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German Pages 154 [180] Year 1920
Prof. Dr. C. Isenkrahe
Experimental-Theologie Behandelt vom Standpunkte eines Naturforschers
Bonn 1919 A. M a r c u s & E. W e b e r s V e r l a g
V o n d e m s e l b e n V e r f a s s e r erschienen früher u. a.:
Das Rätsel von der Schwerkraft. Kritik der bisherigen L ö s u n g e n des Gravitations-. p r o b l e m s und Versuch einer n e u e n auf rein mechanischer G r u n d l a g e . B r a u n s c h w e i g 1879. V i e w e g & S o h n .
Uber die Fernkraft und das durch Paul du Bois-Reymond aufgestellte dritte Ignorabimus. Leipzig 1889. T e u b n e r . Das Verfahren der Funktionswieder= holung, s e i n e g e o m e t r i s c h e V e r a n s c h a u l i c h u n g und algebraische A n w e n d u n g .
Leipzig 1897.
Teubner.
Energie, Entropie, Weltanfang, Welt= ende. Trier 1910. Lintz. Neapolitanische Blutwunder. Beobachtet, beschrieben und kritisch erörtert. Manz.
Regensburg
1912.
Das Endliche und das Unendliche. S c h ä r f u n g beider Begriffe, E r ö r t e r u n g vielfacher Streitfragen und B e w e i s f ü h r u n g e n , in denen sie Verwend u n g finden. Münster 1915. Schöningh.
Über die Grundlegung eines bündigen kosmologischen Qottesbeweises. K e m p t e n 1915.
Kösel.
Zum Problem der Evidenz. w a s leistet s i e ?
K e m p t e n 1917.
Was
Kösel.
bedeutet,
Pro!. Dr. C. Isenkrahe
Experimental-Theologie Behandelt vom Standpunkte eines Naturforschers
Opera Dei revelare et confiteri Tob. 12, 7. honorificum est.' „Sehen wir um uns, wo etwas zu gewinnen, wo etwas abzuwehren, wo etwas zu bessern ist. Lassen wir uns an Findigkeit, Weitblick und großzügiger, ausdauernder Arbeit von niemand übertreffen!" Franz Ehrle S. J .
Bonn 1919 A. M a r c u s & E. W e b e r s V e r l a g
Nachdruck verboten. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Copyright by A. Marcus & E. Weber's Verlag, Bonn 1915.
Druck: Otto Wigand'sche Buchdruckerei Q.m.b. H„ Leipzig.
Inhaltsübersicht. Seite
Vorwort
y
Erste
Abteilung.
Rückblicke.
1
I. Experimental-Theologie im Alten Testament II. Experimental-Theologie zu Zeiten Christi und der Apostel III. Experimental-Theologie im christlichen Altertum und im Mittelalter IV. Neuzeitliche Experimental-Theologie Zweite Aasblicke V. VI. VII. VIII. IX. X. XI. XII. XIII. XIV. XV. XVI.
14 16
Abteilung.
für Gegenwart
und
Zukunft.
Das statistische Verfahren Über die Stellungnahme zu den Wundern im allgemeinen Lourder Heilungen. Lourder Veröffentlichungen . . . Der Streit über das Wunder in Oostaker Die Verflüssigung des Januariusblutes in Neapel und meine Bemühungen um diese Frage Andere Blutwunder. Andere Aufgaben der ExperimentalTheologie Stigmatisierte. Wunden und Blut. Ausfall der Ernährung Apologetische Verwertung der den Stigmatisierten eigentümlichen Unterscheidungsgabe Wahrheitsproben anderer Art. Vorherwissen. Maßnahmen zur Sicherung der Echtheit Weitere Möglichkeiten experimenteller Betätigung. Augenwunder Das Ölwunder in Eichstätt Erwägungen zum Schlüsse
Verzeichnis
2 10
der a n g e f ü h r t e n
P e r s o n e n - und S a c h r e g i s t e r
Schriften
.
.
.
27 34 39 52 59 71 86 98 109 116 131 138 152 161
Vorwort. Schon Jahre vorher, ehe die Niederschrift gegenwärtiger Arbeit begann, wurde eine geeignete Vorrede dazu bereits verfaßt, und zwar außer von einem mir unbekannten Redaktionsmitgliede der Trierischen Landeszeitung von so hervorragenden Männern wie Graf H e r t l i n g , Fürst L o b k o w i t z und Papst P i u s X.; ich meinerseits brauche kaum mehr zu tun, als diese Äußerungen aneinander zu reihen. — In der Schlußsitzung der Kölner Katholikenversammlung am 27. August 1903 hielt H e r t l i n g über die „Katholische Wissenschaft" eine ausgezeichnete Rede, in der er u. a. sagte: „Es ist Lehre der Kirche, es ist ausdrückliches Dogma, daß zwischen Glauben und Wissen, zwischen Offenbarung und natürlicher Erkenntnis kein Widerspruch bestehen kann. W a r u m f ü r c h t e t m a n s i c h a l s o vor der W i s s e n s c h a f t , warum ers c h r i c k t man vor e i n e r k ü h n e n , r ü c k s i c h t s l o s e n A n e r k e n n u n g der E r k e n n t n i s k r ä f t e ? Was hier an wirklichen gesicherten Errungenschaften zutage gefördert wird, das kann dem Glauben nicht feindlich sein. So lange also reines, aufrichtiges Wahrheitsstreben die Leitung hat, so lange muß die Bahn frei
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Vorwort.
bleiben, a u c h w e n n d a b e i e i n e o d e r d i e a n d e r e liebgewordene Meinung aufgege,ben werd e n muß. Und so läßt sich jetzt auch sagen, was wir brauchen und was notwendig ist, um die selbstverschuldete. Schwäche unserer Position zu überwinden. Wir brauchen erstens ideale Begeisterung. Wer nur an den Erwerb denkt oder denken muß, wer der entarteten Zeitströmung anhängend das Ziel des Lebens nur in Besitz und Genuß erblickt, der bleibe fern! Aber wer zu s e l b s t l o s e r H i n g a b e an e i n e g r o ß e S a c h e f ä h i g , w e r a u c h zu Op f e r n b e r e i t i s t , der trete ein! , . . Und das zweite, was erforderlich ist, ist aufrichtiges Wahrheitsstreben. Wissen ist Begreifen dessen, was ist und was war: Erfassung, Verknüpfung und Bewertung der T a t s a c h e n in der Natur und in der Menschengeschichte. Wer sich der Wissenschaft widmet, hat sich als erstes Ziel zu setzen: dasjenige, w a s w i r k l i c h ist oder g e s c h i e h t , oder was g e s c h e h e n ist, ohne e i g e n e Z u t a t , r e i n und s c h a r f ins L i c h t zu s t e l l e n . Das ist die Pflicht des Forschers, welche die natürliche Moral einschärft, und sie i s t f ü r K a t h o liken nicht etwa abgeschwächt, sondern im G e g e n t e i l v e r s c h ä r f t " 1 ) . — Vortrefflich ist hier gesagt, worauf es bei meinen folgenden Ausführungen in s a c h l i c h e r Beziehung ankommt. Was in p e r s ö n l i c h e r Hinsicht beizufügen wäre, finde ich richtig ausgesprochen einerseits in einem Wiedergegeben nach der „Literarischen Beilage der Kölnischen Volkszeitung" Nr, 36 vom 3. Sept. 1903, S. 274. Die hervorzuhebenden Stellen habe ich unterstrichen.
Vorwort.
V»
Satze des Fürsten L o b k o w i t z , der in der Prager „Bonifatius - Korrespondenz" (Juliheft 1917) schrieb: „Wir dürfen uns nicht verhehlen, daß in der Taktik, Technik, Agitation und Kampfesweise der Katholiken gegenüber den Gegnern eine gewisse Rückständigkeit wahrnehmbar ist, die weder aus den Prinzipien noch aus der Lehre der Kirche herrührt, aber den Erfolg katholischer Kulturarbeit wesentlich in Frage stellt", andererseits in der von der Trierischen Landeszeitung (Nr- 234 vom 6. September 1917) daran angeknüpften Bemerkung: „Darum sollen wir frühzeitig an die veränderten Verhältnisse denken und diejenigen zur Mitarbeit heranziehen, die am ehesten berufen und befähigt sind, der bürgerlichen Gesellschaft Aufklärung zu verschaffen, das sind die g e b i l d e t e n L a i e n . " Ganz allgemein, das Sachliche mit dem Persönlichen umfassend, stellt P i u s X. in einem Hirtenschreiben, das er noch als Bischof von Mantua erließ, einen Grundsatz zur Nachachtung auf, welcher lautet: „Die Religion hat keine Furcht vor der Wissenschaft, hat sie ja doch zu jeder Zeit Gesittung und Bildung gefördert; sie will, daß ihre Anhänger Kinder des Lichtes und nicht Kinder der Finsternis seien; sie freut sich über den Fortschritt. Es mag also d e r M e n s c h [ob Kleriker, ob Laie] zu hohem Fluge die Schwingen erheben, er mag der N a t u r immer neue Geheimnisse entlocken; ja er soll über die ungefüge Weltenmasse immer neue Triumphe feiern, der Gesellschaft immer neue Vorteile verschaffen. Für all das hat die Religion nur Worte der Freude, des Vertrauens, des Dankes. D i e Religion heischt Forschung und verlangt Untersuchung; das Christentum fürchtet
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nicht die F o r s c h u n g , s o n d e r n a l l e i n die Unwissenheit"2). Diesen seinen Standpunkt hat P i u s , als er Papst geworden, noch mehrfach in anderer Form zum Ausdruck gebracht. So enthält seine „Encyclia Pascendi" den Satz: „Bei der Betrachtung der N a t u r sollt ihr euch e i f r i g M ü h e g e b e n " 3 ) , und in den „Acta s. sedis XXXVI, 521" heißt es u. a.: „Es gibt Leute, die gegen die W i s s e n s c h a f t d e r K r i t i k a u f g e b r a c h t sind, als zerstöre sie nur, und doch ist sie an und für sich schuldlos. Ja, wenn sie richtig angewandt wird, h i l f t sie der Forschung in überaus glücklicher Weise." — Die Religion heischt Forschung! Die Religion verlangt Untersuchung! Die Religion fürchtet sich nicht vor der Kritik! Hat der Papst das „Verlangen", das „Heischen", das „Nichtfürchten" hier personifizierend von der christlichen R e l i g i o n ausgesagt, so sind die, die es e i g e n t l i c h angeht, doch offenbar die wohlberatenen D i e n e r der Religion. Und diese selben dürften es denn auch 2 ) Diese Stelle wurde mitgeteilt in einer Rede, die der Gymoasialdirektor W c r r a (Münster i. W.) bei der 59. Generalversammlung der Katholiken Deutschlands in Aachen am 13. August 1912 gehalten hat. (Vgl. „Trier. Landesztg." Nr. 346 vom 14. August 1912.) 3 ) P i u s nimmt dabei Bezug auf einen Ausspruch L e o s XIII. in der Allok. vom 7. März 1880. Er sagt: „De profanis vero diseiplinis satis sit revocare quae decessor noster sapientissime dixit: ,In rerum naturalium consideratione strenue adlaboretis'." („Epistola Encyclica de Modernistarum doctrinis." Autorisierte Ausgabe. Freiburg. Ohne Jahreszahl, S. 102.)
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sein, für die H e r t l i n g s ernstes Wort zutrifft, daß sie je nach dem Ergebnis einer ehrlichen „Forschung", „Untersuchung", „Kritik" in die Notwendigkeit kommen könnten, gewisse „liebgewordene Meinungen aufzugeben". Auf solche Lagen, die freilich nicht angenehm sein mögen, paßt dann wieder das andere Wort, daß der „zu selbstloser Hingabe an eine große Sache fähige Mensch a u c h zu O p f e r n b e r e i t " sei, sowie nicht minder ein in der nämlichen Rede H e r t l i n g s gesprochenes nachdrückliches Mahnwort, worin er den wahren Vertretern katholischer Wissenschaft vorhält, sie sollen, „nicht den einen verdächtigen, weil er auf neuen Wegen neue Resultate zu finden hofft, noch den andern verachten, weil er seine Aufgabe vor allem in der treuen Bewahrung des Überlieferten erblickt " Welch treffliche Predigt des ausgezeichneten Mannes: Keine Verachtung! Keine Verdächtigung! S a c h l i c h und n u r sachlich sollen Meinungsverschiedenheiten behandelt werden! Niemand darf in den Zwang kommen, sich gegen p e r s ö n l i c h e Anwürfe verteidigen zu müssen! — Mit diesem Schlußgedanken könnte ich das Vorwort schon beenden, doch scheint es mir nötig, H e r t l i n g s Ausführungen noch in einem Punkte zu ergänzen, der mit meinem hier vorliegendem Thema enge verknüpft ist. An einer Stelle seiner damaligen Rede sagte H e r t 1 i n g : „In dem ungeheueren Bereich des natürlichen Erkennens sind es doch verhältnismäßig wenige Gebiete, die mit den F r a g e n d e s G l a u b e n s in direktem und unmittelbarem Zusammenhange stehen. P h y s i k u n d C h e m i e und Mineralogie haben keine Berührung damit, und die Erforschung der lebenden Natur nur dann, wenn
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Vorwort.
das Problem des ersten Ursprungs des Lebens in Betracht gezogen wird." Das ist inzwischen etwas anders geworden, und H e r t l i n g selber würde die Aussage vermutlich heute wohl nicht mehr voll aufrecht erhalten wollen. Welch enge Beziehung zu den Fragen des Glaubens „Physik und Chemie" bekommen haben, zeigt schon das viel erörterte „Entropieargument". Und wie vielfach die Beziehungen einzelner physikalischer Disziplinen, der Lichtbrechung, der Mikroskopie, der Spektroskopie, der Photographie, der Gewichtsbestimmung, der Energiemessung, der Télégraphié usw. zu gewissen r e l i g i ö s e n Problemen sind, werden die folgenden Erörterungen hinlänglich dartun, werden zudem auch dartun, daß auf diesem Gebiet noch ein F o r t s c h r i t t möglich und durchaus wünschenswert ist für das erhabene Ziel der christlichen Apologetik. Und so mögen denn die Gedanken eines Naturforschers über dieses Sondergebiet theologischer Bestrebungen — so hoffe ich — einer ernsten Erwägung nicht unwert erscheinen. 4 ) T r i e r , im Mai 1918.
C. Isenkrahe.
*) Daß Abfassung und Drucklegung der gegenwärtigen Schrift in die drangvolle Zeit des schrecklichen Krieges fielen, hatte nicht nur persönliche Sorgen und Aufregungen, sondern auch in sachlicher Hinsicht mehrfache Störungen und Hemmnisse, sowie bezüglich der letzten Gestaltgebung erhebliche Schwierigkeiten zur Folge. Sollten sich daher hier und da noch unverbesserte Druckfehler oder sonstige äußere Mängel dem Leser bemerklich machen, so wird er um der Ungunst der Verhältnisse willen billige Nachsicht üben.
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neu sein und manchen überraschen, befremden oder gar abstoßen 2 ), die S a c h e selbst aber ist uralt; sie ist verknüpft mit den ältesten religiösen Problemen, die es überhaupt gibt. Wir v/ollen sie aber nicht bis in ihre dunkle Tiefe 3 ) zurückverfolgen, sondern beginnen mit der: I.
Experimental-Theologie im Alten Testament. Was bedeutet diese Bezeichnung? — Unter einem „Experiment" versteht man im allgemeinen eine Handlung oder eine zusammengehörige Mehrheit von Handlungen, die den Zweck irgendeiner E r k u n d u n g („ex2 ) Nicht verwunderlich würde mir das sein. So erinnere ich mich einer Sitzung in der „Philosophischen Gesellschaft" zu Bonn
aus der Zeit, da die E x p e r i m e n t a l - P s y c h o l o g i e
noch
eine junge Wissenschaft war und Gegenstand heftigen Streites auch unter den Dozenten der Universität. Einer von diesen fand sich gerade durch die Namengebung „Experimental - Psychologie" in höchstem Maße abgestoßen und behauptete, das Arbeitsgebiet solcher „Experimente" gehöre in den rechtmäßigen Bereich der „Psychologie" überhaupt nicht hinein. Diese enge Begriffsumschnürung hat sich aber in der Folgezeit nicht halten können, und heutzutage nehmen in dem Umfange, den man der „Psychologie" gibt, die „Experimente" bekanntlich einen sehr großen Raum ein. — Nun mag mancher auch wohl den Begriff der „Theologie" so eng fassen, daß in ihrem Bereich von „Experimenten" überhaupt keine Rede sein könne, und sich daher durch die Zusammensetzung „Experimental-Theologie" lebhaft abgestoßen fühlen. Vielleicht wird er aber doch, wenn er von dem Inhalt der folgenden Abschnitte Kenntnis genommen, zu dem Ergebnis gelangen, daß der hier erörterte Gegenstand mit Recht zur „Theologie" gerechnet werden dürfe, sogar im Rahmen der Apologetik ein wichtiges
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periri") entweder von vornherein schon haben, oder ihm wenigstens nachträglich dienstbar gemacht werden"). J e nach der Art dieses Zweckes wird man das „Experiment" einer der in Betracht kommenden Wissenschaften (der Physik, der Psychologie usw.) zuweisen, der T h e o l o g i e also dann und nur dann, wenn der Zweck eine Beziehung auf G o t t hat. Solcher Handlungen gab es im Alten Bunde, da Jahwe mit seinem auserwählten Volke einen besonders innigen Verkehr unterhielt, außerordentlich viele. Bei dem ersten uns überlieferten Beispiel dieser Art, nämlich beim Opfer der beiden Adamssöhne, bestand der Nächstzweck bloß in der Erzielung der Wohlgeneigtheit Gottes, und erst nachträglich bekam es den Sinn einer „Bekundung", eines bekundeten Gefallens bzw. Mißfallens. M o s e s erzählt (I, 4, 3—5) 5 ): „Und es begab sich, daß K a i n dem Herrn Gaben opferte von den Früchten der Erde, und daß auch Kapitel dessen bilde, was man „Theologische Grundwissenschaft oder F u n d a m e n t a l t h e o l o g i e " nennt. (Vgl. dazu u. a. S c h a n z , „Apologie des Christentums", I, S. 8. 4. Aufl. I, S. 13.) Allerdings liegt er, wie so manche Einzelpunkte der Apologetik, außerhalb der strenggefaßten Glaubens- und Sittenlehre und insofern auch nicht im Bereich des eigentlichen kirchlichen Lehramtes. 3 ) Dazu würden die Orakel und alle Mysterien der Heidenvölker gehören. 4 ) Das Wort „Experiment" kann in engerem und weiterem Sinne gebraucht werden. „Schulexperimente" z. B. haben weniger den Zweck, etwas zu e r f a h r e n , was man noch nicht weiß, als vielmehr etwas Gewußtes v o r A u g e n z u f ü h r e n . 5 ) Ich benutze hier und im folgenden die Übersetzung von Allioli.
1*
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Abschnitt I.
A b e l opferte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fette. Da sah der Herr auf A b e l und seine Gaben, aber auf K a i n und seine Gabe sah er nicht. Und es ergrimmte K a i n sehr." Hier wird also nicht gesagt, daß das Parallel-Opfer dargehracht worden sei schon gleich in der bestimmten A b s i c h t , den Vorrang eines Bruders vor dem andern durch Gottes Urteil entscheiden zu lassen; erst der E r f o l g verlieh der Gesamthandlung den Charakter eines „Experiments". Von anderer Art sind die mehrfachen Beispiele, in denen Gott ausdrücklich um eine ganz bestimmte Gunstbezeugung g e b e t e n wurde und dann durch Gewährung derselben seine Macht bekundete. Zu diesen gehört jenes astronomische Wunder, von dem J o s u e (Kap. 10, 12—13) berichtet: „Damals redete J o s u e zu dem Herrn an dem Tage, da er die Amorrhiter überlieferte vor den Söhnen Israels und sprach vor ihnen: Sonne bewege dich nicht von Gabaon und Mond nicht vom Tale Ajalon. Und Sonne und Mond standen stille, bis sich gerächt das Volk an seinen Feinden." — Wiederum etwas verschieden davon sind die Fälle, in denen Gott die Bitte selber veranlaßte, beispielsweise (um im Buche Josue zu bleiben) damals, als die Israeliten trocken durch den Jordan geführt wurden. Der Bericht (Kap, 3, 7 ff.) lautet: „Und der Herr sprach zu Josue: Heute will ich anfangen, dich zu erheben vor ganz Israel, damit sie wissen, daß ich, wie ich mit Moses gewesen, also auch mit dir sei . . . Und Josue sprach zu den Söhnen Israels: Tretet herzu und höret das Wort des Herrn
Experimental-Theologie ifn Alten Testament.
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eures Gottes. Und wieder sprach er: D a r á n s o l l t i h r e r k e n n e n , daß der Herr, der lebendige Gott, unter euch ist . . . Siehe die Lade des Bundes . . . wird vor euch hergehen durch den Jordan . . . Und wenn die Priester, welche die Lade Gottes . . . tragen, ihren Fuß in das Wasser des Jordan setzen, so wird das Wasser, das unten ist, abfließen . . . Was aber von oben kommt, wird sich zu einem Haufen zusammenballen . . . Und alles Volk ging durch das trockne Rinnsal." So war dieses Wunder also von vornherein als Probe, als „ E r k e n n u n g s m i t t e 1" bezeichnet dafür, daß Gott dem Volke Israel beistehe. In ähnlicher Weise ging auch die erfolgreiche Machtprobe, die die Trompeten vor den Mauern Jerichos unternahmen, sowie die Dauerprobe mit dem Ölkriiglein der Witwe von Sarephta von einer ausdrücklichen Anregung Gottes aus, und als E l i a s den Sohn der Witwe zum Leben auferweckt hatte, da „sprach das Weib zu E l i a s : Nun, d a r a n e r k e n n e i c h , daß du ein Mann Gottes bist, und das Wort des Herrn in deinem Munde ist wahrhaftig (3. Kön. 17, 24)." Mehrfach trugen sich auch „Proben" göttlicher Strafgerichte zu. Wegen A c h a n s Sünde wurden die Israeliten von den Männern der Stadt Hai aufs Haupt geschlagen; als aber der Dieb bestraft war, wendete sich der Zorn des Herrn, und Hai fiel (Josue 7 u. 8). Später wird von A c h a b , dem Sohne A m r i s erzählt, daß er „tat, was böse war in den Augen des Herrn"; denn er „ging hin und diente dem Baal und betete ihn an". Da sprach E l i a s z u A c h a b : „So wahr der Herr, der Gott Israels lebet, vor dessen Angesicht ich stehe, es soll in
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Abschnitt I.
diesem Jahre weder Tau noch Regen fallen, außer mein Mund sagt es (3. Kön. 17, 1)." Danach „blieb der Himmel drei Jahre und sechs Monate verschlossen (Luk, 4, 25)". Die Art aber, wie E l i a s ihn wieder öffnete, darf als ein großartiges, geradezu dramatisch aufgebautes Beispiel von „ E x p e r i m e n t a l - T h e o l o g i e " bezeichnet werden. Das 18. Kapitel des 3. Buches der Könige beschreibt es eingehend folgendermaßen: „ E l i a s trat vor das ganze Volk und sprach: Wie lange hinket ihr auf beiden Seiten? Ist der Herr Gott, so folget ihm: ist aber Baal Gott, so folget diesem. Und das Volk antwortete ihm kein Wort. Und E l i a s sprach abermals zum Volke: Ich bin allein übrig geblieben, ein Prophet des Herrn: aber der Propheten Baals sind vierhundert und fünfzig Mann. Man gebe uns zwei Stiere, und sie mögen sich einen Stier erwählen und in Stücke hauen und aufs Holz legen, aber kein Feuer darunter tun: und ich will den andern Stier zurichten und aufs Holz legen, aber auch kein Feuer darunter tun. Alsdann rufet die Namen eurer Götter an, und ich will den Namen meines Herrn anrufen. Und d e r Gott nun, der mit Feuer erhöret, derselbe soll Gott sein. Und alles Volk antwortete und sprach: Der Vorschlag ist sehr gut. E l i a s sprach also zu den Propheten des Baal: Wählet euch einen Stier und machet zuerst; denn ihr seid viele, und rufet den Namen eurer Götter an; aber leget kein Feuer darunter. Und sie nahmen einen Stier, den er ihnen überlassen hatte, und richteten ihn zu: und sie riefen den Namen Baals an vom Morgen bis zum Mittag und sprachen: Baal, erhöre
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uns! Aber da war keine Stimme, und niemand, der antwortete; und sie sprangen über den Altar, den sie gemacht. Und da es schon Mittag war, spottete ihrer E l i a s . und sprach: Rufet mit lauterer Stimme: denn er ist ja Gott! Er ist vielleicht im Gespräche, oder im Gasthaus, oder auf der Reise, oder vielleicht schläft er; daß er aufwache! Also riefen sie mit lauter Stimme und schnitten sich nach ihrem Gebrauche mit Messern und Pfriemen, bis sie mit Blut bedeckt waren. Aber als der Mittag vorüber war, prophezeiten sie noch, bis die Zeit kam, da man das Opfer zu bringen pflegt: aber da ward keine Stimme gehört, und niemand antwortete, und niemand merkte auf ihr Gebet. Da sprach E l i a s zu allem Volke: Kommet her zu mir! Und als das Volk zu ihm trat, richtete er den Altar des Herrn zurecht, der zerstört war. Und er nahm zwölf Steine, nach der Zahl der Stämme der Söhne Jakobs, an den das Wort des Herrn erging und sprach: Israel soll dein Name sein. Und er baute von den Steinen einen Altar im Namen des Herrn, und machte einen Wassergang, etwa zwei Furchen breit, um den Altar her. Und schichtete das Holz, und zergliederte den Stier und legte ihn aufs Holz . . . Und als es Zeit war das Opfer zu bringen, da trat E l i a s der Prophet herzu und sprach: Herr Gott Abrahams, Isaaks und Israels! z e i g e h e u t e , daß du der Gott Israels bist und ich dein Knecht bin, und daß ich dies alles nach deinem Befehle getan. Erhöre mich, Herr, erhöre mich, d a m i t d i e s e s V o l k e r -
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Abschnitt I.
k e n n e , d a ß d u , H e r r , G o t t b i s t , und ihr Herz wieder herumgelenkt hast. Da fiel Feuer des Herrn herab und verzehrte das Brandopfer und das Holz und die Steine, auch den Staub, und leckte das Wasser, das in dem Wassergange war. Da das alles Volk sah, fiel es auf sein Angesicht und sprach: Der Herr, er ist Gott, der Herr, er ist Gott! Und E l i a s sprach zu ihnen: Greifet die Propheten Baals, daß ihrer keiner entrinne. Und sie griffen sie, und E l i a s führte sie an den Bach Kison und tötete sie daselbst. Und E l i a s sprach zu A c h a b : Zieh hinauf, iß und trink; denn es rauschet, als wollte es regnen . . . Und siehe, da ward finster der Himmel von Wolken und Wind, und es kam ein starker Regen." — Besonders zeichnet sich noch das Buch D a n i e l aus durch Beschreibung einer Reihe von Versuchen, deren Zweck und Ergebnis in der Feststellung bestand, daß der Gott Israels der einzig wahre Gott sei. S i d r a c h , M i s a c h und A b d e n a g o sprachen zum König Nabuchodonosor: „Siehe, unser Gott, den wir verehren, kann uns aus dem brennenden Feuerofen erretten und aus deiner Hand, o König, befreien (Daniel 3, 17)." Darum trotzten sie dem Könige, beteten dessen goldene Bildsäule nicht an, wurden in den Ofen geworfen, flehten zu Jahwe: „Erlöse uns, o Herr, durch deine Wunder und gib Ehre deinem Namen (3, 43)", kamen unversehrt aus den Flammen, und Nabuchodonosor sprach: „Der höchste Gott hat Wunder und Zeichen bei mir getan; darum gefiel mir's, kund zu tun
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seine Zeichen, weil sie ¿roß sind, und seine Wunder, weil mächtig; sein Reich ist ein ewiges Reich, und seine Herrschaft währet für und für (3, 99—100)." — Auch an das listige, eines modernen „Detektivs" würdige Experiment darf erinnert werden, das D a n i e l zur Entlarvung der 70 Bel-Priester anwendete, indem er den Tempelboden abends mit Asche bestreute und des andern Morgens dem Könige die Fußstapfen zeigte, welche die bei Nacht heimlich eingetretenen Priester hinterlassen hatten, als sie vom Altare des Gottes die Speisen hinwegnahmen. — Und war es nicht auch ein theologisches Experiment, daß der Prophet den göttlich verehrten Drachen durcn eis« aus „Pech, Fett und Haaren" zusammengekochte Speise zum Zerplatzen brachte? — Schließlich wäre noch die Probe zu erwähnen, die mit jenen Löwen angestellt wurde, die den Daniel in der Grube verschont hatten. Zeigte sich hier die Macht Gottes oder waren etwa die Tiere zahm und sanftmütig geworden? — Der König „ließ den D a n i e l herausziehen aus der Grube, diejenigen aber, die ihn verderben wollten, in die Grube werfen, und sie wurden alsbald gefressen vor seinen Augen, da sprach der König: Alle, die auf der ganzen Erde wohnen, sollen den Gott Daniels fürchten; denn er ist der Retter (Daniel 14, 40-42)." Aus diesen Proben geht zur vollen Genüge hervor, daß und wie im Alten Testament E x p e r i m e n t a l T h e o l o g i e geübt worden ist.
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II.
Experimental-Theologie zu Zeiten Christi und der Apostel. Sehr wesentlich unterschied sich der Natur der Sache gemäß das Auftreten des Gottessohnes von dem aller Patriarchen und Propheten des Alten Bundes, wie überhaupt, so auch in der hier zu erörternden Beziehung. Daß der Heiland seinen himmlischen Vater jemals habe sozusagen „auf die Probe stellen" wollen, ist von vornherein ausgeschlossen. Dahingegen gab es einen andern, der eine solche Experimentalprobe in Szene zu setzen unternahm, und das war der Teufel. Er suchte zu ergründen, ob derjenige, der in der Gestalt des „Jesus von Nazareth" wandelte, der „Sohn Gottes" sei 6 ), und stellte zu diesem Zweck jene drei Versuche bzw. Versuchungen an, die mit dem bekannten „Weiche, Satan!" endigten (Matth. 4, 10). Desgleichen wollten die Pharisäer ebenfalls eine Probe haben. Bei Matth. 12, 38 sagen sie dem Heilande: „Meister, wir möchten ein Zeichen von dir sehen." Später (16, 1) werden sie deutlicher. Der Evangelist schreibt: „Da kamen die Pharisäer und Sadduzäer zu ihm, und sie baten ihn, er möchte sie ein W u n d e r z e i c h e n v o m H i m m e l sehen lassen" 7 ). °) A l l i o l i , „Die heilige Schrift" (Landshut 1846, Bd. 8, S. 17) bemerkt: „Da Jesus in allem so klein und demütig erschien, blieben ihm (dem Satan) Zweifel. Um diese zu heben, wollte er Jesum e r f o r s c h e n und zugleich v e r s u c h e n (Ambros.)." 7 ) A l l i o l i bemerkt (Bd. 8, S. 69) zu der Stelle Matth. 12, 38: „Einige von den Pharisäern, die ihn lästerten und deshalb von ihm getadelt wurden, antworteten: Wir wollen dich als Meister er-
Experimental-Theologie zu Zeiten Christi und der Apostel.
lt
Solch einen astronomischen Machtbeweis aber versagt ihnen Christus und verweist sie im Anschluß an das „Zeichen des Jonas" auf seine Auferstehung von den Toten am dritten Tage. In sehr zahlreichen anderen Fällen stellt er die von ihm vollbrachten Wunder als Proben und Beweise seiner Gottheit hin: „Die Werke, die ich tue im Namen meines Vaters, diese geben Zeugnis von mir (Joh. 10, 25)." Auch die Bestätigung der von ihm v o r a u s g e s a g t e n Ereignisse zählt er dazu. So erklärte er der Martha: „Dein Bruder w i r d auferstehen", und als er dann zur Tat schritt, da „erhob er seine Augen zum Himmel und sprach: Vater, ich danke dir, daß du mich erhöret hast. I c h a b e r w u ß t e , daß du mich allezeit erhörest; jedoch um d e s V o l k e s w i l l e n , das herumsteht, habe ich es gesagt, d a m i t s i e g l a u b e n , daß du mich gesandt hast (Joh. 11, 42)." Um Thomas, den hartnäckig zweifelnden Apostel, endlich zum Glauben zu bringen, hat der Heiland aber noch ein anderes Mittel, eine wirkliche „ P r o b e " in Anwendung gebracht: „Lege deine Finger hierher und sieh meine Hände, und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig (Joh. 20, 27)." Wiederum einen wichtigen Schritt weiter ging er, wie Lukas im 24. Kapitel erzählt, mit der Auferstehungsprobe bei jenen Aposteln und Jüngern, die in Jerusalem soeben den Emmausbericht vernommen hatten und nun kennen, wenn du uns ein Wunderzeichen vom Himmel, irgendeine außerordentliche himmlische Erscheinung sehen lassest; denn die irdischen Zeichen, die Krankenheilungen, genügen uns nicht, weil sie auch von anderen Kräften, von dem Teufel, herrühren können, Himmlisches dagegen der Mensch nur durch Gott wirken kann."
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Abschnitt II.
plötzlich den Herrn „mitten unter sich" erblickten. Sie erschraken und „meinten einen Geist zu sehen". Da forderte Jesus sie auf: „ T a s t e t und sehet; denn ein Geist hat nicht Fleisch und Bein, wie ihr sehet, daß ich habe." Aber damit nicht genug! „Da sie noch nicht glaubten vor Freude und sich wunderten, sprach er: Habt ihr hier etwas zu essen? Da legten sie ihm einen Teil von einem gebratenen Fische und (einen Honigkuchen vor. Und nachdem er vor ihnen gegessen hatte, nahm er das Übrige und gab es ihnen." — Diese Art, die leibliche Auferstehung zu bewahrheiten, kann, vom n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n Standpunkte betrachtet, mit Recht als ein p h y s i o l o g i s c h e s E x p e r i m e n t bezeichnet werden. Was bei den A p o s t e l n als bewahrheitende Probe ihrer göttlichen Sendung diente, spricht Markus am Schlüsse seines Evangeliums deutlich aus mit den Worten: „Sie gingen hin und predigten überall, und der Herr wirkte mit ihnen und b e k r ä f t i g t e d a s W o r t d u r c h d i e d a r a u f f o l g e n d e n W u n d e r . " — Die unmittelbare Beziehung einer Aposteltat zum Walten Gottes wird hervorgehoben z. B. (Ap. 5, 4), als P e t r u s zu A n a n i a s sprach: „Warum beschlössest du das in deinem Herzen? N i c h t M e n s c h e n h a s t d u g e l o g e n , s o n d e r n G o t t ! Da Ananias diese Worte hörte, fiel er nieder und gab den Geist auf. Und große Furcht überfiel alle, die es hörten." Desgleichen hat das G e b e t der Apostel und dessen augenblickliche E r h ö r u n g durch Gott unmittelbar als Probe und Beweis gedient. So erzählt das 16. Kapitel der Apostelgeschichte:
Eiperimental-Theologie zu Zeiten Christi und der Apostel.
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„Um Mitternacht aber beteten P a u l u s und S i l a s und lobten Gott, und die Gefangenen hörten ihnen zu. Da entstand plötzlich ein starkes Erdbeben, so daß der Kerker bis auf den Grund erschüttert wurde. Und alsbald öffneten sich alle Türen, und die Bande aller wurden gelöst. Als aber der Kerkermeister erwachte und die Türen des Gefängnisses offen sah, zog er das Schwert und wollte sich töten; denn er glaubte, die Gefangenen seien entflohen. P a u l u s aber rief mit lauter Stimme und sprach: Tue dir kein Leid, denn wir sind alle hier! Da forderte er Licht und ging hinein, und zitternd fiel er P a u l u s und S i l a s zu Füßen und führte sie hinaus und sprach: Ihr Herren, was muß ich tun, um selig zu werden? Sie aber sprachen: Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du selig werden, du und dein Haus. Und sie redeten zu ihm und zu allen, die in seinem Hause waren, das Wort des Herrn. Da nahm er sie in derselben Stunde der Nacht und wusch ihre Striemen. Und er ward sogleich getauft samt seinem ganzen Hause " — Noch eine spätere Begebenheit möchte wohl geeignet sein, hier angeführt zu werden: Als P a u l u s von Kreta nach Rom zum Kaiser, an den er appelliert hatte, übergeführt wurde, kam das Schiff unterwegs in die äußerste Gefahr. Allein der Apostel erhielt durch einen himmlischen Boten die Offenbarung, daß zwar das Schiff verlorengehen, die Insassen jedoch gerettet werden würden, f a l l s sie z u s a m m e n b l i e b e n , Angsterfüllt entschlossen sich aber einige -von der Besatzung, auf einem Boote zu entfliehen. Da -unternahm P a u 1 u s im Vertrauen auf Gott den Versuch, das zu verhindern, und sprach zu dem Hauptmann:
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Abschnitt III.
„Wenn diese nicht im Schiffe bleiben, so könnt ihr nicht gerettet werden." So wurden die Leute gewaltsam beieinander gehalten, die göttliche Offenbarung bestand ihre P r o b e , „und es geschah, daß alle ans Land kamen (Ap. 27, 44)." III.
Experimental-Theologie im christlichen Altertum und im Mittelalter. Hierzu gehört eine gewaltige Menge von Dingen, deren Darlegung den berufenen K i r c h e n h i s t o r i k e r n überlassen bleiben muß. Denn nicht minder, wie etwa die Moral-Theologie, hat auch die ExperimentalTheologie eine besondere Geschichte. Das unübersehbare Gebiet der Mystik schlägt da hinein, namentlich auch die vielfältigen Formen der Ordalien, vom ritterlichen Zweikampf herab durch die Feuer-, Wasser-, Abendmahls-, Kreuz- und Bahr-Probe 8 ) bis zum Hexenbad, bei dem der böse Geist und sein Werk gewissermaßen durch das spezifische Gewicht der ihm verfallenen Person e x p e r i m e n t e l l 9 ) festgestellt werden sollte. Nur drei Begebenheiten möchte ich hier anführen, bei denen die bestimmte Absicht einer Erprobung der Wahrheit des Christentums obwaltete, und die in diesem Sinne eine gewisse Berühmtheit erlangt haben. Im Jahre 724 langte der hl. B o n i f a t i u s nach einem Besuche beim fränkischen Majordomus in Hessen 8 ) Aus der Leiche floß Blut, wenn der wirkliche Mörder an die Bahre trat. 9 ) Hexen, so hieß es, sänken beim Eintauchen nicht unter, sondern blieben im Badewasser oben schwimmen.
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Abschnitt III.
„Wenn diese nicht im Schiffe bleiben, so könnt ihr nicht gerettet werden." So wurden die Leute gewaltsam beieinander gehalten, die göttliche Offenbarung bestand ihre P r o b e , „und es geschah, daß alle ans Land kamen (Ap. 27, 44)." III.
Experimental-Theologie im christlichen Altertum und im Mittelalter. Hierzu gehört eine gewaltige Menge von Dingen, deren Darlegung den berufenen K i r c h e n h i s t o r i k e r n überlassen bleiben muß. Denn nicht minder, wie etwa die Moral-Theologie, hat auch die ExperimentalTheologie eine besondere Geschichte. Das unübersehbare Gebiet der Mystik schlägt da hinein, namentlich auch die vielfältigen Formen der Ordalien, vom ritterlichen Zweikampf herab durch die Feuer-, Wasser-, Abendmahls-, Kreuz- und Bahr-Probe 8 ) bis zum Hexenbad, bei dem der böse Geist und sein Werk gewissermaßen durch das spezifische Gewicht der ihm verfallenen Person e x p e r i m e n t e l l 9 ) festgestellt werden sollte. Nur drei Begebenheiten möchte ich hier anführen, bei denen die bestimmte Absicht einer Erprobung der Wahrheit des Christentums obwaltete, und die in diesem Sinne eine gewisse Berühmtheit erlangt haben. Im Jahre 724 langte der hl. B o n i f a t i u s nach einem Besuche beim fränkischen Majordomus in Hessen 8 ) Aus der Leiche floß Blut, wenn der wirkliche Mörder an die Bahre trat. 9 ) Hexen, so hieß es, sänken beim Eintauchen nicht unter, sondern blieben im Badewasser oben schwimmen.
Experimental-Theol. im christl. Altertum u. im Mittelalter.
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an, fällte dort angesichts des versammelten Volkes das Symbol des deutschen Götterglaubens, die uralte ThorEiche bei Geismar, und baute aus deren Holz ein Kirchlein. Niemand wird verkennen, daß in dieser Handlungsweise ein Fall von „Experimental-Theologie" vorliegt. Die Gottheit Jesu Christi erwarb dadurch den Sieg über die nordischen Heidengötter. Die zweite Begebenheit trug sich während des vierten Kreuzzugs etwa im Jahre 1218 oder 19 zu. Sie war geplant, um den Kampf zwischen Kreuz und Halbmond zur Entscheidung zu bringen, gelangte aber nicht zur wirklichen Ausführung- Der hl. F r a n z v o n A s s i s i ging aus eigenem Antriebe in das Lager des Sultans K a m i l und bot sich an, im Verein mit einem Priester Mohammeds die Feuerprobe zu bestehen. Wer unversehrt hindurch käme, des Glaube sei als der wahre anzuerkennen. Im entscheidenden Augenblicke aber zog sich der Vertreter des Halbmonds zurück. Das Experiment kam nicht zur Ausführung, und der Schluß war, daß Franziskus zwar heil und vom Sultan wegen seines Mutes belobt, aber unverrichteter Sache in das Lager der Christen zurückkehrte. Ein drittes, und zwar ein Doppel-Experiment i0 ) galt dem Kampfe des Christentums gegen das Heidentum in Indien. F r a n z i s k u s X a v e r i u s predigte in T r a v a n c o r das Evangelium, konnte aber weder die dortigen Brahminen, noch den von ihnen beherrschten König be1 0 ) Obschon nicht genau dem Jahre nach (etwa 1544), so gehört es doch seiner Natur nach mehr zum Mittelalter als zur neueren Zeit.
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Abschnitt IV.
kehren. Als jedoch der räuberische Stamm der B a d a g er in das Land einfiel und die Not aufs höchste gestiegen war, trat F r a n z i s k u s ihm in Begleitung eines kleinen Christenhäufleins entgegen, hielt ihm das Kreuz vor und rief: „Im Namen des lebendigen Gottes gebiete ich dir Halt zu machen und in dein Land zurückzukehren!" — Und so geschah es. — Wohl war der König infolge dieser Errettimg dem Franziskus günstig gesinnt und erlaubte seinen Untertanen die Annahme des Christentums. Aber die Brahminen machten ihn durch heimliche Einflüsterungen wieder mißtrauisch. Da beseitigte X a v e r i u s jeden Zweifel, indem er im Angesichte alles Volkes einen Tags zuvor begrabenen Toten unter Anrufung des Namens Christi zum Leben erweckte und aus seinem Grabe wieder aufsteigen ließ11). Diese und andere Wundertaten waren genügend bestätigt, um im Jahre 1622 zur Kanonisation des Heiligen zu führen. Die Literatur über ihn ist eine sehr reiche. IV.
Neuzeitliche Experimental-Theologie. Niemals ist das Streben, von der Existenz und der Wirksamkeit des lebendigen Gottes deutliche, äußerlich erkennbare Proben und Beweise zu erlangen, unter den Christen erloschen. Und als Spaltungen in der Kirche entstanden, wollten die einzelnen Zweige, die einzelnen „Konfessionen" nicht bloß den Besitz der Wahrheit je für sich in Anspruch nehmen, sondern trachteten auch ) Dieses Verfahren bedeutete eine ebenso echte „Experimental-Theologie" wie das des E l i a s . 11
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Abschnitt IV.
kehren. Als jedoch der räuberische Stamm der B a d a g er in das Land einfiel und die Not aufs höchste gestiegen war, trat F r a n z i s k u s ihm in Begleitung eines kleinen Christenhäufleins entgegen, hielt ihm das Kreuz vor und rief: „Im Namen des lebendigen Gottes gebiete ich dir Halt zu machen und in dein Land zurückzukehren!" — Und so geschah es. — Wohl war der König infolge dieser Errettimg dem Franziskus günstig gesinnt und erlaubte seinen Untertanen die Annahme des Christentums. Aber die Brahminen machten ihn durch heimliche Einflüsterungen wieder mißtrauisch. Da beseitigte X a v e r i u s jeden Zweifel, indem er im Angesichte alles Volkes einen Tags zuvor begrabenen Toten unter Anrufung des Namens Christi zum Leben erweckte und aus seinem Grabe wieder aufsteigen ließ11). Diese und andere Wundertaten waren genügend bestätigt, um im Jahre 1622 zur Kanonisation des Heiligen zu führen. Die Literatur über ihn ist eine sehr reiche. IV.
Neuzeitliche Experimental-Theologie. Niemals ist das Streben, von der Existenz und der Wirksamkeit des lebendigen Gottes deutliche, äußerlich erkennbare Proben und Beweise zu erlangen, unter den Christen erloschen. Und als Spaltungen in der Kirche entstanden, wollten die einzelnen Zweige, die einzelnen „Konfessionen" nicht bloß den Besitz der Wahrheit je für sich in Anspruch nehmen, sondern trachteten auch ) Dieses Verfahren bedeutete eine ebenso echte „Experimental-Theologie" wie das des E l i a s . 11
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danach, auf irgendeine Weise übernatürliche Bestätigungen dieses ihres Wahrheitsbesitzes zu gewinnen. Dabei spielten Weissagungen und Wunder, auch das, was man den „Finger Gottes" nannte, eine erhebliche Rolle. Nebenher wurden noch andere Dinge, z. B. statistische Ermittelungen, dem Zwecke dienstbar gemacht. Außer Theologen haben sich auch Vertreter anderer Wissenschaften, Historiker, Mediziner, Naturforscher, zum Teil mit erheblichem Eifer darum bekümmert, nicht ohne — wie das nach der Natur des Problems von vornherein zu erwiarten war — mancherlei Fehden miteinander ausfechten zu müssen. Von diesem überaus weitläufigen Gebiet eine umfassende Darstellung zu geben, wird man nicht von mir erwarten, nur einzelne Punkte, die entweder meine Fachwissenschaft oder mein persönliches Arbeitsgebiet näher angehen, kann ich im folgenden berühren. Es handelt sich dabei namentlich einerseits um das G e b e t und dessen Erhörung, andererseits um Wunder 12 ) und deren sichere Feststellung, Hierüber möchte ich zunächst die Äußerungen zweier hervorragender P h y s i k e r , eines des achtzehnten und eines des neunzehnten Jahrhunderts anführen. 1 2 ) Auf die zahlreichen voneinander verschiedenen Arten, wie der Sinn des Wortes „Wunder" schon ausgelegt worden ist, kann ich hier nicht eingehen. F ü r d a s f o l g e n d e scheint es mir genügend, wenn man zur Definition des Begriffes „Wunder" die Begriffe: „Welt, Veränderung, hinreichende Ursache, Augenblick" benutzt und sagt: Falls in einem gewissen A u g e n b l i c k der Gesamtzustand der W e l t keine h i n r e i c h e n d e U r s a c h e darstellt für eine in der Welt stattfindende V e r ä n d e r u n g , dann geschieht in diesem Augenblick ein W u n d e r . — Diese Definition beruht auf der axiomatischen Voraussetzung, daß zu jeder Veränderung eine hinreichende Ursache erforderlich sei. Ist letztere Isenkrahe, Experimental-Theologie. 2
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Abschnitt IV.
L e o n h a r d E u l e r schrieb in den Jahren 1760—62, nachdem er von Friedrich dem Großen an die Berliner innerhalb der „Welt" — zu der auch der Mensch mit Leib und Seele nebst der Gesamtheit aller Engel und „bösen Geister" gehört — nicht vorfindlich, so muß sie vorfindlich sein bei einem Wesen, das außer der Welt noch existiert, d. h. bei Gott. — P o h l e nimmt ( E s s e r - M a u s b a c h , „Apologetik",- S. 428) noch die Begriffe: „außerordentlich, sinnenfällig, Erscheinung, Kraft, Bedingung, adäquat" zu Hilfe, indem er das Wunder definiert als „eine außerordentliche sinnenfällige Erscheinung; welche, über die Leistungsfähigkeit der bloßen Naturkräfte hinausgehend, durch die alleinige und unmittelbare Kausalität Gottes adäquat bedingt ist." Demgemäß ist z. B. die „Transsubstantiation" nach P o h l e kein „Wunder", insofern sie keine „sinnenfällige Erscheinung" ist. — F. S p i r a g o hat in seinem von 10 Bischöfen empfohlenen „Volkskatechismus" bei der Definition des Wunders (S. 33) die „Sinnenfälligkeit" weggelassen, aber Starkton darauf gelegt, es müsse ein „außergewöhnliches Werk" sein. — Ist diese Forderung nicht, sobald die Naturkräfte ausgeschaltet sind, ganz überflüssig? Und ist sie nicht auch der Mißdeutung ausgesetzt?—War z. B. der Mannaregen in der Wüste ein Wunder, so war er auch für lange Zeit ein g e w ö h n l i c h e s , war den Israeliten sogar allzu „gewöhnlich", derart, daß sie seiner überdrüssig wurden und sich nach den Fleischtöpfen Ägyptens zurücksehnten. — Erwähnt sei noch der berühmte Traktat H u m e s „Über Wunder" (vgl. R i c h t e r s Übersetzung der H u m e sehen Schrift „Enquiry concerning human understanding", 6. Aufl., Leipzig 1907, S. 128—155), dessen Inhalt viel erörtert worden ist und tatsächlich zu schwerwiegenden Ausstellungen Anlaß gibt. Anfechtbar ist schon die dort gegebene Sinnerklärung des Wortes Wunder, welche lautet (S. 135): „Ein Wunder läßt sich genau definieren als eine Überschreitung eines Naturgesetzes [entweder?] durch einen besonderen Willensakt der Gottheit, oder durch Vermittlung eines unsichtbaren Faktors." — Ungeeignet finde ich hierbei u. a. die Beiziehung der Begriffe „Wille" und „Natur- G e s e t z", welch letzterer sehr unklar ist. An Unklarheit leidet auch das Wort „Überschreitung". Außerdem ist die Disjunktion „Willensakt der Gottheit" und „unsichtbarer Faktor"
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Akademie der Wissenschaften berufen und zu deren Direktor erwählt worden war, seine berühmten „Briefe an eine deutsche Prinzessin über verschiedene Gegenstände aus der Physik und Philosophie" und nahm darin als ein entschieden gottgläubiger Mann mehrfach Anlaß, von den Beziehungen zwischen Gott und den Menschen zu reden. Im neunzigsten vom 3. Januar 1761 datierten Briefe findet sich folgende Stelle: „Ich will Ew. H. jetzt einen Einwurf vortragen, den fast alle philosophischen Systeme g e g e n d a s G e b e t an die Hand geben. Die Religion schreibt uns die Pflicht zu beten vor mit der Versicherung, daß Gott unsere Wünsche und Gebete erhören wolle, wenn sie nur den Regeln, die er uns gegeben hat, gemäß wären. Von der anderen Seite lehrt uns die Philosophie, daß alle Begebenheiten dieser Welt nach dem Lauf der Natur erfolgen, wie er von Anfang an eingerichtet worden, und daß unsere Gebete k e i n e Ä n d e r u n g d a r i n v e r a n l a s s e n k ö n n e n , mai müßte denn behaupten wollen, daß Gott um u n serer Gebete willen beständig Wunder t u e . Dieser Einwurf ist um so stärker, da die Offenbarung selbst uns versichert, daß Gott den ganzen Lauf aller Begebenheiten der Welt eingerichtet habe, und daß nichts geschehen könne, was Gott nicht von Ewigkeit vorhergesehen hätte. Ist es denn möglich, sagt man, daß Gott diesen einmal eingerichteten Lauf der Begebenheiten um jedes G e b e t e s willen, das die keine logisch scharfe; denn auch der „Willensakt der Gottheit" ist für uns ein „unsichtbarer Faktor". Noch andere gewichtige Einwände ließen sich vorbringen, doch würde mich das hier zu weit führen. 2*
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Gläubigen an ihn ergehen lassen, v e r ä n d e r n wollte? Auf diese Art suchen die Ungläubigem unser Vertrauen auf Gott zu nichte zu machen." Auf diesen „Einwurf" läßt E u l e r eine längere Erwiderung folgen, in der er u. a. ausführt: „Wenn jetzt ein Gläubiger ein G e b e t zu Gott schickt, das der Erhörung würdig ist, so muß man sich nicht vorstellen, daß Gott erst jetzt zur Kenntnis dieses Gebets gelange. Vielmehr hat er dieses Gebet schon von aller Ewigkeit her vernommen, und da er es für würdig gehalten, erhört zu werden, so hat er die Welt ausdrücklich zum Vorteil desselben so eingerichtet, daß der n a t ü r l i c h e L a u f der B e g e b e n h e i t e n s e l b s t die Erfüllung des Gebets mit sich bringen muß. Auf solche Art e r h ö r t G o t t d i e G e b e t e der. G l ä u b i g e n , o h n e W u n d e r z u t u n : ob man gleich keine Ursache hat, zu leugnen, daß Gott wahre Wunder getan habe und sie zuweilen noch tue. Es fehlt also viel, daß die einmal festgestellte Einrichtung des Laufes der Welt unsere Gebete überflüssig machen sollte, wie die starken Geister uns überreden wollen." Hiemach wäre es also nicht gewiß, daß die Wiederbelebung " ) des Sohnes der Witwe von Sarephta nach dem Gebet des Propheten E l i a s sowie das kerkeröffnende Erdbeben nach dem Gebete des hl. P a u l u s W u n d e r gewesen sind. Vielleicht waren es welche, vielleicht aber entsprechen diese Ereignisse dem „einmal festget < 1 3 ) Eine G r e n z e dessen, was zum Bereich des n a t ü r l i c h e n Geschehens gehört und was nicht, finde ich auch von E n 1 e r nicht gezogen.
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stellten Lauf der Welt", gingen also auf n a t ü r l i c h e m Wege zu. Man darf wohl fragen: Inwiefern haben solche Dinge dann noch den Charakter einer „Probe", einer „Kennzeichnung" göttlichen Waltens? Erheblich anders als der Standpunkt E u l e r s ist derjenige, den hundert Jahre später der bedeutende englische Physiker J o h n T y n d a l l " ) , Professor an der Royal Institution in London, einnahm. Im zweiten Bande seiner von A. v. H e l m h o l t z und E. d u B o i s R e y m o n d deutsch herausgegebenen „Fragmente aus den Naturwissenschaften" befinden sich drei Aufsätze mit den Überschriften: „Gedanken über Gebet und Naturgesetz", „Wunder und besondere Fügungen", „Das Gebet betrachtet als eine Form der physikalischen Energie", Einen heftigen Streit, ja einen derartigen Zorn der (vornehmlich schottischen) G e i s t l i c h k e i t hat er mit diesen Abhandlungen entfacht, daß er die letzterwähnte schließt mit den Sätzen: „Ich unterlasse es, auf die Schmähungen einzugehen, mit denen meine Gegner mich überschütten. Wer so frei mit Ausdrücken wie Unverschämtheit, Schmach, Ruchlosigkeit und Lästerung umgeht, dein fehlt offenbar die Besonnenheit, die nötig wäre, um seine Anschuldigungen der Widerlegung wert erscheinen zu lassen (Fragmente II, S. 54)." T y n da 11 s Auffassung läßt sich in Kürze folgendermaßen kennzeichnen: Was; zunächst die W u n d e r betrifft, so will er den von seimet Gegnern betonten Unterschied zwischen 14 ) Auif ihn nimmt auch P o h l e Bezug in der von E s s e r M a U S b a c h herausgegebenen Apologetik Bd. I, S. 435 und 440.
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„Wundern" und „besondern Fügungen" nicht als einen durchgreifenden, bestimmt feststellbaren anerkennen. Alles, so führt er aus, was auf dem Gebiet des Materiellen überhaupt geschieht, vollzieht sich entweder im Rahmen zwingender Naturgesetze, oder außerhalb, somit g e g e n diese Gesetze. Ob letzteres uns von geringerer Bedeutung, wie etwa eine Regen spendende Wolke, oder von gewaltiger Wichtigkeit scheint, wie das 24stündige Stillstehen der Sonne: darauf kommt es nicht an. Die Heilung eines Kranken und die Wiederbelebung eines Toten sind, sofern beide Ereignisse nicht mit naturgesetzlicher Notwendigkeit eintreten, von ein und derselben Art- Der Geistliche im Wallis wünscht seine Heimat vor Verwüstungen durch die Rhone zu behüten, betet aber nicht darum, daß Gott das Flußwasser aufwärts über den Grimselpaß ins Haslital treiben möge — das würde ja ein augenscheinliches Wunder sein. Sondern er „segnet die Berge ein", deren Rinnsale der Rhone zufließen, und glaubt sich eigens von dieser Handlung eine günstige Wirkung auf den weiteren Wasserlauf versprechen zu dürfen. Diese Wirkung, a 1 s G e b e t s e r f o l g b e t r a c h t e t , hat nach T y n d a 11 nicht minder den Charakter eines Wunders, wie die Verlegung des Flußbettes über die Grimsel hinüber. Auch der Unterschied im Aufwand mechanischer Arbeit kann keine Rolle spielen. Denn in biblischen Wundern läßt sich eine kolossale Kraftvergeudung nachweisen. So führt er als Beispiel an: „Die Energie, die dieser Vorgang [nämlich beim astronomischen Josuawunder] erlordern würde, entspricht der Kraft von sechs Trillionen Pferden, welche während der ganzen Zeit, die Josua zur Zerstörung seiner Feinde gebrauchte, wirksam ist.
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Die auf diese Weise verausgabte Kraft würde genügen, um jeden Mann in einer tausendmal stärkeren Armee mit der tausendfältigen Kraft jener Krieger auszustatten, und zwar nicht nur auf die wenigen Stunden, welche zur Vertilgung der Handvoll Amoriter nötig waren, sondern auf Millionen Jahre hinaus". Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet er „das Gebet als eine Form der physikalischen Energie" und bezeichnet als den eigentlichen „Zankapfel" zwischen ihm und seinen theologischen Gegnern den „ p h y s i s c h e n W e r t d e s B e t e n s " . Dabei stellt er sich mit ihnen doch insofern auf einen gemeinschaftlichen Boden, als er (a. a. 0 . S. 51) erklärt: „Es ist meiner Ansicht nach vollkommen berechtigt anzunehmen, daß die ganze Natur von einem Wesen beherrscht wird, welches die Bitten der Menschen erhört und den Lauf der Erscheinungen verändert." Und wiederum: „Wir verstoßen also nicht gegen wissenschaftliche Methoden, wenn wir hinter den Naturerscheinungen einen himmlischen Vater vermuten, der die Bitten seiner Kinder erhört und infolge dessen den Gang der Dinge v e r ä n d e r t . " An dieser Stelle könnte E u 1 e r ihm ins Wort fallen und sagen: Aber wie, mein verehrter Herr Kollege? Sollte der himmliche Vater die Bitten seiner Kinder denn nicht erhören können, o h n e den Lauf der Dinge zu verändern? Wie mancher Vater sieht diese oder jene Bitte seines Kindes v o r a u s und leitet, wenn er sie für vernünftig hält, ihre Erfüllung schon in die Wege, b e v o r das Kind die Bitte aussprach. Dann war die „Veränderung" gar nicht nötig. „Der himmlische Vater" braucht also nur allwissend, allgütig und allmächtig zu sein, wie das der christliche Glaube ja voraussetzt, dann finden
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die Bitten der Kinder ihre Erhörung schon i n n e r h a l b desjenigen „Ganges der Dinge", den der „himmlische Vater" der Welt, die er erschuf, vorzeichnete. E n t g e g e n diesem naturgesetzlichen Verlauf brauchte also nichts zu geschehen, „Veränderung", „Wunder", „ b e s o n d e r e Fügungen" waren dann überflüssig, und dennoch gäbe es „Gebetserhörungen". Der Ausdruck: „Gebet als eine F o r m der physikalischen Energie" paßt auf diesen Standpunkt nicht; wer ihn vertritt, wird das Gebet eher auffassen als eine der Formen, in denen geistige Energie 15 ) auftreten kann. — Hat T y n d a l l den gemeinschaftlichen Boden, auf dem er mit seinem Gegner steht, in der angegebenen Weise gekennzeichnet, so sucht er nun auch das Trennende klar zu machen, indem er sagt: „Ich gebe zu, daß der Theologe ein ebenso gutes Recht hat, wie ich, seine Vorstellungen aus den Naturerscheinungen herzuleiten. Aber ohne B e s t ä t i g u n g ist eine theoretische Vorstellung ein bloßes Hirngespinst, und an diesem Punkte führen leider unsere Wege auseinander. Das Gebiet der Theorie liegt sowohl in den Naturwissenschaften, wie in der Theologie jenseits des Bereichs unserer S i n n e ; aber die B e s t ä t i g u n g muß sichtbar und greifbar sein. Um eine Theorie zu prüfen, muß man einfach die Folgen, die sich aus ihr ergeben, mit den wirklich beobachteten vergleichen. Stimmen diese überein, so ist die Theorie ) Zu E u 1 e r s Zeiten wahrscheinlich noch nicht, wohl aber heutzutage lassen viele s o l c h einen Unterschied von Energiearten überhaupt nicht gelten. 15
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richtig; widersprechen sie sich, so müssen wir die Theorie aufgeben." Dann erläutert T y n d a l l das an dem Beispiel, bei dem N e w t o n s Emissionstheorie infolge der Experimente von F i z e a u und F o u c a u l t fallen gelassen wurde, und fährt fort: „Aber während die N a t u r w i s s e n s c h a f t sich dieser Probe ihrer Theorien bereitwillig unterwirft, scheint es unmöglich, eine Methode zu finden, durch welche die Theorien der Theologen geprüft werden können, ohne deren Entrüstung zu erregen . . . Ich habe das Gefühl, das zum Beten drängt, stets als etwas Heiliges empfunden. Es ist eine Macht, die ich nicht vernichtet, sondern nur in richtige Bahnen gelenkt - sehen möchte . . . In irgendeiner . . . Form mag sie in der Tat zur höchsten Kulturentwicklung des Menschen notwendig sein. Soviel ist gewiß: Während ich unter denen, die zum Gebet ihre Zuflucht nehmen, viele menschlich sehr tief stelle, . . betrachte ich andere als die höchste Blüte der Menschheit. Bei den einen erhöht der christliche Glaube die Torheit und Grausamkeit, bei den anderen verwandelt er sich in Milde, Heiligung, Barmherzigkeit und Selbstlosigkeit." — Wenn T y n d a l l im Vorstehenden sagte, daß die Theorie des Theologen ebenso wie die des Physikers ihre Annahme durch „Bestätigungen" erziele, so hat er sich damit auf den schon angeführten Standpunkt des Evangelisten M a r k u s gestellt, der sich ausspricht in dem Satze: Christus habe das Wort der Apostel „bekräftigt durch die darauffolgenden Wunder". Daher scheint doch in dem bloßen Gedanken, daß T y n d a l l eine „Bestäti-
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Abschnitt IV.
gung" des Wortes verlangt 1 6 ), noch kein genügender Grund zu theologischer „Entrüstung" zu liegen. Sehen wir also von jeder Animosität ab und stellen die Frage: Worin soll eine solche „Bestätigung" denn überhaupt bestehen? Jedenfalls muß die „Bestätigung", damit sie wirke, von Menschen doch e r f a h r e n werden. Erfahrungen aber gibt es von zweierlei grundverschiedener Natur, innere und äußere, und beide können geeignet sein, das Walten und Wirken Gottes einem Menschen zu „bestätigen". Von den inneren Erfahrungen zu reden, ist hier nicht der Ort, nur äußere Erfahrungen können in Betracht kommen, wenn in dem von uris benutzten Wortsinne über „Experimental-Theologie" gehandelt wird. So haben ja auch alle im vorigen erwähnten Beispiele lediglich äußere Erfahrungen zum Gegenstande gehabt. Diese waren, wie wir sahen, von verschiedener Art: wie hat nun wohl T y n d a 11, wie haben überhaupt nachdenkende Leute geurteilt über äußere Erfahrungen, die als B e s t ä t i g u n g t h e o l o g i s c h e r Aussagen gelten können? — Inwiefern besitzt der Mensch Mittel und Wege zu solchen Bestätigungen? — Darüber soll im folgenden eingehend gehandelt werden. 16 ) Vgl. hierzu E s s e r - M a u s b a c h , tum, Kirche", S. 409,
„Religion, Christen-
Zweite Abteilung.
Ausblicke für Gegenwart und Zukunft. v.
Das statistische Verfahren. Im vorigen Abschnitt (S. 19 f.) sind über die Beziehung zwischen „Gebet" und „Wunder" eigenartige Gedanken angeführt worden, deren Gesamtheit ich kurz als den „ S t a n d p u n k t E u l e r s " bezeichnen möchte, ohne aber damit behaupten zu wollen, E u 1 e r sei der erste oder der hervorragendste Mann gewesen, der ihn vertreten habe. Das mag vor ihm wie nach ihm auch von andern Denkern geschehen sein, nur liegt gerade E u 1 e r als Mathematiker und Physiker mir persönlich näher als die andern und hat bereits vor vielen Jahren meine besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen 17 ). Der Kern seiner dargelegten Gedanken ist enthalten in dem Ausspruch, daß Gott alle Gebete, da er sie voraussah, schon erhören konnte, a h n e irgendein W u n d e r zu tun, o h n e den n a t ü r l i c h e n Verlauf der Ereignisse zu ändern. Er brauchte ja nur die Einrichtung und die Gesetze der Welt, die er erschuf, so zu gestalten, daß alle beabsichtigten Zwecke erreicht wurden. " ) Vgl. C. I s e n k r a h e , „ E u l e r s Theorie von der Ursache der Gravitation". (Zeitschrift für Mathematik und Physik. Historisch-literarische Abteilung, 1881, S. 1—19.)
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Einen ähnlichen Gedanken trägt P o h l e in seiner Abhandlung über „Natur und Übematur" vor, die der Apologetik von E s s e r - M a u s b a c h einverleibt ist, dort führt er in dem Abschnitt, der von der „Vereinbarkeit des Wunders mit der modernen Naturauffassung" handelt, auf S. 436 aus: „Wenn Gott in seinem höheren Weltplan auch das Wunder vorgesehen und als wohlmotivierte Ausnahme von der Regel in denselben von Ewigkeit her mit aufgenommen hätte, um sich aus reiner Liebe und Barmherzigkeit dem Menschengeschlecht in außerordentlicher Weise zu offenbaren, so ist klar, daß das Wunder in die Weltordiiung ebensogut hineingehören würde als die physische Naturordnung selbst. Zur Natur würde das Wunder zwar einen Gegensatz bilden, aber keinen Widerspruch. Der göttlichen Vorsehung vorschreiben, daß sie ihren Willen und ihre Macht lediglich in der Naturordnung und der Naturgesetzlichkeit zum erschöpfenden Ausdruck bringe und sich des Wunders überall streng enthalte, hieße nichts Geringeres, als der göttlichen Weisheit, Güte und Liebe willkürlich Schranken ziehen und die Allmacht in eine unzulässige Abhängigkeit von der kontingenten Naturordnung bringen. Gewiß wäre auch eine W e l t o r d n u n g möglich, deren Grundplan sich vollständig mit der N a t u r o r d n u n g deckte: dann hätten wir eine Welt ohne jedes Wunder. Aber auch so könnte man höchstens von einer Unwirklichkeit, nicht aber Unmöglichkeit des Wunders sprechen. Nicht die Natur hätte den Allmächtigen, sondern der Allmächtige sich selbst mit Freiheit gebunden."
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P o h l e s Gegenüberstellung von W e l t o r d n u n g und N a t u r o r d n u n g fehlt bei E u 1 e r , wie überhaupt die Unterscheidung von „Welt" und „Natur". Der natürliche „Lauf der Begebenheiten" ist ihm eben der „Lauf der Welt" und vollzieht sich gemäß derjenigen „einmal festgestellen Einrichtung", die der allmächtige, allwissende und allgütige Gott seiner Schöpfung gegeben hat. Wer dem beistimmt, der wird z. B. sogar in betreff des im Buche Josua beschriebenen Ereignisses nicht bloß keinen „Widerspruch", sondern auch keinen „Gegensatz zur Natur" finden. Er wird sagen: Gott mag eine Bremsvorrichtung angeordnet haben, welche die Erde momentan in Ruhe versetzte, wie der Physiker ja im Rahmen der Naturgesetze eine rotierende Scheibe oder Kugel 18 ) mit Hilfe eines passend angebrachten elektrischen Stromes rasch zum Stillstehen bringen und auch wieder in Drehung versetzen kann. Daß das kosmische „Wie?" uns verborgen ist, stößt im Hinblick auf einen allmächtigen Gott die Theorie nicht um. — Eine andere Sache aber bildet die vorhin schon erwähnte Frage: Inwiefern haben solche Ereignisse dann, wenn sie als „natürliche" gelten, noch den Charakter einer „Probe", einer „ K e n n z e i c h n u n g " göttlichen Waltens? Wie springt jene „ B e s t ä t i g u n g " heraus, die T y n d a l l im Einklang mit vielen Theologen verlangt und erwartet? — Wenn wir im Gewitter weiter nichts als eine Anzahl elektrischer Entladungen sehen, so bilden die Donner l s ) Ganz nebenher mag hier erwähnt werden, daß man aus dem hohen spezifischen Gewicht der Erdkugel und aus manchen magnetischen Erscheinungen auf einen metallischen, vornehmlich eisernen Kern geschlossen hat.
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Abschnitt V.
keine Probe von Thors Hammerschlägen. Wenn die Kometen Irrsterne sind, so bedeuten sie nicht mehr die Zuchtrute Gottes. Und wenn der warme Regen eine natürliche Folge des Äquatorialstromes ist, so kann er nicht als offensichtlicher Beweis einer Gebetserhörung gelten. Dennoch aber weist auch die Naturlehre schon hin auf einen gangbaren Weg, um von S i c h t b a r e m auf U n s i c h t b a r e s zu schließen. Weniger denke ich dabei an Theorien allgemeinen Charakters, wie an die Äther- oder die Atomtheorie oder an die A m p è r e sehen Molekularströme, als vielmehr an Einzelergebnisse von besonderer Art, die auf einer statistische^ Unterlage ruhen. Hat sich z. B, gezeigt, daß außergewöhnlich starke Beunruhigungen der Magnetnadel an eine gewisse P e r i o d e gebunden sind, desgleichen auch außergewöhnliche Polarlichter; hat sich andererseits gezeigt, daß außergewöhnliche Häufungen von Sonnenflecken ebenfalls periodisch wiederkehren, und ist nun die Periode der magnetischen Störungen die g l e i c h e wie die der Sonnenflecken, so betrachtet der Physiker das als ein Argument, wennschon noch nicht als einen zwingenden Beweis dafür, daß die Sonne in irgendeiner uns allerdings noch verborgenen Weise auf den Erdmagnetismus einwirke i e ). Ähnlich ist nun auch die Art, wie gewisse Ergebnisse der S t a t i s t i k in Anspruch genommen werden, um t h e o l o g i s c h e Schlüsse darauf zu bauen. Schon das numerische Wachstum der Bekenner dieser oder 1S ) Vgl. dazu den Artikel „Über die Natur der Nordlichtstrahlen" von Prof. Dr. S t a r k (Greifswald) in der Wochenschrift „Die Naturwissenschaften", 1918, S. 145 ff.
Das statistische Verfahren.
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jener Religion wird dafür verwendet. Zugunsten des Christentums pflegt man u. a. die allmähliche Abschaffung der Sklaverei und die gehobene Stellung der Frauen anzuführen. Einzelne Konfessionen werden verglichen auf Grund von statistischen Erhebungen über den Stand der Sittlichkeit. Angesichts des außerordentlichen Übereifers, den die schottische Geistlichkeit in Hinsicht auf die Feier des Sabbats entwickelte, wollte T y n d a 11 in einer zu Glasgow gehaltenen Rede 2 0 ) eine Berechtigungsprobe auf Grund von Erfahrungen vorführen. Dabei sagte er (S- 39} zunächst allgemein: „Die Weltgeschichte ist eine gewaltige Sammlung e x p e r i m e n t e l l e r E r f a h r u n g e n . " In den danach (S. 48) folgenden Ausführungen läßt er sodann einen S c h o t t e n über sein eigenes Vaterland sprechen. Dieser Schriftsteller (T nennt ihn nicht) äußert sich u, a, folgendermaßen: „Die anhaltenden Bemühungen per fas et nefas eine strenge Observanz des Sabbats zu erzwingen, haben allerdings zu außerordentlich gesitteten Zuständen am Sonntage geführt, aber nur, soweit der äußere Schein reicht. Der Puritanismus mit seinen unerbittlichen Anforderungen regiert in Schottland seit drei Jahrhunderten, und dennoch ist gegenwärtig die Summe der Verbrechen, Laster und Trunkenheit im Verhältnis zur Bevölkerung ebensogroß, wenn nicht im einzelnen noch größer, als in England. Eine der abschreckendsten Eigenschaften Schottlands ist aber 20
) Eine von A. v. H e l m h o l t z und E. d u B o i s - R e y m o n d besorgte deutsche Übersetzung davon befindet sich in dem Sammelbande: J o h n T y n d a l l , „Fragmente, Neue Folge". Braunschweig 1S95, S. 1—54.
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Abschnitt V.
die widerwärtige Unreinlichkeit und Gottlosigkeit seiner großen Städte " Im Hinblick auf den Umstand, daß die anscheinend übertriebene Strenge der Vorschriften in Schottland nicht bloß für alle industriellen, sondern auch für die wissenschaftlichen Arbeiten und Bemühungen ein gewaltiges Hemmnis bedeuteten, fährt T y n d a l l hier fort: „Damit berühren wir den Kern der Sache, das Ergebnis unserer Erfahrungen. Der Sabbatzwang ist versucht worden; es fragt sich nun: Sind seine Folgen so segensreich gewesen, hat er so wesentlich zur Gesittung und zum Wohle des Volkes beigetragen, daß jeder Versuch, ihn zu mildern, frevelhaft wäre? Bekanntlich sind die in unserer Zeit von Fachgelehrten in allen Zweigen des Wissens gemachten Errungenschaften außerordentlich groß; mit ihnen wächst auch der Wissensdrang des Publikums, der naturgemäß durch die geistigen Triumphe der Gegenwart angeregt wird. Soll dieser Wissensdrang, die Quelle jedes wahren und gesunden Fortschritts, erstickt werden oder unbefriedigt bleiben, um Gebräuche zu schonen, die . . . im 17. Jahrhundert während einer Periode nationaler Verdüsterung und Not zum ersten Male durchgesetzt wurden? Um eine solche Forderung zu rechtfertigen, müßten die Sabbatarier einen vollständigen Erfolg aufzuweisen haben. Ist dem so? Sind wir soviel besser als andere Nationen, die sich unsere Gesetze n i c h t angeeignet haben, daß wir auf die Wirksamkeit dieser Gesetze in der Vergangenheit hinweisen können, als Grund, sie auch künftig unverändert aufrecht zu erhalten? Die Antwort lautet: N e i n ! "
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Im Rahmen unserer Erörterungen kommt aus diesen Sätzen T y n d a l l s nur der wichtige Umstand in Betracht, daß in Fällen, wo von eigentlichen Wundern keine Rede ist, wohl aber Geschehnisse erwogen werden, die mit Gott und der Gottesverehrung zusammenhängen, gewisse P r o b e n , Z e u g n i s s e , Bestätigungen der Existenz und Wirksamkeit Gottes uns dargeboten sein können. Mögen solche mitunter versagen, so hindert das noch durchaus nicht, daß sie demgegenüber dann und wann eine erhebliche Kraft haben. Daß die „ s t a t i s t i s c h e Methode" der Apologetik wichtige Dienste zu leisten vermöge, darf man nicht in Abrede stellen. Und wie die „ s t a t i s t i s c h e " Mechanik1'1) und Wärmelehre neuerdings in die Experimental- P h y s i k aufgenommen worden und darin zu großer Bedeutung gekommen ist, so darf man das „ s t a t i s t i s c h e " Verfahren wohl auch der „Experimental- T h e o l o g i e " zurechnen. Die Statistik sammelt und vergleicht jene „Früchte", an denen man, wie der Heiland bei Matth. 7, 33 und Luk. 6, 44 uns lehrt, „den Baum erkennen" soll. 2 1 ) Prof. R i e b e s e i l schreibt in seiner Abhandlung über „Die neueren Ergebnisse der theoretischen Physik usw." („Die Naturwissenschaften", 1918, S. 64): „Vorläufig müssen wir uns daher begnügen, die Naturgesetze als Gesetze des d u r c h s c h n i t t l i c h e n Verhaltens, als s t a t i s t i s c h e Gesetze anzusehen, wofür die statistische Mechanik mit der Heranziehung der Wahrscheifllichkeitsrechnung das Vorbild gegeben hat."
I s e n k r a h e . Experimental -Theologie.
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VI.
Über die Stellungnahme zu den Wundern im allgemeinen. Wohl ohne Ausnahme haben alle Apologeten zu den W u n d e r n Stellung genommen und ihre Stellungnahme mehr oder weniger ausführlich erörtert. Sehr häufig und auch mit Recht unterscheidet man dabei die Art, wie man sich den historischen Wundern gegenüber zu verhalten habe, von der Behandlung und Beurteilung derjenigen als „Wunder" bezeichneten Ereignisse, die in u n s e r e n Tagen geschehen. Gewisse Grundsätze gelten jedoch für beide Arten, so namentlich der Anteil, den die sogenannten „ F a c h w i s s e n s c h a f t e n " daran zu nehmen haben; dabei kann aber in einem Falle diese, im anderen Falle jene Fachwissenschaft vornehmlich in Betracht kommen. Sehr gute Gedanken spricht P o h l e (a. a. O. S. 454 ff.) in seinem Kapitel über: „Die historische Konstatierbarkeit des Wunders" aus. Er sagt dort u. a.: „Die Zubereitung der stofflichen Unterlage für das philosophische Urteil über den Wundercharakter und die apologetische Beweiskraft eines Vorgangs hat in allen Fällen der Historiker zu übernehmen, indem er vor allem die T a t s ä c h l i c h k e i t oder die historische Wahrheit eines Ereignisses festzustellen sucht, das als Wunder angesprochen wird . . . Die erste und wichtigste Aufgabe des Historikers besteht in der Feststellung der Tatsachen nach den besten Methoden der historischen Kritik, deren Anwendung sich das Wunder selbstverständlich ebenso,' ja n o c h m e h r gefallen
Über die Stellungnahme zu den Wtmdern im allgemeinen.
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lassen muß, als jedes andere geschichtliche Ereignis. Die ganze Unvoreingenommenheit und Objektivität des Geschichtschreibers wird sich darin offenbaren, daß er sich in die Rolle eines Untersuchungsrichters hineindenkt, der die Tatsächlichkeit eines Vergehens aus Zeugenaussagen zu konstatieren hat. Hier wie dort hängt der Erfolg ganz und gar von der Glaubwürdigkeit der Zeugen ab, d. h. von der Beantworung der zwei Fragen: a) K o n n t e n die Zeugen die Wahrheit wissen? b) W o l l t e n sie die Wahrheit auch sagen? . . . Da die Vertrauenswürdigkeit der unmittelbaren und mittelbaren Zeugenschaft bezüglich eines Ereignisses den eigentlichen Knotenpunkt des Zeugenbeweises bildet, so hat der Historiker vor allem auf dieses Hauptthema das ganze Rüstzeug der historisch-kritischen Methode zu konzentrieren." In diesen Sätzen wird der „Historiker" vorgeführt als Vertreter derjenigen „Fachwissenschaft", die in der Frage nach der „historischen Konstatierbarkeit des Wunders" ganz besonders in Betracht kommt. Faßt man demgegenüber solche als „Wunder" bezeichneten Ereignisse ins Auge, die sich zu u n s e r e n L e b z e i t e n begeben, so wird man mit demselben Rechte auch hier den Vertretern der „Fachwissenschaften" eine hervorragende Rolle zuweisen müssen. Das sind dann aber weniger die Historiker, als vielmehr je nach Lage der Sache Mediziner, Physiker, Chemiker, kurz Naturwissenschaftler. Wenn man nun in P o h l e s trefflichen Sätzen diesen U m t a u s c h d e r „ F a c h m ä n n e r " vornimmt, so wandeln sie sich um und gestalten sich folgendermaßen: „Die Zubereitung der stofflichen Unterlage für das philosophische Urteil über den Wundercharakter und 3*
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Abschnitt VI.
die apologetische Beweiskraft eines Vorgangs hat in allen solchen Fällen der N a t u r w i s s e n s c h a f t l e r zu übernehmen, indem er vor allem die T a t s ä c h l i c h k e i t oder die objektive Wahrheit des Ereignisses festzustellen sucht, das als Wunder angesprochen wird. . . . Die erste und wichtigste Aufgabe des Vertreters der in Betracht kommenden Naturwissenschaft besteht in der F e s t s t e l l u n g d e r T a t s a c h e n nach den besten Methoden der wissenschaftlichen Technik, deren Anwendung sich das Wunder selbstverständlich ebenso, ja noch mehr gefallen lassen muß, wie jedes andere der naturwissenschaftlichen Forschung unterliegende Ereignis. Die ganze Unvoreingenommenheit und Objektivität des prüfenden Fachmanns wird sich darin offenbaren, daß er sich in die Rolle eines Untersuchungsrichters hineindenkt, der die Tatsächlichkeit der behaupteten Geschehnisse aus den darüber angestellten Beobachtungen zu kontrollieren hat. Hier wie dort hängt der Erfolg ganz und gar von der Zuverlässigkeit des Fachmanns ab, d. h. von der Beantwortung der zwei Fragen: a) K o n n t e der Fachmann durch Anwendung der ihm zu Gebote stehenden Kenntnisse und technischen Prüfungsmittel den wirklichen Sachverhalt einwandfrei feststellen? b) W o l l t e der Fachmann die Ergebnisse seiner Forschung auch kundgeben? . . . . Da die Vertrauenswürdigkeit der bei der Prüfung unmittelbar oder mittelbar in Dienst gestellten Vertreter der betreffenden Fachwissenschaft den eigentlichen Kernpunkt des Beweises bildet, so haben diese Fachleute das ganze zur Sache gehörige Rüstzeug ihrer Wissenschaft in Anwendung zubringen."
Über die Stellungnahme zu den Wundern im allgemeinen.
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Genau so ernst, wie P o h l e die Aufgabe des H i s t o r i k e r s bei den historischen Wundern auffaßt, ist bei den hier in Betracht genommenen Vorkommnissen die Aufgabe der n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h beteiligten Fachmänner aufzufassen. Der Sachgrund ist beidesmal der gleiche: er liegt in der Würde des Gegenstandes und in dem hervorragenden Wert des apologetischen Zieles. Und wenn die Vertreter der naturwissenschaftlichen Fächer schon bei Fragen von geringscheinender Bedeutung heutzutage durchweg eine Arbeitsfreudigkeit, eine Genauigkeit, eine Schärfe der Kritik anzuwenden pflegen, von der der Außenstehende sich meist gar keine Vorstellung macht, so erfordern solche Angelegenheiten, bei denen ein „ W u n d e r " überhaupt in Frage kommt, nicht bloß die gleiche Aufbietung der „besten Methoden wissenschaftlicher Technik", sondern, wie P o h l e richtig bemerkt, eigentlich „noch mehr", noch einen erhöhten Arbeitseifer, eine gesteigerte Selbstkritik. Sehr verwerflich ist es, bei derartigen Prüfungen „aprioristische Vorurteile" mitzubringen. P o h l e sagt darüber u. a. (S. 458 f): „Wohin die Versteifung auf die angebliche Unmöglichkeit einer von Augenzeugen beglaubigten Tatsache sogar manche Naturforscher geführt hat, dafür mögen zwei bekannte Beispiele aus der Geschichte der A s t r o n o m i e als Warnung dienen." Jene Beispiele sind sehr treffend, gehören aber einer ziemlich entlegenen Zeit, dem achtzehnten Jahrhundert an und beziehen sich auch nicht auf „Wunder". Gewiß spielen „Vorurteile" auch heutzutage eine große Rolle, und zwar nach beiden Seiten hin, d- h. f ü r und g e g e n
38 die Zwecke der Apologetik. Man mag also nur immer wieder die Mahnung zur V o r s i c h t einschärfen! — Anschließend an seine astronomischen Beispiele fährt P o h l e fort: „Gegenüber solchen Entgleisungen wird der wahre Historiker von Beruf gerne die Forderungen unterschreiben, die der berühmte Bollandist P. de S m e e d t an den Kritiker stellt: „Glühende Liebe zur Wahrheit, Herrschaft über seine Gefühle, Scheu vor aprioristischen, auf Daten [dieses mehrdeutige Wort ist Mißverständnissen ausgesetzt] beruhenden Urteilen, die der Geschichtswissenschaft fremd sind, gewissenhaftes Studium der Texte, Unabhängigkeit des Urteils: das ist es, was der Kritiker braucht." Wenn wir den vorhin erwähnten „Umtausch der Fachmänner" auch hier wieder vornehmen und statt des „Historikers" den „Naturwissenschaftler" einsetzen, so können wir die „Wahrheitsliebe" und die „Scheu vor Voreingenommenheit" beibehalten, müssen aber aus dem „gewissenhaften Studium der T e x t e " ein Studium der s i n n f ä l l i g e n T a t s a c h e n machen. Und was der Fachmann „dazu braucht", ist eigene Sinnenschärfe und die Vertrautheit mit allen erforderlichen Instrumenten und Methoden. Der Historiker bedarf, um „Texte" zu lesen und richtig zu verwerten, fachmännischer Ü b u n g und S c h u l u n g . Nicht minder bedarf der Naturwissenschaftler, um ein Problem der „Experimental-Theologie" mit durchschlagendem Erfolg bearbeiten zu können, der Übung und Schulung im genauesten Messen und Wägen wie überhaupt in der Handhabung jener zahlreichen Apparate und Präparate, deren sich der Chemiker, der
Lourdes.
Physiker, der Mediziner zur Feststellung der in sein Fach einschlagenden Tatsachen bedient. Das Verfahren, die T a t s a c h e n f e s t z u s t e l l e n , soll erst den Boden liefern zur richtigen B e u r t e i l u n g der Geschehnisse. Zutreffend bemerkt hierzu P o h l e (S. 460): „Und diese Methode muß selbstverständlich auch auf W u n d e r t a t s a c h e n eine zwar strenge, aber vorurteilslose Anwendung finden." VII.
Lourder Heilungen- Lourder Veröffentlichungen. Wenn von den „Wundern unserer Tage" die Rede ist, so denkt wohl jedermann zunächst an L o u r d e s . Über die dortigen Geschehnisse ein Urteil abzugeben, würde ich mir vielleicht gestatten dürfen, wenn meine Fach- und Berufswissenschaft die Medizin wäre, und ich an Ort und Stelle die Dinge eingehend genug beobachtet hätte. Da das nicht der Fall, ich aber an diesem alle Welt so mächtig erregenden Thema in gegenwärtiger Schrift dennoch nicht füglich stillschweigend -vorübergehen kann, so beschränke ich mich darauf, aus der einschlägigen überreichen Literatur 2 2 ) ein paar ku rze Proben hier anzuführen. Wie v o r s i c h t i g e Apologeten den Stoff behandeln, zeigt u. a. S a w i c k i in seinem Buche über „,die Wahrheit des Christentums", worin er (S. 340 f.) ausführt: 2 2 ) Die erste epochemachende Schrift war meines Wissens die von H. L a s s e r r e mit dem Titel: „Notre Dame de Loiurdes", Paris 1870. Die deutsche Ausgabe von M. H o f f m a n n ist iin 9. Auflage bei Herder erschienen.
Lourdes.
Physiker, der Mediziner zur Feststellung der in sein Fach einschlagenden Tatsachen bedient. Das Verfahren, die T a t s a c h e n f e s t z u s t e l l e n , soll erst den Boden liefern zur richtigen B e u r t e i l u n g der Geschehnisse. Zutreffend bemerkt hierzu P o h l e (S. 460): „Und diese Methode muß selbstverständlich auch auf W u n d e r t a t s a c h e n eine zwar strenge, aber vorurteilslose Anwendung finden." VII.
Lourder Heilungen- Lourder Veröffentlichungen. Wenn von den „Wundern unserer Tage" die Rede ist, so denkt wohl jedermann zunächst an L o u r d e s . Über die dortigen Geschehnisse ein Urteil abzugeben, würde ich mir vielleicht gestatten dürfen, wenn meine Fach- und Berufswissenschaft die Medizin wäre, und ich an Ort und Stelle die Dinge eingehend genug beobachtet hätte. Da das nicht der Fall, ich aber an diesem alle Welt so mächtig erregenden Thema in gegenwärtiger Schrift dennoch nicht füglich stillschweigend -vorübergehen kann, so beschränke ich mich darauf, aus der einschlägigen überreichen Literatur 2 2 ) ein paar ku rze Proben hier anzuführen. Wie v o r s i c h t i g e Apologeten den Stoff behandeln, zeigt u. a. S a w i c k i in seinem Buche über „,die Wahrheit des Christentums", worin er (S. 340 f.) ausführt: 2 2 ) Die erste epochemachende Schrift war meines Wissens die von H. L a s s e r r e mit dem Titel: „Notre Dame de Loiurdes", Paris 1870. Die deutsche Ausgabe von M. H o f f m a n n ist iin 9. Auflage bei Herder erschienen.
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Abschnitt VII.
„Besonders die Krankenheilungen in L o u r d e s verdienen die Beachtung der Wissenschaft. Ein ständiges Ärztebüro ist in L o u r d e s eingerichtet, um den Charakter aller vorkommenden Heilungen wissenschaftlich zu untersuchen. Und mag auch die heute dabei angewendete Methode nicht immer den höchsten Anforderungen entsprechen, so beweist sie doch, daß das Wunder das Licht der Kritik nicht scheut, denn fremde, auch ungläubige Ärzte werden von keiner Untersuchung ausgeschlossen. Hier ist also die Gelegenheit geboten, exakt nachzuprüfen, ob heute noch in der christlichen Religion Wunder vorkommen oder nicht." S a w i c k i benutzt in der angeführten Stelle ein B i l d , eine eigenartige P e r s o n i f i k a t i o n , indem er sagt, daß das W u n d e r „das Licht der Kritik nicht scheue". Diese Ausdrucksweise verdient besondere Aufmerksamkeit. Das „Licht" zu scheuen, die „Kritik" zu „scheuen" oder „ n i c h t zu scheuen" kann man im e i g e n t l i c h e n Wortsinne nur von P e r s o n e n aussagen, und so kann auch S.s Aussage von der „Scheu" sich im Grunde nur auf Personen beziehen. Welche müssen denn hier dafür in Betracht gezogen werden? — Wo jemand zur Erreichung eines wichtigen Zweckes ein ihm brauchbar scheinendes M i t t e l benutzt und der Öffentlichkeit vorführt: Geldscheine zum Zahlen, Bausteine zum Bauen, Waffen zur Feindesabwehr, Arzneien zur Krankenheilung usw., da ist er s e 1 b s t die „Person", von der der Satz gilt, daß sie rücksichtlich der von ihr vorgeführten M i t t e l der „Kritik" gewärtig sein müsse und sie „nicht scheuen" dürfe. Wird also, daß es sie
Lourdes.
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nicht scheue, bildlicherweise vom „Wunder" gesagt, so sind in dieser Aussage an die Stelle des „Wunders" diejenigen P e r s o n e n einzusetzen, die das Wunder als M i t t e l zur Erreichung ihres Z w e c k e s benutzen und der Öffentlichkeit vorführen. Das sind die A p o l o g e t e n . Wenn man diesen Gedanken für richtig hält, so wird man es auch als die Aufgabe der A p o l o g e t e n betrachten, ihr vorgeführtes Beweismaterial so auszugestalten, daß es den erreichbar „höchsten Anforderungen" genüge. Entsprechen die von ihnen „angewandten Methoden" diesen Anforderungen tatsächlich n i c h t , so sind es wiederum die A p o l o g e t e n , denen die Beseitigung dieses bedauerlichen Mangels unabweislich obliegt. Klar ist, daß dafür die Zuziehung der „Fachwissenschaft", wie im vorigen Abschnitt erörtert wurde, nicht entbehrt werden kann. Und wenn das „Ärztebüro" die erforderliche Höhe der Fachwissenschaft entweder nicht besitzt oder aus irgendwelchen Gründen nicht zur Entfaltung bringen kann, so liegt hier ein wichtiger Punkt, bezüglich dessen Beseitigung die berufenen V e r t r e t e r d e r A p o l o g e t i k , insoweit sie sich auf Lourder Wunder stützen, auch die Verantwortung tragen 23 ). 2 3 ) In einer Schrift des Dr. J o h a n n A c k e r l mit dem Titel: „Was ist wahr? Der Monistenführer Dr. E d u a r d A i g n e r in seinem Kampfe gegen U. L. Frau von Lourdes" (Linz, Selbstverlag 1914), lese ich auf S. 64: „Man hat heutzutage vielfach die Meinung, als ob es ohne Untersuchung und Konstatierung von Seiten eines Arztes kein Wunder und keine wunderbare Heilung geben könnte. Das ist ein Vorurteil, welches sich durch die Tätigkeit des Ärztebureaus in Lourdes den Schein der Berechtigung verschafft hat. So anerkennenswert und providentiell, besonders im Hinblick auf die Gegner, die Existenz dieses Bureaus ist, eine Notwendigkeit ist es schließlich doch nicht . . . . Es hat von jeher
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Abschnitt VII.
Nun ist aber die Frage, um die es sich dabei handelt, eine sehr umstrittene, und so fordert es die Unparteilichkeit, daß man Rede und Gegenrede höre. In einem Artikel über „Die Wunderheilungen in Lourdes" äußert sich der Arzt Dr. E. A i g n e r zum vorliegenden Gegenstande folgendermaßen: „Das Konstatierungsbüro befaßt sich mit der Feststellung der Heilungsvorgänge. An der Spitze steht Dr. B o i s s a r i e 2 4 ) . . ., ihm zur Seite Dr. K o x . . . Wunder gegeben und es gibt heutzutage Wunder, ob nun ein ärztliches Konsilium sein Urteil darüber abgibt oder nicht." Hier scheint mir der Irrtum vorzuliegen, den man „mutatio elenchi" nennt. Ob die Beteiligung ärztlicher Fachwissenschaft in Betracht komme dafür, daß ein wunderbares Ereignis s i c h v o l l z i e h e , daß es in diesem Sinne W u n d e r g e b e : dahin geht die Frage nicht, um welche es sich hier handelt. Vielmehr kommt es an auf die genaue Feststellung derjenigen T a t s a c h e n , von denen ausgesagt wird, daß sie wunderbar seien, auf die Vergleichung dieser Tatsachen mit denen, die man für „natürliche" hält, und auf den a p o l o g e t i s c h e n Wert, den eine fachwissenschaftliche P r ü f u n g dem in Betracht kommenden Ereignis gewähren kann. Gewiß bedarf der allmächtige G o t t , um ein Wunder zu wirken (A c k e r 1 erwähnt beispielsweise den Durchzug durchs Rote Meer, die Heilung des Blindgeborenen usw.), der Ä r z t e nichtl Es fragt sich einzig, ob der A p o l o g e t ihrer bedarf, wenn er die Heilung von Krankheiten als Beweismittel benutzt. Mag es selbst Fälle geben, in denen auch dabei noch der Arzt entbehrlich ist, so handelt es sich hier doch um die R e g e l ! Und so, wie P o h l e darin recht hat, daß bei h i s t o r i s c h e n Angelegenheiten dem fachkundigen H i s t o r i k e r die „Feststellung der historischen Wahrheit des Ereignisses" obliegt, so wird bei m e d i z i n i s c h e n Angelegenheiten der fachkundige M e d i z i n e r es sein, dem der R e g e l nach die Feststellung der in Betracht genommenen Tatsachen anvertraut werden muß. 24 ) Schriften von ihm sind: „Lourdes, Histoire médicale", „Lourdes depuis 1858 jusqu' à nos jours", „Les grands guérisons de Lourdes", „L'oeuvre de Lourdes", „Lourdes, les guérisons".
43 Ein ganzer Stab von Ärzten gruppiert sich um diese beiden Leiter. Während meiner Anwesenheit in Lourdes war Dr. F. X, G o u r a n d . . . als dritter Arzt im Büro tätig. Diesem Stab von Ärzten, der leider fast ständig wechselt [!], von dem einzelne Herren oft nur einige Stunden in Lourdes sind, fällt fast ausschließlich die Aufgabe der Konstatierungen zu. Diese durchreisenden Ärzte entfernen die Verbände, machen die ersten Untersuchungen und zeichnen auch die offiziellen Berichte im Journal de la Grotte. In diesem Wechsel und in dem Mangel einer ständig verantwortlichen einheitlichen Leitung liegt für den wissenschaftlichen Beobachter ein grundsätzlicher systematischer Fehler [!] des Konstatierungsbüros." — Eine der Gegenschriften gegen A i g n e r hat den Titel: „Der ärztliche Bezirksverein München gegen Lourdes. Pater D r ö d e r c o n t r a Dr. A i g n e r . " Essen ohne Jahreszahl. Darin heißt es S. 15: „Das Ärztebureau, wo die Kranken, welche die Atteste von ihrem Heimatsarzt stets bei sich haben müssen, untersucht und die Heilungen festgestellt werden, steht jedem Arzt offen; jeder Arzt kann und darf untersuchen; jeder Arzt wird gebeten, zu untersuchen . . . Vom Jahre 1890—1911 einschließlich gaben 5733 Ärzte aller Nationen ihre Namen im ÄrzteBureau zu Lourdes ab. Im Jahre 1911 waren 534 Ärzte im Bureau, 40 davon waren Professoren oder Chefärzte, 158 Nichtfranzosen. — So stehen die Heilungen unter der besten Kontrolle. . . ." Ob eine s o l c h e Kontrolle nun gerade „die beste", und A i g n e r s Beanstandung grundlos sei, kann man
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Abschnitt VII.
vielleicht doch noch bezweifeln. — Auf S, 19 der letztgenannten Schrift heißt es weiter: „Bei Bild Nr. 30 [es handelt sich um einen von A i g n e r in Essen gehaltenen Vortrag mit Lichtbildern] wurde uns verraten, daß im Ärzte-Bureau zu Lourdes ein Röntgenapparat nicht sei. Der wahrheitsliebende Arzt verschweigt uns aber, daß da, wo es angezeigt scheint, das Lourder Ärzte-Bureau bakteriologische Analysen, photographische Aufnahmen, Untersuchungen mittels Röntgenstrahlen [macht] oder durch Spezialisten machen läßt. In der Behandlung einer plötzlichen Knochenbruch-Heilung vom Jahre 1909 sind Röntgenbilder hergestellt worden, andere wurden vor deutschen Ärzten gezeigt. Ausführliche Beschreibung im oben erwähnten Buche S. 31 und 145 [gemeint ist das Buch von I. P. B a u s t e r t : „Lourdes und die > Gegner von dem Forum der Wissenschaft." Selbstverlag 1913], Dr. A i g n e r wollte uns glauben machen, in Lourdes gäbe es so etwas Wissenschaftliches nicht." — Demgegenüber mag aber doch wohl der Gedanke ausgesprochen werden dürfen, daß eine ärztliche Instanz, die auf der Höhe der Wissenschaft stehen will, in jedem Augenblick über ein dem derzeitigen Standpunkt der Wissenschaft entsprechendes vollständiges Instrumentarium selber verfügen muß, sowie auch über „Spezialisten", die mit dessen Handhabung vertraut sind. Bezüglich des Röntgenapparats insbesondere seien noch zwei Beispiele kurz angeführt: D r ö d e r weist auf S, 145 des B a u s t e r t s e h e n Buches hin. Dort handelt es sich um die Heilung von einem Bruch des Oberschenkelknochens, die aber nicht in Lourdes, sondern „nach Anrufung unserer lieben Frau
Lourdes.
von Lourdes in der Heilanstalt von L a T e p p e (Dröme)" stattgefunden hat. N a c h der Heillung wurden Röntgenbilder hergestellt. B a u s t e r t brinigt auf der S. 145 eine „Vordere Ansicht der Bruchstellle" und eine „Seitliche Ansicht der Bruchstelle", Das sind aber nicht etwa Röntgenbilder, sondern wie eer sagt, „schematische Abzüge" derselben. Es sind in Wirklichkeit ein paar recht flüchtige Federzeichnungen. Augenscheinlich würde die Wiedergabe der eigentlichen RLöntgen-Photographien viel überzeugender wirken. Aber wenn man schon bedauert, daß diese nicht dargeboten werden, so ist es noch viel bedauerlicher, daß der Zustancd der Bruchstelle v o r der Heilung nicht photographisch aufgenommen worden ist und also dem s p ä t e r e n Zustamde gar nicht im Bilde gegenübergestellt werden kann. Solch ein Vergleich könnte unter Berücksichtigung der zwischen den beiden Zuständen verflossenen Zeit das Urteil auf eine sehr gute Unterlage stellen. Ist das Fehlen derselben recht unangenehm, so wird man allerdings deswegen doch niemand einen Vorwurf machen woillen. Um das Ärztebureau in L o u r d e s handelt es siich ja hier auch nicht. Beteiligt ist letzteres aber be:i einem zweiten Beispiel, das ich nicht der Schrift von B a u s t e r t entnehme, sondern einem Buche vom Prof. Dr. B e r t r i n mit dem Titel: „Eine Wunderheiluing aus unsern Tagen. Beitrag zur Apologie der Lourdeswunder. Nach dem Französischen von J u l i u s G a v a . " Straßburg, ohne Jahreszahl. Es handelt sich dabei um das sogenannte „Pottsche Übel", eine tuberkulöse Erkrankung der Wirbelsäule. Dem Buche sind zwei Tafelm beigegeben. Auf der Tafel I heißt es: „ N a t ü r l i c h e H e i l u n g . Die Photographie stellt die ehemals kranke Stelle der Wirbelsäule
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am Skelett eines [längst begrabenen] Individuums dar, das auf n a t ü r l i c h e Weise vom Pottschen Übel geheilt worden ist.". Auf der Tafel II steht: „ Ü b e r n a t ü r l i c h e H e i l u n g . Radiographie der dorsolumbalen Rückengegend, aufgenommen an Fräulein Tulasne nach ihrer Heilung in Lourdes." Tafel I gibt Photographien von Teilen eines Skeletts, Tafel II eine Röntgenaufnahme der Wirbelsäule, wie sie sich bei der lebenden Person n a c h der Heilung auf der Platte zeigte. Hier ist wiederum zu bedauern, daß eine Röntgenaufnahme v o r der Heilung fehlt. Bekanntlich prägen sich die am Knochengerüst befindlichen Anomalien bei Röntgenaufnahmen stets am deutlichsten aus, und das Ärztebureau hätte Anlaß, gerade derartigen Krankheitszuständen eine besondere Aufmerksamkeit von vornherein zuzuwenden, also den Versuch mit Röntgenstrahlen schon vorher anzustellen, ehe die religiösen Akte vorgenommen sind, bzw. ehe die Kranken zu diesen zugelassen werden. Vielleicht können auf solche Art die Beweismittel eine ganz bedeutende Verstärkung erlangen. Dabei müßte das physikalische, chemische und medizinische Rüstzeug mindestens auf der Höhe einer Untersuchungsstation unserer UniversitätsKliniken stehen. — Vielleicht wendet man den Kostenpunkt ein. Aber wenn es wahr ist, was A i g n e r in der „Umschau" aus einer „katholischen Statistik" entnimmt, daß „im letzten Jahre [1912] 50—60 Millionen Frs. durch 21/-' Millionen Pilger nach Frankreich gebracht worden sind", so könnte daraus doch wohl ein zweckgenügender Tribut entnommen werden. Aber selbst im Falle das nicht angängig sein sollte, so wäre — das ist die unmaßgebliche Meinung eines Naturforschers — der in Betracht kommenden In-
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stanz zu empfehlen, daß sie, um die a p o l o g e t i s c h e B e w e i s k r a f t der Lourder Geschehnisse auf die erreichbar höchste Höhe zu bringen, lieber die äußere Pracht schmälere und sich und dem ihrerseits beeinflußten Volke O p f e r 2 5 ) auferlege, als daß sie den wissenschaftlichen Apparat Mangel leiden lasse. Das geht natürlich nicht bloß die Röntgensache an, sondern bezieht sich auf Instrumente und deren kundige Handhaber im allgemeinen. Neben dem vorstehend erörterten Punkt, der die fachwissenschaftlichen Feststellungen betrifft, kommt aber noch ein zweiter sehr wichtiger in Frage, nämlich die fachwissenschaftlichen Veröffentli25) Daß die hier in Rede stehende Angelegenheit ganz entschieden der „Opfer" wert sei, leuchtet auch der G e g e n s e i t e ein. Eigens für eine genaue Untersuchung' der „Lourdes-Frage" will der ,,M o n i s t e n b u n d " Mittel aufbringen! — Im ersten Morgenblatt der Frankfurter Zeitung vom 3. Sept. 1912 befindet sich folgendes „Privattelegramm": „ D e u t s c h e r M o n i s t e n t a g . Magdeburg, 7. Sept. In der heutigen ersten Delegiertenversammlung des hier tagenden Monistenbundes sprach zuerst Dr. J u l i u s B u r g e r (Steglitz) über die sozialen Aufgaben des Monismus. . . . Sehr interessant sprach Dr. A i g n e r (München) über seinen 14tägigen Aufenthalt in Lourdes, dem Ort der Wunderheilungen. Durch die deutschen Pilgerzüge würden jährlich etwa 60 Millionen nach Lourdes getragen. Eine Umfrage bei etwa 5000 Ärzten habe ergeben, daß noch immer 5 Proz. der Ärzte an eine überirdische Wunderheilung in Lourdes glauben. Redner hofft, daß es möglich sein werde, d i e M i t t e l a u f z u b r i n g e n für eine R e i s e einer großen Anzahl Ärzte nach L o u r d e s zur P r ü f u n g der dortigen Vorgänge. In der Nachmittagssitzung standen die eingebrachten fünfzehn Anträge zur Beratung. Sie fordern u. a. . . . regere wissenschaftliche Betätigung zur A u f k l ä r u n g solcher Vorgänge im Leben, die m i t d e n N a t u r g e s e t z e n i n W i d e r s p r u c h zu s t e h e n s c h e i n e n usw. Die Anträge wurden a n g e n o m m e n."
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Abschnitt VII.
c h u n g e n i n bezug auf Inhalt und Form. Auch in dieser Hinsicht ist behauptet worden, daß die dabei angewandte Methode den berechtigten Anforderungen keineswegs entsprochen habe. Und wenn es freilich G e g n e r sind, die das sagen, so ist zu bedenken, daß man auch vom Gegner lernen soll, und daß den Klugen ein Feind oft mehr lehrt als zehn Freunde. Der Lourdes-Gegner Dr. A i g n e r schreibt in der „Umschau" (1913, S. 12) u. a.: „Bereits in den ersten Tagen [des Aufenthaltes in Lourdes] brachte die Abendausgabe der Lourder Tagespresse die Schilderung von der Heilung einer Deutschen. Ich legte andern Tages den Bericht einem Krankenträger vor. Auf meine Bitte um Auskunft erhielt ich die ernüchternde Antwort: ,Das müssen Sie nicht glauben; wenn das wahr wäre, müßten wir es wissen.' Tatsächlich stellte sich bei allen weitern Nachforschungen heraus, daß die Tagespresse in Lourdes in einer ganz unverantwortlichen Weise unter genauer Angabe der Personalien, der Krankheit und der Heilungsvorgänge von Wundern erzählte, ohne daß auch nur das Geringste an diesen Berichten wahr wäre . . . Ich habe nicht versäumt, bei der Leitung des Konstatierungsbureaus und bei der klerikalen Leitung in Lourdes gegen dieses Vorgehen zu protestieren. Man wies mich darauf hin, daß man für diese Presse-Berichte eine Verantwortung nicht übernehmen könne. Das ,Journal de la Grotte' sei allein offiziell von der Leitung inspiriert. Man gab das unkorrekte Vorgehen der andern Redaktionen ohne weiteres zu, und Bischof S c h o e p f e r , das Oberhaupt der geistlichen Behörde in Lourdes, schloß die Unterredung über diesen Punkt
Lourdes.
mit den Worten: ,C'est le commerce' (das ist das Geschäft) . Es muß nachdrücklich betont werden, daß die verantwortliche Stelle in Lourdes dadurch, daß sie den Journalisten Z u t r i t t zu den Vorstellungen der (Geheilten' im ärztlichen Konstatierungsbureau gestattet, sich zur Mitschuldigen dieser falschen Berichterstattung macht, und es wird Sache der Verfechter des Bundesglaubens [Was heißt das? vielleicht Druckfehler statt Lourdesglaubens oder Wunderglaubens?] sein, diesen Mißstand zu beseitigen, wenn Lourdes ferner ernst genommen werden will." Nach deutschen Verhältnissen zu urteilen, hat eine Gesellschaft von Ärzten hinreichende Mittel, um falsche Presse-Nachrichten zu verhindern und gegebenen Falles ihre Wirkung zu beseitigen. Nützt eine V e r w a r n u n g nicht, so wird der A u s s c h l u ß des Berichterstatters wohl nützen. Jedenfalls aber ist die öffentliche K o r r e k t u r der Falschmeldung erforderlich: das verlangt die Würde des Gegenstandes und die weittragende Verantwortlichkeit der Personen. Unerbittliche Strenge bei Feststellung der Tatsachen 2 0 ), unerbittliche Kontrolle ) Sehr berechtigt finde ich, was P o h l e (a. a. O. S. 467) hierüber sagt: „Die wissenschaftlichen Untersuchungen sollten mit aller nur wünschenswerten Strenge und Akribie geführt werden. J e rigoroser und sorgfältiger das Konstatierungsbureau in Lourdes verfährt, je unparteiischer es unter Zuziehung auch von ungläubigen, atheistischen Gelehrten zusammengesetzt ist, desto höher steigen die Chancen, die historische Konstatierbarkeit des Wunders an lebenden Exemplaren praktisch zu erproben. E s sei ausdrücklich bemerkt, daß die monographische Behandlung von Einzelfällen, wenn sie nach allen Regeln der historischen, philosophischen und theologischen Kritik durchgeführt wird, der Wissenschaft und der -Religion größere Dienste leistet, als die mehr oder weniger un20
I i e n k r a h e , Experimental-Theologie.
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Abschnitt VII.
der Veröffentlichungen und unerbittliche Korrektur aller zur Kenntnis gekommenen irrigen Darstellungen von erkritische Zusammentragung von Heilungen, deren Antezedenzien, Begleitumstände und Dauerhaftigkeit nicht bis ins kleinste Detail kritisch erforscht sind. H i e r b l e i b t w o h l n o c h v i e l e s n a c h z u h o l e n." Den letzten Satz habe ich mir erlaubt zu unterstreichen, und ich möchte ihn ergänzen durch den Zusatz: „und manches künftig zu vermeiden". — Aufgefallen ist mir bei P o h l e , wie er bezüglich der „Wunder an lebenden Exemplaren" die „ h i s t o r i s c h e " , also die „ g e s c h i c h t l i c h e " Konstatierbarkeit hervorhebt, und wie er dann nachher von den „Regeln der h i s t o r i s c h e s , philosophischen und theologischen Kritik" spricht, die Anforderungen einer n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n (physikalischen, chemischen, medizinischen) Kritik aber gar nicht eigens erwähnt. Letztere kommt bei Ereignissen, die sich in der G e g e n w a r t „an lebenden Exemplaren" abspielen, meines Erachtens doch mehr in Betracht, als die „historische". Oder was nennt P o h l e „historisch"? P o h l e s obige Bemerkung über „unkritisches Zusammentragen von H e i l u n g e n " trifft zweifellos zu bei vielen LourdesBüchern, gilt aber nicht minder auch von gewissen Schriften, die sich auf „überirdische E r s c h e i n u n g e n " beziehen und diese „in unkritischer Weise zusammentragen". Oder gibt es etwa deren nicht? — Als Beispiel nenne ich eine eben vor mir liegende, von einem Ungenannten herausgegebene Broschüre, die den Titel hat: „ E r s c h e i n u n g e n d e r M u t t e r G o t t e s . La Salette, Pontmain, Lourdes, Krüth". Rixheim 1873. Würden derartige Sammlungen, Berichte, Schilderungen und Anmutungen nur von frommgläubigen Leuten gelesen, so wäre nicht eben viel dagegen zu erinnern. Fallen sie aber Zweiflern, Ungläubigen oder gar bissigen Gegnern in die Hand, so wirken sie abstoßend und schaden dem werbenden Zweck unserer Apologetik sehr. Des zum Beweise brauche ich nur an die in meinem Blutwunderbuche (S. 76) erzählte Begebenheit zu erinnern, bei der eine Amerikanerin mir vor dem Dom zu Neapel die höhnische Bemerkung ins Gesicht warf: „Die Katholiken glauben ja einfach a l l e s."
Lourdes.
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heblicher Bedeutung gehören dazu, daß eine Veranstaltung von streng forschenden, genau prüfenden und urteilenden, wahrheitsbegierigen Leuten „ernst genommen" werde 2 7 ). Mag die vollkommene Erreichung des Überwachungszieles unmöglich sein, so wird man es sich doch unentwegt vor Augen halten müssen. Insbesondere empfiehlt sich auch große Vorsicht bei Mitteilungen über das, was auf die Heilungen nachher noch g e f o l g t ist. So schreibt Dr. F, d e B a c k e r („Lourdes und die Ärzte", Trier 1906, S. 36) bezüglich jener Heilung der Frau R o u c h e 1, die durch die bekannten Vorkommnisse im „Metzer Ärzteverein" während der Jahre 1904 und 1905 weitgehende Beachtung gefunden hat: „ D i e H e i l u n g i s t e i n e d a u e r n d e " , während er auf Seite 35 schon selber zugegeben hatte, daß „auf der Innenfläche der Lippe [es handelt sich um Lupus oder um Lues oder um beides] eine leichte Geschwürbildung" zurückgeblieben sei. B a u s t e r t (a. a. 0 . S. 92) erklärt: „Daß der Lupus noch einige R ü c k s t ä n d e zurückgelassen hat, das hat 27
j B a u s t e r t schreibt (a. a. O. S. 33): „Dr. B o i s s a r i e fürchtet sich auch nicht, eine einregistrierte Heilung öffentlich zu widerrufen, wenn sie sich als unecht herausstellt," und fügt Beispiele bei. — Daß Dr. B. eine Aussage, die sein Bureau veröffentlicht hat, nach Feststellung ihrer Irrigkeit widerruft, ist pflichtgemäß und zugleich klug gehandelt, erschöpft aber seine Verantwortlichkeit nicht ganz. Denn die Befugnisse sowohl wie die Hilfsmittel eines Vorsitzenden des Ärztebureaus müssen ausreichen, um auch solche Irrtümer richtig zu stellen bzw. für die Zukunft zu verhindern, die von den zwar nicht offiziellen, aber z u g e l a s s e n e n Lourder Berichterstattern veröffentlicht werden. A l l e s , was offiziell oder nichtoffiziell aus dem Bureau herstammt, muß mit aller Kraft sauber gehalten werden. Da tut Ernst und Strenge not! Der „commerce" hat zurückzutreten; hier handelt es sich um h ö h e r e , um h ö c h s t e G ü t e r ! 4*
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man auf beiden Seiten zugegeben." Und nun erzählt A i g n e r („Die Wahrheit usw." S. 30): „Im Januar 1913 besuchte ich im Metzer Spital selbst die Schwerkranke, Sie rang mit dem Tode, wenige Stunden nach meinem Besuch hatte sie ihr Leben, das die Öffentlichkeit soviel beschäftigt hatte, geendet. Sie verschied m i t s c h w e r e n lupösen Erkrankungen. So das Ende einer ,Wunderheilung von Lourdes'." Ob auf diesen schweren Angriff A i g n e r s eine Entgegnung folgte, ist mir leider nicht bekannt geworden. Man darf aber doch wohl sagen, daß bezüglich der Mitteilungen über die Heilung, ihre Vollständigkeit und ihre Andauer noch etwas größere Vorsicht wohl am Platze gewesen wäre. Ist A i g n e r s Aussage über seinen letzten Befund unwidersprochen richtig, so beeinträchtigt sie die apologetischen Zwecke sehr. — VIII.
Der Streit über das Wunder in Oostaker. Berühmter noch als die Heilung der Frau R o u c h e 1 ist die des Belgiers P e t e r d e R u d d e r i n der LourdesGrotte von Oostaker. Wie A c k e r 1 (a. a. O. S. 56 f.) mitteilt, hat der Pfarrer A n t o n v a n d e r B o m sich bereiterklärt zu einer „Wette" von 1000 K., die derjenige bekommen solle, der die Heilung „als unwahr nachweisen oder als eine natürliche erklären" könne. Ein Abbé D u p l e s s i s in Paris sei mit der Summe sogar bis auf 5000 Fr. gestiegen. Mit dieser Heilungssache haben sich auch deutsche Naturforscher angelegentlich beschäftigt, u. a. einerseits Pater W a s m a n n , andererseits
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Abschnitt VIII.
man auf beiden Seiten zugegeben." Und nun erzählt A i g n e r („Die Wahrheit usw." S. 30): „Im Januar 1913 besuchte ich im Metzer Spital selbst die Schwerkranke, Sie rang mit dem Tode, wenige Stunden nach meinem Besuch hatte sie ihr Leben, das die Öffentlichkeit soviel beschäftigt hatte, geendet. Sie verschied m i t s c h w e r e n lupösen Erkrankungen. So das Ende einer ,Wunderheilung von Lourdes'." Ob auf diesen schweren Angriff A i g n e r s eine Entgegnung folgte, ist mir leider nicht bekannt geworden. Man darf aber doch wohl sagen, daß bezüglich der Mitteilungen über die Heilung, ihre Vollständigkeit und ihre Andauer noch etwas größere Vorsicht wohl am Platze gewesen wäre. Ist A i g n e r s Aussage über seinen letzten Befund unwidersprochen richtig, so beeinträchtigt sie die apologetischen Zwecke sehr. — VIII.
Der Streit über das Wunder in Oostaker. Berühmter noch als die Heilung der Frau R o u c h e 1 ist die des Belgiers P e t e r d e R u d d e r i n der LourdesGrotte von Oostaker. Wie A c k e r 1 (a. a. O. S. 56 f.) mitteilt, hat der Pfarrer A n t o n v a n d e r B o m sich bereiterklärt zu einer „Wette" von 1000 K., die derjenige bekommen solle, der die Heilung „als unwahr nachweisen oder als eine natürliche erklären" könne. Ein Abbé D u p l e s s i s in Paris sei mit der Summe sogar bis auf 5000 Fr. gestiegen. Mit dieser Heilungssache haben sich auch deutsche Naturforscher angelegentlich beschäftigt, u. a. einerseits Pater W a s m a n n , andererseits
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Prof. v. H a n s e m a n n und Prof. P l a t e . W a s m a n n vertritt die Wundernatur des Ereignisses; bestritten wird sie von den beiden andern, und P l a t e redet in seiner Schrift: „Ultramontane Weltanschauung und moderne Lebenskunde, Orthodoxie und Monismus, die Anschauungen des Jesuitenpaters Erich Wasmann und die gegen ihn in Berlin gehaltenen Reden" (Berlin 1907) mehrfach davon, am ausführlichsten in seinen „Schlußbetrachtungen", worin es (S. 138 f.) u. a, heißt: „Niemand wird einen Geschichtsforscher ernst nehmen, der in einer prinzipiell wichtigen Frage den Inhalt irgendeines Buches oder irgendeiner Handschrift oder Urkunde sofort als wahr annimmt, ohne ganz genau und gewissenhaft geprüft zu haben, wie dieses Dokument zustandegekommen ist. Hätte W a s m a n n einfach über den Inhalt der Broschüre der drei belgischen Ärzte, die über den de Rudder-Fall berichtet haben, referiert, so wäre nichts dagegen einzuwenden. Seine Unwissenschaftlichkeit aber besteht darin, daß er den Inhalt sofort als wahrheitsgetreu angenommen hat, um daraus die Existenz eines persönlichen Schöpfers, welcher willkürlich die Naturgesetze aufheben kann, zu erschließen. Ehe W a s m a n n diesen folgenschweren Schluß zog, mußte er selbst die Originale dieser Dokumente, auf welche in der Broschüre Bezug genommen wird, eingesehen und Studien über ihre Entstehung angestellt haben. Er mußte sich überzeugen, sind die angegebenen Namen echt oder sind sie fingiert. Er mußte prüfen, ob nicht zufällig vielleicht zwei Verwandte verwechselt sein könnten, Personen mit dem gleichen Namen d e R u d d e r [zwei
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solche sollen existiert haben] usf. 28 ). Kurz, er mußte mit wissenschaftlicher Gründlichkeit an die Fragen herantreten. Aber leider finden wir in dem W a s m a n n sehen Bericht (E. W a s m a n n : .Eine plötzliche Heilung aus neuester Zeit.' Stimmen aus Maria Laach, 1900, Bd. 58, S. 113—128) keine Spur einer solchen. . . . Wenn der Ameisenforscher E r i c h W a s m a n n eine wissenschaftliche Abhandlung in die Hand bekommt, welche über eine höchst eigenartige 2S
) Die Sicherung der „ I d e n t i t ä t " der in Betracht kommenden Personen, sowie die genaue Feststellung des bei ihnen v o r d e r H e i l u n g beobachteten Zustandes sind Punkte, bezüglich deren auch Papst Pius X. mit dem in Lourdes geübten Prüfungsverfahren nicht ganz einverstanden gewesen zu sein scheint. Im Abendblatt der „Trierischen Landeszeitung" vom 4. Januar 1906 linde ich nämlich unter der Überschrift: „ P i u s X. u n d d i e W u n d e r v o n L o u r d e s " folgende Mitteilung: „Vor einiger Zeit hatte der Heilige Vater dem Dr. B o i s s a r i e den Wunsch nahegelegt, ihm durch Vermittlung des Dr. L a p p o n i einen eingehenden Bericht über die wichtigsten, während der letzten Jahre in Lourdes stattgehabten Heilungen zugehen zu lassen. Nachdem Dr. B o i s s a r i e dem Verlangen nachgekommen war, empfing er vom päpstlichen Leibarzt folgendes Schreiben: Ich habe Ihren Brief und die darin aufgezählten außerordentlichen Tatsachen, die sich in Lourdes zugetragen haben, dem Heiligen Vater übermittelt, was ihm zu großem Tröste gereichte. Nach seiner Meinung jedoch wäre es angebracht, wenn, namentlich bei bemerkenswerten Vorkommnissen, von seiten der bischöflichen Kurie über den ganzen Vorgang eingehende Untersuchungen angestellt würden, n a m e n t l i c h in b e z u g a u f d i e I d e n t i t ä t d e r b e t r e f f e n d e n P e r s o n e n , die ä r z t l i c h e n B e g l a u b i g u n g e n und die A u s s a g e n solcher Zeugen, welche die K r a n k e n vor ihrer H e i l u n g g e k a n n t haben." Die von mir unterstrichene Schlußbemerkung des Papstes verdient ganz besondere Aufmerksamkeit und Nachachtung.
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Entdeckung an Ameisen berichtet, so wird er mit der Möglichkeit eines Irrtums rechnen und die Angabe nicht eher als zuverlässig ansehen, als bis sie wiederholt von Fachleuten bestätigt wurde, und er tut recht daran. Aber wenn eine Broschüre über ein ,Heilwunder' erscheint, u n d z w a r 25 J a h r e n a c h d e m E r e i g n i s , dann nimmt er sofort alles kritiklos als bare Münze an. Es ist doch höchst auffallend, daß der Dr. med. A f f e n a e r , welcher den Kranken am ersten Tage nach der Heilung, und Dr. med. v o n H o e n g s t e n b e r g h e , welcher ihn am zweiten untersucht haben soll, von diesem erstaunlichen Falle in medizinischen Fachzeitschriften nicht sofort ausführlich berichtet haben. Diese ganze Angelegenheit mußte hier noch einmal zur Sprache gebracht werden, weil sie unser auf ganz andern Wegen gewonnenes Urteil vollauf bestätigt, daß P. W a s m a n n S. J . k e i n echterNaturforscherundkeinwahrerGe1 e h r t e r ist." — Gewiß ist es nicht meine Sache, alles das, Was P l a t e hier ausführt, gutzuheißen oder auch nur eine Meinung darüber abzugeben. P. selbst hat dafür aufzukommen 9 *). 2!1
) Auf das Urteil P l a t e s nahm W a s m a n n an zwei Stellen Bezug. Wie in seiner Schrift: „Der Kampf um das Entwicklungsproblem in Berlin" (Freiburg 1907) auf S. 136 mitgeteilt ist, sagte er in der Entgegnungsrede: „Wenn also deshalb Heu P l a t e am Schlüsse erklärte, ich könne kein echter Naturforscher sein, so ist das seine Privatansicht, die ich wenigstens nicht teilen kann." — Sodann heißt es S. 157 noch insbesondere bezüglich der oben mitgeteilten Sätze seines Gegners: „Auf die SchluBbetrachtungen, welche Prof. P l a t e seiner Schrift beigab, brauche ich hier nicht weiter einzugehen, da sie nicht vom Standpunkt objektiver Wissenschaft, sondern von kirchenfeindlichem Standpunkt aus gehalten sind." — Genaueres über mancherlei Bemühungen, den Tat-
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Ich habe seine Sätze hauptsächlich angeführt, um an einem bestimmten Falle zu zeigen, was Vertreter einer strengen Wissenschaft bezüglich der F e s t s t e l l u n g v o n T a t s a c h e n , wenn es sich um wichtige Dinge handelt, überhaupt verlangen, also erst recht von einem apologetischen Schriftsteller verlangen, um ihn wirklich „ernst zu nehmen". Zwei Punkte, die sich insbesondere auf das zuletzt angeregte Thema, nämlich auf die „fachwissenschaftlichen Veröffentlichungen" beziehen, muß ich noch hervorheben: P l a t e findet es „höchst auffallend" — und in der Tat ist es für die Apologetik sehr zweckschädigend —, daß die Ärzte A f f e n a e r und v o n H o e n g s t e n b e r g h e über den „erstaunlichen Fall nicht in medizinischen F a c h z e i t s c h r i f t e n berichtet haben". Wer also der Apologetik Dienste leisten will, soll darauf d r i n g e n , daß fachwissenschaftliche Feststellungen auch in Fachzeitschriften — natürlich mit der erreichbar größten Genauigkeit — zur Sprache gebracht werden. Daß das in Parteiblättern, in religiös gerichteten Veröffentlichungen geschehe, reicht nicht im entferntesten schon aus. Daß ferner, von gelegentlichen Notizen abgesehen, die mit wissenschaftlichem Nachdruck aufbestand derOostaker Heilung festzustellen, auch über das Vorhandensein jener zweiten Person, die einen sehr ähnlichen Namen hatte, wie der hier in Rede stehende D e R u d d e r , und zudem von einem sehr ähnlichen Leiden wie dieser — aber auf natürliche Weise —- geheilt worden ist, findet man u. a. in einer „Frank furter zeitgemäßen Broschüre", die ein l e i d e r u n g e n a n n t e r Verlasser unter dem Titel: „Eine Wunderheilung der Neuzeit" (Hamm 1907) veröffentlicht hat.
Der Streit über das Wunder in Oostaker.
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tretende Veröffentlichung in ihrer Wirkung über die Maßen abgeschwächt ist, wenn sie „25 J a h r e n a c h d e m E r e i g n i s " geschieht, leuchtet von selber ein. Ob nicht gerade in dieser Hinsicht bei der Oostaker Angelegenheit Wichtiges versäumt worden ist, mögen die B e t e i l i g t e n sich fragen 30 ). Der Außenstehende kennt die Umstände und die Triebfedern nicht. 30
) Unter dem gleichen Gesichtspunkt ist auch eine Stelle bei P o h l e (a. a. O . S'. 468) bemerkenswert. Er schreibt: „Seit 1875 bis 1908 wurde der Fall nicht weniger als zehnmal untersucht. Zwar haben M a r c u s e , F o r d , P l a t e und H ä c k e 1 das Historische des Falles gegenüber P. W a s m a n n in Zweifel ziehen wollen; aber um die beweiskräftigen Akte und Dokumente kümmerten sie sich nicht. Am 15. November 1907 setzte Bischof W a f f e 1 a e r t von Brügge eine wissenschaftliche Kommission ein, um von neuem die historische Wahrheit des Vorfalles festzustellen. Alle Urkunden wurden gesammelt, alle noch lebenden Zeugen nochmals unter Eid verhört, die Gutachten von Ärzten eingeholt, so daß die Aktensammlung jetzt so vollständig ist, wie sie der größte Zweifler nicht besser wünschen kann." Die erste „wissenschaftliche Feststellungs- K o m m i s s i o n " (wäre ihr eine schon vorhergegangen, so hätte P o h l e das doch jedenfalls erwähnen müssen) ist demgemäß 3 2 J a h r e nach d e m E r e i g n i s erst eingesetzt worden. Sie einzusetzen wird man ganz gewiß lobenswert finden, aber kann damit das, was durch die Zögerung versäumt worden, noch voll wieder gutgemacht werden? — Man hat das W u n d e r gewissermaßen zu einem „historischen" veralten lassen (wennschon ohne dahingehende besondere Absicht) und dann sammelt eine „wissenschaftliche Kommission" alle „ U r k u n d e n " über „das Historische des Falles". — Daß mit einem solchen Verfahren dem „apologetischen Zweck" am besten gedient sei, darf man füglich bezweifeln. Mag der Vorwurf P o h l e s , es hätten W a s m a n n s Gegner sich um „beweiskräftige Akten und Dokumente nicht gekümmert" in gewisser Hinsicht zutreffen, so bleibt daneben doch bestehen, daß der Apologet
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Ohne Lässigkeit, ohne Zögerung s o f o r t alle modernen Mittel anzuwenden für eine e x a k t e Prüfung der Tatsachen, für deren r a s c h e Bekanntgabe und für ausgedehnte Berichterstattung auch in t e n d e n z f r e i e n Organen: das gehört zu den Aufgaben der „ExperimentalTheologie". — Die Experimental - P h y s i k handelt schon seit Jahrhunderten so. Zum Schlüsse möchte ich noch auf einen Punkt hinweisen, in bezug auf den ich mit P l a t e nicht einverstanden sein kann. Er schreibt (a. a. O. S. 145): „Der Monist leugnet die Möglichkeit der Durchbrechung der Naturgesetze." — Das mag er ja tun, wenn er dafür einen genügenden Grund hat. Aber welchen Grund führt P l a t e an? — Er fährt fort: „ W e i l s o l c h e n i e b e o b a c h t e t w o r d e n sind." D i e s e r Grund kann — ganz abgesehen davon, ob P.s Behauptung zutrifft — nicht durchschlagen. Manselber der Mann, und die für Apologetik interessierte Behörde selber die Instanz ist, die sich um ihre vorgeführten Beweismittel dermaßen zu bemühen hat, daß sie der schärfsten Kritik gewachsen sind. Wenigstens muß das ernstlichste S t r e b e n darauf gerichtet sein. Zu gewärtigen hat man die Kritik ja, das kann jeder im voraus wissen. Darum wird die behutsame, umsichtige, ihre schwere Verantwortlichkeit erwägende Apologetik sich nach allen Seiten zu sichern bemühen und dabei bedenken, daß zu allernächst ihr selbst die strenge Beweispflicht dafür obliegt, daß die von ihr vorgetragene Behauptung w a h r ist, nicht etwa der Gegner verbunden ist zu zeigen, sie sei f a l s c h . Letzterer hat sich auch in der Tat um die „Akten" schon „gekümmert", wenn er den Apologeten auf belangvolle Punkte hinweist, die er bezüglich der „Akten" versäumt habe. Solch eine Versäumnis beläßt dem Gegner, formal genommen, einen naheliegenden Anlaß, auf dem „non liquet" zu beharre».
Die Januariusfrage und meine Bemühungen darum.
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ches, was bis dahin „nie beobachtet worden" 8 1 ), kann auf einmal in die Erscheinung treten und Geltung gewinnen als eine wirklich neue oder bislang unbeobachtet gebliebene alte Tatsache. Selbstverständlich, je auffallender, unerwarteter eine Sache sich darstellt, desto sicherer muß ihre Begründung sein. Und darum gehört, wie P o h l e richtig hervorhabt, zur Feststellung eines W u n d e r s „noch mehr" Sorgfalt und wissenschaftliche Genauigkeit als zur Feststellung anderer Tatsachen. Mag dieser Sachverhalt vielleicht als menschliche Schwäche oder gar als verkehrte Denkrichtung gedeutet werden, so hat der Apologet doch damit zu rechnen. Denn nehmen muß er die Welt so, wie sie eben i s t , nicht, wie er sie sich wohl wünschen möchte.
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Die Verflüssigung des Januariusblutes in Neapel und raeine Bemühungen um diese Frage. Zu einer näheren Erörterung der „Blutwunder" hat der bedeutende Chemiker Prof. L a d e n b u r g den Anlaß gegeben, als er im Jahre 1903 auf der Naturforscherversammlung in Kassel mit schärfster Betonung den Satz aufstellte, daß niemalsWunder vorgekommen seien, noch je vorkommen könnten. Folge davon war eine weitreichende starke Aufregung, die in sehr vielen Presse-Äußerungen jener Zeit Ausdruck fand und auch einen materiellen Kristallisationskern bekam in der Summe von 1000 Kro3 1 ) Es gab eine Zeit, da war „noch nie beobachtet worden", daß die Sonne Flecken hat, daß der Mensch einen Zwischenkieferknochen besitzt, daß es fleischfressende Pflanzen, daß es Säugetiere gibt, die Eier legen usw. usw., und dennoch verhält es sich IO.
Die Januariusfrage und meine Bemühungen darum.
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ches, was bis dahin „nie beobachtet worden" 8 1 ), kann auf einmal in die Erscheinung treten und Geltung gewinnen als eine wirklich neue oder bislang unbeobachtet gebliebene alte Tatsache. Selbstverständlich, je auffallender, unerwarteter eine Sache sich darstellt, desto sicherer muß ihre Begründung sein. Und darum gehört, wie P o h l e richtig hervorhabt, zur Feststellung eines W u n d e r s „noch mehr" Sorgfalt und wissenschaftliche Genauigkeit als zur Feststellung anderer Tatsachen. Mag dieser Sachverhalt vielleicht als menschliche Schwäche oder gar als verkehrte Denkrichtung gedeutet werden, so hat der Apologet doch damit zu rechnen. Denn nehmen muß er die Welt so, wie sie eben i s t , nicht, wie er sie sich wohl wünschen möchte.
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Die Verflüssigung des Januariusblutes in Neapel und raeine Bemühungen um diese Frage. Zu einer näheren Erörterung der „Blutwunder" hat der bedeutende Chemiker Prof. L a d e n b u r g den Anlaß gegeben, als er im Jahre 1903 auf der Naturforscherversammlung in Kassel mit schärfster Betonung den Satz aufstellte, daß niemalsWunder vorgekommen seien, noch je vorkommen könnten. Folge davon war eine weitreichende starke Aufregung, die in sehr vielen Presse-Äußerungen jener Zeit Ausdruck fand und auch einen materiellen Kristallisationskern bekam in der Summe von 1000 Kro3 1 ) Es gab eine Zeit, da war „noch nie beobachtet worden", daß die Sonne Flecken hat, daß der Mensch einen Zwischenkieferknochen besitzt, daß es fleischfressende Pflanzen, daß es Säugetiere gibt, die Eier legen usw. usw., und dennoch verhält es sich IO.
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nen", die der österreichische Pfarrer W e b e r dem Breslauer Professor als Preis anbot, wenn er die V e r f l ü s s i g u n g des J a n u a r i u s b l u t e s in N e a p e l auf natürliche Weise erklären könnte. Darauf einzugehen lehnte L a d e n b u r g bekanntlich ab, und diese Ablehnung gab wiederum neuen Anlaß zu heftigen Fehden in den Zeitungen und Zeitschriften der einander entgegengesetzten Lager. Nun kann es aber für die „ E x p e r i m e n t a l - T h e o l o g i e " ein geeigneteres Objekt wohl kaum geben, als dieses berühmte Blutwunder! Dafür lassen sich drei wichtige Gründe anführen: Erstens handelt es sich um ein Ereignis r e i n p h y s i k a l i s c h e r N a t u r , das frei ist von all jenen großen Schwierigkeiten und noch unaufgeklärten Rätseln, die den pathologischen, psychologischen und physiologischen Vorkommnissen in Lourdes und anderwärts anhaften. Zweitens ist es wiederholbar. Hat in Lourdes oder sonstwo eine Krankenheilung sich vollzogen, so kann man nicht sagen: Was heute hier geschah, das wollen wir uns zu genauerer Beobachtung morgen noch einmal vormachen lassen! Von s o l c h e n Wundern schreibt P o h l e (a. a. O. S. 432) mit Recht: „Mit Wundern läßt sich nicht experimentieren." Wenn er aber fortfährt: „Das frivole Verlangen V o l t a i r e s und R e n a n s , das Wunder vor eine Kommission von Fachmännern zu ziehen und durch beliebig oftmalige W i e d e r h o l u n g desselben seine Glaubwürdigkeit experimentell zu beweisen, läuft nicht auf eine wissenschaftliche Bestätigung, sondern auf die Vernichtung des Wunders hinaus", so werden die zahllosen Anhänger des Januariuswunders ihm nicht uneingeschränkt beistimmen. Sie werden vielmehr entgegnen: W i r k e n können
Die Januariusfrage und meine Bemühungen darum.
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wir Menschen das Wunder ja überhaupt nicht, also ist es v o n u n s auch nicht „wiederholbar". Daß aber G o t t ein und dasselbe Wunder mit großer Regelmäßigkeit wiederholt hat, zeigt die Jahrhunderte hindurch fortgesetzte S t a t i s t i k . (Jnd wenn zur Prüfung dieses Wunders eine Kommission von Fachmännern eingesetzt würde, so wäre das ebensowenig eine „Frivolität", als die Einsetzung des Ärztebureaus in Lcurdes eine „Frivolität" ist. — Mag sein, daß man, wie P o h l e noch weiter schreibt, „dem Wunder im physikalischen oder chemischen L a b o r a t o r i u m nicht begegnet", so würde dieser Umstand es den Physikern, den Chemikern, den Anatomen, den Photographen usw, keineswegs verbieten, daß sie sich um die genaue Feststellung derjenigen Tatsachen, die in enger Beziehung zum Wunder stehen, wissenschaftlich bemühen. Diesen Bemühungen kommt nun aber gerade bei den Blutwundern noch ein d r i t t e r Punkt sehr zustatten: Die Neapolitaner wissen nämlich mit großer Zuversicht die Tage schon voraus, an denen das wunderbare Ereignis eintreten wird. Leicht ist es daher, sich mit aller Sorgfalt darauf vorzubereiten und die geeigneten Hilfsmittel der Wissenschaft zur rechten Zeit an die rechte Stelle zu bringen. Man wird es verstehen, wie die Erwägung dieser besonderen Umstände — namentlich zu der Zeit, als der L a d e n b u r g - W e b e r -Streit durch deutsche und ausländische Zeitungen lief und die Gemüter in hohem Grade aufregte — für einen Berufs - P h y s i k e r , der gleichzeitig ein starkes Interesse an den Zielen der A p o l o g e t i k schon von Jugend auf gehabt hatte, einen mächtigen Antrieb bilden konnte, sich des Januariusproblems
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anzunehmen, für dessen tunlichste Aufklärung Mühe aufzuwenden und Opfer zu bringen 32 ), In welcher Weise und mit welchem Ergebnis das von mir geschehen, möge man aus meinem Buche: „N e a p o l i t a n i s c h e B l u t wunder, b e o b a c h t e t , b e s c h r i e b e n und krit i s c h e r ö r t e r t " (Regensburg 1912) entnehmen. Das dort ausführlich Dargelegte brauche ich hier nicht zu wiederholen, möchte aber auf einige Punkte eingehen, die zu jener Veröffentlichung in enger Beziehung stehen. Zunächst ein paar Bemerkungen in Hinsicht auf S a w i c k i s vorhin angeführte Behauptung (vgl. S. 40). „Das Wunder scheut nicht das Licht der K r i t i k . " Unter ca. 30 Rezensenten meines in Rede stehenden Buches gab ein Theologe, der auch über gewisse physikalische Kenntnisse verfügt, in einem unserer gelobtesten Organe der Meinung Ausdruck, es sei „angezeigter, das ohne Zweifel nicht nur apologetisch, sondern auch naturwissenschaftlich interessante Januariuswunder n i c h t für populäre, sondern für Fachkreise in rein wissenschaftlichen, theologischen oder naturwissenschaftlichen Zeitschriften zu bearbeiten". Dem betreffenden Herrn erwiderte ich in einem Briefe vom 11. 2. 13. u. a.: „Wenn Sie die V o r g e s c h i c h t e meines Buches kennten, so würden Sie das vermutlich nicht gesagt haben; vielleicht muß ich einmal . . . bei gebotener Gelegenheit mich darüber äußern," Und so mögen denn wenigstens ein paar **) Wie die apologetische Beweiskraft des Januariuswunders noch höher als die der Lourdes-Wunder eingeschätzt wird, ist aus einem im folgenden Kapitel mitgeteilten Briefe des Prof. S p e r t n d e o zu ersehen.
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Worte davon, da die Sache in den vorliegenden Rahmen paßt, hier eingeschaltet werden. Den Herausgebern mehrerer für das Thema in Betracht kommender Zeitschriften hatte ich das Manuskript zugesandt. Sie lehnten ab. Der eine brachte vor, die Arbeit sei nicht streng wissenschaftlich genug, der andere, sie sei zu wissenschaftlich für ihn, sei aber ganz „prachtvoll" geeignet speziell für das Organ jenes andern Herrn, wie sie auch „einer w i s s e n s c h a f t l i c h e n K ö r p e r s c h a f t nur zur Zierde und Ehre ger e i c h e n w ü r d e " . Hauptsächlich aber erregte die In meinem Buche gegebene „ k r i t i s c h e E r ö r t e r u n g " des Wunders bei ihm Bedenken, und er entschloß sich, „zu seiner Beruhigung das Manuskript einem g e i s t l i c h e n H e r r n zu lesen zu geben". Die Briefe dieses geistlichen Herrn schickte der loyale Redakteur mir denn auch ein, und aus ihnen ergab sich, daß — trotzdem meine völlige Unbefangenheit und wissenschaftlich gründliche Behandlung des Problems nicht im mindesten angezweifelt, auch der Grundsatz ausgesprochen wurde: „Wahrheit braucht sich vor der Wahrheit nicht zu fürchten" — dennoch die Furcht vor den Folgen der Kritik den Ausschlag nach der negativen Seite lenkte. Denn, wie es in einem der Briefe hieß: „ J e d e r L e s e r , der bis j e t z t u n b e d e n k l i c h den Vorgang als ein w i r k l i c h e s Wunder b e t r a c h t e t e , würde s t u t z i g werden." Kritik, auch die wissenschaftlich genaue und gänzlich unvoreingenommene, „macht stutzig"! — Darf sie das nicht? — „Scheut" denn etwa „das Wunder das Licht der Kritik"? — Ich will hier die Geltung der Sätze, daß „Wahrheit
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sich vor der Wahrheit nicht zu fürchten brauche", daß aber andererseits die bislang „unbedenklich" gewesenen Leser nicht „stutzig gemacht" werden dürfen, nicht gegeneinander abwägen; später vielleicht mehr darüber. Jedenfalls ist durch die Geschichte unserer ganzen Kulturentwicklung bewiesen, ist auch schon mehrfach mit allem Nachdruck hervorgehoben worden, daß gerade das „Stutzigmachen" und „Stutzigwerden", das Aufkeimen von Bedenken bei den bislang „Unbedenklichen" allermeist den Anstoß gegeben hat zu den wertvollsten F o r t s c h r i t t e n . Von den Gebieten, auf denen das geschah, wird der Historiker das religiöse durchaus nicht etwa ausnehmen, insbesondere auch nicht ausnehmen die Untersuchung und Beurteilung der Wunder. Was kann man von einer Prüfung mehr verlangen, als einerseits die erreichbar höchste wissenschaftliche Genauigkeit und andererseits die Ausschaltung jeglicher Parteinahme? Beide Erfordernisse als vorhanden anzuerkennen und sich der Kritik dennoch entgegenzustemmen: sollte dieses Verhalten nicht gerade e r s t recht „stutzig machen" 3 3 )? 33) Es genügt nicht, daß der Apologet die ehrliche K r i t i k nicht scheue, er muß auch den „Schein der S c h e u " sorgfältig meiden. W e r sich den S c h e i n gibt, muß den Schein verantworten. W i e j a auch P a u l u s den Thessalonichern (1. Thess. 5, 22) ans Herz legt; „ V e r m e i d e t jeglichen bösen S c h e i n ! " Über den W e r t und den Erfolg des „Stutzigwerdens", dessen Sinn man ungefähr mit den W o r t e n „admiratio, &av/uu£eiv", a n nähernd auch mit „Verwunderung" wiedergeben kann, sagt E i s l e r , es bedeute „ein intellektuelles Gefühl, das sich an das V o r f i n d e n e i n e s U n e r w a r t e t e n seitens des Denkens knüpft. Verwunderung wird zur Q u e l l e des Forschens, der Philosophie. Schon P l a t o bemerkt: ftäXa yaQ