schreibweise wohl am eindringlichsten charakterisiert. Nicht von ungefähr bindet Walter Benjamin in seinem Essay Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts die Entstehung feuilletonistischen Schreibens an die spezifisch urbane Bewegungsform der Flanerie.29 Wie die Passagen, der Omnibus oder das Warenhaus ist für Benjamin auch die Flanerie eine der großstädtischen Konfigurationen, die die Entstehung spezifisch moderner Seins- und Wahrnehmungsweisen bedingen. Ihr kommt innerhalb der Komplexe moderner Virtualität und Mobilität die Bedeutung eines Schlüsselphä26 Ernst Eckstein: Beiträge zu einer Geschichte des Feuilletons. Bd. 1. Leipzig: Hartknoch 1876, S. 9f. 27 Zur Begrifflichkeit vgl. Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2006. 28 Vgl. Peter Utz: »Sichgehenlassen« unter dem Strich. Beobachtungen am Freigehege des Feuilletons. In: Kai Kauffmann, Erhard Schütz (Hgg.): Die lange Geschichte der kleinen Form. Beiträge zur Feuilletonforschung. Berlin: Weidler 2000, S. 142–162, hier S. 158. 29 Vgl. Walter Benjamin: Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts. In: W. B.: Gesammelte Schriften. Bd. V.1. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982 (= SuhrkampTaschenbuch Wissenschaft, Bd. 935), S. 45–59, hier S. 48.
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nomens30 zu, stellt sie doch einen neuen, genuin großstädtischen Typus des Mobilen dar, dessen Funktion weit über seine vordergründige Bedeutung, das müßige Umherschlendern, hinausgeht. Mit ihrer Ausbildung spezifischer Wahrnehmungsweisen, bedingt und strukturiert durch Rhythmus und Tempo der Bewegung des Flaneurs sowie jener des akzelerierten Zeit-Raum-Gefüges, wird die Flanerie zu einer wesentlichen Möglichkeit der Auseinandersetzung mit den veränderten und sich ständig verändernden Gegebenheiten moderner Wirklichkeit und darüber hinaus zur paradigmatischen Existenzform31 innerhalb des Komplexes ›Großstadt‹, der sie gleichzeitig hervorbringt. Die Flanerie definiert sich vor allem über ihr spezifisches Verhältnis zu Raum und Zeit. Die Großstadt als immenser ergehbarer Raum erscheint dem Flaneur zum einen als Panorama, vor dem der Blick, der längst nicht mehr das Ganze wahrnehmen kann, lediglich noch Details, Ausschnitte, Zufälliges erkennt und in der er, »das Auge der Stadt«32, seiner Lust, dem Sehen und Erleben, dem Einfangen des ›Augen-Blickes‹ frönt. Zum anderen ist ihm die Großstadt Landschaft, in der unzählige, voneinander unabhängige Ereignisse simultan ablaufen. Sowohl in der Wahrnehmung wie auch in der Wiedergabe treten die einzelnen Details nicht mehr in linearer Abfolge auf, sie sind scheinbar zusammenhanglos, sie erscheinen als gleichrangige Einzelteile im Raum, sind austauschbar und frei kombinierbar. In der subjektiven Wahrnehmung des Flaneurs wird somit das zeitliche Kontinuum zum räumlichen Agglomerat. Dem Ineinanderfließen der Impressionen, der Diffusion des Raum-Zeit-Gefüges entspricht auf der Ebene des Flanierenden selbst die Diffusion von dessen Identität. Denn nicht mehr als Typus, sondern – so Dietmar Voss – als »unbewußte Eigenschaft von allgemeiner Empfänglichkeit und Exzedierung«33 durchschreitet der Flaneur den großstädtischen Raum, und er überschreitet als Beobachtender im Gehen auch sich selbst.34 Dieses ekstatische Potential35 macht ihn zum einen hellsichtig für das Kernproblem moderner menschlicher Existenz, uneins mit der Welt und mit sich selbst zu sein, und es eröffnet ihm zum anderen auch die Einsicht in die Uneinheitlichkeit und Uneindeutigkeit der modernen Welt selbst. Die Möglichkeit der Selbstüberschreitung lässt ihn weder als fest umrissenen Typus noch unmittelbar, sondern »zunächst nur versenkt und verflochten in soziales Rollen-
30 Vgl. Dietmar Voss: Die Rückseite der Flanerie. Versuch über ein Schlüsselphänomen der Moderne. In: Scherpe (Hg.), Die Unwirklichkeit der Städte, S. 37–60. 31 Vgl. Benjamin, Paris, S. 54. 32 Karlheinz Stierle: Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewußtsein der Stadt. München: Hanser 1993, S. 214. 33 Voss, Die Rückseite der Flanerie, S. 40. 34 Vgl. ebd. S. 50. 35 Voss spricht vom »rauschhaft ästhetischen Tun« des Flaneurs. Vgl. ebd. S. 39.
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handeln und soziale Charaktermasken«36 erscheinen. In seiner Rollenhaftigkeit ist er zugleich er selbst und viele andere; er ist, wie Walter Benjamin gezeigt hat, Beobachter und Teil der beobachteten Masse in einem. Obwohl ein frühes Symbol entfremdeter großstädtischer Existenz, ist der Flaneur noch nicht vollends von dieser überwältigt. Seine Lebensform umspielt Walter Benjamin zufolge »die kommende trostlose des Großstadtmenschen noch mit einem versöhnenden Schimmer«37. Die Tatsache, sowohl Akteur wie auch Zuseher des großstädtischen Diskurses zu sein, und die Hybris, den Diskurs der Dezentrierung zu beherrschen, lassen den Flaneur sich zum Subjekt von im Grunde unbeherrschbaren Beziehungen stilisieren38 und prädestinieren ihn so zum Dokumentalisten der Moderne. Tatsächlich bleiben auch die ›neuen‹ Wahrnehmungsweisen, die die moderne Großstadt produziert, nicht auf ihren alltagsästhetischen Ausdruck im Phänomen der Flanerie beschränkt, sie finden vielmehr als mimetische Transformationen Eingang in alle Bereiche der modernen Kunst und werden auch erst als solche analytisch fassbar. Die zahlreichen neueren wissenschaftlichen Untersuchungen, die den Zusammenhang zwischen formalästhetischen Phänomenen der literarisch-künstlerischen Moderne und der durch den Modernisierungsprozess veränderten Wirklichkeitswahrnehmung erhellen, nehmen allerdings auf die vergleichsweise frühe literarische Auseinandersetzung mit den Folgen des Modernisierungsprozesses, wie er sich vorerst in den frühen Großstadttableaux, den literarischen Skizzen, in jener ›panoramatischen Literatur‹ also, in der Benjamin die Vorläuferin des Feuilletons erkennt39, schließlich im Feuilleton selbst manifestiert, kaum Bezug. Wiederum sind es die Theoretiker und Essayisten des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts selbst, die auf den engen Konnex zwischen Modernisierung, Flanerie und Feuilletonismus hinweisen und im Feuilleton eine Form der formalästhetischen Umsetzung der veränderten Wahrnehmungsweisen erkennen. In seiner ironischen Nomenklatur des Feuilletonismus, die Ferdinand Kürnberger 1856 erstellt, erscheint der ›StraßenFeuilletonist‹ (F. forensis, eine von Kürnbergers sechs Kategorien der Spezies) als »der leichte, libellenhafte Flaneur«40, der Lust aus dem ›Anschauen‹ bezieht und dessen bevorzugter Aufenthaltsort – die eleganten Geschäfte am Graben in 36 Ebd. S. 37. Voss erkennt in Benjamins Konzept des Flaneurs die Charaktermasken des Promenierenden, des Bildungsreisenden, des Physiognomikers und des Detektivs. 37 Benjamin, Paris, S. 54. 38 Vgl. Voss, Die Rückseite der Flanerie, S. 38. 39 Vgl. Benjamin, Paris, S. 48. Mit dem Begriff der ›panoramatischen Literatur‹ bezeichnet Benjamin jene Texte, in denen die Großstadt lediglich als Panorama fungiert, vor dem die Ereignisse ablaufen, die Großstadt also noch nicht Akteurin ist. 40 Ferdinand Kürnberger : Die Feuilletonisten. In: F. K.: Literarische Herzenssachen. Hrsg. von Otto Erich Deutsch. München, Leipzig: Georg Müller 21911 (= Gesammelte Werke, Bd. 2), S. 430–439, hier S. 434.
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Wien – bereits dem des Pariser Feuilletonisten der nachhaussmann’schen Periode ähnelt, der in den Passagen und Warenhäusern, neben der Flanerie die zentralen Konfigurationen der modernen Großstadt, sein hauptsächliches Betätigungsfeld findet. Kürnberger erkennt somit nicht nur den Zusammenhang zwischen Feuilletonismus und Flanerie, er verweist auch – achtzig Jahre vor Walter Benjamin – auf die Affinität von sozioökonomischen und ästhetischen Implikationen des Modernisierungsprozesses, die sich ebenfalls im Feuilleton niederschlügen. Denn wie Benjamin41 sieht auch er im Flaneur »den Komplizen der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer großstädtisch-industriellen Räume«42 und in der Flanerie die Voraussetzung für das Warenhaus43 : wie Benjamin weiß auch Kürnberger um die multiplikatorische Funktion des Feuilletonisten innerhalb der kapitalistischen Zirkulationssphäre. Die als typisch feuilletonistisch identifizierte ›Stilgebärde‹44, mittels deren sich eine Erzählinstanz leichtfüßig nicht nur durch beschriebene Landschaften, Kunstausstellungen, Opernpremieren oder das Setting politischer Ereignisse, sondern auch durch den Textkörper bewegt, wird zum Vorbild für die feuilletonistischen Schreibweisen bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. Diese entwickeln sich im Einklang mit Publikumsinteressen und Blattlinien, bedienen Gattungserwartungen oder entwerfen sich entlang literarästhetischer Strömungen und Moden immer wieder neu. Unter dem Eindruck der ästhetischen (und politischen) Konzepte der neuen Sachlichkeit, die ihrerseits einer allgemeinen Tendenz moderner Kunst folgt, Subjektzentrierung zugunsten von Objektivierungen aufzulösen, gerät gerade die Figur des gemächlich und scheinbar ziellos flanierenden Beobachters, der die Stadt liest, in Verruf. So bezeichnet etwa Franz Hessel in seiner 1929 erschienenen Feuilletonanthologie Spazieren in Berlin das Flanieren zwar noch als einen Akt der »Lektüre der Straße, wobei Menschengesichter, Auslagen, Schaufenster, Caf8terrassen, Bahnen, Autos, Bäume zu lauter gleichberechtigten Buchstaben werden, die zusammen Worte, Sätze und Seiten eines immer neuen Buches ergeben«.45 Sein Flaneur, der »[l]angsam durch belebte Straßen« gehend ein »Bad in der Brandung« der Geschäftigen nehmen möchte, wird jedoch zum Verdächtigen.46 Der »Zeitlupenblick des harmlosen Zuschauers«, der sich auf den segelnden Schultern und 41 Zur Verwandtschaft von Flanerie und Feuilletonismus vgl. Walter Benjamin: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. In: W. B.: Gesammelte Schriften. Bd. I.2. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973 (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 931), S. 509–653, hier S. 620. 42 Voss, Die Rückseite der Flanerie, S. 38. 43 Vgl. Benjamin, Paris, S. 54. 44 Zum Begriff vgl. Oesterle, Skizze einer Kulturpoetik, S. 236. 45 Franz Hessel: Berlins Boulevard. In: F. H.: Spazieren in Berlin. Berlin: Berlin Verlag 2012, S. 156–165, hier S. 156. 46 Vgl. Franz Hessel: Der Verdächtige. In: H., Spazieren in Berlin, S. 23–27, hier S. 27.
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schwebenden Wangen der »hurtigen, straffen Großstadtmädchen« niederlassen möchte, wird von diesen als voyeuristisch empfunden. Sein Blick in die Kniekehlen spielender Mädchen wird von umstehenden Erwachsenen als Blick des Pädophilen missdeutet.47 – Auch der Berliner Feuilletonist Victor Auburtin, der am 6. Mai 1923 im Feuilleton des Prager Tagblattes einen Text mit dem Titel Wiener Spaziergänge veröffentlicht, erkennt, dass die feuilletonistische Figur des Flaneurs zu einem konventionalisierten Sinnbildungsmuster erstarrt ist. Ganz in der Tradition der literarischen Wien-Flaneure bewegt sich Auburtins Spaziergänger im Text durch Wiens Stadtlandschaft, die sich ihm, dem Sehenden, als aisthetische, dem Kenner der langen Geschichte der kleinen Form jedoch als Reminiszenz erschließt. So sinnt der Flaneur im Park des Schlosses Belvedere beim Anblick der marmornen Sphinxen über die Schönheit der Wienerinnen, über deren »glatte Stirnen und lange, manchmal etwas schiefe Augen und umfangreiche Brüste«, denkt im Volksgarten an die Beine von vierzehnjährigen Mädchen. Die spezifische Richtung und auch das Anzügliche seines Blicks jedoch stellt der Spaziergänger am Ende seines Textes explizit als Resultat einer Lektüreerfahrung aus, habe er sich doch auf seinen Wien-Aufenthalt durch die Lektüre der Prosaskizzen Peter Altenbergs einstimmen wollen. Und so habe »die Reise mit einer Enttäuschung begonnen, denn ach«, so Auburtin, »man kann ihn [Altenberg] nicht mehr vertragen. Alles ist kraftlos: die berühmte lässige Grazie ist Weitschweifigkeit geworden, und was uns damals als unmittelbares Fließen eines Lebens erschien, das sieht jetzt verdammt nach Affektation aus.«48 Der Flaneur liest damit nicht nur die Zeichen der Stadt, sondern gelangt zum Bewusstsein seiner selbst als literarische Figur, deren Geschichte er jedoch an ein Ende gekommen sieht. Wenn er sich im Text einem Zug demonstrierender Arbeiter anschließt, so wird der Spaziergänger vom unbeteiligten Beobachter zum Akteur im politischen Geschehen. Er verabschiedet damit den Benjamin’schen Flaneur ebenso wie dessen zahlreiche Ausformungen in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Die Stadt bleibt jedoch nach wie vor Gegenstand sowie Referenzpunkt seiner literarisch-journalistischen Auseinandersetzung.
IV. Bereits 1906, im Todesjahr des Wiener Feuilletonisten und ›Großkritikers‹ Ludwig Speidel, verabschiedet Alfred Polgar das Wiener Feuilleton, diese »Sorte dünnster Literatur«, die »sofort im Gehirn [verdunste], auf das man es schüt-
47 Ebd. S. 24. 48 Vgl. Victor Auburtin: Wiener Spaziergänge. In: Prager Tagblatt, 6. 5. 1923, S. 5.
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tet«.49 Für das Feuilleton selbst tritt Polgar nichtsdestotrotz in dem kurzen Aufsatz Die kleine Form ein, den er seiner Sammlung Orchester von oben quasi als Vorwort voranstellt. Nicht »mit sehr großen Worten«50, hierzu fehle »das nötige Pathos«51, aber doch in der Form eines kleinen ästhetischen Manifests klagt er den Rang des Feuilletons innerhalb des Kanons der modernen Literatur ein. Die Wahl der kleinen Form nämlich sei nicht zwingend »ein Not-Effekt des kurzen Atems«52 ihres Autors. Vielmehr sei diese »der Spannung und dem Bedürfnis der Zeit gemäß«53, episodische Kürze der Rolle angemessen, »die heute der Schriftstellerei«54 zukomme. »Das Leben ist zu kurz für lange Literatur, zu flüchtig für verweilendes Schildern und Betrachten, […] zu rasch verfallen der Gärung und Zersetzung, als daß es sich in langen und breiten Büchern lang und breit bewahren ließe«55, pariert Polgar indirekt eine Invektive Thomas Manns gegen den »lyrischen Journalismus« Peter Altenbergs.56 Die Auflösung des Koordinatensystems des physikalischen, leiblichen, sozialen, moralischen und zeitlichen Raums – eine der zentralen Erfahrungen der Moderne – findet Polgar zufolge nur noch in der kleinen Form ihre ästhetische Entsprechung. Ein großes Beben rüttelt die geistige Welt, wirft um, was steht, versenkt das sicher Gegründete, treibt neuen Erdengrund hoch: wie vermessen, auf solchem Boden schwer und massiv zu bauen! Ewigkeiten erweisen sich als zeitlich, die solidesten Götter als Götzen, alle Anker sind gelichtet, kein Mensch weiß, wohin die Reise geht, aber daß sie geht und wie sausend rasch sie geht, spüren wir am Schwindel: wer wollte da mit überflüssigem Gepäck beladen sein? Ballast ist auszuwerfen – […] kürzeste Linie von Punkt zu Punkt heißt das Gebot der fliehenden Stunde. Auch das ästhetische.57
Diesem ästhetischen Gebot willfährt Polgar selbst in allen seinen feuilletonistischen Texten. Der ›Meister der kleinen Form‹, wie ihn die Kritik nennt, gleichzeitig ein Meister der Reduktion, entwirft seine Bilder der Gegenwart nicht in ausschweifenden Erzählungen und Schilderungen, er bietet auch keine letztgültigen Interpretationen des Beobachteten. Die ästhetische Wirkung, aber auch 49 Vgl. Alfred Polgar : Das Wiener Feuilleton. In: A. P.: Kleine Schriften. Hrsg. von Marcel ReichRanitzki in Zusammenarbeit mit Ulrich Weinzierl. Bd. 4: Literatur, S. 200–205, hier S. 201. [Erstveröffentlichung in: Der Weg 1 (1906), S. 11–14.] (In der Folge im Text unter der Sigle ›KS‹ sowie mit Band- und Seitenzahl zitiert.) 50 Alfred Polgar : Die kleine Form (quasi ein Vorwort). In: Alfred Polgar : Orchester von oben. Berlin: Rowohlt 1926, S. 9–13, hier S. 9. 51 Ebd. 52 Ebd. S. 11. 53 Ebd. 54 Ebd. S. 12. 55 Ebd. S. 12. 56 Polgar selbst gab 1925 eine als Nachlaß betitelte Sammlung von Texten Peter Altenbergs heraus. Vgl. Der Nachlaß von Peter Altenberg. Zusammengestellt von Alfred Polgar. Berlin: S. Fischer 1925. 57 Polgar, Die kleine Form, S. 13.
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die Erkenntnisleistung seiner Texte dankt sich vielmehr einer ›Verdichtung‹, die etwa durch die semantische Aufladung einzelner Wörter, aber auch durch das Nebeneinanderordnen einer Vielzahl von vordergründig nicht zusammengehörenden semantischen Feldern entsteht. Der Autor bediene sich – so Robert Musil in seiner Besprechung von Polgars Band An den Rand geschrieben – der Technik der Simultaneität, indem er still nebeneinandersetze, »was im Leben vereint [sei], aber sich gar nicht [vertrage], sobald die atmosphärische Soße der Gewohnheit davon genommen«58 werde. Deutlich wird Polgars ›Montagetechnik‹ etwa in seinem Antikriegsfeuilleton Theaterabend 1915, das eben 1915 in der Schaubühne zuerst erscheint und in dem Polgar zwei Wirklichkeitsebenen ineinander verschränkt, die der Schützengräben und die eines in seiner selbstinszenatorischen Routine verharrenden Theaterpublikums, das sich »[h]undert Milliarden Meilen«59 von diesem Krieg entfernt dünkt. Bilder von kostbar geschmückten Frauen in »zärtlich angeschmiegten Schuhen« (KS 1/3) vermischen sich im Text mit Bildern von in Erdlöchern hockenden verlausten und nach Urin stinkenden Soldaten. Dabei entsteht der Bedeutungsraum des Krieges assoziativ aus den Impressionen eines Theaterbesuchers, in dessen Sätze über das Geschehen im Theater Bilder von Gewalt und Tod förmlich eindringen. »Das Parterre sitzt wohlgeordnet, in den ersten Reihen der Ränge liegt es wie Linien abgeschlagener Köpfe hinter der samtenen Brüstung« (KS 1/3f.), heißt es im Text. Die Kritik am Krieg bzw. an dessen Verdrängung rückt damit nach und nach ins Zentrum des Textes, ohne dass sie jemals explizit geäußert würde. Kritik an sozialen Schieflagen, an der Willkür einer voreingenommenen Gerichtsbarkeit, an bürgerlicher Doppelmoral und immer wieder an der verlogenen Glorifizierung des Ersten Weltkriegs äußert sich in Polgars Feuilletons tatsächlich meist implizit. Der »Oberste der Saboteure«60, wie Walter Benjamin den Autor nennt, unterläuft herkömmliche Ordnungen subtil, durch ironische Brechung, durch Konzentration auf das scheinbar Nebensächliche eines Geschehens, durch ein Spiel mit Perspektiven, mitunter auch durch Wortspiele. Vor dem Denkmal für den Unbekannten Soldaten unter dem Pariser Triumphbogen reflektiert er etwa über eine Korrektur der Inschrift »Mort pour la patrie« in »Mort par la patrie«.61 In der siebenzeiligen Skizze mit dem Titel Soziale Unordnung wiederum lässt er einen zum Tode Verurteilten auf die Frage, »Was wünschen Sie zum Abendbrot? […] Sie dürfen essen und trinken, was und 58 Robert Musil: Interview mit Alfred Polgar. In: R. M.: Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden. Hrsg. von Adolf Fris8. Hamburg: Rowohlt 1955, S. 750–755, hier S. 753. 59 Alfred Polgar : Theaterabend 1915. In: P., Kleine Schriften. Bd. 1: Musterung, S. 3–6, hier S. 5. [Erstveröffentlichung in: Die Schaubühne, 7. 1. 1915, S. 19–22.] 60 Walter Benjamin: Hinterland. In: Die literarische Welt V (1929), Nr. 40, S. 5. 61 Alfred Polgar : Der unbekannte Soldat. In: P., Kleine Schriften. Bd. 1, S. 90–93, hier S. 92. [Erstveröffentlichung in: Das Tage-Buch, 25. 10. 1924, S. 1510–1511.]
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wieviel sie wollen«, antworten: »Schade!! Wenn Sie mich das drei Monate früher gefragt hätten, wär’ der ganze Raubmord nicht passiert.«62 Den Selbstmord einer Sechzehnjährigen, »die vom Pfade ihrer vorbestimmten Entwicklung«63 zur Dienstbotin oder Abortfrau abweichen wollte, der jedoch die Genehmigung, als Prostituierte zu arbeiten, verweigert wurde, kommentiert Polgar ironisch: »Mit vierzehn dürfen sie in die Fabrik, mit siebzehn erst bekommen sie das Prostitutions-, mit zwanzig das Wahlrecht.« (KS 1/355f.) Polgars Verhandlung der Metropolen Wien, Berlin, Paris oder New York ist vor allem eine Verhandlung jener Phänomene, die für ihn »in ihrer Summe das neue Großstadt-Gefühl ergeben«64. Wie in den zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Abhandlungen erscheinen die Großstädte in Polgars Texten als Knotenpunkte der Moderne, an denen Waren-, Verkehrs- und Informationsströme zusammenlaufen und sich metropolitane Diskurse von Politik, Justiz und Verwaltung, von Religion, Sexualität und Kultur ausbilden.65 Soziale Ungleichheiten, das Elend und der Hunger in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, aber auch die Zeichen einer zunehmenden Mediatisierung der Lebenswelt gehören etwa der Großstadt Wien als Attribute an. Im Feuilleton mit dem Titel Plakate beispielsweise, das Polgar im Dezember 1918 nach Ausrufung der Republik im Prager Tagblatt veröffentlicht und das er noch 1929 in seine Feuilleton-Anthologie Hinterland aufnimmt, schickt er einen »Straßenwandler«66 durch die Wiener Innenstadt, der wie sein Vorläufer, der Benjamin’sche Flaneur, die Stadt in ihrer Zeichenhaftigkeit wahrnimmt. Seine Aufmerksamkeit gilt dabei im Besonderen den Kommunikationsmitteln, die die politische Kultur in der Ersten Republik kennzeichnen. »Die Republik brachte einen gewaltigen Aufschwung des politischen Plakats«, konstatiert der Text. »Die Säulen des neuen Regimes sind Litfaßsäulen.« (KS 1/57) Doch nicht nur auf diesen affichieren die politischen Akteure. Auch von »Häuserwänden und Planken schreit es, droht, ermuntert, fordert, warnt, teilt mit, beschwört. […] ›Bürger!‹, ruft es rechts, ›Arbeiter!‹ links, ›Soldaten!‹ oben, ›Arbeitslose!‹ unten, ›Juden!‹ zwischendurch, ›Gagisten!‹, ›Heimkehrer!‹, ›Frauen!‹.« (KS 1/57)67
62 Alfred Polgar : Soziale Unordnung. In: P., Kleine Schriften. Bd, 1, S. 275. 63 Alfred Polgar : Eine Sechzehnjährige. In: P., Kleine Schriften. Bd. 1, S. 355–357, hier S. 356. [Erstveröffentlichung unter dem Sammeltitel Zwei Kriminalfälle und ein dritter als Epilog in: Das Tage-Buch, 5. 4. 1924, S. 451–454.] 64 Evelyn Polt-Heinzl: Alfred Polgar, in: https://litkult1920er.aau.at/portraets/polgar-alfred/ (Zugriff 11. 11. 2018). 65 Vgl. dazu auch Klaus R. Scherpe: Zur Einführung – Die Großstadt aktuell und historisch. In: Scherpe (Hg.), Die Unwirklichkeit der Städte, S. 7–13, hier S. 8. 66 Alfred Polgar : Plakate. In: P., Kleine Schriften. Bd. 1, S. 56–58, hier S. 57. [Erstveröffentlichung unter dem Titel Das politische Plakat in: Prager Tagblatt, 8. 12. 1918, S. 2.] 67 Hervorhebung durch die Verfasserin.
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Über die plakatierten Botschaften schweigt Polgars Spaziergänger. Er registriert vornehmlich die sinnlichen Effekte, die die spezifische Mediatisierung politischer Kultur ab 1918 zeitigt. So schlägt ihm das Plakatierte in »Wellen dringlicher Druckerschwärze« entgegen oder präsentiert sich ihm akustisch. Wie »angeklebte Trompetenstöße: kurz, signalhaft« (KS 1/57) seien manche der Plakate, die die neue Zeit künden. Die affichierten Aussagen selbst erstarren in ihrer Visualisierung auf dem Plakat zu einem »gefrorene[n] Wasserfall politischer Rhetorik«, der »über allen Mauern« hängt und sich nur noch als Farbeindruck – »regenbogenfarbig schillernd« – oder in seinen illokutionären Dimensionen – als Schreien, Drohen, Fordern, Warnen oder Beschwören – mitteilt. (KS 1/57) Auch die politischen Aussagesubjekte, die auf Unterscheidbarkeit ihrer auf kleine, große, weiße, ockergelbe oder rosarote Plakate (vgl. KS 1/58) gedruckten Botschaften abheben, gerinnen im Text zu einem undifferenzierten »es«, das von den die Plakate Lesenden jedoch »vieles« verlangt: »Sie sollen trauen und sollen mißtrauen, sie sollen dies tun und dies nicht tun, sie sollen dahin gehen und dorthin gehen. Es ist ein recht papierenes Gedränge um die Armen.« (KS 1/58) Die Plakate lassen die Straßen der Stadt »zur vertikal ausgespannten Zeitung« (KS 1/58) werden. »Wer täglich etwa die Herrengasse liest, bekommt kalte Füße, ist aber auf dem laufenden« (KS 1/58), heißt es im Text. Dem Beobachter erschließt sich das Zeitgeschehen jedoch nicht aus dem Medium des Plakats, sondern vielmehr aus den Mienen der die Plakate Lesenden, in denen die ›eigentlichen‹ Botschaften der neuen Republik geschrieben stehen: »Hunger, Apathie, Schwermut, Schwerunmut« (KS 1/58). Der Prozess der Mediatisierung, im Zuge dessen sich der öffentliche Raum der Großstadt zum Textraum wandelt, erfasst auch den Körperraum der sich darin Bewegenden und löst die Grenzen zwischen dem kollektiv genutzten Medium und dem das Medium nutzenden Kollektiv, aber auch zwischen diesem und der Botschaft auf. »Sie sind selbst Plakate, die vor den Plakaten«, schreibt Polgar. »Sie sind selbst Aufruf, Warnung, Bitte, Todes-Drohung, die Aufgerufenen, Gewarnten, Gebetenen, Tod-Bedrohten.« (KS 1/57) In seinem Feuilleton Die großen Boulevards aus dem Jahr 1924 wiederum stellt Polgar die Großstadt Paris als paradigmatischen Ort der Moderne dar, an dem sich metropolitane Lebensformen und Wahrnehmungsweisen verdichten. Die Botschaft des Textes erhellt dabei bereits aus dem Eingangssatz, der dem Feuilleton quasi als Motto vorangestellt ist. »Eins, zwei, drei, im Sauseschritt [/] läuft die Zeit …«68, zitiert Polgar eineinhalb Verse aus Wilhelm Buschs Bilder68 Alfred Polgar : Die großen Boulevards. In: P., Kleine Schriften. Bd. 2: Kreislauf, S. 185–188, hier S. 185. [Erstveröffentlichung in: Der Tag, 12. 10. 1924, S. 3.] Robert Musil stellt Polgars Texte in eine direkte Beziehung zu denen Wilhelm Buschs, wenn er meint, seit Busch habe
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geschichte Julchen aus dem Jahr 1877, Verse, die er am Ende des Textes vervollständigt, wenn es heißt: »Im Sauseschritt [/] läuft die Zeit, Paris läuft mit.« (KS 2/188) Die »Bewegung ohne Ende« (KS 2/188) kennzeichnet jedoch nicht nur die Metropole Paris, sondern ist auch ästhetisches Programm des ca. dreiseitigen Textes. Denn zwischen den beiden Rahmensätzen entwirft Polgar in einem Satz, der lediglich durch Kommata und einzelne direkte Reden strukturiert wird und in dem der Autor Anleihen bei der dadaistischen Collage ebenso nimmt, wie er in den Beschreibungen des großstädtischen Raums als Ort der modernen Technik futuristische Stilelemente zitiert, die Großstadt als nicht stillzustellendes ZeitRaum-Gefüge. Die in Wilhelm Buschs gemächlicher Aufzählung »eins, zwei drei« noch insinuierte Chronologie der Ereignisse hat sich in Polgars Paris längst aufgelöst. In der »kochenden, brodelnden Großstadtmasse« (KS 2/186), im »Menschengewimmel, Wagengewimmel, in Fäden aufgelöst, zu Knäueln geballt« (KS 2/186), in »Lärm, Licht, Fülle« (KS 2/188) ist immer alles gleichzeitig gegeben. Die unterschiedlichen Rhythmen und Teleologien der die Stadt bevölkernden Menschen und auch der zahlreichen Dinge, die in Polgars Text jeweils zu handlungsmächtigen Aktanten werden, lassen im Stadtraum unterschiedliche Zeitlichkeiten entstehen. »Tag endet, Tag beginnt schon wieder«, meint der Beobachter des Großstadttreibens über die gleichzeitige Anwesenheit von »Smokings«, die nach dem Ende der Oper »in Rudeln […] schwarz-weiß über den Platz« strömen und den Tag ausklingen lassen, und von »Gemüsewagen«, deren Anrücken den Beginn des neuen Arbeitstages indiziert. (KS 2/188) Doch auch große historische Zeitabstände werden überwunden. So »quetscht« mit den Menschenmassen, die sich durch den »schon ein Vierteljahrtausend« alten Triumphbogen drängen, »das Heute sich durch das Gestern«. (KS 2/187f.) In dem Maße, in dem der Text Zeit verdichtet, erweitert er die Großstadt Paris zum globalisierten Raum, in dem sich das Weltgeschehen konzentriert. Auf »gewaltiger Affiche« zeigt der amerikanische Schauspieler Douglas Fairbanks »sein herrliches Gebiß, jeder Zahn ein paar Dezimeter hoch«, (KS 2/186) während Leuchtschriften berichten, »daß Monsieur Doumergue eine Rede gehalten hat, daß es morgen regnen wird, daß in Mexiko … daß in China … und noch andere Dinge aus der fernen Welt, die nirgendwo näher liegt als bei Paris« (KS 2/186). Polgar evoziert die Großstadt als Raum, in dem sich akustische, visuelle und sprachliche Sinneseindrücke amalgamieren. Das Grölen der Automobile vermischt sich mit den Stimmen der Zeitungsverkäufer, die die Namen der großen Tageszeitungen rufen, »vom Zeitungshaus schmettert der Radiotrichter Musik« (KS 2/186). »Schrift und Zeichen glühen von Dächern und Mauern, feurige Pfeile, Sterne, Räder, Trompetenstöße ins Auge« (KS 2/185). Polgar schichtet, niemand die Misere der Dinge »so boshaft freundlich« beschrieben wie Polgar. – Musil, Interview, S. 753.
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häuft, wälzt und schiebt69 Begriffe, Bilder, Perspektiven. Er montiert Plakattexte, Leuchtreklamen, Werbeslogans, Zeitungsschlagzeilen, Flüche von Automobilisten oder Gesprächsfetzen von Passantinnen und Passanten zu einer epischen Collage und macht die Metropole Paris über die Vielzahl ihrer räumlichen, zeitlichen und sensorischen Dimensionen lesbar. Wie fünf Jahre später in Döblins Roman Berlin Alexanderplatz ist auch in Polgars Feuilleton die Großstadt nicht nur Schauplatz, sie ist – wie die Objekte und Phänomene, die sie erst als Großstadt konstituieren – auch Akteurin. In der Übertragung der Handlungsmacht an die Objekte löst sich die dichotome und hierarchische Subjekt-ObjektStruktur ebenso auf, wie die Vorstellung einer von Menschen gemachten ›Stadtkultur‹, die ihre Konzepte in die passive Oberfläche der ›Natur‹ einschreibe,70 obsolet wird. Polgar belegt vielmehr die handlungsmächtigen Objekte mit Bildern des Lebendigen und Naturhaften. So stürzt die Stadt »durch das breite Bett der Straße […] Welle auf Welle« (KS 2/185). Und auch die Straße, die »so viel bewegt, scheint selbst in Bewegung« (KS 2/185f.). Sie wird zur »Riesenschlange, hingewunden über Kilometer, Lebendiges, mehr als sie fassen kann, schlingend, schluckend, würgend« (KS 2/187). Als sich windenden Wurm, der sich streckt und wieder zusammenzieht, beschreibt Polgar wiederum die sich auf der Straße dahinwälzende »tausendgliedrige Autokette«. Die ›Natur‹ selbst erscheint dagegen im technisierten und mechanisierten Raum der Großstadt als Maschine. So werden etwa die Gemüsewagen von »seltsam fremdartigen, langsamen, schweren Maschinen gezogen, sogenannten Pferden« (KS 2/186). Wie für Robert Musil oder Georg Simmel resultiert auch für Polgar die moderne Großstadt aus der instabilen Versammlung der Attribute urbaner Existenz selbst: aus Bewegung und Rhythmus, Beschleunigung und Verlangsamung, Progression und Digression, aus der Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem, aus dem Nebeneinander von Narrativen, Interessen und Teleologien. Die Vorstellung von einer universellen Moderne und damit einhergehend der Universalität ihres paradigmatischen Ortes, der Großstadt, zu dem sich, folgt man Georg Simmel, jeder Ort und jedes Konzept relational verhalte, relativiert Polgar jedoch. Denn aus dem All betrachtet, erscheint der hellerleuchtete Pariser Boulevard wie »ein Ritzerchen nur auf dem Stern Erde, der mit Milliarden anderen um die Sonne kreist, die mit Milliarden anderen Sonnen im Weltraum kreist, der wahr-
69 Das Prinzip des »Schichtens, Häufens, Wälzens und Schiebens« soll Alfred Döblin zufolge im avantgardistischen Roman an die Stelle des psychologisierenden Erzählens traditioneller Prosa treten. Vgl. Alfred Döblin: Bemerkungen zum Roman [1917]. In: A. D.: Schriften zur Ästhetik, Poetik und Literatur. Frankfurt/M.: S. Fischer 2013, S. 122–126, hier S. 124. 70 Vgl. dazu Karen Barad: Agentieller Realismus. Über die Bedeutung materiell-diskursiver Praktiken. Berlin: Suhrkamp 2012 (= edition unseld, Bd. 45), S. 97.
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scheinlich auch um etwas kreist, ein winziges Ritzerchen nur auf dem Stern Erde, eine haarfeine Linie« (KS 2/188).
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»Pflichtbewußte Tagesschriftsteller« im Wien um 1918: Zu den Reportagen Else Feldmanns und Bruno Freis im Abend
Aus der Umbruchsphase der Jahre 1918/19 resultierte nicht nur eine völlige Neuordnung der europäischen Staatenwelt, sie steht auch für ein Momentum zumindest seit 1848 nicht mehr dagewesener Revolutionssehnsucht. Denn auch in Wien, für subversives Treiben im europäischen Vergleich tendenziell unverdächtig, träumten nicht wenige von einem Umbruch, wie ihn Moskau, aber in unmittelbarer Nähe auch Budapest und München erlebten. Viele (Tages-)Schriftsteller formulierten in jenen Tagen (gesellschafts-)politische Utopien, die, wie jüngst Norbert Christian Wolf nachgezeichnet hat, vor allem in »(sub-)literarischen Genres«1 wie Tagebucheinträgen, Reportagen, Feuilletons, Anekdoten und Polemiken im Massenmedium Zeitung skizziert wurden. Andere nahmen sich in den Krisenjahren um 1918 hingegen weniger den heroischen wie unerreichbaren politischen Projekten als vielmehr den sozialen Realitäten auf dem urbanen Schauplatz an. Ihr häufig nicht minder politisch motiviertes Engagement ist, zumal in Zeiten der Vorzensur während des Krieges sowie neu zu verhandelnder urbaner wie nationaler Identitätsentwürfe, lebhaftes Abbild für Facetten der Presselandschaft und dahinterstehender ideologischer Debatten. Exemplarisch hervorgehoben werden soll im Folgenden die Tageszeitung Der Abend, für die Bruno Frei und Else Feldmann an frühen Punkten ihrer Laufbahn publizistisch in Erscheinung traten. Im Zentrum ihres Schaffens in diesen Jahren steht die Form der Reportage und damit jenes journalistisch-literarische Hybrid, das für die Zwischenkriegszeit zu einem ihrer epochentypischen Schlagworte werden sollte. Wie häufig übersehen wird, ist für die österreichische Hauptstadt allerdings spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und den Arbeiten Max Winters von einer, wie Wolfgang R. Langenbucher angeregt hat, »Wiener Schule des mo-
1 Norbert Christian Wolf: Revolution in Wien. Die literarische Intelligenz im politischen Umbruch 1918/19. Wien, Köln, Weimar : Böhlau 2018, S. 19.
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dernen Journalismus«2 zu sprechen, deren Bedeutung für das Feuilleton ebenso wie für die literarische Produktion von der Forschung bislang kaum beachtet wurde.3
»Zeitung, die den radikalsten Sozialismus predigte« Die Geschichte des Abend ist unstrittig mit dem Werdegang Bruno Freis verbunden. Hier wagte er erste journalistische Schritte, nach dem Zweiten Weltkrieg sorgte er am 25. Februar 1948 als Herausgeber, Eigentümer und Verleger in Personalunion für die vorübergehende, in der expliziten Kontinuität von Frei bald bereute Wiederauferstehung des Blattes, das im Februar 1934 eingestellt worden war. Das Revival sollte neun Jahre lang Bestand haben, auch wenn Frei von Beginn an ein »Klima des Hasses«, geschürt von der sozialdemokratischen Arbeiter-Zeitung, erlebte: Seit 1948 regierte ich aus einem schmalen, schlecht beleuchteten Raum, unterstützt von Walli, der Sekretärin, eine Kleinstredaktion von elf Personen, neun Männern und zwei Frauen. Mit einem täglich sich erneuernden Anlauf brachten wir eine Abendzeitung auf die Straße, die, obwohl boykottiert und schikaniert, die Wohlgesinnten beunruhigte, als wäre sie das Gewissen der Stadt. Ein Boulevardblatt für Kommunisten … […]. SPArbeiter, die den »Abend« lasen, mußten das im geheimen tun, wollten sie nicht von ihrer Partei gemaßregelt werden.4
Die Kritik der Arbeiter-Zeitung entzündete sich vordergründig an Korruptionsvorwürfen, die das Blatt in den Zwanzigerjahren erschüttert hatten.5 Zu diesem Zeitpunkt hatte Der Abend als eine Zeitung gegolten, die, so Felix Czeike, seit ihrer Gründung sowohl für die »Wiederkehr der lokalpolit[ischen] Sensationspresse« wie auch für den »Beginn der Boulevardpresse österr[eichischer] 2 Wolfgang R. Langenbucher (Hg.): Sensationen des Alltags. Meisterwerke des modernen Journalismus. Unter Mitarbeit von Hannes Haas, Fritz Hausjell und Gian-Luca Wallisch. München: Ölschläger 1992, S. 11. 3 Vgl. Hannes Haas: Empirischer Journalismus. Verfahren zur Erkundung gesellschaftlicher Wirklichkeit. Wien, Köln, Weimar : Böhlau 1999, S. 243–261, Evelyne Polt-Heinzl: Von Hasen, Huren und Müttern. Überlegungen zum Großstadtroman der Zwischenkriegszeit. In: Aneta Jachimowicz (Hg.): Gegen den Kanon – Literatur der Zwischenkriegszeit in Österreich. Frankfurt/M.: Peter Lang 2017 (= Warschauer Studien zur Kultur- und Literaturwissenschaft, Bd. 10), S. 347–365, hier S. 350–353. 4 Bruno Frei: Der Papiersäbel. Autobiographie. Frankfurt/M.: S. Fischer 1972, S. 280f. 5 So denunzierte 1925 eine anonym veröffentlichte Flugschrift mit dem Titel Ich klage an! Herausgeber Carl Colbert als »politischen Verwandlungskünstler« und als »Moraltrompeter von Wien«. Nachvollziehbar ist die jahrelange öffentliche Debatte in einem Konvolut von Zeitungsausschnitten im Wiener Tagblattarchiv in der Wienbibliothek im Rathaus. Exemplarisch siehe dazu: N.N.: Korruption und Reinigung. Die Vorgänge beim »Abend«. In: Arbeiter-Zeitung, 8. 2. 1926, S. 1.
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Prägung«6 stand und Leserscharen hinter sich vereinen konnte. Anfang der Zwanzigerjahre zählte Der Abend mit 100.000 Stück zu den auflagenstärksten Zeitungen Wiens und konnte so Blätter wie die Neue Freie Presse, das Neue Wiener Journal, das Neue Wiener Tagblatt und bis Mitte des Jahrzehnts auch die Arbeiter-Zeitung hinter sich lassen.7 In seiner publizistischen Positionierung aufschlussreicher sind hingegen die bewegten Anfangszeiten des Abend. Ins Leben gerufen wurde das Blatt am 14. Juni 1915 mit patriotisch-liberaler Ausrichtung, zunächst als Ergänzung zum Montagsblatt Der Morgen. »[W]as der ›Morgen‹ seinen Lesern jeden Montag bisher geboten hat und weiter bieten wird, sollen sie hier täglich auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens finden: den ehrlichen Ausdruck einer freien, von keiner weltlichen Rücksicht gebundenen Überzeugung.« Sich der Bedrohung durch die Zensur, die die »gradaus zielenden Worte« unmöglich machte, bewusst, versprach Herausgeber Carl Colbert ein gut geschriebenes Blatt, aufrichtigen Herzens deutsch und weltbürgerlich; in sozialen Fragen dem äußersten Fortschritt dienend; wo es Stärkere gibt, immer auf der Seite der Schwächeren; leere Schöngeisterei sorgfältig vermeidend, der ernsten Zeit mit Ernst dienend […].8
Tatsächlich stand Der Abend, bald deutlich linksliberal positioniert, in regelmäßigem Konflikt mit der Zensur, was zumindest beim jungen Bruno Frei die Begeisterung noch weiter steigerte. »In dem Maße, in dem die weißen Flecken des Zensors sich im ›Abend‹ ausdehnten, stieg dessen Popularität. Er war damals keine Zeitung, sondern eine Fanfare. Er hatte nicht Leser hinter sich, sondern eine Bewegung.«9 Auf wiederkehrende Streichungen und eine vierzehntägige behördliche Einstellung im Februar 1917 folgte am 18. März 1918 das Verbot des
6 Felix Czeike: Historisches Lexikon Wien. Bd. 1. Wien: Kremayr & Scheriau 1992, S. 3. 7 Vgl. Gabriele Melischek, Josef Seethaler : Auflagezahlen der Wiener Tageszeitungen 1895–1933 in quellenkritischer Betrachtung. Wien 2001 (= Arbeitsberichte der Kommission für historische Pressedokumentation, Nr. 1). Online verfügbar : https://www.oeaw.ac.at/fileadmin/In stitute/CMC/PDF/Publications/Research_Papers/KMK_Arbeitsbericht_No_1.pdf (Zugriff: 19. 7. 2019). 8 Alpheus [d.i. Carl Colbert]: Zum Beginn. In: Der Abend, 14. 6. 1915, S. 1. Auch Der Morgen berichtete ganzseitig über den Start des Abend und kündigte nicht nur »das billigste große Abendblatt Wiens« an, sondern auch die darin zu findende vertiefte Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Problemlagen: »Die Stiefkinder der Wiener bürgerlichen Presse, die sozialen Angelegenheiten, werden die Pflege finden, die ihrer fortwährend steigenden Wichtigkeit gebührt.« – In: Der Morgen, 14. 6. 1915, S. 8. 9 Bruno Frei: Carl Colbert. In: Die Weltbühne 25 (1929), Nr. 26, S. 964–968, hier S. 966. Vergleichbar im Ton, bezeichnete Frei den Abend als seine »geistige Nahrung« in Kriegstagen und damit »weniger entbehrlich als die Kriegsmarmelade auf dem Brot aus Mais«. Frei, Papiersäbel, S. 43.
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Blattes. Zwölf Wochen später kam es zum Start des Neuen Abend, nach eigenen Angaben gemäßigt im Ton, doch unverändert unerbittlich in der Aussage: So werden hoffentlich die Leser des »Neuen Abend« den alten nicht zu sehr vermissen, wenn wir auch die Verantwortlichkeiten nicht übersehen dürfen, die die geänderten Verhältnisse dem pflichtbewußten Tagesschriftsteller auferlegen. Im Ton und Inhalt wird zu vermeiden sein, was im März zu der Maßregel veranlaßte, die uns so schwer getroffen […]. Wir werden im »Neuen Abend« zu zeigen suchen, daß man die von der politischen Lage gebotenen Rücksichten beachten kann, ohne daß die Anliegen der Kreise, für die das Blatt eintritt, Einbuße erleiden müßten.10
Colbert, 1855 in Wien geboren, zunächst als Bankdirektor im mütterlichen Finanzhaus tätig und dafür, so Frei, auch später von linken Intellektuellen an den Rand gedrängt,11 war Gründer sowie streitbarer Herausgeber des Abend; seine Bekenntnisse wirkten programmatisch für das Blatt, Colbert selbst war trotz anhaltender persönlicher Distanz zur Arbeiterschaft ideelle Leitfigur. Frei erachtete den Herausgeber retrospektiv – wie auch sich selbst – in diesen Tagen als ›Gefühlssozialisten‹: In dieser Zeitung, die den radikalsten Sozialismus predigte, gab es einen einzigen Menschen, der an ihn glaubte: der Herausgeber. Carl Colberts Sozialismus war ein Gebilde seiner eigenen Phantasie, eine Mischung aus Mitleid mit den Armen und Wissen um die Geheimnisse des Geldes. Den Redakteuren wahrscheinlich, dem schwammigen Chef [Chefredakteur Alexander Weisz, Anm.] gewiß, war der Sozialismus nicht mehr als eine Schrulle des Alten. Er liebte ja auch Pferde und haßte Hunde.12
Colbert hatte bereits zuvor unter dem Pseudonym »Alpheus« Kolumnen für die Zeitschrift Die Wage sowie den Morgen verfasst, im Abend kommentierte er wöchentlich aktuelle soziale Krisenmomente. Mit einem Gleichnis reagierte er am 21. Mai 1917 auf die Verurteilung Friedrich Adlers nach der Ermordung des Ministerpräsidenten Karl Graf Stürgkh, d. h. Colbert zitierte – ohne ausdrücklichen Verweis auf Adler – die Geschichte der Kreuzigung Jesu aus dem Matthäus-Evangelium.13 Das sollte für Frei, 1897 in Pressburg geboren und in Kriegstagen Philosophiestudent in Wien, zum journalistischen Erweckungserlebnis werden: 10 N.N.: »Der Neue Abend«. In: Der Neue Abend, 10. 6. 1918, S. 3. Am 31. Oktober 1918 erfolgte die Rückkehr zum Titel Der Abend. 11 Vgl. Frei, Papiersäbel, S. 55. 12 Vgl. Ebd. S. 47f. In einem Nachruf sollte Frei Colberts Weg zum Sozialismus als »dilettantisch« bezeichnen, trotz der sozialkritischen Essays der Jahre zuvor entfesselt gar erst 62jährig durch die Rede Friedrich Adlers. »Vor der Tragik dieses Hasses kapitulierte Colbert. Er weinte einen Nachmittag hysterische Tränen – und wurde Sozialist, sofort revolutionärer Sozialist, der sich vom ersten Augenblick an gegen die offizielle Partei stellt.« –Frei, Carl Colbert, S. 966. 13 Vgl. Carl Colbert: Ecce-Homo. In: Der Abend, 21. 5. 1917, S. 3f.
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Das traf genau den damaligen Grad meiner seelischen Aufnahmefähigkeit und setzte frei, was an gestauter Tatenlust in mir war. Ich wollte an dem Wandel teilhaben, der sich – ich wußte es genau – vorbereitete. […] Und so ging ich zu Carl Colbert, dem Mann, der es gewagt hatte, die herannahende Revolution in der Sprache der Bergpredigt anzukündigen.14
Frei wurde gehört und durfte bleiben. Er übernahm knapp 20-jährig die Leitung der »Rat- und Auskunftsstelle« des Abend, wurde innerhalb der Redaktion als »Page und Günstling« durchaus kritisch beäugter Gefolgsmann Colberts und sollte fortan zwischen seiner »Zinskaserne«15 und der Cottagevilla des Herausgebers in Wien-Döbling leben, um bei Spaziergängen den Worten seines Förderers zu lauschen und ihn beim Schachspiel gewinnen zu lassen. Es war, wie Frei es selbst formulierte, für ihn als »hohlwangigen Jüngling« die Möglichkeit, »aus der Bedrücktheit des Armeleute-Zuhause auszubrechen«16 und als Reporter erste einschneidende Erfahrungen zu sammeln.
Die Reportage als aufrüttelndes »Panoptikum der Wirklichkeit« Die konsequente Thematisierung sozialer Gegensätze durch Berichte und Feuilletons – etwa in Artikelserien mit sprechenden Titeln wie »Denen der Krieg gut anschlägt« oder »Die ewig Blinden« – und anklagende Leitartikel waren kennzeichnend für die aufrüttelnde, nicht selten auch eigenwillige Stimme des Blattes innerhalb der Wiener Zeitungslandschaft. Es vermittelte, so Frei retrospektiv, in seiner Berichterstattung »ein eigenartig volksnahes Aufbegehren, gemischt aus Ärger über das teure Rindfleisch und die Sehnsucht nach Frieden«17. Das Leitmotiv »Wo es Stärkere gibt, immer auf der Seite der Schwächeren« wurde in Tagen der Republikgründung noch einmal programmatisch ins Zentrum gerückt: In diesen Zeiten, wo sich die Reihen zum Kampfe um die neue Gesellschaftsordnung schließen […]; in diesen Tagen, wo Meinungen nicht länger bloße Übungen des Geistes, sondern Schicksale der Menschheit geworden sind, heißt es klar und offen Farbe bekennen, wenn man sich berufen fühlt, führend oder beratend in den Gang der Ereignisse einzugreifen, an der Entwicklung der Dinge mitzuwirken.18
14 Frei, Papiersäbel, S. 44f. 15 Ebd. S. 46. 16 Bruno Frei: Das Jahr 1918. Unveröffentlichtes Manuskript aus dem Nachlass, undatiert. Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands, 20126/Q1, 8 S., hier S. 1. 17 Frei, Papiersäbel, S. 43. 18 N.N.: Die Richtlinien des »Abend«. In: Der Abend, 27. 11. 1918, S. 3.
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Die Tat, der man sich verschrieb, sollte politischer und keineswegs karitativer Art sein. Colbert berichtete in diesem Zusammenhang beispielhaft, vier blinden Kriegsinvaliden die Unterstützung in Form von Spendenaufrufen versagt zu haben. »Der ›Abend‹ will grundsätzlich nicht, daß seine Leser wohltun. Wohltun heißt in der Regel, denen die dazu verpflichtet wären, eine Last abnehmen. Das soll nicht sein. Es würde sonst gar bequem, Lasten abzuwälzen.«19 Die Ablehnung von Wohltat und mitleidiger Betrachtung wirkte auch auf die journalistischen Methoden. Das zitierte Ansinnen, »leere Schöngeisterei« zu vermeiden, betraf insbesondere das Feuilleton. Präsentiert wurden nicht virtuose Tagträume, sondern exemplarische Einzelfälle sozialer Ungleichheit, gepaart mit programmatischen Erklärungen; als Feindbild diente das kapitalistische System mit seinen Profiteuren. Colberts unter dem zynischen Titel »Sozialpolitische Wochenplaudereien« ›unter dem Strich‹ veröffentlichte Texte waren dabei bewusstes Spiel mit Rubrik, Lesererwartung und genretypischen Eigenschaften. Colbert betonte in einem Beitrag zudem den Wert investigativer Recherchen für soziale Erkenntnis: »Philosophen, die nach dem Sinn des Lebens forschen, sollten nach Favoriten kommen. Tiefe Quellen der Erkenntnis werden dort erschlossen.«20 Als ein solcher Forscher nach dem Sinn des Lebens sollte erwähnter Bruno Frei wirken. Er arbeitete für den Abend nicht nur als Ombudsmann, sondern reüssierte bald auch als Reporter. Seine Rolle als Ansprechpartner der Leser brachte ihn »zum erstenmal in Kontakt mit dem Leben. Ich fing an zu begreifen, daß es da nichts zu flicken gibt, und ich bemühte mich um ein Verständnis der Zusammenhänge zwischen der Unordnung in den Hinterhöfen und der Unordnung in der Gesellschaft«21. Frei war von seinem Herausgeber ausgesandt worden, um Lokalaugenscheine zu den Wohnverhältnissen in den Wiener Vorstädten anzufertigen. Diese fügten sich in das Programm des Abend ein, folgten aber auch der Tradition der Wohnungs-EnquÞte der Berliner Ortskrankenkasse der Kaufleute, Handelsleute und Apotheker.22 Anlässlich der Neuauflage des Handbuch[s] des Wohnungswesens des in Berlin lehrenden Ökonomen Rudolf Eberstadt strich Colbert gewissermaßen als Prätext zu Freis Reportagen den Einfluss des Wohnungselends auf die Kriminalitätsrate hervor. In Anknüpfung 19 C. [d.i. Carl Colbert]: Vier Blinde. In: Der Abend, 11. 5. 1917, S. 3. Später bezeichnete auch Bruno Frei die gegenwärtige soziale Fürsorge »als sehr häufig bloß eine neuzeitliche angestrichene Wohltätigkeitsg’schaftlhuberei«. – Bruno Frei: Männerheim. In: Der Abend, 24. 6. 1919, S. 3. 20 Alpheus [d.i. Carl Colbert]: Sozialpolitische Wochenplauderei. Herbstfahrten und Entdeckungsreisen. In: Der Neue Abend, 2. 10. 1918, S. 3f., hier S. 3. 21 Frei, Papiersäbel, S. 46f. 22 Vgl. Gesine Asmus (Hg.): Hinterhof, Keller und Mansarde. Einblicke in Berliner Wohnungselend 1901–1920. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1982.
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an die dem Text vorangestellte erste Strophe von Friedrich Nietzsches Gedicht Der Freigeist (»Die Krähen schrein/und ziehen schwirren flugs zur Stadt;/Bald wird es schnein,/weh, dem, der keine Heimat hat.«23) erkannte Colbert in der Auseinandersetzung mit der Wohnungsfrage gesellschaftliche Warnungen, »mit Feuerzeichen geschrieben«: Wahrlich, nicht daß sie so wenig zum Essen, sondern daß sie so wenig zum Atmen haben, ist die Hauptursache des Elends, und nicht vor der Nahrung, sondern vor den Wohnungen des Volkes müßten die Aktionäre der Gesellschaftsordnung Angst haben, wenn sie nicht vom Goldglanz völlig geblendet, ohne umzuschauen dem Abgrund entgegentanzten.24
Freis Reportagen nahmen sechs Wochen später am 20. Dezember 1917 mit dem Titel Wohnungen des Elends ihren Anfang und wiesen in einer ersten Phase als Paratext ein mahnendes Motto auf. Seine Reportagen würden »Bilder aus der Gegenwart« liefern, »welche die Sünden der Vergangenheit und die Aufgaben der Zukunft allen, die Zeichen zu deuten verstehen, vor Augen führen sollen«25. Bald sah sich Frei in seiner Funktion selbst in einer sozialen Verantwortung, die an das Selbstverständnis bedeutender zeitgenössischer Feuilletonisten wie Siegfried Kracauer, Alfred Polgar und Joseph Roth gemahnt, anhand vermeintlich unscheinbarer Oberflächenphänomene zur sozialen Diagnose zu gelangen: Dem Tagesschriftsteller, der mehr sein will als Protokollführer der Zeit, ist es aufgegeben, im Sturz eines Pferdes Mißwirtschaft in der Stadtverwaltung zu entdecken. […] Ich war von dem missionarischen Glauben erfüllt, die gesellschaftliche Funktion des Journalisten sei es, Kritik zu üben.26
Freis Reportagen wurden zwischen Dezember 1917 und Juli 1919 mit hoher Regelmäßigkeit wöchentlich im Abend, zunächst zwischen den Berichten und Feuilletons, später wie sonst Colberts Essays ›unter dem Strich‹ abgedruckt. Sollte die ab der zweiten Folge als Reihentitel eingesetzte Schlagzeile Ein Gang durch Wiener Elendswohnungen auf die Tätigkeit des Reporters und damit auch 23 Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Bd. 11: Nachgelassene Fragmente 1884–1885. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München [u. a.]: Deutscher Taschenbuchverlag 1988, S. 329. 24 C. [d.i. Carl Colbert]: Sozialpolitische Wochenplauderei. Die Heimatlosen. In: Der Abend, 7. 11. 1917, S. 3. 25 Bruno Frei: Wohnungen des Elends. Die Dunkelkammer. In: Der Abend, 20. 12. 1917, S. 3. 26 Frei, Papiersäbel, S. 99. Unübersehbar ist dabei nicht nur der Einfluss Colberts, der nicht nur als Auftraggeber fungiert, sondern auch dessen Netzwerk, namentlich die Freimaurerloge Die Bereitschaft um Rudolf Goldscheid und Julius Ofner, die prägend auf Frei wirken sollte, ohne ihn aus der engen Gefolgschaft zu Colbert zu lösen. Vgl. dazu Wolfgang Kos: Geschichten und Geschichte. Interview mit dem politischen Journalisten, Publizisten, Autor und Marxisten Bruno Frei. Ö1, 1. 3. 1979. Online verfügbar : https://www.mediathek.at/atom/ 04A52088-2C6-00007-00000548-04A49C64/ (Zugriff: 19. 7. 2019).
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auf die Erkenntnismöglichkeit des Lesers fokussieren, erfolgte eine das Untersuchungssubjekt in den Mittelpunkt stellende Reakzentuierung im Juni 1918; fortan erschienen Freis Arbeiten bis zu ihrem Abschluss unter der Überschrift Menschen im Elend. Betonte Frei später die vollständige Durchdringung des Untersuchungsobjekts mittels Analyse und Synthese als das Wesen der Reportage – »[D]ie Reportage ist ein Röntgenbild, oder, noch präziser ausgedrückt, ein Röntgen-Film«27 –, beschrieb er in seinen frühen Arbeiten wiederkehrend Einzelschicksale, um soziale Kontraste zwischen »Oben und Unten« hervorzustreichen. Dieser Modus kennzeichnet bereits den ersten Text, der das Tür-anTür-Dasein von moralisch fragwürdigem Reichtum und bitterster Armut offenlegt: Die präsentierte Wohnung befindet sich in unmittelbarer Nähe zum Schottenring und damit zum finanziellen Herzen der Stadt. »Jedem der ›leicht bemakelten‹ Börsenbesucher mit den schwer gefüllten Brieftaschen steht es frei, sich von den Tatsachen zu überzeugen«, so der einleitende Kommentar. Die Schilderung eines von einer Familie bewohnten, rund sieben Quadratmeter großen Raumes ohne Lichteinstrahlung schließt mit einer zynischen Bemerkung samt bedrohlichem Nachsatz: »Auf die Werte der Börsenpapiere allerdings ist die Anwesenheit von Menschen, die unter diesen Bedingungen ihr Dasein zu fristen gezwungen sind, glücklicherweise – Glück heißt hier wie immer ungestörter Genuß eigenen Besitzes – ohne Einfluß. Vorläufig noch nicht.«28 An anderer Stelle geht die erzählerische wie geografische Nachbarschaft von Wohlstand und Elend mit dem Vorwurf der Kulturlosigkeit der Wienerstadt einher. Dies wird durch den gewählten Ton noch einmal verstärkt, wenn der an zwei Stellen des Textes von der Zensur betroffene Reporter auf die fehlende Wasserversorgung in den Armenquartieren blickt: [W]ie einst allabendlich die Schönheiten des Orients zur gemeinsamen Tränkrinne, die Mägde mittelalterlich-poetischer Städtchen und noch heute die Weiberschaft ungarischer Steppendörfer zum Ortsbrunnen. [..] Ein Pußtenidyll anschließend an das vornehm-stolze Diplomatenviertel der Reichshaupt- und Residenzstadt.29
Sich als Sprachrohr der Stimmlosen inszenierend, verliert der Reporter Frei im Verlauf seiner Texte immer wieder die Zurückhaltung des sachlichen Berichterstatters. Beißender Spott als Ausdrucksform des Unmuts über Staat und Gesellschaft ist das Mittel der Anklage, so auch, wenn Frei im Februar 1919 über 27 Bruno Frei: Von Reportagen und Reportern. In: Der Gegenangriff 2 (1934), Nr. 42, S. 4. Abgedruckt in Erhard Schütz (Hg.): Reporter und Reportagen. Texte zur Theorie und Praxis der Reportage der zwanziger Jahre. Ein Lesebuch. Gießen: Achenbach 1974, S. 36–39, hier S. 36. 28 Frei, Dunkelkammer, S. 3. 29 Bruno Frei: Ein Gang durch Wiener Elendswohnungen. Erdberg. In: Der Abend, 1. 2. 1918, S. 3.
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einen Hungertoten inmitten von Wien berichtet: »Der freie Bürger einer demokratischen Republik machte von der nährwertlosen Freiheit des allgemein verbreiteten Hungerns einen etwas zu reichlichen Gebrauch; er verhungerte vollständig, sozusagen unwiderruflich.«30 Die Kritik am Kapitalismus, »einziges Allheilmittel« des sozialen Organismus, entwickelt Frei ebenfalls durch höhnische Beschreibung, sei doch die »Zeit des allgemeinen Menschenbetrugs gekommen«: Ihr Studenten, lasset eure reine Arbeit und werdet Schleichhändler […], ihr fremden Studentinnen, vertauscht eure einsame Kammer um den Preis eures Leibes mit dem behaglichen Bette eines zahlkräftigen Kavaliers, denn euer Wirken und Streben ist eitel Nichtigkeit und nur das Geld regiert die Welt.31
Der Hang zu Zynismus und Ironie lässt Frei den von Max Winter ausgetretenen Pfaden, der seine Schilderungen vom Leben Obdachloser bereits mit der Zuschreibung des »goldenen Wiener Herzens«32 konterkarierte, folgen. Auch Frei greift diesen Topos auf, wenn er Ausschnitte aus der »großen Symphonie der Barbarei«33 präsentiert. Diese Form der Darstellung lässt er schließlich durch einen vom Einzelfall zum Kommentar überleitenden Ausruf, die Reaktion des Publikums imaginierend, hinter sich: »Genug! Aufhören mit dem grausamen Spiel! schreit das wachgerüttelte Gewissen des Lesers.«34 Frei verfolgt zumindest vorgeblich die Strategie, als Reporter hinter das Ereignis zurückzutreten, wird ihm bei seinen Recherchen doch »neuerdings, schärfer denn je bewußt, daß nicht der Berichterstatter, der die Tatsachen bloß mitteilt, die so wirklich einsamen Gegensatzbilder malt, sondern das grausame Leben«35. Dennoch tritt häufig eine Erzählerinstanz auf, die mittels einer Rahmenerzählung jene Bedingungen darlegt, die die soziale Verortung des Einzelfalls erst ermöglichen, durch die Vermittlung von Fakten ebenso wie von Stimmungen. Großstadtskizze …. Zerbrochenes Häuschen im Liechtental. Im schäbigen Hof stolpert man über die rundgewaschenen Steine. Ein alter Mann sitzt da und genießt den Rauch, 30 Bruno Frei: Menschen im Elend. Zwischen Ybbsstraße und Franzensring. In: Der Abend, 24. 2. 1919, S. 3. 31 Bruno Frei: Menschen im Elend. Proletarier des Geistes. In: Der Abend, 23. 8. 1918, S. 4. 32 Vgl. Max Winter : Das goldene Wiener Herz. Berlin [u. a.]: Seemann 1905 (= GroßstadtDokumente, Bd. 11). Zu Winter einführend siehe Hannes Haas: Der k. u. k.-Muckracker Max Winter oder Über den Gestank der Tatsachen. In: Max Winter : Expeditionen ins dunkelste Wien. Meisterwerke der Sozialreportage. Hrsg. von Hannes Haas. Wien: Picus 32018, S. 14– 27. 33 Bruno Frei: Menschen im Elend. Menschenschutz. In: Der Abend, 1. 7. 1919, S. 4. 34 Frei, Ybbsstraße, S. 3. 35 Bruno Frei: Ein Gang durch Wiener Elendswohnungen. Der blinde Bettler von der Produktenbörse. In: Der Abend, 8. 2. 1918, S. 3f., hier S. 4.
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der vom Franz Josefsbahnhof herüberweht, als kühle Abendbrise. Man fühlt in der Enge den überall starrenden Schmutz am eigenen Körper kleben. Mit Widerwillen tritt man durch die niedere Türe ein. Elendswohnung im Elendshaus.36
Mitunter werden die Leser in der sprachlich-narrativen Realisierung aber auch selbst Teil der Recherchearbeit, durch den Einsatz kollektivierender Pronomen wie vor allem durch eine den Rezipienten an den Inhalt bindende Unmittelbarkeit des Geschilderten, wird er doch mit nur wenigen gedanklichen Schritten aus dem sicheren öffentlichen Raum in das bedrohliche Elendsquartier geführt. »Sollte man es für möglich halten? Wir sind wirklich im 9. Bezirk, in der gut bürgerlichen Türkenstraße, im Hause Nr. 25. Einst war es das Palais […]. Jetzt ist es ein Zinshaus, wie viele andere […].«37 Wie hier sind Freis Reportagen – auch als Authentizitätsmarker, der zum Nachvollzug einlädt – zuallermeist präzise verortet, bis hin zur Angabe von Straße und Hausnummer. Die exakte Platzierung des Individualschicksals am Wiener Tableau changiert zugleich mit seiner anonymisierenden Verallgemeinerung, die die Armut und soziale Ungleichheit zur Chiffre urbanen Lebens erhebt, etwa in Form des aus ökonomischen Bedarfslagen heraus zum Zinshaus verwandelten bürgerlichen Palais. Als Frei den 20. Wiener Gemeindebezirk unter der Überschrift Brigittenauer Idyll erschließt (»[D]ie Brigittenau ist sozusagen ein Massenablagerungsplatz für großstädtische Ausschussware, soll heißen: Menschenkinder.«), legt er dem Leser seinen journalistischen Zugang offen: Es sei ein »zappelndes Menschlein als Beispiel herausgegriffen aus vielen. Nicht seiner besonderen Tragik wegen, sondern seiner Alltäglichkeit und Allörtlichkeit zuliebe«38. In einem früheren Text, der das Schicksal in Armut lebender Kinder thematisiert, bricht die Klage den Bericht ab und ersetzt die Reflexion. »Wer raubt den Kindern die fröhliche Jugend, den Erwachsenen den aufrechten Kampf des Lebens, den Greisen den ruhigen Tod? Wer? Wer?«39 Dies sollte auch zu einer Reaktion Colberts führen: »Mein junger Freund Bruno Frei hat diese Wohnungen mit einer Sachlichkeit geschildert, deren Ruhe die hochaufflammende Entrüstung nur ungenügend verbirgt. Er ist noch jung; er fängt seine Wandrungen durch die Wohnungen des Elends erst an.«40 Der von Colbert angedeutete 36 Bruno Frei: Menschen im Elend. Das Stiefkind. In: Der Neue Abend, 30. 8. 1918, S. 4. 37 Bruno Frei: Ein Gang durch Wiener Elendswohnungen. Einst und jetzt. In: Der Abend, 11. 1. 1918, S. 3f., hier S. 3. 38 Bruno Frei: Menschen im Elend. Brigittenauer Idyll. In: Der Neue Abend, 28. 6. 1918, S. 3. Auch in der Folgewoche präsentiert Frei »[e]in kleines Bild aus dem großen Wien«. – B. F.: Menschen im Elend. Bettenlosigkeit. In: Der Neue Abend, 5. 7. 1918, S. 3. 39 Bruno Frei: Ein Gang durch Wiener Elendswohnungen. Aus dem Lande jenseits des Gürtels. II. In: Der Abend, 1. 3. 1918, S. 4. 40 Alpheus [d.i. Carl Colbert]: Sozialpolitische Wochenplauderei. Der häusliche Herd. In: Der Abend, 2. 3. 1918, S. 3f., hier S. 3.
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Grenzgang Freis zwischen nüchtern-sachlicher Beschreibung und jugendlicher Impulsivität verhindert Stellen der Reflexion des eigenen Tuns auch in den schmalen Spalten des Feuilletons nicht vollends, wiewohl auch Frei in seinen Memoiren nur ungern auf jene frühen Artikel zurückblickte, die er »mehr mit Temperament als mit Wissen«41 geschrieben hätte. Zum einen bekennt sich Frei selbst zur Abkehr von der journalistischen Zurückhaltung und gewissermaßen zum subversiven Aktivismus, wenn er sich in seinem erst dritten Text unmittelbar an den Leiter der Abteilung für Wohnungsfürsorge im Ende 1917 geschaffenen Ministerium für soziale Fürsorge wendet – mit Fällen, bei denen »der sachlichste Betrachter die Wissenschaft sein lässt«. Präsentiert wird ein Elendsquartier, das nicht nur Krankheit und Verrohung bringt, sondern kurz zuvor auch ein Opfer in Form eines dreijährigen Mädchens gefordert hat. »Das Bild dieser ›Wohnung‹ wird mit unter den Anklageschriften zu liegen haben, welche dieser Gesellschaft endgültig den Prozeß machen werden.«42 Zum anderen spricht sich Frei nicht nur implizit durch sein Werk, sondern auch explizit wiederholt für die anhaltende Thematisierung des Wohnungselends aus, programmatisch in einem späten Text, der die Not der Nachkriegszeit einfängt und betont, auch als Fingerzeig an andere Medien, »[d]aß Duldung Mitschuld heißt«: Es ist wie im Panoptikum. Dieses, meine Herrschaften, sind Heimkehrer, Arbeitslose, Invalide! Sie rümpfen die Nase, wenn Sie sie auf der Straße wilde Aufzüge veranstalten sehen, Sie nicken eifrig zustimmend mit dem frischgekämmten Kopf, wenn Sie zum Frühstück die Beweisführung Ihres Leibblattes lesen, das die Unmöglichkeit der Befriedigung ihrer Forderungen dartut. […] Es ist nützlich, meine Herrschaften, ungemein nützlich, zu Zeiten einen Blick in das Panoptikum der Wirklichkeit zu tun. Die Leitartikel lesen sich dann anders.43
In seinen Reportagen präsentierte Frei »Mosaikbilder«44 seiner Erfahrungen als Leiter der Rat- und Auskunftsstätte des Abend, parallel dazu lancierte er mit Die frohe Botschaft 1918/19 ein kurzlebiges Zeitschriftenprojekt und schrieb neben Max Brod, Martin Buber, Eugen Hoeflich und Otto Neurath für die von Siegfried Bernfeld verantwortete jüdische Zeitschrift Jerubbaal. Schwerpunkt seiner Arbeit blieben jedoch die Recherchen für den Abend, deren Erkenntnisse er im Herbst 1918 auch in einer vom Anzengruber-Verlag veröffentlichten Flugschrift mit dem Titel Wiener Wohnungselend versammelte. Die im Abend als »Teiler41 Frei, Papiersäbel, S. 47. 42 Bruno Frei: Ein Gang durch Wiener Elendswohnungen. Praterartisten. In: Der Abend, 4. 1. 1918, S. 3. 43 Bruno Frei: Menschen im Elend. Heimkehrer, Arbeitslose, Invalide. In: Der Abend, 21. 5. 1919, S. 3. 44 Bruno Frei: Menschen im Elend. Treue Diener ihrer Herren. In: Der Neue Abend, 16. 8. 1918, S. 4.
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gebnisse einer großangelegten Erhebung« angekündigte Darstellung erzählte die »Naturgeschichte von 70 Wohnungen im 2. und 20. Bezirke«45 weniger künstlerisch denn in Form penibler statistischer Analyse nach Belegzahlen, Raumgrößen und Mietpreisen, nach der Anzahl an Bettstellen, der Luftqualität und der Form der Beleuchtung. Nicht durch Aufwand von großem Glanzfeuerwerk, sondern durch die eiserne Kette von Ursache und Wirkung, durch unanfechtbare Tatsachendarstellungen, durch eindeutig sichere, lautes Zeugnis ablegende Zahlenschwarmlinien soll der hochmütige Gleichmut der verantwortlichen Klasse bekämpft und aufgerüttelt werden.46
Von der Strategie, auf die Macht der Zahlen zu setzen, rückte Frei jedoch bald wieder ab, er erkannte in den »[s]tatistische[n] Angaben […] wenig volkstümliche und daher zur Unwirksamkeit verurteilte Überzeugungsgründe«47. So folgten der vierzigseitigen Broschüre zwei weitere Publikationen – die nun wieder die Reportagen sowie im Zuge der Recherchen entstandenes Bildmaterial in den Fokus rückten. Es handelte sich um Werke der Amateurfotographen Anton und Hans Bock, die nach Vorbild der Berliner Wohnungserhebungen auf offener Straße und vor allem in den Elendsquartieren entstanden sind. Max Winter, mittlerweile Wiener Vizebürgermeister und Stadtrat für das Wohlfahrtswesen, verschickte sie weltweit im Bemühen, Hilfsleistungen für Wien einzuwerben. Bei den RezensentInnen hinterließen die Fotographien, die auch bei Lichtbildvorträgen eingesetzt wurden, nachhaltige Eindrücke.48 Frei resümierend: »Mögen sie einer zukünftigen Kulturgeschichte als Gegenstücke zu den denkwürdigen Modebildern der illustrierten Zeitschriften und zu den Plakaten der Wiener Animierlokale dienen.«49
45 Bruno Frei: Wiener Wohnungselend. In: Der Neue Abend, 25. 10. 1918, S. 4. 46 Bruno Frei: Wiener Wohnungselend. Wien, Leipzig: Anzengruber 1918 (= Flugschriften des »Abend«, Nr. 3), S. 4. 47 Bruno Frei: Jüdisches Elend in Wien. Bilder und Daten. Wien, Berlin: R. Löwit, S. 37. 48 Vgl. N.N.: »Jüdisches Elend in Wien.« In: Wiener Zeitung, 13. 8. 1920, S. 4. 49 Bruno Frei: Das Elend Wiens. Wien, Leipzig: Verlag der Wiener Graphischen Werkstätte, S. IX. Siehe dazu ausführlicher Martin Erian: Zwischen Voyeurismus und Engagement. Zur Wiener Sozialreportage des frühen 20. Jahrhunderts. In: Brigitte Hipfl/Anna Schober (Hgg.): Wir und die Anderen. Visuelle Kultur zwischen Aneignung und Ausgrenzung (im Druck), Josef Seiter : Wiener Elendsbilder. Das Album der Fotografen Anton und Hans Bock, des Journalisten Bruno Frei und des Oberleutnants Rudolf Frey. In: Werner Michael Schwarz, Margarethe Szeless, Lisa Wögenstein (Hgg.): Ganz unten. Die Entdeckung des Elends. Wien: Brandstätter 2007, S. 157–161.
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»Weint zu leicht«: Weibliche Autorschaft und problematische Maßstäbe Freis Reportagen sind in ihrer inhaltlichen wie auch journalistischen Marschrichtung kennzeichnend für die Berichterstattung des Abend. Gerade die Auseinandersetzung mit der Wohnsituation der Unterschicht, der neben Proletariern, Arbeitslosen, Kranken und Kriegsinvaliden auch die von Frei in besonderem Maße beachteten ostjüdischen Flüchtlinge angehörten, wurde dabei in den Mittelpunkt gerückt. Frei selbst reflektierte rund ein Jahr nach seinem ersten Beitrag sein Schaffen: Als ich die Streifzüge durch die Stätten des Elends noch nicht seit langem begonnen hatte und die rasende Flucht von Höllentalbegegnungen mich schier zu erdrücken drohte, senkte sich eine unendliche Trauer auf mich herab, die mir jede natürliche Freude und jeder Heiterkeit nahm. – Später erst lernte ich tiefer blicken und da erkannte ich die Zusammenhänge. Ursache und Wirkung im dunklen Wirrsal des Lebens plötzlich zu entdecken, hat immer etwas Erhabenes an sich. Ich begriff und das Begreifen gab mir Sicherheit wieder. Das Ganze der sozialen Frage ist in ihrem Teil – der Wohnungsfrage – enthalten.50
Folgerichtig waren Freis Beiträge nur ein Aspekt der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Implikationen problematischer Wohnverhältnisse sowie ihrem, wie zuvor zitiert, Gefahrenpotenzial für die »Aktionäre der Gesellschaftsordnung« (Colbert). Nicht zufällig bezeichnete der Herausgeber andere Reportagen des Abend als inhaltliche Weiterführung, namentlich jene Else Feldmanns. »Schildert uns Bruno Frei den Anfang, die Kellerwohnung, so berichtet uns Else Feldmann die Fortsetzung beim Jugendgericht.«51 Feldmann, 1884 in Wien geboren, hatte sich ihre ersten journalistischen Sporen bereits verdient, als sie im März 1916 erstmals für den Abend publizierte. Aus ärmlichen Verhältnissen stammend, hatte sie ab 1908 wiederholt Texte in der Zeitschrift Die Zeit veröffentlicht, als Feuilletonistin und Erzählerin einen Namen machte sie sich in Diensten der Arbeiter-Zeitung ab 1922/23.52 Rund fünfzig Beiträge verfasste sie bis Mitte 1918 für den Abend. An diese knüpfte sie in ihren Arbeiten für den Morgen sowie vor allem für das Neue Wiener Journal an, für das sie sich
50 Bruno Frei: Wiener Wohnungselend. In: Der Abend, 6. 12. 1918, S. 4. 51 Alpheus, Herd, S. 4. 52 Zu Feldmann siehe grundlegend Elisabeth H. Debazi: Schreiben am Rand. Else Feldmann: Journalistin und Schriftstellerin im Wien der Zwischenkriegszeit. Klagenfurt, phil. Diss., 2017. Siehe auch E. H. D.: Else Feldmann. Online verfügbar : https://litkult1920er.aau.at/port raets/feldmann-else/ (Zugriff: 19. 7. 2019).
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zwischen November 1918 und Ende 1920 auch intensiv mit der Wohnungsfrage auseinandersetzte.53 Feldmanns Texte dieser Jahre wurden bislang kaum rezipiert,54 weisen jedoch deutlich in jene Richtung, der Feldmann publizistisch in den späteren Jahren folgen sollte. Und auch in ihrem persönlichen Werdegang nimmt die Tätigkeit für den Abend eine Schlüsselrolle ein. Feldmann, wiederholt in finanzieller Bedrängnis,55 gelang es seit ihrer Arbeit für den Abend in gewisser Regelmäßigkeit, Arbeiten in Wiener Blättern unterzubringen. Bruno Frei begegnete sie nicht nur in der Redaktion des Abend, sondern auch im Kreis des Philosophen Josef Popper-Lynkeus, in dem Feldmann bereits seit 1904 wiederholt verkehrte56 – und das »nicht wenig stolz«, wie der von Colbert bei Popper-Lynkeus eingeführte Frei in einem undatierten Manuskript festhielt. Er notierte weiters: Auch sie kannte Armut nicht nur aus Büchern. Im Gegensatz zu mir, sah sie jedoch in Kinderfürsorge und Jugendschutz den rettenden Ausweg und wenn sie einen ›Elendsfall‹ zu betreuen hatte, schien sie glücklich. […] Im Grunde schrieb Else Feldmann über die gleichen Dinge wie ich, nämlich über Alltagstragödien der Armut, nur war in ihren Feuilletons mehr tränenreiches Mitleid als soziale Anklage.57
Nicht nur der Verweis auf die ›typisch weiblichen‹ Themenbereiche Kinderfürsorge und Jugendschutz, sondern vor allem jener auf das »tränenreiche Mitleid« deutet auf anhaltende zeitgenössische Vorbehalte gegenüber weiblicher Autorschaft hin. Tatsächlich blieben Journalistinnen in der Zwischenkriegszeit unterrepräsentiert und kamen mehrheitlich in Haushalts-, Frauen-, Kinder- und
53 Vgl. exemplarisch Else Feldmann: Die Stätte des Grauens. In: Neues Wiener Journal, 11. 4. 1920, S. 6. In der Arbeiter-Zeitung beschrieb sie 1923 wenige Wochen vor den Nationalratssowie Wiener Landtags- und Gemeinderatswahlen schließlich die Bemühungen des Roten Wien, nicht mehr »Menschen wie Ungeziefer« leben zu lassen. »Es gibt immer noch mehr als fünftausend bewohnte K e l l e r w o h n u n g e n in Wien. Alle diese Unglücklichen gilt es zu befreien, die Ke l l e r m e n s c h e n a n s L i c h t z u b r i n g e n ! Eine herrliche Aufgabe – und Wien w i r d sie vollbringen!« – E. F.: Die neuen Häuser von Wien. In: Arbeiter-Zeitung, 30. 9. 1923, S. 15, Hervorhebungen im Original. 54 Ein einziger Beitrag für den Abend fand Aufnahme in eine Anthologie, namentlich in Herbert Exenbergers im Jahr 2000 im Verlag Mandelbaum erschienener Sammlung Als stünd’ die Welt in Flammen. Eine Anthologie ermordeter sozialistischer Schriftstellerinnen. Drei weitere Arbeiten aus dem Mai bzw. Oktober 1917 finden sich in Eckart Früh: Else Feldmann. Wien: Selbstverlag 2005 (= Spuren und Überbleibsel. Bio-bibliographische Blätter, Nr. 62), S. 3–6. 55 Entsprechend als autobiographischer Bericht gedeutet wird Else Feldmann: Ohne Geld. In: Arbeiter-Zeitung, 27. 9. 1929, S. 5. 56 Vgl. Debazi, Schreiben am Rand, S. 86. 57 Bruno Frei: Erinnerungen an Josef Popper-Lynkeus. Unveröffentlichtes Manuskript aus dem Nachlass, undatiert, 6 S., hier S. 3. Online verfügbar : https://theodorkramer.at/site/assets/ files/1050/efe_vi_4_web.pdf (Zugriff: 19. 7. 2019).
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Modebeilagen zu Wort.58 Wiewohl in Wien zahlreiche Frauen auch im Bereich der sozialen Fürsorge in den Zwanzigerjahren publizistisch von sich reden machten,59 evozierte Feldmanns Werk – in der Folge auch das literarische – wiederholt klischeebehaftete Reaktionen. Felix Salten glaubte 1922 in einer Besprechung des autobiographischen Romans Löwenzahn in ihrem Schreiben ein »schwesterliche[s] Walten dieses stillen und bescheidenen Mädchens« erkennen zu können: Seit etlichen Jahren kennt man Else Feldmann in Wien als die Fürbitterin für arme Kinder, für arme Mütter, für verlorene Existenzen, die sie überall aufspürt und zu deren Rettung sie sich dann an die Öffentlichkeit wendet. Weichmütig, aber voll Beharrlichkeit, beständig in einem leisen Klageton, manchesmal sogar verknautscht […].60
Deutlich schärfer urteilte ihr Herausgeber Colbert. Generalisierend erklärte er, er sei »mißtrauisch, wenn mir begabte junge Dichterinnen sozialpolitisch kommen. […] Sie wissen noch nicht, wie groß Elend sein muß, damit ihm Anspruch auf Beachtung gebühre, denn die Öffentlichkeit ist erheblich weniger leicht als ein Mädchenherz gerührt […].« So habe Feldmann den Drang zum sozialen Engagement, doch sei sie nicht recht geeignet dazu; sie hat zwar die scharfen Augen, die die Ursachen des Elends erspähen, mögen sie sich auch in die dunkelsten Winkel verstecken, aber ihr Herz ist
58 Vgl. Elisabeth Klaus: Aufstieg zwischen Nähkränzchen und Männerkloster : Geschlechterkonstruktionen im Journalismus. In: Johanna Dorer, Brigitte Geiger (Hgg.): Feministische Kommunikations- und Medienwissenschaft. Ansätze, Befunde und Perspektiven der aktuellen Entwicklung, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002, S. 170–190, hier S. 173, Josef Seethaler, Christian Oggolder : Die Stellung der Frau in der Wiener Tagespresse der Ersten Republik. Ein Beitrag zur Entwicklung des tagesaktuellen Journalismus in Österreich. In: Medien & Zeit. Kommunikation in Vergangenheit und Gegenwart 24 (2009), H. 3, S. 4–16. 59 Vgl. Haas, Empirischer Journalismus, S. 244, Martin Erian: Reportage und Feuilleton – Antipoden im Gleichschritt? Zur operativen Publizistik Elisabeth Jansteins und Klara Mautners. In: Hildegard Kernmayer, Simone Jung (Hgg.): Feuilleton. Schreiben an der Schnittstelle zwischen Journalismus und Literatur. Bielefeld: transcript 2017, S. 125–149, bes. S. 128–133. 60 Felix Salten: Else Feldmann: Löwenzahn. Eine Kindheit. In: Neue Freie Presse, 15. 1. 1922, S. 31. Erst Fritz Rosenfeld urteilte wohlwollend über Feldmanns Werk. Er sah ihre literarischen Arbeiten »in einem fast herben Stil der Wirklichkeitstreue geschrieben, der nichts zu tun hat mit der von betriebsamen Literaten erfundenen ›neuen Sachlichkeit‹ und auch nichts mit der ›dichterischen Reportage‹, hinter der sich dichterisches Unvermögen in letzter Zeit so gern verbirgt. Es kommt Else Feldmann nicht auf Abschilderung des Äußerlichen an, sondern auf Nachgestaltung der seelischen Tragödien, die das Leben dichtet, die aber allzuoft im verborgenen abrollen und erst von der Mittlerhand des Dichters zu den Menschen getragen werden müssen […]«. – Fritz Rosenfeld: Else Feldmann: Liebe ohne Hoffnung. Erzählungen. In: Bildungsarbeit XV (1928), Nr. 12, S. 259.
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noch zu weich und sie weint zu leicht, und dann meint sie auch immer, gerade der Jammer, den sie eben sieht, sei von allen der himmelschreiendste.61
Feldmann, die sich selbst eine »heftige Hingezogenheit für Unglückliche und Leidende«62 attestierte, verfasste für den Abend neben anfänglichen Kritiken und vereinzelten Erzählungen vor allem Reportagen, die von April 1917 an bis Juni 1918 unter dem Titel Bilder vom Jugendgericht nahezu wöchentlich erschienen und in denen sie die zunehmende, aus den sozialen Rahmenbedingungen erwachsende »Seelentuberkulose«63, die »seelische Anarchie unserer Tage«64 dokumentierte. Von den beobachteten Gerichtsverhandlungen ausgehend blickt Feldmann auf verschiedenen Facetten des urbanen Lebens. Exemplarisch regt sie an, einen »sozialen Dichter« die Sittengeschichte des Warenhauses schreiben zu lassen, präsentiere doch die Verhandlung von Ladendiebstählen »ein Bild, woraus Psychologen den ganzen sittlichen Tiefstand des Warenhausbetriebes erkennen«65 könnten (zum Warenhaus siehe auch den Beitrag Rebecca Unterbergers in diesem Band). Wiederholt berichtet Feldmann von Jugendlichen, die aufgrund ihrer misslichen sozialen Lage in die Kriminalität gerutscht sind und freigesprochen werden.66 Die Autorin variiert dabei ihre Methoden: Dem angriffigen Ton mancher Reportagen – »Wa n n w e rd e n e n d l i c h d e n V ö l ke r n d i e Au g e n d a r ü b e r au f g e h e n , w a s s i e z u g r u n d e r i c ht e t ! «67 –, der durchaus an die Arbeiten Freis erinnert und gelegentlich die Zensur auf den Plan ruft,68 werden Texte gegenübergestellt, in denen Feldmann die Handlung, sich ihre erzählerischen Fähigkeiten zunutze machend, nahezu für sich sprechen lässt. Einfühlsam schildert sie das Dasein Ottakringer Buben, die ihren Hunger mit gestohlenem Obst zu lindern versuchen – selbst unreifer Natur. Und das Ende vom Lied ist dann: Vor dem Jugendgericht. Einmal hat der lahme Hausherr sie alle miteinander fangen lassen und der Polizei übergeben.
61 Alpheus [d.i. Carl Colbert]: Wiener Kinder aufs Land. In: Der Morgen, 28. 5. 1917, S. 5f., hier S. 5. 62 Else Feldmann: Gedenkblatt. In: Österreichischer Arbeiter Kalender. Wien. 1925. S. 56–58, zit. n. Debazi, Schreiben am Rand, S. 7. 63 Else Feldmann: Bilder vom Jugendgericht. Seelentuberkulose. In: Der Abend, 22. 10. 1917, S. 4. 64 Else Feldmann: Bilder vom Jugendgericht. Die k.k. Post. In: Der Abend, 10. 12. 1917, S. 3. 65 Else Feldmann: Bilder vom Jugendgericht. Aus einem großen Warenhause. In : Der Abend, 8. 10. 1917, S. 3f., hier S. 3. 66 Vgl. exemplarisch Else Feldmann: Bilder vom Jugendgericht. In: Der Abend, 12. 11. 1917, S. 3f. 67 Feldmann, Warenhaus, S. 3, Hervorhebung im Original. 68 Vgl. Else Feldmann: Bilder vom Jugendgericht. In: Der Abend, 19. 11. 1917, S. 3.
»Pflichtbewußte Tagesschriftsteller« im Wien um 1918
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Teilnehmend, mit einem wehmütigen Lächeln fragt der Jugendrichter : »Ist euch denn nicht allen schlecht geworden von dem unreifen Obst?« Aber Strafe bekommen sie keine. Sie sind von einem höheren Richter genug gestraft.69
*** Nimmt man die Arbeiten Freis und Feldmanns für die linksliberale Tageszeitung Der Abend resümierend in den Blick, offenbaren sich einige Parallelen. Zweifellos stellen beide junge und (mitunter unreflektiert-vor-)laute Stimmen der linken Publizistik Wiens um 1918 dar. Frei besaß dabei mit seinen auch wiederholt in Buchform publizierten Reportagen – und dank seiner persönlichen Nähe zu Herausgeber Colbert – die größere Geltung für das Blatt, doch beiden diente Der Abend als hilfreiche Sprosse auf der Karriereleiter, wenn sie auch in unterschiedlichem Maße an Techniken der Sozialreportagen dieser Tage anknüpften. Nach seinen ersten Schritten für den Abend übersiedelte Frei, auch aus Enttäuschung über die ausgebliebene Revolution, 1920 nach Berlin und wandelte sich zusehends zum politischen Journalisten. Er schrieb unter anderem für Siegfried Jacobsons Weltbühne und wurde nach einer vorübergehenden Rückkehr nach Wien 1929 im Auftrag Willi Münzenbergs Chefredakteur von Berlin am Morgen und engagierte sich vor 1933 sowie später im Exil gegen den Nationalsozialismus. Feldmann dagegen eröffneten sich mit ihren Recherchen für den Abend neue Themenfelder. Waren ihre Arbeiten für Die Zeit vornehmlich bürgerlichen Sphären zuzuordnen, führten sie ihre Reportagen an die »entzündeten Ränder«70 der Gesellschaft, die sie sowohl in Reportagen wie auch in literarischen Feuilletons, Erzählungen und Romanen erschloss. Sie sollten kennzeichnend für ihr Werk im Roten Wien werden. Konsens besteht darüber, dass Feldmanns Arbeiten auch aufgrund inhaltlicher Akzentuierungen – über entsprechende, in der Beurteilung der Frage maßgebliche Rechercheaufträge seitens der Redaktion kann nur trefflich spekuliert werden – für den Abend stärker sozialreformerischen Impetus besitzen und jene Freis tendenziell doch ideologisch motiviert sind.71 Dies wird erkennbar an der (teilweise stillen) Parteinahme für Einzelschicksale bzw. der deutlichen Kritik am kapitalistischen System. Gleichwohl lassen sich allerdings auch in Freis Texten emphatische Aufschreie für die Geschlagenen finden. Setzt man die Urteile über Feldmanns Arbeiten also in Relation zu jenen Freis, ist die 69 Else Feldmann: Bilder vom Jugendgericht : Kirschen, Trauben, Pflaumen. In : Der Abend, 5. 11. 1917, S. 3. 70 Karl-Markus Gauß: Vorstadtengel. Neu entdeckt: Else Feldmanns »Leib der Mutter«. In: Die Zeit, 12. 11. 1993. Online verfügbar : https://www.zeit.de/1993/46/vorstadtengel/komplettan sicht (Zugriff: 19. 7. 2019). 71 Vgl. Langenbucher, Sensationen des Alltags, S. 167.
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zuvor referierte Kritik eher ein Indikator über vorherrschende Geschlechterverhältnisse und daraus erwachsende Rollenerwartungen als eine differenzierte Verortung ihres Wirkens im publizistischen Spektrum. Dass Frei (selbst) retrospektiv zwar in kritischer Distanz zu seinen Frühwerken trat, jedoch in Feldmanns Arbeiten – im Verhältnis zu seinen – »mehr tränenreiches Mitleid als soziale Anklage« ortete, stützt diese Einschätzung durchaus. Evident ist letztlich zweifelsohne die Bedeutung des Publikationsorgans und seiner Stellung als eigenwilliges Kampfblatt im politisch linken Spektrum der Wiener Presselandschaft, deren Möglichkeiten sich die beiden bedienen. In der aufgeheizten Stimmung gegen Ende des Weltkrieges sowie in den turbulenten Tagen der Republikgründung bot Der Abend mit seiner Reichweite, der markanten Herausgeberfigur und der von ihr vorgegebenen Programmatik die ideale Plattform, um mit aufrüttelnden Reportagen nicht nur Themen und Akzente im öffentlichen Diskurs zu setzen, sondern auch selbst eine Position im publizistischen Feld einzunehmen. Sowohl Bruno Frei als auch Else Feldmann ist dies nachhaltig gelungen.
II.
Evelyne Polt-Heinzl
Von oben – Wolkenkratzer und Überblick. Großstadtwahrnehmung zwischen den Kriegen
Nimm ein gigantisches Haus in New York, knöpf es mal auf von unten bis oben: vermuffte Kammern wie Hohläum’ im Kork, ganz – unser Krähwinkel, lang vorm Oktober. Wladimir Majakowski: Wolkenkratzer im Längsschnitt (1925)
Was genau ein Hochhaus ist I »›Wolkenkratzer‹ ist keine technische, sondern eine volksmäßige Bezeichnung für jene riesigen Häuser, die man auf New Yorker Straßenphotographien sieht«, es ist »ein romantischer und bildhafter Name«1, schrieb Joseph Roth 1922 in seinem Bericht über die Ausstellung des Ideenwettbewerbs für ein Hochhaus am Bahnhof Friedrichstraße in Berlin, bei der auch ein Entwurf Ludwig Mies van der Rohes zu sehen war. Ausgeschrieben hatte den Wettbewerb die 1921 gegründete Turmhaus-AG Berlin2. Der Vergleich mit den babylonischen Turmbauern lag also nahe, deren technische Probleme seien überwunden; nun können die Menschen den Wolken »Kunde bringen von der Lächerlichkeit und den ernsthaften Dingen dieser Erde. Sie werden das Klappern der Schreibmaschinen hören und das Klingeln der 1 Joseph Roth: Wolkenkratzer. In: Berliner Börsen-Courier, 12. 3. 1922, zit. n.: Joseph Roth: Das journalistische Werk 1915–1923. Hrsg. von Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989, S. 765–767, hier S. 766. 2 Der Schrei nach dem Turmhaus. Der Ideenwettbewerb Hochhaus am Bahnhof Friedrichstraße Berlin 1921/22. Ausstellung vom 12. 10. 1988–8. 1. 1989 im Bauhaus-Archiv Museum für Gestaltung. Berlin: Argon 1988; der Ausschreibungstext findet sich auf S. 37.
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Telephonapparate, die Geräusche der Zentralheizung und das Tropfen der Wasserleitung«, so Roth, und er sieht den ersten Berliner Wolkenkratzer schon vor sich, »stark und sicher im Gefüge, mit einem naturgebildeten Berg an Kraft wetteifernd«3 – allerdings auch mit integriertem Unterhaltungspalast. Genau das war 1894 beim ersten ›Wolkenkratzer‹ in Budapest, hier auch »Mistcraper« genannt, passiert. Das Gebäude war fünf Stockwerke hoch, erreichte »jedoch mit seinen Souterrainlocalitäten, welche dem Wiener Ronacher-Etablissement ähnlich sind, die Höhe von acht Stockwerken«4. El Lissitzky war der Wolkenkratzer insgesamt ein zu konservatives Konzept, er entwarf 1923/25 den Wolkenbügel, bei dem in der Vertikalen nur die Versorgungsstränge liefen, während sich die Aktivitäten der Bewohner in der Horizontalen abspielen sollten, gleichsam parallel zu den Wolken. Acht dieser nie realisierten Wolkenbügel sollten als zeitgemäße Form eines Stadttors den städtischen Verkehr des Moskauer Rings überragen.
Abb. 1: N.N.: Der erste Wolkenkratzer Wiens. Das Hochhaus auf den Gründen des Versorgungshauses. In: Das Kleine Blatt, 30. 3. 1929, S. 6.
3 Roth, Wolkenkratzer, S. 767. 4 N.N.: Der erste ›Wolkenkratzer‹. In: Agramer Zeitung, 28. 9. 1894, S. 4.
Von oben – Wolkenkratzer und Überblick
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Ab wann die Bezeichnung ›Wolkenkratzer‹ angewendet werden kann, unterlag historischen Veränderungen. Auch in Wien gab es im Frühjahr 1929 eine Architekturausstellung mit Hochhaus: In den Räumen des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums in der Volkshalle des Neuen Wiener Rathauses waren die eingereichten Entwürfe für die Bebauung der Gründe des Versorgungshauses zu sehen. Das Bürgerversorgungshaus (9, Währinger Straße 45), 1858 bis 1860 nach Plänen Ferdinand Fellners erbaut, war 1928 demoliert worden5. Das Siegerprojekt von Rudolf Fraß sah 235 Wohneinheiten vor, verteilt auf 13 Stiegenhäuser, »deren jedes einen Personenaufzug erhält«. Im Mittelteil aber sollte ein 16 Stock hoher Gebäudeteil, »ganz in Beton und Eisen ausgeführt«, als »erste[r] Wolkenkratzer Wiens«6 die gesamte Anlage überragen. Das Projekt wurde ebenso wenig realisiert, wie eine Reihe vorangegangener Hochhaus-Projekte von Christoph Stumpf, Leopold Bauer, Adolf Loos, Heinrich Goldemund, Oskar Strnad oder der Hochhausblock, den Hubert Gessner 1924 in seinem Entwurf für den Reumannhof vorgesehen hatte7. Unrealisierte Pläne im Rahmen des Wohnbauprogramms der Gemeinde Wien scheinen auch den Hintergrund zu bilden für jenes Hochhaus, an dem Joe Lederer in ihrem 1930 erschienenen Roman Musik der Nacht den Architekten Lukas arbeiten lässt: Das Haus, das jetzt entstand, – es war ein großes Haus! Sechzehn Stockwerke. Da war ein Preisausschreiben gewesen, und Lukas hatte den Auftrag bekommen, durfte sich ein Sprungbrett bauen wie nie ein anderer österreichischer Architekt. Zur Hölle mit den Barockpalästen dieser Stadt! Zur Hölle mit ihren stinkenden Zinskasernen! […] jetzt hatte sich Lukas den Platz erobert. Mitten ins Herz der Stadt fraß er sich hinein, riß ihr modernde Häuserfetzen aus dem Leib, stieß schwindelnd hohe Stahlgerüste in die Luft. Mit vierzehnhundert riesigen Fensteraugen fing er das Sonnenlicht ein, mit sechzehn Stockwerken warf er sich dem Himmel entgegen.8
Viele zeitgenössische Debattenbeiträge zeigen, wie sehr das Thema Hochhaus und damit aus heutiger Sicht architektonische Modernität um 1930 mit der Bautätigkeit im Roten Wien assoziiert wurde. Wolkenkratzer für Wien? Braucht in Wien denn heut’ wer Einen Wolkenkratzer
5 Vgl. https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/B%C3%BCrgerversorgungshaus (Zugriff: 30. 7. 2019). 6 N.N.: Der erste Wolkenkratzer Wiens. Das Hochhaus auf den Gründen des Versorgungshauses. In: Das Kleine Blatt, 30. 3. 1929, S. 6. 7 Vgl. dazu: Inge Podbrecky : Hoch hinaus. Wiener Hochhausprojekte bis 1932. In: Iris Meder, Judith Eiblmayr (Hgg.): Haus Hoch. Das Hochhaus Herrengasse und seine berühmten Bewohner. Wien: Metroverlag 2009, S. 34–51. 8 Joe Lederer : Musik der Nacht. Roman. Berlin: Universitas 1930, S. 33f.
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Wie der Seitz und Breitner, Protz und Wiens Brandschatzer?9
Abb. 2.: N.N.: Das Wolkenkratzer-Wien. In: Kikeriki 70 (1930), Nr. 24, S. 3.
So reimte die Wochenschrift Kikeriki 1930 ins notorisch Unreine, auch auf einer ähnlichen Karikatur vom Juni 1930 war das Epitheton »Erbaut von Gemeinde« ganz deutlich zu lesen10. Das dann realisierte ›erste‹ Hochhaus in der Herrengasse scheint also in viel direkterem Ausmaß als bisher angenommen eine Antwort der christlichsozialen Bundesregierung auf das Wohnbauprogramm der Wiener Stadtverwaltung. Während dieser mit der Weltwirtschaftskrise und 9 N.N.: Wolkenkratzer für Wien? In: Kikeriki 70 (1930), Nr. 45, S. 2. 10 N.N.: Das Wolkenkratzer-Wien. In: Kikeriki 70 (1930), Nr. 24, S. 3.
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der Massenarbeitslosigkeit das Geld zur Realisierung ihrer Projekte ausging, finanzierte die Bundesregierung aus Mitteln der Bundeswohnbauhilfe den Gebäudekomplex in der Herrengasse großzügig und engagierte dafür die Architekten Siegfried Theiss und Hans Jaksch, die sich auch an der Ausschreibung für den Gemeindebau auf den Gründen des Versorgungshauses beteiligt hatten11.
Weitblick – Distanz und Ignoranz Radikal neue Phänomene wie der Hochbau mussten nicht nur bautechnisch bewältigt werden, sondern auch wahrnehmungstheoretisch und emotional. Musil, Absolvent der Technischen Lehranstalt und in seinen Berliner Jahren mit Experimenten im Bereich der Wahrnehmungsphysiologie beschäftigt, hat sich über die Zeitverzögerungen menschlicher Sprach- und damit Denkstrukturen immer wieder Gedanken gemacht: Man darf freilich nicht glauben, die Menschen hätten bald bemerkt, daß ein Wolkenkratzer größer sei als ein Mann zu Pferd; im Gegenteil, noch heute, wenn sie etwas Besonderes von sich hermachen wollen, setzen sie sich nicht auf den Wolkenkratzer, sondern aufs hohe Roß, sind geschwind wie der Wind und scharfsichtig, nicht wie eine Riesenrefraktor, sondern wie ein Adler. Ihr Gefühl hat noch nicht gelernt, sich ihres Verstandes zu bedienen, und zwischen diesen beiden liegt ein Unterschied der Entwicklung, der fast so groß ist wie der zwischen dem Blinddarm und der Großhirnrinde.12
Alfred Polgar bezog 1914 eine Mansarde im sechsten Stock des Bräunerhofs in der Stallburgasse 2 im ersten Wiener Gemeindebezirk. In der Skizze Lob der Mansarde outet er sich als bekennender »Hochwohner«, den fortan 182 Stufen vom Treiben der Welt trennten: Von der Lautheit der nahen Straße dringt wenig herein, von weither mancherlei Geräusch, nur dem Höhenbewohner vernehmbar. Lokomotivenpfiffe, dünn und fein, gleich Tonraketen hoch in Luft zerfließend, Schlag von Turmuhren, Läuten von Kirchenglocken, hell die kleinen, im Baß die großen, wie Gespräch zwischen Vater und Sohn. Der Wind bläst oben viel windiger, der Regen ist noch gut geordnet und beisammen, wenn er die Fenster des sechsten Stockwerks passiert […]. Unrast der Stadt stört in der sechsten Etage den Frieden des Zimmers nicht, sondern unterstreicht ihn.13 11 Georg Schwalm-Theiss: Theiss & Jaksch. Architekten 1907–1961. Wien: Brandstätter 1986, S. 75. 12 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. I. Erstes und Zweites Buch. Hrsg. von Adolf Fris8. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch 172003, S. 26f. 13 Alfred Polgar : Lob der Mansarde. In: A. P.: Kleine Schriften. Hrsg. von Marcel Reich-Ranicki, Ulrich Weinzierl. Bd. 2: Kreislauf. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1983, S. 124–127, hier S. 125.
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Von oben14 – so der Titel von Polgars Bericht über die beiden amerikanischen Weltflieger Griffin und Mattern in Berlin – erscheint alles in einer anderen Perspektive, selbst die verspätete Ankunft des Zeppelin über Wien15. Welthistorische Ereignisse werden in Polgars Blick von oben redimensioniert auf das Maß des Einzelmenschen und damit oft erst in ihrer ganzen Monstrosität oder Größe sichtbar. Von oben relativieren sich die Dinge, der Fortschritt, aber auch die soziale Verantwortung. »Von oben«, das kann auch Ignoranz und Unmenschlichkeit indizieren, wie in der Erzählung Auf dem Balkon, in der eine vornehme Gesellschaft einen Eisenbahnzusammenstoß aus sicherer Entfernung als »Spielzeug-Affaire«16 wahrnimmt. Die Erzählung ist erstmals in der Basler National-Zeitung vom 18. März 1936 erschienen und auch eine »Parabel der schuldig-schuldlosen Zeitgenossenschaft des faschistischen Terrors«17. Und Polgars Miniaturen sind indirekt immer auch lesbar als Debattenbeiträge zu den Modernitätsdiskursen der Zeit. In seinem Essay Die kleine Form, erschienen 1926 als Vorwort des Bandes Orchester von oben, stellt er einen Zusammenhang her zwischen moderner Architektur und literarischer Form. Die kleine Form, so Polgar, sei »der Spannung und dem Bedürfnis der Zeit gemäß […], gemäßer jedenfalls, als […] geschriebene Wolkenkratzer es sind«18 : Ich meine, es müssen schon säkulare Gedanken, Welt-Gesichte von besonderster Klarheit und Tiefe, eine mehr als großartige Phantasie sein, für deren Unterkunft die Architektur etwa des Romans bemüht werden dürfte. Geringeres in dieser hohen Form scheint so lächerlich wie trautes Heim im Monumentalbau.19
Turm, Berg, Klamauk In Wien waren für den Blick von oben über die Jahrhunderte hinweg zwei topografische Fixpunkte bestimmend: seit der Entsatzschlacht vom 12. September 1683 gegen die türkischen Truppen Kara Mustafas der 425 Meter hohe Leopoldsberg, heute Kahlenberg im 19. Wiener Gemeindebezirk; seit Adalbert Stifters Rundblick in Wien und die Wiener in Bildern aus dem Leben (1844) der Stefansturm. Beide Aussichtspunkte wurden im Blick auf Wien leicht als Beweis für die unverbrüchliche Orientierung der Stadt auf ihre barock-imperial-katholische Machttradition interpretiert. Dass der Stefansturm wie ein Symbol für die katholische Zentralmacht im Gefüge der Stadt eine Orientierungshilfe dar14 15 16 17 18 19
Alfred Polgar : Von oben. In: P., Kleine Schriften. Bd. 1: Musterung, S. 429f. Vgl. Alfred Polgar : Der Zeppelin. In: P., Kleine Schriften. Bd. 1: Musterung, S. 402–405. Alfred Polgar : Auf dem Balkon. In: P., Kleine Schriften. Bd. 3: Irrlicht, S. 200–204, hier S. 203. Ulrich Weinzierl: Alfred Polgar. Eine Biographie. Wien: Löcker 2005, S. 189. Alfred Polgar : Die kleine Form. In: P., Kleine Schriften. Bd. 3: Irrlicht. S. 369–373, hier S. 372. Ebd.
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stellt, gilt freilich nur von oben, die Gassen der Innenstadt sind so eng und verwinkelt, dass der Flaneur den 136,4 Meter hohen Südturm erst sieht, wenn er unmittelbar davor steht. 1897, zur Feier des 50. Thronjubiläums Kaiser Franz Josephs, wurde im Wurstelprater das Riesenrad errichtet, das sich seitdem im Stadtprospekt von oben dem »Steffel« im wörtlichen Sinne friedlich an die Seite gesellte. Der Kahlenberg bzw. sein Gegenüber am jenseitigen Donauufer, der Bisamberg, also die topografische Besonderheit Wiens, das »auf dem Grund einer flachen Fruchtschale«20 liegt, hat eine andere zeittypische Variante stadtarchitektonischer Höhenrekorde relativiert: die Funktürme und Sendeanlagen des neuen Mediums Rundfunk. In Berlin-Charlottenburg wurde zur Eröffnung der dritten Funkausstellung 1926 der 138 Meter hohe Funkturm (Architekt: Heinrich Straumer) mit Restaurant und Aussichtsplattform eingeweiht. Die erste Sendeanlage Wiens entstand ebenfalls 1926, freilich für das Stadtbild wesentlich unspektakulärer am Rosenhügel (258 Meter) im Südwesten von Wien. Als sich diese Sendeanlage als zu klein herausstellte, ging 1933 jene am Bisamberg (358 Meter) in Betrieb – es war kein Turm, sondern ein Mast, der freilich mit seiner Höhe von 265 Metern das damals höchstes Bauwerk Europas darstellte.
Drinnen und draußen Das Erscheinungsbild im Zentrum änderte sich durch Riesenrad und Senderanlage nicht. Diese relativ intakt erhaltene Struktur der Altstadt hat bei schreibenden Besuchern zu Missverständnissen geführt. Zum Beispiel, was den Verkehr betrifft, der – wie in vielen Städten mit großem Altstadtkern – durch ringförmige Umfahrungen vor den Toren des touristisch nutzbaren innerstädtischen Bereichs weitgehend gestoppt wurde, in Wien in doppelter Ausführung mit der Ringstraße und dem Gürtel. Je nachdem, wie sehr Besucher gewillt waren, den Innercircle der Stadt zu verlassen, erlebten sie den Verkehr in Wien als nostalgisch gering und von kuriosen Gefährten geprägt oder von ganz normaler, also durchschnittlicher Urbanität. Dieses Phänomen ist freilich kein Spezifikum der Wien-Wahrnehmung, sondern genuiner Bestandteil verschriftlichter Großstadt-Erfahrung der Zwischenkriegszeit, die fast immer und fast immer ausschließlich dem Blick des Innenstadt-Flaneurs verpflichtet war21. Rudolf Olden stellte sein Okular schärfer : 20 Raoul Auernheimer: Wien. Bild und Schicksal. Wien: Otto Lorenz 1938, S. 136. 21 Vgl. Evelyne Polt-Heinzl: Von Hasen, Huren und Müttern. Überlegungen zum Großstadtroman der Zwischenkriegszeit. In: Aneta Jachimowicz (Hg.): Gegen den Kanon – Literatur der Zwischenkriegszeit in Österreich. Frankfurt/M.: Peter Lang 2017 (= Warschauer Studien zur Kultur- und Literaturwissenschaft, Bd. 10), S. 347–365.
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Die Straßenbahn durcheilt mit einer uns unbekannten Schnelligkeit die Straßen […], die Stadtbahn, jetzt elektrifiziert bringt uns rasch ins Freie, die kleinen, wendigen Steyr-Taxis sausen gewandt durch die engsten Winkel, […] das automatische Telephonsystem ist das beste der Welt. […] Ein Neues siehst du an der Peripherie und in den Vorstädten: monumentale Bauten von gewaltigem Umfang, in schönen Massen, zehnstöckig in den Himmel ragend22.
Auch der Berliner Schriftsteller Victor Auburtin sieht in Wien 1927 durchaus »amerikanische Automobile […] wie toll durch die Straßen jagen«23. Reisende, die das nicht sahen und denen die imperiale Behaglichkeit ungebrochen dominant erschien, dürften einfach den Ring nicht überquert haben. Man muß scharf unterscheiden zwischen dem Ringstraßen-Wien und dem wirklichen Wien, zwischen der internationalen Fremdenstadt mit ihren luxuriösen Hotels, mit ihren Läden, in denen die Waren nur französisch bezeichnet sind, und dem anderen Wien, der Zweimillionenstadt, die nach ihrem Flächenausmaß überhaupt die größte Stadt des Kontinents ist24.
Das schrieb Heinrich Strobel 1931, und diese Unterscheidung wird bis heute leicht vergessen – vor allem im kulturhistorischen Blick. Ob das kreative Klima um 1900 untersucht wird oder die goldenen Zwanziger Jahre – es geschieht stets mit dem Stadtplan des imperialen Wien in der Hand bzw. im Kopf. Deshalb kommen zentrale Aspekte des Modernisierungsprozesses – Frauenbewegung, Sozialreportage, bürgerliches Stadttheater – gerade im Kontext Wien so schwer in den Blick. Das »immer noch« der alten Kaiserstadt, repräsentiert und touristisch inszeniert in der erhaltenen Bausubstanz, interpretierten Zeitgenossen wie HistorikerInnen hartnäckig als Manko an Modernität, was sie das radikal Andere in den angrenzenden Bezirken übersehen ließ. Auch wenn vereinzelte Stimmen konstatieren, dass »Wien noch andere Seiten als die Seite zwischen Sacher und Ronacher«25 habe, scheint »Wien als Ort der Vergangenheit […] in der zeitgeistigen Begrüßung der Moderne, die ihre Bilder unter das Zeichen Neue Sachlichkeit und ihre Architektur und Designprodukte unter das Signet des Bauhauses stellt, abgeschrieben«26. Dazu trug auch bei, dass im Kontext der 22 Rudolf Olden: Wie Wien heute aussieht. In: Berliner Tageblatt, 18. 3. 1927, zit. n.: Christian Jäger, Erhard Schütz: Städtebilder zwischen Literatur und Journalismus. Wien, Berlin und das Feuilleton der Weimarer Republik. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag 1999, S. 105. 23 Victor Auburtin: »Als ich wiederkam …«. Dreimal Wien. In: Berliner Tageblatt, 28. 7. 1927, zit. n.: Jäger/Schütz, Städtebilder, S. 106. 24 Heinrich Strobel: Wiener Frühling. In: Berliner Börsen-Courier, 17. 5. 1931, zit. n.: Jäger/ Schütz, Städtebilder, S. 39. 25 Victor Auburtin: Wien. In: Berliner Tageblatt, 1. 5. 1923, zit. n.: Jäger/Schütz, Städtebilder, S. 74. 26 Jäger/Schütz, Städtebilder, S. 103.
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neuen Sachlichkeit sichtbar wurde, wie allenfalls begrenzt modern Adolf Loos’ Kampf gegen Jugendstil und Wiener Werkstätte war, den er vor 1914 mit Hilfe seines vielleicht noch konservativeren Propagators Karl Kraus als die »Moderne« darzustellen wußte.
Was ein Hochhaus ist II 1922 wurde Peter Behrens nach Wien berufen. Er war Mitbegründer des Deutschen Werkbundes und mit seiner Arbeit für die Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft AEG der Prototyp des neuen Industriedesigners, der das Konzept planmäßiger Durchgestaltung vom Briefpapier über die Produkte und Werbemittel bis zu den Werkhallen verfolgte. In Österreich verewigte sich Behrens u. a. mit den Austria Tabakwerken in Linz (1929/35) und in Wien mit dem Franz Domes-Hof in Wien Margareten (1928/30). Aber auch dieser 10-stöckige Bau geht im Rückblick nicht mehr als Hochhaus durch. DAS Hochhaus in Wien wurde zur eindeutigen Ortsangabe für den Gebäudekomplex Herrengasse 6–8 / Fahnengasse 2 / Wallnerstraße 5–7, erbaut 1931/32 von Siegfried Theiss und Hans Jaksch, die damit für die christlichsoziale Bundesregierung den Wettlauf um das erste Hochhaus in Wien gewannen. Freilich wurde auch hier die Bezeichnung ›Hochhaus‹ »schon während der Bauzeit angezweifelt, für die Wiener ein Grund mehr, darauf zu beharren«, so Friedrich Achleitner, der das Gebäude so beschreibt: »Der Stahlskelettbau mit 16 Geschossen bildet das Eck einer Blockrandbebauung mit zwei Höfen, die sich mit der Hauptgesimskante an die Gassenprofile hält. Der Eckturm ist ab dem 12. Geschoß abgetreppt«. Diese »Art der städtebaulichen Einbindung und die Gunst der Lage lassen den Bau im Stadtbild kaum in Erscheinung treten, so daß die Diskussion über den neuen Haustyp in der Wiener Innenstadt vertagt wurde«27. Man kann das Konzept der Abtreppung als Feigheit vor dem Feind einer radikalen Moderne im Zentrum der Altstadt sehen oder als Analogie zum amerikanischen Baugesetz interpretieren, das vorschrieb, ab einem bestimmten Stockwerk »zurückzubauen«, um die Verschattung der Straßenschluchten zu verringern. In Amerika galt die Bestimmung ab dem 25. Stock, in der freilich viel engeren Wiener Herrengasse begann man damit schon etwas früher. »Wien, Wien, nur du allein, hast ein – Wolkenkratzerlein« reimte das Kleine Blatt etwas spöttisch in einem ansonsten durchaus begeisterten Artikel28. 27 Friedrich Achleitner : Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert. Ein Führer in vier Bänden. Bd. III/1: Wien: 1.–12. Bezirk. Salzburg, Wien: Residenz 1990, S. 43. 28 J. P. [d.i. Josef Pav]: Fünfzehn Stockwerke auf künstlichem Fels. Ein Wolkenkratzer im ersten Bezirk. – Mit dem »Expreßzug« in den fünfzehnten Stock. – Sechstausend Waggon Baumaterial. In: Das Kleine Blatt, 7. 12. 1931, S. 3.
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Über dem 13. Stockwerk des Baus in der Herrengasse tragen vier Stahl-Säulen einen doppelstöckigen gläsernen Aufbau. Dieses ›Glashaus‹ – gemeinsam mit dem verglasten Halbrund des Hauptstiegenhauses ein Tribut an die Moderne – beherbergte von Anfang an ein Restaurant mit Aussicht. »Hochhausterrassen Restaurant / Herrlicher Rundblick auf Wien und Umgebung. / Ab 10 Uhr vormittags geöffnet / Abends Musik und Tanz«29, lautet eine dreisprachige Werbeeinschaltung mit Foto in der Zeitschrift Neues Leben, herausgegeben vom »Vaterländischen Front-Werk« 1937. Der Hauch des Exklusiven durfte auch im Austrofaschismus ruhig ein wenig mondän wirken.
Ein Fanal der Moderne? Die Kommentare der Zeitgenossen waren freilich ambivalent. Das hängt auch mit einem Verlusterlebnis zusammen, das sich mit dem Standort des Hochhauses verbindet. Hier befand sich einst der berühmte Bösendorfersaal, den der Klavierfabrikant Ludwig Bösendorfer 1872 in der ehemaligen Privatreitschule des Liechtensteinschen Palais errichtet hatte und der es an akustischer Qualität – so die damaligen Ohrenzeugen – mit dem Goldenen Saal im Musikverein aufnehmen konnte. Das hatte damit zu tun, dass sich darüber die Bibliothek des Fürsten befand, »deren großes Gewicht auf die Saaldecke eine ganz eigenartig günstige Dämpfung« ausübte. So sah es der Universalgelehrte Friedrich Eckstein in seiner Autobiografie im Kapitel »Polyhymnia und Wolkenkratzer«30. Der Bau des Hochhauses hatte freilich nichts mit dem Abriss zu tun, es wurde erst fast zwanzig Jahre später, am 17. November 1932, nach nur 18-monatiger Bauzeit durch den christlichsozialen Bundespräsidenten Wilhelm Miklas eingeweiht. Vorangegangen waren umfängliche Debatten. Josef Frank meinte in der Wiener Allgemeinen Zeitung vom 20. Februar 1931, dass kein Bedarf für ein Hochhaus in Wien bestehe, schon gar nicht in der Herrengasse, deren »Profil« dadurch »völlig zerfetzt«31 würde. Oskar Strnad befand hingegen, wenn schon Hochhaus, dann mindestens ein 200 Meter hohes, das den Stefansturm deutlich überragt32. Auch Rudolf Eisler schrieb im Neuen Wiener Tagblatt vom 3. Oktober 1931, dass »überhöhte Baukörper zur Belebung des Stadtbildes sehr viel bei29 Neues Leben. Sonderheft zur Weltausstellung Paris 1937, unpag. 30 Friedrich Eckstein: »Alte unnennbare Tage!« Erinnerungen aus siebzig Lehr- und Wanderjahren. Wien: Edition Atelier 1988, S. 244. 31 Josef Frank: Das Profil der Herrengasse. In: Wiener Allgemeinen Zeitung, 20. 2. 1931, S. 4. Vgl. dazu: Georg Schwalm-Theiss, Horst Gressenbauer : Die Tradition eines Wiener Architekturbüros. Hrsg. von Liesbeth Waechter-Böhm. Wien, Köln, Weimar : Böhlau 1999, S. 102. 32 Oskar Strnad: Rund um den Wolkenkratzer. Einige Bemerkungen zum Hochhausproblem am Wiener Boden. In: Der Wiener Tag, 22. 2. 1931, S. 6f.
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tragen«, man solle sie »mitten in das Getriebe der Stadt stellen und nicht an der Peripherie«, dorthin »gehören die Gärten mit den Einfamilienhäusern, den Sportplätzen, aber nicht die Wolkenkratzer«33. Die Konkurrenz zum Stefansturm trat übrigens auch das zweite Wiener Hochhaus, der Ringturm am Donaukanal (erbaut 1953/55), mit 73 Metern noch nicht an. Das Hochhaus in der Herrengasse bot 120 Familien- und 104 Singlewohnungen, damals »Normal«- und »Ledigenwohnungen« genannt, wobei »die Ausstattung der Küchen mit elektrischen Herden« als absolute »Neuheit für Wien« galt34. Mit dem relativ hohen Anteil an »Ledigenwohnungen« war das Hochhaus auch eine Replik auf den 1923 eröffneten Heimhof im 15. Bezirk in der Pilgerimgasse, den die Gemeinde Wien 1925 übernommen und erweitert hatte. Dieses erste und einzige Einküchenhaus Wiens war für berufstätige Frauen und ihre Familien konzipiert, mit zentraler Organisation aller hauswirtschaftlichen Belange, entsprechenden Gemeinschaftseinrichtungen, einem Kindergarten und einer Dachterrasse.35
Abb. 3: Das Hochhaus in der Herrengasse. Aus: Österreichische Bauzeitung, 22. 8. 1931, S. 480 bzw. 5. 11. 1932, S. 579.
Damals wie heute auffallend in der Erdgeschoß-Zone des Hochhauses ist die bunte Geschäftsstruktur der Gassenläden mit einer darüber liegenden Büro33 Rudolf Eisler : Wolkenkratzer in Wien. In: Neues Wiener Tagblatt, 3. 10. 1930, S. 6. 34 Felix Pollak: Das erste Wiener Hochhaus. In: Österreichische Bauzeitung. Zeitschrift für die Berufsinteressen des Baugewerbes 8 (1932), H. 45, S. 571–582, hier S. 577. 35 Vgl. Inge Podbrecky : Rotes Wien. Gehen & Sehen. 5 Routen zu gebauten Experimenten. Von Karl-Marx-Hof bis Werkbundsiedlung. Fotos: Willfried Gredler-Oxenbauer. Wien: Falter 2003, S. 81–85.
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etage. Laut Lehmanns Wohnungsanzeiger für das Jahr 1938 waren hier u. a. zu finden: die Bausparkasse Wüstenrot, eine Buchhandlung, ein Hutgeschäft, die Konditorei und Bäckerei Breunig, »Der Engel des Herrn«-Verlag, ein Friseur, Läden mit Damenwäsche, Galanteriewaren, Trikotagen, Lederwaren, eine TabakTrafik, ein Photohaus, eine Filiale der Wiener Molkerei und ein Reisebüro36. Das Flair des Hochhauses und die keineswegs einem kommunalen Wohnbau entsprechende Mietengestaltung verschafften dem Hochhaus von Anfang an prominente Einwohner. Zu den ersten Mietern gehörten Ärzte, Rechtsanwälte, Gymnastiklehrerinnen, Beamte, Architekten und Schauspieler.
Das Hochhaus als Kulturprojekt Mit dem Hochhaus hatte Wien neben Steffel, Kahlenberg und Riesenrad eine vierte spektakuläre Aussichtswarte erhalten und das mitten in der Stadt, die unmittelbar nach Fertigstellung zum fixen Eintrag in Wien-Führern wurde. Theodor F. Meisels widmet dem »Blick vom Hochhaus« in seinem 1936 erschienenen Bummel durch Alt-Wien ein eigenes Kapitel. Der Blick über das »Dächermeer« sei von hier aus »intimer. Ohne die Distanzierung des Stephansplatzes schaut man in das kleine Leben zahlloser Fenster.«37 Auch Raoul Auernheimer würdigt es ausführlich in seinem Buch Wien. Bild und Schicksal, das 1938 erschien, unmittelbar vor seiner Vertreibung ins Exil: Vom sechzehnten Stockwerk des am winkeligsten Herzen der Inneren Stadt neu erbauten ›Hochauses‹ genießt man einen Überblick, der es in jedem Belang mit dem hohen Turmblick von Sankt Stefan aufnimmt. Ja, er ist diesem in gewisser Hinsicht über, denn vom Hochhaus sieht man auch Sankt Stefan, vom Stefansturm hingegen – Fluch der Größe – alles, nur nicht den Stefansturm.38
Das Hochhaus war im Wiener Ambiente auch der einzige Ort, der die zeittypische Begeisterung für Dachgärten erleb- oder vorstellbar machte, die Maria Leitner in ihrem Amerika-Roman Hotel Amerika begeistert beschreibt: »Dieser mit Blumen geschmückte und Teppichen belegte ungeheure Glaskasten inmitten des rußigen Häusergebirges«39, der wie eine Oase wirkt. Im Wiener Pendant, dem Dachrestaurant im Hochhaus, fanden ab 9. Jänner 1936 Autorenabende statt, die im Juni 1936 zur Gründung der Künstlerverei36 Wiener Adreßbuch. Lehmanns Wohnungsanzeiger für das Jahr 1938. Bd. 2. Wien: Österreichische Anzeige-Gesellschaft 1938, S. 18, Sp. 6-S.19, Sp. 3. 37 Theodor F. Meisels: Bummel durch Alt-Wien. Wien: Verlag der Österreichischen ZeitungsGes.m.b.H. 1936 (= Österreichische Zeitung Bücher, 1), S. 113–119, hier S. 114. 38 Auernheimer, Wien, S. 135. 39 Maria Leitner : Hotel Amerika. Ein Reportage-Roman. Berlin: Neuer Deutscher Verlag 1930, S. 181.
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nigung »Der Turm« führten. Noch im selben Jahr erschien die erste und einzige Anthologie der Vereinigung unter dem Titel Der Turm. Eine Sammlung neuer Lyrik und Prosa. Am Cover prangt das Hochhaus mit dem Steffel im Hintergrund. Die Liste der zugehörigen AutorInnen zeigt die komplexe Gemengelage des kulturellen Lebens im Austrofaschismus nach der Ausschaltung der Arbeiterbewegung und vor dem Einmarsch der Hitler-Truppen. Unter den bekannteren Namen finden sich Johann Gunert, die beiden Ehrenmitglieder Rudolf Felmayer und Theodor Heinrich Mayer sowie Autoren mit einem Naheverhältnis zur mittlerweile verbotenen Sozialdemokratie wie Benedikt Fantner oder Josef Pechacek. Der größte gemeinsame Nenner der BeiträgerInnen scheint zu sein, dass sich 1936 niemand von ihnen die ansehnlichen Mieten im Hochhaus leisten hätte können, zumindest ist in den beigefügten Biografien immer wieder von Arbeitslosigkeit und Gelegenheitsjobs die Rede.
Abb. 4: Der Turm. Eine Sammlung neuer Lyrik und Prosa. Wien: Künstlervereinigung »Der Turm« 1936, Cover.
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Die abgedruckten Texte nehmen die Herausforderung des Modernitätsanspruchs, den das Hochhaus-Ambiente ausstrahlt, nur vereinzelt auf, etwa Josef Pechacek in seinem Song vom 20. Jahrhundert, dessen gekonnt balladeskschnoddriger Ton sich wohl seiner Arbeit für die Kleinkunstbühne Die Stachelbeere verdankt. Interessant ist auch der Auszug aus Peter Norellis Roman Utop anno 200040, dem Bericht über eine »Utopisten-Tagung« samt Gästen aus dem Jenseits in Gestalt von »erlauchten Utopisten aus früheren Jahrhunderten und Jahrtausenden«41. Und aufhorchen lassen die flotten Prosa-Miniaturen einer Autorin namens »Charlott«, die das Bild der sogenannten ›Neuen Frau‹ sarkastisch mit der tristen Realität der Weltwirtschaftskrise zum Clash bringen. Der Großteil der anderen Texte gehört ins Feld Stimmungslyrik, sei es zum Thema Natur oder zum Thema Perspektivenlosigkeit. »Nun wird hoffentlich auch in Bälde unsere Zeitschrift ermöglicht und diese Anthologie soll nur ihr Vorläufer sein«42, schrieb Fritz Selig im Vorwort des schmalen Bändchens. Doch dazu kam es nicht. Als nach 1945 die Zeitschrift Der Turm erschien, nahm das Vorwort mit keinem Wort auf das Vorläuferprojekt Bezug. Das Gemeinsame der beiden Kulturinitiativen vor und nach 1945 ist der Bezug auf den Stefansturm: Zierte er 1936 das Cover der Anthologie, startete die Zeitschrift am 1. August 1945 mit dem Spendenaufruf »Rettet das Antlitz Wiens!«43 für den Wiederaufbau des Stefansdoms – er war freilich nicht zerbombt worden, sondern in der Folge von Plünderungsaktionen komplett ausgebrannt.
Literarischer Auftritt des Hochhauses In der Wohnung des Schauspielers Heinz Woester »im Hochhaus, vier Uhr früh«44 lernte die junge Annemarie Selinko 1937 Franz Theodor Csokor kennen. Und in diesem Hochhaus traf sie am Tag vor dem ›Anschluss‹ mit dem jungen Verleger Karl Frucht in der Wohnung eines gemeinsamen Freundes zusammen,
40 Peter Norelli: Utop anno 2000. Wertumwertung. Bericht über die 1. Tagung des Internationalen intersäkularen Weltverbandes der Utopisten (10.–17. Juni 2000). Wien, Leipzig: Fiba 1936. 41 In: Der Turm. Eine Sammlung neuer Lyrik und Prosa. Wien: Künstlervereinigung »Der Turm« 1936, S. 3. 42 Fritz Seelig: Der Turm. In: Der Turm, S. 15. 43 Rettet das Antlitz Wiens! In: Der Turm. Monatsschrift für österreichische Kultur 1 (1945), S. 1. 44 Brief Annemarie Selinkos an Franz Theodor Csokor vom 15. 2. 1940. In: Franz Theodor Csokor : Zeuge einer Zeit. Briefe aus dem Exil 1933–1950. München, Wien: Langen Müller 1964, S. 276.
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um über Fluchtpläne zu beraten45. Die Wohnung auf der Stiege 5 gehörte dem in Russland geborenen Schriftsteller Essad Bey alias Lev Abramovicˇ Nussenbaum, der unter dem Pseudonym Kurban Said populäre kulturhistorische Sachbücher schrieb. Falls das Gerücht stimmt, »Essad hätte ihr [Selinko] bei ihrem 1937 erschienen Erstling ›Ich war ein häßliches Mädchen‹ geholfen«46, hat Selinko umgekehrt Essad Bey nach 1938 im italienischen Exil finanziell unterstützt. Annemarie Selinko aber ist es zu danken, dass das Hochhaus überraschend schnell zum literarischen Schauplatz wurde, und zwar in ihrem zweiten Roman Morgen ist alles besser, der 1938 in Prag erschien. »Zwischen diesen Barockpalästen haben sie das Hochhaus aufgestellt. Einen riesigen hellen Asphaltkasten, wie es sich für unsere Zeit gehört.«47 Hier mietet die junge Toni Huber, die ihren Beruf als Sprecherin im neuen Medium Radio findet, eine Singlewohnung; sie besteht aus einem einzigen Zimmer, aber es ist trotzdem eine richtige Wohnung. Links in der Ecke ein kleiner elektrischer Herd und ein Regal mit Geschirr […]. Dann gibt es eine Art Alkoven […] das Schlafzimmer […]. Der übrige Raum ist Wohnzimmer, Speisezimmer und Salon zugleich. Nebenan gibt es noch ein winziges Kämmerchen mit einer appetitlich gekachelten Badewanne. In der Badewanne muß man beinahe sitzen, für eine ausgewachsene Wanne war kein Platz. Das ist Tonis Wohnung im Himmel. Der Himmel: Hochhaus in der Herrengasse, Stiege sieben, achter Stock.48
So beschreibt Selinko Tonis Begeisterung für ein Wohnexperiment der Moderne, das alleinstehenden jungen Frauen ein eigenständiges Leben ermöglicht, doch sie thematisiert auch den sozialen Aspekt. Die Miete für Tonis winziges aber mondänes Reich beträgt 80 Schilling, das ist etwa doppelt so viel wie für ein normales Zimmer. Inbegriffen im Preis ist gleichsam ein besonderes Lebensgefühl: die Anonymität, die zufälligen Begegnungen im Lift und eine Art Zusammengehörigkeit, die aus der gemeinsamen Teilhabe am Projekt Moderne erwächst. Werden aus den flüchtigen Begegnungen im Treppenhaus Bekanntschaften, bietet sich für ein gemeinsames Abendessen das Restaurant oben an, durch dessen Glaswände man auf »die Lichter von Wien«49 hinuntersieht.
45 Karl Frucht: Verlustanzeige. Ein Überlebensbericht. Wien: Kremayr & Scheriau 1992, S. 122. 46 Gerhard Höpp: Mohammed Essad Bey oder Die Welten des Lev Abramovicˇ Nussenbaum. In: Essad Bey : »Allah ist gross«. Niedergang und Aufstieg der islamischen Welt von Abdul Hamid bis Ibn Saud. München: Matthes & Seitz 2002, S. 385–414, hier S. 402. 47 Annemarie Selinko: Morgen ist alles besser. Roman. Wien, Prag, Leipzig: Zeitbild-Verlag 1938, S. 115. 48 Ebd. 49 Ebd. S. 304. Vgl. dazu: Evelyne Polt-Heinzl: »Denn – die Stellung muß heute ein für allemal klargelegt werden«. Annemarie Selinko (1914–1986). In: E. P.-H.: Zeitlos. Neun Porträts. Von der ersten Krimiautorin Österreichs bis zur ersten Satirikerin Deutschlands. Wien: Milena 2005, S. 161–182.
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Amerika hat es anders In Maria Leitners Roman Hotel Amerika, der viele leidenschaftliche Bekenntnisse zur Großstadt enthält, schwärmt die reiche Bürgerstochter Marjorie: »Ich finde diese ungeheueren Häuserberge schöner, ergreifender als den Mont Blanc, denn von all dem hier können wir sagen, das ist unser Werk, diese Kolosse haben wir errichtet«, worauf der Collegeboy Bobby sarkastisch erwidert: »Ich wußte nicht, Marjorie, daß Sie der Gewerkschaft der Maurer angehören.«50 Das lenkt den Blick ebenso auf soziale Implikationen der Errichtung der Hochhausarchitektur wie Arthur Holitschers prinzipielle Reflexion über die New Yorker Skyline. Nachdem die Grundstückspreise auf der Südspitze von Manhattan »wahnwitzig in die Höhe getrieben« worden waren, »mußten die Stockwerke diesen Grundpreisen in ihre schwindelnde Höhe nachklettern, und das ist also die ästhetische Grundidee des W[olkenkratzers].«51 Wie die despektierliche ›Verkleinerung‹ des Wolkenkratzers auf sein Initial schon andeutet, sind Holitschers Vorbehalte durchaus prinzipieller Natur. Hochhäuser sind für ihn viereckige Ziegelsteine mit Poren, nein, besser gesagt, große aufrecht hingestellte holländische Waffeln, nein, riesige Siebe mit Löchern drin, das ist’s: Siebe, mit ungeheuer vielen Löchern. Da stehen sie beieinander. Man kann sich nicht denken, daß da drinnen Menschen leben sollen, daß hinter jenen Löchern dort menschliche Wesen mit Augen, Nasen und Haaren auf dem Kopf ihr Leben verbringen.52
Was das praktische Erleben betrifft, waren österreichische Reisende wie Holitscher hier im Jahr 1913 auf Hochhäuser tatsächlich nicht gut vorbereitet. Für eine allmähliche Einübung des Blicks sorgten bald zahlreiche Bildreportagen, deren Bildqualität sich durch das neue Tiefdruckverfahren in Magazinen wie dem Kuckuck entscheidend verbesserte53. Damit ebenso wie über Filmbilder diffundierte das Wissen um das Hochhaus amerikanischen Typs auch ins breite Volk. Als der betrügerische Autoverkäufer Kobler in Ödön von Horv#ths Roman Der ewige Spießer seine Reise zur 20. Weltausstellung in Barcelona, eröffnet am 19. Mai 1929, antritt, versorgt er sich mit Reiselektüre, »nämlich mit einem Magazin. Da schulterten im Schatten photomontierter Wolkenkratzer ein Dutzend Mädchen ihre Beine, als wärens Gewehre«54. Ob Kobler in Barcelona dann auch den deutschen Pavillon Mies van der Rohes besichtigt, erfahren wir nicht. Das Hotel aber, in dem er absteigt, »war fast ein Wolkenkratzer, ein Spekulati50 Leitner, Hotel Amerika, S. 199. 51 Arthur Holitscher : Amerika heute und morgen. Reiseerlebnisse. Berlin: S. Fischer 1913, S. 47. 52 Ebd. S. 40f. 53 N.N.: Wolkenkratzer. In: Der Kuckuck 1 (1929), Nr. 21, S. 8f. 54 Ödön von Horv#th: Der ewige Spießer., Frankfurt/M.: Fischer 1987 (= Gesammelte Werke, Bd. 12), S. 156.
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onsobjekt in der Nähe der Weltausstellung, das sehr zerbrechlich war – wahrscheinlich brauchte es nur über die Dauer der Weltausstellung zu halten.«55 Während Holitscher die neue Architektur als Akt der Zerstörung erlebt, Hochhäuser gehören für ihn zum »amerikanisch großmäuligen, aus Sandsteinquadern getürmten Geschlecht von Riesenkasten, ohne Charakter und Eigenart«56, sieht Arthur Rundt eine derartige »Wohnmaschine« in Gestalt eines amerikanischen »Wolkenkratzer-Hotels« in Paris – »mit seinen zwei- bis dreitausend Zimmern, mit der mechanischen Briefverteilung, mit dem Normal- und dem Express-Lift, mit den flitzenden Boys, mit der imponierenden Personalziffer«57, durchaus als zukunftsweisend im positiven Sinn. Rundt hatte bei seinen wiederholten Amerika-Reisen58 ausführlich Gelegenheit, sich an diese architektonischen Menetekel der Moderne zu gewöhnen. In seinen 1926 erschienenen Reiseeindrücken Amerika ist anders zeigt er eine bemerkenswerte Offenheit für den neuen Stadtprospekt in den USA. »Wie das Zwerghaus sich nachbarlich an den Wolkenkratzer lehnt, lebt neben dem Mammutverdiener der Mann, der dreißig Dollar Wochenlohn heimbringt«59, und beides ist für Rundt Ausdruck des spezifischen Verständnisses von Demokratie in Amerika, das auch ein Mittel gegen ideologische Radikalisierung sein kann: In den Straßen der Weltstadt sind die Stätten der sonntäglichen Andacht bescheiden zwischen Wolkenkratzer geklemmt. Die Turmspitze der Kirche reicht dem Betonriesen, dem Geschäftshause nur bis zum Knie; der Riese schaut streng, aber duldsam auf das kleine schnörkelige Ding zu seinen Füßen. Dieses Bild, diese Proportion der Formate ist aufschlußreich. – Nirgends in Amerika herrscht eine bestimmte Kirche als klare Majorität. Bekenntnisse, Glaubensschattierungen, Sekten sind planlos durcheinandergewürfelt.60
Im selben Jahr wie Rundt beschreibt Ann Tizia Leitich unter dem Titel Amerika, du hast es besser ihre Eindrücke von »den tiefen Straßenkanälen und den vielen massiven Türmen. […] Newyorks berühmte Skyline, Newyorks Himmelslinie – Zacken, Grate, Dome, Schluchten«, so Leitich, »hat zwar viele Ausrufer, aber noch keinen Sänger gefunden.«61 Auch sie ist der neuen Architektur gegenüber durchaus offen, und das zeigt beispielhaft die Problematik abstrakt geführter 55 Ebd. S. 215. 56 Arthur Holitscher : Der Narrenführer durch Paris und London. Mit Holzschnitten von Frans Masereel. Frankfurt/M.: Fischer 1986, S. 83. 57 Arthur Rundt: Das kleine Pariser Hotel. In: Prager Tagblatt, 13. 5. 1928, S. 4. 58 Nachgewiesen sind Amerika-Reisen in den Jahren 1924, 1925, 1938, 1932, 1935, 1936, vgl. https://www.libertyellisfoundation.org (Zugriff 30. 7. 2019). 59 Arthur Rundt: Amerika ist anders. Illustriert von Tibor Gergely. Berlin: Wegweiser Verlag 1926, S. 9. 60 Ebd. S. 15. 61 Ann Tizia Leitich: Amerika, du hast es besser. Wien: Steyrermühl 1926 (= Tagblatt-Bibliothek, Bd. 272/273), S. 9, 11.
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Modernediskurse. 1938 preist Leitich im Bekenntnisbuch österreichischer Dichter die Siedlungen der Amischen in Pennsylvanien als »ein Paradies, das sich ein kraftvoll abgeschlossenes Deutschtum geschaffen hat, um auf die Kampfplätze der Welt zurückzukehren«62. Unmittelbar nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten löste Leitich Annemarie Selinko in ihrer Rolle als Verfasserin einer Interview-Rubrik in der Zeitschrift Die Bühne nahtlos ab. Selinkos letzter Beitrag erschien im zweiten Märzheft 193863, im ersten Aprilheft folgt Leitichs »Gespräch mit unsern grossen Brüdern«, also den »Soldaten der Wehrmacht und der Polizei«, die in Österreich im »beispiellos strahlenden Zuge« empfangen wurden, »und immer wieder staunen und freuen wir uns über sie. Es ist so viel Licht um sie; in ihren hellen Gesichtern, ihren blitzenden Augen, ihrem dahinwehenden Schreiten.«64 Während Selinko die Zeit des Nationalsozialismus in Skandinavien verbrachte und dort am Widerstand teilnahm, waren jene, die vom Nationalsozialismus ins Exil getrieben wurden und Zuflucht in den USA fanden, dann auch von der Architektur überwältigt. »Ich legte mich auf den Boden des Autos, um die Gipfel der Wolkenkratzer zu sehen […]. ›Eine Frau kommt in New York an und wirft sich auf den Boden, um die Wolkenkratzer anzubeten‹«65, schrieb Alice Herdan-Zuckmayer in ihren Erinnerungen. Eine derartige Begeisterung ergab freilich nicht zwingend eine neue Beheimatung. In Hans Weigels Remigrationsroman Unvollendete Symphonie freut sich Peter Taussig, dass ihn nach seiner Rückkehr Menschen von früher wieder erkennen und grüßen. »[…] darauf soll man verzichten? Für Wolkenkratzer und Coca Cola? […] Hier kratzen die Wolken sich selber, wenn es sie juckt – und es geht auch«66, lässt Weigel ihn sagen und verhandelt damit noch den Konflikt zwischen dem Remigranten der ersten Stunde und jenen Vertriebenen, die eine Rückkehr in die einstige Heimat programmatisch ablehnten, im Bild des Wolkenkratzers.
62 Ann Tizia Leitich: Deutsches Erlebnis in Pennsylvanien. In: Bekenntnisbuch österreichischer Dichter. Hrsg. vom Bund deutscher Schriftsteller Österreichs. Wien: Kristall Verlag 1938, S. 61, Hervorhebung im Original. 63 A. S. [d. i. Annemarie Selinko]: Gespräch mit einer Blumenfrau über den Frühling. In: Die Bühne (1938), Nr. 468, S. 10. 64 Ann Tizia Leitich: Gespräch mit unsern grossen Brüdern. In: Die Bühne (1938), Nr. 469, S. 1–2, hier S. 1. 65 Alice Herdan-Zuckmayer: Das Scheusal. Die Geschichte einer sonderbaren Erbschaft. Frankfurt/M.: S. Fischer 1983, S. 173. 66 Hans Weigel: Unvollendete Symphonie. Roman. Innsbruck: Österreichische Verlagsanstalt 1951, S. 36.
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Wiens mediale Wolkenkratzer: vermittelte Urbanität in Ann Tizia Leitichs Amerika-Reportagen 1923–1932
I. »Alte und neue Türme. Trinity-Kirche und Irving Trust-Gebäude.« So lautet der Untertitel des Bildes auf Seite 21 von New York, einem 1932 erschienenen Band mit 69 Abbildungen von New York City und einer kurzen Sammlung feuilletonistischer Essays von Ann Tizia Leitich (Abb. 1). Im Bild werden zwei Turmspitzen optisch in unmittelbare Nähe gebracht, damit ein starker Kontrast entsteht. Der vordere, dunkle Turm gehört der Trinity Kirche, eine Episkopalkirche an der Ecke zweier weltberühmter Straßen, dem Broadway und der Wall Street. Diese Kirche verkörpert wie kaum eine andere die amerikanische Geschichte: 1697 von englischen Kolonisten gegründet, brannte der Originalbau im revolutionären Schicksalsjahr 1776 nieder. Der 86 Meter hohe neogotische Turm, 1846 eingeweiht, war Jahrzehnte lang der höchste Turmbau New Yorks.1 Hinter dem dunklen Trinity-Turm erhebt sich die glänzend weiße Masse des Irving Trust Gebäudes, heute »One Wall Street« genannt. Mit seinen 199 Metern Höhe und seiner elegant geschwenkten Art-Deko Fassade, dominiert das Hochhaus das Bild. Das neue Irving Trust Gebäude – 1931 fertiggestellt, gleich vor der Veröffentlichung von Leitich’s New York – steht neben der Trinitykirche als Ausgangspunkt der Metropole. Genau da, in der Wiege New Yorks, erklärt Leitich, fängt auch das moderne New York an: »Wall Street steht heute fast dort, wo New York beginnt, von wo aus die türmende, himmelstürmende WolkenkratzerArmee ins Meer zu schreiten scheint.«2 Der Kontrast zwischen den beiden abgebildeten Türmen ist gewaltig, und das Bild in Leitichs Bericht ist zweifellos ästhetisch und inhaltlich gelungen. Man könnte nun annehmen, dass das Bild – und der gesamte New York Band – wenig mit Wien zu tun haben, abgesehen von der Herkunft der Autorin. Kirchentürme gab es im Wien der zwanziger und dreißiger Jahren genug, wohl aber kein 1 Vgl. dazu https://www.trinitywallstreet.org/about/history (Zugriff: 19. 7. 2019). 2 Ann Tizia Leitich: New York. Mit 69 Abbildungen. Leipzig: Velhagen und Klasing 1932, S. 5.
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Abbildung 1: Ann Tizia Leitich: New York. Mit 69 Abbildungen. Leipzig: Velhagen und Klasing 1932, S. 21.
einziges Haus, dass sich sachlich gesehen als Wolkenkratzer beschreiben ließ. Die Erfahrung des urbanen Raumes ist jedoch nicht nur auf die erbaute Realität der physischen Stadt begrenzt. Obwohl die Wiener Skyline der Zwischenkriegsjahre nicht viel anders aussah als im Wien der Kaiserzeit, überragten endlose Wolkenkratzer die Wiener Medienlandschaft. In Plakaten, Zeitungen, Filmen, Romanen und sogar in Operetten rückten die alten Wiener Kirchtürme immer wieder in die Schatten der medialen Riesen. Eine Hochburg dieser amerikanisierten Medienlandschaft bildete das Werk von Ann Tizia Leitich, Verfasserin des New York Bandes. Seit 1923 war Leitich die Amerika-Korrespondentin der bürgerlichen Wiener Zeitung Neue Freie Presse. Sie bemühte sich durch zahlreiche Feuilletons, Artikel, Rezensionen und Besprechungen »die amerikanische Szene für das lesende europäische Publikum zu interpretieren.«3 3 Original auf Englisch: »…interpreting the American scene for the European reader.« Leitich,
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Der vorliegende Beitrag bewertet Leitichs Beteiligung an der medialen Vermittlung amerikanischer Stadträume im Rahmen des Wiener Urbanitätsdiskurses der zwanziger und frühen dreißiger Jahre. Trotz ihrer Aneignung der von Oswald Spengler verbreiteten Polarisierung der erhabenen Europäischen »Kultur« der Kirchentürme und der inhaltslosen amerikanischen »Zivilisation« der Wolkenkratzer, sieht Leitich die Landschaft der amerikanischen Metropole als Symbol einer entstehenden Kultur der Zukunft, die die Europäische Stadtlandschaft – samt des verkümmerten Wiens der Nachkriegszeit – wieder wirtschaftsfähig und relevant machen könnte. In den Zwischenkriegsjahren suchte man vergeblich nach einem richtigen Wolkenkratzer in Wien. Obwohl das Hochhaus immer wieder als Symbol des neuen sozialdemokratischen Wiens verwendet wurde, z. B. in Viktor Theodor Slamas ikonischem sozialdemokratischem Plakat für die Nationalratswahl von 1930 (Abbild 2), entfernten sich die Architekten des »Roten Wiens« von dem üblichen amerikanischen Hochbau-Format wenn es darum ging, ihre berühmten Gemeindebauten zu gestalten. Der Reumannhof, ein sozialdemokratischer Gemeindebau, wurde 1925 eröffnet und ragte zwar über das Niveau des Margaretengürtels hinaus, aber er ist, verglichen mit den Originalplänen Hubert Gessners, im Zuge der Umsetzung erheblich gekürzt worden.4 Ein monumentaler sozialdemokratischer Hochhauskomplex von Rudolf Fraß wurde kurz nach der Eröffnung des Karl-Marx-Hofs von dem Tisch geräumt, weil der »liegende Riese« den Herzen der Austromarxisten näher lag als ein Hochhaus im amerikanischen Stil.5 Als das Projekt von Fraß abgesagt wurde, protzte die ChristlichSoziale Bundesregierung mit dem ersten Wiener Wolkenkratzer. Das sogenannte Hochhaus in der Herrengasse wurde zwischen 1931–1932 nach Plänen von Siegfried Theiss und Franz Jaksch gebaut. Das neue Gebäude war in der Tat jedoch kaum 50 Meter hoch, und wurde in der Presse als »Hochhäuserl« verspottet. Durch seine abgestufte Bauweise ließ sich das Haus von Weitem leicht erkennen, aber von der Herrengasse selbst war die ganze Höhe des Hauses nicht zu sehen. Das ›Rote Wien‹ war in den Worten des Architekturhistorikers Helmut Weihsmann »überhaupt nicht Wolkenkratzerreif,« sei es aus Angst, wegen einer konservativen Baukultur, oder auf Grund eines Mangels an fachmännischen Baukenntnissen.6 Aber der Mangel an Wiener Hochhäusern war nur in dem eigentlichen verbauten Stadtbild zu bemerken. Österreichische Architekten begrüßten im Brief an die amerikanische Botschaft in Wien (ohne Datum, aber nach 1933), Teilnachlass Ann Tizia Leitich: ZPH 432: 2.1.3.1, Wien Bibliothek. 4 Helmut Weihsmann: Das Rote Wien. Sozialdemokratische Architektur und Kommunalpolitik 1919–1934. Wien: Promedia 2002, S. 167. 5 Ebd. S. 170. 6 Ebd. S. 169.
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Abbildung 2: Viktor Theodor Slama: Plakat: »Volkswohnungen – nicht Luxusvillen…« Erscheint mit der freundlichen Genehmigung des Vereins für Geschichte der Arbeiterinnen Bewegung, (VGA) Wien.
Grunde die Hochhausrevolution, die sich aus den Vereinigten Staaten über die ganze Welt ausbreitete. Wie anderswo in Europa, dominierten Hochhaus-Bilder auch die Wiener Medienlandschaft. Skizzen und Entwürfe der nicht gebauten Wiener Hochhäuser konnte man in Ausstellungen und Zeitschriften sehen. Die Wolkenkratzer waren jedoch nicht nur in den Zeitungen und Museen sichtbar, man konnte die Bilder der amerikanischen Riesen auch kaufen. Der deutsche Architekt Erich Mendelsohn reiste z. B. nach New York, um die Hochhäuser Manhattans vor Ort zu untersuchen. Seine Bildersammlung Amerika: Bilderbuch eines Architekten war ein Lobgesang auf die amerikanische Städtearchi-
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tektur und begeisterte die deutschsprachige Architekturwelt.7 Mendelsohns österreichischer Partner, Richard Neutra, präsentierte kurz danach ebenfalls seine Ideen zur amerikanischen Architektur in dem Buch Wie Baut Amerika.8 Sogar der Regisseur Fritz Lang benutzte Mendelsohns Projekt um seine eigenen Ideen für den Film Metropolis zu entwickeln.9 In seinem Bilderbuch rückte Mendelsohn dasselbe Motiv, das Ann Tizia Leitich später reizte, in den Vordergrund: Die Turmspitze der Trinity Church in Zusammenhang mit den Wolkenkratzern New Yorks. In dem Untertitel des Bildes erklärt Mendelsohn den Reiz des Motivs der alt/neuen Türme: Am Kreuzpunkt von Broadway und Wallstreet, New Yorks Hauptadern des Handels und des Geldes, zwischen Hochbahn und Expreßbahnhof der Subway. Am Alltag zur Mittags-und Feierzeit umdrängt von den 300.000 Bankangestellten, am Sonntag feierlich in Stille. Einst sicherer Andachtsort der Seeabenteurer, heute mit gotischem Turm und Friedhof europäische Reliquie noch höherer Ordnung und überirdischer Weltherrschaft.10
Die Türme stehen in New York, aber sie drücken einen größeren, universelleren Kontrast aus: Der Kirchturm hat eine Symbolkraft, die auf einem unsichtbaren kosmischen System beruht, während die wirtschaftliche Kaufkraft des urbanen amerikanischen Lebens die Kirche umdrängt und sie zu einer »europäische(n) Relique« macht. Das alte System darf nur noch einmal in der Woche dominieren, aber die Wochentage gehören bereits der neuen Ordnung.
II. Diese vergleichende Gegenüberstellung von amerikanischem Wolkenkratzer und europäischem Kirchturm wurde zu einer Ikone der Zwischenkriegszeit im deutschen Sprachraum, d. h. auch in Wien. In einem Werbeplakat für Paul Abrahams »Tonfilm Operette« Geschäft mit Amerika (Zwei glückliche Herzen, 1932) sitzt ein überdimensionaler Businessmann auf einem gelben Wolkenkratzer (Abbildung 3). Zu seinen Füßen weht auf einem Nebengebäude die amerikanische Fahne. Der Businessmann hält die Hand einer ebenso riesigen Wienerin, die zierlich auf dem Dach des Stephandoms sitzt, ihren Arm lieblich 7 Vgl. dazu die Besprechung in der renommierten Wiener Zeitschrift Bau- und Werkkunst 1925, S. 369f. in der Rubrik Neue Bücher, wo es u. a. hieß: »Ein Buch, das man nicht auslesen kann […] ein Buch geradezu phantastisch-abenteuerlicher Augenerlebnisse.« 8 Richard Neutra: Wie baut Amerika. Stuttgart: Julius Hoffmann, 1927. 9 Wolfgang Jacobsen, Werner Sudendorf: »Metropolis: Decades Ahead, Millenia Behind.« In: W. J., W. S. (Hgg.): Metropolis: A Cinematic Laboratory for Modern Architecture. Stuttgart: Menges 2000, S. 8. 10 Erich Mendelsohn: Amerika: Bilderbuch eines Architekten. Berlin: Rudolf Mosse 1926, S. 21.
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Abbildung 3: Plakat: Geschäft mit Amerika. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien.
um den »Steffl,« den gotischen Turm des Domes, gelegt. Wie Erich Mendelsohn schrieb, wird der Wolkenkratzer zum amerikanischen Symbol schlechthin, der Kirchturm vertritt dagegen das europäische. Das Plakat für Geschäft mit Amerika bringt auch das Thema der Geschlechterverhältnisse auf: der amerikanische Wolkenkratzer symbolisiert/verkörpert dabei das Männliche, während der europäische Kirchturm eher das Weiblichen zum Ausdruck bringt. Wie der Turm selbst ist der Businessmann höher als die Frau auf der Kirche, in einer Position der Macht und Überlegenheit. Aber im Plakat geht es nicht um bedrohliche Machtverhältnisse. Beide Figuren lächeln vergnügt, und die unterschiedlichen Gebäude/Menschen werden durch die Blicke und das Händchenhalten vereinigt. Eine Beschreibung aus dem Drehbuch des Filmes macht den Operetten-Helden selbst zur Architektur : »Ich habe dir ja gesagt: Ein gigantischer Mensch, ein überlebensgroßer Amerikaner. Sogar seine Liebenswürdigkeit hat Wolkenkrat-
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zerformat.« Der Held sucht in Wien eine Schönheit, die auch architektonisch ist: »Aber hier in Wien will ich nur Schönes und Lustiges sehen: Ich will auf den Stephansturm steigen, in die Katakomben herunterklettern…«
Abbildung 4: [Inserat:] Amerika in Wien. In: Neue Freie Presse, 9. 5. 1926, S. 5.
Während die Kirche und der Wolkenkratzer auf dem Geschäft mit Amerika Plakat zwei voneinander getrennte Stadträume darstellen, erscheinen die medialen Hochhäuser manchmal mitten in Wien. In einer Zeitungsreklame aus dem Jahr 1926 für das sogenannte Mode-Palais Julius Krupnik verkündet ein riesiger Wolkenkratzer die Ankunft von »Amerika in Wien« (Abb. 4). Obwohl das imaginäre Hochhaus die bekannte Stadtsilhouette Wiens komplett überragt, will das Bild als positives Signal verstanden werden. Der Schriftzug der Reklame erklärt nämlich: »Einzig und allein das Festhalten an den amerikanischen Geschäftsmethoden: Größter Umsatz-kleinster Nutzen sowie unser Prinzip – Bar-Einkauf–Bar Verkauf versetzt uns in die Lage, das Beste bei phantastischen Preisen zu bieten.« Das riesige Format des Hochhauses soll die überwältigende Macht der amerikanischen Wirtschaftsideen illustrieren. Diese amerikanischen Gedanken bringen nicht nur niedrige Preise mit sich, sondern auch die körperliche Raumerfahrung einer amerikanischen Metropole: »Infolge des Riesenandranges in den Nachmittagsstunden ersuchen wir unsere P.T. Kunden in liebenswür-
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digster Weise, auch den Vormittag zum Einkauf zu benutzen.« Auch wenn der Wolkenkratzer nur metaphorisch zu verstehen ist, verwandelt sich die Einkaufsmeile um die Mariahilferstraße – zumindest in den Nachmittagsstunden – in einen echten Riesenandrang, wie man ihn sonst nur in Manhattan erleben kann.
Abbildung 5: Standfoto aus Die vom 17er Haus, Regie: Artur Berger. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Filmarchivs Austria.
Obwohl die austromarxistischen Politiker des Roten Wien keine Hochhäuser in ihr markantes Bauprogramm aufgenommen haben, greifen sie oft auf dieselbe ikonische Nebeneinanderstellung von Kirche und Hochhaus, die Leitich in ihrem Buch New York verwendete, zurück. In dem Film Die vom 17er Haus, ein sozialdemokratischer Wahlwerbefilm für die Landtagswahl 1932, sieht man z. B. die Vision von einem gesunden, erfolgreichen Wien der Zukunft. Die Zuschauer erleben dieses Wien aus dem Jahre 2032 zuerst als eine Reihe glänzender Hochhäuser. Der Blick schweift allmählich nach unten, und erst dann erkennt man die markanten Turmspitzen und das Dach des Stephansdoms (Abbildung 5). In einem der Wiener Hochhäuser erklärt ein Archivar seinem Enkel die Wichtigkeit der Landtagswahl vor hundert Jahren. Dank dieser Wahl sei Wien zu einem Schauplatz der Gesundheit, Freiheit und gesellschaftlichen Gerechtigkeit
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geworden. Der Stephansdom macht die Stadt Wien in dieser Zukunftsvision überhaupt erst erkennbar. Die Wolkenkratzer verweisen dagegen auf die Energie und den Wohlstand, die Wien durch kluge politische Entscheidungen zuteil werden könnte. Zu den medialen Wolkenkratzern, denen man in Wien begegnete, gehörten demnach die Hochhäuser, von denen in den vielen Feuilletons, Rezensionen und Filmbesprechungen von Ann Tizia Leitich zu lesen war. Schon lange vor dem Erfolg ihres New York Bilderbuchs hatte sich Leitich als eine der wichtigsten Stimmen in der österreichischen Amerika-Rezeption etabliert und behauptet. Bis 1921 arbeitete Leitich als Lehrerin an einer Mädchenschule in Wien. Nebenbei versuchte sie in der Tradition der großen Wiener Feuilletonisten und Feuilletonistinnen wie Hermann Bahr, Joseph Roth, Betty Paoli, und Elsa Bienenfeld journalistische Essays zu schreiben. Nach Österreichs Niederlage im Ersten Weltkrieg und dem Zerfall des Habsburger-Reiches wurde ihr materieller Zustand zunehmend prekär, und sie suchte eine Möglichkeit, der versunkenen Pracht und der geistig verarmten Atmosphäre des Rumpfstaates DeutschÖsterreich zu entfliehen. Sie meldete sich als Begleiterin einer Gruppe junger Österreicherinnen, die in Amerika als Dienstmädchen arbeiten wollten. Sie selbst arbeitete als Putzfrau und Köchin in einem bemittelten Haus in Chicago, bis sie es dort nicht länger aushalten konnte. Dann studierte sie kurz an der Universität in Des Moines im Bundesstaat Iowa. Die öde Umgebung im amerikanischen Mittelwesten trieb sie nach New York, wo sie ein Leben als Stenotypistin und Sekretärin zu fristen versuchte. 1923 fing sie wieder an, feuilletonartige Artikel zu schreiben, die sie an die Neue Freie Presse schickte. Ihr frischer, unbekümmerter Schreibstil fand sofort Nachhall in diesem Organ, das schon jahrzehntelang als geistige Heimat des Wiener Feuilletons galt. Die nächsten Jahre hindurch versuchte Ann Tizia Leitich die Art und Entwicklung des amerikanischen Alltaglebens als Phänomen für ihre europäische Leserschaft zu beschreiben und zu interpretieren. Weil Leitich erst nach ihrer Ankunft in New York mit ihrer feuilletonistischen Arbeit begann, spielen die urbanen Räume der Hudsonmetropole von Beginn an eine wichtige Rolle in ihrem Werk. Immer wieder griff sie dabei auf die Bildsprache des Wolkenkratzers zurück, um ihre amerikanischen Einblicke zu verdeutlichen. In einem Artikel in der Chronikbeilage der Neuen Freien Presse vom 25. Februar 1925, beschreibt z. B. Leitich ihre Erlebnisse auf dem Dach eines Hochhauses, wo sie mit einer bunten Menge New Yorker eine Sonnenfinsternis beobachtet. Zuerst beschreibt sie das unheimliche Ereignis in schauerlichen Bildern: Stumm…stand das Heer von Newyorks sonst so lebfrohen Wolkenkratzern. Nirgends vielleicht, außer von der Warte eines Berges oder der triumphierenden, fast unbegreiflichen Freiheit des Luftschiffes, bot sich das Bild der totalen Sonnenfinsternis am
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24. Januar besser dar, als vom Dach eines der Riesen von Newyork-Manhattan. In grünlich bleichem Geisterschein, in dem man den Druck nicht mehr lesen konnte, reckte sich um uns, unter uns rätselhaftes Gemäuer ; Steinkolosse, die einst noch vor kaum einer Viertelstunde, stolze, tatenberedte Türme gewesen, uns allen vertraut, schienen nun namenlos fremd.11
Selbst die Wolkenkratzer, diese monumentalen Erzeugnisse eines vernünftigen Maschinenzeitalters, erscheinen in dem ungewöhnlichen Licht als etwas Mythisches. Leitich reiht sich in die Masse erstaunter Amerikaner ein: die wunderbaren Erscheinungen lassen ein gemeinsames »wir« erleben, die darauffolgende Entfremdung passiert »uns.« Doch bald unterscheidet sich die Europäerin von ihren Mitzuschauern. Leitich sieht etwas ausgesprochen Amerikanisches, das sich im New Yorker Umgang mit der Sonnenfinsternis offenbart: Da dies das Land nicht nur der größten Wissbegierde und Sensationslust, sondern auch der größten Zivilisation – nicht zu verwechseln mit Kultur – ist, so rückte man dem Phänomen mit einem wahrhaft überwältigenden Aufgebot an Teleskopen und Binokeln, Kameras, Kodaks jeder Kategorie und Größe…12
Leitichs technologiefreudige Nachbarn sind Angehörige einer amerikanischen »Zivilisation«, die Leitich ausdrücklich von dem Begriff »Kultur« unterscheiden möchte. Diese zwei Begriffe – Kultur und Zivilisation – bilden Gegenpole, die bekanntlich die europäische Amerika-Rezeption des 20. Jahrhunderts zutiefst prägten. 1919 erschien in Wien die erste Ausgabe von Oswald Spenglers kulturgeschichtlicher Abhandlung Der Untergang des Abendlandes. In seinem einflussreichen Werk entwickelt Spengler eine Morphologie der großen Weltkulturen. Jedes große Volk der Weltgeschichte, erklärt er, fängt als eine organische, bodenständige Kultur an, die eine eigene Kunst und Tradition entwickelt. Nach einer Blütezeit versinke jede Kultur in einen entarteten, dekadenten und technologiebesessenen Zustand, den Spengler als »Zivilisation« bezeichnet. Die Kunst und Schönheit des Kulturvolks werden dabei von der Wucht und Hässlichkeit der Zivilisation verdrängt: Der Untergang des Abendlandes bedeutet, so betrachtet, nichts Geringeres als das Problem der Zivilisation überhaupt. Eine der Grundfragen aller höheren Geschichte liegt hier vor. Was ist Zivilisation, inwiefern ist diese als organisch-logische Folge, als Vollendung und/oder Ausgang einer Kultur begriffen? Denn jede Kultur hat ihre eigene Zivilisation. Zum ersten Male werden hier die beiden Worte » . . als Ausdru¨ cke fu¨ r ein strenges und notwendiges organisches Nacheinander gefasst. Die Zivilisation ist das unausweichliche Schicksal einer Kultur. [. . .] Zivilisationen sind die äußersten und ku¨ nstlichsten Zustände, deren eine höhere Art von Menschen fähig ist. Sie sind ein Abschluss; sie folgen dem Werden als das Gewordene, dem Leben als der Tod, der 11 Ann Tizia Leitich: Finsternis in Newyork. In: Neue Freie Presse, 20. 2. 1925, S. 10. 12 Ebd.
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Entwicklung als die Starrheit, dem Lande und der seelischen Kindheit, wie sie Dorik und Gotik zeigen, als das geistige Greisentum und die steinerne, versteinernde Weltstadt.«13
Wie schon so oft in anderen Medien der zwanziger Jahre, setzt auch Spengler die Kirchturm-Gotik in ein gespanntes Verhältnis zu den steinernen Bauten der Weltstadt. Das Blütealter der griechischen Kultur war die Dorik; ihr Untergang überkreuzte sich mit Roms Aufstieg zur kosmopolitischen Metropole. Die abendländische Kultur florierte wiederum im gotischen Mittelalter und in der Renaissance, und ihren Untergang verkündeten die Wolkenkratzer der amerikanischen Zivilisation. Die Amerikanisierung Europas ist daher in Spenglers Sicht keine gewöhnliche Kulturkrise, sondern die Todesstarre einer dem Versinken entgegengehenden Kultur.
III. Wenn Ann Tizia Leitich ihre technologiesüchtigen New Yorker Mitmenschen als Teil einer »Zivilisation« beschreibt und ausdrücklich nicht als Teil einer »Kultur,« beschwört sie unkritisch oder unwissentlich die Spenglersche Morphologie herauf. Die Unterschiede zwischen dem europäischen »Kulturmenschen« und dem amerikanischen »Pioniergeist,« der einen riesigen Kontinent durch eine materielle Zivilisation bewältigt und sich geradezu aneignet, spielen in Leitichs Amerika-Reportagen keine unwichtige Rolle. Die Landschaften und Städte des Mittelwestens bedrückten Leitich, denn die Öde des neugewonnenen Landes unterschied sich grundlegend von der seit Jahrtausenden kultivierten Landschaft ihrer Heimat. In den amerikanischen Städten hat sie oft nur »trostlose Hässlichkeit«14 gesehen, die sie mit den Kirchentürmen und eleganten Caf8s ihrer Wiener Heimat verglich. Aber durch Leitichs journalistisches Werk entwickelt sich eine Kulturtheorie, die Oswald Spenglers pessimistisches Kultur/ Zivilisation Paradigma aufsprengt. Indem Leitich das amerikanische Wesen Jahre hindurch für ihre europäische Leserschaft beschrieb und interpretierte, griff sie immer wieder auf die Dichotomie Wolkenkratzer/Kirchturm zurück, um diese als Kulturtheorie zu fassen und zu schildern. In »Dollar und Ideale,« einem Feuilleton vom September 1923, findet sich Leitich vor dem Woolworth Building am Broadway in Manhattan. Dieser Wolkenkratzer wurde 1912 fertiggestellt und diente lange als der Inbegriff des amerikanischen Hochhauses. Zuerst beschreibt 13 Oswald Spengler : Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. München: C.H. Beck 1923, S. 42–43. 14 Ann Tizia Leitich: Ein Wort für Amerika. Noch einmal Monotonisierung der Welt. In: Neue Freie Presse, 25. 3. 1925, S. 1–4, hier S. 2.
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sie die Entfremdung, die sie angesichts dieses riesigen Gebäudes empfindet. Eine plötzliche Erleuchtung verwandelt aber ihre Gedanken über die amerikanische Stadt auf immer. Wie zahllose andere Stadtbilder der zwanziger Jahre, erscheint der Wolkenkratzer im Zusammenhang mit einem Kirchturm. Doch anstatt auf Spenglers Dichotomie Zivilisation/Kultur zurückzugreifen, erblickt sie eine architektonische Synthese, die auch Konsequenzen für ihren Kulturbegriff hat: …ich (stand) vor dem Woolworth-Building in Newyork, dem höchsten Gebäude der Welt, das aber in Plänen für zwei andere Gebäude schon übertroffen ist. Zuerst verstand ich es nicht, es schien nichts als ein riesiger Turm, mit Ameisen belebt, eine Masse in die Höhe modelliert. Aber plötzlich war es wie ein Schleier, der über meinen Augen zerriß, und vor mir stand der gotische Dom des zwanzigsten Jahrhunderts.15
Als Europäerin in Amerika hatte sich Leitich längst daran gewöhnt, in den neuen urbanen Räumen und Situationen den Verlust ihrer Heimat zu spüren. Vor dem Woolworth-Building zerfielen aber diese harten Trennungen zwischen dem altehrwürdigen Stadtbild der Heimat und der dynamischen Skyline New Yorks. Leitich sah vor sich etwas Vertrautes, nicht ganz Europäisches, aber an die alte Kultur Erinnerndes: Der Wolkenkratzer in seiner schlanken, unaufhaltsam und machtvoll zur Höhe strebenden Architektonik ist Poesie: Poesie des amerikanischen zwanzigsten Jahrhunderts, das feste, schwindelhaft kühn gemeißelte Gefüge, in dem unmerklich fast, aber dem suchenden Auge wohl erkennbar, gotische Motive, die Motive der idealistischen Scholastik, verwendet sind – verwischt, ohne daß ihnen der Ausdruck, ohne daß ihnen die Himmelsgrazie genommen wäre– es ist der Ausdruck des Dranges der vom Staube des Pflasters in blaue Höhe führt, Poesie eines Zeitalters der großartigsten materiellen Entwicklung, eines Volkes mit den blanken Kinderaugen der Völker ohne Vergangenheit und der größten der Zukünfte.16
Der Wolkenkratzer ist für das zwanzigste Jahrhundert genau das, was der Dom für das Mittelalter war : ein poetischer Ausdruck einer jungen, aufstrebenden Kultur, die sich behaupten will. Dass Leitich diese Erleuchtung gerade vor dem Woolworth Building erlebt hat, ist wohl kein Zufall. Der gotisierte Bau wurde mehrfach von europäischen Architekten kritisiert, weil seine historischen Formelemente pietätslos auf ein riesiges, modernes Stahlskelett aufgesetzt wurden.17 Aber der historistisch wirkende Bau ermöglicht Leitich jene wichtige Erkenntnis: der Wolkenkratzer muss nicht unbedingt technokratischer Bote eines kulturellen Untergangs sein, sondern kann eine weitere Entwicklungsstufe jener Kultur anzeigen, die den gotischen Kirchturm hervorgebracht hat. 15 Ann Tizia Leitich: Dollar und Ideale. Ein weiterer Brief an den Kronenfreund. In: Neue Freie Presse, 4. 9. 1923, S. 12. 16 Ebd. 17 Vgl. Neutra, Wie baut Amerika.
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Indem Leitich sowohl den Geist des gotischen Doms als auch das Streben des Wolkenkratzers in einem Gebäude vereinigt, durchbricht sie Spenglers klare Trennung von einer Kultur, die an der Vergangenheit orientiert ist und einer Zivilisation der Zukunft. Wie in der Reklame »Amerika in Wien,« wird das Woolworth Building als eine positive, Zuversicht ausstrahlende Kraft dargestellt, die die Kultur der Vergangenheit nicht nur verschont, sondern aufgreift und in angemessener Weise weiterführt. Die unterschiedlichen Kräfte, die das Haus repräsentiert, sind keine Gegenpole mehr, da sie sich vervollständigen. Diese dialektische urbane Beziehung zwischen vergangenheitsbezogener Kultur und zukunftsbezogener Zivilisation wird in den frühen zwanziger Jahren von dem deutschen Philosophen und Psychologen Paul Bommersheim theorisiert. In der Winter-1921- Ausgabe von Bruno Tauts Architekturzeitschrift Frühlicht erklärt Bommersheim die Notwendigkeit zweier »Urprinzipien« in einer erfolgreichen Stadtlandschaft, das »Ewige« eines Kirchturms sowohl wie das »Lebendige« eines Wolkenkratzers: Das Ewige ist das, was unberührt ist von allem Wechsel, was erhaben ist über Werden und Wachsen und Weichen und Vergehen, was ruht, unangetastet von aller Unruhe. Das Lebendige ist das, was beständig wechselt und neu wird, immer andere Formen wirft und wieder zerstört, nie ruht, sich immer wendet in sekundlicher Kraft. Beide Urprinzipien durchdringen sich mannigfach, indem sie die Welt durchdringen. Sie durchdringen auch das Dasein der Stadt und verlangen von daher den Stadtbau zu durchdringen18
Bommersheims allumfassendes Stadtbild verwirft jede Spenglersche Idee der Feindlichkeit von Kultur und Zivilisation. Beide Kräfte tragen vielmehr dazu bei, dass sich eine Stadt im Gleichgewicht in die Zukunft entwickeln kann, ohne einem kulturellen Untergang geweiht zu sein. Jede Stadt braucht Ewiges, Geschichtliches und Lebendiges, und – wie man dies im Bild vom alten und neuen Turm aus Leitichs Bilderband New York gut erkennen kann – erzeugt aus der Verbindung dieser beider Urprinzipien einen fesselnden architektonischen Dialog. Als Wiener Journalistin in Amerika weist Leitich oft auf das fehlende »Ewige« in der amerikanischen Landschaft hin, auf ein Land »ohne Vergangenheit aber mit der Größten der Zukünfte.«19 Das Imposante an der amerikanischen Stadtlandschaft und das, was sie für die Gesundung des Nachkriegs-Europa unentbehrlich findet – ist die Möglichkeit, dass eine lebendige Zivilisation auch eine ewige Kultur hervorbringen könne. Jene Kultur wird eine wachsende Kultur 18 Paul Bommersheim: Das Ewige und das Lebendige. In: Bruno Taut: Frühlicht. 1920–1922. Eine Folge für die Verwirklichung des neuen Baugedankens. Berlin: Ullstein 1963. S. 114– 116. 19 Leitich, Dollar und Ideale, S. 12.
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der Zukunft sein anstatt einer erhaltenen Kultur mit Blick in die Vergangenheit. Während Bommersheim ein »Ewiges« beschreibt, das »erhaben ist über Werden und Wachsen,« beschreibt Leitich eine ewige Macht in der werdenden und wachsenden New York-Skyline, die keiner alten Kirche bedarf: In der unteren Stadt, im Downtown, steigen aus dem herrlichen Hafen die Wände von Manhattans brüstenden Giganten, weiß, turmbewehrt, flaggengeschmückt, hunderttausendäugig hinauf in die Bläue, mit einer Tollkühnheit sondergleichen und zugleich mit einer Ruhe, einer Selbstsicherheit, einer Selbstgenügsamkeit, wie sie sonst nur die vieltausendjährige Weisheit der Berge besitzt. Newyorks berühmte Skyline, Newyorks Himmelslinie – Zacken, Grate, Dome, Schluchten – sie hat zwar viele Ausrufer, aber noch keinen Sänger gefunden. Wie sie aus dem Meer heraus gerade sich selbst emporträgt, ein Kyrieeleison!20
Selbst ohne Kirche enthält New York etwas Ewiges, sogar Heiliges: eine Ruhe, eine Selbstgenügsamkeit, die auch ohne Gotik ein Kyrieeleison hervorbringen kann. Das einzige, was zur Kultur fehlt, ist ein passendes Lobeslied: von einem Sänger anstatt eines Ausrufers. Leitich, als »Kultureuropäerin,«21 wird selbst zu dieser Sängerin einer sich emporhebenden Zivilisation, die sich allmählich zur Kultur entwickelt. Für Leitichs europäische Leser ist das ein Hinweis: die Wucht des amerikanischen Phänomens muss keinen kulturellen Untergang bedeuten, sie offeriert vielmehr neue Möglichkeiten für eine in die Zukunft weisende Kultur. Aber Leitich ist nicht so naiv, dass sie den schwierigen Weg des ›Kulturträgers‹ unterschätzt. Dass die Amerikaner nur das Ausrufen der archetektonischen Schönheit vermögen, und noch nicht als Sänger auftreten dürfen, hat auch mit ihren literarischen Wolkenkratzern zu tun. Technologische Entwicklung heißt noch nicht, dass auch gleichzeitig bedeutungsvoller, erfüllender Inhalt erzeugt werden kann. Das Problem der Amerikaner – und derjenigen Europäer, die amerikanische Massenprodukte allzu freudig und unkritisch verzehren – ist das Unvermögen, sich tiefer als die rein zivilisatorische Oberfläche zu begreifen. In einem Feuilleton vom 13. 11. 1926 mit dem Titel »Ecce Amerika,« behauptet Leitich, dass die Europäer in Sachen Kulturkrise nicht allein wären. Nach der riesigen Aufgabe der Erschließung des amerikanischen Kontinents, stehen die Bewohner der neuen Welt vor einer neuen Aufgabe: So kommt es, daß der Amerikaner rastlos wird. Er weiß nun schon, daß es keine Pionierarbeit mehr zu leisten gibt, keine Welten mehr zu erobern gibt. Denn mit dem großartigen Werk seiner Maschinenzivilisation war er innerlich fertig, so wie sie äu20 Ann Tizia Leitich: Z R III in New York. In: Neue Freie Presse, 29. 11. 1924, S. 10f., hier S. 10. 21 Ann Tizia Leitich: Auf der Jagd nach einem ›Job‹ in New York. In: Neue Freie Presse, 2. 8. 1923, S. 9.
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ßerlich vollendet war eben zu der Zeit, als Europa sie dithyrambisch zu beschreiben begann. Und er sagt sich: What next? Was nun?22
Die zentralen zivilisatorischen Schritte sind abgeschlossen, und trotzdem findet der Amerikaner bzw. Amerika eine neue, enorme Aufgabe vor sich: mitten in der neuen Form seiner Zivilisation auch bedeutungsvolle kulturelle Inhalte zu erzeugen. Die Schwierigkeit seiner Aufgabe und Herausforderung könne man deutlich an den amerikanischen Wolkenkratzern ablesen: Es baute Hochhäuser und hatte ausgezeichnete, originelle, ja künstlerische Gedanken dabei. Aber der Fluch seines von der Sehnsucht zum Rekord vorwärtsgepeitschten Bewegungsfanatismus lässt es auch hier wieder in Oberflächlichkeit schwelgen. Seine enorme Expansionskraft raubt ihm die Fähigkeit, sich zu vertiefen. Immer wieder. Kaum hat es etwas begonnen und die Oberflächen abgetastet, will es schon wieder weiter.23
Leitichs Amerikaner sind durchaus kulturfähig, werden aber durch ihren Zwang zur Zivilisation dabei behindert. Obwohl sie drei Jahre früher das WoolworthGebäude als Beispiel einer sich entwickelnden amerikanischen Kultur nannte, versteht sie 1926 das Hochhaus als interessanten, aber letztlich oberflächlichen Kulturimpuls. Doch gerade hier sieht Leitich eine mögliche Lösung für beide Kulturkrisen: für die amerikanische ebenso wie für die europäische. Wie es sich Paul Bommersheim auch vorstellte, schlägt Leitich eine Mischung des Ewigen mit dem Lebendigen, und des Zivilisatorischen mit dem Kulturtragenden vor : Europas Talent beugt sich unter ein kandinisches Joch. Amerikas Talent macht Geld, denn Geld allein bedeutet ja Erfolg. Wer es nicht vermag, kann nichts wert sein und sein Ruf verhallt ungehört. Amerika wird so lange nicht wahrhaft groß sein als seine besten Leute von Busineß und Dollar konsumiert werden, und abends ins Theater gehen lediglich, um ihr Gehirn auszuspannen. Europa aber, statt es ihnen nachzutun, sollte sie lehren, wie man es macht, nicht von Busineß und Dollar konsumiert zu werden und doch etwas zu leisten.24
Zivilisation und Kultur stehen sich hier nicht mehr als unvereinbare Gegensätze gegenüber, und schon gar nicht als Gesundheit und Krankheit einer Rasse oder Menschengruppe, wie Oswald Spengler sie beschrieb. Leitich sieht stattdessen eine kulturelle Verbindung, die die in Krise gekommene europäische Kultur und die angeödete amerikanische Zivilisation zum gegenseitigen Nutzen verbinden soll. Der ersehnte Auslöser blieb natürlich aus, die ideale Verbindung zwischen Zivilisation und Kultur hat Leitich nie finden können. Dazu war sie zu sehr in der 22 Ann Tizia Leitich: Ecce Amerika. In: Neue Freie Presse, 13. 11. 1926, S. 1–3, hier S. 3. 23 Ebd. 24 Ebd.
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materiellen und geistigen Wirklichkeit ihres Heimatlandes und ihrer Wahlheimat vertieft. Sie interessierte sich zu sehr für einzelne Geschichten und Schicksale, um ihrem lesenden Publikum grandiose, überzeugende theoretische Konstruktionen anzudrehen. Aber positive Beispiele hat sie immer wieder geortet, und dabei spielten wiederholt die lebendigen amerikanischen Wolkenkratzer einerseits und die ewigen europäischen Kultureinrichtungen andererseits ihre Rolle, und zwar genau so, wie sie auf Plakaten und in Prospekten der Wiener Medien in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt sind. Obwohl Leitich während ihres amerikanischen Aufenthalts hauptsächlich in New York wohnte, gefiel ihr die Stadt nicht besonders. In den frühen dreißiger Jahren schrieb sie eine Serie von Feuilletons und Artikel, die Chicago gewidmet sind. Obwohl die »windy City« der Schauplatz Leitichs erster amerikanischen Niederlagen war, und trotz aller Stereotypen der Stadt als Gangster-Hochburg und Prärie-Ödnis, wird Leitichs Chicago zu dem unerwarteten Lokus einer möglichen Verbindung von europäischer Kultur und amerikanischer Zivilisation. In einem Feuilleton in der Abendausgabe des Berliner Lokal-Anzeigers vom 30. 11. 1930 mit dem Titel Königin des Mittelwestens greift Leitich wieder nach Metaphern, um die Schönheit einer Stadt zu besingen. Während die Skyline von New York ein »Kyrieeleison« hervorrufen würde, verkörpere Chicago Konturen einer moderneren Poesie: In Chicago gibt es am Ufer des Michigansees eine Avenue, die aussieht wie aus metallheller Zukunft geschnitten, mit einer Wolkenkratzer-Himmelslinie, die der New Yorks kaum mehr nachsteht, die aber alles, was New York hat, hinter sich lässt in der verblüffenden Vereinigung von weißen Hochbauten…, blauer Unendlichkeit des ozeanartigen Sees, und dem Gefunkel des Luxus aus Hotels, Läden, Wagen und Frauengesichtern.25
Wieder nähert sich Leitich einer Ikone der amerikanischen Zivilisation mit der Bildsprache der europäischen Kultur. Aber dieses Mal ist sie als europäische Sängerin der Stadt nicht die einzige Kulturträgerin, die im Bild ist. Direkt nach der Beschreibung von Chicagos Himmelslinie führt Leitich den Blick der Leser zu einem aufregenden Kontrast, der uns schon aus ihrem Bild »Alte und neue Türme« und den vielen Beispielen aus der Wiener Medienlandschaft bekannt ist: eine Nebeneinanderstellung eines Wolkenkratzers der ›lebendigen‹ Zivilisation und andere Türme einer »ewigen« Kultur : Am Nordende steht ein bombastisch großes Turmhaus, das nachts von Gluten überschüttet ist, und das von oben bis unten, von innen und außen aus Kaugummi-Profiten gebaut wurde. Zu den Füßen des Kaugummi-Kolosses… fletschen vor dem großen Kunstinstitut vier steinerne Löwen ihre Zähne über die Avenue, ein bizarrer Anblick, 25 Ann Tizia Leitich: Die Königin des Mittelwestens. In: Berliner Lokal-Anzeiger, 28. 11. 1930, Abendausgabe, S. 1–2, hier S. 1.
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die Tiere der alten Welt in der Neuen, wo sie am leidenschaftlichsten ist. Drüben steht das Haus Nr. 333, das den Schönheitspreis bekam und den Eindruck eines fabelhaften Glockenturms macht, von dem, fünf Jahrhunderte Zurück, ein größenwahnsinniger Bergamasker Baumeister geträumt haben mag…26
Diesmal ist es kein Kirchturm, der als Leitbild für die Kultur auftritt. Es sind nicht alte und neue Türme, sondern eine Sammlung neuer Gebäude, die nebeneinander dargestellt werden. Der Kontrast verläuft nicht mehr zwischen ›alt‹ und ›neu‹, sondern zwischen einem neuen Hochhaus und neuen Kultureinrichtungen, die in Chicagos Skyline erscheinen. Das Kunstinstitut und der glockenturmartige Wolkenkratzer werden explizit mit Europa in Verbindung gebracht, nicht als Relikte einer sterbenden Kultur, sondern als wachsende und werdende Elemente einer Stadt, die Lebendiges und Ewiges in sich vereint. Leitichs Beschreibung einer heranwachsenden Kultur in Chicago hört nicht mit der Himmelslinie, der Skyline, auf. In weiteren Beschreibung der Stadtlandschaft kommen sehr wohl auch die trostlosen Elemente Chicagos vor, Stellen, wo die Stadt nur mehr als Zivilisation dasteht. Aber Chicago hat in seinen urbanen Räume auch andere Stellen, Räume, wo sich eine rege Kultur entwickelt: Seine Rivalität mit New York…ist vehement. Die oft betonte Vorherrschaft der Hudsonmetropole in kultureller Hinsicht ließ ihm keine Ruhe, und es hat jetzt nicht nur seine eigenen Künstler-, Boheme-, und Snobkolonien, seine Verleger, Buchhändler und Magazine… ein künstlerisches Repertoire-Theater, einen Schauspiel-Direktor, der in Shakespeare spezialisiert…, ein Theater für komische Oper, berühmte Symphoniekonzerte…, sondern es besitzt auch…ein ganz modernes Opernhaus und die von Mäzenen erhaltene und mit populären Preisen lockende Freiluft-Oper ›Ravinia.‹27
Zwischen den Wolkenkratzern, auf Straßen, die aussehen, als seien sie »aus metallheller Zukunft geschnitten,« wachsen und gedeihen die Institutionen einer ewigen Kultur, die man im Nachkriegs-Europa als hoffnungslos absterbend beweinte. Die Städte der neuen Welt sind also nicht ausschließlich nur hässliche Landschaften der Zivilisation: Chicago ist für Leitich, vorsichtig ausgedrückt, »eine einzigartige und stellenweise schon schöne Stadt geworden.«28 Ja, die amerikanische Zivilisation braucht europäische Kultur. Aber was ist mit der Kulturkrise in Europa? Was hat Amerika, das Wien verwandeln kann? Leitich versteht Europas Bedürfnisse nach amerikanischen Dollars und Geschäften, und versteht es durchaus, dass Wien sich modernisieren muss. In einem Artikel aus dem Jahr 1925 beschreibt sie ihr erstes »Wiedersehen mit Wien.« Sie versucht darin ihre in amerikanischen Großstädten gewonnenen 26 Ebd. 27 Ebd. S. 2. 28 Ebd.
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Erfahrungen zu artikulieren, nicht ohne die Gefahr zu verkennen, in den Wolkenkratzern womöglich zu heimisch geworden zu sein: Ich riss mich zusammen – jetzt nur um Gottes willen nicht kritisch sein, nicht Amerikanerin, nicht Renegatin sein, heruntergestiegen aus dem zwanzigsten, dem dreißigsten Stock märchenhaft moderner Gebäude auf dieses alte, treue und sorgfältig durchpflügte Stück Erde, das einem gekreuzigten Lande geblieben ist…29
Trotz ihrer Bedenken als protzende Wolkenkratzer-Amerikanerin ihre Wiener Leser und Leserinnen aufzuklären, bewertet Leitich die Lage ihrer Heimat: wird die ewige Stadt sich amerikanisch beleben können? Sie gibt zu, dass die Lage schwierig ist: »Dem Wiener kostet es einige Anstrengung, ein moderner Mensch zu sein, es kommt ihm nicht vom Herzen.«30 Aber Wien ist wie New York und Chicago: anders als die Provinz, weltoffener, aufgeschlossener als andere Millionenstädte. Es wird schwierig sein, eine alte Kultur mit der Energie einer Zivilisation zu beleben, aber durchaus machbar : Der Wiener war so tapfer wie nur einer im Durchhalten; er müßte auch tapfer genug sein, sich vor der neuen Zeit nicht zu verkriechen; ihr Tür und Tor zu öffnen und herein zu lassen, was sein künstlerisches Temperament, sein Geschmack ihm erlaubt.31
Die Wiener, mit anderen Worten, sind sich ihrer Kultur dermaßen sicher, dass sie das Ewige verteidigen, selbst wenn sie von der amerikanischen Zivilisation überfordert werden.
IV. Genau das Gegenteil vertritt Stefan Zweig in »Monotonisierung der Welt,« einem Feuilleton in der letzten Januarausgabe der Neuen Freien Presse im selben Jahr. Zweig sieht ein Europa, das von der amerikanischen Massenkultur geradezu überschwemmt werde. Radio, Kino, Shimmytänze, Popmusik und amerikanische Mode überwältigen die schönen kulturellen Eigenschaften, die den Europäer zum Individuum machen.32 Verzweifelt sieht er wie Oswald Spengler das Ende der europäischen Kultur herandämmern, die von der Riesenwelle amerikanischer Bequemlichkeiten vernichtet werde. In ihrer polemischen Antwort auf Zweigs Monotonisierung der Welt greift Leitich noch einmal auf eine architektonische Bildsprache zurück, um das amerikanische Phänomen zu verteidigen. Viele Merkmale der amerikanischen Massenkultur seien zwar abträglich der 29 30 31 32
Ann Tizia Leitich: Wiedersehen mit Wien. In: Neue Freie Presse, 26. 4. 1925, S. 27. Ebd. Ebd. Stefan Zweig: Monotonisierung der Welt. In: Neue Freie Presse, 31. 1. 1925, S. 1–4.
Wiens mediale Wolkenkratzer
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Kultur, aber die amerikanische Zivilisation fungiere trotz Wolkenkratzer auch als eine Vorstufe einer heranwachsenden großen Kultur: Amerika ist mehr als die an monumentale Keckheit, an Frivolität des Geistes grenzende Ausgestattetheit der Wolkenkratzer; ist mehr als Newyorks weißglühender Markt der Eitelkeiten und des Sensationshungers, Broadway ; mehr als Wallstreets Dollarjagd; mehr als seine 16 Millionen Automobile und die unheimliche Kompetenz des Druckknopfes (just press the button), der uns mit allem versieht, von einer Tasse Kaffee bis zum Konzert des berühmten, ein paar hundert Meilen weit entfernten Virtuosen. Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten des Reichwerdens, wie es in den europäischen Märchen vorkommt, ist mehr oder weniger eine Sache der Vergangenheit; aber Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten in der Evolution des Menschengeschlechtes mag wohl eine Tatsache werden.33
Leitich bekennt sich ausdrücklich dazu, dass die Massenwaren und mechanisierten Vergnügen Amerikas untrennbar zu seiner Zivilisation gehören, und daher nicht Kultur verkörpern. Aber technologische Erfolge müssen nicht unbedingt einen kulturellen Untergang einläuten. Radio verbreitet zwar Massenkultur, aber auch Opernarien, Kinos zeigen Kitsch und Schund, können aber auch Ideen und Schönheiten aus der ganzen Welt in die Kleinstadt bringen. Der materielle Wohlstand, erklärt sie, war schon immer eine Bedingung für jede namhafte kulturelle Errungenschaft, und gerade diesen Wohlstand brauche Europa, um seine ewige Kultur weiter aufrecht zu erhalten: Europa weiß ja selbst heute seinen Weg nicht. Es taumelt in der Dunkelheit. Zurück zum Alten, über die Trümmer hinüber klimmen kann es nicht und vorwärts weiß es nicht recht wie, Europa ist zu befangen, zu verstrickt in tausend Strömungen und Unterströmungen, in Hemmungen und Wünschen.34
Um diese Kulturkrise zu überwinden, brauche Europa genau das, was Leitich zwischen den Wolkenkratzern Chicagos gefunden hat: Mäzene, die die pulsierende Wirtschaft auch in eine kulturelle Landschaft verwandeln, die reichlich ausgestatte Museen, Orchester, Theater, Opernhäuser, Parks und allerlei anderes Kulturgut hervorzubringen imstande ist: In Europa gibt es heute genug sehr reiche Leute, wahrscheinlich mehr als vor dem Kriege. Ist es einem eingefallen, ein großzügiges Kulturwerk zu schaffen, deren Nutznießer die Allgemeinheit ist, eine Bibliothek, eine Universität usw., oder Bestehendem genügend aufzuhelfen? Ich habe nichts davon gehört. In Amerika? Es soll niemand glauben, dass ich mir ein X für ein U machen lasse. Eine Bibliothek in Stein und kostbaren Bänden ist ein wunderbares Denkmal für einen reichen Mann, eine so glänzende Befriedigung seiner Eitelkeit. Aber immerhin, er denkt daran. Warum nur 33 Leitich, Ein Wort für Amerika, S. 2. 34 Ebd.
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fällt es drüben keinem ein? Weil es eben den Begriff der Allgemeinheit in unseren historischen Kodexen nicht gibt.35
Die gute alte europäische Kultur benötige, mit anderen Worten, einen Schuss Wolkenkratzerzukunft, damit die Stadt als fähiger Kulturträger funktionieren kann. Chicago braucht Wiener Musik und Kunst, und Wien braucht den amerikanischen Pioniergeist, der das Ewige mit dem Lebendigen vermischt. Obwohl das Wien der Zwischenkriegszeit nur wenige Hochhäuser vorzuweisen hatte, die mit ihren vielen Kirchtürmen hätten fotografiert werden können, war die Medienlandschaft der Stadt schon von imaginären Hochhäusern übersät. Die medialen Wolkenkratzer von Ann Tizia Leitich deuten jedoch weniger auf den Untergang einer Kultur, sondern eher auf den Niedergang der amerikanischen Zivilisation. Zum Erfolg dieser Idee waren nicht nur die Hochhäuser wichtig, sondern auch die Kirchtürme, die Museen, und die anderen kulturellen Einrichtungen, die im Schatten der Hochhäuser standen. Diese sorgten dafür, dass ewige und lebendige Stadtlandschaften – seien sie in europäischen oder amerikanischen Städten – die Funktion von Bollwerken einer wachsenden und werdenden Kultur einnehmen konnten.
35 Ebd. S. 3.
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Wo »alles erhältlich ist, was es in dieser Welt gibt: Ware, Vergnügen, Elend, Liebe und Seelenheil«: Das Warenhaus als Kult(ur)-Tempel
1.
Ein Ort der Moderne
Mit Blick auf einschlägige Literatur aus der jüngeren Zeit1 hat der Wirtschaftshistoriker Uwe Spiekermann 2013 auf eine Schieflage in der kulturhistorischen Erforschung des Einzelhandels hingewiesen: dass die auffallende Konzentration auf das Warenhaus mitnichten dessen faktischer ökonomischer Bedeutung entspreche;2 folglich sind die WissenschaftlerInnen der symbolischen Strahlkraft3 des Warenhauses als »Ort der Moderne« erlegen. Warenhäuser im heutigen Verständnis, d. h. mit einem möglichst allumfassenden Sortiment, etablierten sich Mitte des 19. Jahrhunderts. Voraussetzung dafür war die Entwicklung der industriellen Massenproduktion.4 Mit dem Warenhaus entstanden um 1900 zudem neue Raumkonzepte und neue Berufe. Es eröffnete »ein Feld neuer sozialer Kommunikations- und Interaktionsformen« – sowohl zwischen den Klassen als auch zwischen den Geschlechtern. Im Warenhaus kristallisierten sich die dazugehörigen Debatten: Als »interdiskursiver Raum« provozierte es Stellungnahmen.5 Eingedenk der faktischen Bedeutung des Warenhauses in ökonomischer Hinsicht überrascht dessen diskursive Präsenz bereits in der Zeit zwischen den 1 Wie z. B. Thomas Lenz: Konsum und Modernisierung. Die Debatte um das Warenhaus als Diskurs um die Moderne. Bielefeld: transcript 2011 (= Kulturen der Gesellschaft, Bd. 2) und Uwe Lindemann: Das Warenhaus. Schauplatz der Moderne. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2015. – Vgl. Uwe Spiekermann, »Der Mittelstand stirbt!« Der Kampf zwischen mittelständischem Einzelhandel und Warenhäusern in Deutschland 1890–1933. In: Godela Weiss-Sussex, Ulrike Zitzlsperger (Hgg.): Das Berliner Warenhaus 1896–1938: Geschichte und Diskurse. Frankfurt/M. [u.a]: 2013, 33–52. 2 Vgl. Lindemann, Warenhaus, S. 319. – In den 1910er Jahren z. B. betrug der Umsatz der Warenhäuser im Deutschen Reich bzw. der Weimarer Republik nur 2,5 % im Segment Einzelhandel (vgl. ebd., S. 52). 3 Vgl. ebd., S. 319. 4 Vgl. Klaus Strohmeyer: Warenhäuser. Geschichte, Blüte und Untergang im Warenmeer. Berlin: Wagenbach 1980, S. 66. 5 Vgl. Lindemann, Warenhaus, S. 34f.
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Kriegen als Blütezeit des »klassischen« Warenhauses umso mehr – und zumal für Österreich: In Uwe Lindemanns breit angelegter, international ausgerichteter Studie zum Warenhaus-Diskurs etwa wird die »Wiener Szene« nicht einmal in den Blick genommen. Lediglich Vicki Baum findet als Autorin österreichischer Provenienz mit dem Roman Der grosse Ausverkauf von 1937 Berücksichtigung. Ein Grund für diese Nicht-Wahrnehmung mag sein, dass Wien in Sachen Warenhaus tatsächlich hinterherhinkte: Erst 1865 – und damit im Vergleich zu Paris mit gut einem Jahrzehnt Verspätung – wurde das erste Wiener Warenhaus »großen Stils«, das sogenannte Haas-Haus, eröffnet.6 Zudem offenbart ein internationaler Vergleich auch hinsichtlich der Qualität österreichische Spezifika: Es gab kaum »universale« Warenhäuser, in denen tatsächlich alles zu haben war und die nicht zugleich auch als Geschäfts- und/ oder Wohnhäuser genützt wurden.7 Schließlich schien auch keine Nachfrage nach Großwarenhäusern zu herrschen: Der österreichische Warenhandel blieb lange Zeit vorüberwiegend kleinbetrieblich strukturiert; Ein-Mann- bzw. EinFrau-Betriebe dominierten. Nichtsdestotrotz nahm auch in Wien die Warenhausentwicklung seit Mitte der 1890er Jahre an Fahrt auf, wovon Erweiterungs- und Neubauten oder (unausgeführte) Projekte ausländischer Investoren zeugen.8 Das rief prompt Kritiker auf den Plan, die vor Schädigungen der »Gewerbewelt« durch »Riesenetablissements« warnten.9 Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wurden denn auch immer wieder eine gesetzlich sanktionierte Warenhaussteuer debattiert und sogar Bauverbote angedacht. Die katholisch-konservative Reichspost warnte 1905 z. B. unter Mobilisierung antisemitischer Ressentiments vor der drohenden »Expropriierung stammgesessener braver, tüchtiger Geschäftsleute« durch »jüdische« Groß-Warenhäuser,10 während das christlichsoziale Lager im Angesichte der Warenhäuser um seine »so kleine, niedliche, leichtlebige Phäakenstadt« Wien bangte.11 Grosso modo nahm die (Feuilleton-)Öffentlichkeit jedoch tendenziell positiv zu neuen Warenhäuser-Projekten als Katalysatoren eines großstädtischen Gepräges Stellung.12 Dass am Warenhaus bei der notwendigen »bauliche[n] Entwicklung Wiens« kein Weg vorbeiführe, davon gab sich etwa Otto Wagner in der
6 Vgl. Andreas Lehne: Wiener Warenhäuser 1865–1914. Wien: Deuticke 1990 (= Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte, Bd. 20), S. 12. 7 Vgl. ebd. S. 9–12 bzw. 67f. 8 Vgl. ebd. S. 61–68 bzw. 78–80. 9 Zit. n. ebd., S. 64. 10 Zit. n. ebd., S. 61. 11 Zit. n. ebd., S. 73. 12 Vgl. ebd. S. 67f.
Das Warenhaus als Kult(ur)-Tempel
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in der Neuen Freien Presse veröffentlichten Programmschrift Wien nach dem Kriege (1917) überzeugt – und forderte die Errichtung sogenannter Volkswarenhäuser (direkter Kontakt mit den Erzeugern). Der Krieg hat uns gelehrt, daß es Aufgabe der Gemeinde sei, die Bevölkerung vor Bedrängung und Ausbeutung zu schützen. Die Volkswarenhäuser, den einzelnen Bezirken angepaßt, können dies in eminenter Weise erfüllen.13
Die Zeit der Ersten Republik war für das Wiener Warenhaus keine leichte: Unmittelbar nach Kriegsende fiel der Warenimport aus Böhmen, Mähren und Schlesien aus, und Filialen wurden von Wiener Stammhäusern abgeschnitten. Zudem war österreichische Konfektionsware in den Nachfolgestaaten zunächst mit einer Importsperre, dann mit hohen Zollsätzen belegt. Und die Inflation trug das Ihre dazu bei,14 dass der »Wiener Geschäftsmann«, wie seitens der Wiener Sonn- und Montags-Zeitung 1926 bedauert wurde, unfreiwillig (und unausgesetzt) einen Mehrfrontenkrieg führen müsse: gegen staatliche und städtische Steuervorschreibungen15 – »Breitner legt dem Geschäftsleben durch seine überspannten Lichtpreise einen unerträglichen Tribut auf«16 –, »gegen die Angestellten und Bediensteten«, die sich nicht auf eine Ausweitung der Ladenöffnungszeiten z. B. einlassen, »und nicht zuletzt gegen das Publikum«. Anders als der Berliner bleibe der Wiener kleinen »Spezialgeschäften« treu.17
2.
»Herzader der Großstadt«
Im Zuge der Wirtschaftskrise am Ausgang der 1920er Jahre änderte sich auch das Gesicht des (Wiener) Warenhauses: Die führenden Etablissements setzten verstärkt auf »praktische und billigere Waren«,18 als sich über Wien, in Neue Freie Presse-Diktion, »ein ausgedehntes Leichenfeld« vormaliger Geschäfte zog. Ungeachtet dessen habe sich Wien laut dem hier zitierten Bericht in letzter Zeit auffallend modernisieren können: »Ein Gang durch unsere großen Geschäftsstraßen beweist, wie wenig wir den Vergleich mit den Luxusläden irgendeiner europäischen Metropole zu scheuen haben.«19 13 Otto Wagner : Wien nach dem Kriege. In: Neue Freie Presse, 7. 4. 1917, S. 1–3, hier S. 3. 14 Vgl. Lehne, Wiener Warenhäuser, S. 104–106: 1919 z. B. hat sich die Zahl an Insolvenzen versiebenfacht. 15 N.N.: Das Leben des Wiener Geschäftsmannes. In: Wiener Sonn- und Montags-Zeitung, 8. 11. 1926, S. 4f., hier S. 4. 16 N.N.: Die weiße Woche. In: Wiener Neueste Nachrichten, 22. 2. 1926, S. 4. 17 N.N., Leben des Wiener Geschäftsmannes, S. 4. 18 Vgl. N.N.: Der Silberne Sonntag. In: Neue Freie Presse, 15. 12. 1930, S. 6. 19 N.N.: Wien im Jahre 1929. In: Neue Freie Presse, 1. 1. 1930, S. 11f.
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Das galt für die großen Geschäftsstraßen der Inneren Stadt wie die Kärntnerstraße,20 v. a. aber für die Mariahilferstraße,21 die feuilletonistisch – zumindest – als der Geschäftsboulevard schlechthin Wiens Warenhaus-Welt dominierte. Mariahilferstraße – das ist die Seele der Großstadt, das ist eine Symphonie von Luxus, wohlhabender Behäbigkeit und traurigem Elend. Ist ein Märchen von Licht, eine Symphonie von Farben. […] Und ist eine der großen Heerstraßen der Zivilisation, durch die der Rhythmus des Jahrhunderts dröhnt, flankiert von Bauten einer geruhigen Vergangenheit und überschattet vom Traum der Zukunft: der Stadt von morgen, Metropolis mit Wolkenkratzern und flammenden Lichtfontänen inmitten brüllender Verkehrskatarakte, Mariahilferstraße in tausendster Potenz. […] Mehr als tausend Geschäfte sind in der Mariahilferstraße oder in ihrer unmittelbaren Nähe. Es ist ein riesenhafter Basar, […] in dem alles verkauft wird, […] was es in dieser Welt gibt: Ware, Vergnügen, Elend, Liebe und Seelenheil.22
so etwa der Journalist Walter Süß im sozialdemokratischen Kleinen Blatt über die Mariahilferstraße als Begegnungsraum der Klassen, der Generationen und der Zeiten; als »Herzader« der (Roten) Metropole – insbesondere bei Nacht, als »Märchen von Licht« (Abb. 1). Eine eindringliche Schilderung der überbordenden Lichtreklame legte zudem Robert Ehrenzweig vor: Dort ist in der Mitte der Straße ein schlanker Obelisk aufgestellt, der dir rot leuchtend den Namen eines Modenhauses entgegenruft, hier glänzt ein Photographenapparat aus Glühbirnen, dort ein riesiger Strumpf. […] Und hier wird gar der Name eines Artikels auf den Asphalt projiziert. […] Und hoch auf dem Dache eines Modehauses ragt ein Turm von Licht gegen den Himmel.23
Der schlanke Obelisk, dem Pariser Wahrzeichen nachempfunden, lockte ins Warenhaus Elysee Zwieback, der 1926 errichtete »16 Meter hohe Leuchtturm […], dessen Schein sogar auf den Höhen rings um Wien noch auffallend wirkt«,24 ins Warenhaus Gerngroß. Dieses größte Wiener Warenhaus beschäf20 N.N., Leben des Wiener Geschäftsmannes, S. 5: »Etwas Aehnliches wie die Kärntnerstraße mit ihren sich aneinander reihenden, das Vornehmste an Geschmack und Kunst bietenden Auslagen gibt es in der ganzen Welt nicht mehr, und besonders am Abend repräsentiert sich diese Zeile märchenhaft!« 21 Vgl. Lehne, Wiener Warenhäuser, S. 12. 22 W. S. [d.i. Walter Süß]: Mariahilfer Straße. Die Herzader der Großstadt. In: Das Kleine Blatt, 19. 5. 1928, S. 3f. 23 r. e. [d.i. Robert Ehrenzweig]: Märchen der Großstadt. In: Das Kleine Blatt, 25. 3. 1928, S. 13f., hier S. 13. – Vgl. dazu auch: F. X. Schaffer : Keine Großstadt, aber eine Weltstadt. In: Neue Freie Presse, 13. 5. 1928, S. 29: »Lebhafte Lichtreklame ist oft mehr als der Inhalt der Schaufenster ein großstädtischer Zug im Stadtbilde«; bzw. L. Assinger : Reklame einst und jetzt. Auszug aus meinem Radiovortrag. In: Wiener Sonn- und Montags-Zeitung, 19. 11. 1928, S. 8. 24 N.N.: Ein Leuchtturm zur Reklame. In: Reichspost, 29. 10. 1926, S. 6.
Das Warenhaus als Kult(ur)-Tempel
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Abbildung 1: W. S. [d.i. Walter Süß]: Mariahilfer Straße. Die Herzader der Großstadt. In: Das Kleine Blatt, 19. 5. 1928, S. 3.
tigte gegen Ende der 1920er Jahre an die 1200 Mitarbeiter und zog als tatsächliches Großwarenhaus – anders als Herzmansky z. B. – durch sein Angebot von nicht nur Bekleidung und Textilien, sondern auch Lebensmitteln, Möbeln und Haushaltsgeräten25 KundInnen in ungekannter Zahl an, wie Johann Hirsch im Kleinen Blatt berichtete: [Z]wanzig- bis fünfundzwanzigtausend Käufer kommen an den stärksten Tagen in’s Warenhaus. Käufer wohlgemerkt: die Kinder, die Gatten, die Freundinnen, die Marine (die Seh-Leute) und die Orientalen (die sich nur »orientieren« kommen) nicht gerechnet! Sie machen erfahrungsgemäß das Doppelte der Käuferzahl aus. Am Silbernen und Goldenen Sonntag noch mehr als das Doppelte; diese Tage des stärksten Rummels […] bringen an die hunderttausend Besucher!26
Der Erfolg gründete in der Orientierung an US-amerikanischen Vorbildern: Noch vor dem Ersten Weltkrieg hatte Gerngroß die alljährliche »Weiße Woche«, einen Sonderverkauf ausschließlich weißer Textilwaren, in Wien »eingebür25 Vgl. Lehne, Wiener Warenhäuser, S. 72f. bzw. 80. 26 Joh. H. [d.i. Johann Hirsch]: Warenhaus zu Weihnachten. In: Das Kleine Blatt, 20. 12. 1928, S. 3f., hier S. 4.
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gert«.27 Als Kundenmagnet wirkten neben Aktionspreisen auch die Motto-gebundenen Innendekorationen: 1922 gab man »dem ganzen Hause das Aussehen einer japanischen Frühlingslandschaft«;28 1926 wurde ein »Rokokoschloß« nachempfunden. 1930 eröffnete Gerngroß einen neun Stockwerke hohen Erweiterungsbau namens Lindenhaus, dessen Parterre »eine original-amerikanische Sodafontäne, die erste in Oesterreich«, beherbergte – und von einem »eigens aus Chikago berufene[n] Obermixer« bedient wurde.29 Für die Wiener Zeitung avancierte das Lindenhaus umgehend zu einer »neue[n] Sehenswürdigkeit nicht nur für dieses Warenhaus, sondern für ganz Wien«.30
3.
Vor den »Schießscharten« im Kampf um die Gunst des Käufers
Nicht nur solche Großbauten als markante städtebauliche Akzente wurden medial in Wort und Bild aufbereitet: Auch kleinere bauliche Maßnahmen – und das meinte zumeist: technische Nachrüstungen – waren Gegenstand ausführlicher Berichterstattung. 1926 wurde in der Illustrierten Das interessierte Blatt etwa ausführlich über den Umbau des Modenpalais Krupnik in der Kaiserstraße berichtet: über neuartige »Effektbeleuchtungen« und innovative Konstruktionen zur Verdoppelung der Schaufenstergröße, und dass das »künstlerisch hochwertige Portal« nunmehr »Wiens größte Lichtreklame« zeige.31 Nicht von ungefähr lag der Akzent bei baulichen Relaunches auf der Außenfassade, auf Portalen, Schaufenstern und Lichtreklamen, die von ungemeiner Eminenz für den modernen Warenhausbetrieb waren: Der sozialdemokratische Journalist Ludwig Wagner z. B. taxierte die Schaufenster als »die Schießscharten im Kampf um die Gunst« der Passanten; folglich bleibe von den »Strategen der Schaufenster«, von Architekten und Dekorateuren, hier nichts dem Zufall überlassen.32 Nichtsdestotrotz endeten Skizzen zu Schaufenster-Flanerien als großstädtischem Freizeiterlebnis im Kleinen Blatt und in der Arbeiter-Zeitung nicht selten ohne ein Kauferlebnis: »Und wir gehen an den Schaufenstern vorüber mit dem stolzen Gefühl, das Ziel unzähliger, psychologisch genau vorbereiteter, reklametechnisch und künstlerisch vollkommener Angriffe zu sein und eine leere BriefN.N., weiße Woche, S. 17. N.N.: Die »Weiße Woche« bei Gerngroß. In: Das interessante Blatt, 9. 3. 1922, S. 10. N.N.: Das neue »Lindenhaus« bei Gerngroß. In: Wiener Neueste Nachrichten, 7. 4. 1930, S. 5. N.N.: »Lindenhaus«-Eröffnung bei Gerngroß. In: Wiener Zeitung, 6. 4. 1930, S. 8. N.N.: Das umgebaute und erweiterte Modenpalais Julius Krupnik. In: Das interessante Blatt, 7. 10. 1926, S. 17f. 32 L. W. [d.i. Ludwig Wagner]: Auslagen im Dezember. Lehrspaziergang durch das verkaufslustige Wien. In: Das Kleine Blatt, 22. 12. 1929, S. 9f.
27 28 29 30 31
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tasche zu haben, an der jeder Ansturm zerschellt.«33 Auf den ausbleibenden Kauf reagierte Robert Ehrenzweig hier – nicht ohne Ironie – mit Stolz, den Anfechtungen nicht erlegen zu sein. Karl Ausch suchte in der Inneren Stadt »absichtlich« jene Straßen auf, in deren Auslagen die für ihn unerschwinglichen Waren lagen; »da du weitergehst, ist ein Rebell aus dir geworden«: Indem sie »Unzufriedenheit erregen«, sorgen die Schaufenster selbst dafür, dass die Anschaffung der teuren Waren »nicht Vorrecht einer dünnen Schicht« bleiben werde,34 zeugen – im Falle von Ausch zumindest – (sozial)revolutionären Furor (Abb. 2).
Abbildung 2: K. A. [d.i. Karl Ausch]: Spaziergänge zwischen Schaufenstern. In: Das Kleine Blatt, 6. 4. 1928, S. 3.
Nur mit den entsprechenden finanziellen Mitteln kann man tatsächlich »kaufen«; im Warenhaus flanieren kann dagegen jeder, ohne Kaufzwang: Dies35 wie auch die Verbilligung von Waren durch industrielle Massenproduktion36 wurde
33 R. E. [d.i. Robert Ehrenzweig]: Die Welt hinter den Spiegelscheiben. In: Arbeiter-Zeitung, 18. 4. 1928, S. 3. 34 K. A. [d.i. Karl Ausch]: Spaziergänge zwischen Schaufenstern. In: Das Kleine Blatt, 6. 4. 1928, S. 3f. 35 Vgl. Lindemann, Warenhaus, S. 30–32. 36 Vgl. Strohmeyer, Warenhäuser, S. 73.
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zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits unter der Parole »Demokratisierung des Konsums« verhandelt. Eine Demokratisierung, die nicht nur das Materielle, das tatsächlich Gekaufte, umfasste. Das Warenhaus bietet eine Fülle virtueller Optionen: Man kauft nicht nur das, was man haben will, sondern auch das, was man sein will.37 Man taucht sinnlich in die Warenwelt(en) ein im Hinblick auf ein mögliches Anderswo- bzw. Anderswer-Sein.38 Für die Neue Freie Presse porträtierte Emil Kläger z. B. die Nicht-KäuferInnen, die »Vagabunden des Warenhauses« zwar sozialromantisch als »reine Träumer«; dass ihre finanzielle Lage sie vom Kauf abhielt, blieb unerwähnt. Zugleich zeigte er Verständnis für die Flaneure, die sich den virtuellen Verlockungen des Warenhauses hingaben: Sie wollen »alle die schönen Dinge für Minuten [besitzen] […].Wer weiß, wie viel kleine Mädchen ins Warenhaus gehen, um dort ihre Träume echt auszustatten, Möbel in diesen Traum hineinzustellen, die sie gern haben möchten, sich in Kleidern zu sehen, in die sie verliebt sind.«39 Solch ein »Leben als Entwurf« fing Paul Fejos in seinem Film Sonnenstrahl von 1933 mit Szenen in einem Wiener Warenhaus ein: Ein Liebespärchen aus ärmlichen Verhältnissen wird für eine Nacht in ein Warenhaus eingeschlossen, taucht ins virtuelle Warenparadies ein und nützt die Möglichkeiten, die es bietet.40
4.
»Versuchungen des Warenhauses«
Warenhäuser fungieren als Experimentierfelder für moderne Bautechnologien: Neue Materialien wie Glas, Stahl oder Beton und innovative Beleuchtungs- und Transportvorrichtungen wie Fahrstühle oder um 1900 erste Rolltreppen gelangen zum Einsatz.41 Und im Keller, für die Käuferschaft im Verborgenen, befindet sich die Hardware: Effiziente Heizungs- und Belüftungssysteme etwa, die das Warenhaus idealiter unabhängig von der öffentlichen Versorgung machen.42 Architektonisch in Szene gesetzte Vorrichtungen der »Verführung« – wie weitläufige Entrees und Hallen, elegante Stiegenhäuser und sogenannte Lichthöfe43 – erinnern an bzw. zitieren zugleich feudale und sakrale Leitbilder wie Kathedralen und Paläste oder bürgerliche Repräsentationsräume wie Theaterbauten
37 Vgl. Lindemann, Warenhaus, S. 80–84. 38 Vgl. ebd. S. 28. 39 Emil Kläger : Die Damen bevorzugen Rot. Im großen Warenhaus der Wünsche. In: Neue Freie Presse, 22. 12. 1928, S. 1–3. 40 Vgl. Lindemann, Warenhaus, S. 94f. 41 Vgl. Strohmeyer, Warenhäuser, S. 6. 42 Vgl. ebd. S. 6 bzw. 101–110. 43 Vgl. ebd. S. 3.
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und Museen.44 Ungeachtet der Reden von einer »Demokratisierung des Konsums« schafft diese luxuriöse Aufmachung, der auch der livrierte Portier beim Eingang zuzuschlagen ist, Schwellen für weniger betuchte Schaufenster-Flaneure.45 Auf Plakaten werden Warenhäuser auch gerne monolithisch in Szene: Die Autarkie im Technischen wie im Architektonischen, dazu das universale, möglichst allumfassende Sortiment fingieren je einen eigenen Kosmos. Bei Übertritt der ›Schwelle‹ fühlte sich so etwa Robert Ehrenzweig in eine ›neue Welt‹ hinein versetzt: »Du kannst überhaupt dein ganzes Leben im Warenhaus verbringen, […] in einem Taumel des Genießens. Bitte: Restaurant, Caf8, Erfrischungsraum, Frisiersalon, Wintergarten. […] Die Welt breitet sich dir aus, ein neues Leben«.46 Das Warenhaus – als theatrum mundi – birgt aber auch Irritierendes, Bedrohliches, das in dem hier zitierten Text mit dem alarmierenden Titel Warenhaus! Warenhaus! gleichfalls gezeigt wird: »Rolltreppen gleiten aufwärts mit ihrer unruhigen Last von Menschen und falten sich lautlos zusammen. Lifte schießen empor, stürzen ohne Aufprall in die Tiefe. Bunte Menschenmassen wälzen sich über die Treppen.«47 (Abb. 3) Dass Menschenmengen im Kaufrausch potenzielle Gefährdungen sind, zeigte auch Hans Pilz in seiner 1929 in der Arbeiter-Zeitung veröffentlichten Kurzgeschichte Einkauf: »Menschenmauern, Lichtermeer, Stimmengebraus« machen es Emil unmöglich, der Erledigung seiner Einkäufe nachzukommen. Die »arme Gattin« und das bereits Eingekaufte gehen »in den Fluten« verloren, und Emil wird unfreiwillig Zeuge eines Ladendiebstahls. Aus Angst, sich dem Warenhaus-Detektiv damit verdächtig gemacht zu haben, flieht er in entlegene Abteilungen. Schlussendlich finden seine Gattin und die Einkäufe wieder zu ihm zurück, und Emil kann erleichtert in die ›normale‹ Welt hinaustreten.48 Solche Bedrohungsszenarien begegnen immer wieder in feuilletonistischen bzw. literarischen Texten zum Warenhaus,49 das Unordnungen, De-Normalisierungen zeitlich und räumlich eng begrenzt, d. h. »gebändigt«50 und somit: sicher (erfahrbar) macht.51 Schließlich ist das Chaos zumeist ein inszeniertes: Die Warenhaus-»Passanten« werden im vorgegebenen Rhythmus der Fahrstühle und Rolltreppen einer überindividuellen Bewegung unterworfen,52 mit Kalkül auf Wege bzw. Umwege – im Falle Emils: in entlegene Abteilungen – geführt. 44 Vgl. Lindemann, Warenhaus, S. 133. 45 Vgl. Strohmeyer, Warenhäuser, S. 5. 46 Neon [d.i. Robert Ehrenzweig]: Warenhaus! Warenhaus! In: Arbeiter-Zeitung, 16. 12. 1928, S. 17. 47 Ebd. 48 H. P. [d.i. Hans Pilz]: Einkauf. In: Arbeiter-Zeitung, 25. 12. 1929, S. 7. 49 Vgl. Lindemann, Warenhaus, S. 104f. 50 Vgl. ebd. S. 116f. 51 Vgl. ebd. S. 143. 52 Strohmeyer, Warenhäuser, S. 82.
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Abb. 3: Neon [d.i. Robert Ehrenzweig]: Warenhaus! Warenhaus! In: Arbeiter-Zeitung, 16. 12. 1928, S. 17.
Von anderen »Gefährdungen« in Warenhäusern berichteten die Gerichtssaalrubriken der Tageszeitungen regelmäßig: Unter dem Titel Die Versuchung des Warenhauses wurde in der Arbeiter-Zeitung vom 14. 11. 1926 z. B. der Fall zweier fünfzehnjähriger Ladendiebinnen aufgerollt, die zu ihrer Verteidigung vorbrachten: »Wir haben uns von den schönen Sachen blenden lassen!«53 Ein, neben 53 N.N.: Die Versuchung des Warenhauses. In: Arbeiter-Zeitung, 14. 11. 1926, S. 14; vgl. auch: N.N.: Eine Sechzehnjährige. Aus dem Jugendgericht. In: Arbeiter-Zeitung, 29. 4. 1926, S. 10.
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tatsächlicher sozialer Not, gerne geglaubtes Argument, zumal bei Frauen, wurde Kleptomanie doch »traditionell« als v. a. weibliches Phänomen beschrieben.
5.
Hinterm Ladenpult
Im Warenhaus waren Frauen auch traditionell in der Überzahl – nicht von ungefähr : Bereits im 19. Jahrhundert war das Warenhaus ein öffentlicher Raum, in dem sich Frauen auch ohne männliche Begleitung bewegen konnten. In den 1920er Jahren dann wurde das Warenhaus zur Domäne berufstätiger Frauen. Ökonomisch attraktiv war das weibliche Verkaufspersonal für die Warenhausbetreiber, da es im Schnitt nur die Hälfte dessen, was Männer in vergleichbaren Positionen verdienten, als Lohn erhielt.54 Über die prekäre Situation der Wiener Verkäuferinnen berichtete im Kleinen Blatt Marianne Pollak in Form reportagehafter Skizzen: Die 44-jährige Rose wird wegen einer jüngeren, attraktiveren Kollegin ausrangiert und bleibt arbeitslos. Burgi, die nach 31 Dienstjahren zumindest auf einen ruhigeren Posten versetzt wird, muss sich noch immer eine Wohnung mit einer gleichfalls alleinstehenden Kollegin teilen. Die 18 Jahre junge Grete, erfolgreich auch bei Misswahlen, wohnt bei ihren Eltern, denen sie ihren Lohn abliefern muss: Sie träumt vom Kino, von Weltberühmtheit […]. Sie ist eine von den vielen Angekränkelten des reichen Nichtstuns, mit dem sie täglich hinter dem Ladenpult zusammenkommt. Sie will nicht kämpfen dafür, daß es hinter dem Ladenpult einmal besser wird. Nein, ihre Sehnsucht träumt, selbst einmal als Dame so eine armselige, hübsche Verkäuferin, wie sie selbst eine ist, kujonieren zu können.55
Grete macht ihren Körper zum Betriebskapital. Ob sie dadurch Autonomie in finanzieller und sozialer Hinsicht – als »Star« – erlangen kann, ist fraglich.56 Dass im Warenhaus auch der Körper der Verkäuferinnen zur Ware wird, dessen (potenzielle) Verfügbarkeit mit »angeboten« wird, darauf hat Robert Ehrenzweig mit der Formel »Erotik der Ware« hingewiesen: Die weiblichen Angestellten seien angehalten, im Verkaufsgespräch – Ehrenzweig spricht von »Flirt« – das Begehren des (männlichen) Konsumenten für die Waren durch Einsatz ihrer (sexuellen) Attraktivität zu wecken. Trotz der mitunter prekären Arbeitsverhältnisse waren Warenhausangestellte arbeitsrechtlich – durch Arbeitszeitenregelungen, die Sonntagsruhe, Pensionskassen und Urlaubsanspruch – besser gestellt als ihre KollegInnen in Handels54 Vgl. Lindemann, Warenhaus, S. 144–150. 55 M. P. [d.i. Marianne Pollack]: Das Leben hinter dem Ladenpult. Vier Verkäuferinnenschicksale. In: Das Kleine Blatt, 18. 4. 1930, S. 7f., hier S. 8. 56 Vgl. Lindemann, Warenhaus, S. 162–172.
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kleinbetrieben,57 was in der sozialdemokratischen Presse durchaus kritisch kommentiert wurde: Arbeitsrechtliche Zugeständnisse würden den Eifer, sich für eine noch immer notwendige Verbesserung der sozialen Lage einzusetzen, einschlafen lassen. Auch in Stefan Großmanns Roman Chefredakteur Roth führt Krieg von 1928 verebbte der revolutionäre Furor bei einem Streik der Warenhausangestellten nach geringfügigen Zugeständnissen zu schnell – zumindest in der Wahrnehmung des titelgebenden Redakteurs, der den Streik angezettelt hatte. Und von Grete, die Marianne Pollak porträtiert hatte, war gleichfalls keine Revolution zu befürchten. Sie ist mit jener »geistigen Obdachlosigkeit« versehen, die Siegfried Kracauer in seiner wohlbekannten Angestellten-Studie treffend analysiert hat: Die Masse der Angestellten unterscheidet sich vom Arbeiter-Proletariat darin, daß sie geistig obdachlos ist. Zu den Genossen kann sie vorläufig nicht hinfinden, und das Haus der bürgerlichen Begriffe und Gefühle, das sie bewohnt hat, ist eingestürzt (…). Sie lebt gegenwärtig ohne Lehre, zu der sie aufblicken, ohne Ziel, das sie erfragen könnte.58
Dabei gäbe es für die Warenhausangestellten ein naheliegendes Ziel: das sogenannte genossenschaftliche, nach kooperativen Prinzipien organisierte Warenhaus, derer es international nur wenige gab.59 Die »organisierten Arbeiter« Wiens verfügten über ein solches Warenhaus,60 den 1924 vom genossenschaftlichen Stafa-Konzern übernommenen Zentralpalast Mariahilferstraße-Ecke Kaiserstraße.61 Die Stafa musste, wie man sich in der Tagespresse überzeugt gab, den Vergleich mit (bürgerlichen) Traditionsbetrieben nicht scheuen,62 etwa in Sachen Innendekoration.63 Und »[D]ort gibt es einen freundlichen Speise- und Ruheraum für das Personal, eine Dachterrasse mit prächtiger Aussicht über Wien und Liegestühle, die abgespannten Menschen wirkliches Ausruhen ermöglichen«,64 so Johann Hirsch im Kleinen Blatt. In der an die Arbeiterinnen adressierten Zeitschrift Die Unzufriedene wurde die Stafa als maßgebender Einkaufs-, Erlebnis- und politischer Raum für die Wienerinnen beworben: Ein eigenes »Montessori-Kinderheim« als Verwahranstalt für den Nachwuchs biete den Kundinnen die Möglichkeit, sich auf ihre Einkäufe und anderes zu konzentrie57 58 59 60 61
Vgl. ebd. S. 280–286. Zit. n. ebd. S. 276. Vgl. ebd., S. 312. N.N.: Das »Stafa«-Warenhaus – Eigentum der Gewerkschaften. In: Tagblatt, 28. 3. 1924, S. 9. Vgl. Karl Renner : Neue Formen genossenschaftlicher Betätigung. Zur Uebernahme der Stafa durch die Organisationen. In: Arbeiter-Zeitung, 30. 3. 1924, S. 2f. 62 N.N.: [o.T.]. In: Wiener Neueste Nachrichten, 16. 2. 1925, S. 6. 63 Vgl. Der Kuckuck 3 (1931), Nr. 50, o.S. 64 H., Warenhaus zu Weihnachten, S. 4.
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ren;65 auf Modeschauen z. B., die nicht nur Mode, sondern auch Kunst und Politik boten. 1930 z. B. beschloss die Wiener Tanzkünstlerin Gisa Gert eine solche Stafa-Schau mit eine[r] groteske[n] Militärparade, die gewissen Herren, die jetzt so treu zur Tradition stehen, nicht sehr gefallen hätte. […] Auch die Christie-Orgel des Apollotheaters, die sich schon so viele Bewunderer erwarb, trat in Aktion, und das Jazzorchester des Apollotheaters gab der ganzen Veranstaltung in diskreter Begleitung eine besonders angeregte Stimmung.66
6.
Der homo oeconomicus als Mäzen und Philanthrop
Charakteristisch für das klassische Großwarenhaus, dessen Ära in den 1930ern Jahren endet, waren Versuche, sich als Katalysator einer modernen urbanen Kultur zu etablieren – indem es (städte)bauliche Akzente setzte, mit innenarchitektonischen Attraktionen aufwartete und kulturelle Veranstaltungen wie Gemälde- und Kunstgewerbeausstellungen, Konzerte, Lesungen und Vorträge anbot.67 1926 z. B. wurde in den Gerngroß-Räumlichkeiten anlässlich des 150jährigen Bestands des Burgtheaters die Schau 150 Jahre Wiener Theater gezeigt,68 und zu Jahresende richtete Gerngroß eine Kunstschau (und zugleich Verkaufsausstellung) mit zeitgenössischer österreichischer Kunst von Carry Hauser und anderen aus.69 Kunstpflege im Dienste der Umsatzsteigerung war eine Rechnung, die für die Warenhäuser aufging – gemessen an dem Vorsatz, sich (auch) als Kultur-Tempel zu positionieren: Veranstaltungen und neue Dekorationen wurden in den KunstRubriken der Tagespresse – neben ›hochkulturellen‹ Events – besprochen,70 da, wie die Wiener Sonn- und Montags-Zeitung etwa Warenhauskunstkritik rechtfertigte, die Schauveranstaltungen größerer Kaufhäuser durch die großartige innere und äußere Inszenierung nicht nur den Käufer schlechtweg interessieren, sondern infolge ihrer großen Tragweite voll und ganz das Interesse eines größeren Publikumskreises beanspruchen dürfen, als es bei einer Theateraufführung, Ausstellung oder sonstigen Veranstaltungen der Fall ist[.]71 65 Marie Greffenberger : Gedanken über die Hygieneausstellung. In: Die Unzufriedene 3 (1925), Nr. 35, S. 3f., hier S. 4. 66 G. St.: Eine Modeschau für Frauen des Volkes. In: Das Kleine Blatt, 7. 10. 1930, S. 12. 67 Vgl. Lindemann, Warenhaus, S. 237f. 68 N.N.: 150 Jahre Wiener Theater. In: Wiener Zeitung, 6. 1. 1926, S. 4. 69 tr.: Kunstschau bei Gerngroß. In: Wiener Neueste Nachrichten, 13. 12. 1926, S. 2. Vgl. auch: N.N.: Kunst im Warenhaus. Ein neuer Versuch. In: Reichspost, 12. 12. 1926, S. 15. 70 N.N.: Die Ansicht. In: Arbeiter-Zeitung, 21. 2. 1926, S. 6. 71 N.N.: Weiße Woche. In: Wiener Sonn- und Montags-Zeitung, 1. 6. 1926, S. 6.
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Das gelegentlich der Weißen Woche 1926 bei Gerngroß nachempfundene Rokokoschloss z. B. zeugte eine »ungeheure Frequenz, die selbst das Straßenbild beeinflußt, da berittene Wache aufgeboten ist, die Passanten von der Gefährdung durch Fahrzeuge zu schützen«.72 Ohne Zweifel ändern große Warenhäuser das Stadtbild: Sie werden zu neuen Knotenpunkten im urbanen Raum, um die sich kleinere Geschäfte und Gastronomiebetriebe – auch in den Nebengassen – und der öffentliche Nahverkehr konzentrieren. Zudem durchwirkt das Warenhaus den urbanen Raum mit Kunst. »Drei Kleiderpuppen drehen sich langsam hinter einer hochragenden Glaswand. Und das Schaufenster wird zur Bühne, die Straße zum andächtig schweigenden Zuschauerraum. […] Eine Gratisvorstellung der Mode«,73 der sich Ludwig Wagner für das Kleine Blatt widmete. Als »Mäzene, die verschwenderische Schauspiele geben«, charakterisierte Ernst Fischer die »Reklamechefs der Warenhäuser«: Lichtreklameinstallationen seien auch ästhetische »Experimente […], die kaufmännisch kaum zu rechtfertigen sind« – und nicht nur ein »wohlüberlegtes Manöver, um Käufer anzulocken«.74 Doch Kommerz und Kunst waren in der Warenhaus-Welt asymmetrisch korreliert: Kunst wurde in den Dienst genommen, um das Einkaufen zum Erlebnis umzugestalten und damit den Umsatz zu steigern.75 Das verschleierte der homo oeconomicus, der sich als Mäzen und Philanthrop, als Proponent einer »besseren« Zukunft inszenierte. In der Arbeiter-Zeitung-Sondernummer zum zehnjährigen Bestehen der Ersten Republik legte Julius Krupnik z. B. ein dem gemäßes Bekenntnis zum Tage ab: Zu allen Zeiten stand im Mittelpunkt der Welt: die Frau. […] Somit ist aller Dienst an der Frau ein Dienst an der Familie, an Menschheit und Nation. Pariser Modeschöpfungen – jahrzehntelang alleiniger Besitz der reichen Frau – so sehr verbilligen, bis sie den Alltag jeder Frau verschönern können, schien mir der Arbeit bester Jahre wert. Der große Umsatz […] ergab sehr bald die Möglichkeit, […] ein neues, großes ›Haus der Frau‹ zu bauen und tausenden von Menschen Broterwerb zu bieten.76
Und gelegentlich des Erweiterungsbaus von 1930 rühmte sich die GerngroßGeschäftsführung, durch die »bedeutend vergrößerte Lebensmittelabteilung« einen Beitrag »zur Verwirklichung« der aufgrund der Wirtschaftskrise »propagierten Lebenskostensenkung« zu leisten.77 72 73 74 75 76
Ebd. W., Auslagen im Dezember, S. 10. e. f. [d.i. Ernst Fischer]: Stadt im Licht. In: Arbeiter-Zeitung, 8. 1. 1928, S. 7. Vgl. Lindemann, Warenhaus, S. 237f. Julius Krupnik: Bekenntnis zum Tage. In: Arbeiter-Zeitung, 11. 11. 1928, S. 25, Hervorhebungen im Original. 77 N.N.: Guter Verlauf des Goldenen Sonntags. In: Neue Freie Presse, 22. 12. 1930, S. 1f., hier S. 1.
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7.
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Im Kaufhaus für Kultur
In Zeiten der Not also bewährte sich das Warenhaus. »Das Warenhaus ist ein ›guter Bürger‹, der sich in seiner Gemeinde aktiv betätigt«,78 war in einem Leitartikel von Edward A. Filene, einem Bostoner Warenhausbesitzer, 1928 in der Neuen Freien Presse zu lesen. Am gleichen Ort brachte Helene Scheu-Riesz ihre Programmschrift Das Kaufhaus als Erzieher zur Veröffentlichung: In den USA haben die großen Warenhäuser längst erkannt, »daß die richtige Güterversorgung die Lösung aller sozialen Probleme in sich schließt. Wenn jeder Mensch durch eigene Arbeit erwerben kann, was er braucht […], dann gibt es keine gewaltsamen Revolutionen mehr«, so die Wiener Journalistin Scheu-Riesz über das »soziale Glaubensbekenntnis« eines Bostoner Geschäftsmannes. Dessen Warenhaus wird als hierfür mustergültig beschrieben79 – und hat Eingang auch in Scheu-Riesz’ 1934 in englischer Sprache erschienenen Briefroman Gretchen discovers America gefunden. Gretchen ist eine junge Wienerin, die zu Beginn der 1920er Jahre in die USA emigriert und im Plauderton die »Daheimgebliebenen« über ihre Akkulturierungsschwierigkeiten, etwa beim Job in einem Warenhaus, unterrichtet. Dem Warenhaus widmete sich Helene Scheu-Riesz auch in ihrem 1934 im Kleinen Blatt erschienenen – und m.W. bis dato in der Forschung nicht wahrgenommenen Roman – Kaufhaus für Kultur.80 Auf den ersten Blick bot sie darin für die ›landläufige‹ Warenhausliteratur – wie etwa auch die Operette Ein Wiener Warenhausmädel81 – Typisches auf: die kleine Verkäuferin, die einen veritablen Grafen heiratet. Diese Liebesgeschichte mit Happy End ist aber nur Beiwerk; zentral steht das Relaunch der altehrwürdigen Buchhandlung Staudigl & Fink zum großen »Kaufhaus für Kultur«. Während Staudigl sich selbst als »Konsul romanischer und slawischer Kunst in der Phäakenstadt« Wien tituliert, bemüht, »hier den Geist des Pariser Salons ein[zuführen]« (5), steht sein Kompagnon Fink für den modernen Großwarenhaus-Macher, der sein einziges Interesse – Profitmaximierung – geschickt hinter einer weltmännisch-philanthropischen Attitüde versteckt.82 Ungeahnten Reichtum verspricht sich Fink von einem von herkömmlichem Warenvertrieb entschlackten »Kaufhaus für Kultur«, konzi78 Edward A. Filene: Warenhausketten als Mittel des Fortschritts. In: Neue Freie Presse, 18. 3. 1928, S. 1f., hier S. 1. 79 Helene Scheu-Riesz: Das Kaufhaus als Erzieher. In: Neue Freie Presse, 15. 1. 1928, S. 32f., hier S. 33. 80 Helene Scheu-Riesz: Das Kaufhaus für Kultur. Ein Wiener Roman. In: Das Kleine Blatt, 18. 3. 1934, S. 25. Der Abdruck fand bis 1. 5. 1934 in 44 Fortsetzungen statt. Die nachfolgenden Angaben beziehen sich jeweils auf die zitierte Nummer. 81 W. S. [d.i. Walter Süß]: Ein Wiener Warenhausmädel. Meidlinger Volksbühne. In: Das Kleine Blatt, 23. 10. 1929, S. 10. 82 Vgl. Lindemann, Warenhaus, S. 264.
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piert als »großstädtisches Kunstinstitut«, das »Kunstausstellungen, Konzerte und Theateraufführungen arrangiert und alles herstellt, was mit Kunst zusammenhängt« (10). Das neue Kaufhaus wird »in wahrhaft amerikanischem Tempo« errichtet: mit Konzert- und Theatersaal, einem »Saal der Stimmungen« als Andachtsraum und einem »Erfrischungsraum«, einem Wiener Kaffeehaus, als Herzstück. Diesen Erfrischungsraum zieren »Fresken […], die symbolisch die Verbrüderung aller Rassen und Nationen darstellten«, und Hinweistafeln, »daß man hier alle Weltsprachen spreche« (25). Die Kulturveranstaltungen, v. a. aber die Gastronomiebetriebe werden gut besucht, doch die Kassenladen bleiben leer. Gerade als eine neue Abteilung für französische Parfüms und englische Seife eröffnet (36) – d. h. gerade, als das »Kaufhaus für Kultur« zu einem tatsächlichen »Großwarenhaus« umgebaut wird –, bricht der Erste Weltkrieg aus, und der gewiefte Geschäftsmann Fink reagiert prompt: Die Fresken werden übermalt, internationale Fahnen entfernt; »an allen Wänden hängen Plakate mit der fettgedruckten eindringlichen Mitteilung: ›Hier wird ausschließlich deutsch gesprochen!‹« Und der vormalige Wahl-Pariser im Geiste Staudigl verlautbart: »Wir werden die nationale Kultur fördern und die feindwärtige zerstören. Wir werden dafür sorgen, daß kein Verräter sich in die Grenzen unserer Kunst und Kultur wagt.« (43) Obgleich Scheu-Riesz die Handlung im Jahre 1914 angesiedelt hat, haben darin aktuelle Entwicklungen, wie etwa die Bescheidung des Sortiments auf »nationale« Waren, merkbar Spuren hinterlassen: Seit 1930 mehrten sich Appelle »an den Patriotismus des Käufers«: »Kauft nur österreichische Waren!«,83 um die Auswirkungen der grassierenden Wirtschaftskrise für Österreich abzuschwächen. Und die Warenhausbesitzer rühmten sich in Umfragen, sich für Umbauten z. B. ausschließlich österreichischer Ressourcen zu bedienen. Das unterlief die grundlegende »Weltläufigkeit« bzw. Welthaltigkeit des Warenhauses, das in der gleichzeitigen Präsenz aller Dinge an einem Ort den globalen Raum im Lokalen verdichtete.84 In Deutschland fiel die Anti-Warenhaus-Propaganda auf fruchtbaren Boden:85 Das Warenhaus als beispielhafter Ausdruck der modernen Konsumund Massengesellschaft bildete eine ideale Angriffsfläche sowohl für antiamerikanische, antisemitische als auch antifeministische Tiraden, und in den 1920er Jahren setzte sich allmählich die Wahrnehmung des Warenhauses als volkswirtschaftlicher Bedrohung bzw. Zeichen eines allgemeinen Kulturverfalls durch. In Frankreich, den USA und Großbritannien dahingegen wurden Warenhäuser laut Uwe Lindemann eher als positive Zeichen der Modernisierung 83 N.N., Wien im Jahre 1929, S. 12. 84 Vgl. Lindemann, Warenhaus, S. 300. 85 Vgl. ebd. S. 42 bzw. 200.
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gewertet – und das trifft auch für die Wiener Warenhaus-Debatte zu: Zwar wurden Phänomene wie die mitunter prekäre Lage der Angestellten in den Blick genommen, aber eine Warenhaus-Affinität, ja Euphorie überwog – ob in der katholisch-konservativen Reichspost oder in den sozialdemokratischen Zeitungen Das Kleine Blatt und Arbeiter-Zeitung, in denen sich mit Robert Ehrenzweig, Ernst Fischer und Marianne Pollak JournalistInnen des Warenhauses angenommen haben, deren Stimmen innerhalb der österreichischen Sozialdemokratie von Gewicht gewesen sind.
Ruth Hanisch
Muriel, Gina und der Herr Professor: Interieurs für die Wiener Intelligenzia der Zwischenkriegszeit von Hofmann & Augenfeld
A Viennese style of living Anfang 1938 publizierte der Wiener Architekt Felix Augenfeld in der führenden Londoner Architekturzeitung Architectural Review einen knappen Abriß zur österreichischen Architekturgeschichte seit der Jahrhundertwende. Vor dem Hintergrund des unmittelbar drohenden »Anschlusses« Österreichs sollte der Text das englische Publikum wohl auf den bevorstehenden Exodus Wiener Architekten auf die Insel vorbereiten. Augenfeld stellte die führenden Protagonisten und Entwicklungen von der Wiener Werkstätte bis zum Wohnbauprogramm der Gemeinde Wien dem englischen Publikum vor, besonders richtete er sein Augenmerk auf die bürgerliche Wohnung: It is vain to search the streets of Vienna and other Austrian towns for modern architecture on a large scale. […]. It is rather in the small dwelling, the country house, and the middle-class living-room, that we at present find the practical and active Austrian contributions to the problems, which, at the opposite end of the scale from monumental architecture, lie within the scope of simple daily life. Within this sphere, and combined with the great skill in craftsmanship belonging to an older and greater culture, we find a mass of talent directing its best efforts towards the completion and improvement of what we could call the ›Viennese style of living‹. The fine quality of small house building and interior design have already attained a world reputation, particularly in its cultivated dislike of any constructional excess, and in its qualities of refinement and elegance.1
Dieser von Augenfeld beschriebene »Wiener Wohnstil« – auch »Wiener Wohnen«, »Wiener Schule« oder »Zweite Wiener Moderne« genannt – wurde seit den 1910er Jahren von einer Gruppe von Architekten und später zunehmend auch
1 Felix Augenfeld: Modern Austria. In: The Architectural Review LXXXIII (1938), Nr. 497, S. 165–174, hier S. 168.
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Architektinnen kultiviert.2 Sie hatten noch vor dem Krieg zumeist bei Karl König an der Technischen Hochschule studiert und sammelten sich um Josef Frank und Oskar Strnad, die beide in den 1920er Jahren an der Kunstgewerbeschule unterrichteten. Es war ein intellektueller Kreis, der nicht so sehr durch ein Manifest oder eine straffe Organisation zusammengehalten wurde, sondern durch eine gemeinsame Haltung gegenüber Fragen der modernen Architektur und persönliche Freundschaften. Wie Augenfeld selbst in dem eingangs zitierten Text betonte, hatte die Wiener Architektur nach den verheißungsvollen Anfängen um Otto Wagner, Josef Hoffmann und Adolf Loos um 1900 in den 20er und 30er Jahren an internationalem Einfluss verloren. Andere Metropolen, vor allem Berlin und Paris, haben mit den Bauten von Walter Gropius, Mies van der Rohe und Le Corbusier die Führungsrolle übernommen. Der Wiener Architektur, auch den Wohnbauten des Roten Wiens, haftete der Makel des nicht konsequent Modernen an, sie galt als formal zu wenig radikal und bautechnologisch zu wenig innovativ. Und tatsächlich, selbst in ihrer progressivsten Ausprägungen unterschied sie sich die Wiener Architekturproduktion der Zwischenkriegszeit in vielem von der Produktion des Deutschen Werkbundes, wie sich gut anhand der Einrichtung der Häuser von Johannes Jacobus Oud und Josef Frank auf der Stuttgarter Weißenhof-Siedlung zeigen lässt: Das Haus von Oud war konsequent mit Stahlrohrmöbeln ausgestaltet und auf die technischen Notwendigkeiten reduziert, der Wohnraum von Franks Doppelhaus hingegen mit Polstermöbeln und sogar Vorhängen möbliert. Dieses »üppig« ausgestattete Interieur wurde prompt von einem Mitarbeiter Ouds als »Frank’s bordello« abgetan.3 Hugo Häring, von Josef Frank als einer der wenigen Teilnehmer der Stuttgarter Weißenhofsiedlung auch zur Teilnahme an der Wiener Werkbundsiedlung eingeladen, urteilte 1932 in der Zeitschrift des Deutschen Werkbundes Die Form: »Streng genommen sind die Wiener nicht modern, denn sie machen noch Ornamente. Sie legen Wert auf Wohnlichkeit und halten sich die Sachlichkeit vom Leibe. Sie reden nicht von Funktionalismus, sie suchen nicht den Ausdruck der Zeit, sie wenden sich nicht verächtlich ab, wenn ihnen eine historische Form begegnet.«4 Bauhaus-Direktor Walter Gropius ging von der Idee einer umfassenden Vereinheitlichung des modernen Lebens aus: »Die Lebensbedürfnisse der Mehrzahl der Menschen sind in der Hauptsache gleichartig. Haus und Hausgerät 2 Iris Meder : Josef Frank und die skeptische Schule der Moderne. In: Alena Jantova, Hanna Kosinska-Witt (Hgg): Wohnen in der Großstadt 1900–1939. Wohnsituation und Modernisierung im internationalen Vergleich. Stuttgart: Franz Steiner 2006, S. 405–420. 3 Zit. n. Karin Kirsch: Die Weißenhofsiedlung. Die Werkbund-Ausstellung »Die Wohnung« – Stuttgart 1927, Stuttgart: DVA 1987, S. 174. 4 Hugo Häring: Bemerkungen zur Werkbundausstellung Wien-Lainz 1932. In: Die Form. Zeitschrift für gestaltende Arbeit (1932), Bd. VII, S. 204–207, hier 204.
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sind Angelegenheit des Massenbedarfs, ihre Gestaltung mehr eine Sache der Vernunft als eine Sache der Leidenschaft.«5 Die logische Antwort darauf waren vermehrte Typisierung und Massenproduktion. Im Gegensatz dazu gingen Oskar Strnad und die Wiener Schule von dem Menschen als Individuum als Basis für die Einrichtung aus: »Nun fragen Sie mich, wie sollen denn eigentlich Möbel aussehen? Wie soll ich mein Zimmer einrichten? Für diese Frage gibt es so viele Antworten, als es verschiedene Räume, verschiedene Menschen, verschiedene Architekten und verschiedene künstlerische Einfälle gibt.«6 In seinem Buch »Architektur als Symbol. Elemente deutschen neuen Bauens« verband Josef Frank 1931 die Tendenz des Bauhauses zur Vereinheitlichung nicht ganz unpolemisch mit der verpönten Dekorationspraxis des Historismus: Der Wahn von der Gleichheit der Form, der unendlichen Garnitur, die Grundlage veralteten Kunstgewerbes als geschlossenes System ist noch immer derselbe, und wer kann nicht begreifen, wie vielformiger unser Leben geworden ist, wie sich ihm alles Bestehende einfügen muß; unsere Zeit ist die ganze uns bekannte historische Zeit. Dieser Gedanke allein kann die Grundlage moderner Baukunst sein.7
Dieser radikale Synkretismus als Opposition zum »geschlossenen System« unterschied das architektonische Konzept der Wiener Schule von der gleichzeitigen Theorie und Produktion des Bauhauses, aber auch von den vorhergehenden Epochen des Historismus und des Jugendstils. In den Interieurs des Wiener Wohnens wurden daher etwa programmatisch ältere Möbelstücke verwendet: Erbstücke, Fotographien, persische Teppiche, ganze Bibliotheken, ja sogar Handarbeiten konnten in die Interieurs integriert werden. All diese Dinge waren von Bruno Taut in seinem Buch »Die neue Wohnung. Die Frau als Schöpferin« (1924) verbannt worden: Es wird ein Fetischismus mit den Gegenständen getrieben, man hat Aberglauben vor ihrer Vernichtung. Und gibt ihnen damit Macht und Herrschaft, unterwirft sich ihrer Tyrannei des Leblosen, anstatt in seinem Gehäuse selber der unanfechtbare Herrscher zu sein.8
5 Walter Gropius: Grundsätze der Bauhausproduktion. In: Neue Arbeiten der Bauhauswerkstätten, München: Albert Langen o. J. [1925], S. 5–8, wieder abgedruckt in: Walter Gropius: Ausgewählte Schriften. Bd. 3. Hrsg. von Hartmut Probst und Christian Schädlich. Berlin: Verlag für Bauwesen 1987, S. 93–96, hier S. 93. 6 Oskar Strnad: Neue Wege in der Wohnraum-Einrichtung. In: Deutsche Kunst und Dekoration, Oktober 1922, wiederabgedruckt in: Max Eisler : Oskar Strnad. Mit den ausgewählten Schriften des Künstlers, Wien: Gerlach und Wiedling 1936, S. 49. 7 Josef Frank: Architektur als Symbol. Elemente deutschen neuen Bauens. Wien: Schroll 1931, hier zitiert nach der Neuausgabe hrsg. von Hermann Czech. Wien: Löcker 1981, S. 166. 8 Bruno Taut: »Die neue Wohnung. Die Frau als Schöpferin« (1924), hier zit n. Leipzig: Klinkhardt & Biermann 31925, S. 10–11.
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Ganz im Gegenteil zur »Tyrannei des Leblosen« hatte Oskar Strnad 1922 sein Verständnis vom Möbel als etwas Lebendigem in dem Text »Neue Wege in der Wohnraum-Einrichtung« festgehalten: Es lebt sein Leben, hat seine Umwelt. Seine Körperlichkeit steht zu meiner Körperlichkeit in Beziehung, nicht zum Raum-Volumen. […] Möbel sind selbständige Wesen. Sonst entsteht Zwang, Knechtschaft. Das freie Nebeneinander-Leben begreifen (verschiedenes Holz, verschiedene Form im selben Raum). Das Organische, Lebendige, Tierhafte, das vom Fußboden sich Befreiende ausdrücken. Das Körperliche, von innen Gespannte empfinden, die Oberfläche als Haut erleben.9
Strnads Vorstellung vom lebendigen Möbelstück hatte in Wien literarische Entsprechungen bei Hugo von Hofmannsthal: In der Ansprache an die Gäste des Grafen Karl Lanckoronski beschrieb er bereits 1902 den Moment der Verlebendigung der Dinge: Aber manchmal gelingt es einer Stunde der Einsamkeit über uns und über die stummen Dinge um uns eine noch grössere Gewalt auszuüben. Es gibt Momente, und sie sind fast beängstigend, wo A l l e s rings um uns sein ganzes starkes Leben annehmen will. Wo wir sie alle, die stummen schönen Dinge, neben uns leben fühlen und unser Leben mehr in ihnen ist als in uns selber. Sie kennen ein jedes seinen Augenblick, sich auf uns zu werfen.10
Strnad war mit Hofmannsthal bekannt und hat auch eine Stadtwohnung für ihn eingerichtet; er hat diese Stelle sicher gekannt und geschätzt. In zwei Punkten setzte sich die ›Wiener Schule‹ also von der vorherrschenden Auffassung von moderner Architektur vor allem von moderner Einrichtung ab: Eine Wohnung kann durchaus aus mit älteren Möbelstücken eingerichtet werden, ohne deswegen an Modernität einzubüßen; und die Dinge des täglichen Bedarfs sind nicht leblos, sondern entwickeln in der Koexistenz mit den Bewohnern im übertragenen Sinne ein Eigenleben. Während also Gropius und Taut für die bürgerliche Einrichtung Anonymisierung und Rationalisierung durch Typenmöbel fordern, spürt die ›Wiener Schule‹ den Möglichkeiten zur Individualisierung und der Belebung des Interieurs nach. Das im Sinne der Wiener nie abgeschlossene Projekt »Wohnungseinrichtung« entstand in einer ungewöhnlich engen Kooperation von Architekten und Architektinnen und Auftraggebern und Auftraggeberinnen. Die ›Wiener Schule‹ 9 Oskar Strnad: Neue Wege in der Wohnraum-Einrichtung. In: Deutsche Kunst und Dekoration. Oktober 1922, wieder abgedruckt in: Iris Meder, Evi Fuks (Hgg): Oskar Strnad, Salzburg, München: Pustet 2007, S. 123. 10 Hugo von Hofmannsthal: Reden und Aufsätze, Bd. 2. Hrsg. von Konrad Heumann und Ellen Ritter. Frankfurt/M.: S. Fischer 2009 (= Sämtliche Werke, Bd. XXXIII), S. 8. Zu Hofmannsthals Verhältnis zu den Dingen siehe Claudia Bamberg: Hofmannsthal. Der Dichter und die Dinge. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2011.
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verdankt ihr Überleben in der finanziell schwierigen Situation der Zwischenkriegszeit dem geschickten Eingehen auf die gewandelten Ansprüche einer neuen urbanen Mittelschicht, die den Architekten nicht zuletzt deshalb so gut bekannt war, weil sie selbst dazu gehörten. Nach dem Ersten Weltkrieg entstand in Wien trotz aller wirtschaftlicher Schwierigkeiten eine neue bildungsbürgerliche Elite aus Intellektuellen und Künstlern. Sie waren in ihren jeweiligen Professionen erfolgreich, ohne im eigentlichen Sinne reich zu sein. Es waren Universitätslehrer, höhere Beamte, Künstler, Ärzte, Rechtsanwälte, Journalisten, Unternehmer. Gebildet und weltoffen, waren sie selbstbewusst von ihrem eigenen Geschmacksurteil überzeugt. Und zunehmend waren es Auftraggeberinnen. Gerade sie ließen sich von dem undogmatischen Konzept der Wiener Schule überzeugen, weil es ihnen ein großes Maß an individueller Einflussnahme bot. Es entstand eine bourgeoise-bohemien bildungsbürgerliche Elite, die sich ein entsprechendes Umfeld schuf, mit Wohnungseinrichtungen, Bars, Boutiquen, Restaurants, Wochenendhäusern und Sportgelegenheiten an Donau, Rax und im Wiener Wald. Diese spezifisch metropolitane Gruppe war im Verhältnis zur Bevölkerung nicht besonders groß, aber sehr stilprägend, sie dominierte Illustrierte und Zeitschriften und ihr »life style« wurde von anderen nach Maßgabe der Möglichkeiten kopiert. Die Auftraggeber wurden selbstbewusster. Die Bevormundung des Bewohners durch den Architekten mittels Gesamtkunstwerk Jugendstilwohnung war schon vor dem Krieg von Adolf Loos in seiner Parabel vom Von einem armen, reichen Manne persifliert worden: Einen großen teil seiner zeit widmete er von nun an dem studium seiner wohnung. Denn das muß gelernt sein; das sah er wohl bald. Da gab es gar viel zu merken. Jedes gerät hatte einen bestimmten platz. Der architekt hatte es gut mit ihm gemeint. An alles hatte er schon vorher gedacht.11
Vom Gesamtkunstwerk wollte sich das ›Wiener Wohnen‹ bewusst lösen, indem die Auftraggeber stärker in die Entscheidungen eingebunden wurden, das Verhältnis von Auftraggeber und Architekt wurde auch unter dieser Perspektive theoretisch beleuchtet. Oskar Strnad sprach 1932 vom Architekten als »gutem Arzt« oder Seelenarzt:
11 Adolf Loos: Von einem armen, reichen Manne. In: Neues Wiener Tagblatt, 26. 4. 1900, S. 1f., abgedruckt in: A. L.: Ins Leere gesprochen 1897–1900, Paris, Zürich: George CrHs et Cie 1921, hier zit. n. dem Neudruck hrsg. von Adolf Opel, Wien: Prachner 1981, S. 198–203, hier S. 200.
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Es ist, wenn man den Dingen auf den letzten Grund geht – und das muss man in den Dingen des künstlerischen Schaffens immer tun – viel eher eine Angelegenheit rein seelischer Natur, eine Aufgabe, die der eines guten Arztes gleicht.12
Für Felix Augenfeld wurde dieser Gedanke überhaupt zum Angelpunkt von Modernität. Er rückte den professionellen Gestalter völlig in den Hintergrund. Unter dem Titel Wahre Modernität schrieb er in der Zeitschrift Innen-Dekoration: Was müßte das höchste Ziel des wohnungschaffenden Architekten sein? Wenn der Wohnungs-Inhaber erklärt: ‹Meine Wohnung ist für mich, wie auch für meine Freunde und Gäste, der Inbegriff modernen Wohnkomforts: eine Stätte der Lebensfreude, unbegreiflichen Behagens. Der Name des Schöpfers? Man hat ihn weder erkannt, noch hat man nach ihm gefragt. Soweit sind wir noch lange nicht! Die ›originelle Schöpfung‹ steht noch hoch im Wert. Die Möbel, denen Autorschaft und Jahreszahl im Gesicht geschrieben steht, sind Ziel des staunend betrachtenden Auges,– statt schweigende Zeugen der unabgelenkt an ihnen vorbeistreifenden, befreiten Blicke zu sein.13
Die eigentliche Aufgabe des Architekten sei es also, die verborgenen (»unbewussten«) Bedürfnisse des Auftraggebers aufzudecken und seine eigene Persönlichkeit, Geschichte und ästhetischen Präferenzen dem völlig unterzuordnen. Dazu gehörte auch, dass der Architekt dem Auftraggeber seine wahren Bedürfnisse durch geschickte Nachfragen entlocken musste, weil dieser oft sie aus Unwissenheit und Unsicherheit nicht selbst erkannte. Und so publizierte Augenfeld einen fiktiven Dialog im Society- und Zeitgeist-Magazin ›Die Bühne‹: »Was hat man jetzt für Vorhänge, Herr Architekt?«, ist eine der schwer zu beantwortenden Fragen aus dieser Welt des Zweifels. »Ist es richtig, daß man jetzt gar keine Bilder an der Wand hat?«, ist eine ähnliche Frage, […]. Wie stark das vermeintliche Diktat der Mode auf Gebieten wirkt, die ihr gar nicht unterstehen, beweist die folgende keineswegs erfundene Frage: »Herr Architekt, hat man jetzt mehr getrennte oder mehr gemeinsame Schlafzimmer?« Es war ein Brautpaar, das so fragte.14
Die Wünsche des einzelnen Auftraggebers oder eben zunehmend der Auftraggeberin, die ästhetischen Vorlieben, Tagesabläufe, Sammlungen und Erbstücke wurden in die Einrichtung einbezogen. Schläft man getrennt oder zusammen; frühstückt im Speisezimmer oder doch im Wintergarten? Gibt man mehr Abendessen am großen Speisezimmertisch oder reicht eine Sitzecke für entspannte Diskussionen? All diese Fragen werden von der ›Wiener Schule‹ ernst 12 Oskar Strnad: Mit Freude wohnen (1932), posthum veröffentlicht in: Der Architekt. Oskar Strnad zum 100. Geburtstag. Hrsg. von Johannes Spalt, Wien 1979, wieder abgedruckt in: Meder/Fuks (Hgg.), Oskar Strnad, S. 127. 13 Felix Augenfeld, Wahre Modernität. In: Innen-Dekoration (1929), Maiausgabe, S. 216. 14 Felix Augenfeld: Der Wohnraum, jenseits von Mode. Gedanken über Raumgestaltung. In: Die Bühne (1935), Nr. 395, S. 34–36, S. 60, hier S. 34.
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genommen und diese Fragen waren in den frühen 1920er Jahren neu, denn auch die bildungsbürgerliche Elite musste sich nach dem Schock des Ersten Weltkrieges neu orientieren. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die bürgerliche Wohnung eine räumliche Reduktion des adeligen Wohnens, paradigmatisch dafür steht der selten unbenützte Salon mit dem Büffet zur Ausstellung des guten Geschirrs. Gegen diese auf Beeindruckung und weniger auf Praktikabilität angelegte Einrichtungspraxis war schon die Reformkultur der Jahrhundertwende – vor allem Adolf Loos – angetreten. In den 1920erJahren wurde die Ausformulierung des bürgerlichen Wohnens weiter vorangetrieben und neuen sozialen Bedingungen angepasst. Zunehmend gab es alternative Lebensentwürfe, die jetzt auch selbstbewusst architektonisch umgesetzt werden sollten: Singles, Ehepaare ohne Kinder, Alleinerziehende, Geschiedene und alle möglichen Übergangstadien dazwischen. Die Architektur reagierte mit Einraumwohnungen, Einküchen-Häusern und Studios auf diese neue Instabilität aber auch Vielfalt der Lebensverhältnisse. Oft wurden diese neuen Wohnungstypen in die existierenden Wohnungsgrundrisse der Gründerzeitbebauung integriert, da die Bautätigkeit außerhalb der Wohnbauten der Gemeinde Wien sehr gering war. Nicht nur die Grundrisse, sondern auch die Einrichtung dieser neuen Wohnungen sollte das neue urbane Lebensgefühl widerspiegeln. Die Möblierung wurde in dem Maße informeller, in dem auch die Zusammenkünfte zwangloser wurden. Man saß auf Sofa oder Fauteuil, entspannt zurückgelehnt, gemeinsam um einen niedrigen Tisch, und nicht wie vor der Jahrhundertwende getrennt in Herren- und Damenzimmern. Das neue Wohnzimmer war multifunktional; Aufenthaltsraum für die Familienmitglieder, Rahmen für repräsentative Anlässe, Bibliothek, Arbeitsraum etc. Wesentliche Inspirationen für die Ausformulierung dieses Raums und seiner Möbel fand die ›Wiener Schule‹ in den halls der englischen arts-and-crafts-Bewegung in der Nachfolge der beiden Sozialreformer John Ruskin und William Morris und im heimischen Biedermeier. Die Anhänger der Wiener Schule waren natürlich nicht die einzigen Architekten, die sich in Wien mit diesen Fragen beschäftigten, aber sie trafen mit ihren absichtsvoll improvisiert wirkenden Interieurs den Zeitgeist besonders genau. Tatsächlich waren ihre Einrichtungen sehr flexibel; die leichten Holzmöbel konnten leicht bewegt werden, sie wurden mit eingebauten Schrankmöbeln kombiniert, die oft auch als Raumtrenner verwendet wurden. Sie verwendeten keine vorgefertigten Zimmereinrichtungen, keine zusammengehörenden Möbelstücke, also keine Garnituren, wie sie im Möbelhandel in verschiedensten Ausführungen angeboten wurden. Verschiedenförmige Stühle und Armsessel mit vielfarbiger Polsterung wurden oft um ein Schlafsofa arrangiert, prinzipiell konnte jedes Stück auch an einer anderen Stelle der Wohnung stehen, ohne dass ein Dekorationssystem gebrochen wurde. Dies scheint heute sehr selbstver-
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ständlich, war aber in den 1920er Jahren ein nicht unerheblicher Modernisierungsschritt des Interieurs.
Augenfeld und seine Auftraggeberinnen Felix Augenfeld war zwar nicht der bedeutendste oder bekannteste, aber ein überzeugter Vertreter dieser Richtung. Wie so viele seiner Kolleginnen und Kollegen war er lange Zeit durch seine Vertreibung und die Emigration 1938 nach New York beinahe in Vergessenheit geraten. Augenfeld war in Wien geboren, hatte an der Technischen Hochschule Architektur studiert, war dann Teilnehmer der ersten privaten Loos-Schule gewesen, bevor er im Ersten Weltkrieg in Italien stationiert und gefangen genommen worden war. Nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft schloss er sich nicht mehr dem Loos-Kreis an, sondern befreundete sich mit Oskar Strnad. In den frühen zwanziger Jahren eröffnete er mit seinem Studienkollegen Karl Hofmann ein kleines, relativ erfolgreiches Architekturbüro in der Wipplingerstraße im Ersten Bezirk. Relativ erfolgreich, weil die private Bautätigkeit in Wien und Österreich in der Zwischenkriegszeit, besonders seit dem Börsenkrach, gering war und größere Aufträge selten waren. Stattdessen spezialisierte sich die Bürogemeinschaft auf Einrichtungen und kleinere Umbauten, für die sie schnell bekannt wurde und die auch in in- und ausländischen Fachzeitschriften publiziert wurden. Innerhalb der Bürogemeinschaft war wohl Augenfeld für Akquise und Entwurf zuständig, während Hofmann die Ausführung überwachte. Augenfeld war es auch, der gelegentlich in deutschsprachigen Fachzeitschriften Texte publizierte. Die Auftraggeber wurden oft aus ihrem Bekannten- und Verwandtenkreis aus Industriellen, Intellektuellen und Künstlern rekrutiert. Sein langjähriger enger Freund, der Journalist Milan Dubrovic, erinnerte sich, dass Augenfeld wie sein Kollege Hans Adolf Vetter ein regelmäßiger Besucher des Literatencaf8s Herrenhof war. Das war insofern beachtenswert, als eigentlich das von Adolf Loos eingerichtete Caf8 Museum nahe der Technischen Hochschule und der Akademie der bildenden Künste traditionell als das Stammcaf8 der Architekten diente. Augenfeld war der Architekt des Vertrauens, wenn es um kleinere Aufträge aus dem Herrenhof-Umfeld ging. Ein sehr spezifisch literarisches Einrichtungsproblem lösten Hofmann und Augenfeld beispielsweise für den jungen Hans Weigel, der einen Wandverbau mit Schreibtisch, Bücherregal und einer integrierten Herdplatte beauftragte, damit er den kreativen Schreibfluss nicht durch Kaffeehausaufenthalte zur Unzeit unterbrechen musste.
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Muriel Gardiner Augenfelds wichtigste Auftraggeberin in Wien und in New York war Muriel Morris Gardiner, später Buttinger. Sie war die Erbin eines bedeutenden Vermögens, das auf den berühmt-berüchtigten Schlachthöfen in Chicago gemacht worden war. Nach Wien gekommen, um sich von Sigmund Freud analysieren zu lassen, wollte sie sich zur Analytikerin ausbilden lassen, begann Medizin zu studieren und eine Lehranalyse bei Ruth Brunswick zu machen. In der Frankgasse hinter der Votivkirche ließ sie sich 1927 von Felix Augenfeld eine Wohnung einrichten. Die Wohnung war 1910 von Adolf Loos eingerichtet worden. Augenfeld erhielt die dunkelglänzende Vertäfelung des Arbeitszimmers und platzierte die wenigen leichten Holzmöbel vor diesem Hintergrund. Bunte Stoffe und kleinere Perserbrücken sowie die Buchrücken in den Regalen kamen vor diesem Hintergrund besonders gut zur Geltung. Diese Übernahme der alten Vertäfelung und die beiläufig dazu arrangierten Möbel waren gleichzeitig Referenz und Kritik an den monumentalen Einrichtungen von Augenfelds Lehrer Adolf Loos. Wenige Jahre später beauftragte Gardiner das Büro Hofmann & Augenfeld mit dem Bau eines kleinen Wochenendhauses in Sulz-Stangau im Wiener Wald. Muriel unterhielt einen weiten intellektuellen internationalen Freundeskreis, ihr damaliger Liebhaber, der englische Dichter Stephen Spender, beschrieb das Blockhaus in seinen Erinnerungen »World within World« liebevoll als cedar box: »Lamplit at evening, seen from the outside, the Blockhaus glowed like the interior of a cedar box.«15 Muriel Gardiner wurde nach 1934 durch ihr Engagement, ihre Verbindungen und ihr Vermögen, eine zentrale Figur im Widerstand zunächst gegen das Dollfuß-Regime und später gegen die Nationalsozialisten, sie versteckte mehrmals in den Untergrund abgedrängte Sozialisten (Mitglieder der Revolutionären Sozialisten) in ihrem Studio in der Lammgasse und in SulzStangau; auch den Führer dieser illegalen, d. h. revolutionären Sozialisten, Joseph Buttinger, den sie dann auf der Flucht in Paris heiraten wird. Muriel beschrieb in ihrer Autobiographie »Deckname Mary«, wie sie sich ihr Studio mit Bedacht für ihre konspirativen Treffen auswählte: And then I had the greatest stroke of luck. My friend Felix Augenfeld, whom we called ›Auge‹, an architect who had built our little cottage in Sulz, wanted to move to a Vienna suburb and was looking for someone to sublet his apartment in the Lammgasse, about five minutes’ walk from the place I had just rented in the Rummelhardtgasse. I was acquainted with the apartment, which consisted of a large studio and a small bedroom, bath, and kitchenette. It was on the top floor overlooking a courtyard surrounded by lower buildings, so no one could see into the windows. An additional advantage, for 15 Stephen Spender : World within World. The Autobiography of Stephen Spender, 1951, hier zit. n. der Ausgabe Berkeley and Los Angeles: University of California Press 1966, S. 195.
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conspiratorial purposes, was that the concierge’s loge – unlike almost every other – was not at the entrance of the building but in the rear, out of sight of even the stairs and elevator. It seemed like a gift from heaven.16
Gardiner beschrieb hier einen Aspekt von Architektur, der vollkommen jenseits der Frage des Gestalterischen lag, nämlich wie sehr sich die Räume für die geheime politische Arbeit im Untergrund eigneten. Das Studio firmierte offiziell als Studierraum der alleinerziehenden Mutter, in dem sie ungestört von ihrer Tochter für ihr Medizinstudium arbeiten konnte. Unter anderen politischen Umständen hätten die Räume aber auch zu Zusammenkünften erfreulicherer Art dienen können. Es haben sich keine Bilder des Studios erhalten, aber es war wohl ähnlich schlicht und elegant eingerichtet wie die Wohnung Gardiners. Muriel Gardiners dramatische Erlebnisse bei der Arbeit im Untergrund bildeten die Grundlage für den Roman »Pentimento« von Lillian Hellman (1973), der 1977 mit Jane Fonda und Vanessa Redgrave von dem gebürtigen Wiener Fred Zinnemann als »Julia« verfilmt wurde. Was in unserem Kontext hier interessiert, ist aber vor allem, dass sich diese dramatischen Begegnungen während des austrofaschistischen und zu Beginn des nationalsozialistischen Regimes nicht im Dunkel im Prater, sondern in den liebevoll ausgestatteten bürgerlichen Interieurs der Wiener Schule abgespielt haben. Handlung und Hintergrund wirken aber nur auf den ersten Blick inkongruent, waren es doch eminent bürgerliche Rechte wie Versammlungs- und Redefreiheit, die in diesen Treffen verteidigt wurden.
Der Herr Professor Felix Augenfeld hatte Muriel Gardiner sehr wahrscheinlich im Umkreis der Familie Freud kennen gelernt, mit der er gut bekannt war, weil er mit Freuds jüngstem Sohn Ernst an der Technischen Hochschule Architektur studiert hatte und auch vor dem Ersten Weltkrieg bei Adolf Loos in dessen privater Schule gelernt hatte. Augenfeld hatte auch gelegentlich für die Familie Freud kleinere Aufträge ausgeführt, wie etwa einen speziell auf seine Sitzgewohnheiten zugeschnittenen Schreibsessel für Sigmund Freud, dessen Original heute im FreudMuseum in London steht. Diesen hatte er genau nach den Beschreibungen von Freuds ältester Tochter Mathilde Hollitscher entworfen, um dem Professor – wie er im Familienkreis genannt wurde – beim bekannten Problem zu helfen, dass man im Schreibtischsessel nicht entspannt. Hofmann und Augenfeld entwarfen einen Sessel mit gepolsterten Armlehnen und Kopfstütze, damit Freud mit einem 16 Muriel Gardiner : Code Name Mary. Memoirs of an American Woman in the Austrian Underground, New Haven and London: Yale University Press 1983, S. 48f.
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übergeschlagenen Bein sitzen konnte. Wenn wir jetzt noch die Arbeiten hinzuzählen, die Augenfeld für Anna Freud und ihre Freundin Dorothy Burlingham in der Berggasse und in deren Wochenendhaus in Hochrotherd ausgeführt hat, sowie die Wohnungseinrichtung für die Freud-Schülerin Ruth Brunswick, dann kann man Augenfeld durchaus als Vertrauensarchitekten des Freud-Kreises bezeichnen.17 Mit Ernst und dessen Frau, Lux Freud (geborene Lucie Brasch), blieb er in der Emigration im Kontakt. Sie war es auch, die Augenfeld in einem Brief nach New York vom Tod Sigmund Freuds berichtete: Er hat 40 Stunden ruhig atmend geschlafen. Das Herz wollte immer weiter schlagen. Endlich ist es still geworden, kurz vor Mitternacht. Wir haben das Bett wieder hinaufgetragen und sein Zimmer mit Deinem Stuhl, in dem ich manchmal in diesen Nächten gesessen bin, ist wieder wie früher, nur furchtbar leer.18
Augenfeld blieb also nicht nur über das Schicksal seiner Auftraggeber, sondern auch das seiner Entwürfe über die Emigration hinaus informiert; auch dies ist ein Beweis für die enge Bindung zwischen der Familie Freud und Augenfeld. Es ist aber wohl durchaus mehr als ein biographischer Zufall und spiegelt nicht nur das oft familiäre Verhältnis der Architekten des Wiener Wohnens und ihrer Auftraggeber, sondern verweist auch auf die emotionale Bedeutung, die einzelne Möbelstücke in diesem Milieu spielen konnten.
Gina Kaus Zu Augenfelds prominenten Auftraggeberinnen gehörte auch seine entfernte Cousine, die Journalistin und Schriftstellerin Gina Kaus, Ex-Geliebte des Spiritusmonopolisten Josef Kranz und Franz Bleis und Vertraute von Karl Kraus. (Zu Gina Kaus siehe den Beitrag von Veronika Hofeneder in diesem Band). Für sie richtete Augenfeld eine Wohnung im Philipphof gegenüber der Albertina ein. Kaus erinnert sich in ihrer Autobiographie kurz an die Entstehung dieser Einrichtung: Mein Vetter Felix Augenfeld, ein bekannter Architekt, baute die Wohnung für uns um und richtete sie ein. Er fragte mich bei jedem Zimmer : »Du musst mir genau sagen, was du hier tun willst.« […] Ich ging jeden Tag mit Felix in die neue Wohnung, ich wählte mit ihm jeden Vorhang aus, jeden Teppich.19
17 Lisa Fischer, Regina Köbl: Sigmund Freud. Wiener Schauplätze der Psychoanalyse, Wien, Köln, Weimar : Böhlau 2005. 18 Lux Freud an Felix Augenfeld, 2. Oktober 1939, Sigmund Freud Museum, Wien. 19 Sibylle Mulot (Hg.): Von Wien nach Hollywood. Erinnerungen von Gina Kaus. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990, S. 150.
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Der literarische Salon von Gina Kaus wurde auch von Augenfelds Freund Milan Dubrovic in seinen Erinnerungen Veruntreute Geschichte lobend erwähnt: Ein geselliges Haus mit literarischem Einschlag und einem geistig interessierten größeren Freundeskreis führten auch der Schokoladefabrikant Hans Heller und die Schriftstellerin Gina Kaus im einstigen »Philipphof«, dem Sitz des noblen Jockey-Clubs vis / vis der Albertina.20
Es war kein großbürgerlicher Salon wie die von Alma Mahler-Werfel und Berta Zuckerkandl, sondern ein kleineres, aber intellektuell nicht weniger ambitioniertes »geselliges Haus«, dem Augenfeld die geeignete Form geben sollte. Das Zentrum des »geselligen Hauses« wurde so die runde Bibliothek, die in einem der Ecktürme des Philipphofes untergebracht wurde. In deren Mitte bildeten ein Sofa und zwei Fauteuils eine informelle Sitzgruppe. Dort konnte man sich zu Diskussionen zusammenfinden und hatte die Bücher schnell zur Hand. Damit die Hausherrin nichts von den Gesprächen verpasste, gab es auch eine Anrichte, auf der man Kaffee kochen konnte. Es ist ein Raum, der vollkommen auf die Bedürfnisse einer erfolgreichen Schriftstellerin in den 1920er Jahren zugeschnitten war, Leseraum, Treffpunkt für größere Gruppen oder kleinere Besprechungen. Viele Begebenheiten in Kaus’ Romanen spielen in räumlichen Situationen und sozialen Gruppierungen, die den Lebensverhältnissen der Klientel von Hofmann und Augenfeld nicht unähnlich waren. Kaus machte die sukzessive Einrichtung einer bürgerlichen Wohnung in dem Roman Morgen früh um 9 zum wiederkehrenden Motiv : Trotzdem waren die ersten Jahre ihrer Ehe herrlich gewesen. Sie hatten erst sehr wenig Geld gehabt. Erwin, ein frisch gebackener Arzt, hatte sich mühsam durchgebissen. Sie hatten zunächst nur die beiden hinteren Zimmer der Wohnung benutzt – Schlaf- und Wohnzimmer in einem und ein ärztliches Ordinationszimmer –, drei von den vier großen vorderen Räumen waren an ein Büro vermietet. Dann hatten sie langsam, ganz allmählich, ein Zimmer nach dem anderen eingerichtet…21
Elisabeth, die Heldin des Romans, rekonstruiert die Geschichte der Wohnungseinrichtung anhand der erhaltenen Rechnungen, die sie zur Hand nimmt, weil sie Dokumente sucht, die sie zum am nächsten Tag anstehenden Scheidungstermin mitbringen soll. Die Geschichte dieser Einrichtung ist also auch die Geschichte ihrer Ehe, ihrer Konflikte und Kompromisse: Am 25. September 1925 war der Tapezierer bezahlt worden, der das Herrenzimmer – sie hatten zunächst das Herrenzimmer eingerichtet – mit der schönen rostroten Sack20 Milan Dubrovic: Veruntreute Geschichte, Wien, Hamburg: Zsolnay 1985, S. 170. 21 Gina Kaus: Morgen um Neun. Roman. Berlin: Ullstein 1932, hier zit. n. dem Nachdruck: Hildesheim, Zürich, New York: Georg Olms Verlag 2008, S. 116.
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leinwand bespannt hatte. Am ersten Dezember hatten sie die Bücherregale gekauft. Wieviel sie über diese Regale gesprochen und gestritten hatten! Natürlich hatte Erwin die Bücher hinter schützendem Glas haben wollen, und das konnte Elisabeth nicht leiden, das störte ihrer Ansicht nach die Intimität mit den Büchern, und sie hatten sich schließlich zu fünfzig Prozent geeinigt. Erwins medizinische Fachliteratur kam hinter Glas und alle anderen Bücher in offene Regale, […]22
In Kaus’ Roman tritt kein Architekt auf, wohl aber ein Bekannter, der das Ehepaar Elisabeth und Erwin beim Kauf von Antiquitäten berät, die sie in den nächsten Jahren mit wachsendem Erfolg der medizinischen Praxis anschaffen sollten. Im Laufe der Ehejahre kann sich das junge Paar langsam immer mehr Räume der Wohnung erobern, bis sie sie schließlich ganz übernehmen. Kaus benutzte im Roman das Bild dieser Wohnung, um einerseits den wachsenden Erfolg des Ehemannes zu veranschaulichen und anderseits das Zusammenwachsen der Protagonisten in ihrer mehrjährigen Ehe. Obwohl fiktiv, transportiert die Schilderung Kaus’ doch viel von der Bedeutung, die Größe, Lage und Ausstattung der Wohnungen im modernen Wiener Bildungsbürgertum als Mittel der Distinktion hatten. Aber vor allem gibt sie Auskunft über die Wohnung als privaten Rückzugsort und den Ausgleich individueller Interessen und dem Verhältnis der Geschlechter darin. Allerdings bedingt diese Art der Einrichtung, dass mit jedem Möbelstück eine Erinnerung verbunden werden kann, die sich wie in Zeitschichten übereinanderlegen. Darin stimmten das fiktive und die realen Interieurs überein. Eine entsprechende Erzählung könnte in einem spartanisch ausgestatteten Interieur wie jenen von Johannes Jacobus Oud gar nicht angesiedelt werden.
Cilli Tuchfeld Ambor Neue Lebensentwürfe verlangten zudem nach neuen räumlichen Lösungen. Im Hochhaus in der Herrengasse, das ab 1932 zum Zentrum der Wiener Boh8me wurde, haben Hofmann und Augenfeld eine Einraumwohnung für die Tänzerin Cilli Tuchfeld Ambor eingerichtet.23 Diese kleine Wohnung wurde mehrfach in Zeitschriften publiziert, weil sich darin unterschiedliche Aspekte des modernen Lebens überschnitten: Wohnen im Hochhaus, alleinstehende emanzipierte Bewohnerin und multifunktionale Möblierung für den kleinen Raum. Annemarie Selinkos Beschreibung der kleinen Wohnung Tonis im Hochhaus in der Her22 Ebd. S. 117f. 23 Iris Meder, Judith Eiblmayr : Haus Hoch. Das Hochhaus Herrengasse und seine berühmten Bewohner, Wien: Metroverlag, 2009, S. 131f. Zur Rezeption des Hochhauses in der Wiener Literatur siehe den Beitrag von Evelyne Polt-Heinzl in diesem Band.
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rengasse in ihrem Roman »Morgen wird alles besser« könnte auf das von Augenfeld eingerichtete Apartment passen: Jetzt wohnt die Toni Huber also im Himmel. Ihre Wohnung dort oben besteht aus einem einzigen Zimmer, aber es ist trotzdem eine richtige Wohnung. Links in der Ecke ein kleiner elektrischer Herd und ein Regal mit Geschirr. Diese Küche wird von der schönen rotseidenen spanischen Wand, die früher in Tonis Zimmer war, züchtig verhüllt. Dann gibt es eine Art Alkoven, dort steht Tonis breites dunkles Bett. Der Alkoven ist das Schlafzimmer, und das Schlafzimmer wird durch einen lustigen geblümten Vorhang vom Rest des Zimmers abgetrennt. Der übrige Raum ist Wohnzimmer, Speisezimmer und Salon zugleich.24
Augenfelds Einrichtung der Einraumwohnung von Cilli Pam ist jedoch strenger organisiert, keine Vorhänge und spanischen Wände unterteilen den Raum, stattdessen sorgen multifunktionale Einheiten, wie Bett-Couch und Klapptisch für mehr Raum, aber das Prinzip der Einraumwohnung ist dasselbe. Die Toni Huber in Selinkos Roman ist eine junge Frau, die quasi aus Versehen Karriere als Radiosprecherin macht. Cilli Tuchfeld Ambor war eine junge Tänzerin, die ein Gymnastikstudio im Hochhaus betrieb. Natürlich entsprechen sich das literarische Wiener Wohnen und das architektonische Wiener Wohnen nicht vollständig, aber sie widersprechen einander auch nicht: Die Autorinnen mussten die Wohnräume ihrer Protagonistinnen und Protagonisten so weit glaubhaft schildern, dass das Publikum sie auch wiedererkennen konnte. Augenfelds Auftraggeberinnen entsprachen vielfach nicht dem traditionellen Rollenbild der bürgerlichen Ehefrau: Sowohl Gina Kaus als auch Muriel Gardiner waren geschiedene alleinerziehende Mütter, sie waren finanziell unabhängig, strebten Karrieren an, hatten Liebhaber, offene Dreierbeziehungen, führten also ein selbstbestimmtes Leben und waren in unserem Sinne moderne Frauen. Wenn wir jetzt ihre Wohnungen als konservativ oder nicht richtig bzw. nur ansatzweise modern empfänden, dann entspräche das sicherlich nicht ihren eigenen Wahrnehmungen. Sie haben sich ihr Wohnumfeld selbstständig gewählt, sich intensiv an der Einrichtung beteiligt und fanden sie für ihre unkonventionelle Art des Lebens offenbar ausreichend modern.
Wiener Wohnen in New York 1938 mussten Hofmann und Augenfeld ihr Büro schließen und emigrieren; Hofmann nach Melbourne und Augenfeld zunächst nach London und dann mit einem Affidavit von Muriel Gardiner nach New York. Dort konnte er, nachdem er die notwendigen Prüfungen absolviert hatte, wieder als Architekt arbeiten und 24 Annemarie Selinko: Morgen ist alles besser. Wien, Prag, Leipzig: Zeitbild Verlag 21938, S. 114.
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spezialisierte sich wie schon in Wien auf Einrichtungen, Möbelentwürfe, Wochenendhäuser. Ein relativ großer Anteil seiner Aufträge kam von Wiener Mitemigranten. So errichtete er auf Fire Island eine kleine Kolonie von weekend cabins für Wiener und New Yorker Bekannte, darunter Christiane Zimmer, die Tochter Hugo von Hofmannsthals. Auch mit ihr war Augenfeld eng befreundet.25 Der größte Auftrag in New York kam aber wiederum von Muriel Gardiner, inzwischen Buttinger. Augenfeld hatte ein kleines Grundstück in der Nähe des Central Parks (10 East 87th) entdeckt und Gardiner ließ sich von ihm dort 1957–58 ein Townhouse mit Bibliothek errichten. Das Bauprogramm sah vor, darin eine große Stadtwohnung für Muriel Gardiner, ihre Tochter aus erster Ehe und ihren Ehemann Joseph Buttinger unterzubringen sowie eine öffentlich zugängliche Bibliothek und eine Wohnung für ihren Bibliothekar Otto Bauer. (Er wurde der kleine Otto Bauer genannt, um ihn von dem großen, dem Politiker Otto Bauer zu unterscheiden.) Buttinger hatte in New York begonnen, Bücher und ganze Bibliotheken von Wiener Mitemigranten zu erwerben, mit dem Schwerpunkt österreichische Kultur und Geschichte und Geschichte der Arbeiterbewegung. Joseph Buttinger schilderte seine Motivation beim Ankauf dieser Bücher in seiner Autobiographie: Seit dem Frühjahr 1940 sammelte ich deutschsprachige Bücher über Geschichte, Ökonomie, Arbeiterbewegung und Marxismus, besonders solche, die das Naziregime hatte vernichten lassen und die daher nach dem Krieg kaum, wenn überhaupt, vorhanden sein würden. Doch mit meinen Bücherkäufen verfolge ich noch ein anderes, ehrgeizigeres und mit unserer Flüchtlingshilfe in Verbindung stehendes Ziel. Ich wollte eine deutschsprachige Bibliothek aufbauen, die österreichischen und deutschen Flüchtlingen zur Verfügung stehen sollte, die über die politische und soziale Geschichte ihres Landes, ihrer Vergangenheit und Gegenwart, schreiben wollten und denen die Mittel fehlten, um die Bücher, die sie brauchten und die sie in den New Yorker Bibliotheken nicht immer finden konnte, selbst zu kaufen.26
Auf diesem Wege kam etwa die Privatbibliothek Hermann Brochs in den Besitz von Buttinger. Augenfeld entwarf ein System von tragenden Regalen, die diese stetig wachsende Sammlung beherbergen sollten. Der Bibliotheksbau war zu einem kleinen Innenhof orientiert, der die Lesenden mit Licht versorgte. Einen Großteil der Bücher, die auf der zeitgenössischen Fotographie in den Regalen stehen, kann man heute in der Universitätsbibliothek der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt einsehen; Joseph Buttinger hatte sie 1971 der neu gegründeten 25 Felix Augenfeld: »Meine Freundschaft mit Christiane Zimmer«. In: Blätter für Christiane Zimmer zum 14. Mai 1982. Gesammelt von Leonhard M. Fiedler. Frankfurt/M.: Fischer 1982, S. 26. 26 Muriel Gardiner, Joseph Buttinger: Damit wir nicht vergessen. Unsere Jahre 1934–1947 in Wien, Paris und New York. Wien: Verlag der Wiener Volksbuchhandlung 1978, S. 155f.
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Bibliothek geschenkt27. Das Town House wurde in der amerikanischen Fachpresse sehr positiv besprochen und bekam eine Auszeichnung des American Institute of Architects. Obwohl gar nicht in Wien gelegen, war die ButtingerBibliothek ein Höhe- und Endpunkt des Wiener Wohnens: Dieses eine Mal konnte Augenfeld mit Hilfe des tschechischen Emigranten Jan Pokorny beinahe aus dem Vollen schöpfen und einen für das Wiener Bildungsbürgertum exemplarischen Bau entwerfen, der großzügiger Stadtwohnsitz und öffentlicher Studienort zugleich war : ein unprätentiöses Gegenstück zu den großen privaten New Yorker Bildungsinstitutionen wie der Morgan Library oder der nahe gelegenen Frick Collection. Dass lediglich der Architekt selbst tatsächlich dem Wiener Bildungsbürgertum entstammte – Muriel Gardiner war amerikanische Philanthropin, Joseph Buttinger stammte aus einer Familie von österreichischen Wanderarbeitern – widerspricht dem nur bedingt: Das Wohnkonzept der Wiener Schule hatte stets auf Basis des Wiener Lokalkolorits einen universalen Anspruch erhoben.
Epilog: Die Wiener Schule ein metropolitanes Phänomen? Ist das ›Wiener Wohnen‹ nun ein metropolitanes oder doch ein provinzielles Phänomen? Es ist eine durch und durch metropolitane Haltung: Durch Josef Franks 1931 publiziertes Buch Architektur als Symbol. Elemente neuen deutschen Bauens zieht sich die Zurückweisung der zur Formel erstarrten Aussage von Louis Sullivan »Form ever follows function« und dessen Interpretation durch Walter Gropius: »Ein Kunstwerk« schrieb ein Unentwegter, und dieser Satz ist oft nachgedruckt worden, »muss genauso funktionieren wie eine Maschine.« Das ist eine in glühendem Affekt hervorgestoßene Phrase und sollte eine der so beliebten exakten Thesen bilden. Achtung vor Phrasen!28
Dies war in den frühen 1930er Jahren für einen Architekten eine geradezu häretische Aussage, die in das Herz des architektonischen Funktionalismus zielte, und entsprechend kritisch wurde das Buch von der Kritik vor allem in Deutschland auch aufgenommen.29 Eine kritische Haltung gegenüber einer in den 1930er zunehmend unter den massiven Druck der Propaganda des Nationalsozialismus geratenden internationalen Avantgarde aufrechtzuerhalten, be27 Vgl.: https://www.aau.at/universitaetsbibliothek-klagenfurt/sondersammlungen/buttingersammlung/ (Zugriff: 19. 7. 2019). 28 Frank, Architektur als Symbol, S. 138f. 29 Vgl. Christopher Long: Josef Frank, Life and Work, Chicago, London: University of Chicago Press 2002, bes. das Kapitel »A Dissenting Voice«, S. 103–128.
Muriel, Gina und der Herr Professor
199
durfte eines extrem unabhängigen Geistes. Frank ist eben nicht in die Falle gegangen, die Moderne unkritisch zu verteidigen, weil sie auf unfairste Weise von rechts angegriffen wurde. Er hat die unabhängige Kritik an der modernen Architektur aufrechterhalten, um das Projekt architektonische Moderne weiterzuentwickeln. So kommt Friedrich Achleitner in seinem Essay »Die geköpfte Architektur. Anmerkungen zu einem ungeschriebenen Kapitel der österreichischen Architekturgeschichte« zu dem Schluss: »Was aber mit dieser kulturellen Katastrophe unterbrochen wurde, war nicht so sehr der Fortschritt der Moderne, sondern eben die fortschrittliche Kritik an der Moderne […]«.30 Otto Kapfinger führt den Gedanken fort: »Und andererseits wird hier durch Loos, Frank und Strnad schon vor 1914 die fortschrittliche Kritik an dieser Moderne formuliert, nämlich der Widerstand gegen jede Festschreibung auf einen, neuen, universellen Stil, die Skepsis gegen jedes auf formale Einheitlichkeit abzielende Kulturbild.«31 Gerade dass sich die internationale Moderne in Wien nicht unhinterfragt durchsetzen konnte, ist ein Beweis dafür, dass Wien in den 1920er und frühen 1930er Jahren architektonisch eine moderne Metropole war. Provinziell oder kleinstädtisch wäre es gewesen, die architektonischen Strömungen der Weimarer Republik und anderswo einfach unhinterfragt zu übernehmen. Die Wiener Schule begnügte sich auch nicht mit der reinen Kritik, sie entwickelte ein tragfähiges Konzept einer architektonischen Erneuerung, das sich durchaus nicht auf jenes bürgerliche Wohnzimmer beschränkte, um das es in diesen Beitrag vorrangig ging. Ihre Gemeindebauten, Villen und Ausstellungsbauten integrierten sich in die seit Jahrhunderten entstandene Metropole Wien; sie fügten sich dieser schon existierenden Großstadt ein und führten ihre architektonische Entwicklung weiter.
30 Friedrich Achleitner : Die geköpfte Architektur. Anmerkungen zu einem ungeschriebenen Kapitel der österreichischen Architekturgeschichte. In: F. A.: Wiener Architektur. Zwischen typologischen Fatalismus und semantischen Schlamassel. Wien: Böhlau 1996, S. 99–107, hier S. 103. 31 Otto Kapfinger : Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert. Leit- und Bruchlinien. In: Deutsche Bauzeitung (1996), H. 12, S. 38–41, hier S. 38.
III.
Veronika Hofeneder
Am Rande der großen Stadt – Potenziale und Grenzen urbaner Raumerfahrungen von Frauen in Wien-Romanen der Zwischenkriegszeit
Im Fokus meines Beitrages steht die Stadt Wien als Sozial- und Lebensraum, ins Zentrum meiner Betrachtungen möchte ich dabei verschiedene urbane Randzonen stellen. An diesen räumlichen Schnittstellen kommt es nämlich unweigerlich zu Konfrontationen auf sozialer Ebene, treffen doch in diesen Randbereichen verschiedenste Gesellschaftsschichten mit ihren heterogenen Ambitionen aufeinander. Zusätzlich begegnen hier einander auch die Geschlechter in einem Umfeld, das Herausforderungen bereithält und veränderte Rollenzuschreibungen ermöglicht. Als Textgrundlage werden Wien-Romane von Autorinnen herangezogen, die üblicherweise am Rande des literarischen Kanons der Zwischenkriegszeit stehen. So sollen neben Gina Kaus’ Morgen um Neun (1932) und Joe Lederers Musik der Nacht (1930) auch Mela Hartwigs Bin ich ein überflüssiger Mensch? (1930/31) und Therese Ries (unter dem Pseudonym L. Andro) Das entschwundene Ich (1924) analysiert werden. Die Romane spielen alle in Wien, Schauplätze sind städtische Randzonen, wie das unterirdische Wien, die Vorstadt oder das periphere Umland. In diesem Zusammenhang ist auch das in einigen Romanen zentrale Setting der Nacht von Interesse, da dieses den heterogenen Großstadttopos noch zusätzlich verdichtet und durch eigene Gesetzmäßigkeiten alternative Begegnungszonen und Handlungsspielräume schafft.
1.
Raumsoziologische Vorüberlegungen
Die Stadt Wien ist in diesen Romanen sehr konkret präsent: Straßenzüge, Plätze, Gebäude, Denkmäler, Parks und Lokale werden namentlich genannt und sind auch außerhalb der Romanwirklichkeit zu verorten. Basierend auf raumsoziologischen Überlegungen möchte ich im Folgenden Raum jedoch weniger statisch als physisch-materielles Territorium verstehen, sondern als dynamisiertes Konzept, das »Raum primär als Ergebnis sozialer Beziehungen und Handlungen
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Veronika Hofeneder
auffasst.«1 Als grundlegend ist hier Martina Löws Studie Raumsoziologie zu nennen, die erstmals kategorisch zwischen Raum und Ort unterscheidet und Raum als »relationale (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten«2 definiert. Räume können – im Gegensatz zu absolutistischen oder relativistischen Raumvorstellungen, bei denen die Unterscheidung zwischen Raum und Ort eher diffus bleibt – nun auch platziert und verortet werden. Zwischen Raum und Ort bestehen nach Löw Wechselwirkungen, denn »[d]ie Konstitution von Raum bringt systematische Orte hervor, so wie Orte die Entstehung von Raum erst möglich machen.«3 Gerade in den Großstadtromanen verlieren die Orte nun ihre präzise Ortung, durch das Herumstreifen und Schlendern ihrer Individuen werden Orte neu arrangiert und räumlich anders konstruiert. Michel de Certeau hat in seiner Kunst des Handelns festgestellt: »Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht. So wird zum Beispiel die Straße, die der Urbanismus geometrisch festlegt, durch die Gehenden in einen Raum verwandelt.«4 Die Fortbewegungsart des Gehens ermöglicht nach Certeau die Flexibilisierung des städtischen Raumes und die Überwindung institutionalisierter Strukturen. Großstädte erscheinen in den Romanen als »andere Räume«, jenseits des Topographischen, des Erkennund Benennbaren. Sie nehmen damit auch Gestalt der Foucault’schen Heterotopien an, die zu verstehen sind als »Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können«5, als »Orte, die sich allen anderen widersetzen und sie in gewisser Weise sogar auslöschen, ersetzen, neutralisieren oder reinigen sollen.«6 Jede Heterotopie ermöglicht Raum und Gegenraum an ein und demselben Ort, hier kann sich die räumliche Phantasie in besonderer Weise entfalten und neue Räume entstehen lassen. Als Beispiele nennt Foucault Orte wie das Theater oder das Kino, Gärten, Gefängnisse, Sanatorien, Friedhöfe oder Bordelle. Wesentlich für die Heterotopien ist, dass sie andere Räume in Frage stellen, sei es durch Illusion oder Kompensation.7 Diese Gegenorte bieten den krisengeschüttelten und reizüberfluteten ProtagonistInnen der Großstadtro-
1 Lars Wilhelmer: Transit-Orte in der Literatur. Eisenbahn – Hotel – Hafen – Flughafen. Bielefeld: transcript 2015, S. 19. 2 Martina Löw: Raumsoziologie [2001]. Frankfurt/M.: Suhrkamp 72012, S. 271. 3 Ebd. S. 272. 4 Michel de Certeau: Kunst des Handelns. Berlin: Merve-Verlag 1988, S. 217f. 5 Michel Foucault: Andere Räume. In: M. F.: Botschaften der Macht. Der Foucault-Reader. Hrsg. von Jan Engelmann. Stuttgart: DVA 1999, S. 145–157, hier 149. 6 Michel Foucault: Die Heterotopien. In: M. F.: Schriften zur Medientheorie. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Bernhard J. Dotzler. Berlin: Suhrkamp 2013, S. 119–127, hier 119. 7 Ebd. S. 125.
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mane die Möglichkeit alternativer Lebenswelten, denn raumsoziologisch gesprochen sind »am gleichen Ort unterschiedliche Räume«8 möglich. Zusätzlich möchte ich hier noch den Begriff der Urbanität ins Spiel bringen, die mit dem Stadtforscher Peter Dirksmeier zu definieren ist »als Kontingenz der Stadtgesellschaft auf der Grundlage von Individualisierung und omnipräsentem Fremdkontakt. Der Urbanitätsbegriff erfährt eine Verschiebung von der Stadt hin zum Stadtbewohner und seinen (erweiterten) Handlungsmöglichkeiten.«9 In der Folge definiert Dirksmeier einen urbanen Habitus, der »die kulturelle Kompetenz zu einer Bewältigung des Lebens in einem Klima von Individualisierung, Fremdheit und Kontingenz« beinhaltet, es einem Akteur in der Stadt also ermöglicht »mit der Urbanität einer Stadt zu leben.«10 Konkret bedeutet dies beispielsweise – mit Bezug zu Victor Turners Konzept der Liminalität – das »Vermögen, die Liminalis von einer unbekannten zu einer bekannten Person ohne Einbindung in einen ritualisierten Kontext zu überschreiten«11, also den Kontakt mit (dem) Fremden nicht nur kompetent zu bewerkstelligen, sondern auch für erweiterte Handlungsoptionen und -strukturen zu nutzen. Im Folgenden soll nun in den literarischen Texten überprüft werden, inwieweit die Protagonistinnen durch die Bewegung in der Stadt; durch die Überschreitung der Grenzen des eigenen Lebensraums oder gar der Stadt; den Kontakt mit dem Anderen, dem Fremden; das Betreten von Gegenräumen, ihren urbanen Habitus beweisen und welche alternativen Optionen und Handlungsspielräume sich daraus für sie ergeben.
2.
Urbane Individuen in der Krise
In den hier zu behandelnden Romanen steht jeweils eine Frauenfigur im Zentrum, die sich in einer Krisensituation befindet; bei den vier Frauen handelt es sich jedoch um unterschiedliche Typen in unterschiedlichen Lebens-, Familienund Arbeitssituationen und aus unterschiedlichen sozialen Verhältnissen.
8 Löw, Raumsoziologie, S. 201. Vgl. auch Werner Jung: Raumphantasien und Phantasieräume. Essays über Literatur und Raum. Bielefeld: Aisthesis 2013, S. 161. 9 Peter Dirksmeier : Habituelle Urbanität. In: Erdkunde 60 (2006), S. 221–230, hier 224. 10 Ebd. S. 228. 11 Ebd., der auch auf Turner verweist. Zu dessen Konzept der Liminalität grundlegend: Victor Turner : Betwixt and Between: The Liminal Period in Rites de Passage. In: June Helm (Hg.): Proceedings of the 1964 Annual Spring Meeting of the American Ethnological Society. Seattle WA: University of Washington Press 1964, S. 4–20. Weiters und in deutscher Übersetzung auch Victor Turner : Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur [1969 als The Ritual Process. Structure an Anti-Structure]. Frankfurt/M.: Campus 2005, bes. S. 94–127 und S. 159–193.
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In Therese Ries Wien-Krimi Das entschwundene Ich12 handelt es sich um die junge Fanny Karrner, die sich über ihre Freundschaft zur exaltierten Opernsängerin Jadwiga Jalewska (mit bürgerlichem Namen: Hedwig Nowak) definiert und auch als Gesellschafterin in den Diensten der Künstlerin steht. Mangels Selbstbewusstsein, ausreichendem finanziellen Auskommen oder einem passenden Ehemann wohnt Fanny (wie auch ihre Geschwister) bei ihren Eltern in der Josefstadt (dem achten Wiener Gemeindebezirk) in bescheidenen, aber soliden Verhältnissen. Ihr Bewegungsradius in der Stadt ist überschaubar, neben der Wohnung der Freundin besucht sie auch häufig die Oper, alle diese Wege legt sie zu Fuß zurück. Die »geordneten Bahnen« (DeI, 6) des Familienlebens geraten in Unordnung, als eines Mittags Karl, der Sohn der Familie, nicht von der Arbeit nach Hause kommt und in der Folge spurlos verschwunden bleibt. Außerdem macht sich ein merkwürdiger Verehrer an Jadwiga heran, der das Verhältnis Fannys zur bewunderten Freundin stark belastet. In der Folge entspinnt sich eine Krimi-Handlung, die mit einem Juwelendiebstahl, dem Verschwinden weiterer junger Männer (sowie Jadwigas) und deren teilweise Wiederauftauchen mit veränderter Persönlichkeit bzw. partieller Amnesie an Rätseln nichts zu wünschen übrig lässt und Fanny ermöglicht, ihren doppelten Minderwertigkeitskomplex – den persönlich-individuellen wie auch den soziokulturell bedingten – zu überwinden. Die Protagonistin in Mela Hartwigs Roman ist Luise Schmidt, eine zwar extrem ehrgeizige, nach Eigendefinition jedoch absolut alltägliche, durchschnittliche Erscheinung, unter der sie – der Titel Bin ich ein überflüssiger Mensch?13 ist hier Programm – massiv leidet, die immer wiederkehrende Selbstvermessung durch den Blick in den Spiegel bestätigt die wenig optimistische Selbstdiagnose zusätzlich. Nach einer einfachen Schulbildung schlägt sie sich mit diversen Bürojobs durch die Arbeitswelt und macht zahlreiche unbefriedigende Männerbekanntschaften. Auch sie wohnt zunächst noch bei den Eltern in der Vorstadt, später bei einer Tante, schließlich dann alleine in einem Untermietszimmer. Hartwigs Frauen sind alle fest in männlicher Hand, Luises Vater fungiert als »Gehirn« (BüM, 41) seiner streng patriarchalisch geführten – ansonsten nur aus weiblichen Mitgliedern bestehenden – Familie, der er jegliche Denkleistung abspricht und die eigene Weltanschauung aufzwingt. Auch wenn sich Luise dank ihrer Arbeitssituation und sich daraus ergebender Kontakte relativ frei in der Großstadt (vorwiegend in Vergnügungseinrichtungen) bewegen kann, gelingt es
12 L. Andro [d. i. Therese Rie]: Das entschwundene Ich. Wien [u. a.]: E. P. Tal & Co. 1924. Im Folgenden unter der Sigle ›DeI‹ und nachgestellter Seitenzahl direkt im Text zitiert. 13 Mela Hartwig: Bin ich ein überflüssiger Mensch? [1930/31]. Graz, Wien: Droschl 2001. Im Folgenden unter der Sigle ›BüM‹ und nachgestellter Seitenzahl direkt im Text zitiert.
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ihr nur in beschränktem Maße, das Potenzial der Urbanität langfristig und nachhaltig zur Entwicklung ihres Selbstbewusstseins zu nutzen. Die Protagonistinnen bei Joe Lederer und Gina Kaus bewegen sich zwar selbstsicher (und vor allem schneller, in beiden Romanen ist das Auto ein wesentliches Fortbewegungsmittel) durch das in den Romanen Musik der Nacht14 sowie Morgen um Neun15 nächtlich in Szene gesetzte Wien, – im Gegensatz zu Ries und Hartwigs Frauenfiguren sind sie sozial besser gestellt und in mondäneren Kreisen unterwegs, sie stehen durchaus dem selbstbewusster agierenden Typus der Neuen Frau nahe, – ihr Krisenerlebnis ist jedoch genauso fundamental. Während Lederers ruhelose Sybil kurz vor der Hochzeit mit dem gesettelten Konstantin eine (auch beim Leser) alle Sinne in Beschlag nehmende Amour fou auslebt, gelingt es Kaus’ träger Elisabeth just in der Nacht vor ihrer Scheidung tätig zu werden und aktiv ihr Leben in die Hand zu nehmen. Sybils plötzliche Leidenschaft für den Architekten Lukas wird zusätzlich befördert durch einen Brief ihres Verlobten an eine Freundin, aus dem sie auf ein geheimes Verhältnis der beiden schließt. Kaus’ Roman beschreibt die Nacht des Ehepaars Erwin und Elisabeth Kupferschmidt vor ihrem für den nächsten Tag angesetzten Scheidungstermin. Obwohl einer raschen Erledigung dieser – im neusachlichmodernen Sinne betrachteten – Alltagsroutine nichts mehr im Wege steht, beginnen sich die beiden Ehepartner in dieser Nacht füreinander zu interessieren wie schon seit langem nicht mehr. Von Eifersucht und Neugierde getrieben führt sie die Jagd nach den Geheimnissen des anderen auf die unterschiedlichsten Schauplätze der nächtlichen Stadt und ihrer Umgebung.
3.
Urbane Wahrnehmung und (soziale) Mobilität
Nach Bourdieu findet der soziale Raum seinen Niederschlag im angeeigneten physischen Raum: »Es ist der Habitus, der das Habitat macht.«16 Mit Löw bilden sich entsprechend der Verfügung über Kapitalsorten Geschmackspräferenzen aus[], die sich in unterschiedlichen Standorten realisieren. Wohnungen, Häuser oder Stadtteile werden entsprechend dem Einkommen, dem kulturellen oder sozialen Kapital gewählt, und diese »Wahl« reproduziert die Klassenstrukturen erneut.17
14 Joe Lederer: Musik der Nacht. Berlin: Universitas 1930. Im Folgenden unter der Sigle ›MdN‹ und nachgestellter Seitenzahl direkt im Text zitiert. 15 Gina Kaus: Morgen um Neun. Berlin: Ullstein 1932. Im Folgenden unter der Sigle ›MuN‹ und nachgestellter Seitenzahl direkt im Text zitiert. 16 Pierre Bourdieu: Sozialer Raum und »Klassen«. Frankfurt/M.: Suhrkamp 21991, S. 32. 17 Löw, Raumsoziologie, S. 182.
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Umgekehrt ist auch der von einem Akteur eingenommene Platz im angeeigneten physischen Raum, wie der Wohnort (oder auch der Arbeitsort) ein Indikator für dessen Stellung im sozialen Raum, was Dirksmeier im Anschluss an Bourdieu als »residenzielles Kapital« definiert: Dieses umfasst jenes primäre Set von Eigenschaften, die sich durch die besondere Bedeutung des Wohn- und Geburtsortes akkumulieren.18 Zum einen ist das residenzielle Kapital »der Aspekt des kulturellen Kapitals, der im Zusammenhang mit dem Wohn- und Geburtsort erworben wird«, »zum anderen das soziale Kapital, das durch die Situierung an einem Ort des angeeigneten physischen Raums gewonnen wird.«19 Hartwig und Kaus bzw. Lederer setzen dieses »residenzielle Kapital« aus entgegengesetzten Richtungen um: Während sich die Innenstädterin Elisabeth in Morgen um Neun zunächst in die Außenbezirke und dann in die Peripherie der Großstadt begibt, macht sich Luise in Bin ich ein überflüssiger Mensch? von der heimatlichen Vorstadt aus auf den Weg ins Theater, das sich »mitten im Geschäftsviertel der Stadt« (BüM, 16) befindet und in das sie »nahezu zwei Stunden zu gehen« (BüM, 16f.) hat. Die Betriebsamkeit auf den Straßen der Innenstadt, die völlig außerhalb ihres üblichen Bewegungsradius liegt, ist für Luise ungewohnt und erfüllt sie nicht mit Staunen, sondern mit Irritation: Ich kam fast niemals in diese inneren Bezirke und hätte Ursache gehabt, Augen und Ohren aufzureißen, denn ich lebte damals noch ganz in dem Dreieck, dessen Winkel unsere Wohnung, das Lyzeum und die Villa […] bildeten und das sich eigentlich in nichts von einem Provinzstädtchen unterschied. Aber ich sah und hörte nichts oder wenigstens nicht viel, taumelte blind und taub durch diesen rasenden Traum der Straßen, die mir pfeifend und summend und kreischend entgegenstürzten und mir vor den Augen flimmerten, sah immer nur das Theater vor mir. (BüM, 17)
Die Bedrohung der Großstadt wird für Luise noch einmal manifest bei einer sozialistischen Versammlung, zu der sie eine Arbeitskollegin begleitet hat. Im übervollen Saal verliert sie beinahe das Bewusstsein, ihr ohnehin schon wenig gefestigtes Ich droht in der Menge unterzugehen:20 Ich kam gar nicht dazu, für das, was ich zu hören bekam, Verständnis aufzubringen, mein Herz kam gar nicht dazu, vor der Beredsamkeit des Referenten zu kapitulieren, denn ehe ich mich dessen versah, wurde der winzige Wille, der ich war, von dem kompakten Willen, der mich umgab, einfach verschluckt. In diesem Augenblick, als ich in das Fieber der andern hineinzuschmelzen begann, bemächtigte sich meiner plötzlich eine rasende, eine verzweifelte, eine unerklärliche Angst, ich vermeinte zu ersticken, erhob mich und verließ taumelnd den Saal. Als ich die Ausgangstür hinter mir verschloß, hatte ich das Gefühl, einer Gefahr entronnen zu sein. (BüM, 79f.) 18 Dirksmeier, Urbanität, S. 227. 19 Ebd. S. 228. 20 Vgl. auch Maite Katharina Hagen: Simulation: Verhaltensstrategien und Erzählverfahren im neusachlichen Roman. Frankfurt/M. [u. a.]: Peter Lang 2012, S. 230f.
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Die Entindividualisierung der Großstadt wird von der wenig selbstbewussten Luise, die zusätzlich aufgrund ihrer Wohnsituation auch räumlich benachteiligt ist, als destruktiv empfunden, das Ich kann die auf es einströmenden Sinneseindrücke nicht mehr aufnehmen, geschweige denn verarbeiten. Es zersplittert genauso wie die Stadt, die ihre topographische Bindekraft verloren hat und nicht mehr in ihrer Totalität wahrgenommen werden kann. Hartwigs Wien ist desolat und genauso desperat wie ihre Protagonistin, die bestimmende Farbe der Stadt ist grau, sie ist von Mangel und Entbehrungen gekennzeichnet. Olfaktorische und gustatorische Sinneswahrnehmungen verstärken diese Charakterisierung über das Negative, die auch Luises Selbstwahrnehmung prägt. In den Schaufenstern werden Attrappen von Nahrungsmitteln präsentiert, die das physische Hungergefühl verstärken, Speisegerüche aktivieren kein Genussempfinden, sondern verursachen Brechreiz: ich blieb benommen vor einem Lebensmittelgeschäft stehen und starrte betäubt die Attrappen an, die so täuschend Brot und Kuchen und Zwieback und Früchte zu sein vorspiegelten, daß mir das Wasser im Munde zusammenlief. Ich fühlte zum ersten Mal, daß ich Hunger hatte. (BüM, 59) Die Schüsseln waren leer, und ich war noch nicht satt, nein, wahrhaftig, ich war nicht satt, und die leeren Schüsseln rochen widerlich. Mir wurde geradezu übel, so widerlich rochen sie. Ich hatte nichts im Magen und mußte mich übergeben. (BüM, 60)
Die Protagonistinnen bei Kaus und Lederer können mit der urbanen Reizüberflutung – die freilich hier auch positiver ausfällt – etwas souveräner umgehen. Ihr residenzielles Kapital ist innenstädtisch, also ungleich potenter, damit bewegen sie sich auch um vieles selbstsicherer und schneller – nämlich mit dem Auto – durch die verschiedenen Stadträume. Nach Löw ist auch die Wahrnehmung für die Konstitution von Räumen zentral21, so spricht Lederers Stadtbild alle Sinne an, visuelle, akustische, olfaktorische, ja selbst gustatorische und haptische und nicht zuletzt auch emotionale Reize brechen über die Romanfiguren ein: Die Straße sprang ihnen entgegen, johlend wie eine Herde Rowdies und stark wie ein Wasserfall. Machtvolles Geheul der Kolporteure, Klingeln der Straßenbahnen, blökender Chor der Autohupen. (MdN, 26)22
21 Löw, Raumsoziologie, S. 195 22 Vgl. weiters: »Auf den breiten Trottoirs schoben schwatzende, ermattete Massen hin, drängten sich vor den Geschäften. Honiggelbes Licht kam aus den Schaufenstern, aber es verschwendete sich unbeachtet, ohne Nutzen und Leben. Noch war der Himmel türkisfarben, zart wie ein Tanzkleid und unendlich hoch.« (MdN, 27), »Sie verließen die Hauptstraße, gingen langsam den Kiesweg hin, an leeren, dunklen Bänken vorbei. Steine knirschten unter ihren Füßen, feuchter Duft kam von Rasenflächen und Bosketten. Die beiden horchten,
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Als wesentliche Kategorie und Motor der Stadt wird das künstliche Licht ausgemacht: Die Adernstränge einer Großstadt sind ihre elektrischen Kabelleitungen und die Gasrohre. Ihr ganzer Organismus ist von Licht durchspült und durchtränkt, und jeden Abend beginnt sie den großen, nutzlosen Kampf gegen die Finsternis. Weißgischtend greift das Licht nach den Wolken, ein Wasserfall, der, allen physikalischen Gesetzen entgegen, aufwärts tobt, sich heldenmütig in den dunklen Himmel stürzt. (MdN, 174)
Die Beleuchtung macht einem selbst am Rande der Stadt klar, dass man sich noch in ihrem Einzugsgebiet und nicht in der Provinz befindet: Auf dem Hügelplateau über der Stadt steht das »Schlößl«. In breiten Serpentinen führt eine höfliche, ölglatte Autostraße hinauf. Grillen zirpen, Kastanien werfen schwarze Schattentücher durch die frühe Nacht. Wenn nicht das Spalier der Bogenlampen wäre, unerbittlich, regelmäßig, könnte man glauben, über eine einsame Landstraße hinzufahren, mitten durch Stille und Provinz. Denn die Luft schmeckt nach Gras, und hinter den Kastanien beginnt der Wald. Der Wald schweigt. Er ist da, schwarz, dicht, aber er rührt sich nicht. (MdN, 38)
Neben der charakteristischen Beleuchtung ist auch die Bewegung – im Gegensatz zum unbewegten und dunklen Wienerwald als Sinnbild für die statische Provinz – ein bestimmendes Merkmal der Urbanität. Die Ruhelosigkeit ist auch den Stadtbewohnern inhärent, die nicht an einem Ort verweilen können, sondern dauernd unterwegs sind. Hartwigs krisengeschüttelte Luise nützt die durch die Stadt beförderte Fortbewegungsart des Gehens zur Selbsterfahrung: »Es tat mir so wohl zu gehen, es berauschte mich förmlich, ich wußte selbst nicht warum. Ich ging und ging und wurde gar nicht müde. Ich ging ins Ungewisse, fiel mir ein, das war es vermutlich, was mich so berauschte, erregte.« (BüM, 30) Nach besonders aufrührenden Ereignissen, wie dem Verlust ihrer Stellung, dem Selbstmord ihrer Freundin oder der telefonischen Kontaktaufnahme mit dem begehrten Mann wird das Gehen zum Wahn, »stundenlang« irrt sie in der Stadt herum (BüM, 109) und lässt sich wie im Rausch »durch die Straßen treiben« (BüM, 121). Die Straße, nach Georg Simmel der Ort der Begegnung mit dem Fremden23, wird hier zum Begegnungsort mit dem eigenen Ich. Auch Lederers Liebespaar findet erst nach einem langen Spaziergang durch die Straßen der Innenstadt den Weg in die Intimität von Sybils Schlafzimmer. Das gemeinsame Gehen auf der Straße – nach Henri Lefebvre ein »Schmelztiestarrten in das bleichsüchtige Licht der Gaslaternen. Die Nacht schlief, ihr Atem war warm und schwer.« (MdN, 113) 23 Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben [1903]. In: G. S.: Aufsätze und Abhandlungen 1909–1918. Bd. 1. Hrsg. von Rüdiger Kramme, Angela Rammstedt und Otthein Rammstedt. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995 (= Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd. 7), S. 116– 131.
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gel«, der »das Stadtleben erst schafft und ohne den nichts wäre als Trennung«24 – bringt auch die zunächst noch verlegenen Liebenden zusammen. Das Flanieren ermöglicht ein Neuarrangement und eine Neubesetzung bereits bekannter Räume, so wird der Platz um das Maria-Theresia-Denkmal zwischen dem Naturhistorischen und dem Kunsthistorischen Museum vom öffentlich-konkreten Ort zu Sybils privatem Wohnzimmer : Sybil saß korrekt und anmutig auf dem Stein, als wäre er eine seidene Bank und der große Platz ihr Privatsalon. Lukas bewunderte stumm ihr souveränes Talent, überall zuhause zu sein. Er hätte nicht gestaunt, wenn plötzlich ein schwarz-weißes Stubenmädchen mit Erfrischungen erschienen wäre. (MdN, 114)
Die räumliche Umwertung lässt auch die Distanz der Neuverliebten schwinden, im zweiten Anlauf stellt das kompliziert aufzusperrende Haustor (dessen Mechanismus am Anfang des Kapitels über eine Seite lang beschrieben worden war) kein erwähnenswertes Hindernis mehr dar. Neben der Fortbewegung zu Fuß ist in der – vor allem – nächtlichen Stadt auch das Auto ein wichtiges Verkehrsmittel. In Morgen um Neun kommt es dabei zur Vernetzung sehr verschiedenartiger Schauplätze, die nicht nur räumlich sondern auch sozial weit von einander entfernt liegen: Vom Akademikerball im Konzerthaus geht es in rascher Folge und hohem (Erzähl)tempo zu einer mondänen Party bei einem Galeristen, dann zum Witwenball in einem Vorstadtwirtshaus und schließlich in einen Schlachthof in der städtischen Peripherie. Räumliche und soziale Gegensätze gehen dabei Hand in Hand, die hierarchische Trennung der Gesellschaft in Arm und Reich scheint in diesem »dekadenten«25 Roman beinahe unüberwindbar. Während die oberen Gesellschaftsschichten scheinbar unbehelligt von Weltwirtschaftskrise und Inflation ihre hedonistischen Bedürfnisse ausleben können, betreffen die ökonomischen Schwierigkeiten offenbar nur die kleinen Leute, wie der Vorstadtwirt Ferdinand Dirmoser aus eigener Anschauung berichtet: »Wie gehen heutzutage Geschäfte? Alle Geschäfte gehen schlecht. In der Stadt ist das was anderes. Die Leute, die Champagner trinken, nehmen das Geld dafür aus der Bank. Aber die Leute, die bei mir früher ihre sechs bis sieben Krügel Bier getrunken haben, die können sich jetzt keine zwei mehr leisten – und die bleiben sie oft wochenlang schuldig. Kreditieren muß man, weil die Konkurrenz auch kreditiert, ich aber muß alles bar bezahlen und …« (MuN, 200)
24 Henri Lefebvre: Die Revolution der Städte. Frankfurt/M.: Syndikat 1976, S. 25. 25 Gerhard Bauer: Nachwort. In: Gina Kaus: Morgen um Neun. [Nachdruck der Ausgabe Berlin 1932] Hildesheim: Olms 2008, S. 1–9, hier S. 1. Generell zur sozialen Problematik Bauer, S. 7–9 sowie Veronika Hofeneder : Der produktive Kosmos der Gina Kaus. Schriftstellerin – Pädagogin – Revolutionärin. Hildesheim: Olms 2013, S. 266–270.
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Am Leben der ärmeren Schichten hat die bessere Gesellschaft nur ein voyeuristisches Interesse. Nach dem Besuch des Akademikerballs wollen Elisabeths Freunde noch in eine »Proletarierspelunke« weiterziehen, wobei ein Vorschlag wegen mangelnder Authentizität abgelehnt wird, denn »es sei längst nicht mehr das Wahre bei Wimberger, die Hälfte des Publikums bestünde aus neugierigen Leuten der guten Gesellschaft, die Arbeitermädel und ihre Liebhaber seien eigentlich nur mehr Attrappen.« (MuN, 163) Um echtes proletarisches Leben zu sehen, muss man sich weit aus dem eigenen Lebensbereich der Stadt entfernen. Dabei gehört die Orientierungslosigkeit in der Vorstadt mit zum guten Ton: »Keiner wußte genau, in welchem Teile der Stadt man sich eigentlich befand, keiner war je zuvor in der Thaliastraße gewesen.« (MuN, 184) Im Vorstadtwirtshaus Dirmoser, das man auf Elisabeths Vorschlag hin, die dem außerehelichen Liebesleben ihres Mannes auf der Spur ist, aufsucht, findet gerade der Witwenball statt. Über dessen feierliche Schäbigkeit äußert man sich amüsiert abschätzig, er scheint wie ein anderer Teil der Welt: »Was für komische Existenzen es gibt, dachte Elisabeth und, noch im selben Takt: was mache ich hier, was soll mir dieser Fleischhauerssohn, was hat das alles, Witwenball, Tischpost, Tango – was hat das alles mit mir zu tun?« (MuN, 196)
4.
Urbane Grenzerfahrungen und (nächtliche) Heterotopien
Auch Lederers illegitimes Liebespaar begibt sich zunächst mit dem Taxi an den Stadtrand, wenn auch nur an den topo-, nicht den soziographischen. Als im dort gelegenen Lokal jedoch Sybils vergnügungssüchtiger Freundeskreis einfällt, flüchten die Intimität suchenden Liebenden wieder in die Innenstadt, die Großstadt erscheint hier als Ordnungsprinzip im Chaos der Emotionen: Aber Sybil wollte keine Musik hören, keine Menschen sehen. Sie hatte jetzt die nächtliche Stadt entdeckt. Schwankende Omnibuskarren, Laternen und Trambahngeleise schienen ihr wie eine seltene Landschaft, sinnvoll gewachsene Natur. Die Welt war Chaos und Leere gewesen. Aber dann war die Stadt erstanden, mit Häusern, Nacht, Lichtketten, Schweigen, – und siehe, es war gut. (MdN, 108)26
Die hektische Geschwindigkeit der Großstadt und deren Rastlosigkeit entsprechen Sybils ruhelosem Naturell, die auch ihren Geburtsort für ihre transitori26 Anders als in der Schilderung von Kaus’ Großstadtnacht geraten die Taxifahrten in Lederers Roman allesamt nicht rasant, sondern vielmehr gemächlich und konterkarieren damit die dem Liebespaar davoneilende und im Romanablauf regelmäßig durch Glockenschläge oder konkrete Uhrzeitangaben beschworene Zeit. Auch das »diskrete[] Mitfühlen« (MdN, 73) des extra für die Liebenden das Tempo drosselnden Taxichauffeurs bewirkt bei jenen nur Unbehagen und wechselseitige Steifheit.
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schen Vorlieben verantwortlich macht: »Ich weiß nicht, ob ich dir erzählt habe, daß ich in einem Hotel zur Welt gekommen bin. Das ist eine gefährliche Sache, genau so, als wäre man unter einem bösen Stern geboren. Mein Leben ist ein sehr unruhiges Leben.« (MdN, 153f.) Hotels sind wie sämtliche Orte des Transports (Bahnhöfe, Häfen oder Flughäfen) sogenannte »Transit-Orte«. Diese Durchgangsorte zeichnen sich durch ihre begrenzte Verweildauer aus, sie sind häufig nur Zwischenziele und sind durch ihre »relative Positionslosigkeit«27 bestimmt, hier kann fernab gewohnter Positionsbestimmungen – auch aus anthropologischer Sicht – ein Raum für Anderes geöffnet werden. Nach Turner sind Übergangs- und Schwellenerfahrungen wichtig, um Ordnungen und Strukturen zu hinterfragen, so ähneln die Schwellenräume auch Foucaults Heterotopien, die als Orte außerhalb alltäglicher und gesellschaftlicher Normalität für differente Praktiken offen sind und andere Lebensformen ermöglichen: »Sie sind nicht nur entgrenzte Orte – also Orte zwischen territorialen oder nationalstaatlichen Grenzen – sondern auch entgrenzende Orte, die Ordnungen in Frage stellen und Strukturen neu verhandelbar machen können.«28 Hartwigs Protagonistin bewegt sich von einer Heterotopie in die nächste. Das beginnt beim leitmotivischen Blick Luises in den Spiegel, der von Foucault zum einen als Mittelerfahrung zwischen Utopien und anderen Räumen bezeichnet wird, zum anderen aber auch selbst fungiert als »eine Heterotopie, insofern er mich auf den Platz zurückschickt, den ich wirklich einnehme.«29 Theater- und Kinobesuche, Spaziergänge im Park sowie der Besuch eines Stundenhotels setzten Luises heterotopische Erfahrungen fort. Diese »anderen Räume« bieten jedoch allesamt keine probaten Möglichkeiten, dem Alltag zu entfliehen, sondern erschaffen vielmehr eine künstliche Welt, in der die Generierung eines individuellen Selbstbildes durch die Ausrichtung an normierten Rollenvorstellungen verhindert wird.30 Die Grenzerfahrungen und Fremdkontakte (für Luise großteils amouröse Männerbekanntschaften) dieser Räume kann sie nicht langfristig zur Etablierung ihres Selbstbewusstseins nützen. Anders Fanny Karrner, die Protagonistin in Ries Wien-Krimi: Die Jagd nach den verschwundenen Männern und den dafür Verantwortlichen führt die zunächst auf eigene Faust ermittelnde junge Dame in den Untergrund der Stadt. Durch einen per Zufall entdeckten Geheimgang gelangt Fanny in die Wiener 27 Wilhelmer, Transit-Orte, S. 38. 28 Ebd. 29 Foucault, Andere Räume, S. 149. Vgl. auch ebd. S. 150: »Der Spiegel funktioniert als eine Heterotopie in dem Sinn, daß er den Platz, den ich einnehme, während ich mich im Glas erblicke, ganz wirklich macht und mit dem ganzen Umraum verbindet, und daß er ihn zugleich ganz unwirklich macht, da er nur über den virtuellen Punkt dort wahrzunehmen ist.« 30 Vgl. auch Hagen, Simulation, S. 275.
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Katakomben, den unterirdischen ehemaligen Friedhof der Stadt – und nach Foucault ein eminent heterotopischer Ort, da er der Ort der Zeit ist, die nicht mehr fließt.31 In Begleitung eines der entführten und wiedergekehrten jungen Männer, der sie in einer Art Trancezustand durch das Gewirr der finsteren Gänge und Skelettüberreste führt, findet Fanny hinter einer sich durch geheime Klopfzeichen öffnenden Tür das Versteck der Entführer, dessen Einrichtung einem Sanatorium – einem weiteren Heterotopos – gleicht: »Es war diesmal ein größerer Raum, wieder ganz in Weiß, der halb wie ein orthopädischer und halb wie ein Operationssaal aussah. Tadellose Sauberkeit herrschte, ein Ruhebett stand in der Mitte, in den Schränken blitzten Instrumente, deren Bestimmung Fanny rätselhaft blieb.« (DeI, 103) Mittels Hypnosetechniken hatten die Entführer unter Vorgabe wissenschaftlicher Experimente die Gedächtnisströme der jungen Männer manipuliert, um deren Identitäten neu zu entwerfen. Im nun folgenden Showdown kommt es zum Zusammentreffen mit einem indischen Hypnotiseur, dessen mentalen Kräften sich Fanny im Gegensatz zu den anwesenden Männern erfolgreich widersetzen kann. Der Kontakt mit dem Fremden im zweifachen Heterotopos bringt Fannys Stärken zum Vorschein, sie kann ihr persönliches Minderwertigkeitsgefühl und ihre vermeintliche weibliche Unterlegenheit überwinden. Doch auch wenn ihre außergewöhnliche Klugheit und ihre Kombinationsgabe von allen anwesenden Männern, ihrem Verehrer, den ermittelnden Polizeibeamten sowie dem überführten Verbrecher, anerkannt werden, verbleibt diese Einschätzung im Rahmen der zeitgenössischen misogynen Diskurse, die der Frau intellektuelle Fähigkeiten nur zulasten ihrer sexuellen bzw. mütterlichen Kompetenzen zutrauten: Womit ich aber dem Scharfsinn meiner verehrten Feindin Fanny Karrner kein schlechtes Zeugnis ausstellen will: in diesem Maße und mit solcher Zähigkeit findet er sich übrigens nur bei Frauen, die um ihre eigentliche Bestimmung gekommen sind. Die Natur verteilt ihre Gaben weise. (DeI, 132)
In diesem Zusammenhang darf auch der Verweis auf einen der prominentesten Proponenten in dieser Sache nicht fehlen, zur Erklärung der Ursache, warum bei der empfindsamen Primadonna im Gegensatz zu den vernunftgesteuerten – männlichen – Entführungsopfern die Hypnose nicht funktioniert hat, wird Otto Weiningers fragwürdige Theorie genannt: »Sie wollte nur Liebe. Ihre Sinnlichkeit war so stark, daß kein anderer Strom an sie herankommen konnte, oder, um mich mit Weininger auszudrücken, den Sie, wie ich zweifle, alle gelesen haben: Sie war die Sinnlichkeit selbst.« (DeI, 131) So hat Fanny zwar das Potenzial der heterotopischen Randzone in positivem Sinne kurzfristig für die Stärkung ihres
31 Foucault, Heterotopien, S. 123. Vgl. auch Foucault, Andere Räume, S. 153.
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Selbstbewusstseins genutzt, inwieweit diese Effekte jedoch nachhaltige Wirkung zeitigen, muss offen bleiben. Eine ähnliche Entwicklung ist auch in Lederers Roman, dessen Geschehen in einer Großstadtnacht angesiedelt ist, festzustellen: Mit Elisabeth Bronfen können literarische Nachtszenen als Foucault’sche Heterotopien par excellence bezeichnet werden.32 Nachtreisen fungieren als rites de passages, die das Wissen des Gewöhnlichen wenden und Konsequenzen am darauffolgenden Tag haben. Der Schutz der Dunkelheit ist aber immer ambivalent, neben potenziellen Chancen birgt er auch zahlreiche Risiken. So auch Lederers Großstadtnacht, die zunächst das illegitime Liebespaar zusammenbringt und intime Stunden ermöglicht, in denen sogar gemeinsame Zukunftspläne geschmiedet werden. Diese sind von ihrem urbanen Habitus geprägt: Ein Architekt und eine Großstädterin planen keine Zukunft in der wildromantischen afrikanischen Savanne, sondern sie zieht es nach Australien oder Südamerika, wo der Städtebau boomt: »Sal Paolo wäre eine gute Stadt für mich, sie bauen ja wie die Verrückten. In jeder Stunde entsteht ein Haus! Dort wachsen die Straßenzüge aus dem Boden, wie die Schwämme nach dem Regen.« (MdN, 221) Den Gesetzmäßigkeiten des Tages hält diese Amour fou jedoch nicht stand, die Zeit und die Realität, der die Liebenden die ganze Nacht über entkommen zu sein schienen, holen sie am Morgen unerbittlich ein, die Nacht und der Roman enden für die Protagonistin nach der Lektüre des fatalen Briefes, der kein heimliches Liebesgeständnis des Verlobten an Sybils Freundin enthält, sondern jene über die tödliche Krankheit Sybils aufklärt, die vor ihr selbst geheim gehalten werden soll, letal. Kaus’ Protagonistin Elisabeth hingegen kann das liminale Potenzial der Nacht für sich produktiv nützen. Zunächst streift sie ihre Lethargie ab und wird aktiv, sie überwindet das Desinteresse an ihrer Umwelt und ihren Mitmenschen und versucht dem außerehelichen Leben ihres Noch-Ehemanns auf die Spur zu kommen. Dabei verlässt sie ihren bürgerlich-innenstädtischen Lebensraum und handelt erstmals eigeninitiativ und selbstbestimmt. Im Schutz der Nacht hat Elisabeth die Mobilität und das Selbstbewusstsein erworben, nicht nur topographische, sondern auch soziale Distanzen zu überwinden. Ihre Zugfahrt nach Ober-Hollabrunn führt sie dann auch durch eine »trostlose Gegend, die sie nicht kannte, sie hatte die Stadt immer nach andern Richtungen verlassen, wo Berge waren, Wald und Sommerfrischen.« (MuN, 247) Mit der Fahrt über die Stadtgrenze hinaus auf den Schlachthof, auf dem ihr Mann seine uneheliche Tochter untergebracht hat, erfüllt sie sich den langgehegten Kinderwunsch, dessen Nicht-Erfüllung einer der Gründe für die Scheidung war. Diese ist dann zu allem Happy End auch noch hinfällig, nach der kathartischen Nacht wagen die Ehe32 Elisabeth Bronfen: Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht. München: Carl Hanser 2008, S. 174.
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Veronika Hofeneder
leute einen gemeinsamen Neuanfang. Abseits der recht platten soziographischen Schwarz-Weiß-Zeichnung, die man von Kaus angesichts ihrer sonstigen feinsinnigen Texte zu sozialen Themen nicht gewohnt ist33, kann die Figur der Elisabeth auch als starke Frauenfigur gelten, die ihre Ziele verfolgt und realisiert. Ihr Kinder- und Ehewunsch entsprechen zwar nicht unbedingt dem zeitgenössischen Verständnis einer modernen emanzipierten Frau, denn ihre Einstellung ist konservativ : »ich will doch gar nicht unabhängig sein. Ich bin keine moderne Frau, das ist es eben. Wenn ich liebe – meine ich die Ehe.« (MuN, 105) Diesen Lebensplan verfolgt sie jedoch konsequent und kann ihn am Rande der großen Stadt erfolgreich realisieren.
33 Siehe z. B. Kaus’ Feuilletons: Der Käfig. In: Arbeiter-Zeitung, 27. 5. 1923, S. 8f., Das andre Venedig. In: Arbeiter-Zeitung, 7. 3. 1926, S. 17, Der Donaukanal. In: Der Tag, 20. 6. 1926, S. 4. Alle wieder in Gina Kaus: Heute wie gestern. Gebrochene Herzen – Moderne Frauen – Mutige Kinder. Hrsg. von Veronika Hofeneder. Hildesheim: Olms 2013, S. 29–25, 59–62, 66–68. Zu sozialkritischen Aspekten in Kaus’ Werk siehe Hofeneder, S. 141–199, bes. S. 165–176.
Martina Zerovnik
Kino – Moloch – Stadt. Das Kino der Zwanzigerjahre als diskursiver Ballungsraum städtischer Konflikte am Beispiel Wiens
In einem 1920 in der satirisch-humoristischen Zeitschrift Die Muskete erschienenen Gedicht des Schriftstellers und Journalisten Richard Guttmann zeichnet sich Wien – Die lustigste Stadt auf der Welt, so der Titel – unter anderem dadurch aus, dass es in jedem Haus ein Kino gebe. Die ersten beiden Strophen lauten: Kennst du die Stadt am Donaustrande? Ein Volk von Schnorrern wimmelt drin, Sie wahrt sich in der Zeiten Schande Und unberührt vom Weltenbrande Gemütlichkeit und frohen Sinn. Ein Kino ist in jedem Hause Und kein Gewölbe ist zu schmal Für eine nette Tangojause Mit Weißgebäck und Schieberschmause Im goldbeschmückten Prachtlokal.1
Die Charakterisierung »lustig« zielt auf die vermeintlich typische Wiener Mischung aus Vergnügungssucht, Verkommenheit und Dekadenz, aus der heraus sich die Bevölkerung dem Weltgeschehen und der eigenen Schuld, der Realität, verschließt, um sich in Zerstreuungen zu flüchten, wie sie auch das Kino bietet. Das Phänomen Kino, worunter sowohl der konkrete wie der soziokulturelle Raum als auch das Medium Film zu erfassen sind, stand damals im Verdacht, für den kulturellen und sittlichen Verfall insbesondere der städtischen Gesellschaft zugleich Indiz wie auch Auslöser zu sein: Der Moloch Stadt spiegelt sich im Moloch Kino und vice versa. In den Städten, wo die Kinos wie Pilze aus dem Boden schießen, wie es wiederholt gleichermaßen in den 1910er- wie in den 1920er-Jahren formuliert wird, stehen diese für Orte der Vergnügungssucht, an denen sich die Menschen 1 Richard Guttmann: Die lustigste Stadt auf der Welt. In: Die Muskete XXIX (1920), Nr. 746, Beiblatt, S. 1. Zu Guttmann vgl. den Eintrag unter https://litkult1920er.aau.at/litkult-lexikon/ guttmann-richard/ (Zugriff: 19. 7. 2019).
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in Massen der Schaulust und der Unterhaltung hingeben und zu zweifelhaften Stelldicheins treffen. In der Stadt sind die Folgen des gesellschaftlichen Wandels, wie er sich im Zuge der Industrialisierung und des Ersten Weltkriegs manifestierte, in Form von Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt, der Verkehrssituation, des Wohnraums, der sozialen und nationalen Durchmischung sowie des Kulturangebots signifikant2 und auch das Kino ist Symbol einer Verunsicherung, denn das neue Medium Film ist nicht nur der damals bedeutendste Vertreter des von industriellen, reproduzierenden Techniken ausgelösten Medienwandels, sondern auch eines damit einhergehenden gesellschaftlichen und kulturellen Umbruchs. Dessen Ausmaß lässt sich an der Debatte ablesen, die ab 1906/07 um das Kino einsetzte. Aus einzelnen kritischen Stimmen gegen die Darstellungsweise und die dargestellten Inhalte hatte sich zwischen Vertreterinnen und Vertretern pädagogischer, religiöser, gemeinnütziger sowie verwandter Institutionen und Vereinigungen, KünstlerInnen und Intellektuellen sowie Interessenvertretungen des Films eine rege Debatte entwickelt. Im Mittelpunkt stand die Frage, wie das neue Medium im bestehenden Kunst- und Kulturbetrieb einzuordnen sei und welche soziokulturellen und formalästhetischen Aufgaben und Möglichkeiten der Film und sein Ort, das Kino, erfüllen sollten. Mit Blick auf die Kino-Debatte scheint es ganz so, als würde das geballte Zusammenleben in der Stadt von Menschen verschiedener sozialer Zugehörigkeit mit unterschiedlichen Kultur- und Bildungshintergründen, Interessenshorizonten und Lebensentwürfen im Kino einen Projektionsraum finden, in dem und über den sich die städtischen Konflikte entladen und problematisiert werden. Fragen nach den Auswirkungen der Technisierung, nach dem Milieu und der Nationalität/Ethnie, dem Individuum und der Masse, nach moralischen und religiösen Richtlinien, nach pädagogischen Maßstäben und Strategien sowie nach politischer Verantwortung, die das Zusammenleben in der Gemeinschaft und das gegenseitige Ein-Verständnis der Menschen regulieren, waren im Horizont der Großstadt wie im kleinen Raum des Kinos virulent. In einer Vielzahl an Zuschreibungen werden Parallelen zwischen den Auswirkungen der Stadt und des Kinos auf den Menschen bzw. die Gemeinschaft gezogen, wie im Folgenden anhand einiger Beispiele aus dem Diskurs um das Kino erläutert wird.
2 Vgl. Gotthard Fuchs, Bernhard Moltmann: Mythen der Stadt. In: Gotthard Fuchs, Bernhard Moltmann, Walter Prigge (Hgg.): Mythos Metropole. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995, S. 9–19.
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Das Kino als Indikator des Städtischen Für die Modernität und Urbanität einer Stadt ist das Kino ein signifikantes Wesensmerkmal; an der Anzahl und den Dimensionen der Kinos lassen sich gewissermaßen Größe und urbane Qualität der Stadt ablesen. Ladenkinos sind Orte des schnellen Konsums, während palastartige Kinoarchitekturen Zeichen eines mondänen Kulturgenusses darstellen, und eine moderne Stadt muss beides in einer gewissen Dichte zu bieten haben. Schon in den 1910er-Jahren gab es keinen Wiener Gemeindebezirk ohne Kino mehr. Bis in die 1920er-Jahre wird das Kinonetz ausgebaut, sodass in jedem Bezirk mehrere Vorführstätten zu finden sind. Die Leopoldstadt (II.) wird in der Folge zum kinoreichsten Bezirk von Wien. Befanden sich die Kinos dort in den Anfangsjahren vorwiegend im Prater, erstrecken sie sich nun über den ganzen Bezirk, mit einer deutlichen Konzentration in der Taborstraße. Gemeinhin gilt die Lage an einer verkehrsgünstigen Straße als Vorteil für den Kinobetrieb.3 Das verbindet Kinos mit Gaststätten, wobei Letztere häufig auch zu den ersten Vorführstätten des Kinematographen gehörten, bevor dieser in eigenen Kinoräumen oder -bauten sesshaft wurde. Einige Gaststätten wurden später zu Kinos umgebaut, wie beispielsweise der Lux-Palast in der Neulerchenfelder Straße in Ottakring das vormalige Gasthaus »Zum goldenen Luchsen« ablöste. Nicht selten leitet sich von der Straße oder dem Umfeld der Name des Kinos ab. So lassen beispielsweise »Tabor-Kino«, »Augarten-Kino«, »Wohlmut-Kino« oder »Nordbahn-Kino« auf einen Standort im zweiten Bezirk schließen, während »WestendKino«, »Wienzeile-Kino« oder »Kino Mariahilf« von der Umgebung einer weiteren bedeutenden Kinostraße zeugen, der Mariahilfer Straße, die vom Westbahnhof bis zum innerstädtischen Ring führt. Um 1922 ist die topografische Ausdehnung der Kinos in die äußeren Gemeindebezirke und ehemaligen Vorstädte, nicht zuletzt den Ausfallstraßen folgend, abgeschlossen.4 Die Bezirke Meidling (XII.), Rudolfsheim-Fünfhaus (XV.), Ottakring (XVI.) oder Favoriten (X.) – mehrheitlich Arbeiterbezirke – verfügen über eine große Anzahl von Kinos, aber auch die Innere Stadt (I.) und Mariahilf (VII.) – vornehmlich Wohngegenden des Bürgertums und der Mittelschicht – sowie der Bezirk Landstraße (III.) – der trotz des Wandels zum Arbeiterbezirk heterogene Sozialstrukturen mit bedeutenden bürgerlichen Vierteln aufweist – haben ein dichtes Kinoangebot. Während sich Großkinos an strategisch günstigen, urbanen Standorten wie dem Prater, der Taborstraße, der Mariahilfer Straße oder dem Gürtel ansiedeln und fluktuierendes Publikum aus einem 3 Werner Michael Schwarz: Kino und Kinos in Wien. Eine Entwicklungsgeschichte bis 1934. Wien: Turia & Kant 1992, S. 68–69. 4 Ebd. S. 68–69.
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größeren Einzugsgebiet auffangen, verteilen sich die kleinen Kinos über das ganze Stadtgebiet und bedienen Stammkundschaft im jeweiligen Grätzel.5 Wien liegt hinsichtlich der Größe der Kinobauten hinter Städten wie Berlin, Paris und London, folgt man Hugo Bettauer, demgemäß Wien im Jahr 1924 geraten sei, in den Ausbau von Kinos zu investieren, um seiner »Verdorfung« entgegenzuwirken, denn: »Wien ist die einzige Großstadt der Welt, die keine modernen Kinopaläste hat«.6 Tatsächlich werden in Wien kaum freistehende Kinobauten errichtet, die Kinoarchitekturen überlagern vielfach bisherige Nutzungen (Theater, Variet8) und fügen sich in bestehende oder (wie im Falle von Gemeindebauten) auch in neue Gebäudestrukturen ein und erfüllen gegebenenfalls ihre repräsentative Funktion über die Fassade und die Ausstattung. Der Umbau des Apollo-Theaters in der Gumpendorfer Straße in ein TonfilmGroßkino Ende der 1920er-Jahre folgt dem Gedanken eines solchen großstädtischen Ausbaus, wird jedoch vor allem von Betreiberinnen und Betreibern kleinerer Kinos als Gefahr der Monopolisierung und als Konkurrenz wahrgenommen.7 Im Gegensatz zu Hugo Bettauer betont B8la Bal#zs die große Kinodichte in der Stadt, wenn er in seiner im selben Jahr publizierten Filmtheorie Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films die allgemeine sozial und psychisch tiefwirkende Bedeutung des Films an der »nicht sehr großen Stadt« Wien exemplifiziert, wo jeden Abend 200 Kinos mit durchschnittlich 450 Plätzen drei bis vier Vorstellungen geben, was mit dreiviertelvollen Häusern gerechnet auf fast 300 000 Besucherinnen und Besucher kommt.8 Kinobetreiberinnen und Kinobetreiber wiederum klagen noch Ende der 1920er-Jahre über zu starke Reglementierungen, die Wien im Vergleich mit anderen Städten zurückfallen lassen, z. B. über die Sperrstunde von 22 Uhr : In keiner Großstadt der Welt sind die Kinos gezwungen, wie etwa Schnapsbutiken um zehn Uhr abends zu sperren und nur in Wien sind die Lichtspieltheater genötigt, daran mitzuwirken, daß sich kein Nachtleben entwickle, das etwa auf Fremde so anziehend wirkt, wie das in Berlin, Paris und London. Die Wiener Kinos sind ohnehin bescheiden. Wenn sie auch nicht, wie die Grammat-Neusiedler, schon um zehn Uhr schlafen gehen wollen, so verlangen sie doch nicht mehr als eine Verlängerung der Spielzeit um eine einzige Stunde, d. h. bis elf Uhr nachts. Und weder eine »Gefährdung der Sittlichkeit«
5 6 7 8
Ebd. S. 131–138. Hugo Bettauer: Verdorfung, Verdummung und Verteuerung. In: Der Morgen, 8. 12. 1924, S. 5. N.N.: Das Apollo-Theater als Kino. In: Das Kino-Journal 21 (1928), Nr. 954, S. 7. B8la Bal#zs: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films (1924). Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, S. 10–11.
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noch Sicherheitsgründe können dafür maßgebend sein, sich den Wünschen der Kinobesitzer zu widersetzen.9
Kinos sind demzufolge Bestandteil eines florierenden Nachtlebens und die Einschränkung ihrer Betriebszeiten erweist sich als Beschneidung des großstädtischen Attraktionswertes, der über Fragen der Sittlichkeit und Sicherheit zu stehen habe. Die Kinos sind urbane Räume der Welterfahrung und der Reizüberflutung mit einem Überangebot an Möglichkeiten, an Bequemlichkeiten und Verfügbarkeiten, ein Ausdruck städtischen Überflusses. Die Unvermitteltheit der stetig auf den Menschen einwirkenden (bildhaften) Reize sowie die fehlende Fähigkeit, sich ihrer zu verschließen, rücken die Wahrnehmung von Stadt und Kino in Bezug auf das Wahrnehmungsfeld und die erlebte Zeit in einen vergleichbaren Erfahrungshorizont zueinander.10 Stadt wie Kino erweitern den Augensinn um neue Perspektiven und Relationen und initiieren den Eindruck von Beschleunigung und Bewegung. Die Stadt selbst fungiert wie der Film als Medium, in dem Informationen gespeichert, übertragen und verarbeitet werden.11 Der Blick auf die Fassaden und Straßen der Großstadt wird gleich dem Blick auf die Leinwand wie ein Film wahrgenommen, in dem sich Information an Information, Bild an Bild, Bewegung an Bewegung zu einer kinematographischen Impression reihen, was noch verstärkt wird, wenn der Blick aus einem fahrenden Transportmittel wie Automobil oder Straßenbahn erfolgt. Der Rhythmus und das polyphone Nebeneinander der Reize und Informationen halten das Auge in Bewegung und steuern das Bewusstsein, sodass die laufenden Bildfragmente wie von einer automatisierten Wahrnehmungsapparatur zu einer filmischen Abfolge zusammengesetzt werden. Diese unaufhörliche Bewegung, die unausgesetzte und unkontrollierbare Aufnahme bewegter Bilder, die das Leben in der Stadt wie die Rezeption im Kino ausmacht, gleicht einem Delirium, einem Rauschzustand. So charakterisiert sich das moderne Leben in Wien, folgt man der Zeitschrift kikeriki, gleichermaßen durch das Kino wie durch Rauschmittel: Wiener Leben Was in diesem Stadio Ist modern in Wien? Fußball, Kino, Radio, Morphium, Kokain.12 9 N.N.: Die Sperrstunde der Wiener Kinos. In: Wiener Sonn- und Montagszeitung, 10. 10. 1927, S. 4. 10 Vgl. Manfred Smuda: Die Wahrnehmung der Großstadt. In: M. S.: (Hg.): Die Großstadt als ›Text‹. München: Fink 1992, S. 131–182, insbes. S. 144–148. 11 Friedrich A. Kittler: Die Stadt ist ein Medium. In: Fuchs/Moltmann/Prigge (Hgg.), Mythos Metropole, S. 228–245. 12 N.N.: Wiener Leben. In: Kikeriki 64 (1924), Nr. 48, S. 7.
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Vergnügungsstätten wie das Kino gehören den Entwurzelten der Großstadt, hatte Richard Guttmann bereits 191613 festgestellt. Vor allem aus der Perspektive der Landbevölkerung ist das Laster, zu dem auch Schaulust und Vergnügungssucht zählen, im Allgemeinen bezeichnend für das Leben in der Stadt. Das Vorarlberger Volksblatt bemerkte 1920 dazu: »Es ist leider wahr, daß die Städter dem Vergnügen allzu sehr huldigen und besonders dem Moloch Kino Geld, Kinder und Tugend in die Arme werfen«14, wenngleich der Verfasser bemerkt, dass die Vergnügungs- und Genusssucht auch auf dem Land zunehme. Das Blatt weist in seinen Beiträgen wiederholt auf einen Unterschied zwischen der ländlichen und der städtischen Lebenskultur hin, wobei sich Letztere in einem gewissen »Grade der Tierheit« ausdrückt, und gibt Warnungen an die in Wien Studierenden aus, sich vor den »Dämonen der Großstadt« zu hüten.15 In anderen Bundesländern wie Niederösterreich fordern die Behörden 1923 eine von Wien unabhängige Filmzensurstelle, um durch eine strengere Zensurpraxis nach eigenen Maßstäben die von der Metropole ausgehende Unmoral einzudämmen, wohingegen die Filmbranche wiederum die Provinzialität des Bundeslandes anprangert und diesem ein Hadern mit der intellektuellen Überlegenheit Wiens unterstellt.16 Die Sorge um die »Gefährdung der Sittlichkeit« oder auch der »Volksgesundheit«, wie es wiederholt lautet, sowie der Ruf nach strengeren Zensurrichtlinien und gesetzlichen Regulierungen werden von Seiten der Kinobetreiberinnen und Kinobetreiber sowie anderer Kinofürsprecherinnen und Kinofürsprecher als eine Hemmnis der Modernität und eine konservative Haltung empfunden, die wohl am Land (wie im oben zitierten Beispiel in GrammatNeusiedl), nicht aber in der Stadt Berechtigung habe.
Stadt und Kino als Spiegel der gereizten, nervösen Seele Richard Guttmann hatte 1916 die Abhandlung Die Kinomenschheit17 publiziert, in der er Überlegungen zu einer Charakterisierung der modernen Gesellschaft nachging. Er leitete darin die Wesenheit der modernen Gesellschaft aus dem 13 Richard Guttmann: Die Kinomenschheit. Versuch einer prinzipiellen Analyse. Wien, Leipzig: Anzengruber-Verlag 1916. 14 N.N.: Aussprache über Lebensmittelpreise. In: Vorarlberger Volksblatt, 13. 6. 1920, S. 2. 15 Josef Gorbach: Hochschülerbrief. Ein ernstes Geleitwort in ernster Zeit an die katholischen Akademiker. In: Vorarlberger Volksblatt, 5. 10. 1927, S. 4. Die Großstadtkritik entspringt nicht nur einer konservativen katholischen, sondern auch einer offen deutschnationalen, antisemitischen und antisozialistischen Haltung. 16 N.N.: Die gefährdete Moral. In: Der Filmbote 6 (1923), Nr. 12, S. 1–2. 17 Auch Robert Müller verwendete den Begriff »Kinomensch« in einem 1918 in der Wiener Zeitschrift Der Anbruch veröffentlichten Artikel. Robert Müller : Kino und Bühne. In: Der Anbruch 1 (1918), Nr. 9, S. 6–7.
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Phänomen Kino ab, da er dieses als symptomatisch für damalige gesellschaftliche Dynamiken, Verhaltensmuster und Befindlichkeiten annahm. Der Kinomensch zeige sich unabhängig des Geschlechts »als eine Kreatur mit von Begierden und Inbrünsten übervoller Seele«18, seine »Instinkte, Triebe und Begierden jagen durch seine Seele, schrankenlos befreit«19, und er ist vor allem ein urbaner Mensch. In der Stadt gerät der Mensch durch die Gedrängtheit des heterogenen Nebeneinanders von Eindrücken und Menschen und durch die Konflikte des Zusammenlebens (des Freud’schen Unbehagens in bzw. an der Kultur) in Bedrängnis und baut Spannungen auf, die gleichermaßen in eine Überempfindlichkeit wie in eine Abstumpfung gegenüber von außen kommenden Reizen münden kann, wie es schon Jahre zuvor Georg Simmel in Die Großstadt und das Geistesleben als die »Steigerung des Nervenlebens« in der Großstadt beschrieben hat. Doch schon in seinem Aufsatz Soziologische Aesthetik von 1896 – im selben Jahr, als in Österreich die erste Kinovorführung stattfand – hatte Simmel wie folgt ausgeführt: Diese Zeit »findet ihre höchsten Lebensreize offenbar in der Form der Schwankung zwischen den extremen Polen alles Menschlichen; ermatteten, zwischen Hypersensibilität und Unempfindlichkeit schwankenden Nerven können nur noch die abgeklärteste Form und die derbste Nähe, die allerzartesten und die allergröbsten Reize neue Anregungen bringen.«20
Solch ein Changieren zwischen extremen Polen hatte auch Richard Guttmann im Verhalten der Menschen während des Ersten Weltkriegs gefunden, die im Kino Zerstreuung suchten, während im selben Moment an der Front Soldaten starben. Auch das eingangs zitierte, vier Jahre später in der Muskete veröffentlichte Gedicht steht noch unter diesem Eindruck. Gerade die Kriegserfahrung wird in den 1920er-Jahren für den Zustand der nervösen Gereiztheit ebenso wie für die Abgestumpftheit und eine aus beiden Seelenzuständen resultierende Empfänglichkeit für exaltierte Ausdrucksweisen verantwortlich gemacht. Dem Kino und seinem Publikum wird von Beginn an Kalkül auf die »allergröbsten Reitze«, die animalischen Instinkte des Menschen, vorgeworfen: »Filmkunst, wie sie heute getrieben wird, ist sehr oft Kunstschändung durch Spekulation mit dem Tier im Menschen«, polemisiert Heinrich Reiß noch 1927 in der Reichspost.21 Kunst, so wird von Kritikerinnen und Kritikern argumen-
18 Guttmann, Kinomenschheit, S. 6. 19 Ebd. S. 13. 20 Georg Simmel: Soziologische Aesthetik (1896). In: G. S.: Individualismus der modernen Zeit – und andere soziologische Abhandlungen. Hrsg. von Otthein Rammstedt. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008, S. 317–318. 21 Heinrich Reiß: Der sittliche Imperativ im Film. In: Reichspost, 27. 5. 1927, S. 9. Die schon 1906 einsetzenden Polemiken der Reichspost gegen das Kino transportieren nicht bloß eine
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tiert, werde im Vergleich mit dem Theater auf plumpe »Effekthascherei« reduziert, und das gelte sowohl in Bezug auf die Adaption eines literarischen Werkes als auch für das Schauspiel.22 Die Kinokultur ist nicht, wie es ein klassisches, bildungsbürgerliches Verständnis von Kultur vorsieht, eine Rettung oder ein Gegenwicht zur großstädtischen Beschleunigung im technisierten Zeitalter bzw. eine Behauptung des geistigen Individuums gegen den Verlust des Einzelnen in der Masse, sondern zugleich Ausdruck und Motor dieser Entwicklungen, da der Film in erster Linie das Bedürfnis nach Tempo, Nervenspannung, Schaulust und Sensation befriedige. Die Aktivierung der Schau-Lust beginnt bereits auf der Straße in Gestalt von Plakaten und Ausrufern, was allgemein für unterschiedlichste Unternehmungen und besonders fürs Kino gilt. In der Neuen Freien Presse wird die Filmreklame von 1920 als »grellste Öffentlichkeit«, der sich der städtische Mensch nicht entziehen kann, beschrieben: »So oft ich frühmorgens ins Freie komme, ist immer das erste, was mir aufstoßt, das abscheulich kolorierte Plakat einer solchen Guckanstalt […] und kaum bin ich um hundert Schritte weitergegangen, […] wieder ein Plakat, wieder so eine marktschreierisch gefärbte Ankündigung.«23 Die Bezeichnung »Guckanstalt« unterstreicht das kinematographische Merkmal, eine Stätte der Schaulust zu sein, in der diese nicht nur befriedigt, sondern das Publikum gleichsam zu der Erwartung sich fortlaufend überbietender Sensationen erzogen wird. Dabei werden die Grenzen des »guten Geschmacks« und der allgemeingültigen Moral zu Gunsten der größtmöglichen Wirkung überschritten. Im Grazer Arbeiterwille wurde dies 1922 wie folgt formuliert: Wie die Pilze schießen die Leinwandtheater aus dem Kulturboden unserer Zeit und gießen einen Strom perverser und obszöner Verderbtheiten in das verblendete Volk. Wer durch die Straßen wandelt, prallt entsetzt vor den schreienden Kinoplakaten zurück, und was der Buchdruck mit seinen Buchstabengiganten nicht mehr erreichen kann, das vollendet in absurden Scheußlichkeiten die Buntheit der Bildplakate.24
Die Kinos sind wie andere Unternehmen auch Teil des Weichbildes der Stadt und des urbanen Wettstreits um Aufmerksamkeit, in dem die neuesten Sensationen, die buntesten Bilder und lautesten Stimmen das Publikum zu blenden suchen und damit aufgrund der vermeintlich zeitgenössischen Disposition zu unreflektierter Zerstreuung und visueller Kommunikation reüssieren.
antikapitalistische Haltung, diese wird häufig von einer antisemitischen Agitation mitgetragen. 22 Vgl. W.: Filmkunst. In: Neue Freie Presse, 29. 8. 1920, S. 1–4. 23 Ebd. S. 1. 24 F. L.: Kinopest und Filmseuche. Ein Wort an alle Arbeiter. In: Arbeiterwille, 15. 11. 1922, S. 5.
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Die Stadt gibt, mit Oswald Spengler gesprochen, das Tempo und den Takt des modernen Daseins vor, und das nicht zuletzt durch das Kino, das der Inbegriff und einer der Höhepunkte moderner Technik und Innovation ist. Der Preis des Fortschritts ist jedoch auch der, dass der Mensch sich der Maschine unterordnen muss und von seiner eigenen Schöpfung »in Besitz genommen, besessen, zu ihrem Geschöpf, ihrem ausführenden Organ, endlich zu ihrem Opfer gemacht«25 wird. Die Maschine – die Großstadt wie der Film – bemächtigt sich des Menschen und dieser steht den permanent auf die psychische und physische Gesundheit einwirkenden technischen Impulsen ohnmächtig gegenüber.26 Aufgrund der ruhelosen, automatisierten, nicht willentlich steuerbaren Aufnahme der bewegten Bilder wird eine nervliche Überforderung durch das Kino befürchtet. Augen- und Kopfschmerzen, nervöse Unruhe, Konzentrationsschwierigkeiten, psychische Instabilität – Symptome, die auch als typische Folgeerscheinungen des Lebens in der Großstadt gelten – werden als Konsequenz regelmäßiger oder übermäßiger Filmrezeption angenommen.
Stadt und Kino als (T)Raum eines besseren Lebens Das Kino und seine typische bzw. stereotype Formensprache der filmischen Darstellungen haben maßgeblichen Einfluss auf das Erscheinungsbild und das Verhalten der Menschen. Henriette Herzfelder bemerkt dazu 1924 im Neuen Wiener Journal: »Diese Gewöhnung an stärkste Reize, an das Überlaute, Sensationelle wirkt sich dann wieder nach verschiedensten Richtungen aus, in den Umgangsformen, der Lebensauffassung, der Grellbuntheit der Frauenmode und vielem anderen.«27 Auf diese Weise gleicht das Kino einem »Knigge für das Volk«, der zum Kodex des modernen, urbanen Lebensstils wird und es vermag, auch in eine Kleinstadt einen Hauch von Welt und die Sehnsucht nach einem Leben jenseits der Provinz zu bringen, wie Joseph Roth es am Beispiel eines mährischen Dorfes beobachtet hat: Eine künstliche Fata Morgana, spiegelt es dem nach der »großen Welt« dürstenden kleinstädtischen Lehrmädel das »Leben« vor, jenes Leben, das ihm vielleicht immer unerreichbar bleiben wird. Aber aus schattenhaften Gestalten und Geschicken, Szenen und Handlungen in der Filmwelt der Leinwand baut sich der kleine Mensch ein zweites 25 Oswald Spengler : Die Seele der Stadt. In: O. S.: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte (1922). München: dtv 2006, S. 657–687, hier S. 673. 26 Christian Metz spricht in Der imaginäre Signifikant – Psychoanalyse und Kino von einer inneren Maschine der Zuschauerpsychologie und einer äußeren Maschine der Kinoindustrie sowie der dritten Maschine des Über-das-Kino-Schreibens, also des Diskurses. 27 Henriette Herzfelder : Das Kino und die Geistigkeit unserer Zeit. In: Neues Wiener Journal, 23. 4. 1924, S. 8.
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zivilisiertes, manchmal sogar kultivierteres »Ich«, in dem er aufzugehen sich bemüht und manchmal sogar aufgeht.28
Das Kino gilt als die »Volkskultur«, die den »kleinen Leuten« (Alfred Döblin) und unter diesen ganz besonders den »Ladenmädchen« (Siegfried Kracauer) zu einem Ausdruck und einem symbolischen Raum verhilft, in dem sie über die Grenzen ihrer Lebensumstände hinweg an der Welt und an gesellschaftlichen Ereignissen teilhaben können. Hierbei korrelieren die Filmkolportage und die Wirklichkeit bis zu einem gewissen Grad, da die jungen Frauen den Vorbildern auf der Leinwand ebenso nacheifern wie die filmischen Narrative auch ihre Entsprechung im Leben haben.29 Im Film, dem »Dokument des Wunschlebens« (Guttmann), realisiert sich auf anschauliche Weise der Traum vom besseren Leben, der die Mädchen und Frauen vielleicht vom Land in die Stadt ziehen lässt. Robert Musil spricht diese Hoffnung in einem »Bild« seines Nachlaß zu Lebzeiten an, wenn er die Dienstmädchen fragt: Denkt ihr daran, daß jetzt im Dorf die Glocken läuten, oder denkt ihr daran, daß jetzt das Kino beginnt? Sicher ist es nur, ihr fühlt auf eine geheimnisvolle Weise, daß mehr Männer zwischen zwei Ecken der Stadt leben als auf dem ganzen Land, und ihr geht in jedem Augenblick durch diese Männlichkeit, wenn sie euch auch nicht gehört, wie durch ein Kornfeld, das an die Röcke streift.30
Es ist das Illusionstheater von der Suche nach dem Glück in der Stadt und vom sozialen Aufstieg durch Heirat einer ›guten Partie‹, das in den Filmen auf lebendige Weise vorgeführt und zuhause weitergeträumt wird. In diesem Aspekt findet sich das Moment des Traums oder Tagtraums, das im bewegten Bild Realität vortäuscht und gleich einer Vision zumindest eine Möglichkeitswelt oder alternative Wirklichkeit entwirft, die auch Hugo von Hofmannsthal 1921 in seinem Ersatz für die Träume betitelten Aufsatz über das Kino schildert. Er beschreibt das Kino als Zufluchtsstätte der arbeitenden Menschen, wo sich diese einem Selbstbetrug gleichkommend, den bildhaften Visionen hingeben, um die Verwirklichung ihrer Traumbilder zu finden, Bilder, die ihnen das Leben schuldig bleibt.31 28 Joseph Roth: Knigge im Film. In: Die Filmwelt 1 (1919), H. 9, zit. n. Joseph Roth: Werke I. Das journalistische Werk, 1915–1923. Hrsg. von Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989, S. 29–30. 29 »Kein Kitsch kann erfunden werden, den das Leben nicht überträfe«. Siegfried Kracauer : Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino (1927). In: S. K.: Das Ornament der Masse. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1977, S. 279–294, hier S. 280. 30 Robert Musil: Mädchen und Helden. In: R. M.: Nachlaß zu Lebzeiten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2010, S. 38–39, hier S. 38. 31 Vgl. Hugo von Hofmannsthal: Der Ersatz für die Träume (1921), zit. n. Anton Kaes (Hg.): Kino-Debatte. Texte zum Verhältnis von Literatur und Film, 1909–1929. München: dtv 1978. S. 149–152; dazu auch Heinz Hiebler : Hugo von Hofmannsthal und die Medienkultur der
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Auch der Film selbst greift das Thema der städtischen Verheißungen auf. Die deutsche Produktion Die Straße aus dem Jahr 1923 (Regie: Karl Grune) bildet den Auftakt zu einer Reihe an Straßenfilmen, in denen zumeist die Kehrseiten eines mondänen Großstadtlebens und das Scheitern daran dargestellt werden. In der Ankündigung des Films lautet es: »Der Moloch Großstadt verschlingt seine Opfer!«32 Ohne Weiteres ließe sich das Wort »Großstadt« durch »Kino« ersetzen: »Der Moloch Kino verschlingt seine Opfer!«, denn wie die Straße vermag auch das Kino seine Versprechungen nicht einzulösen. Lotte H. Eisner verdeutlicht in Die dämonische Leinwand am Beispiel dieses Films die Sehnsucht des modernen Menschen nach einem glanzvollen Leben, das sich in der Großstadt spiegelt, wo schillernde Verheißungen bis in die Wohnungen dringen und die Menschen auf die Straße locken: »Lichtflecke gleiten und zucken über die Zimmerdecke, weben ihr leuchtendes Netz. Sie werden für den braven Bürger […] zur geheimniserfüllten Verheißung, treiben ihn hinaus auf die Straße seiner Sehnsucht.«33 Im Zuschauerraum des Kinos herrschen mit den über die Leinwand gleitenden Lichtern und Schatten ähnliche Verhältnisse wie in der Großstadtwohnung, und auch das Kino erweist sich als »Straße der Sehnsucht«, auf der sich der Mensch immer weiter in ein auswegloses Netz an unerfüllbarem Begehren verstrickt. Die Grenze zwischen Realität und Traum ist gerade im Kino fließend, da das bewegte Bild die Wirklichkeit täuschend echt und lebendig wiederzugeben vermag. Die im Kino erlebten Filmbilder konditionieren das Verhalten des Publikums und die Menschen gleichen ihre außerfilmischen Eindrücke mit der filmischen Wahrnehmung ab. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno erklären das Verhältnis zwischen vorgetäuschter Kinowirklichkeit und faktischer Wirklichkeit mit einem Filter, durch den die Welt wahrgenommen wird: Die ganze Welt wird durch das Filter der Kulturindustrie geleitet. Die alte Erfahrung des Kinobesuchers, der die Straße draußen als Fortsetzung des gerade verlassenen Lichtspiels wahrnimmt, weil dieses selber streng die alltägliche Wahrnehmungswelt wiedergeben will, ist zur Richtschnur der Produktion geworden. Je dichter und lückenloser ihre Techniken die empirischen Gegenstände verdoppeln, um so leichter gelingt heute die Täuschung, daß die Welt draußen die bruchlose Verlängerung derer sei, die man im Lichtspiel kennenlernt.34
Moderne. Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 457–465 sowie generell zum Kontext dieser Thematik: Winfried Pauleit et al. (Hgg.): »Das Kino träumt«. Projektion. Imagination. Vision. Berlin: Bertz und Fischer Verlag 2009 (inkl. CD mit engl. Fassung und Filmausschnitten). 32 N.N.: »Der Moloch Großstadt verschlingt seine Opfer!«. In: Prager Tagblatt, 24. 9. 1924, S. 8. 33 Lotte H. Eisner : Die dämonische Leinwand. Hrsg. von Hilmar Hoffmann und Walter Schobert. Frankfurt/M.: Fischer 1990, S. 254. 34 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente [1947]. Frankfurt/M.: Fischer 2002, S. 134.
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Diese Beobachtung lässt sich in Bezug auf die Frage nach der Sittlichkeit auch umdrehen: Die Straße ist ebenso die Fortsetzung des Lichtspiels wie das Lichtspiel die Fortsetzung der Straße ist. Das Kino ist in der Verlängerung der Straße ein Ort anonymer Massen, flüchtiger Eindrücke und zufälliger Begegnungen, an dem sich der Fluss des Lebens geltend macht.35 Gleich einem Objekt ist der Mensch dort einem Prozess ausgeliefert, den er selbst nicht mehr kontrollieren kann,36 was seine Empfänglichkeit für unmoralische und unsittliche Handlungen erhöht.
Die Gefährdung der Sittlichkeit durch Unmoral und Unkultur Dem Film kommt aufgrund seiner Einflusskraft und seines Wirkungsradius’ eine wesentliche Funktion als Lehr- und Erziehungsmittel zu. Das Kino als ›Erzieher‹ ist eine der Schlüsselfragen in der Diskussion um die soziokulturellen und formalästhetischen Aufgaben des Mediums, nicht zuletzt da die Darstellungsweise und die dargestellten Inhalte häufig sowohl anklagend als auch entschuldigend als Ideen- und Impulsgeber für unsittliches und kriminelles Verhalten angeführt werden. Es wird der Schutz des »Volkes« und besonders der Kinder und Jugendlichen gefordert. Mit Rückgriff auf Richtlinien gegen »Schmutz und Schund«, die mit Bezug auf populärkulturelle Literatur wie Groschenhefte und Kolportageromane definiert worden waren, hatten die Kinoreformerinnen und Kinoreformer sowie Kinogegnerinnen und Kinogegner schon in den 1910er-Jahren als Argumente einzuwenden gehabt: blutrünstige und lüsterne Darbietungen, Erregung der kindlichen Gemüter, Anstiftung zu unsittlichen und kriminellen Handlungen, kulturelle Minderwertigkeit der Darstellungen und die Dunkelheit, die zu schamlosem Verhalten verleite.37 Auch in den 1920er-Jahren werden diese Kritikpunkte vorgebracht und es wird angestrebt, das Niveau der Filme zu heben, sie für erzieherische Zwecke der Volksbildung und Jugenderziehung zu nutzen und künstlerisch zu ›veredeln‹. In erhöhtem Maße disponiert für die kinematographische Verführung gelten Kinder/Jugendliche und Frauen, die zu den größten Zuschauergruppen des frühen Kinos zählen. In einer zumeist bevormundenden Haltung wurde von ihnen gesprochen, als wären sie aufgrund der vermeintlich ihrem Wesen entspringenden überbordenden Emotionalität, Triebhaftigkeit und Phantasie sowie einer schwach ausgeprägten Willensstärke und Reflexionsfähigkeit besonders 35 Vgl. Siegfried Kracauer : Theorie des Films. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985, S. 110. 36 Vgl. Anton Kaes: Film in der Weimarer Republik. In: Wolfgang Jacobsen, A. K., Hans Helmut Prinzler (Hgg.): Geschichte des deutschen Films. Stuttgart, Weimar : J.B. Metzler 1993, S. 39–100, hier S. 61. 37 Vgl. Josef Gugler : Schulzensur. In: Kinematographische Rundschau (1911), Nr. 184, S. 1–4.
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gefährdet. Eltern wurden davor gewarnt, ihre Kinder dem Moloch Kino auszuliefern, denn die Zunahme der Jugendkriminalität wurde häufig mit wiederholtem oder exzessivem Kinobesuch begründet.38 Durch das beklagte Fehlen von Autorität, die Gedrängtheit der städtischen Lebenssituation und den Mangel an Freiräumen würden diese auf die Straße getrieben, wo das Laster unter anderem mit dem Kino seinen Anfang nehme. In Salzburg etwa mündet eine Diskussion um die Errichtung von Spielplätzen in die Feststellung: »Wer der Jugend die freie, ungezwungene Bewegung in frischer Luft nimmt, nimmt ihr die Sittlichkeit, treibt sie auf die Straße, zur Liebelei, zu Zigarette, Alkohol und ins Kino, also zu aller Laster Anfang.«39 Dieses Urteil gilt in höherem Maße für die städtische Gesellschaft als für die Landbevölkerung, da gerade das »Treiben« der Großstadtjugend strengere behördliche Maßregeln brauche, unter anderem für den Kinobesuch, um den Einfluss des Films unter Gesichtspunkten des Jugendschutzes zu kontrollieren. Aufgrund der kapitalistischen Verankerung der Filmproduktion und Faktoren wie die emotional geleitete Rezeption sowie die triviale Form filmischer Sujets und ihrer Darstellungsweisen bildet das Kino eine Antipode traditioneller bürgerlicher Kunst- und Kulturvorstellungen. Es ist in diesem Gedankengang eine (Re-)Produktionsstätte der »Unkultur« bzw. »Volkskultur«, die zudem durch die große Zahl der Spielstätten und die Reklame sichtbaren öffentlichen Raum in der Stadt, die bislang als Zentrum bürgerlicher Kulturhegemonie galt, einnimmt. Nicht selten ist die Kritik durch eine mehr oder weniger ausgeprägte antisozialistische Tendenz gekennzeichnet. Ebenso tritt in manchen Urteilen und Zuschreibungen Antisemitismus zutage, der in den Äußerungen aller Gesellschaftsschichten und politischen Fraktionen zu finden ist. Diese lassen sich gleichermaßen aus der herrschenden Konkurrenz- und Wettbewerbssituation (90 Prozent der Verleihfirmen und 50 Prozent der Kinobetriebe werden von jüdischen Besitzerinnen und Besitzern geführt)40 heraus erklären wie sie von religiösen, politischen, antikapitalistischen und/oder rassischen Motiven getragen sind. Die Zeitschrift Der Filmbote berichtet 1926 von Überlegungen zur 38 Unter vielen Beispielen: N.N.: Schutz der Jugendlichen. In: Neue Kino-Rundschau (1921), Nr. 218, S. 1–2, Heinz Scharpf: Der Faustfilm oder der Tragödie dritter Teil. In: Salzburger Volksblatt, 18. 8. 1923, Unterhaltungs-Beilage, S. 19, N.N.: Das Kino ist schuld daran. In: Der Filmbote 7 (1924), Nr. 16, S. 32–34, Josef Neumair : Filmkunst. Ein Nachtrag zu einem Nachtrag. In: Reichspost, 27. 10. 1925, S. 6 sowie N.N.: Erschreckende Zunahme der Jugendkriminalität in Wien. In: Vorarlberger Landes-Zeitung, 13. 10. 1927, Beilage, S. 1. Zur sogenannten ›Schmutz-und Schunddebatte‹ in der Ersten Republik vgl. auch den Eintrag https ://litkult1920er.aau.at/litkult-lexikon/schmutz-und-schunddebatte/ (Zugriff: 19. 7. 2019). 39 N.N.: Zur Spielplatzfrage in Salzburg. In: Salzburger Chronik, 29. 5. 1926, S. 5. 40 Klaus Vögl: Angeschlossen und gleichgeschaltet. Kino in Österreich 1938–1945. Wien, Köln, Weimar : Böhlau 2018, S. 40.
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Gründung eines »arischen Kinos« durch »Hakenkreuzler« in Wien, welches aus antisemitischen Beweggründen das Kriterium der Christlichkeit in allen Schritten der filmischen Produktionskette über den Betrieb des Kinos bis hin zum Publikum verwirklichen wolle.41 Insbesondere die Kritik an Filmen, die als Vergehen gegen die Sittlichkeit eingestuft werden, münden zum Teil in radikale, diffamierende Polemiken und Agitationen.42 Der Film wird bisweilen wie ein Abgrund der Unmoral und der Unkultur geschildert, der Raum des Kinos wie ein sich öffnender Krankheitsherd, aus dem das Negativbild zur idealen, bürgerlichen Gesellschaft hervortritt. Wie die Straße reize das Kino mit plakativen Angeboten und Verlockungen fragwürdige, unerfüllbare Bedürfnisse und mache dadurch Seele wie Körper krank. Wortwörtlich finden sich damals viele Formulierungen, in denen das Kino als Täter (Moloch, Dämon, Verderber) oder als Krankheit (Pest, Seuche, Wahn) bezeichnet wird, die den Fortbestand einer ganzen Kultur gefährden kann, wie die Satirezeitschrift Wiener Caricaturen 1920 wenig humoristisch schreibt: »Das Kino, das Kino! Wie eine Pest breitet es sich aus, und kein Heilmittel ist gegen dieses Leiden zu finden. Hauptkennzeichen unsres trostlos materialistischen Getriebes, unsrer seelischen Verödung. Der ›Untergang des Abendlandes‹ wird sich im Zeichen des ›Kinos‹ vollziehen.«43 Auf eine Kritik der Reizüberflutung und der Konsumkultur abzielend sei das Kino als Spiegel der bestehenden Gesellschaft44 ein Symptom der Degeneration der abendländischen Kultur und die Kinobegeisterung äußere sich wie eine Infektion, die sich in der Masse der Stadt besonders rasch von einem Menschen auf den anderen überträgt. Maßgeblich mitverantwortlich für die Gefahr der Übertragung wird die durch die Enge im Kinosaal entstehende körperliche Nähe der Menschen zueinander gemacht. Diese habe, unterstützt von der Dunkelheit, den weiteren Effekt, dass sich dort sexuelle Energien ballen. Das Kino wird zu einem geschützten Raum der Annäherung und Begegnung, die laut Guttmann in der städtischen Gesellschaft der »Kinomenschheit« beklagenswerte Formen annimmt: Das widernatürliche Geschlechtsleben des Stadtmenschen, ins Masslose gesteigerte ununterbrochene Reize, neben kümmerlicher, gemeiner und in der Regel ekelhafter Be41 N.N.: Das arische Kino. In: Der Filmbote 9 (1926), Nr. 2, S. 5–6. 42 Vgl. Henry Ford: Der internationale Jude. Die jüdische Seite des Lichtspielproblems. In: Kikeriki 65 (1925), Nr. 37, Beilage, S. 9–10. Vgl. dazu auch den Fall der Brüder Philipp und Edmund Hamber, die im Kontext ihrer Kinotätigkeit schon ab den 1920er-Jahren wiederholt mit antisemitischen Angriffen konfrontiert sind und 1940 im Konzentrationslager Buchenwald ermordet werden. Werner Michael Schwarz: Die Brüder Hamber und die »Kiba«. Zur Politisierung des Vergnügens im Wien der Zwischenkriegszeit. In: Arbeiterkino. Linke Filmkultur der Ersten Republik. Wien: Filmarchiv Austria 2007, S. 109–128, bes. S. 109–111. 43 N.N.: »Das Kino, das Kino!«. In: Wiener Caricaturen 40 (1920), Nr. 5–6, S. 3. 44 Siegfried Kracauer : Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino (1927). In: K., Das Ornament der Masse, S. 279–294, hier S. 279.
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friedigung auf brutal geschäftsmässiger Basis, sei es im Rahmen einer stumpfsinnigen Strassenbekanntschaft oder auf dem Leidensweg der Ehe zwischen einander gleichgültigen Individuen, hat im Kino einen leider sehr wahren Spiegel.45
Die urbane Niederschwelligkeit erotischer Kontaktaufnahme auf der Straße und von der Straße weg setzt sich im Kino fort, wo sich das Publikum in der Dunkelheit der Aufsicht und Kontrolle entzieht, mitsamt den Kehrseiten, denn der Voyeur ist dort ebenso zu finden wie die Kupplerin. In der räumlichen Enge und der Dunkelheit des Kinos spiegeln sich wiederum die engen Gassen und dunklen Ecken der Stadt. Bei einem Filmdreh in Wien 1924 gibt die beengte Situation in der Innenstadt mit der historischen Architektur ein wenig großstädtisches Bild ab und lässt eine düstere, unheimliche Atmosphäre entstehen: »Obwohl fast mitten im Herzen der Stadt, scheint einem hier die Großstadt meilenfern: niedere alte, uralte Häuser mit dickem Mauerwerk und kleinen Fenstern, ganz schmale, zum Fürchten enge Passagen, auch zur Mittagszeit infolge der nahe beisammenstehenden Häuser ein etwas mystisches Halbdunkel.«46 Die verwinkelten Straßen und Gassen in der Stadt bilden ein Netz aus obskuren Schauplätzen, an denen die Menschen unbeobachtet ihre Triebhaftigkeit, ihre Schaulust und Vergnügungssucht ausleben können, an denen »zwielichtige Gestalten« aber auch unbemerkt ihren Geschäften bzw. Interessen nachgehen können. Als ebenso realer wie filmischer Umschlagplatz von Verbrecherinnen und Verbrechern, Alkoholikerinnen und Alkoholikern, Prostituierten und anderen sozialen Randgruppen gelten die Kinos als Hort und Schule für unsittliches und kriminelles Verhalten, das sich gleichsam auf der Leinwand wie im Zuschauerraum abspielt.
Sozialreform durch das Kino Die Verteilung der Kinos in den Wiener Gemeindebezirken erfolgt wie oben erläutert nach topografischen und urbanen Gesichtspunkten und richtet sich nicht vordergründig nach der sozialen Prägung des Bezirkes, was sich in den 1920er-Jahren durch gezielte politisch motivierte Kinogründungen ändert. Auch die Initiativen, die sich um einen Einfluss auf das Kino und sein Programm bemühen, kommen gleichsam aus allen gesellschaftlichen Lebensformen, wenngleich die besagten »kleinen Leute« häufig weniger als Subjekte denn vielmehr Objekte des Diskurses angesehen werden. Schlechter Geschmack, fehlendes Bildungsbedürfnis sowie Hang zu Schaulust und Triebhaftigkeit, deren vor45 Guttmann, Kinomenschheit, S. 13. 46 Ladislaus Krejet: Das wiedererstandene Getto. Kino auf der Straße. In: Neues Wiener Journal, 19. 3. 1924, S. 6–7, hier S. 6.
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rangige Befriedigung an der Ausrichtung des zeitgenössischen Kinoprogramms beklagt wird, werden vorwiegend sozial niedrig gestellten Schichten zugeschrieben. Das Kino sei ein Gewerbe, »das von der Schaulust der rohesten und kunstfeindlichsten Schichten lebt«, behauptet beispielsweise Egon Friedell.47 Für manche Kinogegnerinnen und Kinogegner ist das Kino eine Büchse der Pandora, die Unheil und Übel über die Menschheit bringe, während es für Hugo von Hofmannsthal »eine Kiste mit zauberhaftem Gerümpel« ist, aus der die »Menschen unserer Zeit – diejenigen, welche die Masse bilden«, die in ihrer Arbeit selbst Maschinen und Werkzeugen gleichen, ihre Visionen beziehen.48 Arbeiterinnen und Arbeiter bilden in Wien nicht nur eine der zentralen Zielgruppen des Kinos, sondern auch ein kritisches Segment an Filmschaffenden, Kinobetreiberinnen/Kinobetreibern und Zuschauerinnen/Zuschauern, das gesellschaftspolitische Forderungen stellt.49 Kinos in Arbeiterheimen – wie jenes in der Kreitnergasse in Ottakring, das den schillernden Namen »Plaza« erhält – stehen neben Bibliotheken und Theatern für den Bildungsanspruch sozialdemokratischer Veranstaltungs- und Kulturzentren. Die Arbeiter-Zeitung gehört zu jenen Presseorganen, die von Beginn an ein gesellschaftsbildendes Potenzial im Kino sehen und Reformen fordern. Zwar geht es den Verantwortlichen ebenso wie bürgerlichen Bildungsreformerinnen und Bildungsreformern darum, die Programme unter moralischen, ästhetischen und pädagogischen Gesichtspunkten zu »heben« und für die Bildung (der Arbeiterinnen und Arbeiter) einzusetzen, das zentrale Anliegen ist jedoch, das Kino in den Dienst der Politik zu stellen, um die sozialistische Neuordnung der Gesellschaft zu propagieren. Mit der Gründung der städtischen Kinobetriebsanstalt Kiba 1926 durch die Sozialdemokratische Partei respektive die Arbeiterbank werden diese Bemühungen institutionalisiert, wodurch auch die Verbindung von Wohnbau und Kinobetrieb erleichtert wird.50 So entstehen weitere Kinos in oder im Umfeld von Wohnanlagen bzw. Arbeiterheimen des ›Roten Wien‹, wie 1928 das Amalienkino in Favoriten (X.) und das Sandleitenkino in Ottakring (XVI.). Die wichtigsten Betriebe der Kiba sind zum Teil prunkvoll ausgestattete Großkinos und Premierenkinos, die mit mehreren Tausenden Plätzen in unterschiedlichen Bezirken – Schweden (II.), Scala (IV.), Apollo (VI.), Amalienkino (X.), Weltspiegel 47 Egon Friedell: Der Kinematograph als Erzieher. In: Prager Tagblatt, 21. 1. 1923, S. 20. 48 Vgl. Hugo von Hofmannsthal: Der Ersatz für die Träume (1921), zit. n. Kaes, Kino-Debatte, S. 151–152. 49 Vgl. Proletarisches Kino in Wien. Bd. 1: Christian Dewald (Hg.): Linke Filmkultur der Ersten Republik. Bd. 2: Brigitte Mayr, Michael Omasta: Fritz Rosenfeld. Filmkritiker. Wien: Filmarchiv Austria 2007. 50 Vgl. Werner Michael Schwarz: Die Brüder Hamber und die »Kiba«. Zur Politisierung des Vergnügens im Wien der Zwischenkriegszeit. In: Christian Dewald (Hg.): Arbeiterkino. Linke Filmkultur der Ersten Republik. S. 109–128 sowie: W. M. S., Kino und Kinos in Wien, S. 51–56.
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(XVI.) – 1931 den Höhepunkt des städtischen Kontroll- und Einflussbereiches auf die Preis- und Programmgestaltung der Kinos darstellen.51 Die oftmals Theatern nachempfundene Bauweise von Premierenkinos, ihre exquisite Ausstattung, Vorführtechnik sowie Preispolitik werden allerdings eher mit bürgerlichen Kinovorstellungen verbunden als mit einem »Arbeiterkino«. Dies führt zu Kritik von der Arbeiterschaft nahestehenden Presseorganen wie Arbeiter-Zeitung, Die Rote Fahne oder Freiheit!. Darüber hinaus wird beklagt, dass das Programm in den Großkinos und kleineren Kinos – besonders jenen in den Vorstädten, dessen Publikum mehrheitlich aus Arbeiterinnen und Arbeitern besteht – starke Qualitätsunterschiede aufweise. Fritz Rosenfeld, der Filmredakteur und Filmkritiker der Arbeiter-Zeitung, hält 1926 fest: »Für die Vorstadtkinos, die fast ausschließlich vom Arbeiterpublikum besucht werden, ist nach der Meinung der Kinogeschäftsleute der ärgste Schund immer noch zu gut. Was da an Filmen gespielt wird, von denen man niemals etwas gehört hat, grenzt ans Unglaubliche.«52 Rosenfeld verwendet Charakterisierungen wie »Abfallware«, »vollkommen unsinnig«, »roh«, »billig«, »Kitschfilm« und anderes mehr. Lobenswert für eine Großkino-Vorstellung erwähnt er beispielsweise Commis Voyageur, eine Verfilmung der Komödie »Schmetterlingsschlacht« von Hermann Sudermann mit Asta Nielsen unter der Regie von Franz Eckstein. Der Film läuft in der ersten Spielwoche im Opern-Kino (I.), im Schottenring-Kino (I.) und IFAPalast-Kino (II.), also in zentral gelegenen Kinos, bei denen es sich jedoch nicht durchwegs um größere Kinos handelt. In den folgenden Wochen wird er auch in Kinos der äußeren Bezirke gezeigt, wobei gleichfalls nur in wenigen. Charleys Tante mit Syd Chaplin (Regie: Scott Sidney) – ein Film, den Rosenfeld als »bewährten Schwank« positiv hervorhebt – ist sowohl in großen wie kleinen Kinos und durchwegs in allen Bezirken zu sehen, was auf einen guten Teil der in Wien gezeigten Filme zutrifft.53 Rosenfeld greift demnach gezielt Filme aus dem Programm heraus, die beinahe ausschließlich in »Vorstadtkinos« laufen, sodass seine Kritik nicht zuletzt als Botschaft an die (sozialdemokratische) Kulturpolitik zu verstehen ist. Unabhängig von der Lage des Kinos und der Klientel werden »Große Schlager« und »Sensationsprogramme« beworben und gehören Komödien, Abenteuerfilme, »Rührstücke« und »Sittenfilme« zu den beliebtesten Genres der damaligen Zeit. Filmstars wie Asta Nielsen, Mary Pickford, Henny Porten, Emil Jannings oder Charles Chaplin erweisen sich in allen Gesellschaftsschichten als Publikumslieblinge. Was sich in den einzelnen Bezirken bzw. beim Groß- und 51 Ebd., S. 53–54. 52 Fritz Rosenfeld: Filme der Woche. In: Arbeiter-Zeitung, 31. 1. 1926, S. 19. 53 Vgl. Programme der Wiener Kino-Theater. In: Mein Film 1 (1926), Nr. 4, S. 910, Mein Film 1 (1926), Nr. 5, S. 9–14 sowie: Mein Film 1 (1926), Nr. 6, S. 9–13.
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Kleinkino augenfällig unterscheidet, sind die Kinoausstattung sowie die technischen und künstlerischen Mittel, den Stummfilm vorzuführen. So wird weniger das Programm der »Vorstadtkinos« bemängelt, sondern vielmehr die Aufführung, durch die der Film insbesondere aufgrund fehlender Kunstfertigkeit bei der musikalischen Begleitung an Qualität verliere. Auch ein ChaplinFilm, der durchwegs zu den herausragenden Kinoerlebnissen gehört, könne durch das Milieu sowie mangelhafte äußere Aufmachung des Kinos und musikalische Kunstfertigkeit an Ausdruckskraft einbüßen.54 Die Verbindung aus wirtschaftlicher und inhaltlicher Verantwortung der Kiba befördert von Beginn an einen Konflikt zwischen kapitalistischen und gesellschaftsreformerischen Interessen. Der ursprüngliche Gedanke, die Einnahmen aus dem Kino sollen in sozialpolitische Projekte, aber auch eine eigens zu gründende, politisch verwertbare Filmproduktion rückfließen, erfordert hohe Besucherzahlen, die wiederum mit politischen Dokumentations-, Kunst- oder Bildungsfilmen (»Russenfilmen«) nicht erzielt werden können.55 Die Ideologie wird der kommerziellen Geschäftsführung untergeordnet, sodass aus den eigenen Parteireihen harsche Kritik am Programmgebaren der Kiba geübt wird. Interne Konflikte, aber auch Angriffe von anderen Parteien und von Kinoverbänden, etwa aufgrund intransparenter Vorgänge in der Arbeiterbank sowie nicht nachvollziehbarer Konzessionsvergaben56, belasten die Gesellschaft ebenso wie hohe Investitionen beim Umstieg von Stumm- auf Tonfilm und die Erfüllung des Repräsentationsanspruches, der sich in der exklusiven Ausgestaltung der Premierenkinos ausdrückt. Fritz Rosenfeld stellt den »Arbeiterkinos« der Kiba 1929 in der sozialdemokratischen Monatsschrift Der Kampf ein vernichtendes Urteil aus, kurz: »Die Filme sind schlecht, die Filme sind verlogen, die Filme sind reaktionär.«57 Der Kiba gelingt es schließlich nicht, das Kino in Wien als politisches Instrument zu nutzen und auch die Filmgesellschaft kann nicht realisiert werden.
54 Vgl. N.N.: Der Film des Vorstadtkinos. In: Die Rote Fahne, 15. 7. 1928, S. 6. 55 Dieser Widerstreit zwischen Ideologie und Kapital wird innerhalb der Kiba in erster Linie von sozialdemokratischen Parteipolitikern auf der einen Seite (Forderung nach »Russenfilmen«) und dem Geschäftsführer Edmund Hamber auf der anderen Seite (Durchsetzung von »Geschäftsfilmen«) ausgetragen. Siehe dazu: Schwarz, Die Brüder Hamber, S. 121–127, insbes. S. 123. 56 Ende der 1920er-Jahre führt insbesondere die Konzessionsvergabe des Apollo-Theaters an die Kiba und dessen Ausbau zum Tonfilm-Großkino zu Kritik und Diskussionen. Vgl. N.N.: Apollo-Theater als Kino. In: Das Kino-Journal 21 (1928), Nr. 954, S. 7 sowie N.N.: Der große Korruptionsfall Apollotheater. In: Freiheit! 2 (1928), Nr. 389, S. 1–2. 57 Fritz Rosenfeld: Sozialdemokratische Kinopolitik. In: Der Kampf 22 (1929), H. 4, S. 192–197, hier S. 193.
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Kino- und Stadträume: Aspekte der Differenzierung Das Kino ist ein Indikator der Stadt und des Städtischen in qualitativem wie in moralischem Sinne, da die Anzahl und die Größe der Kinos auf der einen Seite die urbane Qualität der Großstadt potenzieren, die aus einem mannigfaltigen, zu jeder Tageszeit und, wenn gewünscht, anonym konsumierbaren Angebot an Unternehmungen und Unterhaltungen besteht. Auf der anderen Seite wird jedoch gerade diese Verfügbarkeit unter moralischen Gesichtspunkten als Zeichen des gesellschaftlichen und kulturellen Verfalls durch Vergnügungs- und Schaulust gedeutet. Die Kinobegeisterung ist ein Indiz, an dem sich der Zustand der Gesellschaft, insbesondere in der Stadt, und die dazu führenden Entwicklungen symptomatisch ablesen lassen. Der Diskurs um das Kino ist demnach zugleich ein Großstadtdiskurs, die Kritik am Kino zugleich eine Kritik an der Stadt und am urbanen Lebensstil. Das Kino ist gleich der Stadt ein diskursiver Ballungsraum der Macht, des Begehrens und der Differenzen, die in einer heterogenen Gesellschaft beim Aufeinandertreffen unterschiedlicher Interessensgruppen ausgetragen werden. Das Kino, so ließe sich abschließend ausdifferenzieren, ist in dreifacher Weise als Raum zu verstehen. Zum einen ist es ein konkreter Raum, in dem sich Menschen zu einem bestimmten Zweck einfinden (Zuschauerraum) und zudem ist es ein Raum, in dem etwas Abwesendes, das also nicht physisch da ist, dargeboten wird (Bild- und Projektionsraum).58 Darüber hinaus ist es zum anderen als Phänomen betrachtet ein diskursiver Raum, in dem eine Gesellschaft Fragen verhandelt, die in einer bestimmten Zeit (über das Medium Film hinausgehend) von Belang sind. Für jede dieser räumlichen Ebenen wäre zu untersuchen, inwieweit sich der Großstadtraum mit diesen überschneidet bzw. in diese hineinragt und inwieweit die städtischen Konflikte in diese Räume hineingetragen oder darin gespiegelt werden. Wie in der Stadt treffen in allen Räumen des Kinos unterschiedliche Orientierungen und Maßstäbe aufeinander, deren Vereinbarkeit auf den Diskurs um die gesellschaftliche und ästhetische Rolle des Films, der nicht zuletzt ein Konflikt zwischen traditionellen und modernen Kunst-, Kulturund Medienformen und der über diese ausgeübten Macht ist, übertragen wird. Hier treffen ohne klare Grenzziehungen Bürgertum auf Arbeiterschaft, Unterhaltung auf Erziehung, Hochkultur auf Populärkultur, Öffentlichkeit auf Privatheit, die Masse auf das Individuum und aus diesen Konfrontationen entsteht ein Spannungsfeld hybrider Kulturpraxis, um deren Gestaltungs- und Deutungshoheit beim Versuch, sich selbst als Vertreterin/Vertreter einer sozialen
58 Thomas Elsaesser : Filmgeschichte und frühes Kino. Archäologie eines Medienwandels. München: edition text+kritik 2002, S. 75.
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Martina Zerovnik
bzw. kunst- und kulturproduzierenden oder -rezipierenden Gruppe zu positionieren, gerungen wird. Im gegebenen Rahmen dieses Beitrages konnten nur einzelne Aspekte angesprochen werden, die einer weiteren Ausführung und Ergänzung bedürften, um eine differenzierte Beantwortung der Frage zu verfolgen, auf welche Weise und in welcher Form sich der Kino-Raum und der Großstadt-Raum bzw. die Kino-Räume und die Großstadt-Räume ineinander wiederfinden. Nur angedeutet werden kann beispielsweise die für den Zuschauerraum relevante Frage nach Verhaltensregeln, die für den und die Einzelnen im konkreten Raum des Kinos zu gelten haben, da sich vor Ort Reibungsflächen im Umgang der Menschen miteinander ergeben. Der Nimbus des Anarchischen im Sinne eines unkontrollierten, gesetzlosen Raumes ohne Regeln, der das Kino der ersten Jahrzehnte prägte, weicht mit der Zeit einer gewissen Etikette, die das Verhalten im Kinoraum reglementiert und alle Aufmerksamkeit vermindernden Faktoren wie lautes Kommentieren, Kommen und Gehen während der Vorstellung, das Tragen von Hüten etc. unterbindet, die andere Zuschauerinnen und Zuschauer stören könnten.59 Völlig unerwähnt blieb auch die Rolle der Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die an dem Diskurs teilnehmen. Nicht allein das Phänomen der beschleunigten Wahrnehmung durch Stadt und Kino findet sich darin – Stichwort »Filmisches Schreiben« –, auch die Automatisierung des Menschen im Kapitalismus, der Verlust der Seele/Aura gegenüber der Maschine, die Vereinzelung des Menschen in der Masse werden u. a. am Beispiel von Kino und Film ebenso wie am Beispiel des Lebens in der Stadt thematisiert.60 Auch die literarischen Texte setzen diese mitunter als Negativ, auf dem die Missstände der modernen Stadtgesellschaft in Bezug auf den Verlust traditioneller künstlerischer und ethischer Werte festgehalten sind und aus dem heraus sie sich wiederum entwickeln, und auch in ihnen werden das Kino und der Film bisweilen als »moderner Moloch«61 bezeichnet.
59 Vgl. Thomas Elsaesser : Wie der frühe Film zum Erzählkino wurde. Vom kollektiven Publikum zum individuellen Zuschauer. In: T. E., Filmgeschichte und frühes Kino, S. 69–93. 60 Beispiele für literarische Werke, in denen der Film und das Kino eine wesentliche Rolle einnehmen, sind u. a.: Theodor Heinrich Mayer : Film. Novellen (1921), Arnolt Bronnen: Film und Leben. Barbara la Marr (1927), Arnold Höllriegel: Du sollst dir kein Bildnis machen. Ein Roman aus Hollywood (1928) sowie Joseph Roth: Zipper und sein Vater (1928). 61 Mynona: Graue Magie. Ein Berliner Nachschlüsselroman. Nachdruck der Erstausgabe von 1922. Berliner Texte. Bd. 5. Hrsg. von Detlef Bluhm. Berlin: Fannei & Walz 1989, S. 92.
Aneta Jachimowicz
»Segn S’, so heiter ist das Leben in Wien«. Das Großstadtbild in Marta Karlweis’ Familienroman Schwindel
1.
Ouvertüre
Leo Schnabel, einer der Söhne der heruntergekommenen kleinbürgerlichen Wiener Familie, kommt in unklaren Umständen schnell an Geld. Er mag »pickfeine Gesellschaft«1, trifft sich mit »stadtbekannten Beaut8s« (Sch, 66) und »Kavalieren« (Sch, 66), besucht Theater, spendet reichlich Trinkgeld, ist verschwenderisch. Ernstl, sein jüngerer Bruder, betrachtet bewundernd den schicken Leo, wie er gut aufgelegt vor seinem Rasierspiegel Krawatten anprobiert und amüsiert die Arie Da geh ich zu Maxim aus der Operette Die lustige Witwe von Franz Leh#r singt: O Vaterland, du machst bei Tag Mir schon genügend Müh und Plag – […] Daaa – geh ich zu Maxim, Dort bin ich sehr intim – (Sch, 66)
Dann springt er auf das Couplet Die Stadt der Lieder : Da blickt der Steffel über, weiter auf das alte Wiener Lied, aus dem der Vers »Segn S’, so heiter ist das Leben in Wien« so sehr bekannt ist, dass er längst zu einem geflügelten Wort geworden war, und schließlich – bevor Leo »auf eine Landpartie« aufbricht – singt er noch das Lied Der Zuchthäusler am Muttergrab. In diesem beklagt sich die Titelfigur melancholisch darüber, dass seine Mutter ihn als Kind verhätschelt habe, weswegen er »nixnutzig« geworden sei und jetzt verwahrlost dastehe, »auf der Welt dei Buaberl« (Sch, 67). Das melancholische Lied verdirbt aber Leos heitere Stimmung keineswegs. Noch bevor er, der Wiener Mode nach schick ausstaffiert, die Wohnung verlässt, lässt er Ernstl die Hand der Mutter von ihm küssen, zieht Handschuhe an und verschwindet – und zwar auf Nimmerwiedersehen. Leo ist nämlich, wie sich erweisen wird, durch geschickte Hochstapelei zu Geld ge1 Marta Karlweis: Schwindel. Hrsg. von Johann Sonnleitner. Wien: DVB 2017, S. 66. Im Text in der Folge mit der Sigle ›Sch‹ und Seitenangabe zitiert.
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kommen. Um den Gläubigern zu entgehen, muss er nach Amerika fliehen, wo er einige Jahre später verarmt stirbt. In diesem kurzen Abschnitt des 1931 beim prominenten S. Fischer-Verlag in Berlin erschienenen Romans Schwindel. Geschichte einer Realität zeichnet Marta Karlweis (1889–1965) mit dem für sie typischen satirischen Stil die wirtschaftlichen Verhältnisse und die geistige Atmosphäre in Wien vor dem Kriege sowie in den ersten und späteren Kriegs- und Nachkriegsjahren. Karlweis’ Roman ist sowohl ein Familienroman, denn er erzählt die Verfallsgeschichte einer durch drei Generationen repräsentierten Wiener Familie, als auch ein Großstadt- sowie Inflationsroman, in dem das Zusammenwirken von Stadt und Individuum sowie die wirtschaftlichen Umwälzungen und die damit zusammenhängenden chaotischen Erscheinungen geschildert werden. Doch darüber hinaus ist Schwindel ein soziologischer und psychologischer Roman, in dem bei der nicht immer linear verlaufenden Schilderung der Schicksale, die innen statthabenden Prozesse der Figuren sowie der gesellschaftlichen Umbrüche in Form moderner Techniken wie z. B. des inneren Monologs, aber auch expressionistischer Darstellungsweisen2 bis hin zu einer Beschreibungspraxis, die man aus der Literatur der Neuen Sachlichkeit kennt3, zur Anwendung gelangen. Und da der Roman den anderen modernen Romanen dieser Zeit in seiner erzählerischen Qualität kein bisschen nachsteht, in der zeitgenössischen Presse äußerst positiv aufgenommen, in der angesehenen bürgerlich-demokratischen Neuen Freien Presse als Fortsetzungsroman abgedruckt und in der Neuen Rundschau sogar mit den Romanen von Virginia Woolf verglichen wurde4, ist es umso verwunderlicher, dass der Roman – wie das ganze Schaffen von Marta Karlweis – lange Zeit in Vergessenheit geriet und fast ein Jahrhundert warten musste, um eine neue Auflage erleben zu können. Der Roman erschien nämlich erst 2017 in der von Johann Sonnleitner initiierten Reihe Das vergessenen Buch, in einer Reihe, in der auch Karlweis’ Romane Ein österreichischer Don Juan – erschienen 1929 im Grethlein-Verlag – und der historische Roman Gastmahl auf Dubrowitza – den Karlweis bereits 1921 im angesehenen S. Fischer-Verlag publiziert hatte. Auch die Romane der ebenfalls lange Zeit vergessenen Autorinnen Maria Lazar und Else Jerusalem wurden dort neu aufgelegt.
2 Vgl. Johann Sonnleitner : Expressionistische Prosa österreichischer Autorinnen nach 1918. In: Aneta Jachimowicz (Hg.): Gegen den Kanon – Literatur der Zwischenkriegszeit in Österreich. Frankfurt/M.: Peter Lang 2017 (= Warschauer Studien zur Kultur- und Literaturwissenschaft, Bd. 10), S. 301–314, hier S. 306. 3 Vgl. Karl Wagner : Es sind auch schon Hausherren gestorben. In: FALTER 33/2017. 4 Vgl. Emil Alphons Rheinhardt: »Schwindel. Geschichte einer Realität«. Von Marta Karlweis. In: Die Neue Rundschau 42 (1931), Bd. 2, S. 143.
Das Großstadtbild in Marta Karlweis’ Familienroman Schwindel
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Dass Marta Karlweis aus dem literarischen Gedächtnis herausgefallen ist, hatte ursprünglich seine Gründe in der nationalsozialistischen Kulturpolitik.5 Als Tochter des zum Protestantismus konvertierten jüdischen Wiener Schriftstellers Carl Karlweis und als Frau von Jakob Wassermann, der sein Judentum nie verleugnete und noch in den 1933 veröffentlichten Selbstbetrachtungen den deutschen Antisemitismus anprangerte, weshalb er umgehend aus der Preußischen Akademie der Künste ausgeschlossen wurde, war die Schriftstellerin gezwungen, ins Exil zu gehen. Schon nach dem Tod ihres Mannes 1934 übersiedelte Karlweis in die Schweiz, wo sie bei Carl Gustav Jung analytische Psychologie studierte. Nach dem »Anschluss« Österreichs ans Dritte Reich emigrierte sie nach Kanada, wo sie eine psychiatrische Praxis betrieb. Sie starb 1965 auf einer Reise in die Schweiz.6 Da Karlweis im Exil außer der 1935 im Querido Verlag erschienenen Biographie ihres Mannes Jakob Wassermann: Bild, Kampf, Werk (herausgegeben mit einem Geleitwort von Thomas Mann) kein weiteres Prosawerk veröffentlichte und nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr nach Österreich zurückkehrte, sondern sich ihrer ärztlichen Praxis in Ottawa widmete, war sie – wie viele andere vor dem Krieg emigrierte Autoren und Autorinnen, die dasselbe Schicksal teilen mussten – in der literarischen Szene nicht mehr präsent.
2.
Das Epochenbild vom Verfall
Der Roman Schwindel ist Karlweis’ letzter Roman, ein opus magnum, in dem die Autorin am Beispiel einiger durch familiäre Verhältnisse verbundener Individuen scharfsinnig und grotesk-satirisch mit dem fassadenhaften Wiener Milieu abrechnet. Wie die anderen Autoren dieser Zeit – Joseph Roth in Radetzkymarsch (1932) und Die Kapuzinergruft (1938), Robert Musil in Der Mann ohne Eigenschaften (1930–1943) oder Felix Braun in Agnes Altkirchner (1927) – zeichnet Karlweis ein künstlerisch geschlossenes Epochenbild, hier vom Zerfall der Habsburgermonarchie bis hin zum Ende der 1920er Jahre und präsentiert sowohl die Ursachen des Scheiterns des Wiener Bürgertums als auch die Folgen der heimtückischen Gemütlichkeit der Großstadt. Der Verfall der Familie verläuft parallel zum Untergang der Habsburgermonarchie und wird in einer abfallenden Linie von der bürgerlich-demokratisch fühlenden Großmutter bis hin 5 Vgl. Johann Sonnleitner : Zerfallende Zinshäuser und zerbröckelnde Familien. Marta Karlweis’ Roman »Schwindel«. Geschichte einer Realität. In: Karlweis, Schwindel, S. 205–232, hier S. 206. 6 Mehr und detaillierter über Karlweis’ Leben siehe Johann Sonnleitner : Tochter, Frau und Mutter bedeutender Männer. Die Dichterin Marta Karlweis (1889–1965). In: Johann Sonnleitner (Hg.): Marta Karlweis: Ein österreichischer Don Juan. Wien: DVB 2015, S. 241–265.
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zu ihren moralisch und wirtschaftlich gescheiterten Enkelkindern gezeigt. Im Zentrum des Geschehens steht ein Wiener Zinshaus, das unter suspekten Umständen in den Besitz der Familie gerät, als eine Investition und die »sicherste Anlage ihres Vermögens« (Sch, 10) gedacht ist, in der Wirklichkeit aber sich als Betrug, ein »Schwindelhaus« (Sch, 121) erweist – eine »Versammlung von Pfründnern« (Sch, 39), die keinen Zins bezahlen können, ein »entsetzliches Proletarierhaus« (Sch, 39), »in dem zerlumpte Kinder sich auf den Gängen balgen und Frauen mit nackten Füßen in vertretenen Pantoffeln aus ihren höhlenartigen Wohnungen hervorbrechen und zeternd auf die Kinder losschlagen […].« (Sch, 52) Der titelgebende »Schwindel« ist mehrdeutig. Er bezieht sich einerseits auf das Haus als Spekulationsobjekt, anderseits auf die Selbstinszenierung der Figuren, ihren Illusionswahn und die Täuschungsmanöver, mit denen die Romanhelden versuchen, anderen eine Scheinwelt vorzugaukeln und nach außen hin »reell« (Sch, 138) zu wirken. Der Schwindel und die Betrügereien erscheinen bei Karlweis als Signum der Zeit und der Epoche, wobei nicht mehr erkennbar ist, ob sie die Ursache des moralischen Verfalls und der wirtschaftlichen Krise, oder – umgekehrt – vielmehr deren Folgen sind. Der Schwindel mit allen seinen Facetten wie Täuschung, Lüge, Betrug, Illusion, Gaunerei sowie Ich-Zerfall und Ich-Verschmelzung ist jedoch ein Narrativ, mit dem Karlweis versucht, den allgemeinen, für die Großstadt typischen Verfall sprachlich zu erfassen. Damit gelang es ihr auch, ein Kompositionsprinzip zur künstlerischen Erfassung der Großstadtwahrnehmung zu finden, die in den 1920er und 1930er Jahren sowohl in der Literatur der Weimarer Republik als auch der Ersten Republik Österreich zu einer der wichtigsten literarischen Herausforderung geworden ist. Evelyn Polt-Heinzl hat in ihrem Buch Österreichische Literatur zwischen den Kriegen die in den Großstadtromanen thematisierten zentralen Phänomene aufgelistet, seien es die Beschleunigung, die Überfülle sinnlicher Eindrücke oder die Bewegungs-, Verhaltens- und Wahrnehmungsmuster, die in den Romanen durch das umfangreiche und differenzierte Repertoire an Bildern und Vergleichen geschildert werden.7 Es ist ein typischer Zug der österreichischen Literatur jener Zeit, dass sie auf die Ereignisse in Wien und Österreich reagiert und so die Probleme gesellschaftlicher Relevanz – wozu die neue, mit der Entwicklung der Technik verbundene Großstadtwahrnehmung ohne Zweifel gehört – unmittelbar
7 Vgl. Evelyn Polt-Heinzl: Österreichische Literatur zwischen den Kriegen. Plädoyer für eine Kanonrevision. Wien: Sonderzahl 2012, S. 187–297. Vgl. dazu auch E. P.-H.: Von Hasen, Huren und Müttern. Überlegungen zum Großstadtroman der Zwischenkriegszeit. In: Jachimowicz (Hg.), Gegen den Kanon, S. 347–365.
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zum Ausdruck bringt.8 Die Themen der Großstadt, die Autoren und Autorinnen in ihren Romanen aufgriffen, beschäftigten zu jener Zeit ebenfalls die Presse.
3.
Großstadt in der Wiener Presse
Der zeitgenössischen Presse entgeht das Genre des Großstadtromans nicht, der in literarischen Beilagen und Rezensionssparten immer wieder zum Thema wird, denn – wie der Journalist der Neuen Freien Presse Emil Kläger ein Jahr vor dem Erscheinen des Schwindel-Romans bemerkt – »[i]n neuen Büchern wird wieder einmal der Versuch gemacht, die große Stadt abzuschildern. Häusermassen, Massenmenschen, Erlebnismassen, es reizt die Romanarchitekten, deren es jetzt eine ganze Anzahl gibt. Die Schicksale werden sozusagen etagenweise übereinander gelagert, türmen sich zum Wolkenkratzer.«9 Als Beispiel führt Kläger in seinem Feuilleton Vicki Baums Roman Menschen im Hotel (1929), Schalom Aschs Petersburg (1929), Günther Birkenfelds Dritter Hof links (1929) und Wilhelm Emanuel Süskinds Jugend (1930) an. Das Interesse Emil Klägers für die Großstadtthematik ist nicht zufällig, denn er selbst wurde vor allem für seine Sozialreportagen über Obdachlose und deren Leben im Wiener Untergrund und der Kanalisation bekannt10. Die Wiener Presse der 1920er Jahre lieferte ein Repertoire von großstadttypischen Themen, die die Autoren und Autorinnen in ihren Romanen literarisch bearbeiten konnten. Die Prostitution der Proletariertöchter und die Sündhaftigkeit von Großstädten war eines der heikelsten Diskussionsfelder dieser Zeit. »Wovon ich im Folgenden berichten will, sind die Aermsten der Armen, sind die, die lang um das Bewußtsein Menschen zu sein, gekommen sind, die solange gleich herrenlosen Tieren im Dunkel umherschleichen, bis sie einmal die 8 Mehr über das intensive Interesse der Literatur der 1920er Jahre für gesellschaftliche und politische Entwicklungen bei Sabina Becker : Topografien der Moderne: Berlin und Wien in den zwanziger Jahren In: Primus-Heinz Kucher, Julia Bertschik (Hgg.): »baustelle kultur«. Diskurslagen in der österreichischen Literatur 1918–1933/38. Aisthesis Bielefeld 2011, S. 29–46, hier S. 29–32. Auf diesen Sachverhalt machten früher Wendelin Schmidt-Dengler und Friedrich Achberger aufmerksam. Vgl. u. a. Wendelin Schmidt-Dengler : »Abschied von Habsburg«: In: Bernhard Weyergraf (Hg.): Literatur der Weimarer Republik 1919–1933. München, Wien: Hanser 1995 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 8), S. 483–548, hier S. 493. 9 Emil Kläger : Literaturblatt. Großstadtromane. In: Neue Freie Presse, 19. 1. 1930, S. 27. 10 1908 veröffentlichte Kläger eine Reportage Durch die Wiener Quartiere des Elends und des Verbrechens, in der er über das Leben der aus der Gesellschaft ausgestoßenen Menschen in der Wiener Kanalisation berichtete. Vgl. dazu Alexander Glück, Marcello La Speranza, Peter Ryborz: Unter Wien. Auf den Spuren des Dritten Mannes durch Kanäle, Grüfte und Kasematten. Berlin: Ch. Links 2001, S. 107. Vgl. ferner auch https://www.geschichtewiki.wien.gv. at/Kanalstrotter (Zugriff: 19. 7. 2019).
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Großstadt geschluckt hat« – schreibt 1922 der Journalist des Neuen Wiener Journals Leo Heller über die Berliner minderjährigen Prostituierten.11 Das Ziel dieses Feuilletons – genauso wie vieler Großstadtromane der 1920er Jahre – war, diese gesellschaftliche Erscheinung nicht moralisierend zu beschreiben, sondern sie vielmehr als Folge der wirtschaftlichen und mentalen Krise zu erklären. Nicht selten wurde das Thema Prostitution zu einem Brennpunkt, in dem sich die liberalen und konservativen Kräfte ideologisch auseinandersetzten. Der jahrelange Redakteur der sozialdemokratischen Arbeiter-Zeitung Hugo Schulz wehrte sich 1924 beispielsweise dezidiert gegen die These der Konservativen, dass in dem von den Sozialdemokraten regierten Wien die Prostitution in einem vorher nicht gekannten Maß verbreitet sei. Schulz zufolge seien alle Angaben über den »Stand der geschlechtlichen Moralität einer Großstadt hohle Phantasieprodukte […], aus subjektiven Eindrücken geboren, denen eben das Großstadtleben mit zahlreichen in die Oeffentlichkeit dringenden oder zur privaten Kenntnis gelangenden Einzelfällen entgegenkommt.«12 Wie unüberbrückbar die Kluft zwischen der Großstadt und der Provinz war, bezeugt eine weitere Stelle aus demselben Feuilleton, in dem Schulz als gebürtiger Wiener und engagierter Journalist der Arbeiterbewegung (in die Redaktion der Arbeiter-Zeitung wurde er von Victor Adler geholt) dem »Landvolk« ein größeres Maß an Sündenhaftigkeit zuschreibt als den Großstadtbewohnern. Die Moralisten und Mucker haben immer und zu jeder Zeit – nicht erst heute – jede Großstadt als ein Sodom und Gomorrha gebrandmarkt, obgleich es jedem Kundigen bekannt ist, daß sich über das biedere und fromme Landvolk der Strom sexueller Triebhaftigkeit viel ungebundener ergießt als über das Stadtvolk mit seinen vielfachen Hemmungen, Rücksichten und kulturbedingten Abhängigkeiten. […] In Wirklichkeit ist in jeder Großstadt das Maß sexueller Leichtlebigkeit und Leichtfertigkeit weit geringer, als man nach allem Klatsch, nach allem moralischen Gesalbader und nach allen amoralischen Aufschneidereien der sogenannten Lebenskünstler annehmen müßte.13
Die letzte Bestandsaufnahme von Schulz wollte aber die Literatur der 1920er Jahre nicht bestätigen und machte die sich im Großstadtmilieu abspielende käufliche Liebe, oft verbunden mit raschem Gewinn und der Kleinkriminalität, zu einem der fixen Bestandteile des Wiener Großstadtromans.14 Auch die voranschreitende Technisierung und die neuen Kennzeichen der Urbanität wie Autos, Beleuchtung und Reklame wurden zum Thema sowohl der Feuilletons als auch der Romane, die dieses Phänomen unterschiedlich bewerteten. Die Literatur brachte jedenfalls schon in den 1920er Jahren das zum 11 12 13 14
Leo Heller : Berliner Straßenmädchen. In: Neues Wiener Journal, 22. 12. 1922, S. 4. Hugo Schulz: Der Sündenpfuhl Wien. In: Arbeiter-Zeitung, 20. 4. 1924, S. 7f., hier S. 8. Ebd. S. 7. Vgl. Polt-Heinzl, Von Hasen, Huren und Müttern, S. 358.
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Ausdruck, was Walter Benjamin 1935 – in Bezug auf die Kunst – in dem Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit beschrieb, und zwar, dass die technischen Medien die menschliche Wahrnehmung verändern. In einer 1924 im Neuen Wiener Journal veröffentlichen Humoreske erzählt beispielsweise der Journalist Hans Saßmann eine interessante Begebenheit: Besessen von der Schönheit und Eleganz einer schönen Dame auf der Kakaoreklame, die »an jeder Hauswand, an jeder Litfaßsäule, an jeder freien Feuermauer klebte«15, bricht der Ich-Erzähler die Beziehung mit seiner bislang »Angebeteten« und versucht wie in einem Rausch herauszufinden, wer das Modell auf dem Plakat ist. In Erschütterung versetzt ihn aber der Maler der Reklame, der bekennt, dass die Kakaodame in Wirklichkeit nicht existiere, sondern ein erfundener Frauentyp und ein Produkt seiner Fantasie sei. Der Erzähler gibt aber nicht auf und sucht weiter nach seinem vom Plakat abgeleiteten Frauenideal, bis er eines Tages feststellen muss, dass er von mindestens »hundert Damen von Typ«16 umgeben ist. Erschrocken ergreift er die Flucht, denn er suchte doch nur die Eine. Diese humorvolle Erzählung, die der Erzähler mit den Worten zusammenfasst, dass »das Plakat auf das Leben gewirkt und die lebhafte Phantasie dazu das übrige getan« habe17, thematisiert die sich durch die Medien verändernde Stadt- und Geschlechterwahrnehmung sowie den Einfluss der Reklame auf die Stadtbewohnerinnen, die der eleganten Dame von der Kakao-Reklame ähneln wollen.
4.
Großstadt und ihre falsche Gemütlichkeit
Das Großstadtbild bei Marta Karlweis enthält alle diese Elemente der urbanen Räume wie Beschleunigung, Prostitution, Masse, Verfall, Kriminalität und Elend, die auch in der zeitgenössischen Wiener Presse aufgegriffen wurden, obwohl sie nicht ins Zentrum des Geschehens gestellt werden. Einige Ingredienzien, die in anderen Großstadtromanen der Zeit vorkommen, wie z. B. die Gerüche der Straße, der Staub, Rauch und Gestank der Stadt, fehlen allerdings zur Gänze. (Nicht ohne Grund leiden die Schnabels, aus deren Perspektive das Geschehen erzählt wird, unter Nasenwucherungen, infolge derer ihre olfaktorische Wahrnehmung und symbolisch die Wahrnehmung der Wirklichkeit entsprechend beschränkt ist.) Karlweis arbeitet in der Folge ihre eigene Methode der Darstellung des Großstadtlebens aus, die vorwiegend auf punktuell und 15 Hans Saßmann: Die Dame auf dem Plakat. Ein mysteriöses Großstadterlebnis. In: Neues Wiener Journal, 30. 11. 1924, S. 18. 16 Ebd. 17 Ebd.
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nuanciert arrangierten Details beruht. Wie auf impressionistischen Gemälden die Pinselstriche ein Ganzes ergeben, so bilden bei Karlweis auch die nur anscheinend nebensächlich genannten Episoden das Ganze. Die käuflichen Damen repräsentiert z. B. die nur beiläufig genannte Lolina Lal8, die sich mit Leo solange einlässt, bis sein Geld ausgeht und sich seine Gläubiger melden. Sie wird dann die Geliebte eines Fleischers, dem Leo Geld schuldet, und schließlich verkauft sie sich einem gewissen Strisower, der die Interessen von Leos Geldgebern vertritt, denn – so Strisower selbst – »sie weiß doch, ich hab immer bedeutende Geldgeber an der Hand«. (Sch, 65) Kommen wir zum Kapitel zurück, das am Anfang dieses Beitrages skizziert wird. Nur episodenhaft schildert Karlweis die falsche Gemütlichkeit von Wien mit seinen geheimnisvollen und schwankenden Figuren, die Wiener Demimonde voll von »Schlieferln« (Sch, 64)18 und Kokotten, die sich im Takt der berühmten Stadtlieder in Wiener Hotels und Caf8s sowie bei den Heurigen amüsieren, doch diese Episoden fügen sich zu einem Großstadtbild um den Ersten Weltkrieg zusammen. Nicht ohne Grund singt Leo in Karlweis’ Roman die Arie aus Leh#rs Operette, denn – wie Hilde Spiel in ihrem Erinnerungsessay Glanz und Untergang. Wien 1866 bis 1938 schrieb –, »zum Klang von Leh#rs Lustiger Witwe […] ging die Monarchie zugrunde.«19 Karlweis ist es gelungen, mit dieser satirisch konzipierten Szene den Nerv der Zeit zu treffen: Da singt der Hochstapler Leo, der sich mit der Wiener Halbwelt herumtreibt und auf Kosten seiner unwissenden Familie Schulden macht, die Arie des Grafen Danilo, in der das heitere nächtliche Großstadtleben besungen wird. Graf Danilo ist ein häufiger Besucher des berüchtigten Caf8s Maxim, das durch seine im Lied explizit genannte Intimität eine bordellähnliche Funktion hat. Auch Leo sehnt sich nach dem ausschweifenden Luxusleben der neuen Reichen, deswegen gaukelt er allen vor, Besitzer einer lukrativen Immobilie zu sein, während ihm nur ein Achtzehntel des verfallenen Zinshauses zusteht. Karlweis zeigt dadurch die simplen und auf der Produktion von Schein basierenden Mechanismen, mit deren Hilfe 18 Mit dem Begriff »Schlieferln« bezeichnete man in Wien diejenigen, die in der neuen sozialen und wirtschaftlichen Wirklichkeit von ihren Beziehungen profitieren – anders gesagt, Spekulanten und Inflationsgewinnler, die auch in der Literatur der 1920er-Jahre durch ihre Faszination für Luxus und raschen Profit zum Thema wurden. »Beziehungen« – schreibt z. B. 1919 der Schriftsteller und Feuilletonist des Neuen Wiener Tagblattes Paul Busson – »das ist das große Wort, an dem alles hängt. Beziehungen schaffen alles. Während kluge, gebildete, gelehrte Männer in mühseliger Arbeit sich verzehren, tüchtige Beamte alt und grau werden im Einerlei verantwortungsvoller Arbeit, Tatkräftige mit innerlichem Knirschen abseits sterben müssen, weil man ihnen nicht die Möglichkeit gibt, ihr reiches Können und ihren weiten Blick zu betätigen, knüpft das Schlieferl lässig, spielend fast die goldenen Fäden einflußreicher Beziehungen, an denen es sich wie eine kleine, faule, Spinne dann zu allem ersehnten Glanz emporarbeiten kann.« Paul Busson: Feuilleton. Das Schlieferl. In: Neues Wiener Tagblatt, 9. 3. 1919, S. 3–4, hier S. 3. 19 Hilde Spiel: Glanz und Untergang. Wien 1866 bis 1938. München: dtv 1995, S. 54.
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man in Wien gesellschaftlich und materiell aufsteigen kann, auch wenn dieser Aufstieg nur von kurzer Dauer ist. Die Wirtschaft liegt in den Händen der Spekulanten und Aufsteiger und kann – was Karlweis auch am Beispiel der Familie Seyffert verdeutlicht – wie eine Blase platzen. Hans Seyffert, ein Zigarrenfabrikant und reicher Verwandter aus Hannover, der nur scheinbar aus familiärer Solidarität, in Wirklichkeit aber, um ein lukratives Geschäft zu machen, den Gläubigern Leos seine Schulden zurückzahlt, geht wegen »Korruption eigener und staatlicher Beamter« (Sch, 71) bankrott. Die Folge davon ist »Ruin und wirtschaftlicher Tod von mehr als hundert Existenzen, der Tobsuchtsanfall des Chefs und sein jahrelanges Hindämmern dann im Schoß der Familie«. (Sch, 71) Leo bewegt sich also auf ziemlich schwankendem Boden und eine Geschichte wie die seine endet selten wie die des Grafen Danilo in Leh#rs Operette mit einem Happy End. Ernstl vergleicht zwar den die Arie singenden älteren Bruder mit dem Grafen Danilo, doch Leo weist diesen Vergleich mit den Worten zurück: »Du bist ein Esel, das ist doch ein Jud!« (Sch, 66). Mit dieser lapidaren Antwort bringt Karlweis zweifelsohne die antisemitische Stimmung in Wien vor dem Ersten Weltkrieg zum Ausdruck. Nur in diesem einen Kapitel wird auf die Heiterkeit Wiens hingewiesen, trotzdem müsste dieser Hinweis für die zeitgenössischen Leser eindeutig gewesen sein. Die Wienerlieder, Walzer und Operetten waren unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg sehr populär, ihre Komponisten allen anderen Musikern und Künstlern insofern weit voraus, als sie tiefere Bedürfnisse der Wiener und Wienerinnen offenbar erfüllten, d. h. deren Stimme zu sein: »…sie waren in der Tat die vox populi dieser Stadt«.20 Das Couplet Da blickt der Steffl freundlich auf uns nieder von Oskar Hofmann, das Leo ebenfalls singt, drückte nach einfacher Wiener Art – so Das kleine Volksblatt 1938 – »den Stolz des bodenständigen Wieners aus, der sich Wien ohne den alten Turm gar nicht vorstellen kann.«21 Das Lied war in Wien so berühmt, dass es viele Versionen – auch satirische – erlebte, wie z. B. die von 1902: Da blickt der Steffel traurig auf uns nieder Und denkt sich wohl, der stolze Dom: »Ich kenn’ mein Wien heut’ nimmer wieder Halb ist es Prag, halb ist es Rom!«22
Leo singt aber das Lied – gleichsam selbstverständlich im starken Wiener Dialekt – »tadellos« (Sch, 66):
20 Ebd. S. 194. 21 NN: Der Steffel und seine Lieder. In: Das kleine Volksblatt, 20. 2. 1938, S. 14. 22 -s-: Alte Wiener Lieder mit neuem Text. In: Wiener Caricaturen XXII (1902), Nr. 46, S. 2.
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Da blickt der Steffl freundlich auf uns nieder Und denkt sich still, der stolze Dom: Das ist mein Wien, die Stadt der Lieder, Das ist mein Wien am Donaustrom.
Und da das Lied so »tadellos« auch von Leos anrüchiger Gesellschaft gesungen wurde, kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, dass Karlweis damit die Wiener Halbwelt als Behüter und Träger der »richtigen« Wiener Kultur karikiert. Eine ironische Bedeutung gewinnt dieses Lied in der Beschreibung des ausbrechenden Krieges, der der Behaglichkeit der Stadt und dem materiellen und sozialen Aufstreben ihrer Einwohner unerwartet ein jähes Ende setzt. Die Wiener seien tüchtig – heißt es im Roman – »haben Ziele, bauen an ihrem Glück, nehmen Weiber, zeugen Kinder, alles rührt sich, rennt und tut und schafft. Und immer blickt der Steffl freundlich auf sie nieder. Bis es, ganz urplötzlich, eines Tages ein Ende hat. Der Krieg ist da, aus allen Häusern bricht es hervor.« (Sch, 89–90) Und im Kapitel »Irmelin Rose« wird noch einmal auf dieses Lied eingegangen: Ernstl – inzwischen ein Soldat im Krieg – schwängert eine Krankenschwester, in die er sehr verliebt ist und die er heiraten will. Da sie sich aber für die Abtreibung entscheidet und dafür Geld braucht, unterschlägt Ernstl die ihm von seinem Leutnant anvertrauten Gelder. Beides – die Abtreibung und der Diebstahl – rauben Ernstl den Verstand und er stürzt sich »mit betrunkener Lust Leos Leiblied heulend« (Sch, 106) in die Donau. Wiens Gemütlichkeit bringen ebenfalls die folgenden von Leo gesungenen Verse zum Ausdruck: Nur im Grandhotel is Jubel drin, Dort hat man vernommen, ’s soll ein Fremder kommen. Segn S’, so heiter ist das Leben in Wien (Sch, 67)
Die letzte Zeile des Couplets wurde zu einem geläufigen Spruch, mit dem man üblicherweise die ökonomische Situation in Wien und das Leben über seine Verhältnisse beschrieben hat.23 Das Lied machten der Wiener Sänger Guschelbauer und das Volkssängerpaar Seidel und Wiesberg berühmt, und im Jahr 1929, also zu der Zeit, als Karlweis an dem Roman arbeitete, hatte es die Kapelle Silving-Geißler als leichte Abendmusik im Repertoire. Eine der Strophen macht sich darüber lustig, dass Wien abends vollständig tot und ausgestorben sei. Das Couplet gebraucht 1931 auch der Journalist des Neuen Wiener Journals Hugo Knepler in seinem Feuilleton als Ausgangspunkt, um den mangelnden Wiener Fremdenverkehr der 1920er Jahre zu kritisieren: 23 Vgl. dazu zwei Zeitungsartikel aus der Zeit, in der Schwindel entstanden ist: Attila: »Sehn S’, so heiter ist das Leben in Wien« oder der Marxistenschrei nach Wohltätigkeit. In: Wiener Neueste Nachrichten, 25. 2. 1929, S. 4, N.N.: Der politische Parfümeur. In: Neue Freie Presse, 18. 3. 1930, S. 4–5, hier S. 5.
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Aber Gott sei gelobt, die Zeiten haben sich geändert. Dank einer rührigen Propaganda, dank der umfassenden Werbetätigkeit aller in Betracht kommenden Faktoren ist Wien endlich auch die Fremdenstadt geworden, hat Wien schließlich auch jene Stelle eingenommen, die ihr mehr als vielen anderen Großstädten längst gebührt hätte. Aber was war schuld daran, daß das nicht schon längst der Fall war? Niemand anderer als der Wiener selbst. Konstant war er es, der sich selbst persiflierte, der entzückt war von den Einrichtungen und Schönheiten des Auslands und der wegwerfend von seiner eigenen Vaterstadt sprach, und das hat sich gerächt. Jahrelang haben die Fremden Wien gemieden, und wenn sich wirklich einmal ein Amerikaner hierher verirrte, wurde er angestaunt wie das gewisse neue Tor von der Kuh.24
Es wird also erkennbar, dass Karlweis in ihrem Roman geschickt gleichzeitig mehrere kulturelle und gesellschaftliche Diskurse der Zeit miteinander verknüpft und artikuliert.
5.
Topographie der Großstadt. Masse und Flanieren
Topographisch beschränkt sich die Großstadt in Karlweis’ Roman auf einige knappe Beschreibungen der überfüllten Straßenbahnen und eine durch verfälschte Wahrnehmung der Stadt bedingte Darstellung von Bürgerhäusern. Olga Schnabel – eine der drei Schwestern von Leo, Ernstl und Arthur und zugleich die eigentliche Hauptfigur, aus deren Perspektive der Großteil des Romangeschehens erzählt wird – erlernt den Beruf der Schneiderin und muss die in der Schneiderwerkstatt angefertigten Kleider der noblen Kundschaft nach Hause bringen. Ihre Wahrnehmung der Stadt wird daher von der Wahrnehmung der unzähligen Stiegen und Türen, die sie auf ihren Gängen sieht, bestimmt und entsprechend reduziert: Unglaublich, wieviel steinerne Stiegen es in Wien gibt, noch im Schlaf hat sie Visionen von Stiegenhäusern. Es gibt gewundene Stiegen in alten unheimlichen Gebäuden, da gibts Wasserleitungen auf den Gängen und Klosettüren und vergitterte Fenster, aus denen Kohlgeruch hervorströmt. Es gibt gerade Treppen, auf die in jedem Halbstock Wohnungstüren münden, sechsundfünfzig Parteien in einem einzigen Haus. Olga träumt von Türen, von Hunderten von Türen, vor jeder steht sie mit der Schachtel am Lederband, streift sich nach hinten ausschlagend die Schuhe am schmutzigen Vorleger ab und wartet, daß man ihr öffne. (Sch, 15f.)
Olga steht oft frierend an »Tramwayhaltestellen« (Sch, 15) und in den Straßenbahnen stößt sie auf das dort herrschende dichte Gedränge, in dem sie zum Objekt sexueller Provokationen wird: »[I]m ersten Wagen schimpft einen der Kondukteur zusammen, im zweiten zwicken einen die Proleten«. (Sch, 15) Die 24 Cf. Hugo Knepler: Amerikaner in Wien. In: Neues Wiener Journal, 28. 6. 1931, S. 4.
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Stadttopographie wird durch verschiedene Straßenbezeichnungen wie Rennweg, Mariahilferstraße und die innere Stadt gekennzeichnet. Über die gängigen Territorien gehen die Beschreibungen von Wien nur dann hinaus, wenn die Rede vom Zinshaus in der armen Leute-Gegend an der Hahngasse ist, »in dem das Ungeziefer und der Mensch in Symbiose lebten«. (Sch, 122) Dieses Haus steht symbolisch für die ganze proletarische Vorstadt Wiens mit ihrer Trostlosigkeit und dem Elend und verzeichnet den sozialen Unterschied zwischen dem Bürgertum und der Arbeiterklasse. Denn obwohl die Schnabels nach ihrem materiellen und mentalen Niedergang Menschen zweiter Klasse seien (vgl. Sch, 86), so besitzen sie immerhin ein Haus und »ein Haus ist ein Haus, […] auch wenn es nichts enthält als bröckelnde Mauern, zerfallende Klosettröhren, schimmelbewachsene Wände, Geschrei, Exekutionen, Jammer, Flüche, Krankheiten, Ratten und Schmutz.« (Sch, 59) »Vielleicht ist nur die Stadt, in der man lebt, an allem Mißstand, allem Elend schuld« (Sch, 107) behaupten Olga und ihr Mann Robert Geßl, ein genialer, aber verkannter Musiker, der »geboren und verflucht zu diesem ungeheuerlichen Anspruch auf das Vollkommene« (Sch, 112) ist. 1922 verkaufen sie ihre Wiener Wohnung und ziehen nach Berlin. Für Olga ist Berlin eine unheimliche Stadt, mit vielen »üblen Vierteln« (Sch, 117) und unzähligen Zeitungen, die »wie Pilze aus dem Boden« (Sch, 125) schießen, wodurch sowohl die Armut der entlegenen Viertel von Berlin als auch die Presse-Konjunktur plakativ markiert wird, die dank der neuen technischen Errungenschaften (u. a. Fotos) die Bedürfnisse des breiten Großstadtpublikums nach Gemütlichkeit, Biederkeit und handfester Unterhaltung stillen konnte. Für Robert wird dieser Umzug fatale Folgen nach sich ziehen. Geßl »gehts ums Ganze« (Sch, 108), um diese klassische Kategorie, die in der Moderne brüchig geworden ist. Wie diese Kategorie scheitert auch Robert an seinen maßlosen Ansprüchen. Er verfällt immer mehr dem Trübsinn, dem er nur vorübergehend auf langen Spaziergängen durch die düsteren Stadtviertel entgehen kann. »In den finsteren Straßen dort kommen mir meine besten Gedanken. Ich bin nicht etwa plötzlich ein Menschenfreund geworden. Dort sind nicht Menschen. Dort sind bewegte Massen« (Sch, 117) – so erklärt Robert seinen Drang zum Flanieren durch Berlin. Damit verzeichnet Karlweis in ihrem Roman zwei Phänomene, die für die Großstadtromane der Zwischenkriegszeit in zunehmendem Maß ausschlaggebend waren: die Masse und das Flanieren.25 Durch den Kontakt mit der Masse will der Idealist Robert mit der Wirklichkeit in Berührung kommen, obwohl die Flucht in die Wirklichkeit für ihn eine »Zeitseuche« (Ebd.) sei. (Diese sentenziöse Bestandsaufnahme, verbunden mit dem Untertitel des Romans »Geschichte einer Realität«, hat romantheoretisch 25 Vgl. Polt-Heinzl, Von Hasen, Huren und Müttern, S. 349–350 und S. 355.
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gesehen eine Relevanz, denn damit scheint sich Karlweis zu dem realistischen Erzählen sowie zu der in dieser Zeit sehr populären Neuen Sachlichkeit kritisch zu positionieren.) Die Masse zeigt sich aber als etwas Gewaltiges und Unberechenbares. Während seiner Schlendereien durch die Stadt wird Robert von einem Haufen Demonstranten überrannt und »sein an Tollheit grenzender Abscheu vor entfesselten Menschen ist plötzlich zu irgendeiner wahnwitzigen Entladung gekommen, er hat attackiert, und sie haben ihn niederschlagen […].« (Sch, 118) Robert kann sich nach diesem Ereignis gesundheitlich nicht mehr aufraffen und vergiftet sich schließlich mit Veronal. Symbolisch ist dies wohl so zu lesen, dass das Individuum von den namenlosen Massen überwältigt wird – ein künstlerischer Griff, mit dem Karlweis das zumeist selbstverschuldete Ende der klassischen Lebensideale im Zusammenstoß mit der Großstadt verzeichnet.26
6.
Wirtschaftlicher Verfall und berufstätige Frauen
Die Welt beschleunigt und die Fortbewegungsarten ändern sich. Am besten wird das am Beispiel der Großmutter sichtbar, von der gesagt wird: »Sie hatte fast das ganze neunzehnte Jahrhundert durchmessen, sie war mit der Postkutsche nach Prag gereist und fuhr am Ende ihres Lebens mit einem Krankenauto von Petersdorf nach Wien.« (Sch, 55) Durch die Großmutter wird der Verfall der Familie versinnbildlicht. Als Mutter von Max Gaudenz, einem Dichter und Journalisten, der »es weit gebracht« (Sch, 7) und den »eine Millionenstadt […] geliebt und geehrt« (Ebd.) hatte, musste sie nicht nur seinen frühen Tod, sondern auch den Moment erleben, als ihr die Folgen der falschen Investition bewusst werden: »Irgendwo draußen in der Stadt, sie wußte jetzt sehr genau, in welcher düsteren Gegend, starrte ja das praktische Resultat ihres Lebens aus vielfach zerstörten Augen von gesprungenem Fensterglas.« (Sch, 55) Die urbane Szenerie machen in Karlweis’ Roman vor allem die Häuser aus, an deren allmählich auftretender Dysfunktionalität als Wohnorte der Untergang der Monarchie, die Folgen des Krieges, insbesondere die der Wirtschaftskrise der 1920er Jahre veranschaulicht werden. Mit der folgenden Beschreibung bringt Karlweis den urbanen und 26 Das tödliche Scheitern des Künstlers an seiner Umwelt und den an sich selbst gestellten radikalen Ansprüchen ist im Expressionismus als Thema weit verbreitet und auffällig. Nach Sonnleitner lässt sich auch das Werk Karlweis’ der expressionistischen Literatur zuordnen. Vgl. Sonnleitner, Expressionistische Prosa, S. 301–314. Karlweis versuchte sogar ursprünglich ihren ersten Roman Das Gastmahl auf Dubrowitza im expressionistischen Kurt WolffVerlag zu veröffentlichen. Vgl. Kurt Wolff: Briefe eines Verlegers 1911–1963. Hrsg. von Bernhard Zeller und Ellen Otten. Frankfurt/M.: Büchergilde Gutenberg o. J. (Lizenzausg. H. Scheffler 1966), S. 591. Diesen Hinweis verdanke ich Johann Sonnleitner.
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mentalen Verfall Wiens während des Krieges und unmittelbar danach bildhaft zum Ausdruck: Seht, wie der große Hammer, der das Reich zerschlagen hat, auch auf die Häuser seiner Stadt herniederdröhnt, sie halten nicht stand. Vom First bis in die Grundmauern fährt der Sprung, im Zickzack hinlaufend wie eine Schädelnaht. Manche sind vor die Stirn getroffen, manche morschen vom Hals herauf. Von innen ist das Leben herausgenommen, da fallen die Weichteile in Gruben. Fassaden bröckeln ab, aufs Pflaster hinaus stehen schräg die Stützen, Zimmerdecken stürzen ein über befleckte Wände mit Resten von grell rosa oder schimmlig blaugrüner Bemalung. Wenn es so weit ist, dann wird der modernde Kadaver auf Abbruch verkauft. Es ist beträchtlichen und properen Häusern nicht besser ergangen […]. (Sch, 121)
Der Roman zeigt an diesem Punkt deutlich Indizien der sogenannten Inflationsliteratur, die sich mit der Geldentwertung, den Börsenspekulationen und zahlreichen Bankzusammenbrüchen sowie den Gefahren der Ersten Republik auseinandersetzte. Die häufigsten Motive dieser Literatur waren die Entwertung der bürgerlichen Kultur, der durch die Ziellosigkeit hervorgerufene Wahnsinn sowie die Luxuswelt der Neureichen und die neue Moral der Inflationszeit.27 Karlweis zeigt am Beispiel der verfallenden Bürgerhäuser den ökonomischen Verfall der Wiener, die in patriotischer Naivität hoch verzinste Kriegsanleihen erwerben, die sich aber nach dem Krieg als völlig wertlose erweisen. Die Wirtschaftskrise der frühen 1920er Jahre und die schwierige wirtschaftliche und politische Situation der Ersten Republik haben die ökonomische Lage in Österreich noch mehr erschwert. Mit dieser Situation wird auch die SchnabelFamilie konfrontiert. Nach dem Tod der Großmutter verkaufen die sieben Erben das verfallene Zinshaus an einen Gründungsspekulanten. Nach Abzug der Steuern und Gebühren und »während das Geld von Stunde zu Stunde sank« (Ebd.) erhielten sie dafür »einige Papierscheine«, die sich gleich darauf »in das absolute Nichts verwandelten, aus dem sie stammten.« (Ebd.) Das Haus dagegen wird vom Gründungsspekulanten der Erde gleich gemacht. Das Resultat ergibt ein tristes Bild, das wie folgt beschrieben wird: »Über dem tief aufgewühlten, mit Ziegelresten und Steinen beworfenen Boden steht das fahle, im Sprießen schon
27 Folgende Publikationen behandeln die Inflationsromane der Ersten Republik: Friedrich Achberger: Die Inflation und die zeitgenössische Literatur. In: Franz Kadrnoska (Hg.): Aufbruch und Untergang. Österreichische Kultur zwischen 1918 und 1938. Wien: EuropaVerlag 1981, S. 29–42, Karl Müller : »Inflation«: Literarische Spiegelungen der Zeit. In: Karl Müller, Hans Wagener (Hgg.): Österreich 1918 und die Folgen. Geschichte, Literatur, Theater und Film. Wien: Böhlau 2009, Evelyn Polt-Heinzl: Einstürzende Finanzwelten. Markt, Gesellschaft & Literatur. Wien: Sonderzahl 2009. Dazu auch der Lexikoneintrag Inflationsliteratur auf: https://litkult1920er.aau.at/litkult-lexikon/inflationsliteratur/ (Zugriff: 19. 7. 2019).
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welkende Gras der Großstadt auf. Armselig und verlottert sieht sie aus, die Realität […].« (Sch, 122) Die Wirtschaftskrise der 1920er Jahre und ihre Auswirkungen auf die Großstadt und ihre Einwohner wird ebenfalls am Beispiel Olgas gezeigt, die sich zu dieser Zeit in Berlin aufhält. Nach dem Tod ihres Mannes muss sie sich über Wasser halten und mit kleinen Schneiderarbeiten ihr Brot verdienen. In einem Brief an Kleemann, den ehemaligen Schüler von Robert, schreibt sie: »Seit einiger Zeit ist es ganz hoffnungslos, das ist die Wirtschaftskrise […], da geht es zu wie auf einem ausgesetzten Boot, die unnützen Brotesser wirft man über Bord, das nährt die Fische.« (Sch, 126) Das Leben der berufstätigen Frauen in den Großstädten ist in Karlweis’ Roman ein frappierendes Thema schlechthin. Außer Olga übt auch ihre jüngere Schwester Fritzi einen Beruf aus. Sie ist »die alte Jungfer« (Sch, 176), wohnt mit ihrer Mutter Johanna zusammen und ist – jedenfalls auf den ersten Blick – eine erfolgreiche Angestellte in einem Wiener Großunternehmen. Da sie nach vierundzwanzig Jahren ihres ehrlichen und ergebenen Dienstes in der Firma immer noch nicht befördert wird, rächt sie sich an ihren Arbeitgebern, indem sie in ihrer Firma immer wieder kleine Beträge stiehlt. Da sie daran glaubt, »zur Wiedergutmachung in die Welt geschickt« (Sch, 178) worden zu sein, unterstützt sie mit diesem Geld ihre verarmten Familienmitglieder. »Alles ist vor die Hunde gegangen um mich herum. Ich nicht. Ich hab die Zähne aufeinandergebissen und mir zugeschworen: an mir wird alles reell sein« (Sch, 138) – so ihr Lebensmotto. Dieses lässt sich aber in der von Männern dominierten Stadtwirklichkeit nicht durchsetzen: Als Frau kann Fritzi beruflich nicht mehr aufsteigen und die »Reellität«, auf die sie insistiert, wird zum Betrug. Als dieser »fromme Schwindel« (Sch, 137) ans Tageslicht kommt, versteckt sie sich auf dem Lande und nimmt sich schließlich das Leben. Kurz vor ihrem Ende erscheint ihr alles als Schwindel, »eure höheren Gefühle, eure Geschlechtsliebe, eure Mutterliebe, alles blutiger, schmieriger Schwindel.« (Sch, 188)
7.
Großstadt versus Land
Dass Karlweis Fritzi aufs Land fliehen lässt, mag eine bestimmte Funktion haben: Dadurch wird auf den Gegensatz zwischen der Großstadt und der Provinz sowie auf die Klischees über diese zwei Milieus angespielt. Die Bauern betrachten beispielsweise Fritzi argwöhnisch, denn ihre Anwesenheit kommt ihnen seltsam vor: »Das sei doch sonst nicht Mode bei den Stadtleuten. Die gehen in die Berge, in die Schweiz und wohnen in feinen Hotels.« (Sch, 183) Als Olga dagegen erfährt, dass ihre Schwester sich in Retz versteckt, braust sie auf: »Warum dorthin, wo nichts Gespinst und alles lautere Wahrheit ist? […] Sie soll weg dort,
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weg dort!« (Sch, 181) Olga hat ihren privaten Grund dafür, das Leben auf dem Lande zu idealisieren. In Retz lebt nämlich ihr Sohn, den sie – von Robert gezwungen – als neugeborenes Baby zu Weinviertler Bauern in Pflege gegeben hat. Doch der Großstadt kommt kein idyllisches Leben auf dem Lande entgegen, wodurch Karlweis gegen die zu dieser Zeit sehr populären idyllischen Bilder der Bauernromane kritisch Stellung zu nehmen scheint. »Das kann keiner fassen, was die Bauern geldgierig sind« (Sch, 159), sagt Olgas Sohn Josef. Josef ist Bäcker geworden und arbeitet in der Bäckerei seines verstorbenen Meisters. Die Witwe will Josef nicht nur als Gesellen für sich behalten, ungeachtet dessen, dass er mit der kränklichen Luis verheiratet ist und mit ihr einen kleinen Sohn hat. Das schwache Element muss weg, deswegen wünschen die Weiber Luis den frühen Tod (vgl. Sch, 165). Als Luis tatsächlich stirbt, muss auch das Kind weg: Es kann nicht mit Josefs Adoptivmutter wohnen, denn die Verwandten befürchten, ihren Erbteil zu verlieren. Es ist jedoch nicht ohne Belang, dass das Kind nicht auf dem Lande bleibt, sondern zu Olga nach Wien gebracht wird. Dadurch bekommt sie die Chance, das Versäumte nachzuholen und Mutter zu werden. »Jeder Großstadtroman, und gar jeder Roman der Großstadtjugend, ist ein Denkmal des Dankes für die unsägliche Liebe und unbeschreibliche Aufopferungsbereitschaft der heroischen Dulderin: Mutter«28 schrieb die Arbeiter-Zeitung 1931 über die proletarischen Großstadtromane. Bis dahin passte der Roman von Karlweis nicht zu diesem Muster, denn weder die Großmutter noch ihre Tochter Johanna – die Mutter der Schnabel-Kinder – hatten heroische Züge. Symbolisch ist es allerdings wichtig, dass das neue Leben nicht der Provinz, sondern der Stadt gehört, weil damit trotz der tristen Szenerie der verfallenden Bürgerhäuser und des überall herrschenden Elends ausgerechnet in der Großstadt die Hoffnung auf die Zukunft aufkeimt. Karlweis gestaltet am Ende des Romans ein positives Bild der weiblichen Solidarität. Die Frauen werden zu Trägerinnen des Lebens und der Hoffnung, die Männer dagegen weitgehend marginalisiert. »[S]ie legen Armut zu Armut, und entgegen allen eisernen Wirtschaftsgesetzen entsteht in diesem einzigen Falle daraus nicht Absterben, sondern Leben« (Sch, 191. Hervorhebung von A.J.), wird im letzten Kapitel des Romans über Olga und andere weibliche Familienmitglieder gesagt. Dieser Vitalismus, der laut dem Literaturwissenschaftler Martin Lindner für die Literatur der Zeit von 1900 bis 1955 schlechthin kennzeichnend war29, schafft im Kontext der urbanen Räume eine besondere, diesen Roman kennzeichnende Kategorie: Großstadt und (Über)Leben. 28 N.N.: Großstadtjugend. Ernst Erich Noth: »Die Mietskaserne«. In: Arbeiter-Zeitung 24. 11. 1931, S. 5. 29 In den 1990er Jahren zeigte Martin Lindner auf, dass das Denken der bürgerlichen Intelligenz in der Zeit von um 1900 bis 1955 von einem generellen Denksystem der »Lebensideologie«
Das Großstadtbild in Marta Karlweis’ Familienroman Schwindel
8.
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Schluss
Marta Karlweis legte mit Schwindel einen hauptsächlich in Wien, zum Teil auch in Berlin spielenden Großstadtroman vor, in dem die Großstadt vor allem zum Schauplatz des Verfalls sowohl einer bürgerlichen Familie und deren Moral als auch der hohen Wiener Kultur wird, ferner des künstlerischen Individuums und der klassischen Lebens- und Kunstideale sowie der materiellen Errungenschaften der Stadt, die im Roman am Beispiel des familiären Erbes – des Bürgerhauses, das anfangs zum Spekulationsobjekt und letztendlich einem Trümmerhaufen wird – versinnbildlicht wird. Es handelt sich um einen Verfall, der sich konstant durch zwei Generationen hinweg vollzieht – von der Jahrhundertwende bin hin zu den 1920er Jahren – und der mit dem Untergang der alten Welt, dem Aufkommen der neuen politisch-sozialen und wirtschaftlichen Wirklichkeit während des Ersten Weltkrieges und danach einhergeht. Karlweis scheint aber nicht so sehr dieser neuen Wirklichkeit die Schuld an dem Verfall zu geben, sondern vielmehr dem fassadenhaften Wiener Milieu und den Lebenslügen der Menschen, die entweder durch gutbürgerliche Wohlanständigkeit, durch gespielte Eleganz oder falsche Tüchtigkeit verdeckt werden. Der Roman evoziert eine beunruhigende Atmosphäre der Großstadt, in der die meisten in den Großstadtromanen dieser Zeit auftauchenden Ingredienzien wie moralischer und materieller Verfall, Beschleunigung, Prostitution, bedrückende Menschenmassen, Kriminalität, Abtreibung, Wirtschaftskrise, Inflation, die Verarmung der Bürger und das Elend der Proletarier sowie die Situation der berufstätigen Frauen auf dem von Männern dominierten Arbeitsmarkt anzutreffen sind. Das Besondere dieses Romans ist aber dessen hoffnungsvolles Ende, mit dem es Karlweis gelang, die weibliche Selbstbehauptung mit der Mutterschaft zu verbinden, ein Kompromiss, der zur Zeit der Auseinandersetzung der konservativen und liberalen Kräfte zum Thema »Frau« keine Selbstverständlichkeit war. Im Roman werden nämlich die Frauen zum Fundament der Familie und des mentalen und materiellen Fortbestehens, denn sie sind fähiger als die Männer, sich an die Herausforderung des neuen Alltags anzupassen. Das Kind, das auf dem Lande wahrscheinlich kümmerlich verenden müsste, von der Großmutter aber zu sich genommen wird, lässt einerseits die Heldin die Sünden ihrer Jugend wiedergutmachen, andererseits wird es zum Symbol des Lebens und der Kontinuität. Deren Schauplatz ist die Großstadt, die am Ende des Romans nicht mehr mit Verfall konnotiert wird. bestimmt gewesen war. Die Lebensideologie wird für Lindner zum gemeinsamen Nenner sowohl für das Faschistische und Völkische, das der konservativen radikal-lebensideologischen Ausrichtung zugeordnet wird, als auch für das Humanistische und Mystische. Vgl. Martin Lindner : Leben in der Krise. Zeitromane der neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne. Stuttgart: Metzler Studienausgabe 1994.
Juliane Werner
»La fin de Vienne était dans l’air«. Das Wien der 1920er Jahre aus amerikanischer und französischer Sicht: William Carlos Williams und Emmanuel Bove
Solennelles, telles sont mes r8flexions lorsque j’entre dans une grande ville la nuit, oF chacune des maisons herm8tiquement closes contient son propre secret, oF chaque cœur de ces cent mille poitrines est, par un de ses aspects, un secret pour le cœur le plus proche de lui! Charles Dickens, Un conte de deux villes, übers. v. E. Bove
Orte lassen sich nicht beschreiben, sie werden durch das Schreiben geschaffen. Unter dem zur Erkenntnis werdenden Titel »Von der Unmöglichkeit, Orte zu beschreiben« verwirft der Aufsatz des Wiener Architekten und Schriftstellers Friedrich Achleitner die Vorstellung eines allgemeingültigen Stadtbildes zugunsten unzähliger Stadt-Konstrukte, unter denen jene der Bewohner keineswegs die repräsentativsten sind: Ich konnte […] entdecken, wie schwierig es offenbar für einen Wiener ist, zu seiner Stadt ein halbwegs objektiviertes Verhältnis, etwa zur Geographie oder Topographie, zu bekommen. […] Jeder Fremde lernt eine Stadt strukturell, natürlich mit Stadtplan, heute oft nach Massenverkehrsverbindung etc., kennen, also nach gewissen geographischen oder topographischen Merkmalen. Der Großstädter erlernt seine Stadt buchstäblich schrittweise, von seiner unmittelbaren Umgebung her, von den Schulwegen, Einkäufen, Verwandtenbesuchen, analog dem Lernprozeß der Muttersprache. Er erwirbt also ein zufälliges, von vielen Variablen beeinflußtes Bild seiner Stadt, gewissermaßen eine einmalige, biographische Struktur, ein Konstrukt aus beliebigen Kenntnissen einer Stadt.1
Zwischen der Eingenommenheit des Eingeborenen und der mehr oder minder systematischen Erschließung durch den Touristen bewegt sich der vorübergehend in der Stadt Lebende, eine Kategorie, in die die Schriftsteller Emmanuel Bove und William Carlos Williams fallen: Der noch unbekannte Bove (bürgerlich Bobovnikoff, 1898–1945) übersiedelt im Dezember 1921 von Frankreich nach 1 Friedrich Achleitner : Von der Unmöglichkeit, Orte zu beschreiben. Zu Heimito von Doderers Strudlhofstiege. In: Kai Luehrs (Hg.): »Excentrische Einsätze«. Studien und Essays zum Werk Heimito von Doderers. Berlin, New York: de Gruyter 1998, S. 126–135, hier S. 131.
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Juliane Werner
Österreich zur Verwirklichung seiner literarischen Ambitionen. Im Jänner 1924 trifft der in den USA bereits als Lyriker etablierte Arzt Williams (1883–1963) in Europa ein, Ende März in Wien, zum Zweck einer mehrwöchigen medizinischer Fortbildung. Ihre Reise-Impressionen halten die Autoren in Un Soir chez Blutel (1927) und A Voyage to Pagany (1928) in fiktionalisierter Fassung fest und ergänzen auf diese Weise als ortsfremde Chronisten die Wien-Porträts der österreichischen Literatur um Blicke von außen.
Zwischenräume Die Schauplätze in Un Soir chez Blutel und AVoyage to Pagany sind weitgehend den realen Umgebungen der Reisenden nachempfunden: Während Williams’ Held und Williams selbst sich überwiegend in Wiens Innerer Stadt aufhalten, platziert Bove, der sich seinerzeit im »banlieue viennoise«2 Tulln niederlässt, seinen Helden Maxime Corton im Umkreis vom Schönbrunner Schloss im 13. Wiener Gemeindebezirk Hietzing, der zwar kein Vorort (mehr) ist und via Straßenbahn und Stadtbahn zu erreichen, dennoch: Sechs Kilometer vom Stephansdom als Stadtmittelpunkt entfernt handelt es sich bereits um eine eher ländliche Gegend, der im Roman kein Zentrum als Antithese gegenübersteht. Maxime wählt Wien in Erwartung eines »deuxiHme Paris«3, eine Fehleinschätzung, wie der aus der französischen Hauptstadt mit Großstadtindikatoren Wohlvertraute bald bemerkt. Bove verkörpert nicht nur den »8crivain de la ville«4 (vornehmlich Paris), sondern zugleich den Schriftsteller der zugehörigen ›non-villes‹, der Vororte. 2 Jean-Luc Bitton: Chronologie. In Emmanuel Bove: Romans. Paris: Flammarion 2006, S. 1005–1008, hier S. 1006. Boves Roman hat weniger einen greifbaren autobiographischen Gehalt als eine »signature personnelle«. Paul Renard: La ville-piHge. In: europe 81 (2003), Nr. 895–896. S. 121–128, hier S. 127. William Carlos Williams betont hingegen: »The protagonist was, of course, myself; his experiences, in a measure, mine.« W. C. W.: I Wanted to Write a Poem. The Autobiography of the Works of a Poet [1958]. Hrsg. von Edith Heal. New York: New Directions 1977, S. 45. 3 Emmanuel Bove: Un Soir chez Blutel. In E. B., Romans, S. 330; im Folgenden mit der Sigle ›SB‹ nachgewiesen. Zum Image Wiens als ›zweites Paris‹ vgl. Waldemar Zacharasiewicz: Wandlungen des Wienbilds in nordamerikanischen Literaturen. In: Norbert Bachleitner, Christine Ivanovic (Hgg.): Nach Wien! Sehnsucht, Distanzierung, Suche. Literarische Darstellungen Wiens aus komparatistischer Perspektive. Frankfurt/M. [u. a.]: P. Lang 2015 (= Wechselwirkungen. Österreichische Literatur im internationalen Kontext, Bd. 17), S. 74. 4 Renard, La ville-piHge, S. 121. Viele Werke Boves verweisen schon peritextuell auf die Wichtigkeit des Raums, etwa der posthum erschienene Roman Non-lieu (1945). Als »non-lieux« bezeichnet der Anthropologe Marc Aug8 Transiträume wie Flughäfen, Bahnhöfe, Hotels, Verkehrsmittel. Während der Ort in Zeit und Raum verankerte Kultur darstellt, bietet der schnelllebige, anonyme Nicht-Ort, dessen Inbegriff der Raum des auch bei Bove häufig präsenten Reisenden ist, die Erfahrung eines durch Einsamkeit und Ähnlichkeit gekennzeich-
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Boves Hang zur Peripherie fasziniert besonders den Übersetzer seines Frühwerks und in dieser Funktion Förderers Peter Handke. Beide seien »geradezu vernarrt in die Topographie des Unentschiedenen«, deutet Roman Luckscheiter, ihre »Konzentration auf das Dezentrale, das Interesse am geographisch wie literarisch Randständigen basiert […] auf der gemeinsamen Idee von einem poetischen Mehrwert der Zivilisationszone zwischen Stadt und Land«5 ; sie sei unstrukturierter, weniger festgelegt. Analog zum Vorort, der zwar nicht Zentrum ist, aber doch durch dessen Nähe definiert, verhält sich der Bovesche Held zur Gesellschaft. Auch Un Soir chez Blutel spiegelt die Existenz der Figur im Raum, der sie umgibt und den sie durchquert, verbunden oft mit einem Kommen und Gehen zwischen Peripherie und Zentrum. Einen solchen Übergang, der innerhalb Österreichs ausbleibt, stellt im Roman Maximes Rückkehr nach Paris dar : Die Zunahme an Verkehrsmitteln wie Straßenbahnen und Bussen markiert die Zentrumsnähe, Geschäfte, Bäckereien, Caf8s häufen sich, je weiter der Zug Richtung Stadt vordringt, ebenso bestimmte urbane Archetypen wie der Bettler und die Prostituierte. Im Verlauf der Fahrt richtet sich Maximes Konzentration vor allem auf Schwellenphänomene und Passagen, auf Tunnels, auf Brücken, nach seiner Ankunft schließlich auf Hotels; sein Zwischen-den-Orten-Sein artikuliert sich selbst in der Entscheidung nicht für das »Est-Hitel« oder das »Nancy-Hitel«, sondern für das »Hitel des 2-Gares« (SB 259). Boves Evokationen von Zwischenräumlichkeit zeichnen sich stets durch ein deutliches Ineinandergreifen von Schauplatz und Handlung aus, wie die Bahnfahrt nach Paris illustriert: Die beschleunigte Abfolge flüchtiger Landschaftsbilder löst, charakteristisch für den Reisenden-Chronotopos, eine filmartige Retrospektive in Maxime aus. Die Überwindung weiter Strecken in kurzer Zeit provoziert unwillkürliche Erinnerungen an lang Vergangenes, das innere Geschehen folgt den Eindrücken der Außenwelt. Die aus der Mechanisierung des Verkehrs resultierende Dynamisierung des Zeit- und Raumempfindens – elementarer Umbruch in der Großstadtwahrnehmung seit der Jahrhundertwende – prägt Maximes Paris-Beschreibungen; an ihnen zeigt sich die für die moderne Großstadt typische »rasche Zusammendrängung wechselnder Bilder, der schroffe Abstand innerhalb dessen, was man mit einem Blick umfaßt, die Unneten Provisoriums. Vgl. Marc Aug8: Non-Lieux: Introduction / une anthropologie de la surmodernit8. Paris: Seuil 1992, S. 130. 5 Roman Luckscheiter : Heimat der Heimatlosen. Peter Handke, Emmanuel Bove und das Genre der Vororterzählung. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 37 (2005), H. 1. S. 49–58, hier S. 55–56. Handke übersetzt Mes amis, 1924 (Meine Freunde, 1981), Armand, 1927 (Armand, 1982) und B8con-les-BruyHres, 1927 (B8con-les-BruyHres. Eine Vorstadt, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984). Bei letzterem unterstreicht Handke das Gewicht der Räumlichkeit in diesem »Werk, dessen Held kein sterblicher Mensch ist, sondern die – zumindest – langlebige Vorstadt« (Nachbemerkung, S. 79–82, hier 81f.) durch die Ergänzung des Untertitels Eine Vorstadt.
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erwartetheit sich aufdrängender Impressionen«6. Szenen, in denen Verkehrsmittel nicht nur die städtische Geräuschkulisse transformieren, sondern mit der Geschwindigkeits- auch für eine Gefahrensteigerung sorgen, etwa Franz Biberkopfs Extrem-Fahrt in der ›Elektrischen‹ in Döblins Berlin Alexanderplatz oder Mary K.s Kollision mit einer Straßenbahn in Doderers Strudlhofstiege, bleiben in Boves Wien gänzlich aus. Dass dies nicht nur an der spärlichen Infrastruktur in Hietzing liegt, zeigt der Vergleich mit William Carlos Williams’ Darstellung der Inneren Stadt, die den Verkehr gleichfalls wenig berücksichtigt: »Few motor cars were running, […] Taxis were scarce. Everyone rode upon the street cars and most who rode it were of the laboring class.«7 Hierzu gehört Williams’ Held nicht, Dev Evans bewegt sich, wie Maxime, zu Fuß durch die Stadt. Abgesehen von Spaziergängen im Prater und Ausflügen zur Donau, hält sich Evans, der ein Zimmer in Rathausnähe bewohnt, im Umkreis der Inneren Stadt auf, deren Wahrzeichen er besichtigt, unter anderem das Kunsthistorische Museum, das Parlament, den Stephansdom, die Staatsoper, das Konzerthaus und die Spanische Reitschule. Schon die Aufzählung macht begreiflich, warum die überschaubare Erstleserschaft Williams’ Werk als »a travel book«8 (miss)verstehen kann – auch Ezra Pound, auf dessen Drängen Williams die Europa-Tour unternimmt und dem AVoyage to Pagany gewidmet ist, empfindet das Buch zu einem nicht unwesentlichen Teil als »a simple autobiography of travel«9 – zumal durch die Konvergenz von Romanaufbau und Verortungen: Am Beginn steht die Ankunft in Europa, am Ende die Abreise. Während Boves Held, nicht zum Typus des wissbegierigen Touristen gehörend, den Sehenswürdigkeiten fernbleibt und mit beschränkterem Bewegungsradius teils ziellos umherstreift, erlaubt die Dichte von Evans Programm kaum Abschweifen, das Gesehene wird kommentiert und kontextualisiert, photographischen Momentaufnahmen gleich. Williams erzählt in seinem ersten Roman nach eigenem Ermessen »lyrically«, die Sätze seien »colorful«, auch »particularly descriptive«10. Harry Levin, Verfasser des Vorworts, hält die topographischen Beschreibungen gar für »often impressionistic to the point of distortion«11, was überrascht, da Williams seine Schauplätze klar lokalisiert, bisweilen mit Straßennamen, die literarisierte Stadt 6 Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben (1903). In G. S.: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, Bd. 1. Hrsg. von Rüdiger Kramme et al. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995 (= Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd. 7), S. 116–131, hier S. 117. 7 William Carlos Williams: A Voyage to Pagany. With an introduction by Harry Levin. New York: New Directions 1970, S. 139; im Folgenden mit der Sigle ›VP‹ nachgewiesen. 8 William Carlos Williams: The Autobiography of William Carlos Williams. New York: New Directions 1951, S. 237. 9 Ezra Pound: Dr Williams’ Position. In E. P.: Polite Essays [1937]. Freeport/NY: Books for Libraries Press 1966, S. 67–81, hier S. 78. [Zuerst in: Dial, Nov. 1928.] 10 Williams, I Wanted to Write a Poem, S. 45, 46, 47. 11 Harry Levin: Introduction. In: Williams, A Voyage to Pagany, S. ix–xx., S. xvii.
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weicht nicht spürbar von der reellen ab. Kreiert Bove die Wege, Wohn- und Aufenthaltsorte ebenfalls nach realen Vorbildern, so doch weniger präzise, allerdings lässt sich auch hier nicht von Verzerrung sprechen, eher von Verdichtung, denn, Raumdarstellungen, Emotionen und Sinneseindrücke miteinander verflechtend, scheint es so wie 1903 von Georg Simmel in »Die Soziologie des Raumes« beschrieben, »[…] daß der Raum überhaupt nur eine Tätigkeit der Seele ist, nur die menschliche Art, an sich unverbundene Sinnesaffektionen zu einheitlichen Anschauungen zu verbinden.«12
Sinnesräume Selbst verlassen sind die Wiener Straßen für Boves Helden Maxime gefüllt von Gerüchen und Geräuschen, Formen, Farben und Lichtern. Die Darstellung eines Juniabends und die Erwähnung eines Tizian-Gemäldes folgen so bruchlos aufeinander : C’8tait un soir de juin, d8licieux, parfum8 par les arbres touffus et par les fleurs sauvages qui poussaient dans le parc dont les statues cass8es n’avaient point de bras neufs, dont les ifs abandonn8s depuis des ann8es, mais encore carr8s, servaient de cachettes aux enfants. Un tableau de Titien 8tait parti la vielle pour nourrir la population jusqu’au lundi suivant. (SB 330)13
Obgleich Un Soir chez Blutel, sein dritter Roman, als »plus narratif, moins pointilliste«14 als die vorangehenden Werke gilt, bedient sich Bove wiederholt impressionistischer Farb- und vor allem Lichtgestaltung, wodurch die unheilvolle Aura, die ansonsten die Stadt beherrscht, außer Kraft gesetzt wird: La lune s’8tait lev8e. Elle 8tait toute proche de la terre. Elle 8clairait la chambre comme le jour. C’8tait un jour p.le dans la nuit, venu d’on ne savait oF, qui sur la ville en ruines semblait devoir toujours l’8clairer. Le ciel, comme celui des enfants, n’8tait pas infini. Sous lui, Maxime se sentit soudain plus fort. Il est un moment, avant les grands 8v8nements, oF tous les signes annonciateurs perdent leur sens, oF la catastrophe / force d’Þtre imagin8e, semble tout / coup pass8e, oF ses cons8quences apparaissaient insignifiantes dans les siHcles, oF l’esprit s’apaise. […] Il regagna l’hitel oF toutes les
12 Georg Simmel: Soziologie des Raumes [1903]. In: S., Aufsätze, S. 132–183, hier S. 133. 13 »Es war ein Juniabend, ein reizender, erfüllt vom Duft der dichten Bäume und der wilden Blumen, die im Park wuchsen, dessen zerbrochene Statuen keine neuen Arme hatten, dessen Eiben, seit Jahren verwahrlost, aber noch quadratisch, den Kindern als Versteck dienten. Ein Tizian-Gemälde war am Vorabend weggegangen, um die Bevölkerung bis zum folgenden Montag zu ernähren.« [Übers. d. Verf., wie alle folgenden Zitate aus SB] 14 Bitton [Vorbemerkung]. In: Bove, Un Soir chez Blutel, S. 249.
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chambres sauf la sienne 8taient illumin8es / cause des turbines du Danube encore neuves depuis 1912. (SB 331f.)15
Maximes Tätigkeit im Verlauf der schmalen, zwei Tage umspannenden Handlung ist im Wesentlichen auf die Betrachtung seines Umfelds beschränkt. In seinen Büchern gebe es kein Thema, so Bove, sondern nur das, was man empfinde, und er empfinde besonders stark die Untätigkeit, die daher zur Handlung werde.16 Eigentlicher Held dieser Handlung ist in Un Soir chez Blutel die Stadt selbst: Die Straßen und Häuser von Paris und rund um das Schloss Schönbrunn sind ebenso wenig bloße Kulisse wie die Zimmer, in denen sich Maxime aufhält. Seine Art, Räume sichtbar zu machen, legt vor allem ein Sehnen nach Positionierung nahe. Der Instabilität seines Seins wegen kommt der Qualität des Raumes, Halt zu geben, übergeordnete Wichtigkeit zu; mit Wänden, Mauern, Türen und Fenstern registriert Maxime vor allem jene Raumelemente, die Gefüge gliedern und trennen. Seine nicht verschließbare Wiener Hotelzimmertür und mehr noch sein Fenster bilden eine Barriere zwischen Innen- und Außenraum, zwischen Öffentlichkeit und Privatheit. Aus der relativen Sicherheit des Zimmers heraus lässt das Fenster Maxime ins Weite denken und fühlen, andererseits dringt über diese Schwelle die Umwelt in seine Stube: Le vent p8n8trait dans la piHce, soulevait les rideaux, apportait du parc de Schœnbrunn des bouff8es d’air humide pleines d’insectes qui retrouvaient la fenÞtre ou qui marchaient jusqu’au rebord de l’embrasure pour s’envoler. […] Une horloge d8traqu8e sonnait minuit toutes les heures. Maxime ferma la fenÞtre / cause d’un brouillard l8ger qui voilait le ciel. Les jeunes gens ne jouaient plus sur le terrain. Le mendiant 8tait parti. (SB 332)17 15 »Der Mond war aufgegangen. Er war ganz nah an der Erde. Er erhellte das Zimmer wie der Tag. Es war ein blasser Tag in der Nacht, woher auch immer gekommen, der über der Stadt in Ruinen diese noch immer erhellen zu müssen schien. Der Himmel, wie jener der Kinder, war nicht unendlich. Unter ihm fühlte sich Maxime plötzlich stärker. Es gibt einen Moment, vor den großen Ereignissen, in dem alle Ankündigungszeichen ihren Sinn verlieren, in dem die Katastrophe, da eingebildet, auf einmal vorbei scheint, in dem die Konsequenzen unbedeutend scheinen in den Jahrhunderten, in denen der Geist sich beruhigt. […] Er erreichte das Hotel, wo alle Zimmer außer dem seinen erleuchtet waren durch die noch neuen Donauturbinen von 1912.« 16 Vgl. Emmanuel Bove: Pages de journal, 25. Oktober 1936, zit. n. Raymond Cousse, Jean-Luc Bitton: Emmanuel Bove, la vie comme une ombre. [BHgles:] Le Castor astral 1994, S. 311. 17 »Der Wind drang ins Zimmer, erhob die Vorhänge, brachte aus dem Schönbrunner Park feuchte Luftzüge voller Insekten, die das Fenster wiederfanden oder die bis zum Rand der Fensterbank liefen, um davonzufliegen. […] Eine kaputte Uhr läutete zu jeder Stunde Mitternacht. Maxime schloss das Fenster aufgrund eines leichten Nebels, der den Himmel verschleierte. Die jungen Leute spielten nicht mehr auf dem Platz. Der Bettler war gegangen.« Zur Bedeutung des Zimmers im Werk Boves, vgl. auch: Roger-Yves Roche: Les Chambres d’Emmanuel Bove. In: Sophie Coste, Dominique Carlat (Hgg): Lire Bove. Lyon: Presses Universitaires de Lyon 2003, S. 33–44.
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Was Maxime hier mit einem Handgriff verhindert, steigert sich in der Metropole zur steten Gefahr der Überwältigung des Ich durch die Außenwelt: »Bleich, verdrossen, aufgeregt, unstet erscheinen die Menschen der modernen Civilisation, namentlich in den Centren derselben, in den Grossstädten […]«18, prophezeit 1885 schon Richard von Krafft-Ebing dem allzu Empfindlichen die Nervenkrankheit. Unempfindlich jedenfalls erscheint Maxime in Paris gegen die immense Masse an Stadt-Inskriptionen – Werbetafeln, Plakate, Schilder, Lichter und Neuerungen wie Leuchtreklamen und Videos – die sich zu jener Großstadtsemiotik verdichten, die den zur Entzifferung Unfähigen laut Michel Butor in eine triste Unmündigkeit stürzt.19 Boves Held, der technische Innovationen begrüßt, weiß die neuen Stadterfahrungen »im Rahmen der alten überlieferten von der Natur zu bewältigen«20 ; durch die Anlehnungen der Stadtphysiognomie an die des Menschen erscheinen die Manifestation des Fortschritts als etwas Organisches, Kräne neigen sich über die Stadt wie Hände aus Holz, Gepäckwägen schlängeln sich durch die Menge. Im Pariser Gare de l’Est, dem Bahnhof als Ballungsbereich von Aufregung und Hektik, fühlt sich Maxime schließlich verloren: Die Flut an Ereignissen kommt einer Fragmentarisierung gleich; es gebe zu viele Männer, zu viele Frauen, als dass er sie einzeln hätte visualisieren können (vgl. SB 260). Gerade, dass »die Bedeutung und der Wert der Unterschiede der Dinge und damit der Dinge selbst«21 nivelliert werden, ist Wirkungsprinzip der »Blasiertheit«, der reizabwehrenden Abstumpfung, mit der der Großstädter Simmel zu Folge seine Nerven schützt, die Maxime für sich jedoch nicht erstrebenswert erscheint. Die Bahnhofsszene zeigt sein eigentliches, mit diesem Übermaß korrelierendes Problem, und damit zugleich einen weiteren Zug der Großstadtliteratur : die Isolation des Individuums. Schon in Hietzing bemüht sich Maxime verzweifelt, die Einsamkeit durch flüchtige Bekanntschaften zu überdecken, etwa zur Wienerin Rosa, der er, ohne Kenntnis ihres Nachnamens und ihrer Adresse, recht unvermittelt eröffnet: »Rosa, je vous aime, je suis seul, en bonne sant8, libre. Je ne puis plus vivre ainsi.« Et il lui avait pris les mains en pleurant. Il ne savait que dire pour l’8mouvoir. Il 8tait impuissant devant elle et pourtant il e0t voulu que leurs deux vies n’en fissent qu’une, qu’ils partissent par le monde / la recherche d’une temp8rature qui e0t convenu / l’un et / l’autre. Il e0t d8sir8 que, comme lui, elle f0t seule, prÞte / tout, libre au milieu des
18 Richard von Krafft-Ebing: Über gesunde und kranke Nerven. Tübingen: Laupp 1885, S. 3. 19 Vgl. Michel Butor : La ville comme texte. In: M. B.: R8pertoire V. Paris: Minuit 1982, S. 33–42, hier S. 34. 20 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Aufzeichnungen und Materialien. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991 (= Gesammelte Schriften, Bd. 1), S. 560. 21 Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, S. 121.
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dangers. […] f un carrefour, elle lui demanda de fermer les yeux, de compter jusqu’/ cent. Quand il les rouvrit, elle avait disparu pour toujours. (SB 331f.)22
Die Anonymität vereinfacht hier die Trennung, schafft andererseits Zutrauen, wo kein Vertrauen möglich ist, was eine andere Begegnung noch deutlicher macht: »En se promenant, un aprHs-midi, dans un jardin, il rencontra une jeune fille / qui il raconta tout de suite sa vie, avec le plus d’exactitude possible […]. Il touchait ainsi et ne craignait qu’une chose, tomber sur une personne qui avait sa manie, qui voudrait, la premiHre, raconter sa vie.« (SB 330)23 Es ist dies Maximes drastischer Versuch der Persönlichkeitskonstituierung in einem »Gebilde von höchster Unpersönlichkeit«24, wie Simmel die Stadt in »Die Großstädte und das Geistesleben« nennt; als ein solches Gebilde liefert sie letztlich nur ein Echo für das, was in sie eingebracht wird. Auf ähnliche Weise verwebt Rainer Maria Rilke, der Bove »andächtig verehrte«25, Paris mit der Gefühlswelt seines jungen Dänen Malte Laurids Brigge; die Stadt bilde den »Hintergrund und die Atmosphäre dieser in jedem Augenblick vom eigenen Untergang geprüften Existenz«26, die innere Verlorenheit findet in der äußeren ihre Entsprechung. Da wie dort sorgt die Möglichkeit eines unmerklichen Hinabschlitterns von der metaphysischen in die tatsächliche Obdachlosigkeit für eine Fixierung der Hauptfiguren auf jene, 22 »›Rosa, ich liebe Sie, ich bin allein, in guter Gesundheit, frei. Ich kann so nicht mehr leben.‹ Und er nahm weinend ihre Hände. Er wusste nicht, was er sagen sollte, um sie zu bewegen. Er war machtlos vor ihr und doch hätte er gewollt, dass ihre beiden Leben sich vereinten, dass sie in die Welt aufbrächen auf der Suche nach einer Temperatur, die dem einen und dem anderen genehm wäre. Er hätte gewünscht, dass sie, wie er, allein wäre, bereit zu allem, frei inmitten von Gefahren. […] An einer Kreuzung bat sie ihn, die Augen zu schließen und bis hundert zu zählen. Als er sie wieder öffnete, war sie für immer verschwunden.« 23 »Beim Spaziergang eines Nachmittags, in einem Garten, begegnete er einem Mädchen, dem er auf der Stelle sein Leben erzählte, mit der größtmöglichen Exaktheit […]. Er berührte damit und befürchtete nur eines, auf eine Person zu treffen, die seine Manie hatte, die als erste ihr Leben erzählen wollen würde.« 24 Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, S. 121. 25 Harald Wieser : Ich sehe, also bin ich – allein. In: Der Spiegel, 13. 12. 1982, S. 172–180, S. 172. Bove trifft auf Rilke bei dessen letztem Paris-Aufenthalt 1925, ein Jahr vor Erscheinen von Les Cahiers de Malte Laurids Brigge (1926 [1910]), übersetzt von dem mit beiden Dichtern bekannten Maurice Betz, ebenfalls Autor mit Vorliebe für »paysages urbaines«, wie Bove in seiner Besprechung von Betzû Roman L’Incertain festhält, E. B.: Maurice Betz. In: Les Nouvelles Litt8raires, 10. 10. 1925, S. 2. An Fürsprechern wie Rilke mangelt es Bove nicht: Begeisterte wie Colette, die seinem Romandebut Mes amis zum Erfolg verhilft, Andr8 Gide, Antoine de Saint-Exup8ry, Albert Camus und Samuel Beckett, der Boves Sinn für das »treffende Detail« rühmt (Wieser : Ich sehe, also bin ich – allein, S. 173) und selbst einen Auszug aus Boves Mes amis ins Englische übersetzt, ändern nichts daran, dass Bove, trotz anfänglich größerer Bekanntheit, als »ein Geheimnis« in die Literaturgeschichte eingeht, als »berühmter Romancier, den niemand richtig kennt« (ibid., S. 174). 26 Rainer Maria Rilke: Brief an Rudolf Zimmermann. In: Hartmut Engelhardt (Hg.): Materialien zu Rainer Maria Rilke ›Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge‹. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974, S. 125.
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die dieses Schicksal schon ereilt hat: Wohnungslose, Bettler, Vagabunden, die, deren Misere von der urbanen Unverbindlichkeit gleichsam verursacht und verdeckt wird. Am Fenster stehend sieht Maxime, wie Bettler in der Hoffnung auf eine Spende Fremde verfolgen, andererseits selbst verfolgt werden: »Un mendiant dormait devant l’hitel sur cinq chaises de jardin. D’une chambre lointaine oF des rires retentissaient, on essayait de l’8veiller en lanÅant sur lui des objets qui, / la fois, sont lourds et ne font pas mal.« (SB 331f.)27 Während Rilkes Protagonisten in seinem Desintegrationsprozess die Panik beherrscht, von diesen sogenannten »Fortgeworfenen«28 als einer der ihren erkannt zu werden, erscheint Maxime – dessen Verfall sich darin andeutet, dass er in Hotels mehrfach voll bekleidet zu Bett geht – dem Szenario nicht ganz abgeneigt. Schon früher hat er versucht, sich in die Armut zu stürzen, nicht mehr zu arbeiten, zu hungern und in heruntergekommenen Hotels zu schlafen, um sich das Gefühlsspektrum des echten Lebens und Leidens zu eröffnen: C’8tait dans la souffrance du monde qu’il voulait entrer. Mais chaque fois elle le d8cevait. Il la croyait plus profonde. Quand il errait dans des quartiers mis8rables, qu’il souhaitait ferm8s au restant du monde, d8sesp8r8s, sans lumiHres, il rageait d’y rencontrer un taxi ou une femme bien vÞtue. Alors, il se tournait vers les misHres des capitales 8trangHres lesquelles lui apparaissaient v8ritables, sans liens avec les classes sup8rieures. (SB 322)29
Dieses Elend der unbekannten Stadt bietet sich ihm in Wien und doch taucht er nicht wirklich ein. Aufgebrochen, so berichtet Maxime rückblickend, sei er in der Tat ohne Hunger oder anderes Unglück zu erwarten, vielmehr von Freiheit berauscht in Anbetracht der tausend Möglichkeiten, die die selbst in steter Wandlung begriffene Großstadt verspricht (vgl. SB 330).
Sozialräume Obwohl ihm in Tulln unter anderem sein erster Roman Mes amis und eine Reihe von Erzählungen gelingen, kehrt Emmanuel Bove im Oktober 1922 nach Paris zurück; er gibt nicht mehr preis als seine Hauptfigur Maxime, die in Wien 27 »Ein Bettler schlief vor dem Hotel auf fünf Gartenstühlen. Von einem fernen Fenster, aus dem Gelächter hallte, versuchte man ihn zu wecken, indem man Objekte nach ihm warf, die zugleich schwer waren und nicht wehtaten.« 28 Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Frankfurt/M., Leipzig: Insel 1982, S. 36. 29 »In den Schmerz der Welt wollte er eintauchen. Doch jedes Mal enttäuschte er ihn. Er hielt ihn für tiefer. Wenn er durch die Elendsquartiere irrte, die er vom Rest der Welt verschlossen, verzweifelt, ohne Lichter wünschte, wurde er wütend, dort ein Taxi oder eine gutgekleidete Frau anzutreffen. Also wandte er sich dem Elend fremder Hauptstädte zu, die ihm echt erschienen, ohne Verbindung zu den höheren Klassen.«
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vergeblich auf eine Anstellung gehofft hat und nur andeutet, man hätte die Sprache kennen müssen (vgl. SB 261, 279): Die Existenz in Österreich habe sich als weniger einfach als vorgesehen erwiesen.30 Dass Bove, der insbesondere wegen des günstigen Wechselkurses mit seiner Frau Suzanne Vallois nach Österreich übersiedelt, ein vom Krieg ruiniertes Land vorfindet,31 hallt im Roman durch Erwähnungen verschiedener Entbehrungen nach; die Hyperinflation der frühen zwanziger Jahre etwa verkörpert eine junge Wienerin, die ihre zehntausend Vorkriegskronen hütet, »[…] auxquelles elle ne touchait pas, qu’elle ne voulait pas m8langer / celles d’aujourd’hui dont le mÞme nombre ne lui e0t permis de subvenir / ses besoins que durant une semaine.« (SB 330)32 Jäh bricht die Vorkriegszeit als glorreiche Vergangenheit hinter den Fassaden der Örtlichkeiten hervor, wie beim Schloss Schönbrunn, »[…] / une terrasse champÞtre 8clair8e par des globes lumineux du temps de la splendeur de Vienne et oF retentissait encore une musique op8rette.« (SB 330)33 Williams’ Hauptfigur Evans, und dies ist die einzige geographische Übereinstimmung zwischen den Schauplätzen der Romane, findet sich auch am Schloss ein, das er als ›lieu de m8moire‹ wahrnimmt, als die verräumlichte Geschichte der Habsburger, wobei seit Vertreibung der Repräsentanten auch das sie repräsentierende Bauwerk verfällt: »The place was lovely, but the sense of departed royalty was everywhere over the ground.« (VP 186) Wo immer sich Zeitschichten überlagern, hat die Gegenwart der Ersten Republik das Nachsehen, was am Mnemotop Schönbrunn besonders zur Geltung kommt: »It is illuminating to be here alone in the garden of the Empress, now before the summer mobs have come, and to be enjoying, because of her, that which she seldom looked at we suppose.« (VP 187) Betonen beide Autoren ein besseres Vorher, ist die Gruppe der Hauptleidtragenden bei Williams eine andere: Wie der Zusammenbruch der Doppelmonarchie die Gesellschaft verändert hat, erfährt sein Held von ehemaligen »people of the world« (VP 168), wie einer vormals reichen Witwe, die nach dem Verlust ihrer englischen ›gold bonds‹ statt dreier Diener nur noch eine »simpleminded old serving maid who still kept up the appearance of old times«, in ihrem 30 Vgl. Bitton, Chronologie, S. 1006. 31 Vgl. Jean-Luc Bitton: Pr8face. In: Bove, Un Soir chez Blutel, S. 5–12, hier S. 6. 32 »[…] die sie nicht anrührte, die sie nicht mit den heutigen vermischen wollte, deren gleiche Anzahl ihr nur eine Woche gestattet hätte, ihre Ausgaben zu bestreiten.« 33 »[…] auf einer ländlichen Terrasse, erhellt von Kugelleuchten aus der Glanzzeit Wiens, und wo noch Operettenmusik nachhallte.« Mehr noch in AVoyage to Pagany ist das Renommee Wiens als Welthauptstadt der Musik präsent, indem sich Evans mit der in Wien lebenden Musiklehrerin Miss Black befreundet, die ihm als Mentorin dient. Im Manuskript »Rome«, eine in Wien und Rom erstellte Notizen-Sammlung, weist Williams ebenfalls auf diesen Anziehungsfaktor hin: »Vienna: Why then do they come here for music and for medicine for Freud […].« W.C.W.: Rome. In: The Iowa Review 9 (1978), Issue 3, Summer, S. 12–65, hier S. 23.
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Apartment beherbergt, »to keep the Socialist City Council from requisitioning half her rooms to house« (VP 169). Eine Baroness entschuldigt sich für den kümmerlichen Zustand der Stadt, die Konversation mündet immer wieder in »[…] the old Vienna, the war and the havoc left after it.« (VP 169) Einst spezialisiert auf die Affären, Gerüchte und Moden des Hofes, büßt die Baroness nach dem Adelsaufhebungsgesetz 1919 nicht nur alle Privilegien ein, sondern entgeht nur knapp dem Hungertod. Sie erklärt ihrem Gast: »It was the better classes who suffered most and the people in the city, […]. The peasants were not so badly off.« (VP 172) Skandalös sei die neue Vulgarität der Massen, der Verfall der Sitten, der Mangel an Respekt vor Hierarchien, so weit, dass es zu Attacken gegen die ›feine‹ Gesellschaft komme: »The people on the street cars, the peasants, the common people elbow you aside, they push, they take everything to themselves. It was not so before. There were good manners in everyone. Now all that is past.« (VP 170) Auch Evans, dem Titel A Voyage to Pagany entsprechend in der Annahme, Europa werde heidnisch,34 äußert sich abfällig über »the crowd, bred of vulgarity« (VP 197), er vermisst die Eleganz, den »aristocratic flash« (VP 139), er selbst ist ein Aristokrat »at heart« (VP 199). Evans Europa-Reise, die ihn auch nach Frankreich, Italien und in die Schweiz führt, steht in der Tradition des als ›grand tour‹ bekannten transatlantischen Bildungs-Tourismus, der insbesondere Medizinstudenten nach Wien bringt, 10.000 zwischen 1870 und 1914, nach der Unterbrechung durch den Ersten Weltkrieg ist die Stadt nach wie vor Anziehungspunkt für amerikanische Ärzte, so auch für Williams, der »a valuable month studying at the famous university«35 verbringt. Anliegen seiner Hauptfigur ist es, sich neue Methoden anzueignen von den Wiener Koryphäen, die für weltberühmte Entdeckungen, renommierte Forschung und ein Höchstmaß an wissenschaftlicher Perfektion stünden (vgl. 34 Williams bezeichnet sich als »an American convinced Europe was turning pagan« (Williams, I Wanted to Write a Poem, S. 45), und distanziert sich von seinen (expatriierten) Kollegen wie Eliot und Pound, die sich statt auf die amerikanische auf die europäische Tradition stützen. Sein Buch »relates to the Jamesian problem of U.S.A. v. Europe« (Pound, Dr Williams’ Position, S. 79) und lässt, gerade wenn Baronessen auftreten, an The Europeans denken, Richard Lehan versteht es als »answer to Henry James’s vision of Europe«. R. Lehan: The City in Literature. An Intellectual and Cultural History. Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press 1998, S. 24, 244. Williams selbst äußert: »I hadn’t read much of Henry James but possibly he influenced me.« (Williams, I Wanted to Write a Poem, S. 47). Sein teils ironischer Umgang mit Heterostereotypen ähnelt vor allem den zugespitzt-klischeehaften Reiseimpressionen von Sinclair Lewis: An American views the Huns. In: The Nation, Vol. 121 (1925), Nr. 3130, S. 19–20, S. 20: »To go to the Heurigen and to hear the yodeling – to go to the Redoutensaal and hear perfect chamber music – to go to the Hermes Villa and see the rooms of the ex-Emperor – to drive through the lovely hills – and most particularly, to meet peasants on the road at sunset and to have them cry ›Grüss Gott‹ as though they meant it […]«, findet er darin als des Erwähnens wert. 35 Williams, The Autobiography, S. 208. Vgl. Zacharasiewicz, Wandlungen, S. 80–82.
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VP 143). Evans beschreibt das Spital, die Institute und die Ärzte, deren Art, Patienten vorzuführen, ihn unangenehm berührt; man würde dort wie ein Tier behandelt, bestätigt ihm seine verkühlte, die Klinik meidende Hausgehilfin (vgl. VP 191). Beschränkt sich seine Empathie bis dahin auf die ›besseren Kreise‹, zeigt Evans auf beruflicher Ebene, dass er mit den ›Armen‹ leidet, den an Tuberkulose, »the Viennese disease« (VP 152), Erkrankten. Für ihn sind die Patienten der Lazarettgasse »the most miserable, the most dejected he had ever beheld« (VP 149), nach einer Woche im Spital weiß er : Wien ist »overflowing with clinical material«, eine veritable Stadt der Kranken. Aus amerikanischer Sicht lässt sich am Ruf vom Morbus Viennensis festhalten, die Tuberkulosesterblichkeit in Wien ist seinerzeit dreimal so hoch wie die in New York36, doch sinken die Mortalitätsraten seit 1918 kontinuierlich: Liegen sie zu Kriegsende noch bei 51,7 Todesfällen auf 10.000 der Wiener Bevölkerung, sind es 1921 noch 25,9, 1923 dann 24,8 und 1924 schließlich 22,5.37 Nur 1922 sieht einen Anstieg auf 29,8; es ist das Jahr, in dem die Inflation ihren Höhepunkt erreicht, vor Eintreffen der finanziellen Hilfe durch die Völkerbundanleihen. Es ist das Jahr, das Bove in Österreich verbringt: Les hipitaux 8taient pleins, la famine, imminente. Plus que l’hiver, l’8t8 proche semblait devoir apporter tous les maux. Par cette soir8e sereine, dans le calme d’une d8sorganisation complHte et accept8e, l’imagination de tous entrevoyait des 8pid8mies que l’on ne pourrait circonscrire / cause de la chaleur, des cadavres d8compos8s, sur les bancs, dans les jardins des 8meutes qui se prolongeraient jusqu’/ la nuit lente / venir. La fin de Vienne 8tait dans l’air.38 (SB 330f.)
36 Vgl. Andreas Weigl: Demographic Transitions Accelerated: Abortion, Body Politics, and the End of Supra-Regional Labor Immigration in Post-War Austria. In: Günter Bischof et al. (Hgg.): From Empire to Republic: Post-World War I Austria: Innsbruck: Innsbruck University Press, New Orleans/LA: UNO-Press 2010 (= Contemporary Austrian Studies, Vol. 19), S. 142–170, S. 154, 153. 37 Daten entnommen aus Elisabeth Dietrich-Daum: Die »Wiener Krankheit«. Eine Sozialgeschichte der Tuberkulose in Österreich. Wien: Verlag für Geschichte und Politik/München: Oldenbourg 2007 (= Sozial- und Wirtschaftshistorische Studien, Bd. 32), S. 266. 38 »Die Spitäler waren belegt, die Hungersnot bevorstehend. Mehr als der Winter schien der nahende Sommer alle Übel zu bringen. Mit diesem ruhigen Abend, in der Stille einer vollständigen und akzeptierten Unordnung, sah die Vorstellung eines jeden die Epidemien voraus, die man nicht eindämmen würde können wegen der Hitze, verrottete Kadaver, auf den Bänken, in den Gärten Aufruhr, der sich bis in die langsam kommende Nacht zog. Das Ende Wiens lag in der Luft.« Eine Paraphrase von Boves letztem Satz findet sich bei Walter Goldinger und Dieter A. Binder: Geschichte der Republik Österreich. 1918–1938. Wien: Verlag für Geschichte und Politik/München: Oldenbourg 1992; sie sagen vom »Gespenst des drohenden Unterganges« (S. 115): 1922, nachdem das Finanzprogramm Seipels gescheitert war, sinkt die Krone auf den 15.000. Teil ihres Goldwertes, »[…] ein völliger Zusammenbruch stand bevor, das Ende Österreichs schien nahe.« (S. 109)
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Alle standortbedingten Spezifika und die der französischen und amerikanischen Perspektive geschuldeten Idiosynkrasien der beiden Stadtbilder überschattet eine gemeinsame Atmosphäre des Niedergangs: Die Wahrnehmung der von wirtschaftlicher Not, von Krankheiten und städtebaulichem Verfall gezeichneten Lebenssphäre der Bewohner lässt sich nicht von der Erlebnissphäre der Besucher trennen. So weichen diese Schilderungen auch nicht allzu sehr von denen aus österreichischer Feder ab: Stefan Zweig kann sich in Die Welt von Gestern des Eindrucks nicht erwehren, dass dem »ungewisse[n], graue[n] und leblose[n] Schatten der früheren kaiserlichen Monarchie«, nach Verlust der galizischen und böhmischen Wirtschaftsstandorte, nun eine Revolution »oder sonst eine katastrophale Lösung« bevorstehe; es sei »kein Mehl, kein Brot, keine Kohle, kein Petroleum vorhanden«, es dränge »die Hauptstadt allein schon zwei Millionen frierend und hungrig«39 zusammen. William Carlos Williams prophezeit zwar keinen Untergang, kalkuliert ihn, indem er die Stadt als Nekropole entwirft, aber gewissermaßen ein: Die Hofburg schaue aus wie ein Grab (vgl. VP 140), auch im »black as night« (VP 141) ausfallenden Stephansdom herrsche eine »tomb-like atmosphere«, wovon die Innenwelt des Helden nicht unberührt bleibt: Der »gloom of the city itself« (VP 142) deprimiere ihn vollkommen, den Ring entlang zu spazieren sorgt für »a feeling of desolation« (VP 140), er fühle sich »gloomy and alone«, dieses neue Wien sei »a mighty depressing place« (VP 142). Dem Unheil des herannahenden Sommers bei Bove steht bei Williams regnerischkaltes Frühlingswetter entgegen, mit dem Effekt einer allgemeinen Trostlosigkeit: In den finsteren Tagen »full of rain« (VP 174) scheint es um so mehr, als habe Wien »better days« hinter sich, es wirkt »beaten« (VP 142) und »let down« (VP 140), was auch für seine vernachlässigten Bewohner gelte; die Wiener seien »frowsy« (VP 183), »subdued, impoverished« (VP 139). Auch sechs Jahre nach Versailles, […], he found Vienna still showing marked traces of a reduced condition. From being one of the world’s greatest capitals, inhabited by a brilliant court, it had become no more than a socialist stronghold, chief city still, it is true, but of a small bankrupt nation, its richest provinces stripped from it to make up Czechoslovakia and the rest of them to the south. The public buildings looked neglected, smoke stained; the stone work on the Rathaus had crumbled incredibly in the ten years since the war began – not a stroke of maintenance having been done upon it during that time. Just now workmen were beginning to repair cornices, ledges and window sills; blocks of new stone stood on the cobbles waiting to be hoisted into place, but very few laborers were on the job. Obviously there was no money. (VP 139)
39 Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers (1944). Frankfurt/M.: Fischer 332002, S. 321.
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Neben den Bauwerken, die durch mangelnde Instandhaltung dem Verfall überlassen werden und den fehlenden Autos, nimmt Williams die inexistente Warenwelt, die leeren Geschäfte als Indiz für die wirtschaftliche Krise des Landes. Vor einem Delikatessengeschäft trifft er auf »more life than in any other place« (VP 140): People were standing looking in through the windows. […] It was perfectly apparent that they were satisfying their appetites by the sight alone. It struck him at once that Vienna, even now, was not eating all it should. And of course it is not the laboring class who are suffering – but the people like myself, the artisans, the professional men, the schoolmen, the people of independent fortune. In front of this store their want was clearly written in their faces. (VP 141)
Boves Held lässt sich beispielhaft zu den betroffenen Hungrigen zählen: Mit einer Unbekannten sucht er ein zerfallenes Hotel gegenüber dem Schloss Schönbrunn auf, wo sie sich, obwohl beide nichts gegessen haben, nur ein Getränk bestellen (vgl. SB 330). Dass die vielen Kaffeehäuser der Stadt laut Evans die einzig gut besuchten Orte sind, liegt daran, dass in ihnen ein ausgedehntes Bleiben geduldet ist, ohne viel zu konsumieren; die Menschen verweilen dort, »as if never intending to move« (VP 141, vgl. 194). Die Lage hat »geradezu eine lähmende Wirkung auf den Willen der Bevölkerung ausgeübt, ihr Schicksal zu meistern«40, schreiben die Historiker Binder und Goldinger über diese Zeit; eine Aussichtslosigkeit, die den vorherrschenden Ausnahmezustand, das Aussetzen des Alltags, erklärt: Il n’y avait plus de jour ni de nuit. On d%nait / toute heure. On dormait l’aprHs-midi. Personne ne travaillait. L’attente en commun d’un grand malheur avait d8truit la r8gularit8 des habitudes. Des pHres de famille sortaient se promener / trois heures du matin. Les enfants se levaient dans la nuit pour jouer. (SB 331)41
Maxime erlebt die desolaten Verhältnisse, die Evans bloß registriert. Auch wenn sein Anteil an Produktion, Konsum und Kommunikation auf ein Minimum beschränkt ist, er nicht teilhat an den kollektivierenden Praktiken, die die Stadt zur Identifikationsfläche für ihre Bewohner machen, steht er der Gesellschaft näher als Williams’ Held. Nichtsdestoweniger bleibt durch Boves Erzählhaltung eine gewisse Distanz zum Geschehen erhalten – »Cam8ra / l’8paule«42 nennt es Frœhlicher – wie gefilmt. Sein Blickwinkel, durchaus ein soziologischer, hat »die 40 Goldinger, Binder : Geschichte der Republik Österreich, S. 130. 41 »Es gab keinen Tag und keine Nacht mehr. Man aß zu jeder Zeit zu Abend. Man schlief am Nachmittag. Niemand arbeitete. Das allgemeine Erwarten eines großen Unglücks hat die Regelmäßigkeit der Gewohnheiten zerstört. Familienväter gingen um drei Uhr morgens spazieren. Die Kinder standen nachts auf, um zu spielen.« 42 Cl8ment Frœhlicher : Creuser l’espace: Emmanuel Bove, romancier des non-lieux. In: RUA-L. Revista da Universidade de Aveiro, 2013/14, Nr. 2, S. 119–136, hier S. 121.
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Welt der Armut aus dem Mitleidston und dem Zolaschen Naturalismus herausgelöst«43, so der Theaterregisseur Luc Bondy, durch den Peter Handke seinerzeit den Autor entdeckt. Boves Bestandsaufnahme berücksichtigt die Determinanten von Randexistenzen und -räumen, entschuldigt sie aber nicht. Am ehesten als »regard cruel«44 wirkt seine Haltung beim Porträt der Pariser Abendgesellschaft, in der Maxime eine in ihren sozialen Klassen gefangene Ansammlung von Lebenslügnern erkennt, die ihn, so sehr sie ihm ein tiefes Gefühl von Isolation geben, auch über sich selbst aufklären. Alle hätten ihre Träume aufgegeben für ein von Gewohnheiten durchdrungenes, ereignisloses Leben (vgl. SB 336), eine Resignation, von der er nicht mehr allzu stark abweicht nach der Entscheidung, dauerhaft in Frieden leben zu wollen, mit Wohnung und Wohnsitzbescheinigung (vgl. SB 319). Suchen Boves Helden üblicherweise nach nichts als »une place parmi les hommes, une place / moi«45, aus dem Gefühl heraus, mitten in eine bedeutungslose Welt gestellt worden zu sein,46 gehört Maxime zu denen, die ahnen, dass es nirgendwo besser wäre. Für ein Gefühl der Zugehörigkeit, nimmt er die Verfestigung in Kauf, jedoch nicht ohne sich einen Ausweg aus dem gefürchteten Mittelmaß offen zu halten: Er schließt sich zuletzt Madeleine an, einer den Andeutungen nach jungen Prostituierten, die er im Pariser Bahnhof kennenlernt und deren Unverstelltheit ihm in seiner Sehnsucht nach Authentizität imponiert.47 Scheint sich Bove hier einmal mehr mit den Zukurzgekommenen des sozialen Erfolgs zu verbünden und eine Ästhetik des Scheiterns zu entwerfen,48 lässt er doch wenig Zweifel an der Heuchelei seines Helden: Maxime fürchtet, von den anderen Gästen der Soir8e in der Öffentlichkeit mit Madeleine gesehen zu werden. Die Sphäre des Elends ist ihm so verschlossen, wie die Bürgerlichkeit seiner Kindheit und Jugend fest an ihm haftet, auch in gesellschaftlicher Hinsicht bleibt er zwischen den Räumen.49 43 Luc Bondy : In der Liebe gibt es kein Verstehen. In: Der Spiegel, 22. 2. 1999, S. 210–214, hier S. 210. 44 Renard, La ville-piHge, S. 125, 127. »grausamen Blick« 45 Emmanuel Bove: M8moires d’un homme singulier [1987]. [Paris:] Calmann-L8vy 1994, S. 26. »einen Platz unter den Menschen, einen Platz für mich.« 46 Vgl. Emmanuel Bove: Journal 8crit en hiver. In: B., Romans, S. 764. 47 Hier ergibt sich eine Verbindung zu Boves Bekanntem Philippe Soupault, in dessen Les derniHres nuits de Paris von 1928 (Pr8face de Claude Leroy. [Paris:] Gallimard 1997, vgl. S. 110f.) sich der Held ebenfalls in eine Pariser Prostituierte verliebt. Den Roman übersetzt 1929 William Carlos Williams, der den letzten Tag seiner Europa-Reise mit Soupault in Paris verbringt. 48 Vgl. Bitton: Pr8face, S. 11. 49 Boves Distanz zur Gesellschaft wird zurückgeführt auf ein auch alle seine Geschichten durchsetzendes Gefühl der Heimatlosigkeit, das in seiner mit vielen Orts- und Milieuwechseln verbundenen Kindheit zwischen den Eltern (russischer bzw. luxemburgischer Herkunft) und ihren jeweiligen Partnern gründet. Vgl. Bitton: Pr8face, S. 6. Während Bove auch im Erwachsenenalter vorübergehend das Land wechselt (Österreich, England, Alge-
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Der Reisebericht in AVoyage to Pagany überrascht zuletzt ebenfalls mit einer Wendung, die Williams zufolge vom seinem tatsächlichen Aufenthalt entschieden abweicht,50 und die nicht nur durch diese Offenbarung seitens des Autors einen leicht konstruierten Anschein hat: Dank einer Romanze zu der in Wien lebenden Musiklehrerin Miss Black gewinnt der Held das zuvor so deprimierende Wien plötzlich lieb als »a part of me«, es wird »familiar« (VP 215), schließlich sogar »my home now, forever« (VP 216). Die Stadtwahrnehmung wandelt sich in beiden Handlungen mit dem zwischenmenschlichen Glück, so dass Evans’ museales Wien am Ende auch nicht mehr wie jenes »halbwegs objektivierte« Wien des Touristen erscheinen kann, von dem eingangs die Rede war ; wie das entlegene Wien Boves, »il n’est pas v8ritablement d8crit, mais produit«51.
rien), kann Williams das Gegenteil von sich behaupten, »as both writer and physician I have served sixty-eight years of a more or less uneventful existence, not more than half a mile from where I happen to have been born«, in Rutherford, New Jersey. William Carlos Williams: Foreword. In: Williams, The Autobiography, o. S. 50 Wie Bove bezieht Williams seine die Reise begleitende Gattin nicht in die Handlung ein, was die Dialektik von Einzelnem und Masse wie auch die Aufnahme romantischer Verwicklungen zu entfalten hilft (vgl. Williams, The Autobiography, S. 237). Er passt sich damit auch den von puritanischen Tugenden weit entfernt scheinenden örtlichen Begebenheiten an: »You see, you Austrians, I’ll bet you couldn’t find ten young men in Vienna 25 years old who haven’t had intercourse with a woman. In America 50 % have never had it. […] When I am tired I go to bed. Not on your life you don’t. If company is interesing you take another drink of coffee and you stay up.« Williams, Rome, S. 37. 51 Frœhlicher, Creuser l’espace, S. 121f.: »ist es nicht wirklich beschrieben, sondern erschaffen.«
Anne Hultsch
»Eine Stadt ohne Sonne«? Elitenwechsel im Wien der Zwischenkriegszeit in Tadeusz/Thaddäus Rittners Romanen
Einleitung Das Werk von Tadeusz Rittner,1 der 1873 in Lemberg geboren und 1921 in Bad Gastein gestorben ist, umfasst Feuilletons, Dramen, Novellen und Romane, wobei bisher vor allem die Feuilletons aus dem Umkreis der Wiener Moderne bzw. des Jungen Polens (Młoda Polska) sowie seine Zweisprachigkeit als Polnisch und Deutsch schreibender Autor im Fokus des Interesses standen.2 Seinen Novellen ist bislang seitens der Forschung fast gar keine Aufmerksamkeit gewidmet worden, seinen vier Romanen keine größere. Mir sind nur wenige Arbeiten, allesamt jüngeren Datums, bekannt, die etwas ausführlicher auf sie eingehen.3 1 Mit Ausnahme seines ersten Prosabandes (Tadeusz Rittner : Drei Frühlingstage und andere Novellen. Berlin/Leipzig: Schuster & Loeffler 1900) erschienen die deutschsprachigen Werke Rittners unter dem eingedeutschten Vornamen Thaddäus, alle polnischen Ausgaben behielten die ursprüngliche Form seines Namens bei. 2 Z. B. Roman Taborski: Tadeusz Rittner, czyli o niebezpieczen´stwie pisarstwa dwuje˛zycznego. In: Roman Taborski: Ws´rjd wieden´skich polonikjw. Krakjw, Wrocław: Wydawnictwo Literackie 1983, S. 139–147; Anna Milanowski: Tadeusz Rittner – Ein Leben und Schaffen zwischen mehreren Kulturen und Arten der literarischen Kunst. In: Eva Reichmann (Hg.): Avantgardistische Literatur aus dem Raum der (ehemaligen) Donaumonarchie. St. Ingbert: Röhrig UniversitätsVerlag 1997, S. 143–168; Anna Milanowski: Czy Tadeusz Rittner był pisarzem polskim czy austriackim? In: German Ritz (Hg.): Recepcja literacka i proces literacki. O polsko-niemieckich kontaktach literackich od modernizmu po okres mie˛dzywojenny. Krakjw: Universitas 1999, S. 63–85; Stefan Simonek: Distanzierte Nähe: Slawische Autoren der Donaumonarchie und deren Position zur Wiener Moderne. In: Opera Slavica; Bd. 11/3 (2001) Brno: 5stav slavistiky Filozofick8 fakulty Masarykovy univerzity 2001, S. 1–13, Dorota Kaczmarek: Translatorische Fehlgriffe in der Eigenübersetzung T. Rittners. In: Acta Universitatis Lodziensis. Folia Germanica 5 (2009), S. 17–27; Fedor B. Poljakov, Stefan Simonek (Hgg.): Günther Wytrzens: Slawische Literaturen – Österreichische Literatur(en). Bern: Peter Lang 2009 (= Wechselwirkungen. Österreichische Literatur im internationalen Kontext, Bd. 12), S. 269–303. 3 Oskar Jan Tauschinski: Kakanischer Balanceakt. Versuch einer Information über Thaddäus Rittner. In: Österreichische Osthefte 16 (1974), S. 414–429; Agnieszka Palej: Interkulturelle Wechselbeziehungen zwischen Polen und Österreich im 20. Jahrhundert anhand der Werke von Thaddäus Rittner, Adam Zielin´ski und Radek Knapp. Wrocław: Oficyna Wydawnicza
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Die Romane, und hauptsächlich um diese wird es mir im Folgenden gehen, sind auf Deutsch sämtlich im Zeitraum von 1918 bis 1921 erschienen, auf Polnisch von 1920 bis 1926, wobei für die postum erschienenen Rittners Frau, die Malerin Zofia Rittner(owa), als Übersetzerin fungierte. Die ersten beiden Romane, Das Zimmer des Wartens, das in dieser Form 1917 geschrieben ist, dessen Vorarbeiten jedoch bis in das Jahr 1906 zurückreichen, und Die Brücke von 1920, weisen autobiographische Züge auf.4 Sie spielen zum Teil in Wien bzw. der Hauptstadt, wo Rittner selbst seit seinem elften Lebensjahr wohnte, die Schule (das Theresianum im vierten Bezirk) besuchte, Jura studierte und schließlich im Ministerium für Unterricht und Cultus (mit Sitz auf dem Minoritenplatz im ersten Bezirk) Karriere machte, ehe er sich im Dezember 1918 pensionieren ließ, nachdem er noch einen Monat zuvor um die Beförderung zum Sektionschef ersucht hatte. 1919 erklärte er sich zum polnischen Staatsbürger,5 kehrte aber nicht dauerhaft in den nun wieder souveränen Staat Polen zurück, sondern blieb in Wien ansässig. Einige seiner Stücke hatten am Wiener Burgtheater Premiere. Die letzten zwei Romane, Geister in der Stadt und Die andere Welt, beide 1920 geschrieben und 1921 auf Deutsch veröffentlicht, wobei es sich bei den Geistern in der Stadt um eine Selbstübertragung aus dem Polnischen handelt, gelten gemeinhin als Revolutionsromane,6 ohne dass in ihnen aber benannt würde, um was für eine Revolution es sich konkret handle. Einige zeitgenössische Kritiken, Maria Kłan´ska und Agnieszka Palej stellen einen direkten Bezug zu Russland her,7 andere sind vorsichtiger, indem sie einen solchen nur erwägen, ohne aus-
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ATUT – Wrocławskie Wydawnictwo Os´wiatowe 2004 (= Dissertationes Inaugurales Selectae, Bd. 7); Wolfgang Straub: »Auch an Revolutionstagen elegant«. Der November 1918 in der österreichischen Literatur der zwanziger Jahre. In: Primus-Heinz Kucher, Julia Bertschik (Hgg.): »baustelle kultur«. Diskurslagen in der österreichischen Literatur 1918–1933/38. Bielefeld: Aisthesis 2011, S. 67–84; Maria Kłan´ska: Thaddäus Rittner als Romancier. In: Edward Białek, Arletta Szmorhun, Iwan Zymomyra (Hgg.): Konstrukte und Dekonstruktionen. Aufsätze und Skizzen zur österreichischen Literatur. Dresden, Drohobytsch: Neisse 2013 (= Seria Biblioteka austracka, Bd. 50), S. 37–66. Vgl. die Zuordnung von Orten, Personen, Ereignissen zu der weiteren Familie Rittners durch dessen Neffen Mikołaj Lenartowski: Rittneriana. In: Pamie˛tnik teatralny 147 (1988), Nr. 4, S. 469–484. Zu den biographischen Daten hier und im Folgenden Zbigniew Raszewski: Z˙ycie Rittnera. In: Tadeusz Rittner : Dramaty. Tom 1. Warszawa: Pan´stwowy Instytut Wydawniczy 1966, S. 32–51. Vgl. zu Rittners Polentum seinen euphorischen, stark mit Lichtmetaphorik arbeitenden Artikel Polens Auferstehung (Von einem Polen aus einer galizischen Ministerfamilie: Polens Auferstehung. In: Neue Freie Presse, Morgenblatt, 7. 11. 1916, S. 3). »Es sind ausgerechnet die beiden wenig geschätzten Romane des bilingualen Thaddäus/Tadeusz Rittner, die von den hier in Betracht gezogenen Texten am komplexesten das Revolutionsthema behandeln« – Straub, Auch an Revolutionstagen, S. 80. Z. B. o. A.: Thaddäus Rittner gestorben. In: Arbeiter-Zeitung, 22. 6. 1921, S. 5 (dort gleich noch die Identifizierung des herrschenden Zweiergespanns in Die andere Welt mit »Lenin und
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zuschließen, dass es doch der »Nahblick«8 auf den Zusammenbruch der Habsburger Monarchie war, der diese Darstellung revolutionären Geschehens ausgelöst habe.9 Der zyklische Aufbau der Romane steht zu dem Prinzip der linearfortschrittsgläubigen bolschewistischen Revolution jedoch im Widerspruch und es fragt sich auch, warum, wenn es sich um einen direkten Bezug zur russischen Revolution handeln sollte, der jeweilige Handlungsort so klar als Wien identifizierbar ist. Zudem ist Rittners 1920 in dem Zeitungsartikel Das blutende Polen zum Ausdruck gebrachte Sicht auf den Bolschewismus wesentlich angewiderter und drastischer als die Verarbeitung der revolutionären Thematik in den Romanen: Aber der Bolschewismus beeilt sich. Er geht unheimlich rasch und energisch zu Werke, fordert von der Welt sofortige Zustimmung, schon heute unbedingten Glauben. Er nimmt sich nicht erst die Mühe, die Uneingeweihten zu belehren, zu überzeugen. Nein, er erobert nicht Seelen, sondern Länder. Nicht mit Palmenzweigen tritt er auf, sondern mit Feuer und Schwert. Was sich ihm widersetzt, das macht er nieder. Und wo er Fuß gefaßt, dort wütet er wie eine wilde Bestie, dort errichtet er eine Herrschaft, deren Schrecken weit entsetzlicher sind, als alles, was man je an blutigem Spuk gesehen. Nicht die ›Erniedrigten und Beleidigten‹ des alten Europa sind jetzt seine Herren und Führer, sondern verschämte Raubtiere, Tyrannennaturen, die bisher Durst litten und sich nun als ›Volksbeglücker‹ an Macht, Grausamkeit und Willkür berauschen.10
Dem wird in diesem Zeitungsartikel das heldenhafte polnische Volk gegenübergestellt, das sich, vom Rest Europas allein gelassen und auf sich selbst gestellt, äußerst tapfer verteidige. Solch eine offensive Gegenkraft ist in den Romanen nicht zu finden. Es sind dort doch die einst unter unterschiedlichem Vorzeichen ›Erniedrigten und Beleidigten‹, die nun zu den Herren werden, so dass es sich also eher um eine soziale oder bürgerliche denn bolschewistische Revolution handelt. Genau dieser Aspekt der – nicht nur durch den Zusammenbruch der Monarchie, sondern auch durch die Zuwanderung vom Lande – veränderten sozialen und gesellschaftlichen Strukturen ist es, der das Bild und die (fragmentarische) Wahrnehmung Wiens in den Romanen Rittners prägt. Er führt dazu, dass neue Räume erschlossen und andere verschlossen werden, dass einzelne Elemente der Stadt sichtbar werden, andere unsichtbar, dass mit den Personen und ihrer Stellung Licht und Dunkelheit wechseln. Trotzky«), -n.: »Die andere Welt«. In: Tages-Post, 10. 12. 1921, S. 11, Kłan´ska, Rittner als Romancier, S. 38, 65, Palej, Interkulturelle Wechselbeziehungen, S. 108. 8 Ernst Heilborn: Das Letzte von Thaddäus Rittner. In: Das literarische Echo 24 (1922), Nr. 7, Sp. 401–403, hier Sp. 402. 9 Diese Deutung legt auch Otto Bauer nahe, wenn er die Geister in der Stadt unter dem Vorzeichen der wirtschaftlichen Umwälzung und sozialen Umschichtung, die im Kontext der österreichischen Revolution stattfanden, behandelt (Otto Bauer: Die österreichische Revolution. Wien: Wiener Volksbuchhandlung 1923, S. 210). 10 Thaddäus Rittner : Das blutende Polen. In: Neue Freie Presse, Morgenblatt, 8. 8. 1920, S. 3.
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Wien-Feuilletons Ehe auf die Romane eingegangen wird, sei zunächst ein kurzer Blick auf Rittners Wien-Feuilletons gerichtet. Diese stammen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und richten sich mehrheitlich an ein polnisches Publikum,11 das über das Leben in der Residenzstadt, sowohl über die Hoch- als auch die Populär- und Alltagskultur (von der Oper bis zum Prater, aus den Salons und von der Straße), unterrichtet werden soll, wie die immer wieder verwendete – manchmal leicht variierte – Überschrift »Z Wiednia« [Aus Wien] deutlich macht. Welches Bild zeichnet Rittner in ihnen von dem urbanen Gebilde Wien? Welche Aspekte der Stadt(Architektur) interessieren ihn? Explizit geht er auf die durch Otto Wagner errichtete Stadtbahn mit ihren Bahnhöfen und ungewohnten, schnell wechselnden Perspektiven aus den Waggonfenstern auf die Stadt als neues wichtiges Organ (Herz) im Organismus der Stadt ein. Die einzelnen Linien der Bahn erscheinen ihm als Venen und Adern.12 Durch die Bahn habe sich die Stadt vergrößert, sei lebendiger geworden. Die Wahrnehmungen von Innen und Außen, Privatem und Öffentlichem, Nahem und Fernem verändern sich dadurch, dass man den Menschen aus der Bahn in die Wohnungen blicken kann. Bis dahin Verborgenes wird sichtbar und es entsteht gleichzeitig durch den ungewöhnlichen Ort, von dem aus man beobachtet, eine Distanz zu bis dahin Vertrautem.13 Über die Bahnhöfe heißt es in diesem Feuilleton: »Przedewszystkiem oryginalne sa˛ jej białe, w ›secesyonistycznym‹ (bardzo umiarkowanym i sympatycznym) stylu zbudowane dworce, uderzaja˛ce prostota˛ swych linij i ´swiez˙os´cia˛ w ornamentyce« [Originell sind vor allem ihre weißen, in ›sezessionistischem‹ (sehr maßvollem und sympathischem) Stil erbauten Bahnhöfe, die durch Einfachheit ihrer Linien und Frische der Ornamente frappieren].14 Rittner erweist sich hinsichtlich der Bahn als Anhänger einer gemäßigten, dem technischen Fortschritt gegenüber offenen Moderne, die sich durch klare Formen aus11 Sie sind u. a. in den Krakauer Periodika Czas und Z˙ycie, in den Lemberger Periodika Gazeta Lwowska und Nasz kraj, in den Warschauer Periodika Kurier Warszawski, Słowo und S´wiat sowie in den deutschsprachigen Wiener Periodika Fremdenblatt, Neue Freie Presse und Österreichische Rundschau erschienen. 12 Tadeusz Rittner : Z Wiednia. In: Czas, 21. 8. 1901, S. 1f., hier S. 1. Vgl. zur Metaphorik der Stadt als Körper Evelyne Polt-Heinzl: Österreichische Literatur zwischen den Kriegen. Plädoyer für eine Kanonrevision. Wien: Sonderzahl 2012, S. 192f. 13 Ähnliches, also ein neuer Blick auf Altvertrautes, wird durch die elektrische Beleuchtung und die elektrisch betriebenen Straßenbahnen ausgelöst: Sie lassen die ›normale‹ Pferdebahn als mechanisches Kinderspielzeug erscheinen bzw. lassen die Gas- und Ölbeleuchtung durch ihr weißes Licht bis zur Nicht-mehr-Wahrnehmbarkeit verblassen (T[adeusz] R[ittner]: Z Wiednia. In: Czas, 23. 1. 1902, S. 1f., hier S. 1). 14 Tadeusz Rittner : Z Wiednia. In: Czas, 21. 8. 1901, S. 1f., hier S. 1.
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zeichnet. Diese Freude an klaren Formen kann man beispielsweise auch angesichts seiner Beschreibung des Faniteums15 sehen, in der er die Einfachheit, Eleganz und Originalität der Ausstattung hervorhebt.16 Der Autor ist 1906 vom fünften in den dritten Bezirk Wiens – auf die Neulinggasse 26, was bis zu seinem Lebensende seine Adresse bleiben sollte – umgezogen, wodurch sich sein Blick auf Wien vollkommen verändert habe, was er in einem Feuilleton verarbeitet, in welchem er die ersten zehn Wiener Bezirke verbal durchwandert.17 Er schätzt an seinem neuen Bezirk vor allem die große polnische Bevölkerungsgruppe, so dass selbst das seltene Deutsch mit polnischem Akzent erklinge.18 Es handelt sich also um ein Wien ohne gebürtige Wiener. Das sozial schwächere Margareten, wo er ab 1898 gewohnt hatte (auf der Zeinlhofergasse 11), erscheint ihm in jeder Hinsicht beschränkt und düster, wobei dies noch durch einen »Analfabetyzm estetyczny« [ästhetisches Analphabetentum], der mit imponierendem Schmutz auf den Straßen einhergehe, unterstrichen wird.19 An dieser und an anderen Stellen wird deutlich, dass Rittners Blick die soziale Dimension nicht ausspart, sondern er, ganz im Gegenteil – und in expliziter Abgrenzung zum Sterne vergebenden Baedeker20 – einen sensiblen Blick für die verschiedenen Milieus und sozialen Probleme hat.21 Er löst jedoch das Soziale nie von dem Ästhetischen. Damit geht einher, dass es seinem Verständnis als Romanautor widerspräche, die Wirklichkeit 1:1 abzubilden: »ich kann nicht die aus der Straße […] sich offenbarende Wirklichkeit,
15 Das Faniteum befindet sich im Wiener Stadtteil Ober-St.-Veit. Es handelt sich um ein Mädchenrekonvaleszentenheim nebst Mausoleum, das Karl Graf Lanckoron´ski seiner bei der Geburt des Sohnes gestorben Frau Franziska, gen. Fanita, Gräfin Attems errichten ließ. Es ist Ende des 19. Jahrhunderts historisierend im Stil der Neorenaissance durch den Architekten Emanuel La Roche errichtet worden (ausführliche Informationen zum Gebäude bietet Aleksandra Szymanowicz-Hren: Faniteum. Sein Bau und seine Geschichte. Wien/Münster : LIT 2018). 16 Tomasz Czaszka [= Tadeusz Rittner]: Z Wiednia. In: Gazeta Lwowska, 6. 9. 1901, S. 1. 17 Tadeusz Rittner : Z Wiednia. In: Czas, 23. 1. 1907, S. 1f., hier S. 1. 18 »Tu słyszy sie˛ czasem ludzi mjwia˛cych po niemiecku (ale z polskim akcentem)« [Hier hört man manchmal Menschen, die Deutsch reden (aber mit polnischem Akzent)] (Tadeusz Rittner : Z Wiednia. In: Czas, 23. 1. 1907, S.1f., hier S. 1). 19 Tadeusz Rittner : Z Wiednia. In: Czas, 23. 1. 1907, S. 1f., hier S. 1. 20 Tadeusz Rittner : Z Wiednia. In: Gazeta Lwowska, 12. 6.1906, S. 1. 21 S. z. B. das anlässlich des Selbstmordes der Autorin Antonia Baumberg verfasste Feuilleton, in dem er anprangert, dass jemand trotz großen Talents an materiellem Elend sterben müsse (Tadeusz Rittner : List z Wiednia. In: Czas, 24. 4. 1902, S. 1f., hier S. 2), oder seine Sicht auf den Arbeiterbezirk Favoriten, der von der Innenstadt durch ein Viadukt getrennt ist, das bei ihm Assoziationen zu Dantes Höllentor weckt (Tadeusz Rittner : Z Wiednia. In: Gazeta Lwowska, 12. 6. 1906, S. 1). Rittner war aufgrund seines Todes 1921 nichts von den Gemeindebauten des sozialdemokratischen sog. ›Roten Wiens‹ bekannt.
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sondern nur die in mir selbst mit der Kraft eines Erlebnisses sich festsetzende und bildende, wenn man will also eine imaginäre Wirklichkeit gestalten.«22 In dem Feuilleton, in dem Rittner auf die ersten zehn Bezirke eingeht, zerlegt er Wien in diese einzelnen Bezirke, die ihre je eigenen Charakteristika aufweisen und ein recht diverses Bild abgeben. Gleichwohl sind sie Teile des Stadtganzen, das von ihm in seiner Gesamtheit als verschlafen, passiv, apathisch, ja, verantwortungslos gemütlich wahrgenommen wird, wodurch jedweder Versuch, sich von diesem oder jenem moralischen Elend zu erheben, paralysiert werde.23 Die Wiener verschließen sich nach Rittner in ihren Vergnügungen »przed głe˛binami i przed […] okropnos´ciami z˙ycia« [vor den Tiefen und vor den Gräueln des Lebens],24 leben mithin ein falsches Leben bzw. schaffen sich eine unechte Welt, so dass das riesige Riesenrad25 gleichberechtigt neben dem Stephansdom zur Stadtsilhouette gehören kann.26
Das Zimmer des Wartens Die Vorarbeiten zu dem ersten Roman Rittners, Das Zimmer des Wartens, tragen den Titel W obcem mies´cie [In einer fremden Stadt].27 Mit dieser fremden Stadt ist Wien gemeint, während sich das Zimmer des Wartens, dessen Tür verschlossen ist, worauf der spätere polnische Titel, Drzwi zamknie˛te [Die verschlossene Tür],28 fokussiert, in der Provinz befindet.
Karl Marilaun: Bei Thaddäus Rittner. In: Neues Wiener Journal, 12. 3. 1920, S. 3f., hier S. 4. Tadeusz Rittner : Z Wiednia. In: Czas, 9. 8. 1902, S. 1f., hier S. 2. Tadeusz Rittner : Z Wiednia. In: Czas, 31. 7. 1901, S. 1f., hier S. 1. Dieses Wort fügt er wie andere, die das Lokalkolorit bestimmen (Bürger, recht freundlich, Hetz, gemütlich, Wurstel-Prater, Belustigungsort, [S]timmung u. a.), auf Deutsch bzw. Wienerisch in seine polnischsprachigen Feuilletons ein, wodurch ein verfremdender Effekt entsteht, der die Aufmerksamkeit gerade auf diese Worte lenkt (Tadeusz Rittner : Z Wiednia. In: Czas, 21. 8. 1901, 24. 4. 1902, 8. 8. 1903, 26. 7. 1904, 23. 1. 1907). 26 Tadeusz Rittner : Z Wiednia. In: Czas, 21. 8. 1901, S. 1f., hier S. 2. 27 Tadeusz Rittner : W obcem mies´cie. In: Czas, 28.5., 30.5., 31.5., 1.6., 2.6., 3.6., 4.6., 6.6., 7.6., 8.6., 9.6., 10.6., 14.6., 15. 6. 1910, jeweils S. 1; Tadeusz Rittner : W obcem mies´ce. Fragment powies´ciowy. In: ders. W obcem mies´ce. Nowele. Lwjw: B. Połoniecki 1912, S. 1–90 und Tadeusz Rittner : [Wieczjr z Aloesem]. In: Pamie˛tnik Literacki 50 (1959), Nr. 3–4, S. 659– 664. 28 Tadeusz Rittner : Drzwi zamknie˛te. Romans. Warszawa: Biblioteka Polska 1922. In einem Gespräch 1916 spricht Rittner davon, dass er »schon einige Jahre« an seinem »Roman ›Das verschlossene Tor‹« arbeite. Und: »Er liegt jetzt nahezu vollendet vor.« (Hermann Menkes: Bei Thaddäus Rittner. In: Neues Wiener Journal, 14. 12. 1916, S. 8).
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Die Handlungszeit des Romans endet mit der Entstehungszeit seines ersten Entwurfs zu Jahrhundertbeginn (1906),29 wie man aus dem Spiel mit den Zinnsoldaten am Romanende entnehmen kann, das ein Gespräch über »die Armee der Japaner«, »Port Arthur« und den »Krieg im Osten« auslöst (Z, 196f.), mithin zeitlich 1904/05 anzusiedeln ist.30 Auch wenn dieser Roman also vor den Zeitraum von 1918 bis 1938 fällt, wobei allerdings seine Fertigstellung und Erstveröffentlichung am Beginn dieses Zeitraums erfolgte (1918),31 soll doch kurz der in ihm gewährte Blick auf Wien vorgestellt werden, weil er meiner Meinung nach Aufschluss für die später entstandenen Romane gewährt, in denen der Stadtname Wiens gar nicht mehr fällt.32 Für das polnische Publikum kommen mehr Wiener Orientierungspunkte in den Text, als sie in der deutschen Variante zu finden sind, was mit dem über die Stadt aufklärenden Charakter der Feuilletons korrespondiert. Es werden zusätzlich ein Mittagessen im Sacher (»obiad u Sachera«) erwähnt sowie Wiener Denkmäler aufgezählt: das Denkmal der Kaiserin Maria Theresa, des Erzherzogs Karl, von Tegetthoff und von Goethe (»Pomnik cesarzowej Marii Teresy, potem arcyksie˛cia Karola … potem ewentualnie Tegethoffa, zreszta˛ moz˙esz wzia˛c´ i Goethego …«).33 Der Protagonist, Adam, hat als Kind in der Provinz durch die sich im Fenster spiegelnden Kerzen des Weihnachtsbaumes die Vision von einer »merkwürdig[] rote[n] Welt« vor dem Fenster, in die er, wenn er schon groß sei, gehen wolle (Z, 21). Diesen »roten Widerschein in den Fenstern« setzt er mit Stadt und konkret mit dem Theater in der Stadt in Verbindung. Diese sind ein Sehnsuchtsort, doch zunächst wird Wien nur durchfahren, um von dort »geradewegs in die warmen Länder«, also in den Süden, zu gelangen (Z, 35). Die eigentliche Ankunft in der Stadt erfolgt zwei Monate später, als Adam »in die Anstalt« kommt (Ebd.). Diese stellt jedoch eine geschlossene Welt für sich dar, also wiederum eine verschlossene Tür, die Erwartungen weckt:
29 Zur Veröffentlichungsgeschichte von W obcem mies´cie Zbigniew Raszewski: Wieczjr z Aloesem, Przybyszewski w nieznanej powies´ci Rittnera. In: Pamie˛tnik Literacki 50 (1959), Nr. 3–4,, S. 651–659, S. 653. 30 Die Seitenzahlen zur Sigle ›Z‹ beziehen sich auf die Ausgabe Thaddäus Rittner : Das Zimmer des Wartens = ›Begegnung‹ in der Büchergilde Gutenberg, Wien: Volksbuchverlag 1969. 31 Thaddäus Rittner : Das Zimmer des Wartens. Roman. Berlin/Wien: Ullstein & Co 1918. 32 Vgl. Andrej Bazilevskij: Wien in den Augen polnischer Schriftsteller (Von der ersten Teilung Polens bis zum Zweiten Weltkrieg). In: Gertraud Marinelli-König, Nina Pavlova (Hgg.): Wien als Magnet? Schriftsteller aus Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa über die Stadt. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1996 (= Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse. Sitzungsberichte, Bd. 637, und Österreichische Akademie der Wissenschaften. Kommission für Literaturwissenschaft. Veröffentlichungen der Kommission für Literaturwissenschaft, Bd. 17), S. 199–222, hier S. 205, 218. 33 Tadeusz Rittner : Drzwi zamknie˛te. Romans. Warszawa: Czytelnik 1958, S. 75, 123.
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Ich dachte: Nun bin ich in Wien, aber sehe es nicht. Und ich bleibe hier viele Jahre, in dieser Stadt, die ich nicht sehen werde. […] Hinter der Mauer war die Straße. […] Ich mußte an eine wunderbare Geschichte denken, die man in der Anstalt einander erzählte, von einem Zögling, der über die Mauer gesprungen und nicht mehr zurückgekehrt war. […] Onkel Adam sagte mir, es wäre der schönste Garten in Wien, und ich hätte Gott zu danken, denn die Luft wäre hier vortrefflich. […] Ich wünschte mir aber, fünf Minuten draußen zu sein oder wenigstens einmal über die Gasse laufen zu dürfen (Z, 45ff.).
Ausgang bekommt Adam erst, als er älter ist. Und nun kehrt sich die Situation um, die sonntägliche, helle Stadt verschließt sich vor ihm: Die Läden waren geschlossen, und die Häuser sahen aus wie Möbel in Überzügen. Die ganze Stadt wurde, weil es Sonntag war, nicht benutzt und steckte im Futteral. Sie will sich mir heute nicht zeigen, dachte ich, und ich darf sie nur heute sehen. Es gab Leute genug in den Gassen, aber nur solche, die wie ich Ausgang hatten. […] Darum spazierte ich etwas gezwungen und rasch. Ich blickte starr vor mich hin und durcheilte wie jemand, der bestimmte Ziele hat, Straßen und Plätze. [Er erlebt dann als Teil »einer lebendigen Masse«, »in einem Bad von menschlichen Körpern« mit, wie eine Königin vorbeifährt und bejubelt wird.] Und bald darauf ging ich wieder durch die Innere Stadt. […] Ich bog in eine Seitengasse ein. In der engen Gasse war es wie in einem Wald, kühl und dunkel. Es roch wie nach Moos. Und zu beiden Seiten standen alte Häuser, schwarz wie von Eisen (Z, 102ff.).
In dieser dunklen Gasse ohne Sonne im Herzen der Stadt (auf dem Ring brannte noch die Sonne; Z, 103), wo olfaktorisch die Natur wieder die Oberhand über die Zivilisation gewinnt, verliert Adam seine Unschuld. Dieses Schachtelprinzip setzt sich in der Anstalt und später in der Behörde, in der Adam nach seinem Studium arbeitet, fort: In den »Eingeweiden« der Anstalt »steckte« eine Kapelle, deren Eingang »sich unter der Erde« befand, »[a]ber wo sie selbst war, konnte [er] vom Hof oder Garten aus nie auch nur beiläufig sagen. Es schien [ihm] oft, als existierte die Kapelle nicht immer, sondern nur dann, wenn man sie besuchte« (Z, 76). Als ähnlich unwirklicher »Riesenkäfig« wird das große Bürogebäude beschrieben: Das Zimmer, in dem ich arbeiten mußte, war nicht sehr groß und etwas schlicht in seiner Einrichtung. Sein Fenster blickte auf eine Mauer, die zu irgendeinem anderen, mir ganz unbekannten Haus gehörte. Wo das unbekannte Haus seine Vorderseite hatte, erfuhr ich niemals; vielleicht bestand es nur aus der einen glatten, blinden, gelblichweißen Mauer. Diese schimmerte manchmal heller bei schönem Wetter. Es sah aus, als ob ein blutarmes Gesicht zu lächeln versuchte. War aber die Sonne weniger deutlich oder ganz abwesend so war der Ausdruck der Mauer weltschmerzlich, ungut, verbittert. […] (Z, 161f.).
Der Kollege Adams zählt als Vorteile der Stadt auf, die man ihm nehmen will und deren erwarteter Verlust ihn zum Selbstmord führt: das Kaffeehaus, die
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schlechte Luft, die Straßenbeleuchtung, Musik, geschminkte und mit Brillanten behängte Weiber, elektrische Öfen (Z, 164). Adam kann immerhin darauf hoffen, dass die Mauer »eines Tages wie ein Vorhang in die Höhe« fliegen und die Freiheit anbrechen werde (Z, 169). – Das dunkle Büro wird ihm zum Zuschauerraum, ein neues Zimmer des Wartens, in dem er weiter hofft, dass sich einst die Tür bzw. der Vorhang öffnen werde.
Die Brücke In Rittners zweitem Roman, Die Brücke, der zeitlich die Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeit umfasst, kommt der Protagonist ebenfalls zum Besuch des Gymnasiums aus der Provinz in die Hauptstadt.34 Die Städter meinen, er müsse »von den großstädtischen Verhältnissen erdrückt werden« (B, 40f.), er orientiert sich jedoch schnell sehr gut in der Stadt (B, 43), deren Sehenswürdigkeiten er sich systematisch und gründlich erschließt (Ebd.), die großen Zusammenhänge bleiben ihm hingegen verborgen, worauf ihn der Ingenieur hinweist: ›Mein Lieber, du hast noch keine Ahnung von der Umgebung der Stadt. Du siehst Pflastersteine, Tramway-Schienen, fünfstöckige Häuser und glaubst, dies gehe so fort, ins Unendliche. Aber du brauchst nur eine halbe Stunde in dieser Richtung zu spazieren, und wo bist du plötzlich? Mitten im allerschönsten Nadelwald. […] Gehst du sie, geradeaus, immer weiter, so kommst du …‹ ›Ich weiß, zum Anatomischen Institut,‹ unterbrach ihn Jakob ungeduldig. ›Ach was! Ich rede ja von großen Distanzen. Es handelt sich um Wochen, Monate. Aber schließlich kommst du nach Italien. Das ist der Weg. Hier beginnt die Straße nach Venedig.‹ (B, 45f.).
Die Stadt wird nirgends beim Namen genannt, die aufgezählten Realien (B, 48f., 57) entsprechen nicht Wien (genannte Straßennamen, Himmelsrichtungen, Baustile stimmen nicht mit der Wirklichkeit überein). Dennoch besteht kein Zweifel, dass es sich auch in diesem Roman bei der namenlosen Hauptstadt um Wien handelt. Nach seinem Abitur, das in die Kriegszeit fällt, und einer ersten sexuellen Erfahrung schreibt Jakob seiner Mutter, dass er »mit dieser Stadt […] schon fertig« sei (B, 176) und fährt mit ihr zusammen nach Italien,35 wo er
34 Die Seitenzahlen zur Sigle ›B‹ beziehen sich auf die Ausgabe Thaddäus Rittner : Die Brücke. Berlin: Ullstein 1920. 35 Vgl. Rittners Feuilleton Polens Auferstehung: »Damals war der Pole selten daheim. Seine tragische Reiselust war geradezu sprichwörtlich. Er hielt sich in Gegenden mit viel Sonne auf – in Gegenden mit viel natürlichem und künstlichem Licht – wie einer, der die Abende auswärts verbringt, weil er weiß, daß zu Hause keine Lampen brennen. […] Das ist nun aber, wenn nicht alles täuscht, das Ende des Flüsterns. Die Fensterläden sind offen. Das Licht
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erkrankt, so dass gleichzeitig mit der äußeren Welt auch seine sehr geordnete innere Welt zusammenbricht. Nichts scheint mehr in seiner Existenz sicher (B, 215) und auch die Dinge, die ihm aus der Vergangenheit einfallen, sieht er nun in einem neuen Lichte (B, 222). »Oh, Jakob war tief gefallen, gewiß. Er hatte seinen Stolz, seine Vergangenheit und seine Zukunft verloren« (B, 226). Auch der ihn umgebenden Welt wird eine Diagnose gestellt: »[V]on Rekonvaleszenz durfte man noch lange nicht sprechen. Und dazu würden vielleicht neue Erschütterungen kommen, der Kampf zwischen den zwei Welten« (B, 183). Der soziale Wandel vollzieht sich schnell, zum einen bereits während des Krieges, zum anderen nach diesem. Es lassen sich schlecht neue Paläste errichten, wenn das nötige Geld und Material fehlen (B, 165). Luftschlösser lassen sich allerdings sehr wohl bauen, wie sehr schön Jakobs Fiebervision zeigt: Der großartige Palast ist aus Pappe. Dies warf ein merkwürdiges Licht auf den vornehmen Minister. Seinen Palast hat er sich selbst gemacht und dazu weder Ahnen noch Maurer gebraucht. Er hat ihn außen mit ehrwürdig grauer Farbe bestrichen und in eine Lücke der alten, aristokratischen Gasse hineingestellt. (B, 198). [Der Baumeister :] ›[…] Ich gebe Ihnen zu, die Frontwand war etwas schadhaft. Der Palast ist neu, mein Ehrenwort, aber – als ich den Auftrag erhielt, ihn zu errichten, standen mir nur minderwertige Materialien zur Verfügung.‹ ›Was wollen Sie,‹ sagte er (wiederum ganz leise), ›in dieser entsetzlichen Zeit […] … Man kann jetzt nicht so ordentlich bauen. Die Ziegel sind unerschwinglich. Darum haben wir Aktenpapier verwendet – unter uns gesagt –, uralte, graue Faszikel aus dem Ministerium für Handel und Gewerbe. […]‹ (B, 206f.).
Jakob hat durch die Erkrankung seine Freiheit eingebüßt, er darf sich nur mehr im Sanatoriumsgarten bewegen, der in seiner Abgeschlossenheit dem Anstaltsgarten aus dem Zimmer des Wartens in nichts nachsteht: Die Sonne war verschwunden, der Garten verfinsterte sich, ein kühler Wind rauschte. Ich will trotzdem …, sagte sich Jakob, wenigstens bis dorthin. Und er ging bis zur Gartenmauer. Er stieg sogar auf eine Bank, um hinüberzuschauen. Er sah die Straße – zum erstenmal seit vielen Monaten. Sieh, dort steht eine Laterne, wahrhaftig. […] (B, 256f.).
Der zweite Roman Rittners endet also dort, wo der erste begann. In einer verschlossenen Welt. Der Garten ist ohne Sonne, Licht kommt von einer Laterne jenseits der Mauer. strömt in die Häuser. Die Gespenster verschwinden.« (Von einem Polen aus einer galizischen Ministerfamilie: Polens Auferstehung. In: Neue Freie Presse. Morgenblatt, 7. 11. 1916, S. 3).
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Geister in der Stadt Während in den ersten beiden Romanen Reales als irreal wahrgenommen wird bzw. Irreales als Fiebervision gekennzeichnet ist, dreht sich diese Sicht in dem dritten Roman um, in dem das Irreale als real erscheint. Bei den Geistern in der Stadt handelt es sich um nicht reale Schauspieler, die in einem nicht realen Theater spielen. Es wird in dem Roman das Leben in einer Hauptstadt »nach dem großen Kriege« bzw. nach einer Revolution dargestellt (G, 5, 65),36 die einst schlichte Arbeiter an die Macht gebracht hat, die schnell zu unkultivierten und an Atemnot leidenden Neureichen geworden sind. Was in dieser nachrevolutionären Welt zählt, ist einzig Besitz. Je protziger die Gebäude, desto besser (G, 23). Bildung, die Wissenschaften, Geburtsadel, Künstlertum sind verpönt, weil sie den Besitz nicht mehren. Die neuen Machthaber ließen »[m]it heiterem Gleichmut […] Bildergalerien, Schauspiel- und Opernhäuser, Literatur und Museen zugrunde gehen« (G, 7), auch Buchhandlungen gibt es keine mehr (G, 48). Der Tochter des Parteioberhaupts und Bürgermeisters erscheinen die Ordnung und Sicherheit, die sie umgeben, als unmenschlich. Sie sind ihr zuwider: »Ich bin krank vor Ungeduld und Sehnsucht nach Abwechslung. Ich kann nicht mit Menschen reden, denn einer ist genau so wie der andere. Ich kann nicht durch die Stadt gehen, denn alle Häuser und Gassen sind einander ähnlich.« (G, 10). Der Bruder des Bürgermeisters, ein sehr reicher – und wider Erwarten gebildeter – Bauer, fällt auf der Straße in der Stadt auf, weil er als einziger immer hinaufschaut, die Gegend betrachtet, statt wie die anderen mit hängendem Kopf rasch und geschäftig durch die Straßen zu eilen (G, 18f.), wie es bereits Adam im Zimmer des Wartens tat. Während Adam aber nicht frei durch die Stadt laufen darf, können die Bewohner es in dem dritten Roman nicht mehr. So sieht der Bruder des Bürgermeisters in der Stadt neue Häuser entstehen, die niemand sonst wahrnimmt (G, 21). Wo die anderen »nichts wie Schutt und Trümmer« erkennen, sieht er »[e]in neues, riesiges, herrlich geschmücktes Gebäude im Herzen der Stadt« (G, 35), »aus Marmor, mit Gold« (G, 36). Die Vermutungen, welchem Zweck dieses Haus wohl dienen werde, sind kulturell so arm, wie das Leben der Menschen, entsprechen aber dem großstädtischen Zeitgeist (es fehlt eigentlich nur noch ein Bankgebäude): Amt – Warenhaus – Kino – Badeanstalt – Hotel (G, 24), bis sie darüber aufgeklärt werden, dass es ein Theater, gar ein Schauspielhaus, also keine Operette oder Kino, sei (G, 25, 30f.). Interessant ist, dass dieses Theater sich in der Bankgasse befindet, denn eine solche gibt es in Wien direkt neben dem Burgtheater. Auch darf wohl »das neue Glashaus im Stadtgarten« mit »herrlichen Palmen« (G, 64), von dem die Rede ist, mit dem 36 Die Seitenzahlen zur Sigle ›G‹ beziehen sich auf die Ausgabe Thaddäus Rittner : Geister in der Stadt. Wien [u. a.]: Rikola-Verlag 1921.
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zwischen 1901 und 1906 errichteten Palmenhaus im Wiener Burggarten identifiziert werden. Der Theaterbetreiber will die Vergangenheit wiederbeleben und umschreiben. Seine Stücke sollen nun gespielt werden: »›Macht ja kein anderes Theater, kein häßlicheres, kein schöneres, als das, nach dem ich mich zurücksehne, genau so wie jenes, das mir meine Stücke zurückschickte.‹« (G, 41). Der Bruder des Bürgermeisters wird von diesem Theater so sehr angezogen, dass er sich nicht entschließen kann, aufs Land zurückzukehren, obwohl es das einzige ist, was ihn in der Stadt noch anspricht: Vom Theater abgesehen war er der Residenz gründlich überdrüssig geworden. Er entschied sich [bei seinen Spaziergängen] meistens für schwächer frequentierte Stadtteile; diese ödeten ihn verhältnismäßig am wenigsten an. Aber einmal zufällig verirrte er sich in eine der belebtesten Hauptstraßen so zwischen elf und zwölf vormittags. Viel Sonne und gemächlich spazierende Hautevol8e. (G, 93). [Er sieht die Schauspielergeister :] Es zeichnete sie eine fast bezaubernde Irrealität aus. Sie erschienen nicht wie lebende Wesen, sondern wie durch ein Wunder belebte Requisiten. Das schadete eigentlich nicht, im Gegenteil; das Antlitz der Stadt war bisher nur zu vernünftig und nüchtern gewesen, und die ungewöhnlichen, beinahe grotesken Erscheinungen brachten etwas Farbe hinein. Übrigens war ihr seltsames Aussehen teilweise durch die nicht ganz zweckmäßige Beleuchtung zu erklären; das Sonnenlicht stand ihnen so schlecht zu Gesicht wie etwa Nachtfaltern oder wiederkehrenden Toten. (G, 95). Jetzt sahen sie viel natürlicher aus, denn die Beleuchtung war künstlich. (G, 96).
Das magische Theater verschwindet zwar wieder, es hat jedoch den Intellektuellen und der Kunst zu neuer Vorherrschaft verholfen, es werden neue Theater errichtet, mehr Leute schauen auf der Straße nach oben, es erscheinen wieder Bücher und werden Bilderausstellungen veranstaltet (G, 154f.). Das Rad der Geschichte dreht sich weiter (G, 156).
Die andere Welt Die andere Welt ist eine unterirdische Gegenwelt, in der sich diejenigen sammeln, die mit den neuen Verhältnissen »nach den großen gesellschaftlichen Umwälzungen« (W, 59) nicht klar kommen (W, 77, 80).37 Es sind viele, die verschwinden (W, 72), und da der Weg ins Ausland versperrt ist (W, 75), kann die Menschen nur die Erde verschlungen haben (W, 75, 163f.). Sie leben »unter der Erde« in einer »Art Riesengrotte« bzw. einem »Labyrinth von unterirdischen 37 Die Seitenzahlen zur Sigle ›W‹ beziehen sich auf die Ausgabe Thaddäus Rittner : Die andere Welt. Leipzig, Wien: Donau Verlag 1921.
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Grotten«, in einer zweiten Stadt. »Ohne Sonne, aber mit Gassen, Plätzen, ja sogar mit Seen und Flüssen« (W, 76). Die andere Welt befindet sich in der Nähe des Friedhofs, so dass die Toten zu Besuch kommen – aus Sympathie, weil sie viele Ähnlichkeiten mit sich selbst sehen (W, 128), dass sie zum Beispiel nur die Vergangenheit anerkennen und dem Ideal der Ruhe das Sonnenlicht geopfert haben (W, 129f.). Das Leben findet zwischen Nacht und Morgengrauen statt, wie der polnische Titel des Textes lautet.38 In diesem Roman sind es nicht die Reichen, die an die Macht gekommen sind, sondern die »Feinde der Reichen« (W, 14),39 aber auch hier gilt die Verachtung der guten Herkunft und Erziehung (W, 15ff.), der Intelligenz und den Künstlern (W, 18, 68, 73), während unter der Erde entsprechend die Vergangenheit (W, 77) und die Abstammung (W, 78) zählen. In der oberirdischen Welt brennt die Sonne auf die Arbeitenden, die Mehrheit leidet grausamsten Hunger (W, 28, 111f.) und unter Wohnungsnot, denn »nach dem Gesetze hatte man nur auf eine bestimmte Menge Luft Anspruch« (W, 12). Der Staatschef hat Angst, als er nachts allein zu Fuß im Armeleuteviertel unterwegs ist. »Sämtliche Fenster sind schon verhängt und schwarz« (W106), auch hier herrscht also keine Sonne. Die Mätresse des Staatschefs befragt nach dem Verschwinden ihres Liebhabers, der gleichzeitig der Sohn des Kanzlers ist, eine Wahrsagerin nach dessen Verbleib. Darüber kann sie der Mutter des jungen Mannes nur bei Dunkelheit berichten: »Die Dinge, über die sie zu reden hatte, vertrugen sich schlecht mit elektrischer Beleuchtung« (W, 157). Nach der »›Schlacht auf der Waldwiese‹« (W, 180, 189) belebt und regt sich oben »die Straße« (W, 190ff.) und es kommt zum erneuten Umsturz, der zunächst »genügend Essen« und »Sonnenschein und behagliche Heiterkeit« bringen soll (W, 197). Nun schließen die Ängstlichen in den »inneren, vornehmsten Stadtteile[n]« ihre »Tore und Fensterläden«, ziehen sich also ins Dunkel zurück (W, 198).
Das Bild Wiens Als seine Inspirationsquelle nennt Rittner : »[…] vor allem […] Wien selbst, das mir viel an tiefer Anregung bietet mit seinem Leben, seinen alten Architekturen, seinen Landschaften und dieser weichen Atmosphäre, von der es umgeben ist.«40 38 Tadeusz Rittner : Mie˛dzy noca˛ a brzaskiem. Powies´c´. Warszawa: Instytut Wydawniczy »Biblioteka Polska« 1921. 39 Unter diesem Titel erfolgte die Adaptierung des Romans für das Theater (Thaddäus Rittner : Die Feinde der Reichen. Schauspiel in acht Bildern. Leipzig, Wien: Donau Verlag 1921). 40 Menkes, Bei Thaddäus Rittner, S. 8.
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Obwohl, wie aus den Feuilletons ersichtlich ist, Rittners Interesse an Wien nicht an erster Stelle der (modernen) Architektur galt, ist doch recht auffallend, dass er in seinen Romanen genau die Aspekte verarbeitet, die auch die zeitgenössischen Architekturtheoretiker kritisierten: der Mangel an Licht, die unklare Struktur der Stadt, die Stilmischungen und fremden Anleihen. Wien bildet in den ersten zwei betrachteten Romanen einen Knoten- bzw. Ausgangspunkt für den Weg nach Italien, sei es mit der Bahn oder zu Fuß. Es stellt aber zugleich selbst einen Ort dar, der begehrenswert ist und der doch nicht zur Gänze erschlossen werden kann, weil es a) Gebäude bzw. ihre Teile gibt, deren Gegenseite unbekannt bleibt, ja deren Existenz nur sicher zu sein scheint, wenn man sich selbst in ihnen befindet (die Kapelle und die Krankenstation in der Anstalt, die vom Büro aus zu sehende Mauer, das magische Theater) und weil b) Menschen an Orten in der Stadt eingeschlossen werden, von denen aus sie höchstens durch Geräusche oder einen unerlaubten Blick über deren Umgrenzung (des Anstaltsgartens, des Sanatoriums) von einer Gegenseite erfahren. Auf diese Weise konkretisiert Rittner, dass ein großes urbanes Gebilde nur in Teilen erfasst werden kann. Dazu trägt auch bei, dass Jakob in Die Brücke bei seiner systematischen Stadterkundung, zu der er die Stadt logisch in Segmente (Osten, Westen) zerlegt, nicht weit kommt. Er kann sich zwar frei bewegen, sieht aber dennoch nur die Sehenswürdigkeiten als einzelne Elemente (wie der Baedeker), die keinen zusammenhängenden städtischen Organismus bilden. Die Stadt hat Fragmentcharakter. Das Innovationspotential sieht Rittner ganz offensichtlich in denjenigen, die vom Land in die Stadt kommen. Der Bruder des Bürgermeisters hat als einziger in den Geistern in der Stadt eine Synthese aus neuem und altem Lebensstil geschafft, er ist reich und kultiviert. Der Theaterbetreiber, der die Kultur reaktiviert, kommt von außerhalb. In Der anderen Welt heißt es explizit: »Nur ein ganz geringer Teil der Menschheit kommt in der Stadt zur Welt. Glücklicherweise. Wohl nur darum lebt die Welt weiter.« (W, 85). Die Stadt benötigt ständigen Zufluss von Neuem, von Einfällen, die sie nicht selbst generieren kann. Sie lebt von Zuwanderern, wie z. B. denen, die in den ersten beiden Romanen als Gymnasiasten aus der Provinz in die Hauptstadt kommen. Der Elitenwechsel bezieht sich insofern nicht nur auf die Umbruchszeiten, wo er vertikal zwischen sozial ›oben‹ und ›unten‹ erfolgt, sondern auch auf die ›normalen‹ Zeiten, wo er horizontal zwischen Stadt und Land stattfindet. Einen Wert der Stadt bilden – neben dem Theater (auch die Stadt ist metaphorisch ein solches) – die mit ihr verbundenen Aufstiegsmöglichkeiten. Allgemein kritisiert wird die Größe der Plätze und die Breite der Straßen – die Tante aus der Provinz erscheint auf ihnen »winzig« und »zitterte ein wenig«, wie es im Zimmer des Wartens heißt (Z, 156). In den Geistern in der Stadt kommt die einzige Person, die bis zum Ende der freien – immateriellen, mithin nicht kom-
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merzialisierbaren – Kunst treu bleibt, als Polizist auf einem großen Platz ums Leben: Da kam eine schwere Maschine, ein apokalyptisches, Feuer und Rauch speiendes Ungetüm, bewegt durch eine neuerfundene, beispiellos brutale (und billige) Kraft, und – zermalte ihn. Eben in dem Augenblick, als er ein wunderbar leichtes und engelhaftes Scherzo begonnen hatte. Er verschwand. Frische Lebenswellen rauschten über ihn hinweg – – (G, 155).
Einen weiteren Stein des Anstoßes stellt der Lärm dar, den nicht nur diese Maschine, sondern auch normale Autos verursachen (G, 14, 25): »Die Wagen rollten zu laut. Wir setzten uns auf eine Bank in den Anlagen« (Z, 157), heißt es bereits im Zimmer des Wartens. In den Geistern in der Stadt wirkt auf den Bruder des Bürgermeisters vom Lande, auf dessen Geist und dessen Sinne, das Tempo des Automobils lähmend: »›Eine Höllenmaschine. Wenn euer ganzes Leben so ist, könnt ihr natürlich weder ordentlich sehen noch hören‹.« (G, 23). Er geht lieber zu Fuß (G, 48), während sich sowohl die Herrscher in Der anderen Welt als auch sein Bruder mit der Droschke oder dem Automobil herumfahren lassen (G, 10f., 23, W, 8, 112, 118). Ein weiteres Kennzeichen der Stadt bildet die schlechte Luft. Aber nicht jedem bekommt die vermeintlich schlechte Stadtluft tatsächlich schlecht, denn immerhin ist es Luft, von der man leben kann. Wenn man an sich gesund sei, könne sie einem nichts Schlechtes anhaben (Z,164, B,40). Selbst die Bewohner der Anderen Welt schöpfen nach Sonnenuntergang in der realen (Stadt-)Welt Luft (W, 79). Ein interessanter Aspekt ist die künstliche bzw. elektrische Beleuchtung. Diese ersetzt nicht nur die Sonne, sondern gereicht Künstlernaturen ausdrücklich zum Vorteil und sorgt dafür, »die ewige Nacht, die uns umgibt – diese kalte, hoffnungslose Finsternis, […] zu vergessen« (Z, 164). In Der Brücke wird über Jakob von seinem Vater gesagt: »›Er ist mein Sohn und gedeiht am besten auf dem Asphalt und bei elektrischer Beleuchtung‹« (B, 40). Von den erst bei Kunstlicht natürlich aussehenden Schauspielergeistern war bereits die Rede. Andererseits gibt es Wahrheiten, die sich nicht mit elektrischer Beleuchtung vertragen (W, 157), so wie Wahrsagerei nicht mit Vernunft. In den drei Romanen, die in der Zeit nach dem großen Krieg spielen, wird jeweils ein großes neues eklektizistisches Gebäude errichtet – ein Papppalast, ein irreales Theater, ein Zentralregierungspalast, dessen reale Existenz im Kontext der beiden anderen Bauten auch in Frage gestellt werden muss. Der Repräsentation durch Bauten wird misstraut, zumal unter dem Bau wirklicher Repräsentationsgebäude immer die zu leiden haben, die sie letzten Endes nicht repräsentieren (W, 114). Über den Lord, der die Gestrigen in Die andere Welt führte, heißt es: »Formschlichtheit imponierte ihm stets am meisten an allen
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menschlichen Künsten« (W, 174). Diese Sicht deckt sich mit der Rittners in den Feuilletons geäußerten. Ist in den ersten beiden Romanen die Sehnsucht prospektiv, so kann man in den letzten beiden von einer retrospektiven Sehnsucht sprechen – nach der Zeit, als man zu Fuß ging, nach der Zeit, wo Kultur eine Rolle im Leben spielte, nach der Zeit, wo Abstammung etwas zählte. Die Stadt muss mit offenen Augen erlaufen werden, und es sind Phantasie, die eigene Imagination erforderlich, um ihre Gegenseiten zu erschließen und dadurch den urbanen Raum in seiner Gänze erfassen zu können. Die Übergänge vom illusionären Schein zum realen Sein und umgekehrt sind fließend (vgl. die oben beschriebene veränderte Wahrnehmung durch das Vorbeigleiten der Stadtbahn an den Wohnungen im ersten Stock), was nur empfindsame Naturen erkennen können. In einer Rezension von Das Zimmer des Wartens heißt es: »Es muß eine Heimat jenseits der Wirklichkeit geben, aber wehe dem, dem die Wirklichkeit nicht auch Heimat bliebe.«41 Auf die Existenz eines fremden oder Gegenraums verweisen bereits die Titel der Romane. Der veränderte Blick auf die Stadt ist nach dem Krieg nicht mehr vorrangig, wie es noch in den Feuilletons der Fall war, durch technische Neuerungen bedingt, auch wenn diese in einzelnen Episoden eine Rolle spielen, sondern in erster Linie durch die Umstrukturierung sozialer Konstellationen, die die gesamte Konstitution der Romane bestimmen.
41 Ernst Heilborn: Ein autobiographischer Roman. In: Das literarische Echo 21 (1919), Nr. 8, Sp. 466–468, Sp. 467.
Beiträgerinnen und Beiträger
Carstensen Thorsten, Ph.D. (New York University, 2012), Associate Professor für Germanistik an der Indiana University–Purdue University Indianapolis. Arbeitsschwerpunkte: Österreichische Literatur der Moderne und Gegenwart, Literatur und Architektur, Lebensreformbewegungen, Schreiben im Exil. Ausgewählte Publikationen: Romanisches Erzählen. Peter Handke und die epische Tradition (2013), Die Literatur der Lebensreform. Kulturkritik und Aufbruchstimmung um 1900 (Hg. mit Marcel Schmid, 2016), Das Abenteuer des Gewöhnlichen. Alltag in der deutschsprachigen Literatur der Moderne (Hg. mit Mattias Pirholt, 2018), Die tägliche Schrift. Peter Handke als Leser (Hg., 2019). Aufsätze u. a. zu Hermann Bahr, Hermann Broch, Ernst Jünger, Thomas Bernhard und Paul Auster. Erian Martin, nach dem Studium der Germanistik und Geschichte wissenschaftlicher Projektmitarbeiter im FWF-Projekt Transdisziplinäre Konstellationen in der österreichischen Literatur, Kunst und Kultur der Zwischenkriegszeit (2014–2018) am Institut für Germanistik der Universität Klagenfurt. Ausgewählte Publikationen: Die Rote Fahne: Feuilleton in Diensten der kommunistischen Bewegung 1918–1933 (2016), Reportage und Feuilleton – Antipoden im Gleichschritt?. Zur operativen Publizistik Elisabeth Jansteins und Klara Mautners (2017), Ein österreichischer Zola? Zu Jakob Julius Davids »Wiener Romanen« (2018), »Endlich unser Vaterland, Sowjetrußland«. Zu Russland-Diskursen im Feuilleton der Wiener Roten Fahne (2019). Fähnders Walter, apl. Prof. für Neuere Germanistik an der Universität Osnabrück, dem 2004 die Festschrift Unruhe und Engagement gewidmet wurde. Arbeitsschwerpunkte: Literatur und Kultur sozialer Bewegungen, Literatur der Moderne und der europäischen Avantgarde. Neuere Publikationen (Auswahl): Avantgarde und Moderne 1890–1933 (22010); Projekt Avantgarde (2019). (Mit-) Herausgeber von: Autorinnen der Weimarer Republik (2003), »Laboratorium Vielseitigkeit«. Zur Literatur der Weimarer Republik (2005), Europa. Stadt. Rei-
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sende. Blicke auf Reisetexte 1918–1945 (2006), Die Epoche der Vagabunden. Texte und Bilder 1900–1945 (2009), Metzler Lexikon Avantgarde (2009). Neuere Editionen: Emil Szittya: Herr Außerhalb illustriert die Welt (2014), Ruth LandshoffYorck: Das Mädchen mit wenig PS. Feuilletons aus den zwanziger Jahren (2015), Annemarie Schwarzenbach: Orientreisen (2017). Hanisch Ruth, Dr. in habil., Studium der Kunstgeschichte an der Universität Wien. 1996 Diplomarbeit über den Wiener Architekten Felix Augenfeld. 1997–2002 Mitarbeit an der Professur Geschichte des Städtebaus an der ETH Zürich. 2003 Promotion über Das Bild des Hafens in der Architektur des 18. Jahrhunderts an der Universität Wien. Mitarbeit an der Herausgabe der gesammelten Schriften Camillo Sittes an der Technischen Universität Wien. Lehraufträge an den Universitäten Wien, Edinburgh, der University of Strathclyde in Glasgow, der Hochschule Bochum, der Universität Kassel und der Freien Universität Berlin. 2015 Habilitation Die Extreme berühren sich: Ort und Geschichte in der Wiener Architektur der Moderne an der ETH Zürich, 2018 als Moderne vor Ort. Wiener Architektur 1889–1938 erschienen. Arbeitsschwerpunkt: Architektur und Städtebau des 19. und 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. Hofeneder Veronika, Dr.in, Literaturwissenschaftlerin, Lehrbeauftragte am Institut für Germanistik der Universität Wien; Editionstätigkeit und Publikationen zu Gina Kaus und Vicki Baum sowie zur Kultur und Literatur der Zwischenkriegszeit. Neueste Publikationen (Auswahl): Revolution und Literatur – Russland-Diskurse in der Zeitschrift Sowjet (2019), Vicki Baum: Makkaroni in der Dämmerung. Feuilletons (Hg.in, 22019); Germanistik Grenzenlos. Festschrift für Wynfrid Kriegleder zum 60. Geburtstag (Hg.in mit Nicole Perry, 2018). Hultsch Anne, Dr.in habil., Studium der Ost- und Westslavistik sowie Ev. Theologie an der Universität Hamburg und an der Karlsuniversität Prag, anschließend wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Slavistik/Literaturwissenschaft an der TU Dresden, seit 2018 Universitätsassistentin für russische Literaturwissenschaft an der Universität Wien. Promotion mit der Dissertation »Nicht alle Wege führen nach Rom«. Leben und Werk des Russen Valerij S. Vilinskij. Emigration – Unionismus – Kollaboration (2008), Habilitation mit der Schrift Von Ellbogen und anderen Begehrlichkeiten. Liebe im Werk I. A. Goncˇarovs (2014). Arbeitsschwerpunkte: slavische Avantgarden und literarische Experimente, Fragen der Lyrikübertragung und Transkulturalität, Kulturgeschichte des Vodkas u. a.
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Jachimowicz Aneta, Dr.in habil., Studium der Germanistik an der Warmia und Mazury-Universität in Olsztyn (Polen). 2006 Promotion an der Warschauer Universität zu Das schwierige Ganze. Postmoderne und die Trilogie der Entgeisterung von Robert Menasse (erschienen 2007). 2018 Habilitationsschrift Der historische Roman der Ersten Republik Österreich in ideologiekritischer Sicht. Seit 2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Warmia und Mazury-Universität in Olsztyn. Mehrfache Stipendienaufenthalte, u. a. in Berlin, Hamburg und Wien. Herausgeberin u. a. von Imaginationen des Endes (2015), Geisteskultur – Zwischen Ästhetik und Poetik (2016), Gegen den Kanon – Literatur der Zwischenkriegszeit in Österreich (2017), Anfang. Literatur- und kulturwissenschaftliche Implikationen des Anfangs (2018). Arbeitsschwerpunkt: österreichische Literatur. Kernmayer Hildegard ist assoziierte Professorin am Institut für Germanistik der Universität Graz. 1997 Promotion innerhalb des Interdisziplinären Spezialforschungsbereichs Moderne. Wien und Zentraleuropa um 1900. 2007 Gründung des Zentrums für Kulturwissenschaften an der Universität Graz. Von November 2008 bis Oktober 2010 Marie-Curie-Fellow am Zentrum für Literaturund Kulturforschung (ZfL) Berlin mit dem Projekt Literature and Perception. On the Aesthetic Phenomenology of Central European Modernism. Gastlehre an der Universität Wrocław/Breslau, der Universität Klagenfurt, der Humboldt-Universität zu Berlin sowie der University of Minnesota. Arbeitsschwerpunkte: Literatur und Publizistik vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, Ästhetik und Poetik, Feuilletonforschung, Geschlechterforschung und Kulturwissenschaft. Kucher Primus-Heinz, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Klagenfurt; Leiter mehrerer FWF-Projekte, u. a. des Projekts Transdisziplinäre Konstellationen in der österreichischen Literatur, Kunst und Kultur der Zwischenkriegszeit (2014–18). Gastprofessuren/-dozenturen an den Univ. Halden, Udine, Ljubljana; Max Kade Vis. Prof. an der UIC/Chicago (2008), Botstiber Research Prof. im Rahmen des Fulbright Programms an der Univ. of Vermont/ Burlington (2013). Arbeitsschwerpunkte: Deutsche und österreichische Literatur seit der Romantik bis zur Gegenwart, mit Schwerpunkten auf Romanpoetologie, literarische Beziehungen in Zentraleuropa, Moderne-Avantgarde, Emigration-Exil-Immigration. Neuere (Buch-)Publikationen: Verdrängte Moderne – vergessene Avantgarde (2016), Arthur Rundt: Marylin. Roman (Hg., 2017), Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹. Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938 (Hg. mit R. Unterberger, 2019). Ferner zuletzt u. a.: »Ein Durcheinander mit viel Jazzmusik«: 1928 as a Case Study on Controversial-productive Jazz(Culture) Reception in the Viennese Feuilleton, Literature, Music and Theater (2018), »Unwiderstehlich
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Beiträgerinnen und Beiträger
steigt das Bittere/vom Magen herauf…« Zu Robert Schindels »schöpferische[r] Aneignung der eigenen Wurzeln« (2018), Mehr als »unser einziger, armseliger Widerstand«? Zu Ferdinand Bruckners Zeitstück Die Rassen (1933) und Hermynia Zur Mühlens Unsere Töchter, die Nazinen (1935) (2019). McFarland Rob ist Professor für Germanistik an der Brigham Young University, Provo, Utah, USA. Seit 2001 Co-Direktor von Sophie: A Digital Library of Work by German-Speaking Women (sophie.byu.edu), einer digitalen Sammlung von Literatur, Musik, Journalistik und anderen Werken deutschsprachiger Schriftstellerinnen. Mitherausgeber von Das Rote Wien. Schlüsseltexte der zweiten Wiener Moderne 1919–1934 (2019), englische Ausgabe: The Red Vienna Sourcebook (2019). Andere literaturwissenschaftliche Bücher : Red Vienna, White Socialism and the Blues: Ann Tizia Leitich’s Amerika (2015), Sophie Discovers Amerika: German-Speaking Women Write the New World (mit Michelle Stott James, 2015). Zahlreiche Arbeiten zur urbanen Literatur, zur europäischen Amerika-Rezeption und zur Rekonstruktion von zerstörter historischer Architektur. Polt-Heinzl Evelyne, Dr. in, Literaturwissenschaftlerin, -kritikerin und Ausstellungskuratorin. Publikationen vor allem zur österreichischen Literatur um 1900, der 1920er Jahre und nach 1945 sowie kulturwissenschaftliche Motivuntersuchungen. Österreichischer Staatspreis für Literaturkritik 2017. Monographien zuletzt: Österreichische Literatur zwischen den Kriegen. Plädoyer für eine Kanonrevision (2012), Ringstraßenzeit und Wiener Moderne. Porträt einer literarischen Epoche des Übergangs (2015), Die grauen Jahre – Österreichische Literatur nach 1945. Mythen, Legenden, Lügen (2018). Unterberger Rebecca, Dr. in, Literaturwissenschaftlerin, 2008–2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin im FWF-Projekt Moderne und Antimoderne. Literatur und Kultur der österreichischen Zwischenkriegszeit, 2015–17 Postdoc.-Ass. im FWF-Projekt Transdisziplinäre Konstellationen in der österreichischen Literatur, Kunst und Kultur der Zwischenkriegszeit (beide Universität Klagenfurt), 2017–18 Senior Scientist am Robert Musil-Institut/Kärntner Literaturarchiv, 2018 Fulbright Visiting Scholar an der University of California, Santa Barbara (USA). 2014 Promotion mit Zwischen den Kriegen, zwischen den Künsten. Ernst Krenek – »Beruf: Komponist und Schriftsteller«, ausgezeichnet mit dem WendelinSchmidt-Dengler-Preis für herausragende Dissertationen 2015 (erschienen 2019). Arbeitsschwerpunkte: (österreichische) Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, Reiseliteratur, Inter-/Transmedialitat, besonders Wechselwirkungen zwischen Musik-Klang(lichkeit)-Literatur, Archiv und Edition.
Beiträgerinnen und Beiträger
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Werner Juliane, Dr.in, ist Universitätsassistentin und Lektorin an der Abteilung für Vergleichende Literaturwissenschaft am Institut für Europäische und Vergleichende Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität Wien. Ihre Lehrund Forschungsbereiche umfassen französisch-österreichische Kulturtransfers, Wechselbeziehungen von Literatur und Philosophie, Medical Humanities, Word and Music Studies und Zeitschriftenforschung. Zuletzt von ihr erschienen: Thomas Bernhard und Jean-Paul Sartre (2016), Existentialismus in Österreich. Kultureller Transfer und literarische Resonanz (2019) sowie The International Impact of Sartrean Existentialism (Hg. mit A. Bertschart, im Druck, 2020). Zerovnik Martina, Literatur- und Kulturwissenschaftlerin, seit 2017 Chefkuratorin des GrazMuseums. Arbeitsschwerpunkte: Kunst- und Kulturdiskurse des 19. und 20. Jahrhunderts, Geschlechtskonstruktionen, Repräsentations- und Identitätskonzeptionen. Neuere Publikationen (Auswahl): Im Kartenhaus der Republik. Graz 1918–1938 (Mhg.in, 2019), Apologie der Schaulust: Blickkontakte des frühen Films (Pop-Zeitschrift online, 2016), Bilddichtung und Leben. Poetologische Annäherungen zwischen Literatur und Stummfilm (2016), Carmilla, der Vampir und wir (Mhg.in, Passagen, 2014). Jüngste Ausstellungen (Auswahl): Kino Welt Wien. Eine Kulturgeschichte städtischer Traumorte (Filmarchiv Austria, Eröffnung 2020), ganz normal anders. 30 Jahre Tuntenball (GrazMuseum, 2019), 360 GRAZ. Eine Geschichte der Stadt (GrazMuseum, 2016), Archiv der Schaulust. Eine Geschichte des frühen Kinos 1896–1918 (Filmarchiv Austria, 2016).
Personenregister Im Fließtext genannte Personen:
Abraham, Paul 149 Achleitner, Friedrich 135, 199, 255 Adler, Friedrich 110 Adler, Joseph 79 Adler, Victor 242 Adorno, Theodor W. 93, 227 Altenberg, Peter 98f. Anglet, Andreas 81 Asch, Schalom 241 Auburtin, Victor 98, 134 Auernheimer, Raoul 16, 41, 138 Augenfeld, Felix 17, 183f., 188, 190–198 Ausch, Karl 171 Bach, David Josef 11 Bahr, Hermann 70, 153 Bal#zs, B8la 18, 220 Balzac, Honor8 de 55, 91 Baudelaire, Charles 70 Bauer, Leopold 129 Bauer, Otto 197 Baum, Vicki 8, 11, 166, 241 Behrens, Peter 135 Benatzky, Ralph 11 Benjamin, Walter 24, 94, 96–98, 100f., 243 Berben, Anita 51 Berger, Artur 152 Bergner, Elisabeth 7 Bernfeld, Siegfried 117 Bettauer, Hugo 8, 13f., 18, 23f., 26, 28–31, 33–36, 40, 42, 45–48, 64, 220 Bey, Essad 141 Bienenfeld, Elsa 153
Birkenfeld, Günther 241 Blei, Franz 193 Bloch, Ernst 25 Bock, Anton 118 Bock, Hans 118 Bommersheim, Paul 157–159 Bonaparte, Napoleon 91 Bondy, Luc 269 Börne, Ludwig 90 Bösendorfer, Ludwig 136 Bourdieu, Pierre 207f. Bove, Emmanuel 18f., 255–264, 266–270 Braun, Felix 18, 239 Breitner, Hugo 130, 167 Broch, Hermann 54, 74, 197 Brod, Max 11, 71, 117 Bronfen, Elisabeth 215 Brunswick, Ruth 191, 193 Buber, Martin 117 Busch, Wilhelm 102f. Buttinger, Joseph 191, 197f. Byron, George Gordon 70 Carstensen, Thorsten 14 Certeau, Michel de 204 Chaplin, Charles 233f. Chaplin, Syd 233 Colbert, Carl 109–113, 116, 119–121, 123 Collin d’Harleville, Jean-FranÅois 91 Corbineau-Hoffmann, Angelika 9 Courths-Mahler, Hedwig 29 Csokor, Franz Theodor 14, 54, 140
294 Delille, Jacques 91 Dewailly, Charles 91 Dickens, Charles 77, 255 Dirksmeier, Peter 17, 205, 208 Döblin, Alfred 14, 27, 57, 64, 69, 74–76, 79, 89, 104, 226, 258 Doderer, Heimito von 258 Dörmann, Felix 12, 14, 50f., 53, 64, 67–72, 74–81, 83, 85 Dos Passos, John 89 Dostojewski, Fedor 55 Dubrovic, Milan 190, 194 Eberstadt, Rudolf 112 Eckstein, Ernst 93 Eckstein, Franz 233 Eckstein, Friedrich 136 Ehrenstein, Albert 13, 28, 41 Ehrenzweig, Robert 168, 171, 173–175, 181 Eisler, Hanns 7 Eisler, Rudolf 136 Eisner, Lotte H. 227 Erian, Martin 15 Esm8nard, Joseph-Alphonse 91 Fähnders, Walter 13 Fairbanks, Douglas 103 Fantner, Benedikt 139 Fejos, Paul 172 Feldmann, Else 8, 107, 119–124 Fellner, Ferdinand 129 Felmayer, Rudolf 139 Feuchtwanger, Lion 26 Filene, Edward A. 179 Fischer, Ernst 13, 27, 178, 181 Fonda, Jane 192 Fontane, Theodor 77 Foucault, Michel 17, 60, 204, 213–215 Frank, Josef 17, 136, 184f., 199 Fraß, Rudolf 16, 129, 147 Frei, Bruno 15, 107–120, 123f. Freud, Anna 193 Freud, Ernst 192 Freud, Lux 193 Freud, Sigmund 191f.
Personenregister
Friedell, Egon 232 Frœhlicher, Cl8ment 268 Fröschel, Georg 12 Frucht, Karl 140 Gardiner, Muriel Morris 17, 191f., 196–198 Geoffroy, Julien-Louis 91 Gert, Gisa 177 Gessner, Hubert 129, 147 Girardins, Emile de 92 Goethe, Johann Wolfgang von 277 Goldemund, Heinrich 129 Griffin, Bennett Hill 132 Gropius, Walter 17, 184, 186, 198 Großmann, Stefan 8, 176 Grune, Karl 227 Gunert, Johann 139 Guschelbauer, Edmund 246 Guttmann, Richard 18, 217, 222f., 226, 230 Haas, Willy 51 Handke, Peter 257, 269 Häring, Hugo 184 Hartwig, Mela 17, 203, 206–210, 213 Hauser, Carry 54, 177 Hausmann, Raoul 24 Heine, Heinrich 90, 92f. Heizmann, Jürgen 73 Heller, Hans 194 Heller, Leo 242 Hellman, Lillian 192 Herdan-Zuckmayer, Alice 144 Herzfelder, Henriette 225 Hessel, Franz 97 Hirsch, Johann 169, 176 Hoeflich, Eugen 117 Hofmann, Karl 183, 190, 192, 194–196 Hofmann, Oskar 245 Hofmannsthal, Hugo von 10, 30, 186, 197, 226, 232 Holitscher, Arthur 15, 142f. Hollitscher, Mathilde 192 Holzer, Rudolf 67 Horkheimer, Max 227
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Personenregister
Horv#th, Ödön von Hultsch, Anne 19
72, 142
Jachimowicz, Aneta 18 Jacob, Heinrich Eduard 26, 35 Jacobson, Leopold 67f. Jacobson, Siegfried 123 Jaksch, Franz 147 Jaksch, Hans 131, 135 Jannings, Emil 233 Janowitz, Hans 51 Jerusalem, Else 238 Jung, Carl Gustav 239 Kafka, Franz 71 Kapfinger, Otto 199 Karlweis, Carl 239 Karlweis, Marta 18, 237–240, 243–253 Kaus, Gina 8, 17, 193–196, 203, 207–209, 215f. Kernmayer, Hildegard 15 Kiesel, Helmuth 54 Kisch, Egon Erwin 15, 24 Kläger, Emil 172, 241 Kłan´ska, Maria 272 Klotz, Volker 79 Knepler, Hugo 246 König, Karl 184 Kortner, Fritz 7 Kos, Wolfgang 7 Kosztol#nyi, Dezsö 37 Kracauer, Siegfried 113, 176, 226 Krafft-Ebing, Richard von 261 Kranz, Josef 193 Kraus, Karl 10, 135, 193 Krupnik, Julius 178 Kucher, Primus-Heinz 14, 80 Kuh, Anton 8, 29 Kürnberger, Ferdinand 96f. La Harpe, Jean-FranÅois de 91 Lanckoronski, Karl 186 Lang, Fritz 149 Langenbucher, Wolfgang R. 107 Lazar, Maria 238 Le Corbusier 184
Lederer, Joe 8, 12, 17, 54, 64, 77, 129, 203, 207–210, 212, 215 Lefebvre, Henri 210 Leh#r, Franz 237, 244f. Leitich, Ann Tizia 15f., 143–147, 149, 152–164 Leitner, Maria 15, 138, 142 Lenja, Lotte 7 Leopoldi, Hermann 35f. Lethen, Helmut 26 Levin, Harry 258 Lindemann, Uwe 166, 180 Lissitzky, El 128 Loos, Adolf 17, 129, 184, 187, 189–192, 199 Löw, Martina 17, 204, 207, 209 Luckscheiter, Roman 257 Mahler, Andreas 77 Mahler-Werfel, Alma 194 Majakowski, Wladimir 127 Mann, Heinrich 57 Mann, Thomas 57, 239 Margulies, Hans 57 Mattern, James Joseph »Jimmie« 132 Mayer, Theodor Heinrich 139 McFarland, Rob 16 Meisels, Theodor F. 138 Mendelssohn, Erich 148–150 Menkes, Hermann 71 Mies van der Rohe, Ludwig 127, 142, 184 Miklas, Wilhelm 136 Morand, Paul 25 Morris, William 189 Müller, Erwin 40 Müller, Lothar 89 Müller, Robert 40, 42, 46, 64 Münzenberg, Willi 123 Musil, Robert 8f., 11, 14f., 18, 26, 36, 39f., 64, 87f., 100, 104, 131, 226, 239 Mustafa, Kara 132 Neumann, Robert 8, 12, 14, 54–58, 64, 77 Neurath, Otto 117 Neutra, Richard 149 Nielsen, Asta 233
296 Nietzsche, Friedrich 27, 113 Norelli, Peter 140 Nussenbaum, Lev Abramovicˇ 141 Olden, Rudolf 133 Oscarsson, Ingemar 91 Oud, Johannes Jacobus 184, 195 Palej, Agnieska 272 Pam, Cilli 196 Paoli, Betty 153 Pechacek, Josef 139 Pickford, Mary 233 Pilz, Hans 173 Pokorny, Jan 198 Polgar, Alfred 7–9, 15, 98–104, 113, 131f. Pollak, Marianne 175f., 181 Polt-Heinzl, Evelyne 8, 11, 15, 34, 240 Popper-Lynkeus, Josef 120 Porten, Henny 233 Preisendanz, Wolfgang 93 Ramus, Pierre 60 Redgrave, Vanessa 192 Reinhardt, Max 7 Reiß, Heinrich 223 Rie, Therese 17, 203, 206f., 213 Rilke, Rainer Maria 262f. Rittner, Tadeusz 19, 271–276, 278–280, 283f., 286 Rittnerowa, Zofia 272 Rosenfeld, Fritz 57f., 233f. Roth, Joseph 7f., 15, 18, 23f., 41f., 64, 73, 113, 128, 153, 225, 239 Rubiner, Frida 24 Ruge, Arnold 92 Rundt, Arthur 15, 51, 143 Ruskin, John 189 Salten, Felix 59, 121 Saßmann, Hans 243 Scheffler, Karl 25 Scheu-Riesz, Helene 17, 179f. Schlösser, Hermann 7 Schnitzler, Arthur 7, 30, 50, 53, 70, 85 Schulz, Hugo 242
Personenregister
Schütz, Erhard 9, 14, 35, 37, 42 Seidel, Wenzel 246 Seitz, Karl 130 Selig, Fritz 140 Selim, Josma 11 Selinko, Annemarie 16, 140, 141, 144, 195f. Sidney, Scott 233 Simmel, Georg 10, 82, 88f., 104, 210, 223, 259, 261f. Slama, Theodor Viktor 147f. Sombart, Walter 35 Sonnenfeld, Kurt 14, 54, 59, 63f., 77 Speidel, Ludwig 98 Spender, Stephen 191 Spengler, Oswald 147, 154–157, 159, 162, 225 Spiekermann, Uwe 165 Spiel, Hilde 244 Stifter, Adalbert 132 Straumer, Heinrich 133 Straus, Oscar 68 Strnad, Oskar 17, 129, 136, 184–187, 190, 199 Strobel, Heinrich 134 Stumpf, Christoph 129 Stürgkh, Karl Graf 110 Sudermann, Hermann 233 Sullivan, Louis 198 Süskind, Wilhelm Emanuel 241 Süß, Walter 34, 168f. Taut, Bruno 17, 157, 185f. Tegetthoff, Wilhelm von 277 Theiss, Siegfried 131, 135, 147 Thieß, Frank 57 Tietze, Hans 11 Tizian 259 Tropp, Neumann 75 Tschuppik, Karl 51 Tuchfeld Ambor, Cilli 195f. Tucholsky, Kurt 24 Turner, Victor 205 Unterberger, Rebecca 16 Utz, Peter 15, 94
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Personenregister
Vetter, Hans Adolf 190 Viollat, Georges 91 Vogeler, Heinrich 25 Voss, Dietmar 95 Wagner, Ludwig 170, 178 Wagner, Otto 16, 19, 166, 274 Wassermann, Jakob 49, 239 Weigel, Hans 144, 190 Weihsmann, Helmut 147 Weiner, Marc A. 80 Weininger, Otto 214 Weiskopf, Franz Carl 25 Weisz, Alexander 110 Werner, Juliane 18 Wertheimer, Paul 49
Wiesberg, Wilhelm 246 Williams, William Carlos 18, 255f., 258, 264f., 267f., 270 Winter, Max 107, 115, 118 Woester, Heinz 140 Wolf, Norbert Christian 107 Woolf, Virginia 18, 238 Zerovnik, Martina 17 Ziak, Karl 10, 58 Zimmer, Christiane 197 Zinnemann, Fred 192 Zola, Pmile 55, 269 Zuckerkandl, Berta 194 Zweig, Stefan 7, 54, 162, 267