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German Pages 164 [165] Year 1978
Existenzformen germanischer Sprachen soziale Basis und typologische Kennzeichen
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN DER DDR Zentralinstitut für Sprachwissenschaft
57 Bausteine zur Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen Herausgegeben von Günter Feudel
Existenzformen germanischer Sprachen soziale Basis und typologische Kennzeichen
AKADEMIE-VERLAG 1977
BERLIN
Für die deutschsprachige Ausgabe ausgewählt und eingeleitet von J. SCHILDT Übersetzung: W. BRAUN, R.-E. FISCHER, G. RICHTER, G. SCHLIMPERT, T. WITKOWSK1
Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1977 Lizenznummer: 202 • 100/193/77 Gesamtherstellung: VEB Druckerei „Thomas Müntzer", 582 Bad Langensalza Bestellnummer: 752927 8 (2054/57) • LSV 0815 Printed in G D R D D R 22,— M
INHA LT
Vorbemerkung A.V. Desnitzkaja: Zu den sprachlichen Verhältnissen in der Gentilgesellschaft M. M. Guchmann: Wechselbeziehungen zwischen Dialektgebieten und die Entwicklung überdialektaler Sprachformen in der vornationalen Periode (am Beispiel germanischer Sprachen) W. N. Jarzewa: Wechselbeziehungen zwischen territorialen Dialekten unter unterschiedlichen historischen Verhältnissen W. N. Jarzewa: Zur Veränderung der dialektalen Basis der englischen nationalen Literaturspra che C.A. Mironow: Die Herausbildung der Aussprachenorm im Niederländischen und ihre dialektale Grundlage M. M. Guchmann und N. N. Semenjuk: Zur Untersuchimg der deutschen Literatursprache unter soziologischem Aspekt N. N. Semenjuk: Funktional-stilistische Differenzierungen der Literatursprache und der historische Aspekt ihrer Untersuchung Verzeichnis der russischen Originaltitel
VORBEMERKUNG
Zu den Grundfragen, die eine auf den Positionen des Marxismus-Leninismus aufbauende Sprachwissenschaft beantworten muß, gehört die nach dem gesellschaftlichen Charakter der Sprache im allgemeinen und - daraus abgeleitet - die nach dem Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher und sprachlicher Entwicklung im besonderen. Dazu wurde vor allem in der sowjetischen Sprachwissenschaft ein Konzept erarbeitet, in dem Sprache als eine spezifische Form menschlicher Tätigkeit verstanden wird, in dem von der Grundthese ausgegangen wird, daß sich die Sprache entsprechend den kommunikativen Bedürfnissen der unter konkreten historischen Bedingungen lebenden und arbeitenden Menschen entwickelt. Organischer Bestandteil dieser Vorstellungen über den Zusammenhang zwischen Sprache, Kommunikation und Gesellschaft, die hier nur angedeutet werden können, ist die Lehre von den Existenzformen der Sprache, die Ausdruck kommunikativer Bedürfnisse der unter bestimmten historischen Verhältnissen lebenden und produzierenden Menschen sind und sich in Korrespondenz zu diesen Bedürfnissen entwickeln. Existenzformen der Sprache wie der Dialekt, die Umgangssprache oder die Literatursprache sind in mehrfacher Hinsicht charakterisierbar. Sie können gekennzeichnet werden im Hinblick auf ihre soziale Basis, d. h. auf die an ihrer Ausbildung vorrangig beteiligten bzw. sie tragenden Sprecherschichten, auf ihren territorialen Geltungsbereich, auf ihre Funktion im Rahmen der gesellschaftlichen Kommunikation, auf ihre spezifische Existenzweise, d. h. ob sie mehr der schriftlichen oder mündlichen Verständigung dienen, und natürlich auch auf das Sprachsystem selbst. In den der Urgesellschaft folgenden Gesellschaftsformationen wird die sprachliche Kommunikation auf Grund der Wirksamkeit verschiedener Faktoren, unter denen die Zunahme des Grades der Arbeitsteilung sowie die Herausbildung von Klassen eine besondere Rolle spielen, vielschichtiger. Damit ist ein Differenzierungsprozeß bei den Existenzformen der Sprache verbunden; er äußert sich in der Herausbildung verschiedener Existenzformen einer Sprache, die, untereinander in vielfältigen, hierarchisch gegliederten Beziehungen zueinander stehend, ein Gefüge darstellen, das in den einzelnen sozialökonomischen Formationen entsprechend den jeweiligen kommunikativen Bedingungen sein spezifisches Gepräge hat. Unter den Existenzformen der Sprache kommt der Literatursprache
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Vorbemerkung
als einer auf Auswahl aus den Möglichkeiten des Systems beruhenden, bewußt gestalteten Sprachform insofern eine besondere Bedeutung zu, als sie mit fortschreitender gesellschaftlicher Entwicklung zu der Existenzform der Sprache wird, mit der vorrangig die sprachliche Kommunikation in der Gesellschaft bewältigt wird. Solche von sowjetischen Linguisten entwickelten theoretischen Positionen zum Verhältnis von Sprache und Gesellschaft - sie konnten hier nur angedeutet werden - wurden auf der Grundlage der Auswertung der Klassiker des Marxismus-Leninismus gewonnen. Dabei wurden vor allem die Arbeiten von F. Engels herangezogen, dessen besonderes Interesse bekanntlich historischen Problemen - erinnert sei z. B. an die Studie "Zur Geschichte der Urgermanen" sowie an den "Fränkischen Dialekt" als Exkurs dazu - galt. Von der schöpferischen Auswertung der Klassiker des Marxismus-Leninismus durch sowjetische Sprachwissenschaftler zeugt auch der aus Anlaß der 150. Wiederkehr des Geburtstages von F. Engels im Jahre 1970 herausgegebene Band "Engels und die Sprachwissenschaft". Die darin enthaltenen Aufsätze machen nicht nur das Bemühen um die Weiterentwicklung theoretischer Positionen deutlich, sondern zeigen auch den Versuch, deren Tragfähigkeit am konkreten sprachlichen Material von Einzelsprachen zu überprüfen. Ziel der Übersetzungen der in diesem Band vereinigten sowjetischen Arbeiten zum Problemkreis des Verhältnisses von Sprache und Gesellschaft, speziell zu Fragen der Existenzformen der Sprache, ihrer sozialen Basis sowie typologischen Kennzeichen, ist es, die darin behandelte Problematik sowohl wegen ihrer prinzipiellen Bedeutung für eine marxistisch fundierte Sprachbetrachtung als auch wegen der darin enthaltenen Ergebnisse der Untersuchungen verschiedener Sprachen germanischer Herkunft einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. • Das erscheint um so mehr gerechtfertigt, als hier darüber hinaus der Versuch vorliegt, die Tragfähigkeit eines theoretischen Konzepts nicht nur an den Sprachverhältnissen der Gegenwart zu erweisen, sondern auch an weiter zurückliegenden Epochen der historischen Entwicklung wie der Urgesellschaft bzw. der Phase des Übergangs von der Urgesellschaft zum Feudalismus, die sich allein wegen des zeitlichen Abstands in der Regel als solchen Untersuchungen nur sehr schwer zugänglich zeigen. Die Mehrzahl der für die Übersetzung ausgewählten Aufsätze ist dem bereits erwähnten Sammelband "Engels und die Sprachwissenschaft" (Moskau 1972) entnommen. Einige entstammen anderen Sammelwerken oder sind Ausschnitte aus umfangreicheren Monographien zu der angedeuteten Problematik. Der Hinweis auf die Herkunft findet sich mit genauen bibliographischen Angaben am Schluß des Bandes. Dort ist auch der Name des jeweiligen Übersetzers angegeben.
A . V . Desnitzkaja ZU DEN SPRACHLICHEN VERHÄLTNISSEN IN DER GENTILGESELLSCHAFT
Dem Problem der sprachlichen Verhältnisse in der Gentilgesellschaft gebührt ein f e ster Platz in der Theorie von der historischen Entwicklung der sprachlichen Kommunikationsformen. Für den Vergleich der bestehenden und der einstigen Sprachtypen als Voraussetzung für das tiefere Verständnis ihrer Wechselbeziehungen ist ihre historisch-vergleichende Erforschung auf der Grundlage einer Theorie von der Entwicklung aller gesellschaftlichen Formationen notwendig; anders gesagt, die Ausarbeitung einer historischen Typologie der sprachlichen Kommunikationsformen in allen Zeiträumen der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft ist erforderlich. 1 Friedrich Engels' Arbeit "Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates"*' hat überzeitliche Bedeutung für die Erforschung des Charakters der sprachlichen Verhältnisse, die sich unter den Bedingungen der gentilorganisierten Stammesgesellschaft herausbildeten. Für das Problem der Entstehung von verwandten Sprachgruppen berücksichtigt
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man
in der sowjetischen linguistischen Literatur gewöhnlich die Bemerkungen von Engels zur Entstehung von Sprachen und Dialekten in Zusammenhang mit den Prozessen bei der Herausbildung verwandter Stämme, die auf den Beobachtungen von L. Morgan fußen. F. Engels schrieb: "Wir sehn bei den nordamerikanischen Indianern, wie ein u r sprünglich einheitlicher Volksstamm sich über einen ungeheuren Kontinent allmählich ausbreitet, wie Stämme durch Spaltung zu Völkern, ganzen Gruppen von Stämmen w e r den, die Sprachen sich verändern, bis nicht nur sie einander unverständlich werden, 3 sondern auch fast jede Spur der ursprünglichen Einheit verschwindet" . Wie bekannt, gibt es das in der Geschichte vieler Sprachgebiete. In Engels' Formulierung werden die Endergebnisse der in der Gentilgesellschaft selbst beginnenden sprachlichen Prozesse hervorgehoben, die folgerichtig die Zersplitterung und getrennte Siedlung v e r wandter gesellschaftlicher Kollektive voraussetzt. Entstehung, Entwicklung und Festigung der Dialektunterschiede verstehen sich also als gesetzmäßiges Resultat verstärkter territorialer Trennung.
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Man muß sehen, daß die von Morgan an dem nordamerikanischen ethnographischen Material erforschte und von Engels verallgemeinert formulierte Gesetzmäßigkeit der Neubildung von Sprachen und Dialekten unter den Bedingungen der gentilorganisierten Stammesgesellschaft naturgemäß in die aus dem Material der verschiedenen Sprachfamilien gewonnenen Beobachtungen und in die Schlußfolgerungen der vergleichenden historischen Sprachwissenschaft eindrang, deren Erfolge Engels bekanntlich hoch schätzte. Man kann den Charakter der sprachlichen Zusammenhänge zwischen einzelnen verwandten Gemeinschaften in der Zeit der gentilorganisierten Stammesgesellschaft wahrscheinlich rekonstruieren anhand einiger schriftloser Sprachen der jüngsten Vergangenheit und der Gegenwart. Die Sprache (oder die Sprachen) der gentilorganisierten Kollektive, die eine gemeinsame Entstehung haben, zeichnen sich durch sprachliche Geschlossenheit aus, mit der Tendenz zur Absonderung bei entsprechenden geographischen Bedingungen. Engels, der die Existenzvfhältnisse der Gentilgesellschaft bei den nordamerikanischen Indianern betrachtet (nach dem Material L. Morgans), bemerkt: "Die Bevölkerung ist äußerst dünn: verdichtet nur am Wohnort des Stamms, um den in weitem Kreise zunächst das Jagdgebiet liegt, dann der neutrale Schutzwald, der ihn von 4
andern Stämmen trennt". Indem er nachweist, daß bei sprachverwandten Stämmen ein neutraler Landstrich vorhanden war, der bei nichtsprachverwandten Stämmen brei5 ter war , erinnert er an die Nachricht Caesars über den unbewohnten Wald, der den kriegerischen Stamm der Sueven von den benachbarten Cheruskern trennte. Nach dem Zeugnis Caesars trachteten die germanischen Stämme allgemein danach, ihre Gebiete mit mehr oder weniger breiten unbewohnten Landstrichen zu umgeben. Man kann annehmen, daß diese Art der Abgrenzung des Siedlungsgebietes charakteristisch für die kriegerischen Stämme in der späten Gentilgesellschaft während des Übergangs zur militärischen Demokratie war. Die Beziehungen zwischen den einzelnen Stämmen konnten bei einer mehr oder weniger kontaktreichen Siedlung offensichtlich auch relativ friedlicher Natur sein, besonders wenn der Ackerbau vorherrschte. Unter den Bedingungen der Gentilgesellschaft konnte offensichtlich auch eine unbedeutende territoriale Abgeschiedenheit bei seltenen Kontakten Voraussetzungen für eine dialektale Variierung schaffen. In dieser Hinsicht sind die Beobachtungen von N.N. Miklucho-Maklaj interessant, der das beständige Anwachsen von Dialektunterschieden g von einem Dorf zum anderen in den Sprachen der Papuas in Neu Guinea feststellte. Es wäre eine interessante dialektgeographische Aufgabe, die Verbreitung der Dialektgebiete auf einem Territorium zu verfolgen, auf dem sich Stämme, die noch die Gentilorganlsation bewahrt haben, durch frühere Umsiedlung getrennt haben. Der Versuch, schriftlose Sprachen der Bevölkerung entfernter Gebirgsgegenden, die relikthaft
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Sprachliche Verhältnisse in der Gentilgesellschaft
Elemente der alten gentilorganisierten Ordnung bewahrt haben, dialektgeographisch zu erforschen, könnte gewisse Analogien bieten. Die Absonderung einzelner Glieder einer ursprünglichen Dialekteinheit kann bei bestimmten geographischen Bedingungen (territoriale Entfernung, Besonderheit einer Gebirgslandschaft, die den Verkehr behindert), beim Fehlen vereinigender gesellschaftlicher Faktoren eine Verwandlung der Dialekte in selbständige Sprachen als natürliches Ergebnis zur Folge haben. Derartige Fälle wurden bekanntlich von Morgan in der Geschichte der Urbevölkerung Nordamerikas festgestellt. Ähnlich, aber in ihrem Ausmaß wahrscheinlich noch bedeutender, müssen sich die Prozesse in den späten Gentilgesellschaften Europas und Asiens in Zusammenhang mit Kriegszügen, mit Eroberungen neuer Gebiete, großen Siedelbewegungen von Stämmen und Stammesverbänden, die zu Umgruppierungen von gentilorganisierten Vereinigungen und zu einem starken Zerfall der 7 sprachlichen Geschlossenheit führten, vollzogen haben. 2
In der Organisation der Gentilgesellschaft selbst existierten schon die Voraussetzungen, die unter günstigen Bedingungen und auf höheren Entwicklungsstufen dieser Gesellschaft Wege zur Bildung allgemeiner Sprachtypen, die im Prinzip Uberdialektalen Charakter erlangten, eröffneten. Es sei an die unterschiedlichen Formen der sprachlichen Kommunikation erinnert, die sich vor allem innerhalb der gesellschaftlichen Kollektive der Gentilordnung herausbildeten. Für das Verständnis dieser inneren Gliederung der sprachlichen Verhältnisse hat vor allem der Charakter der Organisation der Gentilgesellschaft, den L. Morgan aufgedeckt hat, eine entscheidende Bedeutung. Morgan erforschte die Organisation der gentilorganisierten Stammesbeziehungen bei den nor&merikanischen Indianern, indem er als Grundmodell das breit entwickelte System der Gentilorganisation der irokesischen Stämme auswählte. Er nutzte dieses Modell für die Erforschung der Relikte einer archaischen Gesellschaftsordnung, die sich bei den alten Griechen und Römern erhalten hatten. Die Analyse zeigte ein getreues Abbild und bestätigte so den universalen Charakter des zugrundeliegenden Modells. Am Beispiel der irokesischen Gens und in Korrelation mit ihren Kategorien Phratrie, Stämme und Stammesverbände stellte Engels, indem er das Material mit eigenen Forschungsergebnissen (auf dem Gebiet der griechischen und römischen Geschichte, aber auch speziell zur Frage der Gentilorganisation der alten Germanen und Kelten) bereicherte, die hauptsächlichen Strukturprinzipien fest, die der Organisation der Gesellschaft vor der Entstehung der Klassen zugrundeliegen und allgemein für alle Völker bis g zu ihrem Eintritt in die Zivilisation und sogar noch später gelten.
Davon ausgehend,
daß für die Formierung gesellschaftlicher Einheiten der Urgesellschaft die Vereinigung auf der Grundlage der Blutsverwandtschaft als entscheidendes Merkmal erscheint, nahm
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A.V. Desnitzkaja
Engels als ursprüngliche Einheit die Kategorie der Gens, auf der sich das ganze übrige System aufbaut; " . . . wie sehr - die Gens als gesellschaftliche Einheit einmal gegeben die ganze Verfassung von Gentes, Phratrien und Stamm sich mit fast zwingender Notwendigkeit - weil Natürlichkeit - aus dieser Einheit entwickelt. Alle drei sind Gruppen verschiedner Abstufungen von Blutsverwandtschaft, jede abgeschlossen in sich und ihre eignen Angelegenheiten ordnend, jede aber auch die andre ergänzend. Und der Kreis der ihnen anheimfallenden Angelegenheiten umfaßt die Gesamtheit der öffentlichen An9
gelegenheiten des Barbaren der Unterstufe" . Indem er seine Analyse auf das hochentwickelte und dementsprechend relativ späte (niederste Stufe der Barbarei) System der Gentilorganisation beschränkte, zählte Engels konsequent eine Reihe von Organisationsnormen auf, die für jede Einheit der Systemreihe charakteristisch sind - von der Gens bis zum Stammesverband. Diese Merkmale korrelieren miteinander. Es sind folgende. In der typischen Indianergens herrschen folgende Bräuche: 1. Die Gens "erwählt ihren Sachem (Friedensvorsteher) und Häuptling (Kriegsanführer)". 2. Die Gens "setzt den Sachem und Kriegshäuptling nach Belieben a b . . . 3. Kein Mitglied darf innerhalb der Gens heiraten . . . 4. Das Vermögen Verstorbner fiel an die übrigen Gentilgenossen, es mußte in der Gens bleiben . . . 5. Die Gentilgenossen schuldeten einander Hülfe, Schutz und namentlich Beistand zur Rache für Verletzung durch Fremde . . . 6. Die Gens hat bestimmte Namen oder Reihen von Namen . . . Ein Gentilname führt Gentilrechte von vornherein mit sich. 7. Die Gens kann Fremde in sich adoptieren und sie dadurch in den ganzen Stamm aufnehmen . . . 8. . . . die religiösen Zeremonien . . . hängen mehr oder minder mit den Gentes zusammen. Bei den sechs jährlichen religiösen Festen der Irokesen wurden die Sachems und Kriegshäuptlinge der einzelnen Gentes von Amts wegen den 'Glaubenshütern' zugezählt und hatten priesterliche Funktionen. 9. Die Gens hat einen gemeinsamen Begräbnisplatz . . . 10. Die Gens hat einen Rat, die demokratische Versammlung aller männlichen und weiblichen erwachsenen Gentilen, alle mit gleichem Stimmrecht. Dieser Rat erwählte Sachems und Kriegshäuptlinge und setzte sie ab; ebenso die übrigen 'Glaubenshüter'; er beschloß über Bußgaben (Wergeid) oder Blutrache für gemordete Gentilen; er adoptierte Fremde in die Gens. Kurz, er war die souveräne Gewalt in der Gens. Über der Gens als ursprünglicher Einheit bauen sich die übrigen "Glieder der organischen Reihe" auf, die Phratrie, der Stamm, der Stammesverband, von denen Phratrie und Stammesverband keinen universalen Charakter hatten und unter konkreten historischen Bedingungen fehlen konnten. "Die Funktionen der Phratrie bei den Irokesen sind teils gesellschaftliche, teile r e l i g i ö s e " b e m e r k t Engels. Da sie nur eine Vereinigung einiger Sippen innerhalb des Stammes darstellt, ist die Phratrie in funktioneller und struktureller Beziehung weniger selbständig (im Vergleich mit den Grundein-
Sprachliche Verhältnisse in der Gentilgesellschaft
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heiten des Systems, mit Gens und Stamm). Deshalb sind auch die Merkmale der Phratrie weniger relevant; sie sind im wesentlichen nur mit der Verteilung einiger Funktionen innerhalb der Stammesorganisation verbunden. Wie aus der unten folgenden Aufzählung ersichtlich wird, geben diese Funktionen der Organisationsstruktur der Phratrien keinen selbständigen Charakter: "1. Das Ballspiel spielen die Phratrien gegeneinander; . . . - 2. Im Stammesrat sitzen die Sachems und Kriegsführer jeder Phratrie zusammen, die beiden Gruppen einander gegenüber, jeder Redner spricht zu den Repräsentanten jeder Phratrie als zu einer besonderen Körperschaft. -3. War ein Totschlag im Stamm vorgekommen, wo Töter und Getötete nicht zu derselben Phratrie gehörten, so appellierte die verletzte Gens oft an ihre Brudergentes; diese hielten einen Phratrienrat und wandten sich an die andre Phratrie als Gesamtheit . . . - 4. Bei Todesfällen hervorragender Leute übernahm die entgegengesetzte Phratrie die Besorgung der Bestattung und der Begräbnisfeierlichkeiten . . . 5. Bei der Wahl eines Sachems kam ebenfalls der Phratrienrat ins Spiel . . . - 6. Früher hatten die Irokesen besondre religiöse Mysterien . . . Diese wurden bei den Senekas gefeiert durch zwei religiöse Genossenschaften, mit regelrechter Einweihung für neue Mitglieder; auf jede der beiden Phratrien entfiel eine dieser Genossenschaften. - 7. Wenn, wie fast sicher, die vier linages (Geschlechter), die die vier Viertel von Tlascalä zur Zeit der Eroberung bewohnten, vier Phratrien waren, so ist damit bewiesen, daß die Phratrien wie bei den Griechen und ähnliche Geschlechtsverbände bei den Deutschen, 12
auch als militärische Einheiten galten". Die Organisationsstruktur des Stammes zeigt sich in der Gesamtheit der funktional sehr bedeutsamen und funktional bestimmten Normen: "1. Ein eignes Gebiet und ein eigner Name . . . 2. Ein besondrer, nur diesem Stamm eigentümlicher Dialekt . . . 3. Das Recht, die von den Gentes erwählten Sachems und Kriegsführer feierlich einzusetzen . . 4. Das Recht, sie wieder abzusetzen, auch gegen den Willen ihrer Gens . . . 5. Der Besitz gemeinsamer religiöser Vorstellungen (Mythologie) und Kultusverrichtungen . . . 6. Ein Stammesrat für gemeinsame Angelegenheiten. Er war zusammengesetzt aus sämtlichen Sachems und Kriegsführern der einzelnen Gentes . . . ; er beriet öffentlich, umgeben von den übrigen Stammesgliedern, die das Recht hatten dreinzureden und mit ihrer Ansicht gehört zu werden; der Rat entschied . . . 7. In einigen Stämmen finden 13 wir einen Oberhäuptling, dessen Befugnisse indessen sehr gering sind. " Die vierte Einheit der Systemreihe, der Verband verwandter Stämme, war bei den nordamerikanischen Indianern nicht allgemein vertreten, in hochentwickelter Form nur bei den Irokesen. Auch der irokesische Stammesverband hatte seine festen Normen: "1. Ewiger Bund der fünf blutsverwandten Stämme auf Grundlage vollkommener Gleichheit und Selbständigkeit in allen innern Stammesangelegenheiten . .. Die gemeinsame, nur dialektisch verschiedne Sprache war Ausdruck und Beweis der gemeinsamen Ab-
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stammung. 2. Das Organ des Bundes war ein Bundesrat von 50 Sachems, alle gleich in Rang und Ansehn; dieser Rat entschied endgültig über alle Angelegenheiten des Bundes. 3. Diese 50 Sachems waren bei Stiftung des Bundes auf die Stämme und Gentes verteilt worden, als Träger neuer Ämter, ausdrücklich für Bundeszwecke errichtet . . . 4. Diese Bundessachems waren auch Sachems in ihren jedesmaligen Stämmen und hatten Sitz und Stimme im Stammesrat. 5. Alle Beschlüsse des Bundesrates mußten einstimmig gefaßt werden. 6. Die Abstimmung geschah nach Stämmen . . . 7. Jeder der fünf Stammesräte konnte den Bundesrat berufen, dieser aber nicht sich selbst. 8. Die Sitzungen fanden vor versammeltem Volk statt; jeder Irokese konnte das Wort ergreifen; der Rat allein entschied. 9. Der Bund hatte keine persönliche Spitze . . . 10. Dagegen hatte er zwei oberste Kriegsführer, mit gleichen Befugnissen und gleicher Gewalt. 1 , 1 4 Das als Universalmodell angeführte gentilorganisierte System der Irokesen besaß, wie wir sehen, eine sehr klare Organisationsstruktur, die die Erfüllung aller Funktionen garantierte, die dieser gesellschaftlichen Einheit zukamen, wie Gens, Phratrie, Stamm, Stammesverband in ihrer hierarchischen Wechselbeziehung. Gerade diese Klarheit der Organisationsstruktur der Gentilgesellschaft bestimmte ( ihren selbständigen Charakter, der seinen Ausdruck in der Regelung aller Funktionen findet, die durch diese Gesellschaft erfüllt werden. "Die Beteiligten entscheiden, und 15 in den meisten Fällen hat jahrhundertelanger Gebrauch bereits alles geregelt". Die Bemerkung von Engels über den "jahrhundertelangen Gebrauch" warnt uns aber vor einer unangebrachten Verabsolutierung der Vorstellungen von der Organisati onsstruktur, die für die hochentwickelte gentilorganisierte Stammesgesellschaft der Irokesen charakteristisch ist. Diese Struktur ist typisch und erhält die Bedeutung eines universalen Modells nur für eine bestimmte Zeit in der Entwicklung der organisierten Gentilgesellschaft - für ihre relativ späte Etappe, die Engels in Wechselbeziehung bringt mit der "niedrigsten Stufe der Barbarei". Anders gesagt, die strenge Ordnung zwischen den Organen der Gentilgesellschaft in 16 ihren hierarchischen Wechselbeziehungen ist das Ergebnis einer langen Entwicklung. 3 Die Struktur der gentilen Stammesorganisation wurde bisher kaum als Ausgangspunkt für Untersuchungen und Rekonstruktionen der sprachlichen Verhältnisse der Gentilgesellschaft ausgewertet. Indessen kann man hier Grundlagen für neue Lösungswege zu diesem Problem finden. Die folgenden Ausführungen sind Hypothesen, da die sprachlichen Verhältnisse der ferneren Vergangenheit nur das Objekt mehr oder weniger überzeugender Rekonstruktionen sein können. Es ist aber zu erwarten, daß mit Hilfe von Hypothesen unsere Vor-
Sprachliche Verhältnisse in der Gentilgesellschaft
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Stellungen von der Geschichte der Entwicklung der sprachlichen Kommunikationsformen in der vorfeudalen Zeit etwas klarer werden. In der Reihe der Merkmale, die Stamm und Stammesverband kennzeichnen, erwähnt Engels auch die sprachlichen Verhältnisse; er stützt sich dabei auf die entsprechenden Mitteilungen Morgans. So nimmt in der Reihe der Stammesmerkmale "ein besondrer, nur diesem Stamm eigentümlicher Dialekt" den zweiten Platz ein. Und weiter: "In der 17
Tat fallen Stamm und Dialekt der Sache nach zusammen. "
Morgan verwies mit gro-
ßer Bestimmtheit auf die Einheitlichkeit des Stammesdialektes: "Ein Indianerstamm ist zusammengesetzt aus verschiedenen Gentes, die aus zwei oder mehr sich entwickelt haben; seine Mitglieder sind sämmtlich durch Heirath untereinander gemischt und sprechen denselben Dialekt. Einem Fremden ist wohl der Stamm erkennbar, aber nicht die Gens. Außerordentlich selten sind unter den amerikanischen Ureinwohnern solche Fälle, wo der Stamm Völker (genauer wäre zu übersetzen 'Menschen'. - A.D.) umfaßte, die verschiedene Dialekte sprachen. Wo solche Fälle sich vorfinden, sind dieselben das Resultat der Vereinigung eines schwächeren mit einem stärkeren, einen verwandten Dialekt sprechenden Stamm, wie z. B. die Vereinigung der Missouris mit den Otoes nach 18
Aufreibung der ersteren. "
Und an anderer Stelle: "Stamm und Dialekt sind im Wesent-
lichen von gleicher Ausdehnung, aber unter besonderen Umständen treten auch Ausnah•
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men ein.11 Indem er weiter über die Entstehung der irokesischen Stammeskonföderation spricht, weist Morgan darauf hin, daß sich die verwandten Stämme vereinigten in "eine höhere Organisation . . . auf Grundlage der gemeinsamen Gentes . . . und der verwandten Dialekte, die sie sprechen. Das in der Gens verkörperte Bewußtsein der Verwandtschaft, der gemeinsame Stammbaum der Gentes und ihre gegenseitig noch verständlichen Dialekte boten die natürlichen Elemente zu einem Bündniß dar. Die Gentes bildeten daher die Grundlage und den Mittelpunkt des Bundes, und der gemeinsame Sprachstamm bestimmte seinen Umfang. " 20 Engels formulierte diese Sachlage im ersten Punkt der Hauptbesonderheiten des Stammesverbandes kurz: "Die gemeinsame, nur dialektisch 21
verschiedne Sprache war Ausdruck und Beweis der gemeinsamen Abstammung".
Ob-
gleich Morgan und Engels einen Unterschied zwischen Dialekt (bezogen auf den Stamm) und Sprache (bezogen auf den Stammesverband) machen, ist es zweifelhaft, ob diesem terminologischen Unterschied 30 große Bedeutung zukommt. Die Begriffe Dialekt und Sprache können in solchen sozial-historischen Zusammenhängen nicht exakt und st.:"-'»«' abgegrenzt werden. Wesentlicher ist ein anderes Moment, die Einheitlichkeit des Su mmesdialektes (oder der Stammessprache), die als sprachliche Einheit der sozialen Einheit des Stammes entspricht. Ein Stamm, der in sich eine gewisse Anzahl von Sippen vereinigt, die sich durch Ehen vermischt haben, besitzt einen einheitlichen Dialekt (oder eine einheitliche Sprache). Folglich kann man nicht von "Sippensprachen" spre-
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A.V. Desnitzkaj;
chen. Morgan und Engels erwähnen in der Reihe der Merkmale, die die unterste Stufe der Gentilorganisation kennzeichnen (Gens, Phratrie) die sprachlichen Verhältnisse nicht. Der Stamm hat seinen besonderen Dialekt (oder eine besondere Sprache) auf Grund der Tatsache, daß er als selbständige soziale Einheit erscheint, die ihr eigenes T e r r i torium besitzt. Die einzelnen Unterschiede zwischen den Dialekten verwandter Stämme können minimal sein. Es konnten aber innerhalb des Sprachgebietes, das mit dem T e r r i torium der Stammessiedlung zusammenfiel, wahrscheinlich in Übereinstimmung mit den Grenzen der Siedlung einzelner lokaler Gruppen, kleine lokale Unterschiede entstehen. Auf der Grundlage der Wechselbeziehungen zwischen einzelnen Gentilgemeinschaften, die ein und demselben Stamm angehörten, konnte der Charakter dialektaler Kontinuität erhalten bleiben, wenn sich auch in den Grenzen eines einheitlichen sprachlichen Systems, das im ganzen durch einen bestimmten Stammesdialekt repräsentiert wurde, bestimmte Besonderheiten herausbildeten. Die Unterschiede, die naturgemäß in der Alltagssprache durch größere oder geringere territoriale Abgeschiedenheit der einzelnen Sippensiedlungen entstanden sind, schufen so lange keine gesonderten Dialekte als selbständige sprachliche Einheiten, bis entsprechende Gentilgemeinschaften in einen Stamm eingingen und sich in seine Organisation einfügten. Bei der Teilung eines Stammes, besonders durch getrennte Siedlungen, konnten kleine lokale Unterschiede eine Rolle bei der Bildung neuer Stammesdialekte spielen. Im ganzen war die Einheitlichkeit des Stammesdialektes eines von den Merkmalen, die - in einer Reihe mit anderen - den Status des Stammes als Einheit der Gentilgesellschaft bestimmten. Diese Einheitlichkeit wurde durch den eigenen Charakter der Stammesorganisation, mit der Charakter und Formen der sprachlichen Kommunikation auf den unterschiedlichen Ebenen des sozialen Verkehrs der Stammesmitglieder verbunden waren, unterstützt. Auf der Ebene so bedeutsamer Stammesinstitutionen wie der Versammlung der Räte (des Stammes, der Gens, der Phratrie), der Kultmysterien, der Feste, mußte die Einheitlichkeit des Stammesdialektes (oder der Stammessprache) gefördert und seine relativ konservative Form bewahrt werden. Sie sollte nicht durch spontane Neuerungen gestört werden. Die Alltagssprache ließ der Entwicklung von Innovationen einen größeren Raum; sie konnten jedoch in gewissem Maße durch den Einfluß der konservativeren Norm der Sprache einer höheren Ebene aufgehalten werden. So gehen wir von der Frage nach der Einheit des Dialektes (oder der Sprache), die ein charakteristisches Merkmal des Stammes als sozialer Organisation darstellte, zur Frage über, welche Wechselbeziehungen zwischen der Variation, die zweifellos eine Eigentümlichkeit der Alltagssprache war, und der dialektalen Geschlossenheit bestehen; beide erweisen sich offensichtlich als eine unmittelbare Realität von Gemeinsamkeiten
Sprachliche Verhältnisse in der Gentilgesellschaft
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und Unterschieden in der Sprache getrennt siedelnder gentiler Gemeinschaften, die einem Stamm angehören. Für das Verständnis der Wechselbeziehung zweier Sprachebenen - einer höheren, auf der sich die Einheit des Staminesdialektes als System verkörperte, und einer niederen, auf der die Variation entstand und sich ausbreitete, müssen wir, vom streng systemhaften Charakter der Gentilgesellschaft ausgehend, einige Hypothesen aufstellen. Man kann annehmen, daß einer Gesellschaft, die eine hohe Stufe der strukturellen Ordnung und der gegenseitigen Beziehungen aller Erscheinungen des Überbaus besaß, auch eine bestimmte Regelung der sprachlichen Verhältnisse eigen war. Das folgt im besonderen aus der Existenz solcher sozialer Einrichtungen wie des Sippenrates, der Phratrie und des Stammes, die den Charakter demokratischer Versammlungen hatten, deren Mitglieder sich bei der Beratung wichtiger gesellschaftlicher Angelegenheiten in der Beredsamkeit maßen. Der Gebrauch feierlicher traditioneller Sprachformeln muß eine große Rolle gespielt haben. Der gesellschaftliche Charakter der religiösen Kulte setzte seinerseits eine höhere Aufmerksamkeit gegenüber der sprachlichen Seite der Rituale in Gens, Phratrie und Stamm voraus. Bei der großen sozialen Bedeutung der verschiedenen Riten und bei der breiten Entwicklung der sprachlichen Kommunikation auf den Volksversammlungen, die alle wichtigen Fragen des Sippen- und Stammeslebens berieten, konnten die sprachlichen Verhältnisse der gentilorganisierten Stammesgesellschaft den Charakter einer gewissen Diglossie erhalten. Das drückt sich darin aus, daß sich eine niedere und eine höhere Sprachebene gegenüberstanden. Die Alltagssprache, die eine niedere Ebene darstellte, konnte mehr oder weniger leicht zu spontanen Veränderungen und zu kleinen Schwankungen neigen. Die Sprachform der höheren Ebene, die in einem großen Kreis sehr wichtiger kultureller und gesellschaftlich-rechtlicher Institutionen der Gentilgesellschaft benutzt wurde, konnte sich dagegen durch ein bestimmtes Maß an Stabilität und Konservatismus unterscheiden, das zu einer gewissen Normierung führte. Die Wechselbeziehung zwischen diesen beiden Ebenen konnte natürlich, historisch betrachtet, nicht konstant bleiben, und solch ein Sprachzustand konnte nicht ursprünglich sein; er konnte nur als Ergebnis einer langen historischen Entwicklung der Gentilgesellschaft von ihrer niedersten Form zu ihrer höchstentwickelten entstehen. Schon früher wurde festgestellt, daß das von Morgan ausgearbeitete Modell der gentilorganisierten Stammesgesellschaft eine relativ hohe Entwicklungsstufe der Gentilgesellschaft widerspiegelt, für die eine entsprechend hoch entwickelte Organisationsstruktur charakteristisch ist. Sie zeigt sich in der Existenz ständig tätiger Machtorgane (die Hierarchie der Räte der Sippe, des Stammes und des Stammesverbandes) und in der Gesamtheit der juristischen Normen, die die Rechte und Pflichten der Führer klar definieren. Man kann annehmen, daß die Entwicklung einer besonderen Sprachform einer höheren Ebene
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in Abhängigkeit von der Entwicklung der Formen der Organisationsstruktur der gentilorganisierten Stammesgesellschaft vor sich ging und daß das oben (als Hypothese) umrissene Wechselverhältnis zwischen zwei sprachlichen Kommunikationsebenen - wie auch das von Morgan auf der Erforschung der Gentilgesellschaft der Irokesen errichtete Modell der gentilorganisierten Stammesorganisation - einer relativ hohen Entwicklungsstufe der gentilen Stammesorganisation entsprach. Man kann annehmen, daß auf niederen Entwicklungsstufen die Diglossie anders aussah, wenn sie überhaupt schon feste Gestalt angenommen hatte. Insbesondere kann man davon ausgehen, daß bei der ungenügenden Entwicklung solcher sozialen Organisationsformen wie der Stammesräte und Stammesverbände, bei dem begrenzten sozial-politischen Leben der gentilorganisierten Stammeskollektive und bei seinen primitiveren Formen die gesellschaftliche Kommunikation in Verbindung mit den religiösen Kulten, den Festen und Bräuchen, die den Beginn oder das Ende von Unternehmen (Jagden, Kriegszügen) markierten, Initiationsritualen und ähnlichen Bräuchen eine größere Rolle spielen konnte. Unter diesen Bedingungen konnte sich in der Diglossie der spezifische Unterschied zwischen Formen der Alltagssprache und der sakralen Sprache ausdrücken. Auf der anderen Seite mußte sich je nach der Entwicklung der gentilorganisierten Stammesgesellschaft mit der wachsenden Bedeutung solcher Organisationsformen wie der Räte der Sippe des Stammes und des Stammesverbandes, wobei mehr Stammesmitglieder am sozial-politischen Leben teilhatten, der Einfluß der höheren Sprachebene verstärken, so daß die Festigung und Bewahrung der Einheit der Stammessprache (des Stammesdialektes) gefördert wurde. So entstand in der spontanen Variation der Alltagssprache die für die sprachlichen Verhältnisse der Gentilgesellschaft charakteristische dialektale Kontinuierlichkeit. Gleichzeitig verkörperte sich in der Einheitlichkeit der Sprachformen, die an die Ausübung gesellschaftlicher und religiöser Rituale gebunden waren, in den Grenzen einer einheitlichen Stammesorganisation die Einheitlichkeit des Stammesdialektes. Solange der Stamm als Einheit bestand, veränderte sich nichts. Mit dem Zerfall des Stammes, mit der Entwicklung neuer Stämme, entstanden neue verwandte Dialekte. Dabei erwiesen sich spontane Veränderungen, die auf einer niederen Ebene der sprachlichen Kommunikation entstanden und die schon nicht mehr darch die konservative Sprachnorm der oberen Ebene, deren Einheitlichkeit bis zu einer bestimmten Zeit die Gemeinsamkeit der Stammesinstitutionen aufrechterhielt, beeinflußt waren, als Quelle der sprachlichen Differenzierung. Aber bei der Herausbildung nahe verwandter Stammesdialekte, besonders im Falle der Nachbarschaft verwandter Stämme, konnte die sublimierte Form der Sprache, die mit den sozial-rechtlichen, politischen und religiösen Institutionen der ursprünglichen Stammesorganisation verknüpft war, in gewissem Maße ihre Bedeutung erhalten. Durch
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die gemeinsame Herkunft konnte sie auch weiterhin Gruppen verwandter Stämme vereinigen. Gerade das konnte diese Gemeinsamkeit der Sprache, die in Dialekte gegliedert war, aufrechterhalten. Die Bedeutung dieser Gemeinsamkeit haben Morgan und Engels hervorgehoben, als sie über die Bedingungen bei der Bildung der Stammesverbände sprachen. 4
Die Frage nach der spezifischen, in der Gentilgesellschaft entstandenen Diglossie ist wenig erforscht, obgleich sich im sprachlichen Leben der Stämme, die noch unter den Bedingungen der Sippenorganisation fortlebten, und auch bei einigen Völkern, die in ihrer gesellschaftlichen Lebensweise mehr oder weniger deutliche Relikte der gentilorganisierten Verhältnisse bewahrt haben, wiederholt ähnliche Umstände abzeichne.
ten.
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So treten zum Beispiel zwei unterschiedliche Lexikebenen - eine sakrale (sacred) und eine alltagssprachliche (slang) Ebene - bei den Indianerstämmen der Zuni zutage, 23
wie das St. Newman in seiner Untersuchung gezeigt hat. Die sakralen Elemente der Lexik der Zuni werden in Gebeten, mythologischen Erzählungen, Liedern und in traditionellen festen Wendungen gebraucht; gewöhnlich treten sie an die Stelle entsprechender neutraler Wörter und beziehen sich auf das Gebiet des Kultes. Die saloppen Elemente sind charakteristisch für den niederen Stil. Diese beiden Ebenen unterscheiden sich deutlich in den Anwendungssphären und auch durch das besondere soziale Prestige, mit dem die sakrale Lexik in der Gesellschaft der Zuni ausgestattet war, die vorwiegend von der älteren Generation benutzt wurde. Bei der fernöstlichen Völkerschaft der Ultschi unterscheidet sich die Sprache der Schamanengesänge nach der Beobachtung von O. P. Sunik sehr stark von der Alltags24 spräche. Der Unterschied wird hauptsächlich im besonderen Charakter der Lexik deutlich. Ein markantes Beispiel für den Unterschied zwischen den Formen der Alltagssprache und denen der rituell-poetischen Sprache, der sich in einem hinsichtlich der Sippenverhältnisse archaischen Stammeskollektiv entwickelt hat, ist in einer Untersuchung von M. Emeneau dargestellt worden, die die mündliche Dichtung des Drawidenstammes 25
Toda behandelt
. Mit den Arbeitsprozessen verbinden sich bei den Toda manche reli-
giösen Rituale, die im Leben ihrer Sippenkollektive eine große Rolle spielen. Die Rituale schließen das Singen von Liedern ein, aber auch das Vorführen von Tänzen, die von Schreien begleitet werden. So erscheint die verbale Seite, die auf gewisse Weise formalisiert ist, als ein Element ritueller Handlungen. Bemerkenswert ist, daß es sich bei dieser Dichtung um Gelegenheitsdichtung handelt; sie ist eng mit dem Stammesleben verbunden, und jeder Toda hat einen bestimmten Anteil an ihrer Ausführung, die
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immer in einem gewissen Grade einen Akt der Neuschöpfung darstellt. Aber dieses sich ständig wiederholende Neuschöpfen geht nach strengen formalen Regeln vor sich mit Benutzung vieler stereotyper Formeln. Die poetische Sprache unterscheidet sich von der Alltagssprache durch eine Reihe von Besonderheiten in der Syntax, der Morphologie und der Lexik; ein Vergleich mit verwandten Sprachen berechtigt dazu, von ihrer Altertümlichkeit zu sprechen. Es ist charakteristisch, daß diese Sprache nicht ausschließlicher Besitz einer besonderen Gruppe von Sängern ist. Alle Stammesmitglieder erlernen und beherrschen sie, in gleichem Maße nehmen sie an der ständigen Reproduktion der poetischen Texte teil, die ein sehr wichtiges Element ihres gesellschaftlichen und kulturellen Lebens ausmacht. Für die meisten Traditionen der Volksdichtung erscheint die historische Situation, die auf typologisch dermaßen archaischem Material beruht, schon als Rekonstruktion vergangener Verhältnisse. Die ältesten Denkmäler, die nach vielen Jahrhunderten mündlicher Weitergabe von Generation zu Generation schriftlich fixiert wurden, geben r j r eine Seite der Wechselbeziehung wieder - die Niederschrift eines rituell-poetischen Textes, ohne die Möglichkeit seiner unmittelbaren Gegenüberstellung mit der Alltagssprache. Es ist klar, daß sowohl die Sprache der Rigweden als auch das Avestische im Laufe von Jahrhunderten der lebenden Sprache schon als tote sakrale Sprachen gegenüberstanden, die sich in ihrer Altertümlichkeit bewahrt hatten. Aber für die Entstehungszeit der Texte (in ihren ältesten Teilen) muß man sich eine Situation vorstellen, in der diese Sprache der rituellen Poesie noch als aktuelle Norm fungierte, die sich von der lebendigen Sprache durch ihre stereotypen Formeln, ihre besondere Lexik und durch einige archaische Besonderheiten in Grammatik und Phonetik unterschied. Prinzipiell kann man sich eine analoge Situation auch für die indoeuropäische ethnisch-sprachliche Gemeinschaft der Zeit, die ihrem Zerfall vorausging, vorstellen. Die Gruppen nah verwandter Stämme, die diese Gemeinschaft bildeten, lebten unter den historischen Bedingungen der Gentilordnung und mußten, wie die archaischen Elemente der gemeinindoeuropäischen Lexik, aber auch die ältesten mündlichen poetischen Traditionen bezeugen, eine breit entwickelte rituelle Dichtung besitzen, einen bestimmten Komplex von Festlegungen sakral-juristischen Charakters und entsprechend besondere Formen der Sprache, die sich von der Alltagssprache durch größere Stabilität und Verallgemeinerung unterschieden. Der Gedanke ist nicht neu, daß sich in der gemeinindoeuropäischen Lexik eine besondere Schicht herausgebildet haben kann, die mit Dichtung, Religion und Recht verbunden war, ebenso wie der Gedanke, daß sich im System der Ursprache selbst formal charakterisierbare Schichten wie "alltagssprachlich" ("volkssprachlich", "vulgär") und "gehoben" ("literarisch", "poetisch", "sakral") herausgebildet haben, nicht neu ist. Dieser Frage sind A. Meillet, V. Pisani und G. Devoto in ihren Arbeiten nachgegangen.
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Besonders günstige Bedingungen für die Entstehung stabiler mündlicher literarischer (gesellschaftlich-ritueller und poetischer) Sprachformen, die sich über das Niveau der Alltagssprache erhoben, bildeten sich in der späten Gentilgesellschaft mit der für sie charakteristischen militärischen Demokratie. Die Entwicklung der Sprache, die auf den Volksversammlungen, bei Vertragsabschlüssen zwischen den Stämmen und bei der Entscheidung von juristischen Streitfällen nach den Normen des Gewohnheitsrechts verwendet wurde, das Aufblühen der Epik - all das schuf gesellschaftlich-kulturelle Grund26
lagen für das Entstehen und die Stabilisierung einer mündlichen literarischen Koine . Die Bildung von Stammesverbänden und die weitere Entwicklung gesellschaftlicher Kommunikationsformen zwischen den Stammesgemeinschaften vergrößerte die Bedeutur? dieser Koines, die überdialektalen Charakter erlangten. Wie schon erwähnt, war nach Engels die Gemeinsamkeit der Sprache verwandter Stämme, die sich zu einem Verband zusammenschlössen, ein charakteristisches Merkmal dieser höheren Form der politischen Organisation der Gentilgesellschaft. Diese Gemeinsamkeit der Sprache konnte sich in einer für den ganzen Stammesverband einheitlichen überdialektalen Norm verkörpern, als mündliche literatursprachliche Koine, die sich nicht nur über der dialektalen Kontinuität der lokal variierten Alltagssprache aller den Verband bildenden Stämme erhob, sondern auch über die klar erkannten Unterschiede der Systeme einzelner Stammesdialekte. In der Stabilität und im Konservatismus dieser Koine konnte sich eine althergebrachte und stabile Sprachtradition in Zusammenhang mit der gemeinsamen Herkunft der Stammesdialekte widerspiegeln. Die Einheitlichkeit und die soziale Bedeutung der überdialektalen Koine eines Verbandes verwandter Stämme konnten nicht nur durch die Begegnungen auf den Versammlungen des Gesamtverbandsrates und gemeinsame kriegerische Vorhaben, sondern auch durch gemeinsame religiöse Rituale, die ganze Stammesgruppen vereinigten, gefördert werden. Über die Existenz dieser kulturellen Beziehungen zwischen den Stämmen und 27
die rituellen Feierlichkeiten bei den alten Germanen berichtet Tacitus . Wie Schirmunski annimmt, "stellten" die von Tacitus erwähnten Ingväonen, Istväonen und Erminonen, die einen gemeinsamen ethnogenetisehen Mythos besaßen (den Ursprung vom Gott Tuisto, seinem Sohn Mannus und dessen drei Söhnen) "Kultgemeinschaften dar, von denen jede, indem sie die Verwandtschaft mit den beiden übrigen anerkannte, ihren besonderen 28 göttlichen Ahnherrn verehrte. " V. M. Schirmunski hält es für möglich, mit den gemeinsamen Stammesmythen und den kulturellen Traditionen die historische Einheit der drei westgermanischen Hauptstammesgruppen, die durch die römischen Historiker bezeugt sind, und deren Dialekte zu verbinden - eine Schlußfolgerung, die große Bedeutung für die vergleichende Grammatik der germanischen Sprachen hat. Ihr sie vereinigender ethnogenetischer Mythos, der von ihrer gemeinsamen Herkunft erzählt, ist in
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jedem Falle ein sehr wichtiges Zeugnis, wenn nicht für ihre reale genetische Einheit, so doch dafür, daß sie im 1. Jahrhundert d. Z. als solche auf der Grundlage der alten Mythen und Kultvereinigungen verstanden wurde. Diese Mythen waren, übereinstimmend mit der Erzählung des Tacitus, in 'alten Liedern' (antiqua carmina) fixiert, die 'bei ihnen die einzige Art der Überlieferung (des Vergangenen) und der Annalen' darstellten und in denen sie 'die Herkunft des Volkes und (seines) Ahnherren' (originem gentis 29 conditoremque, Germania Kap. 2) verherrlichten. " In bezug auf die Sprache, fährt Schirmunski fort, "muß man unter allen Umständen das Vorhandensein einer engeren Kontaktentwicklung, einer sprachlichen Gemeinsamkeit und eines Austausches zwischen den benachbarten Stämmen Westgermaniens anerkennen, die hinsichtlich Abstammung und Sprache nah verwandt sind, auf der Grundlage enger historischer und kultureller Zusammenhänge und Wechselbeziehungen zwischen ihnen als Glieder derselben kultischen kriegerischen Stammesverbände 30 und als Teilnehmer an den Wanderungen auf der Suche nach neuen Wohnsitzen . . . " Die Einheitlichkeit der Traditionen der Volksdichtung, die insbesondere im altgermanischen Kulturraum gut bezeugt ist, kann man auch als einen wichtigen Faktor betrachten, der die überdialektalen Koines zwischen den Stämmen förderte. Im Leben der späten Gentilgemeinschaft, in dem das Schrifttum, auch wenn es nur für irgendwelche begrenzte Bedürfnisse verwendet wurde, noch keine allgemeinkulturellen Funktionen e r füllte, spielte die Volksdichtung, die die ideologischen Interessen dieser auf den Grundlagen der militärischen Demokratie aufgebauten Gesellschaft widerspiegelte, eine große Rolle. Sie verschönte die Mußestunden und regte das Kriegsgefolge zu neuen Heldentaten an. Das war schon keine Gelegenheitsdichtung mehr, sondern hohe Literatur heldischen Inhalts, die nach den Worten Tacitus' (in bezug auf die alten Germanen) als die 'einzige Überlieferung von der Vergangenheit', als eine Art 'Annalen' diente. Ihre Sprache war überdialektal; sie zeichnete sich aus durch ihren Bestand an Formeln, durch altertümliche Lexik, wich aber auch mehr oder weniger in Grammatik und Phonetik von der Alltagssprache ab. Als typisches Beispiel einer solchen überdialektalen Sprache erscheint die Sprache der homerischen Epen, die in sich die komplizierte Geschichte der altgriechischen epischen Tradition widerspiegelte, die auf die mykenische Zeit zurückgeht. Auch die altgermanische Epik hatte ihre eigene Sprache, sie war archaisch und konventionell in ihrem Reichtum an traditionellen Formeln, stilistisch differenziert und hatte offensichtlich überdialektale Züge. Die in der Gentilgesellschaft entstandenen besonderen Formen der mündlichen Sprache, die überdialektalen Charakter erlangten und mit den hohen Stilformen der sprachlichen Kommunikation verbunden waren, konnten im Laufe einer langen Zeit die ererbte nahe Verwandtschaft von Stammessprachen bewahren und den Prozeß ihrer weiteren Differenzierung verzögern. Dabei konnte der Einfluß der Norm der mündlichen litera-
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tursprachlichen Koine auf den Charakter der Alltagssprache eine entscheidende Rolle spielen, in dessen Ergebnis gewissermaßen die "Literarisierung" der letzteren entstand. Man kann annehmen, daß dieser Einfluß, der sich natürlich auch in früheren Entwicklungsperioden zeigte, in der späten Gentilgesellschaft besonders stark war. Das wurde durch die Entwicklung der Organe der militärischen Demokratie und des Gewohnheitsrechts, die aufblühende Volksdichtung und die Erweiterung ihrer ideologischen Funktionen begünstigt. Einige Fakten aus der Geschichte der sprachlichen Verhältnisse, die sich in den Gebieten herausbildeten, in denen Überbleibsel der gentilorganisierten Stammesordnung sehr lange erhalten blieben, könnten diese Hypothese bestätigen. So variiert zum Beispiel in den Gebirgsgegenden Nordalbaniens, wo das entwickelte System der gentilen Stammesverhältnisse noch im 19. Jahrhundert existierte und wo die überlandschaftliche Norm der epischen Koine und der gesellschaftlich-rituellen Sprache der hohen Ebene noch unlängst ein ideales Sprachmodell für die Gesellschaft der Bergbewohner darstellte, in deren Lebensweise sich eine ganze Reihe von Resten der patriarchalischen Ordnung erhalten haben, der Grad der Divergenz zwischen der Koine und dem lebendigen Dialekt in Abhängigkeit vom Grad der Stabilität dieses Erbes. Die größten Divergenzen gibt es in den Randgebieten. Im Zentrum des Gebietes, besonders in der von den Verkehrswegen entfernten Hochgebirgsgegend Nikaj und Merturi, ist der erwähnte Abstand zwischen der lautlichen Seite der Alltagssprache, die Mundart im eigentlichen Sinne des Wortes ist, und der phonetischen Norm der nordgegischen epischen Koine, geringer 31 als anderswo. Dort gibt es auch viele Relikte patriarchalischer Organisation, und Volkskundler stellten fest, daß die epischen Traditionen besonders rein und konsequent bewahrt werden. Man kann annehmen, daß der Einfluß der altnordischen mündlichen literatursprachlichen Koine auf die lebendige Volkssprache der Norweger in der Wikingerzeit so groß war, daß die ersten isländischen Ansiedler, die über einige Jahrhunderte hin Einrichtungen der Gentilgesellschaft als eigenständiges System der "Volksherrschaft" bewahrt haben, auch schon eine "literarisierte" Sprache mitbrachten und bewahrten. Ihre Alltagssprache stand dem mündlichen literatursprachlichen Modell, das in seinem Reichtum in der Sprache der Sagas verkörpert wurde, sehr nahe. M. I. Steblin-Kamenskij wies darauf hin, daß "das Isländische schon Literatursprache war, bevor man es schriftlich fixierte. Deshalb steht die 32 altisländische Literatursprache der mündlichen Volkssprache ungewöhnlich nahe. " Wie es weiter heißt, waren vor 11 Jahrhunderten, als die Besiedlung Islands begann, "die sprachlichen Unterschiede innerhalb Skandinaviens noch sehr klein", und aller Wahrscheinlichkeit nach "war die Sprache der ersten Ansiedler in Island von Anfang an nicht33identisch mit irgendeiner Variante einer skandinavischen Sprache auf dem Kontinent" . Wenn diese fest bewahrte sprachliche Einheit
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des alten Skandinavien als Resultat eines langen Einflusses der allgemein gebräuchlichen mündlichen literatursprachlichen Koine, die sich unter den Bedingungen der gentilorganisierten Stammesordnung gebildet hatte, auf die Alltagssprache zu erklären ist, dann kann die frühe "Literarisierung" des Isländischen als ein Element des Erbes der späten Gentilgesellschaft betrachtet werden, die die norwegischen Stammesgemeinschaften, die im 9./10. Jahrhundert vor der Unterdrückung durch die Königsmacht flohen, mitbrachten und auf Island festigten. Es ist möglich, daß gerade durch diese frühe "Literarisierung" des Isländischen und die große Rolle der mündlichen literarischen Tradition im Leben des isländischen Volkes das Fehlen größerer Dialektunterschiede in dieser Sprache erklärt werden kann. 6
Die oben aufgestellten Hypothesen hinsichtlich des Charakters und der Formen der sprachlichen Verhältnisse, die sich in der Gentilgesellschaft herausgebildet haben, können für einige wichtige Probleme der historischen Sprachwissenschaft verwertet werden. Die Theorie von den besonderen sublimierten Varianten einer Sprache, die mit der Vorstellung von den korrelativen Ebenen der Sprachgemeinschaft zusammenhängt, zeigt einen Ausweg bei der Erforschung des historischen Charakters der sogenannten Ursprachen oder ursprachlichen Zustände. In der vergleichenden Sprachwissenschaft ist längst überall die sehr große Ähnlichkeit zwischen verwandten Sprachen in älteren Zeiten ihrer Geschichte im Unterschied zu späteren Perioden registriert worden. So bewahrten zum Beispiel die alten indoeuropäischen Sprachen, selbst als schon schriftliche Denkmäler bezeugt sind, noch eine bedeutende Ähnlichkeit untereinander - ein Umstand, der in nicht geringem Maße die schnelle und überraschende Entwicklung der Indoeuropäistik stimuliert hat. Was solche engverwandten Sprachgruppen wie das Slawische und das Germanische betrifft, so kann man hier nicht ignorieren, daß noch bei Erscheinen der slawischen und germanischen Stämme in der Arena der europäischen Geschichte ihre Sprachen nur schwach differenziert waren. Bei der Betrachtung der ältesten Entwicklungsperioden verwandter Sprachen, angefangen mit dem Zustand ursprünglicher Einheitlichkeit, die tief in die Vorgeschichte 34 führt , bis zu dem Moment, wo auf Grund von schriftlichen Zeugnissen schon genügend differenzierte Sprachgruppen und einzelne Sprachen heraustreten, ergeben sich zwei Fragen: a) Durch welche Ursachen und auf welchen Wegen vollzog sich die Differenzierung und b) Warum konnte sich eine durch die gemeinsame Abstammung bedingte Gemeinsamkeit in alten Zeiten lange und relativ stabil bewahren?
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In der vergleichenden Sprachwissenschaft wurde bisher hauptsächlich die erste Frage erforscht. Aber diese beiden Fragen hängen zusammen. Sowohl die Zerfallsprozesse als auch die lange Bewahrung der Gemeinsamkeit zwischen verwandten Sprachen unter den Bedingungen der gentilorganisierten Stammesgesellschaft wurden von Faktoren bestimmt, die die Struktur dieser Gesellschaft auf verschiedenen Entwicklungsstufen kennzeichnen. Wie sich wiederholt zeigte, waren Differenzierungsprozesse mit einer Neubildung von Stämmen und Stammesdialekten durch Teilung verknüpft. Bei größerer oder geringerer territorialer Isolierung, aber auch in Abhängigkeit von einem größeren oder kleineren Ausmaß des Abbruchs von Kontakten zwischen Stammeskollektiven mit gemeinsamer Abstammung konnten sich diese Prozesse mehr oder weniger intensiv entwickeln. Die Differenzierung konnte sich verlangsamen oder sogar ganz und gar zum Stillstand kommen infolge der Wirkung eines anderen, auch innerlich mit derselben Struktur der gentilorganisierten Stammesgesellschaft verbundenen Faktors, besonders auf den höheren Stufen ihrer Entwicklung. Der Einfluß der Einigungsfaktoren, die innerhalb der gentilen Stammesorganisation wirkten, verkörperte sich in einem sozialen Prestige der Sprachformen höherer Kommunikationsebenen. Dieses Prestige mußten die sublimierten Varianten der Stammessprache, die mit den gesellschaftlichen und religiösen Kultritualen verbundenen Sprachnormen und die Koines zwischen den Stämmen besitzen, die zu überdialektalen Normen geworden waren. Wenn der Einfluß von der oberen Ebene der sprachlichen Kommunikation auf die untere, d. h. auf die gesprochene Alltagssprache groß genug war, konnte das den Differenzierungsprozeß verlangsamen und zum Stillstand bringen, ihn auf Erscheinungen unbedeutender Variation beschränken. Diese Variation konnte in der nachlässigen Sprache spontan entstehen, aber sie mußte mehr oder weniger bewußt eliminiert werden, wenn die Kommunikation auf einer höheren Stufe stattfand, solange die Norm der sublimierten Sprache ihr Prestige bewahrte; das war durch die sozial-politische Organisation der bestehenden Gesellschaft und ihre historischen Traditionen bedingt. Wenden wir uns den Begriffen und Termini der vergleichenden Sprachwissenschaft zu. Die lange und stabile Bewahrung der sogenannten ursprachlichen Zustände kann mit der Länge und Stabilität der geheiligten Traditionen der Sprachnormen der höchsten Ebene in der gentilorganisierten Stammesgesellschaft im Zusammenhang gesehen werden. Was die Differenzierungsprozesse betrifft, so setzt sich als Erklärung der Standpunkt durch, daß die zunehmenden Unterschiede zwischen den Sprachen verwandter Stämme erklärt werden müssen durch die Lockerung und das Abbrechen der Kontakte, durch territoriale Isolierung, besonders bei großen Siedlungsbewegungen, aber auch durch Mischungen mit fremdsprachiger Bevölkerung.
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Über die Einheitlichkeit des Gemeinslawischen, die sich ungefähr bis ins 6. / 7 . Jahrhundert erhalten hat, schreibt F. P. Filin sehr überzeugend: "Das Wesentliche, Bestimmende in der Entwicklung des Gemeinslawischen war nicht die dialektale Zersplitterung, sondern die Veränderung des Charakters des Gemeinslawischen, Veränderungen, die allen Slawen nicht nur für den Anfang, für die ererbte Grundlage gemeinsam sind, sondern auch in bezug auf das Endergebnis. Das zeugt von der großen Lebenskraft der sprachlichen Tradition, die bei den alten Slawen im Verlaufe vieler Jahrhunderte gewirkt hat, aber auch davon, daß zwischen den slawischen Stämmen der Urgesellschaft 35 eine dauernde Verbindung bestand. " Die folgende Entwicklung der sprachlichen Differenzierung "war durch äußere Ursachen hervorgerufen, vor allem durch die Ausbreitung der slawischen Stämme auf einem sehr großen Territorium und eine langwährende 36 Lockerung der Verbindungen zwischen den Stammesgruppen und einzelnen Stämmen". Unlängst wurde ein interessanter Gedanke darüber geäußert, daß der Begriff der "gemeingermanischen" Spracheinheit aus der inneren Gliederung des altgermanischen sprachlichen Materials gedeutet werden kann. H. M. Heinrichs nimmt an, daß "das, was wir als'gemeingermanisch' bezeichnen", . . . "im wesentlichen eine Art Hochsprache" . . . 'Hochgermanisch' ist, das sich als Sprache der Dichtung, des Kults, des Rechts, der Runeninschriften und des sozialen "Verkehrs" repräsentiert, "wobei diese . . . 'Fachsprachen' sich natürlich untereinander noch unterschieden, aber eher im 37 Wortschatz als in der Lautung". Von diesem Standpunkt muß das "Gemeingermanische" weniger als Ausgangszustand verstanden werden, der der Zersplitterung vorausging, als vielmehr als eine Art überdialektale Sprache, deren Verwendung mit dem kulturellen Leben der alten Germanen zusammenhing. Man kann annehmen, daß eine solche relative sprachliche Einheit (oder eher einige miteinander verbundene Einheiten) tatsächlich in der vorgermanischen Zeit existieren konnte und daß ihre Existenz von der Einheit der kulturellen und sprachlichen Traditionen, aber auch von den gemeinsamen historischen Entwicklungsstufen der gentilorganisierten Stammesgesellschaft der alten Germanen abhängig war. Es ist verständlich, daß es auf eine so schwierige Frage wie die nach der Entstehung der verschiedenen Typen und nach konkreten Fällen von Sprachverwandtschaft, keine allgemeingültige Antwort geben kann. Bei entsprechenden Hypothesen müssen viele Faktoren, sowohl allgemein historische als auch rein sprachliche, berücksichtigt werden. Man muß annehmen, daß die Entwicklungsetappen der Gentilgesellschaft, in denen die ursprachlichen Verhältnisse einzelner ethnolinguistischer Gruppierungen entstanden und existierten, unterschiedlich sein konnten - angefangen bei ihren relativ primitiven Formen bis hin zu den Zerfallsperioden der gentilorganisierten Stammesorganisation und dem Übergang zuir Klassengesellschaft. In Übereinstimmung damit können auch Typen von Beziehungen, die zwischen verwandten Sprachen erhalten wurden, unterschie-
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den werden, d.h. Typen von sprachlicher Verwandtschaft. Der Gedanke, daß Gruppen von verwandten Sprachen mit deutlich ausgeprägten Systemen von Übereinstimmungen ihre Ähnlichkeit aus der späten Gentilordnung ererbt haben können, während Sprachfamilien mit weniger systematischem Charakter der morphologischen und phonetischen Übereinstimmungen, mit weniger deutlichen, wenn auch im ganzen genügend relevanten lexikalischen Beziehungen, die Grundlagen ihrer historischen Gemeinsamkeiten aus früheren Entwicklungsetappen bewahrt haben, kann nicht ohne Belang sein. Anders gesagt, rein sprachliche qualitative und quantitative Charakteristika der Typen sprachlicher Verwandtschaft können theoretisch als widergespiegelte Unterschiede der Etappen, der Typen und der historischen Bedingungen in der Entwicklung der gentilorganisierten Stammesgesellschaft aufgefaßt werden. 7
Die Frage nach dem Sprachzustand der späten Gentilgesellschaft kann in engem Zusammenhang mit der Erforschung der frühen Perioden der schriftlich fixierten Sprachgeschichte gesehen werden. Für viele Völker liegen die Zerfallsepoche der Gentilgesellschaft und die Epoche der Entstehung der Klassengesellschaft innerhalb der mehr oder weniger übersehbaren Geschichte. Die alten Schriftdenkmäler und die Folklore, im besonderen die Epik, bieten manchmal die Möglichkeit, Besonderheiten von Sprachzuständen, die für diese Übergangszeiten charakteristisch sind, unmittelbar zu rekonstruieren. In einer Reihe von Fällen hat es hier die Wissenschaft mit den Anfängen der schriftlich fixierten Geschichte der Völker und ihrer Sprachen zu tun. Manchmal hingegen sind Sprachzustände, die der Gegenwart zeitlich nahe stehen, Gegenstand der Forschung. In der marxistischen Wissenschaft waren die Probleme der Übergangsperiode von der Gentilgesellschaft bis zu den frühen Organisationsformen der Klassengesellschaft Gegenstand gründlicher und allseitiger Forschung, angefangen mit den grundlegenden Arbeiten von Engels. Das ermöglicht das Studium der Sprachzustände, die sich in diesen Zeiten entwickelt haben, auf breitem sozial- und kulturhistorischem Hintergrund. Zentrale Bedeutung hat dabei das Problem der Entstehung der Völkerschaftssprache auf der Grundlage der sprachlichen Einheiten der gentilorganisierten Stammesgesellschaft. Dabei kann natürlich die Frage nach der Integration von kleineren Kollektiven der Gentilgesellschaft in größere und nach dem allmählichen Übergang früherer Verwandtschaftsbindungen zwischen ihnen in territoriale Verbindungen, die auf der neuen sozialen Entwicklungsstufe Bedeutung erlangten, nicht unwichtig sein. Engels schrieb, den Entwicklungsgang der neuen Organisation gesellschaftlicher Verbindungen charakterisierend: "Die dichtere Bevölkerung nötigt zu engerem Zusammenschließen nach innen wie nach außen. Der Bund verwandter Stämme wird überall eine
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Notwendigkeit; bald auch schon ihre Verschmelzung, damit die Verschmelzung der ge38 trennten Stammesgebiete zu einem Gesamtgebiet des Volks. " In der sowjetischen sprachwissenschaftlichen Literatur wurde wiederholt auf die Rolle der sprachlichen Integration im Rahmen der Stammesverbände als auf eine der Voraussetzungen für die Entstehung von Völkerschaftssprachen hingewiesen. Diese Frage war schon in den 30er Jahren von L. P. Jakubinskij in seinen Vorlesungen zur Geschichte der russischen Sprache aufgeworfen worden: "Die Entstehung des Starnmesverbandes schützte . . . die verwandten Stammesdialekte vor weiterem und völligem Zerfall, vor der Zersplitterung. Auf der anderen Seite bildete die große Ähnlichkeit der Dialekte, die in einem Verband vereinigt waren, eine der G r u n d l a g e n
dieses
Verbandes. Die große Ähnlichkeit dieser Dialekte förderte im weiteren39 in hohem Maße die Herausbildung von stabileren ethnischen und staatlichen Gebilden. " In Zusammenhang mit der allgemeinen Behandlung des Themas "Sprache und Dialekt" hat auch R. I. Avanesov dieses Problem theoretisch erörtert: "In der Zeit des Zerfalls der gentilorganisierten Gesellschaft und der Herausbildung von Verbänden verwandter Stämme als grundlegende gesellschaftliche Einheit tritt mehr und mehr die Sprache der Verbände verwandter Stämme als grundlegende sprachliche Einheit hervor. Letztere unterscheidet sich von den Dialekten, 40 die in dieser Zeit noch die alte Gesellschaftsgliederung in Stämme widerspiegeln. " Und weiter: "In der Zeit des Zerfalls der Gentilgesellschaft und des Übergangs zur Klassengesellschaft tritt die territoriale Gliederung zusammen mit der entstehenden Vermögensungleichheit der Gesellschaft an die Stelle der Stammesgliederung: Es läßt sich in territorialer Hinsicht eine wachsende Bevölkerungsstabilität feststellen. Mit ihr können sich auf der Basis einzelner Verbände von verwandten Stämmen oder auf der Basis der Vereinigung einiger dieser Verbände Völkerschaften bilden. Die Folge der Bildung von Völkerschaften ist die allmähliche Vereinigung der Dialekte verschiedener Teile der bestehenden Völkerschaft, 41 die die zurückgelegten Entwicklungsstufen der Gesellschaftsordnung widerspiegeln." Für die Geschichte der altgermanischen Stämme und Stammesverbände stellte Schirmunski die Frage nach den Voraussetzungen für die Entstehung von Völkerschaftssprachen. Die Ergebnisse der Spezialforschung zu den altgermanischen Stammesdialekten zusammenfassend, schreibt er: "Die Entwicklung der Völkerschaftssprachen aus den Stammesdialekten ist mit dem historischen Prozeß der Herausbildung und Konsolidierung 'barbarischer' Staaten aus den alten Stämmen und Stammesverbänden verbunden. Dieser Prozeß vollzog sich bei den Germanen nach der 'Völkerwanderung', in den meisten Fällen in den neuen Wohngebieten, zusammen mit der Entstehung frühfeudaler Klassenverhältnisse. Vom ethnischen Standpunkt aus wird er von einer Mischung der verwandten germanischen Stämme begleitet, entweder mit Bewahrung des zugrundeliegenden Stammeskerns oder mit der Vereinigung einer Stammesgruppe, nicht selten
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durch Germanisierung des örtlichen ethnischen Substrats. Vom sprachlichen Standpunkt aus entsprechen dem einerseits die wechselseitige Beeinflussung und teilweise Aufgabe der alten Stammesdialekte, andererseits neue Divergenzen, hervorgerufen durch eile spontane phonetische und grammatische Entwicklung der Sprache sowie neue und alte Dialektunterschiede in den neuentstandenen Feudalterritorien. Die auf diese Weise entstandene Sprachform war im Gegensatz zu den in sie eingegangenen Stammesdialekten schriftlich fixiert; sie bewahrte auch mehr oder weniger bedeutende lokale (terri42 toriale) Unterschiede." In den angeführten Zitaten wird der Gedanke der Integration von Stammesdialekten in größere Einheiten, auf deren Grundlage sich die Bildung der Völkerschaftssprache im weiteren vollzieht, dargelegt. Der Inhalt des Integrationsprozesses selbst wird nur in allgemeiner Form erörtert, als "Vereinigung der Dialekte verschiedener Teile eines bestimmten Territoriums" (Avanesov), als "wechselseitige Beeinflussung und teilweise Aufgabe der alten Stammesdialekte" (Schirmunski). Auf der anderen Seite wird in der philologischen Literatur der letzten Jahrzehnte wiederholt die Rolle der mündlichen poetischen Koine in der historischen Entwicklung 43 der Sprachen hervorgehoben. So spielte nach der Meinung V. V. Vinogradovs die Sprache der Volksliteratur "eine große Rolle bei der Formierung der Sprachen der ostslawischen Völkerschaften und in der44 Vorbereitung der Prozesse, die zur Entstehung unserer Nationalsprachen führten" . Die Tatsache, daß die frühfeudale russische Gesellschaft von der vorausgehenden Periode entwickelte Formen der öffentlichen und der mündlichen poetischen Sprache ererbt hat, formuliert D.S. Lichaiev sehr präzise: "Man kann annehmen, daß es schon in der vorschriftlichen Periode der russischen Geschichte ein hohes Niveau der gesprochenen Sprache gab: die poetische Sprache und die Sprache des offiziellen Verkehrs. Die Existenz der poetischen Sprache wird durch das Vorhandensein der hochentwickelten und komplizierten Folklore bewiesen; von der Existenz der Sprache des offiziellen Verkehrs zeugt schon der Charakter der russischen politischen und sozialen Geschichte bis zum 11. Jahrhundert: entwickelte Normen des Gewohnheitsrechts, vielfältige diplomatische Beziehungen zu den Nachbarvölkern 45 und zwischen einzelnen Stämmen." Mehr und mehr wird die Rolle der großräumig gültigen Formen der gesprochenen Sprache bei der Herausbildung schriftlicher Traditionen hervorgehoben. So betont R. Auty: "Die Hypothese von einem 'Kulturdialekt', von einer mündlichen Koine, die der Entstehung der schriftlichen Koine vorausgeht, wird jetzt in einer ganzen Reihe von Arbeiten 46 vertreten, die Fragen der Entwicklung der slawischen Literatursprachen behandeln" 47 In der interessanten Untersuchung zur Sprache und Geschichte der Goten verfolgt der italienische Germanist P. Scardigli den Gedanken, daß der Schöpfer des gotischen Schrifttums, Bischof Wulfila, sich in sprachlicher Hinsicht auf eine in Jahrhunderten
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geschaffene mündlich-poetische Tradition stützte. Indem er als Zeugen einer heroischen Dichtung bei den Goten Jordanes anführt, betont Scardigli den Einfluß dieser Tradition auf breite Schichten der gotischen Bevölkerung, für die die Heldenlieder ein Mittel der 48 Erbauung und der Bildung waren ("uno strumento di diletto e di istruzione") . Er nimmt an, daß selbst die Schnelligkeit des kulturellen Fortschritts der gotischen Gesellschaft mit einer früher geschaffenen mündlichen poetischen Sprache, deren Einfluß sich auf andere germanische Stämme ausdehnte, zusammenhing. Im Rahmen einer einheitlichen Konzeption scheint es möglich zu sein, die bekannte These von der Entstehung der Völkerschaftssprachen im Prozeß der Integration sprachlicher Einheiten der gentilorganisierten Stammesgesellschaft der These von der Rolle der überdialektalen gesprochenen Sprachformen in der historischen Sprachentwicklung einander anzunähern. Dafür könnte die oben dargelegte Hypothese vom Charakter sprachlicher Verhältnisse unter den Bedingungen der Gentilgesellschaft als Grundlage dienen. Daß es in der späten Gentilgesellschaft eine besondere überdialektale Sprachform gab, die sich durch gehobene Stilzüge auszeichnete, konnte bis zu einer bestimmten Zeit den Status der ererbten Ähnlichkeit der Stammesdialekte stützen und den Prozeß ihrer Differenzierung aufhalten. Später, schon in der Zeit der Entstehung der Völkerschaften, konnten die vön der gentilorganisierten Stammesgesellschaft ererbten überdialektalen Sprachformen zur Grundlage gemeinsprachlicher Systeme werden. Sie schufen für sie Komplexe bestimmter Merkmale auf der Grundlage der spontanen Variation der Alltagssprache. Bei Völkern, in deren Geschichte frühe Formen feudaler Verhältnisse gesetzmäßig aus den überlebten Einrichtungen der gentilorganisierten Stammesorganisation entstanden, fanden die aus der Vergangenheit ererbten überdialektalen mündlichen Sprachformen natürlich ihren Platz bei der Herausbildung von sprachlichen Einheiten höherer Ordnung. Die Existenz dieser überdialektalen Formen konnte ein wichtiger Faktor bei der Herausbildung der Völkerschaft sein, aber auch bei der Festigung und Aufrechterhaltung ihrer Einheitlichkeit. Dieser Typ kann als charakteristisch für die frühe Zeit der Entwicklung feudaler Verhältnisse gelten, als es noch einige Elemente der militärischen Demokratie gibt, die aus dem letzten Stadium der gentilorganisierten Stammesordnung stammen. Die Gefolgschaftspsychologie, das Heldenepos und das Gewohnheitsrecht, diese Elemente des Überbaus der vorausgehenden sozialen Epoche, gehen als konstitutionelle Elemente in die Entstehung der Feudalideologie auf der Anfangsstufe ihrer Entwicklung ein. In dieser Zeit erlangt auch die Einheit der Sprache, die am deutlichsten in den Uber dialektalen Formen der mündlichen Dichtersprache und der Sprache des offiziellen Verkehrs erscheint, ihren zeitlichen Höhepunkt, besonders wenn auf dieser Grundlage auch noch das Schrifttum geschaffen wird.
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Auf diese Weise konnte die mündliche literatursprachliche überdialektale Koine, die sich im Schöße der späten Gentilgesellschaft formierte, und eine bedeutende Funktionsbreite unter den Bedingungen der militärisch-demokratischen Organisation erlangte, in der Entstehungszeit feudaler Verhältnisse Grundlage und Modell der sich herausbildenden Völkerschaftssprache sein.
Anmerkungen 1 Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, in: Marx-Engels, Werke, Bd. 21 (1962), S. 25-173. 2 In theoretischer Hinsicht fand das, soweit uns bekannt ist, zuerst seine Widerspiegelung in einem Aufsatz von M. G. Dolobko, Osnovnaja jazykovaja zakonomernost' kommunizma rodovoj stadii (Die grundlegenden sprachlichen Gesetzmäßigkeiten des Kommunismus dei Gentilgesellschaft), in: Sovetskoe jazykoznanie, Bd. 1: Leningrad 1935. 3 Engels, a. a. O., S. 95. 4 Marx-Engels, a. a. O., S. 155. 5 Engels, a. a. O., S. 91. 6 N.N. Miklucho-Maklaj, Sobranie soiinenij (Gesammelte Werke), Bd. 1: Moskva und Leningrad 1950, S.332. 7 Von großem Interesse sind in dieser Beziehung die Ergebnisse der Geschichte und Dialektologie der türkischen Sprachen. V.M. Schirmunski, der den weiten Kreis der Probleme, die mit der sprachgeographischen Erforschung der Turksprachen zusammenhängen, betrachtet, bemerkt dazu: "Die Geschichte der Völker, die Turksprachen sprechen, zeigt uns ein großartiges Bild von jahrhundertelangen Wanderungen viehzüchtender Nomadenstämme und großer Stammesverbände aus Zentralasien in die nordasiatischen und südrussischen Steppen, an die Wolga und den Ural bis zum Kaukasus und zur Krim, Kleinasien und die Balkanhalbinsel. Zu unterschiedlicher Zeit verschiedene Teile dieser weiten Gebiete besiedelnd, bewahrten die turksprachigen Völker teilweise bis in jüngste Zeit ihre alte nomadische Lebensweise, teilweise wurden sie seßhaft, indem sie sich mit der einheimischen nicht-turksprachigen Bevölkerung mischten" (O dialektologiiSeskom atlase tjurkskich jazykov SSSR (Über den Dialektatlas der Turksprachen der UdSSR), in: Voprosy jazykoznanija 1963, Nr. 6, S. 16). Und weiter: "Alte Stammesteilungen und Gruppierungen und der Zustrom neuer nomadischer Bevölkerung, sprachliche Wechselwirkungen zwischen benachbarten Gruppen und Prozesse späterer Vereinheitlichung in den Grenzen feudaler oder nationaler Territorien, alle diese historischen Fakten prägten sich mit unterschiedlicher Deutlichkeit in den Grenzen von Dialekterscheinungen aus, die nicht summarisch, sondern differenziert zu betrachten sind in Übereinstimmung mit den Besonderheiten der Isoglossen (ebenda, S.17). 8 Engels, a.a. 0 . , S. 85. 9 Engels, a. a. O., S. 95. - Der Systemcharakter der Wechselbeziehungen zwischen koordinierten gesellschaftlichen Einheiten der Stammesorganisation wurde von Morgan hervorgehoben: "Ihr System war einfach gesellschaftlich, hatte die Gens zur Einheit und die Phratrie, den Stamm und den Bund als die übrigen Glieder der organischen Reihenfolge" (L. H. Morgan, Die Urgesellschaft. Untersuchungen über
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A . V . Desnitzkaja den Fortschritt der Menschheit aus der Wildheit durch die Barbarei zur Zivilisation. Aus dem Englischen übertragen von W. Eichhoff unter Mitwirkung von Karl Kautsky. Stuttgart 1891, S.150). Morgan nahm an, daß diese vier aufeinanderfolgenden Stadien der Integration und Reintegration einen Versuch der nordamerikanischen Indianer ausdrücken, die Idee einer Verwaltung zu entwickeln. Der T e r m i nus "organische Reihe" ist gleichbedeutend mit dem Terminus "Systemreihe". Diese Interpretation des Terminus war im 19. Jahrhundert weit verbreitet.
10 Engels, a. a. O . , s . 86- 89. 11 Engels, a. a. O . , s . 90. 12 Engels, a. a. o . , s . 90- 91. 13 Engels, a. a. O . , s . 91- 93. 14 Engels, a. a. O . , s . 94. 15 Engels, a. a. O . , s . 96. 16 In diesem Zusammenhang ist die folgende Schlußfolgerung von S.A. Tokarev interessant: "Die Tatsachen zeigen, daß sich die gegenwärtige Stammesorganisation mit einem besonderen Führer, einem Stammesrat oder anderen ständigen Machtorganen - nur gegen Ende der Gentilgesellschaft und beim Übergang zur Klassengesellschaft bildete (vgl. die Völker Nordamerikas, Afrikas und andere)". (Problemy tipov etniceskich obscnostej [Probleme der Typen ethnischer Gemeinsamkeiten], in: Voprosy filosofii, 1964, Nr. 11, S.47). 17 Engels, a.a. O., S. 91. 18 Morgan, a . a . O . , S. 87. 19 Morgan, a . a . O . , S. 96. 20 Morgan, a . a . O . , S. 104-105. 21 Engels, a . a . O . , S.94. 22 Über die mündliche poetische Koine der nordalbanischen Bergbewohner und über Erscheinungen, die sich unter den Bedingungen der späten Gentilgesellschaft entwickelt haben, vgl. A . V . Desnickaja, Naddialektnye formy ustnoj reSi i ich rol' v istorii jazyka (Überdialektale Formen der gesprochenen Sprache und ihre Rolle in der Sprachgeschichte), Leningrad 1970. 23 St. Newman, Vocabulary Levels: Zuni Sa er ed and Slang Usage, in: Language in Culture and Society. A Reader in Linguistics and Anthropologie. By Dell Hymes. New York 1964, S. 397-402. 24 Die Aufzeichnungen der Texte und die Analyse sind in einer unveröffentlichten Untersuchung von O. P. Sunik enthalten. 25 M. Emeneau, Oral poets of South India - the Todas, in: Language in Culture and Society, a . a . O . , 1964, S. 330-343. 26 Ausführlicher dazu bei A . V . Desnickaja, a . a . O . , S. 11-28. 27 Vgl. die Erzählung des Tacitus über die jährlichen religiösen Feierlichkeiten, die von den Sveven und ihnen verwandten Stämmen in einem heiligen Hain abgehalten wurden, mit dem sie ihre Herkunft verknüpften und von dem sie glaubten, daß ihr Gott in ihm wohne; Germania, Kap. 39. Vgl. weiter ihre Mitteilung über den Nerthuskult, der eine Reihe verwandter Stämme verband, die an der Nordsee lebten; Germania, Kap. 40. V
V
V
28 V . M . Zirmunskij,'Vvedenie v sravnitel'no-istoriceskoe izucenie germanskich jazykov (Einführung in die vergleichend-historische Untersuchung der germanischen Sprachen), Moskva und Leningrad 1964, S. 108.
Sprachliche Verhältnisse in der Gentilgesellschaft
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29 V.M. 2irmunskij, O plemennych dialektach drevnich germancev (Über die Stammesdialekte der alten Germanen), in: Voprosy germanskogo jazykoznanija, Moskva und Leningrad 1961, S. 36. 30 ebenda. 31 Vgl. A.V. Desnickaja, a . a . O . , S. 84 ff. 32 M.I. Steblin-Kamenskij, Kul'tura Islandii (Die Kultur Islands), Leningrad 1967, S. 40. 33 ebenda, S. 41 ff. 34 Natürlich ist hier nicht die Rede von den relativ späten Fällen der Herausbildung von verwandten Sprachgruppen, z. B. der romanischen, wo die ganze historische Entwicklung einen völlig anderen Charakter hat. 35 F. P. Filin, Obrazovanie jazyka vostocnych slavjan (Die Herausbildung der Sprache der Ostslawen), Moskva und Leningrad 1962, S. 218-219. 36 ebenda, S. 219. 37 H. M. Heinrichs, 'Wye grois dan dyn andait eff andacht i s . . . ' Überlegungen zur Frage der sprachlichen Grundschicht im Mittelalter, in: Zeitschrift für Mundartforschung 28 (1961) S. 149. 38 Engels, a . a . O . , S.159. 39 L. P. Jakubinskij, Istorija drevnerusskogo jazyka (Geschichte der altrussischen Sprache), Moskva 1953, S.61. - Ein entsprechender Abschnitt ist als Einzelaufsatz publiziert worden: L. P. Jakubinskij, Obrazovanie narodnostej i ich jazykov (Die Entstehung der Völkerschaften und ihrer Sprachen), in: Vestnik Leningradskogo Gosudarstvennogo Universiteta, 1947, Nr. 1. 40 Vgl. dazu Voprosv iazykoznanija (Fragen der Sprachwissenschaft), Moskva 1950, S. 89. 41 Ebenda, S. 90. - Vgl. die Fragestellung im Artikel von B.V. Gornung, V.D. Levin, V.N. Sidorov. "Die Vereinigung verwandter Stämme, die sich wegen bestimmter historischer Bedingungen als dauerhaft und langlebig erwiesen haben, verwandelt sich unausbleiblich schon nach ein oder zwei Jahrhunderten in eine Völkerschaft. Eng verwandte Stammessprachen werden dann in einer Völkerschaftssprache aufgesogen, in deren Grenzen sich ihre territorialen Dialekte herausbilden, die nicht unbedingt den früheren Stammessprachen oder Dialekten entsprechen". (Obrazovanie i razvitie jazykovych semej [Die Entstehung und Entwicklung von Sprachfamilien], in: Voprosy jazykoznanija, 1952, Nr. 1, S. 50). 42 V.M. Zirmunskij, Vvedenie v sravnitel'no-istoriceskoe izucenie germanskich jazykov, a . a . O . , S.229. 43 Ausführlicher dazu A.V. Desnickaja, a . a . O . 44 V. V. Vinogradov, Geroiceskij epos naroda i ego roi' v istorii kul'tury (Das heroische Volksepos und seine Rolle in der Kulturgeschichte), in: Osnovnye problemy eposa vostocnych slavjan, Moskva 1958, S. 11. 45 D.S. Lichacev, Russkie letopisi i ich kul'turno-istoriieskoe znacenie (Die russischen Chroniken und ihre kulturhistorische Bedeutung), Moskva und Leningrad 1947, S. 144. 46 R. Auty, Problèmes de la formation des langues littéraires slaves, in: Revue des études slaves, T. 45, Paris 1966, S. 14. 47 P. Scardpgli, Lingua e storia dei Goti. Firenze 1964 (Die Goten. Sprache und Kultur. Aus dem Ital. von Benedikt Vollmann. München 1973). 48 P. Scardigli, a . a . O . , S. 133.
M. M. Guchmann WECHSELBEZIEHUNGEN ZWISCHEN DIALEKT GEBIETEN UND DIE ENTWICKLUNG ÜBERDIALEKTALER SPRACHFORMEN IN DER VORNATIONALEN PERIODE AM BEISPIEL GERMANISCHER SPRACHEN
1 Daß sich Friedrich Engels für Fragen der historischen deutschen Mundartforschung interessierte, ist allgemein bekannt. Seine sprachwissenschaftliche Spezialuntersuchung "Der fränkische Dialekt" war der zeitgenössischen Germanistik um vieles voraus, »as ihre Ideen und die Methodik der linguistischen Analyse betrifft. Diese Arbeit wurde nicht nur von sowjetischen Germanisten 1 , sondern auch von Th. Frings, dem bedeutendsten Vertreter der deutschen historischen Dialektologie, als große Leistung gewürdigt. In seinem Aufsatz "Friedrich Engels als Philologe" schrieb Frings: "Was wir am Rhein in mühseliger Kleinarbeit gefunden haben, stand schon 40 Jahre früher vor Engels' Blick. Die Schrift von Engels kehrt sich schon zur Zeit der unbestrittenen Herrschaft der Junggrammatiker ab von der rein physiologischen, gesetzmäßigen, naturgeschichtlichen Betrachtung der Sprache. Engels sieht statt des Festen und Starren, statt der Vereinzelung, statt des Gesetzes die geschichtliche Bewegung und das geschichtliche Leben. Engels' Erörterungen gelten aber nicht nur für die Frühgeschichte der deutschen Sprache: es werden dabei theoretische Grundprobleme der Entwicklung und des Funktionierens der Dialekte in der vornationalen Zeit berührt. Diese Probleme sind auch heute noch aktuell, da vieles bei der Charakteristik der sprachlichen Verhältnisse in frühgeschichtlichen Perioden umstritten bleibt. Die historische Beschreibung eines Dialekts, seine Anwendungssphären sowie das Verhältnis von Dialekt und Varianten überregionaler Sprache beschäftigen heutzutage wieder Sprachwissenschaftler im In- und Ausland. Am umstrittensten und kompliziertesten ist dabei wohl die Definition der Begriffe "Dialekt" und "überregionale Sprachform", da beide Termini undifferenziert für Kategorien unterschiedlicher historischer Epochen und sprachlicher Verhältnisse verwandt werden. So bezeichnet zum Beispiel der Terminus "Dialekt" in Zusammensetzungen wie "Stammesdialekt", "Territorialdialekt", "Dialektliteratur" (vgl. auch "Schriftdialekte" in der deutschen Sprachwissenschaft) keineswegs dieselben, sondern sogar gegensätzliche Erscheinungen. Wenn G. O. Vinokur behauptete, daß "die Sprache des altrussischen Schrifttums, durch welche stilistischen Eigenschaften sie sich auch unterscheiden mochte, im Prin3
zip doch eine mundartliche Sprache war" , wenn man von Literatur in arabischen oder
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italienischen Dialekten spricht, so versteht man in diesen Fällen unter Dialekt einen anderen Typ von Kommunikationsmittel als den territorialen Dialekt. Faktisch wird unter dem Terminus Dialekt jedweder Typ regional begrenzter Sprachformen gefaßt, unabhängig von der Kommunikationssphäre dieser Sprachformen und dem Vorhandensein oder Fehlen einer funktional-stilistischen Differenzierung. Besonders unter den deutschen Dialektologen gibt es daneben auch die entgegengesetzte Ansicht, wonach der Dialekt die mündliche Variante der sprachlichen Kommunikation sei. "Die Mundart", 4
schrieb noch 1944 Th. Frings, "ist Sprache ohne Schrift." Es versteht sich von selbst, daß es bei einer solchen Auffassung keine Kategorien wie "Dialektliteratur" oder "Schriftdialekte" geben kann. Aber auch unter überregionalen Sprachformen versteht man nicht völlig identische Erscheinungen, wie vor allem an jüngeren Arbeiten sowjetischer Forscher zu sehen ist. Dazu rechnen manche Forscher vor allem bestimmte lexikalische Schichten, Phraseologismen und syntaktische Konstruktionen, die in der Kommunikationssphäre des täglichen Gebrauchs nicht vorkommen, weil hier der Dialekt vorherrschte; andere bezeichnen als wichtigstes Merkmal überregionaler Sprachtypen das Fehlen lokal eng begrenzter dialektaler Erscheinungen oder das Eindringen von "fremden" dialektalen Elementen, d. h. das Zusammenfließen von Merkmalen unterschiedlicher Mundarten. Mit anderen Worten: im ersten Fall wird unter überregional die Gesamtheit bestimmter funktional-stilistischer Merkmale verstanden, die für "höhere Kommunikationssphären" typisch sind, wobei überregional sozusagen mit jeder geformten Sprachart identifiziert wird; im zweiten Falle ist es wesentlich, in welchem Maße die regionale Beschränkung eines Dialekts, seine Bindung an ein Territorium, überwunden wird. Damit rechnet man auch die mündlichen Koines, die jedoch keine Merkmale einer geformten Sprache besitzen, zu den überregionalen Formen. Es ist leicht zu erkennen, daß der erste Standpunkt die Monofunktionalität des Dialekts impliziert, der einer regional begrenzten Variante der Alltagssprache gleichgesetzt wird. Folglich'muß auch die Frage, welche Erscheinungen zu den überregionalen Sprachformen zu rechnen seien, genauer untersucht werden. Vorläufig bleibt festzuhalten, daß der Bedeutungsumfang des Terminus "Dialekt" davon abhängt, wie man seine Stellung im System der Existenzformen der Sprache auffaßt, d. h. seine Wechselbeziehungen mit verschiedenen Typen überregionaler Sprache, darunter auch der Literatursprache. Je enger der Bedeutungsumfang des Terminus "Dialekt", desto größer ist die Zahl funktionalstilistischer Sprachvarianten, die sich auf dialektfremde und überregionale Formen beziehen, und umgekehrt, je weiter und undifferenzierter der Bedeutungsumfang dieses Begriffs ist, desto ärmer und begrenzter erscheint das System überregionaler Formen der sprachlichen Kommunikation, deren Existenz für einige historische Perioden überhaupt bestritten wird.
Wechselbeziehungen zwischen Dialektgebieten
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Der Inhalt der obengenannten wichtigsten soziolinguistischen Begriffe wäre zu präzisieren, indem man die unterschiedlichen, historisch bedingten Typen der dialektalen und überregionalen Sprachformen herausschält und voneinander abgrenzt. Da die überdialektalen Formen in historischer Sicht im Verhältnis zum Dialekt abgeleitet und sekundär sind, so gründet sich jeder Versuch einer historischen Untersuchung der Wechselbeziehung dieser beiden Kategorien vor allem auf die Analyse der Veränderungen, die der Dialekt im Prozeß gesellschaftlicher Umgestaltungen durchmacht. 2
Schematisch sind drei historische Typen von Dialekten zu unterscheiden: 1. der Dialekt in der Gentilgesellschaft (Stammesdialekt), 2. der Dialekt in der Zeit der Entstehung antiker und mittelalterlicher Staaten (d. h. in der Periode der Herausbildung der Nationalität), und 3. der sogenannte territoriale Dialekt in der Periode der Entstehung und Entwicklung nationaler Gebilde, wenn der Dialekt allmählich zur Reliktform der münd5 liehen Kommunikation bestimmter Gesellschaftsschichten wird. Alle Aussagen über den Status des Stammesdialekts in der Frühzeit der Gentilgesellschaft gründen sich vornehmlich auf mehr oder weniger überzeugende Hypothesen und Rekonstruktionen. Die außerordentlich interessanten Überlegungen I. g M. Tronskij's • über die Sprache Homers und der kretisch-mykenischtn Inschriften beziehen sich auf die späte Periode des Zerfalls der Gentilgesellschaft - auf die Epoche der Entstehung staatlicher Gebilde - und ihr Material wie die Schlußfolgerungen können nur sehr bedingt einen Einblick in sprachliche Verhältnisse noch früherer Zeiten geben. Die bekannten Zeugnisse des römischen Historikers Tacitus über Götter- und Heldensagen bei den alten Germanen betreffen offenbar die Zeit großer Stammesverbände, d. h. charakterisieren ebenfalls die Kultur später Stadien der Gentilgesellschaft. Beobachtungen an Sprache und Kultur von Stämmen im heutigen Afrika sowie in amerikanischen IndLanerreservaten können auch kaum als überzeugendes Material zur Rekonstruktion von sprachlichen Verhältnissen früher Perioden der Gentilgesellschaft dienen. Man kann lediglich vermuten, daß in den frühen Stadien der historischen Entwicklung als Unterscheidungsmerkmal des Dialekts galt, daß dieser als eine regional begrenzte Sprache nicht mit einer anderen, außerhalb gelegenen, in mehr oder weniger hohem Grade verallgemeinerten Existenzform einer Sprache konfrontiert werden konnte. Als Charakteristikum der Gentilgesellschaft bei amerikanischen Indianern, die sich seinerzeit auf der niedersten Stufe der Barbarei befanden, führt F. Engels an: "In der Tat 7 fallen Stamm und Dialekt der Sache nach zusammen," obwohl nicht auszuschließen sei, daß es beim Zusammenschluß zweier Stämme zu einem neuen Stamm weiterhin zwei Dialekte gibt. Der Dialekt war auf dieser Stufe nicht nur das wesentliche, sondern
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auch das einzige Kommunikationsmittel innerhalb des Stammes; er allein wurde in allen seinerzeit vorhandenen Kommunikationssphären gebraucht. Die geringe Differenzierung der Kommunikationssphären, die Verbindung von Ritus und Magie mit der Hauptbeschäftigung des Stammes, der Beschaffung des Lebensunterhalts, das Fehlen eines• Priesterstandes - all das verhinderte die Entstehung irgendwelcher überdialektaler Formen, die Entstehung von sprachlichen Standards vom Typ dichterischer Formeln usw. Das heißt jedoch nicht, daß der Stammesdialekt immer monofunktional blieb. Spätere Angaben und indirekte Zeugnisse gestatten die Annahme, daß schon vor dem Untergang der gentilen I stitutionen, in der Zeit, die Engels als höchste Stufe der Barbarei bezeichnete, durch neue Verhältnisse die Entwicklung bestimmter Typen geformter Sprache begünstigt wurde. Die verstärkte Differenzierung der Stammesgesellschaft, wie z. B. die Sonderstellung von Priestern oder der Gefolge und ihrer Führer, bewirkten auch eine Abgrenzung unterschiedlicher Kommunikationssphären und damit die Multifunktionalität des Dialekts und seine stilistische Schichtung. In rituellen Zeremonien, in epischen Liedern und im mündlichen Recht formten sich allmählich Differenzierungsmerkmale der geformten Sprache. In welchem Grade die sich herausbildenden stilistischen Besonderheiten der Sprache der "höheren Kommunikationssphären" von Anfang an von der Alltagssprache des Stammes abstachen, bleibt unklar. Es ist jedoch anzunehmen, daß sich im System des Dialekts selbst allmählich Differenzierungsmerkmale einer geformten Sprache ansammelten, die ihre funktional-stilistische Lo3lösung von der Alltagssprache bewirkten. Die Herausbildung von Traditionalismen, besonders stilbedingg ter formelhafter Wendungen , die für eine gewisse Stabilität der Sprache der "höheren Kommunikationssphären" im Unterschied zu der flexibleren Alltagssprache kennzeichnend ist, setzt schon an sich eine längere Entwicklung voraus. Der mit dieser Stabilität einhergehende "Archaismus" der Sprache der "höheren Kommunikationssphären" ist auch ein Ergebnis einer längeren Entwicklung. Die komplizierte Struktur von Stammesverbänden, die an der Schwelle der Zivilisation standen, bewirkte das Entstehen verschiedener Typen sogenannter überregionaler Koines. Ein wichtiger Faktor unter diesen Bedingungen war auch das Aufkommen des Schrifttums. In letzter Zeit haben mehrere Forscher festgestellt, daß die Sprache der kretischmykenischen Inschriften der Linearschrift B unterschiedliche Dialektmerkmale besaß. Diese Tatsache erlaubte es V. Georgiev, A. BartonSk und I. M. Tronskij, die Sprache der Inschriften als eine Art von Koine, als Handels- und Q Amtssprache der achäischen Staaten des 2. Jahrtausends v. d. Ztr. zu bezeichnen.
I. M. Tronskij nahm an, daß
es schon damals eine gewisse überregionale Norm gab. Bezeichnenderweise ist auch die Sprache der altgriechischen Inschriften als eine Art offizielle Koine betrachtet worden, die sich in gewissem Grade von der Vielzahl eng begrenzter dialektaler Varianten
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abhob. Diese Fakten charakterisieren jedoch sprachliche Situationen, die von den unter gentilgesellschaftlichen Verhältnissen lebenden Stämmen der amerikanischen Irokesen weit entfernt sind, die Engels im "Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates" dargestellt hat. "Zur Zeit, wo die Griechen in die Geschichte eintreten, stehn sie an der Schwelle der Zivilisation; zwischen ihnen und den amerikanischen Stämmen, von denen oben die Rede war, liegen fast zwei ganze große Entwicklungsperioden, um welche die Griechen der Heroenzeit den Irokesen voraus sind.
Die Ent-
deckung der kretisch-mykenischen Kultur und der kretisch-mykenischen Schrift, wodurch auch die Sprache von Homers Epen in neuem Licht erschien* \ erlaubte es, die komplizierte soziale Struktur der achäischen Staaten zu erschließen, die tatsächlich in ihrer Entwicklung viel höher standen als die zuerst von Morgan beschriebenen amerikanischen Stämme. Was die historischen Bedingungen für das Entstehen der geformten Sprachschichten betrifft, so ist wesentlich, daß die angeführten Fakten nur die relativ späte gesellschaftliche Entwicklungsstufe charakterisieren, als Stamm und Dialekt schon nicht mehr zusammenfielen, als im Ergebnis verschiedenartiger Vereinigungsprozesse sowohl Stammesmischungen wie Vereinigung von Dialektmerkmalen in unterschiedlichen Typen überdialektaler Sprache möglich waren. Es ist der Vorabend der Herausbildung der Nationalität und der allmählichen Umwandlung des Dialekts in ein territoriales Subsystem eines.bestimmten sprachlichen Kontinuums (der Nationalitätssprache). 3
In der Geschichte der germanischen Stämme und Völkerschaften hing die Entstehung und Entwicklung überdialektaler Sprachformen in gewissem Grade mit Prozessen von Dialektmischungen und -Wechselbeziehungen zusammen, bedingt durch die Auflösung alter Stammesgruppierungen infolge länger währender Siedlungsbewegungen. Sie erreichte ihren Höhepunkt während der Völkerwanderung, so daß diese Prozesse Skandinavien kaum berührten, aber die Gestaltung des germanischen Sprachgebiets westlich der Elbe wesentlich veränderten. E s ist kein Zufall, daß viele Ethnonyme, die von römischen Autoren in den ersten Jahrhunderten n. d. Ztr. erwähnt werden, in den folgenden Jahrhunderten verschwinden, wie zum Beispiel die von Tacitus und Plinius erwähnten Namen der Cherusker, Semnonen, Qua den und anderer Stämme. Zu Kriegszügen gegen das römische Reich vereinigten sich unterschiedliche Stämme; die auf dieser Grundlage entstandenen Stammesverbände von der Art des gotischen unter König Ermanarich waren nicht stabil, ebenso wie die ersten Königreiche, die auf e r oberten Gebieten entstanden (vgl. die Königtümer der Thüringer, der Alemannen und der Goten in Italien usw.). Die Siedlungsbewégung blieb auch in den eroberten Ländern nicht stehen, so daß ein Gebiet aus einer Hand in eine andere übergehen konnte, wie
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z. B. in Westfalen, wo im 5. Jahrhundert die Franken von den Sachsen verdrängt wurden-, oder in Rhein- und Mainfranken, wo alemannische Gebiete von den Franken e r obert wurden. Bei Gebietseroberungen zogen jedoch die einheimischen Siedler nicht völlig ab. In diesen Gebieten lassen sich intensive Dialektmischungen, wechselseitige Beeinflussungen und das Nebeneinander unterschiedlicher Dialektsysteme erschließen. Es ist durchaus nicht zufällig, daß die sogenannte zweite Lautverschiebung im Fränkischen zuerst auf dem Gebiet zu beobachten war, das früher den Alemannen gehörte, d. h. den Stämmen, bei denen diese phonetische Erscheinung authochton war. Das Ergebnis von Wanderungen, weiteren Umsiedlungen und Kriegszügen waren starke Veränderungen im germanischen Siedlungsgebiet, was sich unmittelbar in Stammesdialekten widerspiegelte. Alte Stammesgruppierungen zerfielen, und es entstanden sogenannte Großstämme, Gebilde, die uralte Verbindungen von Dialekt und Stamm zer12
störten und neue, weitaus kompliziertere sprachliche Verhältnisse schufen.
Die
wechselseitige Beeinflussung und Mischung der Dialekte verstärkte sich. Durch die Verflechtung von dialektaler Differenzierung und Integration ergaben sich uneinheitliche Dialektgebiete, in denen unterschiedliche dialektale Varianten aufeinanderstießen und nebeneinander bestanden, was besonders deutlich beim fränkischen Dialekt zutagetrat. 4 Die ältesten germanischen Sprachdenkmäler, die gotische Bibel und die Runeninschriften, verkörpern zwei Entwicklungswege überdialektaler Sprachformen vor der Entstehung feudaler Staaten. In beiden Fällen haben wir es mit einer Schreibsprache zu tun, die schon ihrer Natur nach zu einer gewissen Abgrenzung vom Dialekt neigt. Zudem ist die gotische Bibel eine Übersetzung, desgleichen unzählige frühe Denkmäler in den sogenannten altgermanischen Dialekten. Thematik, Lexik und Syntax spiegeln Tendenzen wider, die den sprachlichen Traditionen der Heldenepen und der alten Sagen fremd sind, die es nach dem Zeugnis des antiken Historikers Jordanus bei den Goten wie bei den anderen Germanen gab. Die gotische Bibel, die in mehreren Handschriften des 5. - 6. Jahrhunderts aus Italien überliefert ist, sowie die "Skeireins" überraschen durch ihre einheitliche Sprache. Selbst wenn verschiedene Handschriften denselben Text wiedergeben, betreffen die geringen Unterschiede keine grundlegenden phonetisch-morphologischen Besonderheiten. Die ziemlich häufigen orthographischen Varianten in den unterschiedlichen Handschriften spiegeln wohl teilweise die Überschichtung mehrerer Schreibtraditionen wider. So kann die unterschiedliche Schreibung von ei [ i : ] / e [ e:]und u/o in denselben Wörtern erklärt werden, da das Ostgermanische, zu dem das Gotische zu rechnen ist,
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die Tendenz zur Verengung von e und o besaß.
Der Vergleich mit gotischen Urkunden
aus Neapel und Arezzo aus dem 6, Jahrhundert zeigt keine wesentlichen Abweichungen, typisch ist besonders die Bewahrung des - s im Nominativ der ja-Stämme, vgl. /bokareis/ "Schriftgelehrter". Somit zeigen die gotischen religiösen Denkmäler eine Schreibsprache, die eine alte Tradition besaß und für die Normen galten, die wahrscheinlich auf das 4. Jahrhundert zurückgehen; eine Sprache, die auch in der Kanzleisprache des goti14 sehen Königtums in Italien benutzt wurde. Allein die Gestaltung des Evangelientextes weist jedoch darauf hin, daß er laut gelesen wurde. Um die Gesetzmäßigkeiten dieser schriftlich fixierten Sprache in ihrem Verhältnis zur Alltagssprache zu charakterisieren, die im gotischen Königreich Theoderichs gebraucht wurde, sind vor allem einige Merkmale der Schreibsprache selbst aufschlußreich. So handelt es sich zum Beispiel bei den komplizierten syntaktischen Konstruktionen, die besonders in den Apostelbriefen und in den "Skeireins" vorkommen, offenbar um Lehnprägungen nach dem Original, die der Sprache des Alltags fremd waren. Bei der Deklination von entlehnten Wörtern, besonders bei Eigennamen, erscheinen nicht-gotische Deklinationsformen. Die entlehnte religiöse Terminologie enthält nicht nur die lexikalischen Einheiten, die in gotische morphologische Typen eingegliedert und möglicherweise in der Alltagssprache gebraucht wurden, sondern auch "gelehrte" Entlehnungen; eine wesentliche Schicht der philosophisch-religiösen Terminologie in der Sprache der Apostelbriefe und der "Skeireins" sind die Frucht übersetzerischer Bemühungen und charakterisieren einen bestimmten Funktionalstil der gotischen Schreibsprache. Mit anderen Worten: hier zeigen sich die gleichen sprachlichen Besonderheiten der Übersetzungsliteratur bei einem vorher schriftlosen Volk, die später in verschiedenen europäischen Ländern zu beobachten sind. Jedoch ergibt sich der Status der gotischen Schreibsprache auch aus der Stellung des Gotischen innerhalb der verschiedenen germanischen Dialekte des Ostgotenreiches sowie aus der Benutzung der gotischen Bibel außerhalb dieses Reiches. Im 6. Jahrhundert bemerkte Prokopius, der im Laufe vieler Jahre Stämme kennengelernt hatte, die gemeinsam mit den Goten ihr Gebiet gegen Byzanz verteidigten, daß die gotischen Stämme, die in diesem Kriege kämpften - zu ihnen rechnet er außer den Goten noch die Westgoten, Gepiden, Wandalen, Skiren und Rugier - eine gemeinsame Religion besaßen, den Arianismus, und eine Sprache, die sogenannte gotische. Auf eine frühere Zeit, die der Bildung des Ostgotenreichs vorausging, bezieht sich der Bericht des Priscus, der als byzantinischer Gesandter zu Beginn des 5. Jahrhunderts am Hunnenhofe Etzels in Pannonien weilte. Er schreibt: "Die Skythen, die ein Gemisch verschiedener Völker sind, gebrauchen außer ihrer eigenen barbarischen Sprache gern die Sprache der Hunnen oder 15 Goten oder der Römer im Verkehr mit den Römern. " Hier dient das Gotische neben dem Hunnischen und Latein der Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Stäm-
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men, es erscheint als eine Art lingua franca jener Epoche oder Koine im Verkehr zwischen den Stämmen. Möglicherweise läßt sich durch diese Stellung des Gotischen in nicht von Rom und Byzanz beherrschten Gebieten auch erklären, daß die römische Kirche dieser Sprache große Aufmerksamkeit widmete. Die Sprache der gotischen Bibel hatte ihrerseits mehrere Jahrhunderte die Funktion einer religiösen Koine der germanischen Welt. Bekanntlich waren die Goten Arianer. Im 5. - 6. Jahrhundert wird der Arianismus ein Mittel zur Vereinigung der "Barbaren" gegen das römische Reich und den römischen Klerus. In Gallien, Spanien, Thüringen, in alemannischen Gebieten, überall gab es arianische Fürsten und Könige, und es herrschte die arianische Kirche. Wohin aber der Arianismus gelangte, diese lex gotica, wie die Römer ihn nannten, dorthin drang auch das gotische Schrifttum und damit die gotische Sprache. Selbst im 9. Jahrhundert, als das Gotenreich schon längst untergegangen war und die Arianer grausam verfolgt wurden, werden in einer süddeutschen Handschrift, der sogenannten Alkuin-Handschrift, neben den gotischen Buchstaben auch Beispiele eines gotischen Textes aus dem Lukasevangelium gebracht - ein Zeugnis für die Stabilität der gotischen Tradition. So sind die frühesten ausführlichen Nachrichten über das Bestehen überdialektaler Sprachformen im Germanischen mit den Goten verbunden; offenbar gab es neben der schriftlich fixierten religiösen Koine auch eine mündliche Koine zur Kommunikation zwischen den Stämmen. Aber nur die religiöse Koine hat sich funktional-stilistisch von der Alltagssprache losgelöst, was für die Sprache des Schrifttums wie für jeden Typ geformter Sprache charakteristisch ist. Vermutungen über mögliche Zusammenhänge der Sprache des gotischen christlichen Schrifttums mit Traditionen der Hel16
denepik sind eine interessante, aber unbewiesene Hypothese. In der Lexik und in den stilistisch-syntaktischen Merkmalen unterscheidet sich dieses erste Beispiel christlicher Literatur in einer germanischen Sprache deutlich von den lexikalischen und stilistischen Besonderheiten der germanischen Heldenepen. Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang die Unterschiede zwischen epischer Tradition und der Sprache der christlichen Übersetzungsliteratur im Deutschen und Englischen. Unter anderen Bedingungen und unter dem Einfluß anderer Faktoren entstand die Sprache der Runeninschriften, die im Laufe mehrerer Jahrhunderte ihre lexikalisch-stilistischen Besonderheiten bewahrte. Die strukturell-stilistische Einheit der Sprache der Runeninschriften zeigt sich in schablonenhaften Formeln und typischen 17 Phraseologismen, in der besonderen sakralen Lexik und der Benutzung des Stabreims.
Da die Runen
keine Schrift in der gewöhnlicheil Wortbedeutung waren und ihnen eine magische Wirkung zugeschrieben wurde, hatten offenbar die Runeninschriften den gleichen kultischen Zweck. Die dialektal-soziale Charakteristik dieser Sprache ist jedoch bis heute umstritten. Die Hypothese, daß die Runensprache eine Art überdialektaler Koine darstellt, kann vor al-
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lern auf die Inschriften des 6. - 7. Jahrhunderts bezogen werden, wo auf dem Hintergrund regionaler Varianten der archaisierende Charakter der schablonenhaften Formeln mit veralteten Formen klar zutagetritt. Die Frage, ob diese Koine ursprünglich, d. h. im 2. - 3. Jahrhundert, auf einer bestimmten Stammessprache beruhte, zum Beispiel dem Herulischen, das nach W. Krause eine Art lingua franca der Runeninschriften bildet, oder ob sie von Anfang an einen sozial-überdialektalen Charakter hatte, kann hier nicht behandelt werden. Wichtig ist jedenfalls, daß es einen anderen Weg zur Herausbildung überdialektaler Sprachformen in schriftlicher Fixierung als bei den Goten gab, die Verbindung mit kultischen und magischen Formeln (vgl. die ahd. Merseburger Zaubersprüche) und durch die poetische Form des Stabreims mit der germanischen Heldendichtung aufweist. In diesem Falle war die funktional-stilistische Spezifik offenbar durch die sprachliche Tradition von Kommunikationssphären wie Ritus, Zauber und epische Dichtung bedingt. Natürlich setzte die geformte Sprache dieses Typs nicht obligatorisch eine Loslösung vom Dialekt voraus. Die sprachliche Situation, die sich im mittelalterlichen Island herausbildete, dient als Beispiel dafür, daß die Sprache der Heldenlieder und Spruchdichtungen (Edda) der A lltagssprache, einem skandinavischen Kolonialdialekt, der fast keine Varianten kannte, strukturell nahestand, obwohl es sich hier zweifellos wegen der isolierten geographischen Lage und der Art der Kolonisation um einen Sonderfall handelt. Was die eigentlich überdialektalen Sprachformen betrifft, sowohl die geformte Sprache wie die der Alltagssprache, so bildet die in verschiedenen historischen Perioden unterschiedliche wechselseitige Beeinflussung von Dialekten oder genauer von Dialektgebieten einen günstigen Boden für ihre Entwicklung. 5 Die Entstehung und Entwicklung überdialektaler Formen im feudalen Deutschland hängt deutlich mit der wechselseitigen Beeinflussung unterschiedlicher Dialektgebiete zusammen. Da jedoch ein Dialektgebiet bei der Entwicklung unterschiedlicher Typen geformter Sprachen und über landschaftlicher Koines gewöhnlich nicht nur den Dialekt im eigentlichen Sinne, sondern auch andere regionale Sprachformen (darunter in einer bestimmten Etappe auch die lokale Schreibtradition) umfaßte, kann die wechselseitige Beeinflussung der Dialektgebiete in unterschiedlichen Kommunikations Sphären äußerst differenziert sein. Mit anderen Worten: die wechselseitige Beeinflussung von Dialektgebieten zeigt sich nicht nur in der Dialektmischung oder der Ausbreitung einer bestimmten Erscheinung aus dem Ursprungsgebiet auf benachbarte Dialekte, wie z. B. bei der zweiten Lautverschiebung, sondern auch in der wechselseitigen Beeinflussung überlandschaftlicher schriftlicher und mündlicher Sprachformen.
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Man könnte wohl schematisch behaupten, daß der erste Typ der wechselseitigen Beeinflussung im frühen Mittelalter vorherrschte, der zweite seit dem Beginn des 12. Jahrhunderts, obwohl in unterschiedlichen Gebieten Deutschlands diese Prozesse nicht gleichartig verliefen. Es genügt der Hinweis auf die relativ späte Dialektmischung in den ostmitteldeutschen Kolonialgebieten. Zudem bezeichnen diese beiden Perioden auch einen Unterschied in der Stellung der Sprache der "höheren Kommunikationssphären" der Literatur, der Religion und des Rechts. Die Stellung des Deutschen in diesen Kommunikationssphären wird im Frühfeudalismus in hohem Maße durch den Umstand bestimmt, daß das Latein als überregionale Sprachform benutzt wurde und sogar vorherrschte. Die allmähliche Verdrängung des Lateins, die schon im 12. Jahrhundert zu beobachten ist, das Eindringen der Muttersprache in die Predigt und etwas später auch in die Justiz und die Kanzleien, das Aufblühen der Dichtkunst, das alles förderte die Entwicklung überlandschaftlicher Sprachtypen. Auf der Ebene nicht normierter Formen ist dieser Prozeß mit der wachsenden Bedeutung der mittelalterlichen Städte verbunden, wo sich eine städtische Koine herausbildete. Ein nicht unwichtiger Faktor war auch die stärkere soziale Schichtung der Sprache, im Zusammenhang damit hob sich zum Beispiel in der Blütezeit der Ritterkultur die überlandschaftliche geformte Sprache als höchste Sprachform der herrschenden Klasse von der Sprache der Volksmassen ab. Die sprachlichen Verhältnisse des frühen Mittelalters und der Status der überdialektalen Sprachformen bleiben in vielem unklar und strittig. Die altdeutschen Denkmäler, Übersetzungs- wie Originalliteratur, zeigen deutlich eine regionale Färbung. In der Sprache jedes Denkmals häufen sich Merkmale eines Dialektgebietes, weshalb man es auch als Dialekt de nkmal betrachtet hatte. In der sprachwissenschaftlichen Literatur wird jedoch zu Recht festgestellt, daß die Sprache dieser Denkmäler nicht mit dem 18
eigentlichen Dialekt identisch ist, der im Alltag gesprochen wurde. Das gilt zweifellos für die funktional-stilistischen Besonderheiten: in Lexik, Phraseologie und Wortschatz äußert sich der große Einfluß lateinischer Vorbilder, vor allem in Übersetzungen, aber zum Teil auch in der originalsprachlichen deutschen religiösen Literatur. Wenn Neologismen vom Typ /heilant, touffen/ mit der christlichen Religion in die Volksmassen drangen, so bleiben Bildungen wie/spahida/ = lat. sapientia, /wistuom/ = lat. prudentia (Tatian), /wizentheit/ => scientia, /marcha/ = determinatio, /wist/ = substantia, /wfolichi/ = qualitas, /gewahst/ = quantitas (Notker) meist Gelegenheitsbildungen, die durch die Notwendigkeit entstanden, deutsche Äquivalente für lateinische Termini der christlichen Kirche zu finden. Bedeutend schwieriger ist das Problem der phonetisch-grammatischen und lexikalischen Isoglossen, da das notwendige Material zur Beurteilung des Verhältnisses der regionalen Merkmale eines Denkmals und des entsprechenden Dialektgebietes fehlt.
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Soll man z . B . die Synonyme/brunno/und/pfuzzi/fuzze/'Brunnen, Quelle' in der Sprache des fränkischen Tatian als Widerspiegelung von dialektalen Isoglossen oder als Besonderheit der Sprache des Schrifttums dieses Gebietes auffassen? /Brunno/ ist gemeingermanisch, während das andere Wort in den altdeutschen Denkmälern nur noch bei Otfrid, der ebenfalls aus dem Fränkischen stammt, zu finden ist, aber eine etymologische Parallele im altenglischen /pytt/ und dem mittelniederdeutschen /put/ besitzt. Spiegelt die orthographische Variante pf/f in diesem Beispiel nur die Instabilität der Orthographie oder Prozesse, die mit der Aneignung einer dialektfremden Affrikate im Schrifttum verbunden ist? Wie soll man schließlich folgende dialektale Varianten in der Sprache des Tatian beurteilen: südl. / e r / , nördl. /he/und die Kreuzung/her/, oder die Dialektdubletten /ther/thie/ "dieser", /uuo/uueo/ "wie" usw. ? Spiegelt das Prozesse wider, die zu jener Zeit im Fränkischen stattfanden, oder äußert sich hier die Schreibschule von Fulda, einem Zentrum der Klosterkultur, d. h. handelt es sich um überlandschaftliche Tendenzen? In diesem Zusammenhang darf man den Umstand nicht vergessen, daß die Dialekte des 8. - 9. Jahrhunderts keineswegs die einfachen Stammesdialekte der Zeiten von Tacitus und Plinius waren. Sie waren als Ergebnis von Vereinigungstendenzen und Ausgleichsprozessen in der Sprache der neuen ethnischen Gebilde entstanden, die unter dem Namen Franken, Sachsen usw. in die Geschichte eingingen, wodurch sich auch die Dubletten erklären ließen. Traditionell wird die Sprache des Tatian als ostfränkischer Dialekt betrachtet. Die Gegenüberstellung von Isoglossen auf einer modernen Dialektkarte mit der Sprache dieses Denkmals läßt viele Parallelen bei der Verbreitung bestimmter Erscheinungen erkennen, unter anderem die obengenannten. Aber diese Parallelen geben noch keine e r schöpfende Antwort auf die Frage nach den sprachlichen Verhältnissen im Dialektgebiet des 8. - 9. Jahrhunderts und nach dem Verhältnis von Schreibsprache und Dialekt in den wesentlichen Strukturmerkmalen, die nicht mit den funktional-stilistischen Besonderheiten zusammenhängen, die allein durch das Schrifttum mit neuer Thematik entstanden sind. Hyperkorrekte Formen, die in einigen Denkmälern vorkommen, sind gewöhnlich ein Hinweis auf überlandschaftliche Tendenzen, und zeugen offenbar vom B e streben, gewisse dialektale Besonderheiten aus der Schreibsprache auszuklammern. So findet man z. B. in der Sprache der altniederdeutschen Psalmen (9. Jh. ?) Formen mit falschem ft: /sufte/ statt /suchte/, /gesifte/ statt /gesichte/, wo ft fälschlicherweise steht, weil man den dialektalen Übergang ft > cht vom Typ /kraft > kracht/ zu 19 vermeiden sucht.
Diese Fakten reichen allerdings nicht aus, um die Hypothese auf-
zustellen, daß es am Hofe-Karls des Großen20und seiner Nachfolger eine überlandschaftliehe Koine auf fränkischer Grundlage gab. Da der Klerus gegen die heidnische Dichtung vorging, riß die natürliche Entwicklung der alten geformten Sprachen ab. Deshalb hat sich im frühen Mittelalter in Deutschland
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offenbar keine schriftliche Koine von über landschaftlichem Typ auf regionaler Grundlage herausgebildet. Die ersten Versuche, eine neue Schreibsprache zu schaffen, waren zu uneinheitlich, und sie knüpften nicht an Traditionen mündlich überlieferter Dichtung an. Dies unterscheidet die Sprache des deutschen Schrifttums des 8. - 11. Jahrhunderts in hohem Maße von der Sprache der Literatur der folgenden Periode, als sich bestimmte regionale Varianten der Literatursprache herausbildeten. Aber dadurch unterscheidet sich die Sprache des frühen deutschen Schrifttums auch vom Gotischen und der Koine der Runenschriften, die oben behandelt wurden. Unter diesen Bedingungen bilden erste überdialektale lexikalische Schichten und dem Dialekt fremde syntaktische Schablonen das Anfangsstadium, das erste Glied der Abgrenzung der Schreibsprache vom Dialekt, wovon auch das Bestreben des Übersetzers der altniederdeutschen Psalmen zeugt, bestimmte dialektale Erscheinungen zu vermeiden. Die Sprache der wenigen Denkmäler, die in irgendeiner Form die Tradition der altgermanischen Dichtung fortsetzt, weist andere Merkmale auf. Zu ihnen gehören das einzige überlieferte Denkmal dieser Art, das "Hildebrandslied", und die altsächsischen Dichtungen "Heliand" und "Genesis". Auf den "Heliand" wurde F. Engels wegen des Nebeneinander von altsächsischen und altfränkischen Merkmalen aufmerksam.
21
Indem
er konsequent in der Schreibsprache die dialektalen Varianten, bedingt durch Mischung 22
oder wechselseitigen Einfluß der Dialekte
, von den Fällen abgrenzte, in denen das
Einfließen dialektfremder Merkmale aus Besonderheiten des Dialekts des Abschreibers zu erklären war, schreibt Engels die fränkischen Elemente in der 23 sogenannten Cottonsehen Handschrift des "Heliand" vornehmlich dem Abschreiber zu. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß der Zusammenfall von Merkmalen unterschiedlicher Dialektgebiete, in gleichem Maße wie auch das oben behandelte Vermeiden dialektal eng begrenzter Erscheinungen, auch von Vereinheitlichungstendenzen zeugen kann, die für verschiedene Typen überlandschaftlicher Sprachformen charakteristisch sind. Eine wichtige Quelle für die Erforschung dieser Prozesse ist der altsächsische "Heliand". Die Sprache dieses Denkmals, das im Stil der altgermanischen Heldenepen im Stabreim geschrieben ist, aber christliche Thematik behandelt, hat viele Forscher beschäftigt. Eine Besonderheit, das Nebeneinander von Merkmalen des Altsächsischen, im weiteren Sinne des Ingwäonischen, und des althochdeutschen Gebietes, ist in den einzelnen Handschriften jedoch unterschiedlich ausgeprägt. Die Frage, welche Erscheinungen aus der Sprache des Originals stammen und was später durch Abschreiber hinzugefügt wurde, und das Problem der Lokalisierung des Denkmals waren Gegenstand vieler Untersuchungen.
In diesem Aufsatz kann diese Frage sowie das Problem der "echt westger-
manischen Lexik" im "Heliand" nicht behandelt werden, da dies einer besonderen Untersuchung bedarf. Man kann jedoch sagen, daß die Lexik des im Stabreim verfaßten
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"Heliand" zweifellos das stabilste Element darstellt: an ihr werden sich Eingriffe des Abschreibers kaum ausgewirkt haben. Deshalb spiegeln sich in der Lexik des "Heliand", auch in dem stilistisch mit den Heldenliedern verbundenen Wortschatz, durch Vereinigung von Elementen verschiedener Dialekte die Gesetzmäßigkeiten der Sprache des Originals. Beschränken wir uns auf einige Beispiele: Von den drei Synonymen für Himmel sind zwei / h e t a n / und / r a d u r / - etymologisch identisch mit altengl. /heofon, rodor/; das dritte - /himil/ - kommt nur in den altdeutschen Denkmälern vor (im Gotischen und Altisländischen wird dieselbe Wurzel mit einem anderen Suffix gebraucht - got. /himins/, altisl. /himinn/). In Komposita, die für Heldenepen typisch sind, werden /hetjan/ wie /himil/ gebraucht; vgl. /hetiankuning/, identisch mit altengl. /heofon-cyning/ (Vers 6, 26, 278) "Himmelskönig", /heban-riki/, altengl. (heofon-rice/ (Vers 2645, 5391 usw.) "Himmelreich", aber es begegnen auch /himil-kuning/ (Vers 2661) und/himil-riki/, identisch mit ahd. /himilrichi/ bei Otfrid. Zweifellos überwiegen die Gemeinsamkeiten mit altenglischen Vorbildern, z. B. sind von vier Synonymen für Meer /geban/ identisch mit altengl. /geofon/, /lagu-/ in Komposita vom Typ /lagu-lidandi/ "Seefahrer" identisch mit altengl. /lagu/; /sfeo/ und / m e r i / sind gemeingermanisch. Aber in einer Reihe von Fällen konkurriert ein gemeingermanisches Wort mit einem hochdeutschen Synonym: vgl. /st£n/ und / f e l i s / "Stein, Fels", das erste ist gemeingermanisch, das zweite begegnet nur im hochdeutschen Sprachgebiet; das Einfügen von / f e l i s / hängt mit der Variation im Stabreim zusammen, vgl. /mid thinun fötun an felis bispurnan, an hardan st6n/ (Vers 1091), wo /an felis, an hardan stfen/ einfach eine Wiederholung darstellt. Ebenso ist von den beiden Wörtern /chirikar/ "dunkel" und /finistar/ "Dunkelheit" in dem Denkmal das erste regional nicht begrenzt, das zweite kommt nur im deutschen Sprachgebiet vor. Für die Verbindungen mit der hochdeutschen sprachlichen Tradition sind auch alliterierende Paare wie /glitandi glimo/ "leuchtender Glanz" kennzeichnend. Beide Wörter sind nur im deutschen Sprachgebiet belegt. Jedoch überwiegen zweifellos Gemeinsamkeiten mit der altenglischen Tradition bei den Komposita, sowohl in Wörtern aus dem christlichen Bereich wie dem des Heldenepos, wobei nicht nur Bildungsmodelle identisch sind, sondern auch der Wortschatz beider Kompositionsglieder, vgl. Synonyme asä./man-werod, erl-skepi,. irmin-thiod/ "Gemeinschaft, Menschheit, Gefolge" und altengl. /man-weorod, eorl-scipe, eormencteod/; asä./eili-thioda/"Fremdling, Heide" und altengl. /el-cteod/, asä. /inwid-nict/ "Feindschaft" und altengl. /inwit-nltt/, /gibod-skepi/ und altengl. /ge-bod-scip/ "Lehre, Sendung";/mön-scado/und altengl. /man-sceada/"Schädling, Teufel" u.a. Besonders kennzeichnend ist die völlige Identität von Kenningar-Komposita, vgl. "Führer, König": asä. /bög-gebo/ und altengl. /biah-gifa/ "Ringverleiher"; "Wunde": asä.
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/billes biti/ und altengl. /billes bite/ "Schwertbiß". Die engen Verbindungen mit der Tradition des altenglischen Schrifttums werden auch durch einige graphische Besonderheiten deutlich unterstrichen. Die Gemeinsamkeiten des stilistisch markierten Teils der Heliand-Lexik mit der Lexik des Altenglischen und die Besonderheiten der Graphik lassen sich offenbar aus der Geschichte des Klosters Fulda erklären, wo das Denkmal entstanden ist. Bekanntlich wurde dieses Kloster, das im 9. Jahrhundert eine Art literarisches Zentrum bildete, im 8. Jahrhundert von angelsächsischen Missionaren, darunter Bonifazius, gegründet. Die Verbindung mit Britannien blieb auch im 9. Jahrhundert unter Bonifazius' Nachfolger Hrabanus Maurus bestehen. Bezeichnenderweise wurde das zweite altsächsische Denkmal, die "Genesis", die in Sprache und Stil an den "Heliand" anknüpft und möglicherweise vom selben Verfasser stammt, ins Altenglische übersetzt. Damit wird die wechselseitige Beeinflussung der sächsischen und angelsächsischen kulturellen und sprachlichen Tradition bestätigt. Die Heimat des Heliand-Verfassers war vermutlich Ostfalen, das Gebiet um Halberstadt und Merseburg, dessen altsächsischer Dialekt schon zu jener Zeit einige "nichtsächsische" Merkmale aufwies. In der Sprache der Dichtung spiegeln sich die alten Verbindungen des sächsischen Dialektgebietes mit den Dialekten anderer nördlicher Stämme (Friesen, Angeln, Jüten) vor der Besiedlung Britanniens im 5. Jahrhundert, und auch viel spätere angelsächsische literarische Einflüsse, die besonders typisch für die christliche Lexik sind. Aber zugleich bereicherte der Heliand-Verfasser die Variationsmöglichkeiten der dichterischen Sprache, indem er Elemente der althochdeutschen Lexik einfügte und damit die überlandschaftliche Spezifik verstärkte, was offenbar durch die Umgebung des Klosters Fulda und die Eingliederung der Sachsen ins Frankenreich gefördert wurde. In dieser Hinsicht ist der Heliand-Verfasser ein Vorgänger der Dichter des 12. - 13. Jahrhunderts, die bewußt die Beschränktheit ihres Heimatdialekts überwanden und entlehnte Elemente unterschiedlicher Dialekte nebeneinander verwendeten. Möglicherweise läßt dieser zweite Weg der Entstehung überlandschaftlicher Sprachformen im frühen Schrifttum des mittelalterlichen Deutschland noch den Einfluß der Tradition der altgermanischen Heldenepen erkennen. Einer besonderen Untersuchung muß es jedoch vorbehalten bleiben, die überdialektalen Elemente in der Heldendichtung germanischer Sprachen darzustellen. Die Stellung über landschaftlicher Sprachformen änderte sich prinzipiell um das 12. Jahrhundert, als sich die Einheit des deutschen Volkes und seiner Sprache festigte. 6
Der Austausch zwischen den Dialektgebieten, maximale genetische Gemeinsamkeit der phonetischen Struktur, des Wortschatzes und der Grammatik sowie gemeinsame Hauptentwicklungstendenzen von Syntax und Morphologie einschließlich Wortbildung machen
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die Einheit der Sprache einer Nationalität aus, ungeachtet der für den Feudalismus charakteristischen größeren oder kleineren Zersplitterung in Territorialherrschaften. In Deutschland spiegelt sich das Bewußtwerden dieser neuen Einheit in der Sprache wider. So begegnen zuerst in einem Denkmal von 1100 ("Annolied") die Ausdrücke /Diutsche lant/zur Kennzeichnung des deutschen Staates und /Diutschiu liute, Diutschi man/ für die deutsche Nationalität insgesamt im Unterschied zu den Bezeichnungen der Bewohner einzelner feudaler Territorien, die weiter Franken, Schwaben, Baiern usw. genannt wurden. Hundert Jahre zuvor ist bei Notker auch die Hervorhebung der deutschen Sprache im Gegensatz zum Latein belegt. Deutsch wird auch in den folgenden Jahrhunderten als Bezeichnung für die Gesamtheit der regionalen Varianten benutzt, die in unterschiedlicher Weise vorkommen, als schriftliche und mündliche geformte Spracharten, als städtische Koine und als sogenannte territoriale Dialekte. Diese r e gionalen Varianten, die Hugo von Trimberg /lantsprachen/ nennt, werden konsequent als besondere Subsysteme des Ganzen begriffen. Dabei gab es kein einheitliches, für das gesamte Sprachgebiet gültiges überregionales System im feudalen Deutschland. Die vorhandenen Typen geformter Sprache in unterschiedlichen mündlichen und schriftlichen Gattungen lassen die unmittelbare Verbindung mit den entsprechenden Dialektgebieten erkennen, z.B. zeigen die "Eneide" des Limburgers Heinrich von Veldeke, die rheinische Dichtung des 12. und 13. Jahrhunderts und Dokumente aus Köln oder Frankfurt am Main im 13. Jahrhundert sehr deutliche lokale sprachliche Besonderheiten, was auch ihre Sprache von derjenigen entsprechender Gattungen aus 25 anderen Gebieten unterscheidet. Je mehr die Strukturen zweier Dialekte einander ähneln, zum Beispiel das Bairische und Alemannische, desto geringer sind auch die Unterschiede in der Sprache, die in den " höheren Kommunikationssphären" gebraucht wird, und umgekehrt, die größten Unterschiede in der Sprache von Literatur und Kanzleien zeigen sich bei weit voneinander entfernten Dialektgebieten. Die überlandschaftlichen Sprachformen, die in der schönen, philosophischen und religiösen Literatur, in der Geschäftsprosa und in Urkunden vorkommen, sind regionale Varianten der Literatursprache. Trotz relativ stabiler lokaler Traditionen ist das Abgehen von örtlichen Besonderheiten oder die Benutzung von Formen, die von anderen Dichtern oder aus einer anderen Kanzlei entlehnt werden, deutlich bemerkbar. So gebraucht Heinrich von Veldeke im Reim dialektfremde Formen wie/sprach, sach, zage, verzagen/. Andererseits führte der Umstand, daß der erste Versroman aus dem niederfränkischen Gebiet stammt und daß sich die Ritterkultur zuerst im Nordwesten herausbildete, zur Einbeziehung einiger niederfränkischer dialektaler Elemente in den Wortschatz der Ritterdichtung, unabhängig vom Gebiet, in dem ein Werk entstand: /wapen » wafen, ors = ros, blide/ "froh", Suffixe -ken, -se/-sche usw. dringen in die Sprache von Dichtern aus Süddeutschland ein. Im Zusammenhang damit ist die Benutzung von dialektalen Varian-
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ten /gän/gfen, stän/sten, na/nach, began/begunde/ usw. bei ein und demselben Dichter charakteristisch. Das Loslösen vom Dialekt wurde in hohem Maße durch formelhafte Wendungen und Stereotype gefördert, die für verschiedene Typen der geformten Sprache spezifisch sind. In der Ritterdichtung betraf das den häufigen Gebrauch von Wörtern aus dem engen Bereich des Ritterwesens, die aus dem Französischen entlehnt wurden (sie verschwanden meist wieder aus dem Deutschen nach dem Verfall des Rittertums). In der Geschäftsprosa war die wechselseitige Beeinflussung verschiedener Kanzleitraditionen besonders intensiv, wovon auch die Tatsache zeugt, daß in ein und derselben Kanzlei Dokumente ausgefertigt wurden, die in verschiedene Gebiete Deutschlands gingen. So kann man beispielsweise unter den Dokumenten aus Magdeburg solche in niederdeutscher Kanzleisprache mit einigen hochdeutschen Einsprengseln neben hochdeutschen Dokumenten mit einigen niederdeutschen Formen finden. Das Zusammentreffen unterschiedlicher Dialektvarianten spiegelt in manchen Fällen die wechselseitige Beeinflussung der Dialektgebiete wider, in anderen Fällen sind solche Einflüsse rein literarischer Art oder beruhen auf Kanzleitraditionen. So läßt sich z.B. bei Veldeke der Gebrauch der dialektfremden Formen /ich, mich, ouch/ und des Reflexivpronomens /sich/ im Reim sowie /wir/ und die parallelen Formen /he/her, de/der/ einerseits auf die Besonderheiten des Limburger Gebiets zurückführen, das zwischen Brabant und Flandern einerseits und Köln andererseits liegt, was auch die Mischung von Dialektmerkmalen erklärt. Ebenso läßt sich die Vermischung von südöstlichen und südwestlichen Merkmalen in der Sprache von Literatur und Geschäftsprosa Augsburgs djrch die Lage dieser Stadt im Strahlungsbereich zweier Gebiete, des Schwäbischen und Bairischen, erklären. Doch die obengenannten Reime bei Veldeke, das Benutzen von verschiedenen dialektalen Varianten bei Dichtern oder der Gebrauch von dialektfremden Schreibungen in Doicumenten fränkischer Städte (t statt d vom Typ /tun, gottis/ - Worms, pf am Wortanfang - Frankfurt, Bewahrung von -cht Worms usw.) zeugen von dialektfremden Einflüssen in den "höheren Kommunikations26
Sphären".
Da die Struktur der Dialektgebiete infolge der Entwicklung unterschiedli-
cher Typen überlandschaftlicher Sprachformen immer komplizierter wurde, führte das dazu, daß sich I s o g l o s s e n Isoglossen
im
e n g e r27e n
im 15. Jahrhundert zutage
in
geformten
Sinne
Sprachtypen
von
dialektalen
dieses Wortes abhoben. Ganz deutlich tritt das
, aber der Beginn des Prozesses ist schon früher zu beobach-
ten. Das Eindringen dialektfremder Formen wird nicht selten vom Bestreben begleitet, eigene lokale Erscheinungen zu vermeiden, wobei teilweise der Unterschied zwischen den lokalen schriftlichen und mündlichen Formen durch die Kontinuität der Schreibtradition erklärt wurde, die kein Eindringen dialektaler Neuerungen zuließ.
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Ein zusätzlicher Faktor in der Entwicklung überlandschaftlicher Formen auf der Grundlage der Verbindung dialektal unterschiedlicher Merkmale waren die Städte im 12. - 1 3 . Jahrhundert, die nicht nur auf wirtschaftlichem Gebiet, sondern auch im kulturellen Leben des feudalen Deutschland immer größere Bedeutung gewannen. In den Städten mit ihrem bunten Bevölkerungsgemisch bildete sich eine städtische Koine ein überdialektaler Typ nicht geformter Sprache; ein gutes Beispiel einer solchen Koine ist die Sprache Augsburgs, die eine bedeutende Rolle in der Periode der späteren Ausgleichsprozesse bei der Herausbildung der Nationalsprache spielt. Die Entwicklung überregionaler Formen in einzelnen Gebieten führte noch in der vornationalen Periode zu einem Wandel in der Stellung des Dialekts und der überlandschaftlichen Sprachtypen. In jedem Gebiet wird auf unterschiedliche Weise, bedingt durch einen Komplex von Faktoren, die allgemeine Entwicklungstendenz verwirklicht, die eine Abnahme der sozialen Wertigkeit des Dialekts und seiner Anwendungssphären auf Kosten einer verstärkten Position überlandschaftlicher Formen der deutschen Sprache zur Folge hatte. Eine nicht geringe Rolle spielte auch die allmähliche Verdrängung des Lateins aus den Kanzleien und einigen anderen Kommunikationssphären. Sogar das begrenzte Material dieses Aufsatzes zeigt, wie eigenständig die Wege der Herausbildung überdialektaler bzw. überlandschaftlicher Sprachtypen nicht nur in der Geschichte unterschiedlicher germanischer Sprachen, sondern auch in verschiedenen Entwicklungsperioden der deutschen Sprache waren. Eine Vielzahl von extra- und intralinguistischen Faktoren war dafür maßgebend. Wesentlich ist der Umstand, daß 1. die Entstehung überdialektaler Sprachformen auf der Grundlage der Vereinigung unterschiedlicher dialektaler Merkmale wie das Abgehen von Strukturmerkmalen eines bestimmten Dialektgebietes und 2. die funktional-stilistische Abgrenzung geformter Spracharten zwei unterschiedliche, obwohl oft miteinander verflochtene Entwicklungslinien darstellen. Die funktional-stilistische Abgrenzung geformter Spracharten der "höheren Kommunikationssphären" von der dialektalen Alltagssprache kann auch stattfinden, ohne daß Merkmale unterschiedlicher Dialekte vereinigt werden. Die Entstehung von überlandschaftlichen Koines, mündlicher wie schriftlicher, setzt meist die Abkehr von einem regional eng begrenzten System und die Verbindung von Merkmalen unterschiedlicher Dialekte voraus, unabhängig vom höheren oder geringen Grad der funktionalstilistischen Abgrenzung.
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M.M. Guchmann Anmerkungen
1 V. M. Schirmunski sagt über die Bedeutung der Arbeit von Engels für die Germanistik: "Abgesehen von seiner allgemeinen methodologischen Bedeutung ist der 'Fränkische Dialekt' seinem direkten Inhalt nach für die Germanistik eine grundlegende Spezialuntersuchung zur historischen Mundartkunde der deutschen Sprache; sie verbindet außergewöhnliche Gelehrsamkeit auf diesem Gebiete mit weiten historischen und methodologischen Perspektiven" (V. M. Schirmunski, Deutsche Mundartkunde, Berlin 1962, S.37). 2 Th. Frings, Friedrich Engels als Philologe, in: Deutschunterricht 8 (1955), S.427. 3 G. Vinokur, Die russ sehe Sprache, Leipzig 1949, S. 99. 4 Th. Frings, Die Stellung der Niederlande im Aufbau des Germanischen, Halle 1944, S. 7. Vgl. auch den Ausspruch K. Bischoffs: "Alle Mundart lebt im Gesprochenen, nicht im Geschriebenen" (K. Bischoff, Hochsprache und Mundarten im mittelalterlichen Niederdeutschen, in: Der Deutschunterricht 8 (1956), S. 84. 5 Genauer dazu: M.M. Guchman, Suscestvuet Ii literaturnyj jazyk v donacional'nyj period (Gibt es eine Literatursprache in der vornationalen Periode?). Im Druck. i l . M . Tronskij, O dialektnoj strukture greceskogo jazyka v rannem antiönom obscestve (Über die dialektale Struktur der griechischen Sprache in der frühantiken Gesellschaft), in: Voprosy social'noj lingvistiki, Leningrad 1969. 7 F. Engels, Der Ursprung aer Familie, des Privateigentums und des Staates, in: Marx-Engels, Gesammelte Werke, Bd. 21, S. 91. 8 Vgl. zum Beispiel: A. V. Desnickaja, Naddialektnye formy ustnoj reci i ich rol' v istorii jazyka (Überdialektale Formen der gesprochenen Sprache und ihre Rolle in der Sprachgeschichte), Leningrad 1970, S. 7. 9 1.M. Tronskij, a . a . O . , S.281. 10 F. Engels, a . a . O . , S. 98. 11 V. Georgiev, Das Problem der homerischen Sprache im Licnte der kretisch-mykenischen Texte, in: Minoica und Homer, Berlin 1961. I. M. Tronskij stellte in dem Zusammenhang fest, daß es neben der amtlichen mykenischen Koine auch eine dichterische Koine gab, die eine der Quellen der homerischen Epen sei, siehe I. M. Tronskij, a . a . O . , S. 282. 12 In diesem Zusammenhang hätte vielleicht auch der alte Streit darüber, was für die gegenwärtigen deutschen Dialektlandschaften bestimmend war - alte Stammesgruppierungen oder die spätere feudale Gliederung des Gebiets - in eine andere Richtung gehen müssen, da die sogenannten Stammesdialekte der Franken, Sachsen usw. viel kompliziertere Gebilde darstellten als der eigentliche Stammesdialekt. Die Formulierung R. Bruchs, bezogen auf das frühe Mittelalter, kann zu einem gewissen Grade die komplizierten sprachlichen Prozesse jener Epoche charakterisieren: "Stammeszeitliche und territoriale Faktoren haben im freien Spiel von Sprachausgleich, Sprachanschluß und -abwehr, nacheinander und einander durchdringend (vergleichbar dem psychologischen Widerspiel von Bewußtem und Unter oder Unbewußtem), das Bild und den Rahmen der heutigen Kulturlandschaft geformt. . . " (R. Bruch, Sprache und Geschichte, in: Zeitschrift für Mundartforschung 24, 1953, S. 150). 13 W. Krause, Handbuch des Gotischen, München 1953, S. 37; M.M. Guchman, Gotskij jazyk (Die gotische Sprache), Moskva 1958, S.46. 14 Ohne hier die umstrittene Frage zu berühren, ob in diesen Handschriften der Text der Übersetzung überliefert ist, die nach einer byzantinischen Quelle schon im 4. Jh.
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vom gotischen Bischof Wulfila angefertigt wurde, erwähnen wir nur, daß schon im 5. Jh. in einer Kirche in Konstantinopel in gotischer Sprache gepredigt wurde. Daß es unterschiedliche Übersetzungen religiöser Texte ins Gotische gab, wird indirekt durch einen überlieferten Brief des Hieronymos an die gotischen Kleriker Sunja und Frithila bestätigt, in dem es um die Prinzipien der Übersetzung von Psalmen ins Gotische geht. Davon handelt auch das Vorwort zum zweisprachigen lateinischgotischen Kodex des 6. Jh. Beachtenswert in diesem Zusammenhang sind auch Glossen mit sprachlichen Bemerkungen und Varianten. Zum Beispiel wurde zum gotischen / a t t a / "Vater" die Glosse / f a d a r / vermerkt, die nur das eine Mal in den gotischen Texten zu finden ist. 15 Zitiert nach der russischen Übersetzung: Skazanija Priska Panijskogo, in: Ucenye zapiski II otdelenija Imperatorskago AN, Bd. VE (1903), S. 52. 16 Siehe P. Scardigli, Lingua e storia dei Goti, Firenze 1964, S. 133 f. 17 E.A. Makaev, Jazyk drevnejsich runiceskich nadpisej (Die Sprache der ältester Runeninschriften), Moskva 1965, S.49. 18 Siehe: H. M. Heinrichs, 'Wye grois dan dyn andait eff andacht i s . . . ' Überlegungen zur Frage der sprachlichen Grundschicht im Mittelalter, in: Zeitschrift für Mundartforschung 28 (1961), S. 97-153; K. Wagner, Hochsprache und Mundart in althochdeutscher Zeit, in: Der Deutschunterricht 8 (1956), Heft 2, S. 14 - 23. 19 Siehe H.M. Heinrichs, a.a.O. 20 Diesen Standpunkt hat in den letzten Jahrzehnten besonders K. Wagner entwickelt, siehe K. Wagner, a . a . O . , S.15. 21 F. Engels, Der fränkische Dialekt, in: Marx-Engels, Werke, Bd. 19, S. 495 f. 22 Ebenda, S. 507 (über die Sprache der bergischen Gerichtsordnung des 14. Jh.). 23 Ebenda, S. 495 f. (über die Sprache der Cottonischen Handschrift des "Heliand"). 24 Vgl. zum Beispiel: Ingerid Dal, Zur Stellung des Altsächsischen und der Heliandsprache, in: Norsk Tidskrift for Sprogvidenskap 17 (1954); E. Rooth, Über die Heliandsprache, in: Fragen und Forschungen im Bereich und Umkreis der germanischen Philologie (Festschrift für Th. Frings), Berlin 1956; L. Wolff, Zum hochdeutschen Einfluß auf das Altniederdeutsche, in: Zeitschrift für Mundartforschung 26 (1958), S. 150-156; Th. Frings, Zum Wortschatz des Heliand und zur Heimatfrage, in: Germania Romana, 2. Aufl., Halle 1966, Bd. 1, S. 196-217; A. Bretschneider, Die Heliandheimat und ihre sprachgeschichtliche Stellung, Marburg 1934, u.a. 25 Ausführlicher siehe: M. M. Guchmann, Der Weg zur deutschen Nationalsprache, Teil 1, Berlin 1964. 26 Auf unterschiedliche phonetisch-grammatikalische Merkmale der Urkundensprache im Unterschied zum Dialekt in den Zentren am Rhein wies besonders R. Schützeichel hin, siehe R. Schützeichel, Mundart, Urkundensprache und Schriftsprache, Bonn 1960. 27 Überzeugendes Material bieten die Arbeiten: W. Besch, Sprachlandschaften und Sprachausgleich im 15. Jahrhundert, München 1967; G. Ising, Zur Wortgeographie spätmittelalterlicher deutscher SchriftcBalekte, Berlin 1968.
W. N. Jarzewa WECHSELBEZIEHUNGEN ZWISCHEN TERRITORIALEN DIALEKTEN UNTER UNTERSCHIEDLICHEN HISTORISCHEN VERHÄLTNISSEN
Die Untersuchung von zwei Seiten der sprachlichen Wirklichkeit - der Strukturmerkmale der Sprache und ihrer Funktion - führte zu Kontroversen und Meinungsverschiedenheiten unter den Sprachwissenschaftlern. Wissenschaftler, die sich vornehmlich mit der formalen Analyse sprachlicher Strukturen befassen, ignorierten so wichtige Probleme wie die Besonderheiten der Entwicklung der Literatursprache und ihre Wechselbeziehung mit den Dialekten, das Funktionieren der Sprache als Kommunikations system in Abhängigkeit von den Gebrauchssphären und viele andere Fragen, die sie als "außersprachlich" bezeichneten. Zugleich blieben die Formen der Wechselwirkung zwischen inner- und außersprachlichen Faktoren unklar, so daß Widersprüche im Sprachsystem und der Widerstreit untergehender und neuer Elemente in der Sprache nicht erklärt werden konnten. F. P. Filin hat zu Recht festgestellt, daß "der Gegenstand der Sprachwissenschaft weiter zu fassen ist als allein die Beschreibung der Sprachstruktur; einen organischen Bestandteil bilden auch die gesellschaftlichen Funktionen der Sprache und die Wirkung der Gesellschaft auf die Sprache, desgleichen die Wirkung der Sprache auf die Gesellschaft." * Wie bei der synchronen Sprachuntersuchung, so können auch bei der Analyse ihrer historischen Veränderungen erst dann erschöpfende Erklärungen geboten werden, wenn man die Gebrauchssphären berücksichtigt, in denen die kommunikative Funktion der Sprache realisiert wird. Von den Anwendungssphären der Sprache hängen nicht nur ihre gattungs- und stilbedingten Varianten ab. Die Gliederung einer Sprache in t e r r i toriale und soziale Dialekte, die Entstehung einer Literatursprache oder überlandschaftlicher Koines und Mischsprachen, das Benutzen einer Sprache als lingua franca und weitere Erscheinungen sind wohl unmittelbar mit historisch bedingten Typen von sprachlichen Kollektiven verbunden. Die Sprache erscheint in ihrem «konkreten Sein als vielschichtiges System, das sich aus der Literatursprache sowie territorialen und sozialen Dialekten zusammensetzt. Insgesamt kann man die Sprache als dialektisch widersprüchliche Einheit auffassen, die in der Vielfalt ihrer funktionalen und strukturellen Merkmale verwirklicht wird. Die Formen der Wechselbeziehungen zwischen den territorialen Dialekten hängen von vielen Faktoren ab, und zwar inner- wie außersprachlichen. Zeitbedingt sind offen-
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sichtlich die außersprachlichen Faktoren, obwohl die Zeit auch bei den eigentlich sprachlichen Faktoren eine gewisse Rolle spielt. Der Charakter der Verbindungen und die Typen der Wechselbeziehungen zwischen Dialekten einer Sprache und auch mögliche Fälle von Dialektkontakten zwischen verschiedenen Sprachen können nur bei der Analyse der historischen Umstände geklärt werden, durch die die spezifischen Bedingungen zum Gebrauch territorialer Varianten der Gemeinsprache entstanden sind. In der Dialektgeschichte spiegeln sich die Bedingungen wider, unter denen die Sprache in unterschiedlichen Perioden der gesellschaftlichen Entwicklung funktioniert. F. Engels hat in seiner Untersuchung über den fränkischen Dialekt gezeigt, daß "die Franken nicht ein durch äußere Umstände verbündeter-Mischmasch verschiedner Stämme, sondern ein eigner deutscher Hauptstamm, die Iskävonen, waren, die wohl zu verschiednen Zeiten fremde Bestandteile in sich aufnahmen, aber auch sie zu assimilieren die Kraft 2
hatten." Gleichzeitig beschreibt F. Engels, wie einer der beiden fränkischen Dialekte das Salische -, das später im Niederländischen weiterlebt, viele friesische Elemente aufnimmt. Obwohl territoriale und soziale Dialekte an sich unterschiedliche Typen von Existenzformen der Sprache darstellen, gibt es zwischen ihnen historische Wechselbeziehungen. Unter bestimmten Bedingungen kann sich ein territorialer Dialekt in einen landschaftlich gebundenen sozialen Dialekt verwandeln 3und vom Standpunkt der geltenden literatursprachlichen Norm anders bewertet werden. Ein wichtiges Moment, das die Unterschiede im historischen Status territorialer Dialekte bestimmt, ist das Entstehen einer Literatursprache überlandschaftlichen Typs, die gleichermaßen einen Gegensatz zu allen Dialekten und Mundarten bildet. Am deutlichsten ist solcher Gegensatz bei einer nationalen Literatursprache zu sehen. Von sowjetischen Sprachwissenschaftlern wurde an der Geschichte vieler Sprachen gezeigt, daß die nationale Literatursprache eine historische Kategorie ist und sich auf der Grundlage der territorialen Dialekte bei der Entstehung einer Nation herausbildet. Gewöhnlich liegt einer nationalen Literatursprache der Dialekt eines Gebietes oder einer großen Stadt zugrunde, die in wirtschaftlicher, politischer und kultureller Hinsicht das Zentrum des Staates bilden. Die sprachlichen Elemente dieses Dialekts sind unterschiedlicher Herkunft, es liegt Dialektmischung vor. Im Laufe der Zeit wird der Dialekt nicht mehr nur im ursprünglichen Verbreitungsgebiet benutzt. Die Literatursprache steht dann sogar im Gegensatz zu den territorialen Dialekten, die in hohem Maße ihre sprachliche Basis bildeten. Das erklärt sich einerseits daraus, daß mit der Zeit viele dialektfremde Elemente in die Literatursprache eindringen können, andererseits durch die funktionale Abgrenzung der Literatursprache von der dialektalen Alltagssprache, d. h. durch das Auftreten von Diglossie. Gewöhnlich nimmt man an, daß ein Wesensmerkmal der Literatursprache eines Nationalstaates ihre funktionale Universalität sei, d. h. man gebraucht die Literaturspra-
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che in ihrer' schriftlichen und mündlichen Variante in allen Kommunikationssphären. Natürlich bestehen die territorialen und sozialen Dialekte auch innerhalb der Nationalsprache weiter, aber ihre Anwendungssphäre ist begrenzt, während die Anwendungssphäre der Literatursprache potentiell unbeschränkt ist. Deshalb erscheint in quantitativer Hinsicht die Diglossie zwischen Literatursprache und territorialen Dialekten, wie sie in der vornationalen Periode zu beobachten ist, nach der Stabilisierung der einheitlichen nationalen Literatursprache gleichsam in ihrem Spiegelbild. Dieser allgemeine Verlauf der sprachlichen Entwicklung muß jedoch im Einzelfall modifiziert werden. Erstens ist daran zu erinnern, daß die obengenannte funktionale Universalität nicht gleich vorhanden ist, was auch für andere Merkmale der nationalen Literatursprache gilt, da z. B. eine klassische Literatur mit Autorität in einer alt überlieferten Schreibsprache die Verwendung der neuen Literatursprache bei bestimmten künstlerischen Gattungen verhindern kann. Als Beispiel kann das klassische Arabisch aus der Zeit der Entstehung des Islam in den heutigen arabischen Staaten des Nahen Ostens dienen. Diese Sprachform wird weiterhin in Literatur, Wissenschaft und als Amtssprache benutzt, obwohl im täglichen Leben der arabischen Völker volkstümliche Sprachformen verwendet 4
werden, die sich auf der Grundlage von territorialen Dialekten entwickelt haben. Zweitens konnte es auch in der vornationalen Periode unterschiedliche Typen überlandschaftlicher Koines geben, obwohl ihr Verhältnis zu den territorialen Dialekten anders war als das Verhältnis der modernen Literatursprache zu den Mundarten. Auch wenn eine Sprache der vornationalen Periode nicht dialektal eng begrenzt ist, so gestatten es die besonderen historischen Umstände ihrer Existenz (in hohem Maße auch das Fehlen von Schrifttum) nicht, sie im vollen Wortsinne des Terminus als Literatursprache zu bezeichnen. V. V. Vinogradov schreibt zu Recht: "Die Hauptmerkmale der nationalen Literatursprache sind ihre Tendenz zum Gesamtnationalen oder Allgemeinnationalen und eine gesetzmäßige Normativität. Der Begriff der Norm (oder die Norm) ist bei der Definition einer nationalen Literatursprache (in ihrer schriftlichen wie gesprochenen Form) von zentraler Bedeutung. In diesem Merkmal unterscheidet sich die literarisch-umgangssprachliche Form der Nationalsprache der Neuzeit scharf von den münd5 liehen Koines der vornationalen Periode. "
Falsch wäre jedoch der Schluß, daß die vor-
nationalen Formen der überlandschaftlichen Sprache keine ihnen spezifischen sprachlichen Merkmale besessen hätten, die äußerst stabil und bezüglich ihrer Tradition auch normativ waren. In erster Linie bezieht sich das auf die Sprache der Dichtung. A. V. Desnitzkaja schreibt: "Im Leben der späten Gentilgesellschaft, in der das Schrifttum, selbst wenn es nur für gewisse begrenzte Bedürfnisse vorhanden war, noch keine allgemein-kulturelle Funktion besaß, spielte die mündliche Dichtung weltlichen Charakters, in der ideologische Interessen von Mitgliedern der Gefolgschaften und ihrer Führer widergespiegelt wurden, eine außerordentlich große Rolle, indem sie die Zeiten der Muße
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verschönte und zu neuen Heldentaten inspirierte. Das war keine eng mit dem Alltag verbundene Gelegenheitsdichtung mehr, sondern 'hohe Literatur'. Auch ihre Sprache war eine dichterische Koine, die sich durch den Bestand ihrer Formeln, durch archaische Lexik und auch durch größere oder kleinere Unterschiede in Grammatik und Phonetik g von der Alltagssprache unterschied. "
So vollzieht sich eine gewisse stilistische Ab-
grenzung einer Uberdialektalen Koine eines bestimmten Typs, und die Typen der Koine selbst und ihr Verhältnis zu den Mundarten lassen sich durch die sozial-historischen 7 Verhältnisse, die zu ihrer Entstehung führten, erklären.
Folglich ist die dialektische
Einheit, in deren Form die Sprache mit allen Varianten ihrer Dialekte erscheint, historisch nicht starr, sondern beweglich. Als widersprüchliche Einheit, die in der Vielzahl von Dialekten realisiert wird, enthält die Sprache konvergierende und divergierende Entwicklungspotenzen. Wenn sich Dialekte spalten oder einander angleichen, darf man die hier vor sich gehenden Veränderungen keineswegs nur vom Standpunkt rein struktureller Gesetzmäßigkeiten untersuchen, obwohl als Ergebnis einer historischen Entwicklung große strukturelle Umgestaltungen der Sprache auftreten können. Die Einwirkung von außersprachlichen Faktoren ergibt in jedem Einzelfall der sprachlichen Entwicklung ein kompliziertes Bild des Zusammenfalls von Systemmerkmalen der Sprache selbst und der konkreten Bedingungen ihres funktionalen Gebrauchs. Wenn sich durch Abgrenzung von Dialekten auf ihrer Grundlage unterschiedliche Sprachen bilden, können die strukturellen Besonderheiten in der einen Sprache den Status einer literatursprachlichen Norm erhalten, in der anderen genetisch verwandten Sprache können sie auf die Ebene des Dialekts beschränkt bleiben. Bekanntlich können Dialekte verwandter Sprachen untereinander mehr ähnliche Merkmale besitzen als die entsprechenden Literatursprachen. F. Engels beschrieb diese Erscheinung am Beispiel romanischer Dialekte in dem g Gebiet, wo das Provenzalisehe, Italienische und Französische zusammentreffen. Infolge der Konfrontation nationaler Literatursprachen entstehen, wenn die territorialen Dialekte entweder zur einen oder zur anderen Sprache tendieren, zwischen ihnen mehr oder weniger deutliche Grenzen. Solche Prozesse hängen von außersprachlichen Bedingungen ab, von der Konsolidierung nationaler staatlicher Gebilde. Die Einheit einer Sprache in der Gesamtheit ihrer Dialekte wird durch einige Faktoren garantiert. Unter ihnen gebührt den strukturellen Gemeinsamkeiten zwischen den Dialekten einer Sprache ein wichtiger Platz, wobei Unterschiede zwischen den Dialekten korrelative und gesetzmäßige Entsprechungen besitzen. Obwohl die Gesamtheit der dialektalen Unterschiede, die mit der Spezifik der Sprachebenen zusammenhängen, sehr groß sein kann, beruht die Stabilität des Sprachsystems unserer Meinung nach nicht auf Konvergenzen (oder Divergenzen), sondern auf der Gesamtheit einer gewissen Anzahl von Merkmalen, die für ein Sprachsystem typisch sind und ihm zugrundeliegen.
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Trotz der vier Dialekte, die in den altenglischen Denkmälern bezeugt sind, und einer noch größeren Anzahl von Mundarten im Mittelenglischen, bleibt das System der grammatischen Kategorien nicht nur inhaltlich, sondern auch vom Material her in den Dialekten gleich. Die grammatischen Kategorien für das Substantiv (Genus, Numerus, Kasus), die Unterteilung der Substantive nach morphologischen Subklassen entsprechend der Struktur ihrer Stämme und der Ausdruck der grammatischen Kategorien beim Verb (Person, Numerus, Tempus, Konjugation) sieht in den Dialekten des Altenglischen gleich aus. Die genetisch bedingte Ähnlichkeit wird durch Dialektmischungen und die Verschiebung von Dialektgrenzen vergrößert. Das veranlaßt G. L. Brook bei der Charakteristik der vier Dialekte des Altenglischen (Nordhumbrisch, Mercisch, Westsächsisch, Kentisch) zu folgender Feststellung: "We cannot tell whether the boundaries between these dialects remained the same-throughout the Old English period; in view of the unsettled political condetions of Anglo-Saxon England it is probable that they did not. One thing that we can say with confidence is that it is most unlikely that any of the four areas mentioned had a completely homogeneous dialect at any time during the Old g English period". Die strukturellen Unterschiede zwischen den Dialekten bilden eher eine Übergangsskala als ein klares System von Kontrasten. G. L. Brock schreibt: "There were very few linguistic features of Old English that were to be found exclusively in any one dialect, since dialectal forms were freely borrowed from one dialect into another. The differences between one Old English dialect and another depended for the most part upon the relative frequency of occurence of a particular group of forms. When we speak of a sound - change being characteristic of a particular dialect, we mean that forms reflecting the changes are common or normal in that dialect, whereas in other dialects they are found only occasionally". Bekanntlich äußern sich Dialektunterschiede besonders deutlich in der Phonetik. J e doch erscheinen sie gewöhnlich in Form gesetzmäßiger phonetischer Korrelationen und sind keine Konfrontationen zweier völlig unterschiedlicher phonetischer Systeme. Die morphologischen Unterschiede lassen sich zuweilen dadurch erklären, daß in der einen Gruppe von Dialekten Veränderungen auf Grund von Analogien vor sich gehen, während in anderen alte Formen erhalten bleiben. So bewahrten zum Beispiel das Nordhumbrische und Mercische das -u (oder -o) als Endung der 1. Person Singular. Im Westsächsischen und Kentischen wird diese Endung nach Analogie des Optativs durch -e ersetzt, z.B. nordhumbr. /bindu/ "ich binde", westsächs. /binda/. Dialektale Unterschiede in der Syntax betreffen weniger die syntaktischen Modelle als den Gebrauch der Synsemantika (Konjugationen, Präpositionen usw.), d.h. sie grenzen an die Lexik. Folglich garantieren die Gemeinsamkeiten vieler grammatischer
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Merkmale und der symmetrische Parallelismus der phonologischen Struktur die Einheit der altenglischen Dialekte innerhalb einer Sprache. 1 1 Die lexikalischen Unterschiede zwischen den Dialekten sind bekanntlich am größten. Wenn man von höher strukturierten Seiten des Wortschatzes einer Sprache absieht (z.B. den Wortbildungsmodellen), so ist tatsächlich die Buntheit der dialektalen Lexik immer wieder frappierend. Jedoch betreffen hier die Unterschiede eher einzelne Lexeme als unterschiedliche Bezeichnungsprinzipien. Unterschiede in den lexikalischen Subsystemen einzelner Dialekte (größerer oder geringerer Umfang einzelner lexikalischer Subsysteme oder ein unterschiedlicher Fundus lexikalischer Reihen in genetischer Sicht) können meist durch die Offenheit der Lexik der Sprache gegenüber äußeren Einflüssen erklärt werden, bedingt durch verschiedenartige historische Ereignisse. So lassen sich zum Beispiel die vielen nordischen Wörter in den nordenglischen Dialekten aus der Geschichte Nordenglands erklären, das im 9. - 11. Jahrhundert von Skandinaviern erobert und besiedelt wurde. Selbst wenn man über das Problem, ob es ein System in der Lexik gibt, unterschiedlicher Ansicht sein kann, bleibt festzuhalten, daß Unterschiede lexikalischen Charakters einen Dialekt nicht "abtrennen" und in eine selbständige Sprache verwandeln können. Deshalb kann man sagen, daß die Zusammengehörigkeit der Dialekte innerhalb einer Sprache durch die Einheit ihrer strukturellen Organisation auf allen sprachlichen Ebenen aufrechterhalten wird. Die Zusammengehörigkeit der Dialekte einer Sprache wird auch durch eine gewisse Einheitlichkeit in ihrer historischen Entwicklung garantiert, wobei allerdings das Entwicklungstempo struktureller Veränderungen in den einzelnen Dialekten unterschiedlich sein kann. Viele Veränderungen, die alle englischen Dialekte gemeinsam haben (Delabialisierung der Vokale, Reduktion der Vokale unbetonter Silben, innerparadigmatische Veränderungen auf Grund von Analogien usw.) setzten sich eher in den nördlichen als in den südlichen Dialekten durch, die sich in dieser Hinsicht als konservativer erwiesen. In der Geschichte einer Sprache bewegt sich die historische Entwicklung ihrer Dialekte am häufigsten innerhalb der Begriffe "schneller/langsamer" oder "mehr/weniger". Die Delabialisierung fand in den nördlichen Dialekten Englands eher als in den südlichen statt; so wurde im Mittelenglischen im Norden das alte / y / schon als / i / gesprochen (z.B. /hill/ "Hügel"), während im Süden die alte Aussprache /hull/ erhalten blieb. Andererseits ist ein typisches Merkmal der modernen nördlichen Mundarten die Bewahrung des kurzen offenen /ae/ vor stimmlosen Frikaten (/faest/ "schnell", /graes/ "Gras", /staef/ "Stab"), während in der englischen Literatursprache dieser Vokal zu / ä / wurde. Der Unterschied zwischen beiden angeführten Beispielen besteht darin: die Delabialisierung der Vokale griff auch auf die südlichen Gebiete über, so daß die Form /hill/ für die Literatursprache und alle Dialekte (mit Ausnahme des Kentischen) üblich wurde; der Typ /graes/ gilt trotz seiner weiten Verbreitung in den Dialekten und sogar in der
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amerikanischen Variante des Englischen als dialektale Abweichung von der Norm, die in der Literatursprache in Form der Variante mit / ä / kodifiziert wurde. So wird beim Bestehen einer literatursprachlichen iNorm als eines neuen Faktors in der Sprachgeschichte jede Abweichung von dieser Norm als dialektal aufgefaßt, wobei gleichgültig ist, ob es sich um einen Archaismus oder eine Neuerung handelt. Wenn von einer gewissen Einheitlichkeit bei der strukturellen Entwicklung der Dialekte einer Sprache gesprochen wird, so muß hier einiges präzisiert und eingeschränkt werden. Der gemeinsame Entwicklungsweg der Dialekte kann durch divergierende Tendenzen gestört werden, die a) als Ergebnis stärker werdender zentrifugaler Kräfte e r 12
scheinen, die es potentiell in der Struktur jeder Sprache gibt , b) durch Einflüsse anderer Sprachen aus den spezifischen Verhältnissen eines Dialekts zu erklären sind. Die Existenz einer überlandschaftlichen Koine, die sozial-kommunikative Funktionen besitzt und mit den Dialekten verbunden ist, erscheint auch als gewisses vereinigendes Moment in der Sprache. Einerseits bildet jede überregionale Sprachform einen Gegensatz zu den Mundarten, andererseits erscheint sie als ihr umfassendes Band, als stabiles "Prestige"modell der Sprache. Im 9. - 10. Jahrhundert hat sich in England die Form das westsächsischen Dialekts, die in den Schriftdenkmälern überliefert ist, offenbar weiter ausgebreitet, und sie besaß den Status einer Literatursprache. Jedenfalls gibt es Werke, die in anderen Gebieten Großbritanniens entstanden, aber westsächsisch geschrieben sind and viele Formen dieses Dialekts neben einigen lokalen Merkmalen enthalten. Außerdem kann man begründeterweise annehmen, daß die überlieferte Sprache des westsächsischen Schrifttums nicht mit der Alltagssprache des Dialektgebiets übereinstimmte. Jedenfalls besitzt beim Niedergang der Schreibtradition die lokale Fortset13 zung des westsächsischen Dialekts (Saxon patois) eine Reihe von spezifischen Merkmalen. Verständlicherweise ist die Rekonstruktion von dialektalen Varianten einer Sprache, die mündlich gebraucht wurden und in den Schriftdenkmälern kaum vorkommen, sehr schwierig. Für die Geschichte der englischen Dialekte sind die Verhältnisse dadurch noch komplizierter, daß zwei Wellen außersprachlicher Einflüsse - das Nordische und das Normannische - die Wechselbeziehungen zwischen den nördlichen und südlichen Dialekten störten. Die schriftliche Variante des Altenglischen hätte trotz ihrer funktionalen Beschränktheit eine gewisse Rolle bei der Entstehung der modernen Literatursprache spielen können, hätte es nicht die längere Periode der Zweisprachigkeit nach der normannischen Eroberung gegeben und wäre die literarische Tradition in den altenglischen Zentren des Schrifttums nicht abgebrochen. Spezifische historische Umstände können dazu beitragen, daß eine alte dichterische Sprache, eine überlandschaftliche Koine, bei großer dialektaler Zersplitterung bewahrt wird, trotz des sich vergrößernden Abstands von der Alltagssprache. Als Bei-
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spiel kann die eigenartige Geschichte des Irischen dienen. Bekanntlich stammen irische Schriftdenkmäler in lateinischem Alphabet (nach den Denkmälern in Ogamschrift) aus dem 7. Jahrhundert. Diese Sprachform, die man Altirisch nennt, blieb ungefähr drei Jahrhunderte ziemlich einheitlich. Aus dieser Zeit sind sehr viele Denkmäler überliefert. Die sprachliche Vereinheitlichung wurde durch die gelehrte Tradition in den Klosterschulen gefördert. In der Folgezeit veränderte sich jedoch die sozial-ökonomische Basis der irischen Gesellschaft, nicht zuletzt spielten die vielfachen Überfälle der Skandinavier eine große Rolle. In der mittelirischen Zeit verstärkte sich die dialektale Differenzierung. Die Veränderungen von 900 - 1200, die in den Dialekten unterschiedlich sind, standen den alten Normen der Schreibsprache gegenüber, jedoch besaßen die gelehrten Schriftkundigen nicht genügend Autorität zu deren Bewahrung, wie D. 14 Greene zeigt. Der Grund liegt darin, daß diese Sprachform, die im wesentlichen auf die schriftliche Fixierung der irischen Sprache zurückgeht, die von Missionaren bei der Christianisierung Irlands vorgenommen wurde, eine ziemlich begrenzte soziale Funktion besaß und sich in der altirischen Periode hauptsächlich durch das Bildungssystem in den Klosterschulen hielt. Folkloreliteratur wurde nur mündlich weitergegeben. Seit dem Ende des 12. Jahrhunderts begann sich ein anderer Typ einer überregionalen Koine herauszubilden - die Sprache15der heroischen Dichtungen, die von vielen Generationen von Barden kultiviert wurde. Diese Dichtungen, die für die feudale Aristokratie geschaffen wurden, besaßen eine volkstümliche Basis, indem sie auf alten legendären Überlieferungen fußten, und erfreuten sich ungewöhnlicher Beliebtheit. Die Sprache der irischen "Sagas", wie diese Dichtungen genannt wurden, ist zwar besonders in ihren poetischen Einschüben voll von komplizierten Metaphern und für diese Gattung spezifischen Redewendungen und Formeln; ihre Stabilität (als Periode der klassischen oder frühneuirischen Sprache rechnet man die Zeit von 1200 bis 1650) erklärt sich aber dadurch, daß bei der dialektalen Zersplitterung der einzelnen Gebiete, die sich durch die schicksalhaften Umstände verstärkte - durch Bruderkriege, Invasionen, die mit der grausamen englischen Kolonisation endeten - der Fundus des geistigen und kulturellen Erbes in der sehr reichen und künstlerisch hervorragenden Literatur bewahrt 16 blieb. Unter den schwierigen Bedingungen der kolonialen Versklavung, bei der aufgezwungenen Aufpfropfung des Englischen und der fehlenden Bildung in der Muttersprache konnte sich die irische Sprache nicht entwickeln, und die Dialekte der einzelnen Gebiete - Munster, Connaught und Ulster - bestanden selbständig und nicht als regionale Substandards weiter. Bis vor kurzem wurden Lehrbücher für die ersten Schulklassen in diesen drei Dialekten gedruckt, aber als im Zusammenhang mit der nationalen Wiedergeburt Irlands die Frage einer literatursprachlichen Norm erörtert wurde, wählte man den westmunsters chen Dialekt als ihre Grundlage. Trotz der Sprachreform von
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1951, die vorwiegend die Orthographie betraf, ist es bis heute nicht gelungen, die Literatursprache völlig zu normieren. Wie wir schon oben gezeigt haben, vinterscheidet sich die Diglossie der alten Periode bei eng begrenzten Funktionen der Literatursprache wesentlich von den Typen der Diglossie zu der Zeit, in der es eine nationale Literatursprache gibt, die als universelles Kommunikationsmittel benutzt wird und auch in die Sphäre der gesprochenen Sprache eindringt. Die Nationalsprache - ein komplizierter und dynamischer Begriff - befindet sich in ständiger Entwicklung und erfaßt alle Prozesse von Sprachveränderungen eines Volkes. Der gemeinsame, einheitliche Entwicklungsweg der Dialekte einer Sprache kann durch eine Reihe von Faktoren gestört werden. Die Ursachen sind meist außersprachlich, doch stimulieren sie die inneren Tendenzen der Sprachdivergenz. So fördert eine längere feudale Zersplitterung eines Landes die Abgrenzung und Stabilität der Dialekte, wie man an den deutschen Dialekten sehen kann. Lokale Varianten der Gemeinsprache können sich bei Zweisprachigkeit entwickeln, wenn eine andere Sprache als Amtssprache dient und die Dialekte der Muttersprache innerhalb ihrer territorialen Grenzen als funktional gleichberechtigt erscheinen. Die von Anglisten mehrfach hervorgehobene "Belebung" der Dialekte in der mittelenglischen Zeit hängt zweifellos mit der englisch-französischen Zweisprachigkeit zusammen, bei der das Französische längere Zeit Amtssprache war, während die Dialekte innerhalb ihres Verbreitungsgebietes fungierten. Die in diesen Dialekten verfaßte Literatur besaß lediglich lokale Bedeutung. Die Zersplitterung der Dialekte war so groß, daß der Autor des "Cursor Mundi", das zu Beginn des 14. Jahrhunderts in nördlichem Dialekt verfaßt wurde, bemerkt, daß er eine Überlieferung der Heilsgeschichte, die sich im südlichen Dialekt erhalten hat, in den nördlichen Dialekt überträgt, weil "die Leute des Nordens keine andere englische Sprache kennen". Gleichzeitig enthält dieses Werk die gegen das Französische gerichtete Feststellung, daß es sich für Engländer gezieme, die englische Sprache zu kennen und zu gebrauchen. In gewissem Maße konnte auch das Entstehen einer literatursprachlichen Norm der Nationalsprache auf der Grundlage eines Dialekts die funktionale Ungleichheit der t e r r i torialen Dialekte und deren Zersplitterung fördern. Das konnte jedoch nur in den ersten Etappen der Herausbildung der nationalen Literatursprache geschehen, denn in der Folgezeit wurden die Elemente der Literatursprache nicht so aufgefaßt, als ob sie einem territorialen Dialekt zuzurechnen seien, wie oben gezeigt wurde, sondern sie erhielten einen überlandschaftlichen Status. Außerdem war es bei der Entstehung nationaler Literatursprachen weitaus üblicher, daß eine dialektal gemischte Basis zugrundelag. Der gemeinsame Entwicklungsweg der Dialekte einer Sprache wurde häufig durch äußere Einwirkungen auf einen Teil der Dialekte gestört, d. h. durch den Einfluß einer
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anderen Sprache. Wenn die Dialekte an andere Sprachen grenzten oder eine Fremdsprache intensiv auf einen Dialekt einwirkte, verstärkte sich die divergierende Entwicklung der Dialekte. Prozesse der Mischung und der wechselseitigen Beeinflussung von Sprachen, die eine große Rolle in der Sprachentwicklung spielten, müssen auch bei den Dialekten jeder Sprache in Betracht gezogen werden. Die Verbreitung der Sprachen und ihrer Dialekte hängt direkt mit dem historischen Schicksal des betreffenden Gebietes zusammen. Für Gebiete, in denen mehrere Sprachen aufeinandertrafen, vermag die historische Analyse der Bedingungen, die zur wechselseitigen Beeinflussung dieser Sprachen führten, die Art und Intensität der synchronen und diachronen Bindungen zwischen den Sprachen festzustellen. Bei der Analyse der sprachlichen Situation Österreichs im 19. Jahrhundert stellte F. Engels in den Gebieten östlich von Böhmen und Kärnten bis zum Schwarzen Meer eine "Sprachverwirrung" fest. Indem er zeigte, daß die Sprache "von Dorf zu Dorf, beinahe von Pachthof zu Pachthof, variiert", verband Engels die Verschiedenheit der slawischen Dialekte dieses Gebietes mit vielfältigen 18 Siedlungsbewegungen verschiedener Völker. Bekanntlich hängen die konkreten Ergebnisse von Sprachkontakten von vielen sehr unterschiedlichen Faktoren ab, zu denen sprachliche Fakten (genetische und typologische Charakteristika der Kontaktsprachen), außersprachliche Erscheinungen (der Grad der sozialökonomischen und kulturellen Entwicklung der Völker) und Umstände wie Krieg, Handel, Kolonisation oder Umsiedlung gehören. Ein sehr wesentliches Moment unter diesen Faktoren ist der Entwicklungsgrad einer Sprache, d. h. ein normierter literatursprachlicher Standard und die von ihm erfaßten unterschiedlichen Kommumkationssphären. Natürlich sind entstehende Nationalsprachen auch Einflüssen fremder Sprachen ausgesetzt. Jedoch beschränkt sich ein solcher Einfluß gewöhnlich auf lexikalische Entlehnungen. In der vornationalen Periode können Sprachkontakte und die unterschiedliche sprachliche Umgebung zu wesentlichen Veränderungen in den territorialen Dialekten einer Sprache führen. Zweifellos spielte beim Gegensatz zwischen den nord- und südenglischen Dialekten der Einfluß der Sprache der skandinavischen Eroberer eine Rolle, der in den nordöstlichen Gebieten Großbritanniens im 9. - 11. Jahrhundert intensiv zutagetrat und sich in Lexik, Phonetik und Grammatik auswirkte. In einem modernen Dialekt können sehr alte Prozesse dieser Art zum Vorschein kommen. A. Mcintosh schreibt: "The stages by which the present linguistic situation in Scotland has been reached are quite complicated, for the linguistic position a thousand years ago was extremely involved. At that time, Scotland was inhabited by a number of different peoples, including Britons, Picts, Scots, Angles and Norsemen, and at least five different languages must have been in use then in one part of the country or another. It is difficult to judge how much may be learnt about this early period from a study of the modern Scots and Gaelic
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dialects, but since the present Situation has grown out of the very different State of affairs obtaining at that time, the facts abready known about this earlier period, and indeed all intervening periods, must clearly be taken into account in making a linguistic h 19 survey". Divergenz von Dialekten kann dadurch entstehen, daß ihr Verbreitungsgebiet, das ursprünglich eine politische und wirtschaftliche Einheit bildete, aufgeteilt wird. Als Gipfelpunkt dieses Prozesses wäre die Abgrenzung der Dialekte bis zur Bildung von verwandten Sprachen auf ihrer Grundlage zu bezeichnen. Das letztere hängt nur teilweise von sprachlichen Prozessen ab, wie wir gezeigt haben, und ist eng mit außersprachlichen Faktoren verbunden. Häufiger kann man in der Sprachgeschichte Divergenz von Dialekten beobachten, die durch das Streben einzelner Dialekte zu einem Dialektzentrum entstanden ist. Es sind zwei miteinander verbundene und gleichzeitig einander widerstrebende Erscheinungen festzustellen: einerseits erfolgt eine Konzentration der Dialekte und die Bildung größerer Dialektzonen, andererseits zerfallen die Dialekte in solche Zonen. All das hängt verständlicherweise mit politisch-ökonomischen Prozessen zusammen. Am Schicksal der Dialekte Northumberlands, die einfach und klar in dem Buch 20 von , läßt
W.W. Skeat beschrieben sind, das seine Bedeutung bis heute nicht verloren hat
sich das gut darstellen. Im Altenglischen und frühen Mittelenglischen war das Nordhumbrische, das auf dem Stammesdialekt der Angeln beruhte, ziemlich einheitlich, obwohl es zwei Varianten gab. W. Skeat meint, daß die erhaltenen Schriftdenkmäler aus dem Gebiet nördlich des Humber bis Aberdeen bis 1400 denselben Dialekt aufweisen. Im weiteren tendieren jedoch die nördlichen Mundarten, die innerhalb der politischen Grenzen Schottlands bei dessen politischer Abgrenzung blieben, zur Bildung einer Literatursprache auf ihrer Grundlage, während die Mundarten südlich des Tweed immer mehr in den Einflußbereich des Midlanddialekts geraten, auf dessen Basis die nationale Literatursprache Englands entstand. Der nördliche (nordhumbrische) Dialekt, den die Untertanen des schottischen Königs sprechen, bewahrt seinen literatursprachlichen Status im 15. Jahrhundert, während sich im englischen Gebiet der Midianddialekt durchsetzt. Wie an diesem Beispiel zu sehen ist, zerbricht ein einheitlicher Dialekt, doch hängt die Tiefe des Bruchs (neben politischen Ursachen) davon ab, ob es eine literatursprachliche Norm gibt, in unserem Falle das Englische, das einen weiten Anwendungsbereich besaß und lokale Varianten unterdrückte. Natürlich können "Übergangszonen" dialektaler Merkmale nicht nur zwischen territorialen Dialekten einer Sprache beobachtet werden, sondern auch zwischen Dialekten zweier benachbarter, nahe.verwandter Sprachen (z.B. Dialekte an der schwedisch-norwegischen Grenze). Zuweilen entstehen solche Zonen durch Vermischung von Grenzmundarten, aber oft dienen sie als Zeichen dafür, daß in der Vergangenheit ein einheit-
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liches Dialektgebiet zerfallen ist und sich seine Teile unterschiedlich entwickelt haben. Wenn sich keine literatur sprachlich normierten Sprachen gegenüberstehen, ergeben sich aus solchen "Übergangszonen" auch "verwischte" Grenzen. So begünstigt zum Beispiel der Umstand, daß es bis heute keine festgesetzte Norm des Gälischen (der keltischen Sprache Schottlands) gibt, die Bewahrung der "Übergangszone" zwischen dem Gälischen und irischen Dialekten, obwohl sie politisch zu unterschiedlichen Staaten gehören. Bekanntlich ist das Gälische in historischer Sicht die Sprache der irischen Siedler, die im 6. Jahrhundert nach Schottland (und auf die Insel Man) kamen. Während das klassische Irisch (1200 - 1650) auch die keltischen Mundarten Schottlands beeinflußte, begannen sich nach dem Verlust der Unabhängigkeit Irlands (17. Jahrhundert) das Gälische und der Dialekt der Insel Man eigenständig weiterzuentwickeln, sie wurden auch seinerzeit erstmals schriftlich aufgezeichnet.
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Zudem verhinderte die dialektale Zersplitte-
rung des Gälischen in der Gebirgslandschaft und seine langwährende Stellung als Sprache einer nationalen Minderheit die literatursprachliche Vereinheitlichung, deshalb bleibt die "Übergangszone" erhalten, und da sich die literatursprachliche Norm der Republik Irland am Dialekt von Westmunster orientiert, der am weitesten vom Gälischen entfernt ist, besteht hier eine klare Konfrontation. Bei Dialektdivergenz kann es sogar Substandards regionalen Typs geben, wenn eine anerkannte Literatursprache mit breiten sozialen Funktionen vorhanden ist. Nachdem Schottland die politische Unabhängigkeit verloren hatte und der englischen Krone unterstellt wurde (1707), verstärkte sich natürlich der Einfluß des Londoner Englisch. Zwischen der schottischen und der eigentlich englischen Variante des modernen Englischen gibt es einige phonetische und große lexikalische Unterschiede. Jedoch verstärkt sich der vereinheitlichende Einfluß der englischen Literatursprache, besonders in der Aussprache, so daß manche von einer "schottischen Sprache" sprechen. Außerdem äußert sich das in lokalen Varianten.
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Hier ist wiederum Diglossie mit der Abgrenzung der
sozialen Funktionen von normierter Literatursprache und Mundarten zu beobachten. Ein wesentliches Moment für die Erhaltung des literatursprachlichen Substandards ist der Lokalpatriotismus, der stets eine archaisierende Sprache verficht. Verfasser populärer Schriften, in denen die Vorzüge der schottischen Variante gepriesen werden, argumentieren gewöhnlich, daß das Schottische nicht in dem Maße durch Lehnwörter verdorben sei wie das Londoner Englisch, daß es mehr echt mittelenglische 23 Formen und Wörter bewahrt habe, daß seine Aussprache ausdrucksvoller sei usw. Die Verbindung von lokalen Varianten und sozialen Dialekten einer Sprache ist unter den neuen Verhältnissen differenziert zu betrachten, je nachdem, ob d.e literatursprachliche Norm eines Nationalstaates und die gattungs- und stilbedingten Varianten der Literatursprache, die archaische Formen und dialektale Elemente in der Alltagssprache bewahren, mehr oder weniger stabil sind.
Wechselbeziehungen zwischen territorialen Dialekten
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Anmerkungen 1 F. P. Filin, O nekotorych filosofskich voprosach jazykoznanija (Zu einigen philosophischen Fragen der Sprachwissenschaft), in: Leninizm i teoretiÜeskie problemy jazykoznanija, Moskva 1970, S. 16. 2 F. Engels, Der fränkische Dialekt, in: Marx-Engels, Werke, Bd. 19, S. 499. 3 Ausführlicher siehe: V. N. Jarceva, O territorial'noj osnove social'nych dialektov (Zur territorialen Basis sozialer Dialekte), in: Norma i social'naja differenciacija jazyka, Moskva 1969. 4 V.M. Belkin, Problemy literaturnogo jazyka i dialekta v arabskich stranach (Das Problem von Literatursprache und Dialekt in den arabischen Ländern), in: Trudy Instituta jazykoznanija AN SSSR, Bd. X, Moskva 1960; A. F. Sultanov, Problemy formirovanija nacional'nogo jazyka v Egipte (Probleme der Entstehung einer Natj onalsprache in Ägypten), in: Voprosy jazykoznanija Nr. 6, 1955. 5V.V. Vinogradov, Problemy literaturnych jazykov i zakonomernostej ich obrazovanija i razvitija (Probleme von Literatursprachen und der Gesetzmäßigkeiten ihrer Bildung und Entwicklung), Moskva 1967, S. 63. 6 A. V. Desnickaja, Naddialektnye formy ustnoj reci i ich rol' v istorii jazyka (Überdialektale Formen der gesprochenen Sprache und ihre Rolle in der Sprachgeschichte), Leningrad 1970, S. 17. 7 A . V . Desnickaja (a.a.O., S. 5-9) beschreibt die Haupttypen mündlicher Koines. 8 F. Engels, Savqyen, Nizza und der Rhein, in: Marx-Engels, Werke, Bd. 13, S. 595 f. 9 G. L. Brook, English dialects, 2. Aufl., London 1965, S. 40. 10 Ebenda, S. 42. 11 Die altgermanischen Sprachen werden teils als Dialekte, teils als Sprachen bezeichnet, was sich wohl durch die Schwierigkeiten erklären läßt, mehr oder weniger gewichtige Unterscheidungsmerkmale zu finden. Wenn man sie auf eine gemeinsame urgermanische Sprache zurückführt, dann muß man das Altsächsische, Althochdeutsche, Altnordische oder Angelsächsische als "altgermanische Dialekte" betrachten. Während man jedoch für die Zeit der Völkerwanderung von Stammesdialekten der alten Germanen sprechen kann, so muß man in der Periode der Staatenbildung beim Übergang der Germanen zur Seßhaftigkeit, bei der Auflösung der gentilen Verhältnisse und der Mischung einzelner Stämme sowohl Strukturmerkmale wie außersprachliche Faktoren berücksichtigen, wenn man die territorialen Dialekte einer Sprache bestimmen will. 12 V. N. Jarceva, KoliEestvennye i kaSestvennye izmenenija v jazyke (Quantitative und qualitative Veränderungen in der Sprache), in: Leninizm i teoreticeskie problemy jazykoznanija, Moskva 1970, S. 79. 13 H.C. Wyld, A Short history of English, London 1963, S. 24. 14 D. Greene, The Irish language, Dublin 1966, S. 12. 15 A.A. Smirnov, Drevnyj irlandskij epos (Das altirische Epos), in: Irlandskie sagi, Academia, 1929, S. 18 f. - Smirnov stellt fest, daß die dichterische Tradition in Irland außerordentlich stabil war: "Die Bardenschulen, die gleich zu Beginn der christlichen Zeit entstanden, existierten bis ins 17. Jahrhundert. Sie wurden auf Staatskosten unterhalten, und in ihnen wurde manchmal bis zu einem Drittel der gesamten Bevölkerung Irlands unterrichtet. Die Barden wurden in acht Klassen gegliedert, je nach dem Grad ihrer Meisterschaft und dem Umfang ihrer Kenntnisse in der Kunst des Dichtens, der Musik usw. " (a. a. O., S. 45). Diese Kultivierung der
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W. N. Jarzewa künstlerischen Sprache nach alten Vorbildern sollte dazu beitragen, die alte überlandschaftliche Koine zu bewahren, von der oben die Rede war, aber gleichzeitig wurde deshalb der Abstand zwischen ihr und den sich entwickelnden Alltagssprachen größer.
16 Welche Bedeutung im nationalen Kampf die irische Folkloreliteratur besaß, kann man daraus schließen, daß ein von Eduard HI., seinerzeit Vizekönig von Irland, einberufenes Parlament 1367 ein Statut verabschiedete, in dem es einen speziellen Punkt gab, nach dem die Gewährung von Unterschlupf für irische fahrende Sänger, Dichter und Erzähler oder ihre Begünstigung in irgendeiner Form als schwer zu ahndendes Verbrechen angesehen wurde (vgl. T. A. Jackson, Ireland her own. An outline history of the Irish struggle for national freedom and independence, Berlin 1970). 17 Cursor Mundi. Early English Text Society, n, 20, 081-64. Prologue, n , 232-40, 1874-75, 5 vols L. 18 F. Engels, Deutschland und der Panslawismus, in: Marx-Engels, Werke, Bd. 11, S. 196. 19 A. Mcintosh, Introduction to a survey of Scottish dialects, Edinburgh 1961, S. 20. 20 W.W. Skeat, English dialects from the eighth century to the present day, Cambridge 1912, S. 32, 36 f . , 42. 21 D. Greene, a . a . O . , S. 12-14. 22 A. Mcintosh, a . a . O . , S.31. 23 Ch. Mackay, A dictionary of Lowland Scotch, London 1888. In der Einleitung zum Wörterbuch schreibt der Verfasser: "The Lowland Scottish language is not a mere dialect, as many English people believe; but a true language, differing sometimes from modern English in pronunciation, and more frequently in the possession of many beautiful words, which have ceased to be English, and in the use of inflexions unknown to literary and spoken English since the days of the author of Piers Ploughman and Chaucer. In fact, Scotch is for the most part old English", (s. VII).
W.N. Jarzewa ZUR VERÄNDERUNG DER DIALEKTALEN BASIS DER ENGLISCHEN NATIONALEN LITERATURSPRACHE
Eine Nationalsprache ist eine historische Kategorie, die sich im Prozeß der Entstehung der Nation auf der Grundlage dieser oder jener Territorialdialekte herausbildet. Die Entwicklung der englischen Sprache in der Periode des Werdens der englischen Nation weist einige spezifische Züge auf, die sich aus den Besonderheiten der in England zwischen dem 11. und 14. Jahrhundert entstandenen historischen Lage ergeben. Die Herausbildung der nationalen Literatursprache erfolgt auf der Grundlage des Londoner Dialekts. Dieser ist anfangs ein eigenartiger territorialer Mischdialekt mit verschiedenen dialektalen Zügen unterschiedlicher Herkunft. Es ist auch zu berücksichtigen, daß man im Prozeß der Herausbildung der Nationalsprache auf der Grundlage des Englischen und bei der Verwendung seiner literatursprachlich bearbeiteten Form als Norm für ganz England nicht nur die für das mittelalterliche England typische dialektale Zersplitterung überwinden, sondern auch gegen die Herrschaft des Französischen kämpfen mußte. In der Tat hatte sich infolge der Eroberung Englands durch die Normannen im 11. Jahrhundert die Herrschaft des Französischen als Staatssprache herausgebildet, die in offiziellen Bereichen (Gerichtswesen, Parlament, Schule) und auch in der schöngeistigen Literatur in breitem Maße verwendet wurde. Diese Herrschaft des Französischen als Sprache des schriftlichen und mündlichen Verkehrs trug dazu bei, daß die starke dialektale Zersplitterung des Englischen in der sog. mittelenglischen Periode erhalten blieb. Die Territorialdialekte in der altenglischen Periode setzten nicht die Stammesdialekte der sich im 5. Jahrhundert in Großbritannien ansiedelnden Germanen mechanisch fort, obwohl sie auch auf ihrer Grundlage entstanden waren. Ein Beweis für die selbständige Entwicklung der Territorialdialekte in England ist die bekannte Tatsache, daß sich der Dialekt von Mercia vom northumbrischen Dialekt absonderte, obwohl sie zugleich viele gemeinsame Züge aufweisen, da sie sich beide aus dem Stammesdialekt der Angeln entwickelt haben. In der mittelenglischen Periode erfolgt eine gewisse "Verschiebung" zwischen den Dialekten, bei der die historische Entwicklung eines jeden Territorialdialektes des alten England von den Spezifischen, für das jeweilige Gebiet charakteristischen historischen Bedingungen bestimmt wird. Die wesentlichste ist der sich verstärkende Un-
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terschied zwischen den südlichen und nördlichen Dialekten, wobei das Gebiet der gleichsam als Brücke dienenden zentralen Dialekte sich heraushebt, welche die äußeren Punkte verbindet. Dabei neigen die Dialekte des ostzentralen Gebietes ihren sprachlichen Zügen nach mehr zum nördlichen Dialekt, während den westzentralen Dialekten viele Merkmale eigen sind, die auch in den südlichen Dialekten begegnen. Eine der Voraussetzungen, welche die Entfremdung zwischen dem Norden und Süden bestimmten, waren die mit der Eroberung Englands durch die Skandinavier verbundenen Veränderungen, Der historische Rahmen, innerhalb dessen das Altenglische und skandinavische Sprachen - bedingt durch das historische Schicksal der diese Sprachen sprechenden Völker - aufeinandertrafen, ist gut bekannt. Seit 787 begannen die Überfälle der Skandinavier auf England, die anfangs den Charakter von kleinen kriegerischen Streifzügen hatten. In der Folgezeit verstärkte sich der Druck der Skandinavier. Der Krieg zwischen den Engländern und Skandinaviern dauert mit wechselndem Erfolg für die eine oder andere Seite an, und in den von den Skandinaviern eroberten nördlichen and nordöstlichen Gebieten Englands beginnen das Englische und skandinavische Sprachen nebeneinander zu existieren, wodurch im Kommunikationsprozeß einer verschiedensprachigen Bevölkerung die Bedingungen für den Einfluß der skandinavischen Sprachen auf das Englische geschaffen werden. Somit begannen die wechselseitigen Beziehungen zwischen dem Englischen und den skandinavischen Sprachen am frühesten im Norden und Nordosten Englands, obgleich der skandinavische Einfluß im Zusammenhang mit den politischen und militärischen Erfolgen der Skandinavier, die schließlich (1014) ganz England erobert hatten, die ganze Zeit über nach Süden vordringt. Von 1014 bis 1042 beherrschten dänische Könige den englischen Thron, jedoch wird die Dauerhaftigkeit und Tiefe des skandinavischen Einflusses auf die englische Sprache nicht daran gemessen, daß der englische Königsthron ein paar Jahrzehnte beherrscht wurde, sondern an jener jahrhundertelangen Sprachkreuzung, welche im Norden Englands seit dem 9. Jahrhundert vor sich ging. Die in der mittelenglischen Periode seit Anfang des 13. Jahrhunderts in London entstandenen Urkunden enthalten Züge, welche die Sprache Londons von anderen dialektalen (UnterGruppierungen etwas unterscheiden. Auf einem Dialektgebiet einschließlich Londons gibt es nach Wyld zwei unterschiedliche Dialekttypen: 1. den Stadtdialekt (das, was Wyld /city type/ nennt), der mit dem Dialekt von Essex zusammenfällt; 2. den zentralsüdlichen Typ, d. h. den Dialekt von Middlesex. Im Laufe der Zeit verliert der Londoner Dialekt einige seiner am deutlichsten ausgeprägten südlichen Züge und nähert sich dem Dialekt von Middlesex an. Somit kann man feststellen, daß im Vei-lauf der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts und ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts aus der Sprache Londons südliche Dialektzüge verdrängt und
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durch ostzentrale ersetzt wurden. Da die nationale englische Literatursprache sich gerade auf der Grundlage des Londoner Dialektes herausbildet, ergibt es sich, daß die dialektale Basis dieser Sprache eine gewisse Verschiebung erfährt. Die Verschiebung der dialektalen Basis zu jener Form der englischen Sprache, welche im Laufe der Zeit zur literatursprachlichen Norm wird, fällt aber, wenngleich sie auch sehr allmählich erfolgt, in die frühe Etappe der Bildung der Nationalsprache. Daraus folgt natürlich nicht, daß in der Sprache Londons der Kampf zwischen den ihrer Herkunft nach unterschiedlichen dialektalen Elementen aufhört, eher könnte man sagen, daß er sich verstärkt, aber die konkurrierenden phonetischen und grammatischen F o r men werden anders verstanden und bewertet. Die Begriffe "eigener" und "fremder" Dialekt werden ersetzt durch "alter" und "neuer". Da man bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts im Londoner Dialekt überwiegend südliche Dialektformen beobachtete, die im Verlauf der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts und besonders im 14. Jahrhundert durch ostzentrale Elemente allmählich verdrängt werden, faßte man zum Zeitpunkt, als der Londoner Dialekt zur Grundlage der englischen Literatursprache aufrückte, die v e r drängten südlichen Formen als veraltet auf; sie wurden zu eigentümlichen Archaismen. Das bedingt, wie wir noch sehen werden, im weiteren die Möglichkeit, sie stilistisch zu verwenden. Man muß dabei berücksichtigen, daß die in der geschichtlichen Entwicklung des Londoner Dialektes sowohl zum südlichen Dialekt gehörenden Formen als "alte" als auch die mit immer größerer Intensität aus dem ostzentralen Dialekt kommenden Formen als "neue" empfunden werden, was mit der veränderten Stellung des Londoner Dialektes selbst unter den anderen territorialen Dialekten zusammenhängt. In der Periode, als der Londoner Dialekt einer von vielen gleichberechtigten Territorialdialekten des mittelalterlichen England war, wurden die Züge, die ihn mit diesem oder jenem Nachbardialekt verbanden, in gleicher Weise verstanden, wie die zwischen beliebigen anderen örtlichen Dialekten auch. Doch seit der Zeit, als der Londoner Dialekt in der Geschäfts-, Staats - und literarischen Praxis ganz Englands vorrangig verwendet wird (mit Ausnahme natürlich der schottischen Gebiete), wird die Gleichberechtigung der Dialekte gestört, und die Sprache Londons und seiner Umgebung erweist sich gegenüber allen anderen als Quelle einer gewissen Norm, wobei man die lokalen Besonderheiten der anderen Dialekte an einer feststehenden Größe - der Sprache Londons • - zu messen beginnt. Obgleich der Begriff der literatursprachlichen Norm selbst und die mit ihr verbundene Vorstellung von diesen oder jenen sprachlichen Formen als "richtige" oder "falsche" viel später aufkommt, kann man behaupten, daß objektiv schon seit Ende des 14. Jahrhunderts die Sprache Londons anderen Dialekten als Sprache des führenden ökonomischen,, politischen und kulturellen Zentrums gegenübersteht. Diese sich herausbildende "Ungleichheit" zwischen dem Londoner Dialekt und allen anderen Dialekten
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Englands einerseits und die historischen Veränderungen des Londoner Dialektes andererseits führen zu jenem "chronologischen" Verständnis, von dem oben die Rede war, als die in der Sprache Londons existierenden unterschiedlichen Dialektmerkmale vom Standpunkt ihrer Stabilität, ihrer Verbreitung (d. h. ihrer Frequenz) usw. miteinander verglichen wurden, nicht aber hinsichtlich ihrer Identität mit sprachlichen Erscheinungen der Territorialdialekte, die sich gleichsam auf einer anderen Ebene befinden. Gleichzeitig muß man daran erinnern, daß die verschiedenen Ebenen der Sprache die lautliche, grammatische und lexikalische - sich im Prozeß der dialektalen Umorientierung der Sprache Londons unterschiedlich verhalten. Bekanntlich zeigen sich dialektale Unterschiede am deutlichsten in der Phonetik. Deshalb sind im Londoner Dialekt der frühen (12. Jahrhundert bis 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts) und der späten (2. Hälf.te des 13. Jahrhunderts bis 14. Jahrhundert) Periode die Verhältnisse zwischen den für die südlichen und ostzentralen Dialekte charakteristischen Lauttypen für die dialektale Umorientierung der Sprache Londons besonders kennzeichnend. Wie verläuft dieser Prozeß und zu welchen Ergebnissen führt e r ? Vom Standpunkt der nachfolgenden Geschichte der Londoner Sprache, die mit der Geschichte der englischen Literatursprache zusammenfällt, können auf dem Gebiet der phonetischen Substitutionen zwei Arten beobachtet werden. Die erste, in der der "alte" (d.h. der historisch südliche) Typ teilweise verdrängt werden kann und in der die Lautgestalt der meisten Wörter im modernen Englischen die Londoner Aussprache des 13. Jahrhunderts fortsetzt. Die zweite, in der die "alten" südlichen, in der Londoner Sprache des 13. Jahrhunderts begegnenden Züge in einzelnen Fällen erhalten bleiben und der vorhandene literatursprachliche Aussprachetyp, der sich von Anfang an mehr auf den ostzentralen Dialekt orientiert hatte, auch jene in Londoner Denkmälern vorkommenden Wörter mit einer für die südlichen Dialekte typischen Aussprache erfaßt. Bevor wir jedoch zu einer detaillierten Betrachtung von Beispielen für jede der beiden oben angeführten Arten von Veränderungen übergehen, muß man hervorheben, daß es sich sowohl im ersten als auch im zweiten Fall um phonetische Substitutionen und nicht um phonetische Veränderungen handelt, wenn man den letzteren Terminus im eigentlichen Sinne versteht. Wenn wir von einer phonetischen Veränderung sprechen, so verstehen wir darunter, daß sich durch kleinste und allmähliche Veränderungen in der Artikulation eine neue Aussprache und ein neuer Laut bildet, der in einem gegebenen Wort anstelle des alten erscheint und aus diesem letzteren hervorgeht. Ein charakteristischer Zug von phonetischen Veränderungen besteht darin, daß von diesen der Wortschatz einer gegebenen Sprache vollständig erfaßt wird. Die Beobachtung dieser Erscheinung fand in der Wissenschaft schon seit langem ihren Niederschlag in dfer Formulierung der These von
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den sog. "Lautgesetzen". Bei phonetischen Substitutionen kann der Austausch eines Lautes durch einen anderen, der durch diese oder jene historischen Ursachen erfolgt, auch eine bedeutende Menge Wörter erfassen, und auch im Ergebnis eines Lautersatzes ergibt sich ein Wort mit einem anderen Lautstand, doch ist der Verlauf dieses Prozesses anders als bei phonetischen Veränderungen. Das Schicksal der Wörter mit dem altenglischen palatalen Anfangs Spiranten /£ / ist kennzeichnend für phonetische Substitutionen des ersten Typs, die dazu führen, daß der "alte" (resp. südliche) Aussprachetyp in der Londoner (resp. Literatur-)Sprache in beträchtlichem Maße, jedoch immer noch teilweise, verdrängt wird. Bekanntlich wird am Anfang eines Wortes vor allen'alten englischen Vokalen der vorderen Reihe (d.h. vor/3e,ät, e, i/) im Altenglischen gemeingermanisch /g/wie ein palataler Spirant ausgesprochen, der in seiner weiteren Entwicklung mit gemeingermanisch /j/ zusammenfällt. Im Altenglischen wird der stimmhafte velare Verschlußlaut mit /g/ bezeichnet, und für den palatalen Spiranten /j/ wird entweder die alte Schreibung / j / beibehalten oder /y/ geschrieben. Phonetisch setzt das moderne englische literatursprachliche Wort /yard/ 'Hof' aus mittelenglisch / j eard/ gesetzmäßig das altenglische /^eard/ fort. Nach diesem Gesetz kann das moderne literatursprachliche /give/ 'geben' nicht aus mittelenglisch /yeven, yiven/ altenglisch /jiefan/ erklärt werden, sondern ist offensichtlich ein Beitrag der nördlichen Dialekte, in denen unter dem Einfluß skandinavischer Wörter gleicher Etymologie am Anfang des Wortes der Verschlußlaut /g/ avisgesprochen wurde. In den meisten Wörtern mit dem altenglischen palatalen Anfangsspiranten führte die historische Entwicklung zu den modernen literatursprachlichen Formen mit /j/, z. B. mitte lengl. / l ierd/ earn/
'Yard' (Längenmaß)
alteng 1. erde, yerde/
modernes Engl. /yard/
'Erzählung', 'Garn'
/ l arn/
/yarn/ /yard/
/3 eard/ /jieldan/ / j iellan/
'Hof'
/ l eolu/ eonian/
'gelb'
/¿eorn/
'Wunsch'
/ l eard/ 'geben', 'bezahlen', 'abtreten' /£ elden/ ¡ 1 eilen/ 'schreien', 'brüllen'
/'yield/
/ l eolo/
/yell/ /yellow/ /yawn/
/ j eoren/
/yearn/
'gähnen' wünschen
In vielen der oben angeführten Wörter kommen jedoch in den Dialekten Nordenglands Formen mit dem stimmhaften Anfangsverschlußlaut/g/vor, z.B. /garth/'Hof', /gul/ 'gelb'. Diese Bialektismen sind damit zu erklären, daß sie einst aus den skandinavischen Sprachen entlehnt wurden (vgl. altisl. /garär/ 'Gehöft', /gulr/'gelb').
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Das Ergebnis eines analogen skandinavischen Einflusses in der modernen Literatursprache zeigte sich darin, daß es Wörter mit lautlichen Formen gibt, die nicht auf den altengl. Typ und den südlichen mittelengl. Typ zurückgehen. altengl. /¿iefan/
'geben'
/ 3 ift/
'Gabe'
südl. mittelengl. /yeven/
/jearwe/
/yift/ 'vergessen' /foryeten/ 'Gilde' /yild/ 'bereit' / 3 eare/
¡ 1 eat/
'Tor'
/jejn/
'gegen'
/for ietan/ ¡ 1 ield/
/ l eat/ / 3 ein/
mod. Engl. /give/
altisl. /gefa/
/goft/
/gipt/ /geta/ /gildi/
/forget/ /guild/ /gear (vera.)/ /gate/
/gervi/ /gatt/
/ (a)gain/
/gegn/
Schließlich kann man an die angeführten Fälle auch von einem anderen Standpunkt herangehen: d. h., man nimmt an, daß diese Wörter aus den skandinavischen Sprachen einfach über die Dialekte Nordenglands, von denen sie aufgenommen wurden, entlehnt wurden. Uns scheint jedoch, daß ein solches Herangehen an die oben angeführten Beispiele kaum gerechtfertigt ist. 1. waren in der mittelenglischen Periode alle einst entlehnten Wörter schon Bestandteil der Territorialdialekte Englands geworden, und jene Wörter, die etymologisch mit den althergebrachten englischen Wörtern identisch waren, wurden einfach als dialektale Dubletten verstanden. 2. kann man zu den phonetischen Substitutionen nicht nur solche rechnen, die den Wortschatz einer Sprache vollständig erfaßt haben, denn praktisch beobachten wir in einer Sprache bei einer Dialektmischung immer, daß einmal diese, einmal andere Dialektformen überwiegen. In diesem Fall ist zu sagen, daß die Verbreitung der Formen mit Anfangs - / g / , die die althergebrachten Formen mit / j / ersetzten, ein Merkmal des nördlichen Einflusses ist, wobei wir die o teilweise Verdrängung des alten Typs beobachten. Als Beispiel der zweiten Art, in der der alte dialektale Aussprachetyp sehr früh verdrängt wird und nur in einigen Wörtern erhalten bleibt, die zur Literatursprache gehören, kann der Ersatz des kurzen Diphthongs (/ea/ (vor /II, ld/ usw.) im Dialekt von Wessex dienen, der bei Kontraktion im südlichen Dialekt / e / ergab (mit Dehnung zu / e / ) . Dieser Diphthong wurde durch den vom Norden eingedrungenen englischen Typ / a / ersetzt (mit Dehnung von / ä > 5/). In einem Denkmal des südlichen Dialektes des letzten Viertels des 12. Jahrhunderts, der "History of Holy Rood Tree" begegnet 50mal / a l l / 'alle'. Letzteres konnte nur aus anglisch / a l l / hervorgehen, das wessexisches /eall/ (später /eil/) ersetzt hatte. In den ihrem Charakter nach an den südlichen Dialekt anschließenden Denkmälern des westzentralen Dialektes "The Passion of Our Lord" (um 1200) und "Sawles Warde" (um 1230) treffen wir die Formen /halde/ (altengl. wessex. /heald/), /balde, caldiche, halden/ an. In den "Instructions for Parish Priests"
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(um 1230) finden wir /öld, tölde, ihölde, cöld/, wo / ö / nur aus / ä / entstanden sein kann. In der "Proclamation" Heinrichs in. (1258) begegnet sowohl die alte wessexische Form /to healden/ als auch die anglische /to halden/. Wyld weist darauf hin, daß in "The proverbs of Alfred" (1246) auch die ihrer Herkunft nach anglischen Formen /cöld, holde, alre/ vorkommen, obwohl vereinzelt die wessexischen Formen/weide/ (1. Ps. Sg.) und/weidest/ (2. Ps. Sg.) vom Verb 'herrschen, regieren'
begegnen. Wyld kommt zu dem Schluß, daß "auf diese Weise
der echt südliche Typ früh (man könnte sogar sagen plötzlich) auf sächsischem Gebiet durch fremde Formen verdrängt wird, und zwar sowohl in Wörtern mit Dehnung wie z . B . /cöld/ (anstatt der natürlichen Entwicklung /che(a)ld/ aus wessexisch/ceald/, spätwessexisch /caeld/) als auch in Wörtern ohne Dehnung wie /all, half/ usw. Im Gebiet von London gab es ursprünglich zweifellos Brechnung vor / l / +Konsonant, und die Zeit, in der die Formen ohne Brechung den Vorrang gewinnen, kann für die verschiedenen Teile dieses Gebietes unterschiedlich sein. "
3
Eine ähnliche Verdrängung des frühen südlichen Typs kann man im Prozeß des ¥
Kampfes der Formen beobachten, die das altengl. / y / dialektal unterschiedlich widerspiegeln. Bekanntlich ergab / y / in den nördlichen und ostzentralen Dialekten durch frühe Delabialisierung / i / , im westzentralen und südlichen Dialekt erhielt es sich als / u / und im Dialekt von Kent und den an diesen sich anschließenden südöstlichen Dialekten wurde es in diesem Fall zu / e / . Auf diese Weise kann das moderne literatursprachliche / f i r e / 'Feuer' (altengl./fyr/) nur nördlicher oder ostzentraler Herkunft sein, weil im westzentralen und südlichen Dialekt dieses Wort die Form /fuir/ /fyr/, im Kentischen und im südöstlichen Dialekt die Form / f e r / hatte. Andererseits bewahrt modernes literatursprachliches /knell/ südöstliches (oder kentisches) mittelengl. /knellen/ (im Altengl. lautet dieses Wort im Wessexischen /cnyllan/). In der "Proclamation" Heinrichs HI. kommt /King/ (altengl. /cyning/) 'König' neben/Kuneriche/'Königreich' (/kune/ altengl. /cynn/'Geschlecht' vor. Nach Wyld fallen in London die frühen Straßennamen und andere Eigennamen (in der Periode von 1200 bis 1350) mit dem wessexischen Typ zusammen und haben ein charakteristisches / e / . Die Charta von Westminster hat in den meisten Fällen / i / , aber es begegnet auch /u/ wie z.B. /gebura}5, furmest, munstre/. Inden "Lambeth Homilies" (um 1200) überwiegt /u/, es kommen aber auch Formen mit / i / vor. Die Werke von Davy (ca. 1307-1327) haben nur Formen mit / i / . Die Delabialisierung des altengl. /y/, die in den nördlichen und ostzentralen Gebieten begann, breitet sich allmählich nach Süden aus. Was kentisches und südöstliches / e / angeht, so wird es aus dem Londoner Dialekt in dem Maße verdrängt, wie die frühen Londoner dialektalen Züge, die ihn mit dem Dialekt von Essex verbinden, den Platz an die ostzentralen Elemente abtreten. In den Werken Chaucers überwiegt / i / (manchmal als /y/ geschrieben), z.B. /Kyn/ (altengl.
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/cynn/) 'Geschlecht', /synne/ (altengl. /synne/) 'Sünde', /kynde/ (altengl. /kynd/) 'Geschlecht, Art', doch gibt es neben /yvele/ (altengl. /yfel/) auch kentisches (oder genauer frühlondonisches) /evil/. Neben dem in der modernen Literatursprache e r halten gebliebenen /builden/ (altengl. byldan/) 'bauen' kommt bei Chaucer auch die aus dem Neuenglischen verschwundene Form /put/ vor (altengl. /pytt/, heute /pit/). Wir haben es demnach hier mit einem sehr allmählichen Prozeß zu tun, in dem phonetische Züge des Londoner Dialektes der frühen Periode verdrängt werden. Im Laufe der Zeit siegen die Formen mit / i / vollständig, in einzelnen Fällen sind in der modernen Literatursprache als Reste Wörter erhalten geblieben, die auf Formen mit / u / zurückgehen (z. B. /build/ - altengl. /byldan/, /much/ - altengl. /mycel/, shut - altengl. /scyttan/, /thrush/ -altengl. / p r y s c e / , /sunder/ -altengl. /syndrian/) oder m i t / e / (z.B. /bury/ / b e r i / - altengl. /bryr^ean/, / m e r r y / - altengl. /myr e/, / l e f t / altengl. /lyft/) zurückgehen. Gerade bei phonetischen Substitutionen ist eine gewisse Möglichkeit charakteristisch, daß an alten Lauttypen in einzelnen Wörtern festgehalten wird, die trotzdem nicht aus dem phonetischen System der modernen Sprache herausfallen. 4 Auf morphologischem Gebiet ist die Dialektmischung und die Verdrängung der "alten" Dialektformen bei der dialektalen Umorientierung der sich formierenden Literatursprache mit den komplizierten Prozessen der Vereinheitlichung der Formen zum Ausdruck grammatischer Bedeutungen verbunden. Deshalb ist es nicht immer leicht, die Entwicklungstendenzen der Sprachstruktur, die allen Dialekten der gemeinenglischen Volkssprache gemeinsam sind und die nur in den einzelnen Dialekten mit unterschiedlicher Schnelligkeit realisiert werden, davon zu unterscheiden, was man als Dialektmischung definieren kann, d. h. als Eindringen von Formen aus einem Dialekt in den anderen. Man muß unterstreichen, daß man solche allgemeine Tendenzen auch in der Phonetik beobachten kann. Zweifellos ist die Tendenz zur Delabialisierung und vor allem der Delabialisierung von Vokalen der vorderen Reihe für die gesamte englische Sprache charakteristisch, obwohl sie sich in den Dialekten nicht gleichzeitig verbreitet. So ist die Delabialisierung von /oe > e / (des Ergebnisses des /i/-Umlautes von / o / ) im 9. - 10. Jahrhundert eine allgemeine Erscheinung, die Delabialisierung von /y > i / (des Ergebnisses des /i/-Umlautes von / u / aber greift gleichsam von den nördlichen Dialekten auf die südlichen über; während der nördliche Dialekt schon im frühen Mittelenglischen / s i n / 'Sünde', /hill/ 'Hügel', / f i r / 'Feuer' usw. hat (altengl. /synn, hyll, fyr/), sind im südlichen Dialekt bis zum 14. Jahrhundert die alten Formen /sun, hull, f ü r / erhalten. Im Prozeß der Veränderungen in der Struktur des Englischen der mittelenglischen Periode haben,allgemeine, das morphologische System verändernden Erscheinungen alle Dialekte erfaßt. Bei der Beschreibung der Veränderungen bei den Demonstrativ-
Veränderung der dialektalen Basis der engl. Literatursprache
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pronomina weist K. Brunner darauf hin, daß schon im Altenglischen das einfache Demonstrativpronomen (altengl. /se/ 'dieser', /seo/'diese', /fixt/ 'das') unter Abschwächung seiner hinweisenden Bedeutung als bestimmter Artikel vorkommt, wobei es sich dann in ein unbetontes Hilfswort verwandelt.
Analog zu Formen obliquer Kasus kann
man den Ersatz des Anfangs/-s/ für fp / schon in den späten northumbrischen Texten beobachten. Im Mittelenglischen erfolgt der Ausgleich der Lautgestalt des Demonstrativpronomens überall, und nur in den frühesten südlichen Denkmälern kommen F o r men mit /s/ neben solchen mit /p/ vor. Der unbetonte bestimmte Artikel geht schnell seiner Deklination verlustig: schon gegen Ende des 12. Jahrhunderts hat er fast überall nur die eine indeklinable Form / p e/ (PI. /pe/ oder / a/), und isolierte Reste anderer Formen (Dat./'Akk. Sg. Mask. / p an/ oder /p en/, Nom/Akk. Sg. Neutr. /pat/, Nom. /Akk. PI. / p ä/ oder / p ö/, Dat. PI. / p am, f> an/ oder / p en/) begegnen selten. Das Demonstrativpronomen bewahrt länger als der Artikel die Deklinationsformen, im ostzentralen Gebiet jedoch gehen sie schon Mitte des 12. - Anfang des 13. Jahrhunderts verloren, und im 14. Jahrhundert überall; im Ergebnis dessen stehen sich nur noch /pat/ als Sg. für alle Genera und / p ä / (in den südlichen Gebieten - / p p/) als PI. gegenüber. Somit kann man folgende Prozesse feststellen, die der englischen Sprache insgesamt gemeinsam sind: 1. Den Ersatz des Anfangskonsonanten bei den mask. und fem. Formen; 2. die Bildung des bestimmten Artikels, der sich der Form nach vom Demonstrativpronomen unterscheidet; 3. den Verlust der Kasusformen, der sich beim Artikel etwas früher und beim Demonstrativpronomen etwas später vollzieht. Diese Prozesse setzen sich in den verschiedenen Territorialdialekten mit unterschiedlichem Tempo durch; im Norden in der Regel schneller, im Süden langsamer, doch an der Existenz dieser, der gesamten englischen Sprache eigenen Tendenz kann kein Zweifel sein. Deshalb sollte man z, B. hier auch nicht davon sprechen, daß die indeklinable Form des Artikels aus dem Norden in den Süden vordrang. Ein Beispiel für die Verwirklichung der Tendenzen, die der gesamten englischen Sprache gemeinsam sind, können die sich im Deklinationssystem der mittelenglischen Periode vollziehenden Veränderungen sein, welche gleichfalls im Norden schneller und im Süden langsamer erfolgen. Das Ergebnis ist: 1. die Aufgabe der früheren Unterscheidung der Substantiva nach Deklinationstypen in Abhängigkeit von der Stammform; 2. der Schwund der alten Kasus und die Bildung eines 2-Kasussystems, das die moderne englische Sprache charakterisiert; 3. die Vereinheitlichung der Form zum Ausdruck des Plurals. In der Sprache' Chaucers hat das Substantiv die Formen: Nom., Dat., Akk. Sg. - /dorn/ 'Urteil'; Gen. Sg. - /domes/, PI. /domes/. Der allgemeine Gang der Veränderung der Deklination der Substantiva ist mehrfach beschrieben worden und braucht nicht wiederholt zu werden. Das in den verschiedenen
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W. N. Jarzewa
Dialekten festgestellte unterschiedliche Tempo der gemeinsamen Entwicklungstendenz zeigt sich vor allem im Verhältnis von Analogie- und historischen Formen wie auch im unterschiedlichen Grad ihrer Gebräuchlichkeit. Wenn sich jedoch die Unterschiede zwischen den Dialekten nur darauf reduzierten, dann erinnerte das an all das, was oben zur Geschichte des Demonstrativpronomens gesagt wurde, und unsere zweite Illustration wäre überflüssig. Ein wesentlicher Unterschied im zweiten Falle, (d. h. bei der Veränderung der Deklination) besteht darin, daß sich dialektale Unterschiede nicht nur im Tempo der Durchsetzung dieser einheitlichen Tendenz äußern, sondern auch in der Wahl der sich erhaltenden Formen. Im Norden Englands erfolgt die Vereinheitlichung der Formen zum Ausdruck des Plurals auf der Grundlage männlicher Substantiva mit einem /o/-Stamm, im Süden ist neben der obengenannten Deklination auch der Typ sehr stabil, zu dem früher auch Substantiva mit einem /n/-Stamm gehörten. Schon in der "Peterborough Chronicle" läßt sich eine Vermischung der alten Deklinationstypen des Substantivs sowie eine Verteilung der Substantiva im wesentlichen auf zwei Deklinationen beobachten: die starke (die auf den Deklinationstyp der /o/-Stämme zurückgeht) und die schwache (die auf den Deklinationstyp der /n/-Stämme zurückgeht). Z.B. Chronik
Altenglisch
Nom. PI. /scipan/
'Schiffe*
/mynstres/ 'Klöster'
/scipu/
(von/scip/
- Sub. N. /o/-Stamm)
. "
"
/mynster/ ( " /mynster/ - " N. /o/-Stamm)
""
"
/sunan/
'Söhne'
/suna/
( " /sunu/
-
" M. /u/-Stamm)
"
"
/wudas/
'Wälder'
/wuda/
( " /wudu/
-
" M. /u/-Stamm)
Im "Orrmulum" (ostzentraler Dialekt, 1200) ist der Deklinationszerfall des Substantivs sehr stark, wobei die starke Deklination deutlich überwiegt. So erhalten die früher zu den /a/-Stämmen gehörenden weiblichen Substantiva ihnen früher fremde Endungen im Genitiv Singular und im Plural. Das gleiche läßt sich für den Plural bei /n/-stämmigen sächlichen Substantiven beobachten, z. B. Orrmulum Gen.Sg. /säwless/ Akk.Pl. /gifess/
Altenglisch 'Seelen'
/sawle/
(von/säwol/-Sub. F. /¿/-Stamm)
'Gaben'
/gifa/
( " /gifu/ - "
F. /ä/-Stamm)
/wifess/
'Frauen'
/wlf/
( " /wlf/
- "
N. /o/-Stamm)
/täkness/
'Zeichen'
/täkn/
( " /täkn/ - "
N. /o/-Stamm)
Die Tendenz zum Übergang in die starke Deklination zeigen auch /n/-stämmige Substantive, z.B.
Veränderung der dialektalen Basis der engl. Literatursprache Orrmulum
79
Altenglisch
Gen. Sg. /huntess/
'des Jägers'
/huntan/ (von/hunta/-Sub. M. /n/-Stamm)
Nom. PI./witess/
'die Weisen'
/witan/
"
" / h e r r t e s s / 'Herzen'
"
M. /n/-Stamm)
/heortan/ ( " / h e o r t e / - "
( " /wita/ -
F. /n/-Stamm)
Natürlich sind daneben bei vielen Substantiven die historischen Formen des Plurals e r halten. 6 Während im ostzentralen Dialekt die starke Deklination im Prozeß der Vereinheitlichung der Formen des Substantivs eine vorrangige Rolle spielt, nimmt - nach dem Material der Denkmäler zu urteilen - die schwache Deklination in den südlichen Dialekten einen hervorragenden Platz ein; in diese Deklination werden zuweilen auch die Substantiva einbezogen, die früher zu einer vokalischen Deklination gehörten. Z. B. begegnen in der "Chronicle" des Robert von Gloucester und der an diesem Dialekt anschließenden "South English Legendary" folgende Formen des Nominativs Plural der Substantiva /applen/
'Äpfel'
(altengl. /pla/ von /äeppel/ -Sub.M. /u/-Stamm),
/doren/
'Türen'
(
"
/dura/ "
/duru/
-
"
F. /u/-Stamm),
/hondene/'Hände'
(
"
/honda/"
/hond/
-
"
F. /u/-Stamm),
/woundene/ 'Wunden' ( "
/wunda/"
/wund/
-
"
F. /ä/-Stamm).
Obwohl im Londoner Dialekt von alters her die Vereinheitlichung zugunsten der s t a r ken Deklination überwog, gibt es trotzdem eine gewisse Anzahl von Wörtern, die die Formen der schwachen Deklination bewahren oder annehmen. Sie werden allmählich von den Pluralformen auf / - s / verdrängt. In den Werken Davys, der im Londoner Dialekt schrieb, findet man /eren/
'Ohren'
/halewen/ 'Heilige'
(altengl. / e a r e n / v o n / e a r e /
-Sub. N. / n / -Stamm),
(
"
/hälgan/ " /hälga/ -
"
M. /n/-Stamm),
/henden/ 'Hände'
(
"
/honda/
"
F. /u/-Stamm),
/fon/
(vom substantivierten altengl. Adjektiv / f ä h / 'feindlich' /o/-Stamm).
'Feinde'
" /hond/ -
In den Werken Chaucers kommen noch Formen des schwachen Plurals vor - historische lind Analogieformen (/yen/ 'Augen', /fleen/ 'Flöhe', /been/ 'Bienen', /shoon/ 'Schuhe', /oxen/ 'Ochsen', /foon/ 'Feinde', /pesen/ 'Erbsen', /asshen/ 'Asche', /hosen/ 'Hosen', /toon/ 'Zehen', /k'een/ 'Kühe', /sustren/ 'Schwestern', /doughtren/ 'Töchter'), Jedoch ist die verhältnismäßig große Zahl von Formen mit einem schwachen Plural (obwohl Chaucer neben der schwachen Form in zwei Fällen auch die starke verwendet, nämlich / b e e s / und /doughtres/) offenbar eine Besonderheit seiner Sprache, so wie die Londoner Ge&chäftsurkunden des 14. Jahrhunderts nach L. Morsbach
W. N. Jarzewa
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nur /hosyn/ und /alle Halwen/ ('Allerheiligen') haben. Caxton (15. Jahrhundert) v e r wendet von den Formen des schwachen Plurals n u r / e y e n / 'Augen', /oxen/ 'Ochsen', /hosyn/ 'Hosen' und /shoon/ 'Schuhe' (auch /shois/). Bekanntlich sind in der modernen englischen Literatursprache von diesen Pluralformen nur /oxen/ und /children/ erhalten geblieben. Analogieformen, die historisch gesehen Kontaminationsformen des schwachen Plurals zu Formen mit Umlaut darstellen, sind /brethren/ und das nur in der Sprache der Poesie verwendete /kine/. Selbstverständlich begegnen in den Territorialdialekten des heutigen England, besonders im Süden, /shoon, een/ und eine Reihe anderer Wörter. Bei der Betrachtung der Veränderung des Deklinationssystems der Substantiva kann man feststellen, daß eine allgemeine Tendenz zur Vereinfachung des Kasussystems und zur Vereinheitlichung der verschiedenen Deklinationstypen existiert. Diese allgemeine Tendenz wird jedoch in den verschiedenen Dialekten unterschiedlich realisiert. Da die schwache Deklination der Substantiva im Süden Englands nicht nur verhältnismäßig stabiler ist als in den nördlichen Gebieten, sondern sogar einige Substantiva einbezieht, die früher zu anderen Deklinationsklassen gehörten, kann man die Verdrängung der Plüralformen auf / - n / durch die auf / - s / als das Ergebnis einer sich immer mehr verstärkenden Orientierung der Sprache Londons auf die ostzentralen Dialekte betrachten, wenn Pluralformen mit / - n / als falsch und nichtstandardisiert empfunden wurden. Natürlich führte dieser Prozeß nicht dazu, daß der gesamte Deklinationstyp verschwand, sondern nur einzelne, isolierte Fälle (dieses Typs), da in der Sprache Londons immer der Plural auf / - s / vorherrschte. Die historische Grammatik der englischen Sprache kennt aber auch Beispiele für die Verdrängung ganzer dialektaler morphologischer Typen. Dabei ist verständlicherweise die dialektale Umorientierung der sich herausbildenden literatursprachlichen Norm deutlicher sichtbar. Bekanntlich unterschieden sich in den Territorialdialekten der mitteleng Iis chen Periode die Präsensflexionen des Verbs. Das Paradigma des Präsens sah folgendermaßen aus: Südlicher Dialekt
ostzentraler
nördlicher
(einschließlich Kent) 1. Ps.Sg. / h o p e / ' i c h hoffe'
/hope/
/hope/
2. Ps.Sg. /hopest/
/hopest/
/hopes/
3. Ps.Sg. /hopeth/
/hopeth/hopes/
/hopes/
PI.
/hopeth/
/hopen/hopes/ /hopes/ g Entsprechend den von S. Moor angeführten Isoglossen der mittelenglischen Dialek-
te wurde in den zentralen Dialekten der Plural Präsens Indikativ auf /-(e)n/ oder / - e / flektiert. Die Flexionsendung / - s / in dieser Verbalform breitete sich vom nördlichen Dialekt aus und erfaßte den nördlichen Teil des ostzentralen Dialektes.
Veränderung der dialektalen Basis der engl. Literatursprache
81
Die für den südlichen Dialekt typischen Verbalflexionen sind die historische Fortsetzung der altenglischen, wessexischen Formen. Was die für andere Dialekte typischen Verbalflexionen angeht, so ist ihre Herkunft weniger klar. Man nimmt an, daß die Flexionsendung /-en/ im Plural Präsens sich analog zur Flexionsform des Präteritums oder des mit diesem identischen Konjunktivs ausbreitete und vielleicht von den g Präterito-Präsentia und vom Verb /to be/ herrührte. Wie auch immer ihre Herkunft gewesen sein mag, gerade sie ergab die Formen der modernen Konjugation des Verbs im Plural Präsens. Schon in der mittelenglischen Periode hat diese Flexion die Tendenz, sich Uber die Grenzen der zentralen Dialekte hinaus auszubreiten. Moore schreibt: "The Midland -e(n), -e was strongly intrusive, crowding the -(e)s inflections northward and pushing downward into the territory of the -eth inflections, which were derived from the form which was standard during the Old English period. So powerful had this drive become, that in eastern England the Thames constituted the northern boundary of the -eth inflection, although in the west the line projects »-considerable distance into West Midland territory. In the east, however, line H serves to divide the Kentish from the Southeast Midland dialect". In der Sprache Londons läßt sich eine allmähliche, doch ziemlich rasche Verdrängung der Flexionsendung /-eth/ durch die Flexionsendung /-e(n)/ des zentralen Dialektes beobachten. Die frühesten Londoner Urkunden haben /-ap,
-ep/,
aber schon
in der "Proclamation" Heinrichs III. überwiegen die Verbalformen mit /-en/ (/willen, hoaten, senden, beon/), obwohl auch solche auf/-eth/begegnen (/habbef), beop/). In den Werken Davys kommt /-ep/ nur einmal vor. In den Prosawerken Chaucers finden wir in den meisten Fällen /-en/, in Versen (Reimen) öfter /-e/. Die Endung /-eth/ begegnet bei G. Chaucer sehr selten. J . Frieshammer führt nur vier Beispiele an. In der weiteren Entwicklung fällt das Suffix /-n/ ab, kommt aber vereinzelt noch im 12
16. Jahrhundert vor.
Was die süddialektale Flexionsendung /-eth/ angeht, die, wie
wir gesehen haben, in der Sprache Londons durch ostzentrale Formen im wesentlichen schon seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts verdrängt wurde, so kommt diese in einzelnen Fällen bis in die frühenglische Periode hinein vor. Freilich hat Caxton (15. Jahrhundert) nur /-en/, aber die späten Londoner Geschäfts - und Regierungsdokumente enthalten eine gewisse (wenn auch sehr kleine) Anzahl von Formen auf /-eth/. Im 16. Jahrhundert begegnet bei T. Elyot /-th/ (manchmal kommen Formen auf /-e/ vor, die moderne Form überwiegt): /harts, lepeth, people, taketh, comforth/ und andere. Die Verdrängung der Flexionsendung der 3. Person Präsens /-eth/ und ihr E r satz durch das in der modernen Literatursprache erhalten gebliebene /-s/ vollzog sich bedeutend langsamer als der obenbeschriebene Ersatz der Verbalflexion im Plural, Das ist verständlich, wenn man berücksichtigt, daß der ostzentrale Dialekt eine Kompo-
W. N. Jarzewa
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nente der sich formierenden Nationalsprache war (neben dem südlichen), jedoch wurde die Flexionsendung / s / in ihm selbst in den nördlichen Mundarten nur teilweise verwendet, In den Werken des Robert of Brunne (Anfang 14. Jahrhundert, nordostzentraler Dialekt),begegnen als Flexionsendung der 3. Person Singular Präsens im gleichen Maße sowohl / - t h / als auch / - s / . Der Londoner Dialekt hat, wie die Geschäftsurkunden und die Werke Chaucers zeigen, im 14. Jahrhundert nur / - t h / . Die einzige Form auf 13 / - s / bei Chaucer, die von den Erforschern seiner Sprache angeführt wird, kommt im Reim vor (/telles - elles/). Die Londoner offiziellen Dokumente des 15. Jahrhunderts enthalten nur in einigen Fällen Formen auf / - e / , normalerweise wird immer / - t h / verwendet. Caxton (15. Jahrhundert) verwendet auch nur die letztere, jedoch begegnet in den Werken Lydgates (Ende 14. Jahrhundert - 1. Hälfte 15. Jahrhundert) die Flexionsendung / - s / . 1 4 Erst seit dem 16. Jahrhundert wird die Flexionsendung / - s / von den Schriftstellern, die sich die Sprache Londons zum Vorbild nehmen, mehr oder weniger stark verwendet. Es wurde die Meinung geäußert, daß diese Form anfangs*"typisch für eine literatursprachlichen Normen noch nicht völlig entsprechende gesprochene Sprachform war und erst danach in die geschriebene Literatursprache eindrang. Wyld weist darauf hin, daß die Endung -es vor allem in einem mehr oder weniger ungezwungenen priva15 ten Briefwechsel begegnet. Er kommt zu dem Schluß, daß "man -es bestimmt als eine der Herkunft nach umgangssprachliche Form zu betrachten hat. " Die Dichter des 16. Jahrhunderts verwenden in breitem Maße Formen mit / - e s / . In der Anglistik wurden Meinungen geäußert, daß das in der Poesie durch den Reim bedingt war, wahrscheinlich aber ist dies nur ein Begleitumstand, nicht aber der bestimmende Faktor für die Verwendung dieser Endung. Am ehesten ist anzunehmen, daß das ziemlich lange Nebeneinander v o n / - e t h / und / - e s / im 16. Jahrhundert sich durch jene "Freiheit" der Sprache des 16. Jahrhunderts, über die die Sprachhistoriker der englischen Sprache viel schrieben 16 und die das Ergebnis einer ungenügenden Kodifizierung der natio17 nalen Literatursprache in den frühen Perioden ihrer Existenz war. T. Elyot verwendet für die 3. Person Singular Präsens nur / - t h / . Andererseits wurde nach angestellten Berechnungen im "Tamburlaine the Great" und "The Jew of Malta" die Form auf / - s / von Marlowe in 92 % aller Fälle der 3. Person Singular Präsens verwendet. Die Elisabethanischen Dichter benutzten in breitem Maße die Flexionsendung / - e s / . Sie ist in "The Faerie Queen" E. Spensers sehr üblich (/lookes, biddes, keepes, cals, sends, enjoyes, lyes, paies, slaies/ u . a . ) . Die Tatsache, daß die Flexionsendung / - e t h / sehr langsam und allmählich verdrängt wurde, wird auch dadurch bewiesen, daß sie im 16. Jahrhundert noch nicht jenen Beigeschmack des Archaischen hatte, den sie in der Folgezeit erhielt und dank dessen sie in bestimmten Stilen und literarischen Gattungen verwendet zu werden begann. Die
Veränderung der dialektalen Basis der engl. Literatursprache
83
frühen Grammatiker berücksichtigen die Sprachpraxis. So läßt W. Bullokar die Verwendung der Flexionsendung / - s / anstatt / - e t h / in Versen zu, gibt sie aber nicht in dem von ihm angeführten Paradigma des Verbs an. In der Folgezeit erweist sich bei der notwendigen Vereinheitlichung der grammatischen Normen der Literatursprache der Schwund einer der zwei konkurrierenden Formen als notwendig, und wir finden, daß im 17, Jahrhundert die Flexionsendung / - e s / als einzige für die 3. Person Singular Präsens erhalten bleibt, indem sie die alte Endung / - t h / verdrängt. Somit tritt die alte "südliche" Flexion den Platz an die nordostzentrale ab. Der Unterschied zwischen der Verdrängung der südlichen Verbalflexion durch die ostzentralen und dem obenbeschriebenen Beispiel der Konkurrenz der schwachen und starken Deklination bei den Substantiven besteht nach unserer Ansicht in folgendem: a) die Verdrängung der schwachen Deklination aus der sich formierenden Literatursprache realisiert sich als Tendenz der englischen Sprache zur Vereinfachung der Deklination, als Bestreben, nur eine Deklination beizubehalten, wiobei der Druck der nördlichen dialektalen Strömung sich darin zeigt, welche der beiden Deklinationen sich erhält. Hinsichtlich der Konjugation ist ein Vereinheitlichungsgrad der Struktur selbst notwendig - ein Paradigmatyp im Präsens ist schon im Mittelenglischen vorhanden - die Wahl hat nur in bezug auf die Flexionsbildung dieses Paradigmas zu erfolgen. b) während in jedem Dialekt dieses oder jenes Substantiv nur zu einem bestimmten Deklinationstyp gehört, kann ein Verb diese oder jene Bildung haben, welche genetisch gesehen unterschiedlicher dialektaler Herkunft ist. Deshalb geht im Londoner Dialekt ein Substantiv von einer Deklination in die andere über (von der schwachen in die starke), ein Verb kann dagegen in ein und derselben Zeit bei ein und demselben Schriftsteller einmal die, einmal die andere Flexion haben; c) bei den Substantiven ist dies der Prozeß der Einbeziehung in die stabilere Deklination, beim Verb der Prozeß des Ersatzes des Paradigmas. Natürlich sind alle diese Erscheinungen einander sehr ähnlich, unterscheiden sich aber trotzdem voneinander. Ein instruktives Beispiel für eine morphologische Verdrängung finden wir vor im Ersatz der alten englischen Pluralform der Pronomina der 3. Person durch die vom Norden gekommenen und aus den skandinavischen Sprachen entlehnten Pronomina. Das altenglische / h i e / 'sie' Nom., Akk. PI., /heora/ - Gen. PI, und /heom/ - Dat. PI. ergaben im Mittelenglischen entsprechend /hie, here, hem/. Am Ende des 10. Jahrhunderts taucht das entlehnte Pronomen der 3. Person Plural /pxze/ (Nom.) auf, wird aber im ostzentralen Dialekt im 13. Jahrhundert und im Londoner Dialekt im 14. Jahrhundert verbreitet. Bei Orm finden wir: Nom. PI. /pej$/, Akk. PI. /hemm/, Dat. PI. /hemm/ und / p e ^ m / , Gen. PI. ,/heore/ und / f i e ^ r e / .
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W. N. Jarzewa
Überall wird jedoch in den zentralen Dialekten im obliquen Kasus / h e m / verwendet. Die "Proclamation" Heinrichs III, (Muster des Londoner Dialekts des 13. Jahrhunderts) hat nur / h e o / (Nom.) und / h e o m / (Akk. und Dat.). Im 14. Jahrhundert jedoch ist sowohl in den Geschäftsurkunden als auch in den literarischen Denkmälern (z. B. in den Werken Chaucers, Gowers, Lydgates) der Nominativ Plural durch / t h e y / vertreten; gleichzeitig bewahren die obliquen Kasus die alte englische Form, / t h e m / und / t h e i r / erscheinen in der Sprache Londons e r s t im 15. Jahrhundert. Noch bei Shakespeare begegnet zweimal / h e r / , ganz abgesehen davon, daß /hem > ' e m / im literarischen Gebrauch bis ins 18. Jahrhundert ebendig ist. Mossfe weist darauf hin, daß das einheitliche Deklinationssystem der 3. Person Plural (d.h. /they, them, their/) sich erst im 17. 19 Jahrhundert herausbildet. Wir nehmen an, daß man das Eindringen von / t h e y / in den Londoner Dialekt als eine rein lexikalische Erscheinung behandeln kann; daß diese Frage aber insgesamt zur Grammatik gehört, ergibt sich aus jenem Prozeß der Vereinheitlichung der Deklir ition, der im Endergebnis zur Bildung des Paradigmas von / t h e y / führt. Wie man aus den obenangeführten Beispielen ersehen konnte, ist auf dem Gebiet der Morphologie die Verdrängung des alten Typs oder einzelner seiner Glieder immer mit dem P r o zeß der Vereinheitlichung der Formen zum Ausdruck grammatischer Bedeutungen v e r bunden. Natürlich erfassen die angeführten Beispiele nicht erschöpfend die Fälle, in denen ostzentrale Elemente in den Londoner Dialekt eindrangen und alte südliche Züge-aus 20 der Sprache Londons verdrängten. Man könnte noch viele andere Fakten anführen
,
aber uns kam es darauf an, die Typen der Dialektmischung auf dem Gebiet der Morphologie zu zeigen und jene Fälle auszuscheiden, die man nicht zur Dialektmischung zählen kann und die nur die Realisierung gemeinsamer Tendenzen in allen Dialekten sind, d.h. der Volkssprache insgesamt innewohnen (vgl. oben das Beispiel der Bildung des Artikels); ferner wollten wir auf den möglichen Fall einer einheitlichen Tendenz hinweisen, die aber in den verschiedenen Dialekten unterschiedlich realisiert wird, was die Möglichkeit schafft, daß ein Dialekt den anderen beeinflußt (vgl. oben die Beispiele der starken und schwachen Deklination); schließlich sollte die Möglichkeit gezeigt werden, daß eine ganze paradigmatische Reihe durch einen Dialekt v e r drängt wird (der Fall der Konjugation Präsens des Verbs). Alle diese Fälle sind typisch für die morphologische Seite der Sprache. In der Lexik kann man die Dialektmischung und das Eindringen von Wörtern in den Londoner Dialekt, die ihm früher nicht angehörten, am leichtesten an jenen Lexemen zeigen, die zu ihrer Zeit von den Einwohnern der nördlichen und nordöstlichen Gebiete Großbritanniens aus der Sprache der skandinavischen E r o b e r e r entlehnt wurden. Spezialisten der Geschichte der germanischen Sprachen ist der "skandinavische Ein-
Veränderung der dialektalen Basis der engl. Literatursprache
85
fluß" auf die englische Sprache, der mehrfach von Sprachwissenschaftlern beschrieben 21 wurde
, bekannt, aber trotz der vielen wertvollen Beobachtungen und des reichen
Faktenmaterials leiden die Erklärungen an einer gewissen Einseitigkeit. Obwohl alle Anglisten darauf hinweisen, daß gerade im Norden Englands, wie auch zu erwarten war, die meisten entlehnten skandinavischen Elemente nicht nur in der 22 Toponymie begegnen
, untersuchen vor allem die Sprachwissenschaftler, die zu die-
sen Fragen geschrieben haben, die englische Sprache gewöhnlich ohne Berücksichtigung ihrer konkreten Geschichte und des sich ändernden Verhältnisses zwischen T e r r i torialdialekten und Literatursprache. Indessen ist das Auftauchen von Skandinavismen in den Denkmälern des Londoner Dialektes des 13. - 14. Jahrhunderts wie auch die Verankerung einer bedeutenden Anzahl der Herkunft nach skandinavischer Wörter i i der englischen Nationalsprache mit dem Wechselspiel zwischen den Dialekten verbunden, insbesondere mit der Erhöhung des Anteils der Dialekte der nordöstlichen Gebiete Englands an der Entwicklung der gemeinenglischen Volkssprache in den verschiedenen Perioden der Herausbildung der englischen Nation. Analysiert man den Wortschatz des "Orrmulum", eines im nordostzentralen Dialekt geschriebenen Denkmals aus dem Anfang des 13. Jahrhunderts, so stellt man fest, daß von den 120 gefundenen Wörtern skandinavischer Herkunft sehr viele Bestandteil der englischen Sprache der mittelenglischen Periode sind, unabhängig von deren dialektaler Gliederung, und eine ganze Reihe von ihnen ist in der modernen englischen Sprache erhalten geblieben. Führen wir Beispiele für diese Gruppe von Wörtern an, wobei wir die in der englischen Sprache verbliebenen Wörter in ihrer modernen Form angeben: /anger/ ' e r zürnen' (skand. /angra/), /awe/ 'Schrecken' (skand. /agi/,), mittelengl. /orrest/ 'Schlacht' (skand. /orrosta/), /bloom/ 'Blüte' (skand. /bl6m/), /skill/ 'Meisterschaft' (skand, /skil/), /thrive/ 'blühen' (skand. /prifa/), /take/ 'nehmen' (skand. /taka/), mittelengl. bei O r m / g r e j j p en/ 'bereiten' (skand. /greiäa/), /skin/ 'Haut' (skand. /skinn/), mittelengl. /brennen/ 'brennen'
(skand. /brenna/), mittelengl.
bei Orm /grifif)/ 'Frieden' (skand. /gri3/), /knife/ 'Messer' (skand. /knifr/), mittelengl. bei Orm /ha^herr/ 'geschickt' (skand. /hagr/), mittelengl. bei Orm /Upende/ 'Nachricht' (skand. /tiöindi/), mittelengl. /mal/ 'Bezahlung' (skand. /mal/), /meek/ 'sanft' (skand. /mjükr/), /wing/ 'Flügel' (skand. /vengr/), /root/ 'Wurzel' (skand. /r6t/), /want/ 'Mangel' (skand. /vant/). Diese Liste könnte man noch stark erweitern; das würde jedoch an dem Typ der in dem genannten Denkmal gefundenen skandinavischen Lehnwörter nichts ändern. Die Lexik des Altenglischen enthält fast keine Skandinavismen, obwohl die Skandinavier seit dem 9. Jahrhundert in starkem Maße in Großbritannien eindrangen. E s sind nur einzelne Wörter registriert worden, die hauptsächlich Begriffe wiedergeben,
86
W. N. Jarzewa
die Krieg und Schiffahrt betreffen; einige von ihnen sind im modernen Englischen e r h a l 23 ten geblieben. Aber als nach dem durch die normannische Eroberung hervorgerufenen Bruch in der schriftlichen Tradition im 13. - 14. Jahrhundert zahlreiche Werke in den verschiedenen Dialekten der nördlichen und nordöstlichen Gebiete Englands e r s c h e i nen, sind diese voller skandinavischer Entlehnungen. Indessen ist es klar, daß lange vor dieser Zeit die Sprache der skandinavischen E r o b e r e r verklungen war und die ehemaligen E r o b e r e r von der angelsächsischen Urbevölkerung völlig assimiliert worden waren. Wenn folglich die Linguisten vom Eindringen von Skandinavismen in die auf der Grundlage des Londoner Dialektes sich herausbildende englische Literatursprache s p r e chen, so meinen sie damit die genetische Zugehörigkeit dieser Wörter. Dem Wesen nach, vom Standpunkt der Geschichte der englischen Sprache aber wäre es richtiger davon zu sprechen, daß in den Londoner Dialekt eine Lexik eindrang, die für die nördlicheren Gebiete charakteristisch war, deren Dialekte auch die Skandinavismen v e r m i t telt hatten, welche zu dieser Zeit schon fest in diesen Dialekten verankert waren. Die Existenz alter genetischer Beziehungen bei der Kreuzung verwandter Sprachen muß sich zweifellos auf das Tempo auswirken, in dem entlehnte lexikalische Elemente in das System der entlehnenden Sprache eindringen, darauf, wie fest sie einbezogen werden, d.h. wie stabil der Charakter der semantischen Verbindungen der entlehnten und der eigenen Wörter ist, und sogar auf die Auswahl derjenigen Wörter, die sich in der jeweiligen Sprache erhalten. Man kann das an der Kreuzung der skandinavischen Sprachen mit dem nördlichen Dialekt der englischen Sprache demonstrieren, der entwicklungsmäßig den Stammesdialekt der Angeln fortsetzt. Nicht nur der teilweise Zusammenfall des Grundwortschatzes in den alten germanischen Sprachen und die einheitliche grammatische Struktur, sondern auch die zweifellos vorhandenen inneren Entwicklungsgesetze, insbesondere semantische Gesetze, waren die Voraussetzung dafür, wie leicht sich das Englische mit den skandinavischen Sprachen kreuzte, wobei das Englische sich durchsetzte und eine bedeutende Anzahl Skandinavismen assimilierte. Es ist bemerkenswert, daß wir hinsichtlich des skandinavischen Einwirkens auf die englische Sprache fast keine lexikalischen Lehnübersetzungen beobachten, die im Mittelenglischen so leicht unter dem Einfluß des Latein entstanden. Wenn hier zweifellos auch die unterschiedlichen Wege des Einwirkens des Lateinischen und der skandinavischen Sprachen zum Ausdruck kommen (des Lateinischen im bedeutenden Maße über geschriebene Sprache, der skandinavischen Sprachen in den Formen der mündlichen Verständigung), so war offenbar trotzdem die Ähnlichkeit der Begriffe und die Einheit des semantischen Umfangs.der skandinavischen und englischen Wörter entscheidend. Wir können in einzelnen Fällen unter dem Einfluß skandinavischer Wörter Bedeutungsveränderungen englischer Wörter beobachten (das bekannteste Beispiel altengl. / d r e a m / 'Freude' - skand. / d r a u m r / 'Traum', modern, engl, / d r e a m / 'Traum'),
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hier aber erfolgt ein Bedeutungswandel bei einem Wort, das genetisch mit dem skandinavischen verwandt ist. Die Ähnlichkeit der grammatischen und semantischen Struktur der skandinavischen und englischen Sprachen hängt unmittelbar mit Fragen des Verhältnisses der englischen Territorialdialekte untereinander zusammen, mit denen wir uns oben beschäftigt haben. Wie schon gesagt wurde, drangen die meisten skandinavischen Wörter über den nördlichen Dialekt in die englische Sprache ein, wobei viele in die englische Gemeinsprache erst im Prozeß der Bildung der Nationalsprache auf der Grundlage eines durch Mischung entstandenen Dialekts aufgenommen wurden. In den Territorialdialekten Nordenglands ist auch heute die Zahi von Skandinavismen, die nicht in der Literatursprache vorkommen, groß, z. B. /dag/ 'Tau' (skand. /djrigg/), / f r o s k / 'Frosch' (skand. /froskr/), /hag/ 'fällen, hauen' (skand. /höggva/), /will/ 'überrascht' (skand. /villr/), /lait/ 'suchen' (skand. / l e i t a / ) , ' / g a r t h / ' P a r zelle' (skand. /garcSr/), / b i r r / 'Kraft, Energie' (skand. / b y r r / 'Fahrwind'), /helder/ 'mehr' (skand. /heldr/), /keld/ 'Quelle' (skand. /kelda/ usw. Die beobachteten semantischen Prozesse in den skandinavischen Wörtern, welche in die Literatursprache Eingang gefunden haben, sind völlig der gleichen Art wie bei den in den Dialekten verbliebenen Wörtern. In vielen Fällen handelt es sich um Wörter ein und derselben germanischen Wurzel, welche in zwei verwandten Sprachen eine unterschiedliche (phonetische) Lautgestalt haben. Skand. / g a r ä r / entsprach altengl. /¿eard/, und in den mittelenglischen Dialekten finden wir die zwei Formen /garth/ von skand. /garÄr/ und /yerd/ von altengl. / j eard/. In der Folge blieb das Wort /garth/ als Skandinavismus im Dialekt erhalten. Skand. / v i l l r / entsprach altengl. /wilde/, die moderne literatursprachliche Form /wild/ 'wild' setzt aber den altenglischen Typ fort, während die skandinavische Form dem Dialekt eigen ist. Das gleiche kann man in bezug auf die dialektale Form /dag/ 'Tau' beobachten, die der literatursprachlichen Form /dew/ aus altengl, /deaw/ entspricht. Der umgekehrte Fall liegt im Wort /awe/ 'Schrecken' aus skandinavisch /agi/ vor; die in mittelenglischen Dialekten vorhanden gewesene Parallelform / e i e / aus altenglisch / e j e / kommt auch heute noch in örtlichen Dialekten im Süden Englands vor. Auf diese Weise führte die nahe Verwandtschaft sich kreuzender Sprachen zu einer Intensivierung des Sprachkreuzungsprozesses infolge der Gemeinsamkeit einer Reihe innerer Entwicklungsgesetze, die in verwandten Sprachen wirkten und deren Struktur sie bestimmten. Wenn die nördlichen Dialekte Englands an Skanuinavismen immer reicher waren als die Dialekte der südlichen Bezirke, so gehörte der Teil der skandinavischen Entlehnungen - und gerade der Teil, welcher bis hin zur modernen englischen Literatursprache erhalten blieb, - schon in der mittelenglischer» Periode der gemeinen Volkssprache an
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und nicht irgendeinem ihrer Dialekte. Bei der Besprechung der im "Orrmulum" und "Havelok the Dutsch" vorkommenden Skandinavismen sagt F. Mossé: "Mais on rencontre ces mêmes mots, bien qu'en moins grand nombre, dans des oeuvres rédigées ailleurs et jusque dans le sud, preuve que ces emprunts n'étaient pas l'apanage de tel ou tel dialecte, mais qu'ils devenaient partie intégrante de la 25 langue anglaise et de son fonds commun". Als Beispiel solcher im Mittelenglischen vorkommenden Entlehnungen führt F. Mossé folgende Wörter skandinavischer Herkunft im modernen Englischen an: /anger, bloom, bond, boon, booth, bull, cake, fellow, guest, haven r husband, leg, ¿oan, race, skill, skirt, twin, wand, want, awkward, big, ill, meek, sly, ugly, to bask, to cast, to gape, to hail, to happen, to kindle, to raise, to ransack, to scare, to thrive, to waive/. In seltenen Fällen drückten die skandinavischen Lehnwörter neue, den Angelsachsen unbekannte Begriffe aus. Gewöhnlich hatte der Begriff, den ein Lehnwort mitbrachte, seinen Ausdruck schon in den einheimischen englischen Wörtern gefunden. Auf diese Weise wurden Synonympaare gebildet, und der Kampf der Synonyme begann. Gerade auch das gestattet es zu beobachten, wie Elemente nördlicher Mundarten - ehemalige skandinavische Wörter - in den Londoner Dialekt allmählich eindrangen und danach in der englischen Literatursprache verankert wurden. In einer umfangreichen Arbeit über die Verdrängung des altengl. /niman/ 'nehmen' durch das skandinavische /taka/ in der mittelenglischen Periode beleuchtet A. Rynell an zahlreichen Beispielen, wie das Lehnwort allmählich in die englische Sprache ein26
drang. Im Ergebnis dieses Prozesses stirbt das altenglische Synonym (/niman/) völlig aus. Nach den Angaben A. Rynells ist in den mittelenglischen Denkmälern die unterschiedliche Verwendung von /nimen/ und /taken/ mit der chronologischen Abfolge der Texte verbunden, in erster Linie aber offenbart sie deutlich die Verschiedenheit der Dialekte. In der "Chronicle" des Robert von Gloucester (ein um 1300 im südlichen Dialekt geschriebenes Werk) begegnet 464 mal das Verb /nimen/ und 44 mal dessen präfigierte Form /binime/. Im gleichen Werk wurd /taken/ nur 69 mal und 27 mal die Form mit dem Präfix / b i - / verwendet. Wendet man sich einem Denkmal des nördlichen Dialektes aus der gleichen Zeit zu, dem um 1300 geschriebenen "Cursor mundi", so finden wir in ihm 380 mal das Verb /taken/, 43 mal verschiedene präfigierte Formen (mit den Präfixen /in-, ouer-, mis-, out-, vnder-/) und nur 33 mal das Verb /nimen/ mit drei seiner Ableitungen (/benime/). Daneben ist in den "Canterbury Tales" Chaucers (Ende 14. Jahrhundert), die die Gesetzmäßigkeit der sich formierenden englischen nationalen Literatursprache widerspiegeln, das Verb /nimen/ eine Ausnahme, und das an der Spitze stehende Verb, das zum Element des Grundwortschatzes wurde, eine Reihe neuer Bedeutungen entwickelte und präfigierte Formen hat, ist
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/taken/. Freilich kommt bei Chaucer /nimen/ in festen phraseologischen Wendungen (z.B. /nom his wey/ 'er ging seinen Weg') und als Reim zu /come/ vor (/nome come/). Führen wir noch ein paar Beispiele zu den oben erwähnten skandinavischen Wörtern an, die am Anfang des 13. Jahrhunderts in allen mittelenglischen Dialekten angetroffen wurden. /Knife/ aus skand. /knifr/ kommt im Englischen seit dem Anfang des 11. Jahrhunderts vor. Dieses Wort verdrängt sehr früh das altenglische /seax/sex/. Im 13. Jahrhundert haben die nördlichen und ostzentralen Denkmäler nur /knif/. In der "Chronicle" des Robert von Gloucester ist /knif/ normal, / s e x / begegnet in dieser Chronik einige Male, aber genauso wie in einigen Texten ost- und westzentraler Dialekte nur als Bezeichnung der Waffe bei den Sachsen. Auf diese Weise wird das seiner Herkunft nach skandinavische /knif/ sehr früh zu einem Wort des Grundwortschatzes in allgemeinsprachlicher Verwendung, das altenglische Wort dagegen erhält eine spezielle Bedeutung und stirbt in der Folge als Archaismus aus. Sehr bunt ist das Bild der Verwendung der altenglischen Synonyme /hyd/ und /feil/ und des in diese Reihe seit dem 11. Jahrhundert einbezogenen skandinavischen /skinn/. In den mittelenglischen Texten des 13. Jahrhunderts werden /skin, hyde/ und /feil/ in allen Dialekten mit sehr ungenau abgegrenzten Bedeutungen durcheinander verwendet, in den "Canterbury Tales" Chaucers aber kommt nur /skin/ vor, und seit dem Ende des 14. Jahrhunderts setzt jene bedeutungsmäßige Abgrenzung dieser Wörter ein, welche sie heute charakterisiert. Somit ist klar: Nur durch eine konkrete historische Analyse kann man das Schicksal eines Lehnwortes in einer gegebenen Sprache aufzeigen. Sehr fein und vielfältig sind die semantischen Linien, welche ein Lehnwort mit der Lexik der entlehnenden Sprache in Zusammenhang mit jener konkreten historischen Situation verbinden, in der sich die als Kommunikationsmittel dienende Sprache entwickelt und die deshalb in ihrem Wortschatz alle jene Veränderungen widerspiegelt, welche sich in der Produktion, der Politik, der Kultur und Lebensweise vollziehen. Vergleicht man die Verwendung der anglo-skandinavischen Synonyme in den Werken, die zur gleichen Zeit, aber in verschiedenen Dialekten geschrieben wurden, dann kann man beobachten, daß ein seiner Herkunft nach skandinavisches Wort in den nördlichen und ostzentralen Denkmälern verhältnismäßig häufiger und entsprechend verhältnismäßig seltener oder auch gar nicht im Süden verwendet wird. Bei einem Vergleich der frühen und späteren Denkmäler des Londoner Dialektes kann man gleichzeitig feststellen, wie der Anteil der Skandinavismen allmählich ansteigt, was mit der allgemeinen Verstärkung des Anteils der ostzentralen Dialekte an der englischen Literatursprache zusammenhängt. Die Konkurrenz zwischen den Synonymen wird entweder durch eine deutliche Abgrenzung ihrer Bedeutungen (dabei wird häufig der Bedeutungsumfang
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des einheimischen englischen Wortes stark eingeengt) oder durch den Untergang eines der Synonyme beendet. Verfolgen wir das Schicksal einiger anglo-skandinavischer Synonyme. Zur Verdeutlichung wurden folgende Werke genommen: a) des ostzentralen Dialektes: 1. "Orrmulum" - Zeit der Abfassung um 1200, 2. "Havelok the Dutch" - um 1250, 3. "Genesis and Exodus" um 1250; b) des südlichen Dialektes: 1. "Owl and the Nightingale" - um 1250, 2. "Chronicle" des Robert von Gloucester - um 1300; c) des nördlichen Dialektes: 1. "Cursor Mundi" um 1300, 2. "The Towneley piavs" Ende des 27 14. Jahrhunderts und Schließlich die "Canterbury Tales" von Chaucer - 1387. Das seiner Herkunft nach skandinavische / i l l / 'Übel' und das mit diesem synonyme englische /evil/ blieben bis zum heutigen Tag erhalten. Im Mittelenglischen ist ihr Verhältnis in den Denkmälern der verschiedenen Dialekte unterschiedlich. In einem frühen Denkmal des ostzentralen Dialektes, im "Orrmulum", Uberwiegt /evil/. Das Wort begegnet in diesem Poem 52mal, /ill/ - lOmal. Im "Havelok" wächst die Verwendung des skandinavis chen Wortes an: /evil/ begegnet 7mal und / i l l / 4mal. In "Genesis und Exodus" sind beide Substantiva gleich häufig: /evil/ 14mal und / i l l / 13mal. Bei der Betrachtung der Denkmäler des südlichen Dialektes sehen wir, daß sich das Bild ändert. Im Poem "Owl and the Nightingale", das etwa zur gleichen Zeit wie das "Orrmulum" entstand, überwiegt das echt englische Wort, das 9mal vorkommt, während es für / i l l / nur zwei Beispiele gibt. In der "Chronicle" des Robert von Gloucester (südlicher Dialekt) fehlt das skandinavische Wort ganz, es begegnet nur /evil/ (insgesamt 19mal). In dem Denkmal des nördlichen Dialektes aber aus etwa der gleichen Zeit "Cursor Mundi" überwiegt / i l l / deutlich, es kommt 51mal vor, /evil/ dagegen nur 17mal. Man muß auch erwähnen, daß ein spätes Denkmal des nördlichen Dialektes - "The Towneley Plays" nur / i l l / enthält (13 Beispiele), /evil/ fehlt in ihm ganz. Was die "Canterbury Tales" Chaucers angeht, so überwiegt in ihnen /evil/ (36mal), aber es begegnet auch / i l l / (insgesamt 3mal). Wir können somit feststellen: a) das skandinavische Wort wird mit der Zeit gebräuchlicher; b) seine Gebräuchlichkeit wächst im Norden schnell an, im Süden aber kann sie sehr klein sein; c) in der Sprache Chaucers sind beide Wörter vertreten. Es ist darauf hinzuweisen, daß in der modernen englischen Literatursprache das Grundwort für den Begriff 'Übel' (evil/ bleibt. Natürlich hängt der Charakter der Entwicklung dieses oder jenes Synonympaares nicht nur von der Herkunft der einzelnen Synonyme, sondern in erster Linie davon ab, welche Stelle sie im lexikalischen System der jeweiligen Sprache einnehmen, wo die semantische Entwicklung verschiedener Wörter auf komplizierte Weise miteinander verflochten ist. Um ein vollständiges Bild zu erhalten, ist es daher notwendig, nicht nur die Verwendung dos skandinavischen oder
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des englischen Wortes an sich zu berücksichtigen, sondern auch die kontextuellen Bedingungen, welche die Wahl eines der beiden vorhandenen Synonyme bestimmen können. Jedoch kann bei der Frage nach dem allmählichen Eindringen lexikalischer Elemente der nördlicheren Gebiete Englands in den Londoner Dialekt auch das quantitative Verhältnis von Wörtern verschiedener dialektaler Zugehörigkeit ausschlaggebend sein. Natürlich sind jene Fälle der Konkurrenz zwischen Synonymen klarer, in deren Ergebnis eines von beiden nicht in der englischen Literatursprache enthalten bleibt oder so sehr seine Bedeutung verändert, daß es praktisch aus der jeweiligen synonymischen Reihe herausfällt. Letzteres finden wir z.B. bei den mittelenglischen Verben /steruen/ und /swelten/, die durch das der Herkunft nach skand. Verb /die/ (mittelengl. /deijen/dyjen/) verdrängt wurden. Von diesen verschwand das zweite völlig, während das erste die spezielle Bedeutung 'vor Hunger sterben' annahm und in keinem Wörterbuch als Synonym für mod. engl, /die/ angegeben wird. Nach den zugrundegelegten mittelenglischen Denkmälern gewinnen wir folgendes Bild: Im "Orrmulum" überwiegt /die/ (/dezenn/ l l m a l und /swelltenn/ nur 2mal); im"Havelok the Dutch" - nur /die/ (insgesamt 5mal); in "Genesis and Exodus" begegnet lOmal / s t a r v e / und 2mal / d i e / . /Die/ dringt schnell in die Denkmäler des südlichen Dialektes ein; in der "Chronicle" des Robert von Gloucester ist es das einzige, häufig verwendete Verb für 'sterben'. In den "Canterbury Tales" wird in den meisten Fällen /die/ verwendet (insgesamt 144mal), in 13 Fällen jedoch kommt / s t a r v e / vor. Weder im Text "Cursor Mundi" noch in "The Towneley Plays" begegnet /starve/ in der allgemeinen Bedeutung 'sterben'; es ist natürlich, daß in den Denkmälern des nördlichen Dialektes das Verb /die/ vorherrscht, jedoch findet sich in ihnen vereinzelt auch das absterbende /swelten/. Die Verdrängung des mittelengl. /hebben/heuen/ 'heben' durch das skandinavische /litten/ vollzieht sich später als der Kampf der obenbeschriebenen Verbreihe; "Orrmulum" hat nur /hefenn/ in verschiedenen Formen (insgesamt 20 Beispiele). Im "Havelok the Dutch" begegnet dreimal /liften/ und einmal /hefen/. Robert von Gloucester verwendet in seiner "Chronicle" nur /hebben/. In den "Canterbury Tales" finden wir sowohl dieses als auch jenes Verb, wobei /heuen/ überwiegt. In den Denkmälern des nördlichen Dialektes herrscht /liften/ vor, /hefer./ begegnet sehr selten. Wir sehen somit, daß sogar der ostzentrale Dialekt, wie die Gegenüberstellung des "Orrmulum" und "Havelok the Dutch" zeigt, das Lehnwort /liften/ erst im Verlaufe des 13. Jahrhunderts aufnimmt, es aber trotzdem in den Werken Chaucers vorhanden ist. Stark unterscheiden sich die Denkmäler des Nordens und Südens im Gebrauch des mittelengl. Verbs /callen/, das skandinavischer Herkunft ist, und des einheimischen englischen/clepen/ 'rufen, nennen'. In den südlichen Denkmälern "Owl and the Nightingale" und in der "Chronicle" des Robert von Gloucester wird nur /clepen/ ver-
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wendet. Dagegen wird im "Cursor Mundi" das Verb /callen/ vorgezogen (insgesamt begegnet /callen/ 183mal und /clepen/ 30mal). "The Towneley Plays" enthalten nur /callen/ (es kommt 99mal vor). Wendet man sich den Denkmälern zu, die den ostzentralen Dialekt vertreten, so z®igt sich, daß das frühere Denkmal "Orrmulum" nur /clepen/ hat (insgesamt 10 Beispiele), in den Denkmälern aus der Mitte des 13. Jahrhunderts aber entweder ausschließlich /callen/ verwendet ("Havelok the Dutch" enthält 15 Beispiele mit diesem Verb) oder vorgezogen wird ("Genesis and Exodus" hat 18 Beispiele für /callen/ und 7 für /clepen/). In den "Canterbury Tales" wird /clepen/ häufig verwendet (107 Beispiele), aber genauso gebräuchlich ist auch /callen/ (54 Bei. , > 28 spiele). Die Verdrängung des englischen Wortes durch sein skandinavisches Synonym kann früh einsetzen, gleichzeitig aber einzelne Dialektdenkmäler überhaupt nicht berühren. Das aus dem Skandinavischen entlehnte mittelengl, Verb /dwellen/ konkurriert im "Orrmulum" erfolgreich mit dem einheimischen englischen /wunen/ 'wohnen'. Wir begegnen in diesem Denkmal 7mal /dwellenn/ und 3mal /wunnen/. Ungefähr dasselbe läßt sich im "Havelok the Dutch" beobachten (14mal /dwellen/ und 4mal /wonen/). In "Genesis and Exodus" dominiert das alte englische Wort: 42mal /wunnen/ und nur einmal /dwellen/. Wie es in den nördlichen und verhältnismäßig späten Denkmälern wie "Cursor Mundi" und "The Towneley Plays" nicht anders zu erwarten ist, nimmt in diesen das Verb /dwellen/ den ersten Platz ein, obwohl auch /won/ vorkommt. In "Cursor Mundi" wird /dwellen/ in 58 % aller Fälle für 'wohnen' verwendet, in den "Plays" sind es 74 %, Dafür gibt es weder im Poem "Owl and the Nightingale" noch in der "Chronicle" des Robert von Gloucester das Verb /dwellen/, hier wird ausschließlich das einheimische englische Wort verwendet. In den "Canterbury Tales" kommt, obwohl auch verhältnismäßig selten, /wone/ vor, (insgesamt 8 Beispiele), dafür tritt /dwellen/ deutlich an die erste Stelle (61 Beispiele). Besonders bemerkenswert ist, daß man von einem entlehnten Stamm mit Hilfe produktiver Suffixe des Englischen Ableitungen zu bilden beginnt. So begegnet sowohl im "Havelok the Dutch" als auch im "Cursor Mundi", in den "Plays" wie auch bei Chaucer das Deverbativum /dwelling/. Wir haben oben schon auf die von A. Rynell durchgeführte Untersuchung zur Verdrängung des einheimischen englischen Wortes /nimen/ im Mittelenglischen durch das entlehnte /taken/ hingewiesen (S. 110). Hinsichtlich dieses Synonympaares ist ein wichtiges Merkmal für die Festigung des entlehnten Wortes die Tatsache, daß neue Ableitungen in starkem Maße verwendet wurden (im gegebenen Fall präfigierte Formen). Im "Orrmulum" finden wir /undertakenn/, im "Havelok the Dutch" /bitaken, ouertake, undertake/, in "Cursor Mundi"/intake, ouertake, mistake/, sogar in der "Chronicle" des Robert von Gloucester, in der das alte englische Verb /nime/ (464mal) vorherrscht, begegnet /bitake/ (27mal nach A. Rynell) neben dem einfachen Verb /take/ (69mal).
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Natürlich fehlen bei weitem nicht in allen Fällen in den Denkmälern des nördlichen Dialektes, sogar den zur spätmittelenglischen Periode gehörenden, die einheimischen englischen Elemente des Synonympaares. Gewöhnlich kommen sie dabei in bestimmten Sonderfällen vor. Z.B. wurde das einheimische englische /fieon/ 'blühen' sehr schnell durch skandinavisches / riuen/ verdrängt. Im "Orrmulum" und "Havelok the Dutch" finden wir nur /{jriuen/ vor. Die "Chronicle" des Robert von Gloucester bewahrt das einheimische /f>en/. Wie immer zeigt die Sprache Chaucers Breite und Freiheit bei der Verwendung der verschiedenen Dialektwörter: in den "Canterbury Tales" begegnet 13mal /thee/ und 12mal /thryue/. Überraschend scheint auf den ersten Blick zu sein, daß in einem späten Denkmal des nördlichen Dialektes wie "The Towneley Plays" zahlreiche Formen des Verbs /the/ (8mal) vorkommen (/thrife/ kommt dort lmal vor). Aber obwohl in den "Plays" beide Verben begegnen, ist die Verwendung von /the/ praktisch auf bestimmte Arten von Äußerungen beschränkt: es findet sich nur in Flüchen und Wünschen. Natürlich gibt es Fälle, in denen das einheimische englische Wort so früh verdrängt wurde, daß praktisch in allen Dialekten das entlehnte skandinavische Wort allein bleibt. So verdrängte das skandinavische /lagu/ 'Gesetz' schnell das englische Synonym das altenglische /äe/. Nur im "Orrmulum" begegnet neben überwiegendem /laghe/ dreimal das einheimische englische / » / . Alle anderen oben aufgezählten Denkmäler (darunter auch des südlichen Dialektes) haben nur / l a j e / l a w e / . In den "Canterbury Tales" kommt auch das abgeleitete Adjektiv /laweful/ 'gesetzlich' vor. Aber in den meisten Fällen werden, wenn zwei der Herkunft nach verschiedene Synonyme miteinander konkurrieren, von denen sich in der Folge gerade das entlehnte festigt, in der Sprache Chaucers alle beide verwendet; dabei überwiegt einmal das eine, einmal das andere, oft aber auch läßt sich ein spürbares Übergewicht des entlehnten oder eigenen alten Wortes nicht nachweisen. Wie man aus dem Material ersehen kann, überwiegt in den Denkmälern des nördlichen und ostzentralen Dialektes immer die skandinavische Entlehnung, in den Denkmälern des südlichen Dialektes dagegen fehlt das entlehnte Wort entweder ganz, oder es wird seltener verwendet als das einheimische englische Synonym. Wie gezeigt wurde, ist die zweite Bedingung für den Erfolg eines der konkurrierenden Synonyme (außer dem territorialen Merkmal) der Zeitfaktor, d. h. unter festen und gleichen Bedingungen überwiegen in den frühen Denkmälern die einheimischen englischen Wörter, in den späten die entlehnten skandinavischen. Es ist bekannt, daß der Londoner Dialekt in der frühen Periode seiner Existenz zu den südlichen Mundarten neigte; die bedeutende Menge der in der Sprache Chaucers vorgefundenen Skandinavismen wie auch manchmal ihre deutliche quantitative Überlegenheit gegenüber den einheimischen englischen Synonymen zeigt daher, daß der Einfluß der ostzentralen (und vielleicht auch der nördlichen) Dialek-
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te auf den Londoner Dialekt gegen Ende des 14. Jahrhunderts beachtlich war. Konnten doch nur über diese Dialekte die beim Prozeß der Sprachkreuzung des Skandinavischen und Englischen entlehnten Wörter in die Sprache Londons Eingang finden und sich in der Folgezeit in der Literatursprache festigen. Die vollständige Verdrängung des englischen Synonyms oder die deutliche Abgrenzung der Bedeutungen der ehemaligen Synonyme vollzog sich später, wie wir aus folgendem ersehen können. Die moderne englische Literatursprache bewahrt nur den einst entlehnten Skandinavismus, in der Sprache Chaucers aber werden beide Synonyme verwendet. Während dies (heute) bloß "ehemalige Skandinavismen" sind, stellen sie für das 13. - 14. Jahrhundert schon einfach lexikalische Elemente dar, welche vor allem die nördlichen Dialekte charakterisieren. Ihre Aufnahme in die Sprache Londons, die berufen ist, in der Folgezeit zur Grundlage des literatursprachlichen Vorbildes zu werden, ist kennzeichnend für die Vergrößerung des Beitrages der nördlichen und der zu diesen neigenden ostzentralen Dialekte zur Nationalsprache. Einen Sonderfall der Entlehnung stellen in gewisser Hinsicht die Beispiele dar, in denen das entlehnte skandinavische Wort im Grunde genommen eine etymologische Dublette des altenglischen Wortes darstellt. Der Kampf zweier Worte - des eigenen und des entlehnten - vollzieht sich dabei in den Dialekten genauso wie in den obenbeschriebenen Synonympaaren. Wir finden im "Orrmulum" 9mal das alte englische / e j j e / 'Schrecken' sowie das abgeleitete Adjektiv / e j j e l a e s / 'furchtlos', und daneben das skandinavische /a^he/ und die Ableitung/a^hefull/ 'furchtsam, ängstlich'. In "Genesis and Exodus" steht 2mal /eige/ und 5mal /age/, während die "Chronicle" des Robert von Gloucester nur /ege/ (6mal) enthält. Es ist natürlich, daß die Denkmäler des nördlichen Dialektes die Skandinavismen verwenden: "Cursor Mundi" - /aw/ (oder /agh/) - 42mal, das abgeleitete /auful/ - 3mal, "The Towneley Plays" /awe/ (oder /aghe/) lOmal. In den "Canterbury Tales" Chaucers finden wir nur /awe/ (3mal), eine Form, die in der modernen Literatursprache geblieben ist (in den modernen Territorialdialekten gibt es bis heute die echt englische Form /eye/). Ein analoges Bild kann man im Mittelenglischen bei der Konkurrenz zwischen den aus dem Skandinavischen entlehnten Wort /egg/ 'Ei' (das in der modernen englischen Literatursprache geblieben ist) und dem einheimischen englischen / e y / im Mittelenglischen beobachten. Hat eine im Altenglischen vorhandene etymologische Dublette den Prozeß der Aneignung des entlehnten ¡skandinavischen Wortes erleichtert? Darauf ist unbedingt mit ja zu antworten. Die Identität oder in anderen Fällen die Nähe der Bedeutung sowie die Ähnlichkeit der Form führten dazu, daß die skandinavische Variante die altenglische gleichsam in Beschlag nahm. Das Ergebnis war ein Wort in zwei phonetischen Varianten, welche in den einzelnen Dialekten unterschiedlich stark verwendet wurden. Dabei werden diese im Laufe der Zeit unterschiedlich stark gebraucht, oder es kann nur eine
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Variante von zwei möglichen verwendet werden. Die literatursprachliche Norm wählt im Endergebnis häufig die Variante, deren Ursprung das skandinavische Wort war. 29 Genau so ist F. Moss6 zu verstehen, wenn er schreibt , daß man ohne skandinavischen Einfluß heute /swester/ (altengl. /sweostor/) und nicht /sister/ 'Schwester' (skand. /syster/), /ey/ (altengl. / h j ) und nicht /egg/ ' E i ' (skand. /egg/), /woke/ (altengl. /wak/) und nicht /weak/ (skand. /veikr/) usw. sagen würde. Natürlich gab es Fälle, wo sich in der Literatursprache die Lautform durchsetzte, die das unmittelbare Entwicklungsergebnis der einheimischen englischen war, und wo der Skandinavismus Bestandteil des Dialektes blieb (z. B. literatursprachliches/dew/ 'Tau'< altengl. /deaw/ und dialektales /dag/skand. /d^gg/, literatursprachliches /to hew/ 'hauen, fällen' < altengl. heawan/ und dialektales /hag/< skand. /höggva/ und andere). Obwohl, wie von uns oben schon gezeigt wurde, der Prozeß der Entlehnung des skandinavischen Lexems anfänglich der gleiche war wie auch in jedem beliebigen anderen Fall der Einwirkung einer Sprache auf die andere, handelt es sich bei etymologischen Dubletten letzten Endes um Erscheinungen phonetischer Substitutionen. Mit Sicherheit kann man davon nur dann sprechen, wenn sie keinen einmaligen Charakter haben, sondern eine bestimmte Lautreihe darstellen, die zum Phonemsystem der englischen Sprache der Gegenwart gehört, obwohl sie gleichzeitig auch eine besondere Stellung vom Standpunkt der Verteilung dieser Phoneme in verschiedenen Lautverbindungen einnimmt. Für unsere Aufgabe - nämlich das allmähliche Eindringen ostzentraler Elemente in den Londoner Dialekt zu zeigen - ist in diesem Zusammenhang nur wichtig, daß die Verteilung dieser anglo-skandinavischen Lautvarianten eines Wortes in den Territorialdialekten des Mittelenglischen, ihre Chronologie und ihr Erscheinen in der Sprache Londons von jenem Prozeß zeugen, in dem die südlichen Elemente zugunsten der ostzentralen verdrängt wurden. Die Veränderungen in der Verteilung dieser Lautvarianten können als ein Merkmal der dialektalen Umorientierung der sich f o r m i e renden nationalen Literatursprache dienen. Zusätzliches Anschauungsmaterial kann die Verteilung der Varianten des (skandinavischen) Verbs /giuen/ 'geben' und (des einheimischen englischen /yeuen/ in den Dialekten im Mittelenglischen liefern. "Orrmulum" hat 25mal /gifenn/ und 239 davon abgeleitete Formen; "Havelok the Dutch" 8mal /give/ und /yive/ oder 19mal /yueue/; "Owl and the Nightingale" nur /¿iue/jefe/ (4mal). Die "Chronicle" des Robert von Gloucester nur /jiue/zeue/ (53mal); "Cursor Mundi" nur die skandinavische Variante (108mal); "The Towneley Plays" - nur die skandinavische Variante. In den "Canterbury T a l e s " Chaucers ist die einheimische englische Form /yeue/ (oder /yiue/) die Regel, Formen von /gyue/ begegnen insgesamt nur 5mal. Ein etwas anderes Bild in der Sprache Chaucers läßt sich in bezug auf das Verb /geten/ (skandinavische Variante) - /¡eten/ (einheimische englische Variante) 'erhal-
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ten* beobachten. Dieses Verb wird im Altenglischen nur in präfigierten Formen verwendet, im Mittelenglischen aber sowohl in präfigierten als auch in nichtpräfigierten Formen, Das "Orrmulum" enthält vier Fälle der skandinavischen Variante und zwei der einheimischen englischen, das entsprechende Verhältnis im "Havelok the Dutch" lautet 12 : 1. "Owl and the Nightingale" verfügt genau wie die "CKronicle" des Robert von Gloucester nur über die englischen Varianten dieses Verbs, während im "Cursor Mundi" dreimal das einheimische englische Wort vorkommt, wobei die skandinavischen Formen aber überwiegen. In den "Canterbury Tales" Chaucers steht die skandinavische Form an erster Stelle (39mal), die englische (präfigierte) begegnet sporadisch (nur 4 Beispiele). Obwohl in der modernen Literatursprache die Skandinavismen /to give/ und /to get/, welche die englischen verdrängten, gleichberechtigt die Norm darstellen, ist demnach ihre Verteilung in den Dialekten der mittelenglischen Periode nicht einheitlich. Würde es sich beim Verb /to get/ nur um präfigierte Formen handeln, könnte man das ungleiche Verhältnis diesen letzteren zuschreiben. Wie wir aber gesehen haben, gibt es in den mittelenglischen Denkmälern auch Formen ohne Präfixe. Das bestätigt unsere These, daß die Verbreitung einer entlehnten phonetischen Variante entsprechend dem Typ lexikalischer Entlehnungen genauso wie bei jedem anderen Wort auf individuellem 30 Wege erfolgt , obwohl die Fertigung eines Aussprachetyps in der Sprache Londons der allgemeinen Linie entspricht, nach welcher der ostzentrale Dialekt vordrang und die südlichen Elemente verdrängt wurden. Wie wir gesehen haben, drangen die ostzentralen Elemente in die Sprache Londons auf den verschiedenen Ebenen der Sprache mit unterschiedlicher Intensität ein. Die spezifischen Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung der Phonetik, der Grammatik und der Lexik wirkten sich auf die Aneignung der Dialektismen aus. Der Prozeß der Verdrängung der südlichen Dialektzüge aus dem Londoner Dialekt - der Grundlage der sich formierenden Nationalsprache - vollzog sich unter der Bedingung des Nebeneinander unterschiedlicher dialektaler Formen während einer bestimmten Zeit. Obwohl das Nebeneinander sowohl phonetischer als auch grammatischer Varianten eine lange Zeit andauern kann, erfolgt die Wahl einer von ihnen und ihre Festigung als Norm im Prozeß der Entwicklung der Nationalsprache. Die Verdrängung einer der konkurrierenden Formen geschieht allmählich. Nicht nur in ein und demselben Dialekt, sondern sogar in der Sprache eines Schriftstellers können beide konkurrierenden Formen gleichberechtigt verwendet werden. Für die englische Sprache seit der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts ist diese Situation bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts typisch. Nach ihrer Herkunft können die konkurrierenden Varianten unterschiedlicher Art sein. Erstens kann das "Neues" und "Altes" im wörtlichen Sinne des Wortes sein, z.B.
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auf phonetischem Gebiet - Formen, die schon vollzogene oder umgekehrt noch nicht völlig gefestigte Lautveränderungen widerspiegeln, auf grammatischem Gebiet - Analogieformen und historische Formen. Bekanntlich wandelte sich im Laufe des 15. Jahrhundert / e r / zu / a r / , jedoch e r faßte diese Veränderung bei weitem nicht alle Wörter sofort, und längst nicht immer blieb / a r / in der Sprache der Gegenwart erhalten. Wenn wir im 16. Jahrhundert neben dem alten T y p / e r t h e / 'Erde', / s t e r r e s / 'Sterne', /hertes/ 'Herzen', /person/ ' P e r son', /werk/ 'Arbeit' den neuen Formen /parson, hartes, warke, sarvis/ 'Dienst', 31 /clark/ 'Schreiber'
begegnen oder wenn die Form mit Spirantisierung /father/ unter
dem Einfluß des folgenden / r / neben der alten Form /fader/ vorkommt, so kann man deshalb sagen, daß die neue Form die alte noch nicht zu verdrängen vermochte oder daß die Abgrenzung zwischen den lautlichen Formen mit einer gefestigten Bedeutung für jede von ihnen noch nicht erfolgt war (wie im Falle des modernen /person/ ' P e r son' und /parson/ 'geistliche Person, Priester'). In der Morphologie können im 16. Jahrhundert die historischen Formen wie/shoon/ 'Schuhe', /mew/ 'mähte', /slep/ 'schlief',/rew/'ruderte' und die Analogieformen/shoes, mowed, slapte/slepte, rowed/ nebeneinander stehen. Der zweite Fall liegt dann vor, wenn die verschiedenen Formen sich durch ihre unterschiedliche dialektale Herkunft erklären. Bei Chaucer begegnet im gleichen Maße die südliche Form /dradde/ (Präteritum von altengl. /dräsdan/ 'sich vor etwas fürchten') und die zentrale Form /dredde/. Das gleiche finden wir im 16. Jahrhundert bei T . Elyot vor, der sowohl die Formen des südlichen T y p s / l a s s e / 'Mädchen', /praty/ 'schön', /dradde/ als auch die Formen der zentralen Mundarten /lesse, drede/ (Subst.), /redde/(Präteritum des altengl. Verbs/räedan/ 'erörtern', 'raten', 'lesen') verwendet. Ihrer Herkunft nach Vinterschiedliche Dialektvarianten sind die in der Sprache des 16. Jahrhunderts vorkommenden/bisie/und/besie/(altengl. /bysiz/ '(vielbeschäftigt'), /than, then/ (altengl. /fiaeenne/ 'dann'), /euil/ und /iuel/ (altengl. /yfel/ 'Übel'); daneben begegnen wir/suche/ (altengl. /swylc/ 'solcher'). All das beweist, daß für viele Formen im 16. Jahrhundert eine festgesetzte Aussprachenorm fehlte. Zugleich entsteht gerade im 16. Jahrhundert das Bewußtsein, daß eine festgesetzte Aussprachenorm notwendig ist. Die Einführung des Buchdruckes im 15. Jahrhundert fördert die Festigung einer bestimmten Form der nationalen Literatursprache, die sich auf der Grundlage des Londoner Dialektes entwickelte, und trägt gleichzeitig zu deren Verbreitung über ganz England bei. Der Begriff der Norm ist einer der wichtigsten Begriffe in der Periode der Stabilisierung der nationalen Literatursprache. Es entstehen neue Bewertungsmuster, diese oder jene Sprachformen werden als "richtig" oder "falsch" bewertet, mit anderen Worten als "literatursprachlich" oder "nicht literatursprachlich". Gerade im 16. Jahrhundert erscheinen in den Werken verschiedener
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Autoren erstmals Erörterungen über die Eigenschaften der Sprache, über die Notwendigkeit, die englische Sprache (und nicht die lateinische) in allen Bereichen der Literatur und der Wissenschaft zu verwenden. Gleichzeitig fragen Autoren des 16. J a h r hunderts (R. Puttenham, E. Spenser, Ph. Sidney, E. Elyot, Webbe und andere) danach, welche sprachliche Form für das literarische Schaffen als geeignet anzusehen ist. So wird in der Puttenham zugeschriebenen Arbeit "The Arte of English Poesie" dem Dichter empfohlen, die Alltagssprache des königlichen Hofes wie auch die Sprache Londons und der um London liegenden Gebiete in einer Entfernung von nicht mehr als 60 Meilen zu verwenden. Tatsächlich verschwinden die örtlichen Dialekte des Zentrums und des Südens vollständig aus der Literatur. Der nördliche Dialekt macht angesichts der politischen Absonderung Schottlands eine Zeit eine gesonderte Entwicklung durch, und die schriftliche Tradition wird in ihm fortgesetzt. Für ganz England wird die Sprache Londons zum literatursprachlichen Standard. Gerade die Londoner Norm herrscht nicht nur in den literarischen Werken vor, sondern auch im privaten Briefverkehr, in Tagebüchern und ähnlichen inoffiziellen Dokumenten. Man kann somit annehmen, daß man der literatursprachlichen Norm nicht nur in der Schriftform, sondern auch in der mündlichen Form der Sprache folgte. Natürlich kamen neben der Verwendung der Literatursprache in London deren Varianten vor, die eine gewisse Anzahl von Wörtern enthalten, welche literatursprachlich nicht zugelassen werden. Wenn sich im 16. Jahrhundert die territoriale Differenzierung der Sprache wegen der führenden Rolle der Literatursprache weniger bemerkbar macht, so können die ihrer Herkunft nach zu den örtlichen Dialekten gehörenden Elemente, die aus der literatursprachlichen Verwendung ausgeschieden wurden, in andere Bereiche abgehen und zum Merkmal sozialer Dialekte - der Jargons - werden. Die im heutigen London verbreitete nichtliteratursprachliche Sprachform (der sog. cockney) unterscheidet sich von der Literatursprache nicht nur in der Lexik, sondern auch in einer ganzen Reihe phonetischer und grammatischer Züge. Dabei zeigt es sich, daß vieles, was nach den modernen Normen der Literatursprache unzulässig ist, in früheren Perioden ihrer Entwicklung aber möglich war, im modernen cockney völlig gebräuchlich ist. Für den cockney können jene frühen Züge des Londoner Dialektes charakteristisch sein, die nicht zur literatursprachlichen Praxis wurden, weil sie von konkurrierenden Formen eines anderen Dialektes verdrängt worden waren. Die dialektalen Elemente, welche eine frühere Entwicklungsetappe der Nationalsprache charakterisierten und welche im Prozeß der dialektalen Umorientierung der sich formierenden Literatursprache aus der Literatursprache ausschieden, werden als Archaismen aufgefaßt und können als solche in den verschiedenen Sprachstilen spezifisch verwendet werden.
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Bekanntlich gebrauchte Chaucer in seinen Werken bestimmte Wörter in der südlichen (oder kentischen) Form. B. ten Brink erklärte das damit, daß Chaucer die dialektalen 32 Elemente jenes Gebietes beibehielt, aus der er stammte. 33 Anders erklärt dies O. Arngart, der den Standpunkt W. Heusers dahingehend einnimmt, daß der Londonder Dialekt seinem Charakter nach anfänglich an den Dialekt von Essex anschloß. Arngart weist darauf hin, daß diese Stellung eine große Bedeutung für die Erforschung der Sprache Chaucers hat, denn im Lichte der Theorie Heusers ist es falsch, von "Kentismen" bei Chaucer zu sprechen. "That Chaucer's language is not Kentish is proved by 34many divergences; on the other hand it is largely the old Saxon dialect of London City" . Welche Argumente aber kann man für die Schlußfolgerung anführen, daß bei Chaucer die südlichen, zu Archaismen der Londoner Sprache seiner Zeit gewordenen Formen als Merkmal eines bestimmten Sprachstils verwendet werden? In seinen Werken v e r wendete Chaucer die Sprache Londons des 14. Jahrhunderts, die schon keine lokalen Züge mehr hatte und die zur nationalen Literatursprache wird, zu deren Gestaltung und Verbreitung über ganz England Chaucer selbst nicht wenig beigetragen hat. Deshalb ist es unsinnig, von Elementen irgendeines Lokaldialektes in der Sprache Chaucers zu sprechen. Die Normen der Literatursprache waren im 14. Jahrhundert nicht fest fixiert. Das vollzog sich später, aber wenn es Schwankungen und die Möglichkeit eines indifferenten Wechsels der ihrer dialektalen Herkunft nach unterschiedlichen Formen gab, dann hätte sich das in der Sprache insgesamt zeigen müssen. Wenn wir indessen wirklich häufig die parallele Verwendung analoger und historischer Formen antreffen, so erfährt das in bezug auf die unterschiedlichen Dialektformen eine gewisse Einschränkung: es wurde bemerkt, daß die Prosa Chaucers den offiziellen Londoner Dokumenten des 14. Jahrhunderts sprachlich näher steht als seine Poesie, die mehr südliche Züge enthält (d.h. das, was man früher auch als "Kentismen" bei Chaucer bezeichnete). Gerade in den Versen Chaucers finden wir solche Fälle wie /berie/ 'verbergen', /kesse/' 'küssen', /fulfelle/ 'erfüllen', findet sich die Form /besie/ 'beschäftigt' neben /bisie/; /burth/ 'Geburt' neben /birth/. Gerade in den Versen begegnet das Partizip II mit dem Präfix / y - / usw. Für die Sprache der Poesie Gowers - eines Zeitgenossen Chaucers - sind gleichfalls "südliche" Züge charakteristisch. Man muß folglich zugestehen, daß im Prozeß der dialektalen Umorientierung aus der Sprache Londons verdrängte südliche Elemente dank der literarischen Tradition in bestimmten Genres erhalten blieben, man verstand sie jedoch hinsichtlich des geltenden Sprachsystems schon nicht mehr als lokale, sondern als zeitlich bedingte E r scheinung, mit anderen Worten, man faßte sie als Archaismen und nicht als Dialektismen auf.
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Schwierig ist es, von irgendwelchen bewußten Verfahren der Stilisierung bei Chaucer oder Gower zu sprechen. Die Lösung dieser Frage erfordert eine besondere linguostilistische Untersuchung des künstlerischen Schaffens dieser Schriftsteller. Auf alle Fälle bleibt, daß die Denkmäler verschiedener Genres unterschiedlich mit Elementen angereichert sind, die für die in Rede stehende Entwicklungsetappe der Sprache Archaismen darstellen. Die Untersuchung zeigte, daß bei der Formierung der nationalen Literatursprache eine Verschiebung ihrer dialektalen Basis möglich ist, die durch spezifische historische Ursachen hervorgerufen wird. Dabei wirkt sich eine solche dialektale Umorientierung auf den verschiedenen Ebenen der Sprache - der Phonetik, Grammatik und Lexik - unterschiedlich aus, in Übereinstimmung mit den spezifischen Zügen, die diesen sich untereinander unterscheidenden Ebenen der Sprache eigen sind. Die verdrängten dialektalen Züge können bei der Herausbildung literatursprachlicher Normen und den entstehenden Bewertungsmaßstäben als "richtig" oder "falsch" vom Standpunkt festgesetzter Normative entweder in das Gebiet der sozialen Dialekte - der Jargons - einfließen oder als Archaismen zum Bestandteil der Sprache bestimmter Genres werden.
Anmerkungen 1 H.C. Wyld, A short history of English, London 1937, S. 93, 143. 2 Horn schreibt: "Das me. Nebeneinander von anlautenden /y-/ und /g-/ ragt in einigen Fällen in das ältere Ne. hinein. Meist handelt es sich darum, daß einheimische Wortformen mit /y-/ durch Wortformen mit /y-/ durch skandinavische allmählich verdrängt wurden. Die skandinavischen Formen wurden von den nördlicheren Mundarten, die sie aufgenommen hatten, der Londoner Schriftsprache zugeführt. In die Anfangszeiten der ne. Schriftsprache hinein reichen die Schreibungen /yeve/ neben /give, yeft/ neben /gift/, /yeld/ neben /gild/, /guild/ (die Londoner /Guildhall/ begegnet in Urkunden um 1400 als /Yildhall/ und /Gildehall/), /ayein/ und /ayen/ neben /again/; /foryet/ steht noch in Londoner Urkunden um 1400 für /forget/. " (W. Horn, M. Lehnert, Laut und Leben, Bd. 2, Berlin 1954, S. 849). 3 H.C. Wyld, A Short history of English, London 1937, S. 119, 120. 4 Vielleicht muß man den Unterschied erklären, der in dieser Hinsicht zwischen phonetischen Fakten und solchen der Grammatik besteht. Vom historischen Standpunkt sind /berl/ oder /hei/ Reste eines verdrängten Lauttypes, synchronisch gesehen fallen sie jedoch aus dem phonetischen System der Sprache der Gegenwart heraus, da alle in diesen Wörtern vorkommenden Phoneme für die englische Sprache der Gegenwart typisch sind und in Wörtern der verschiedensten Herkunft vorkommen. Wenn aber eine beliebige morphologische Form isoliert ist, die in historischer Hinsicht der "Rest" eines einst vorhandenen Typs ist, fällt sie gewöhnlich aus dem Rahmen der Grammatik heraus, wird lexikalisiert, indem sie gleichsam eine neue Qualität annimmt, wobei sie nicht als Element im modernen grammatischen System
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verbleiben kann. Das gleiche läßt sich hinsichtlich von Resten syntaktischer Einheiten sagen, in denen entweder deren Lexikalisierung oder ihre Umdeutung erfolgt. So z. B. sind /shadow/ 'Schatten', /meadow/ 'Wiese' alte oblique Kasus (offenbar Dativ) von /wo/-stämmigen Substantiven. Der Nominativ dieser Deklination hat sich in /shade/ und /nead/ entsprechend erhalten. Heute sind das jedoch selbständige Lexeme. Die der Sprache der Gegenwart inadäquate unpersönliche Konstruktion eines Satzes konnte nur durch Lexikalisierung der syntaktischen Wendung in /methinks/ 'mir scheint' erhalten werden. Den Fall einer syntaktischen Umdeutung kann man in /woe is me/ 'wehe m i r ? ' beobachten (vgl. G. Curme, Syntax, New York 1931, S. 9). 5 K. Brunner, Die englische Sprache. Ihre geschichtliche Entwicklung, Bd. 2, Halle 1951. 6 M. Lehnert, Sprachform und Sprachiunktion im "Orrmulum" (um 1200). Die Deklination, Berlin 1953. 7 L. Morsbach, Über den Ursprung der neuenglischen Schriftsprache, Heilbronn 1888.
8 S. Moore, Historical outlines of English sounds and inflections, Ann Arbor 1951, S. 112, 113. 9 W. F. Bryan, The Midland present plural indicative ending -e(n), in: Modern Philology 18 (1921), S. 457-473. 10 S. Moore, Historical outlines of English sounds and inflections, Ann Arbor 1951, S. 115. 11 J. Frieshammer, Die sprachliche Form der Chaucerschen Prosa, Halle 1910. 12 H.C. Wyld, A short history of English, London 1937, S. 257. 13 J . Frieshammer, Die sprachliche Form der Chaucerschen Prosa, Halle 1910, S. 95. 14 Mit dem Hinweis, daß die Flexionsendung der 3. Ps. Sg. Präsens trotz der Tatsache, daß gerade sie sich später als Norm für die englische Literatursprache konsolidierte, selten im südöstlichen Zentraldialekt verwendet wurde (wovon die Sprache Chaucers und seiner Zeitgenossen zeugt), äußert S. Moore die Vermutung, daß sie oft so ausgesprochen werden konnte, obwohl man weiter / - t h / schrieb (vgl. S. Moore, Historical outlines of English sounds and inflections, Ann Arbor 1951, S. 115). 15 Vgl. H.C. Wyld, A short history of English, London 1937, S. 256. 16 E. Abbott, A Shakespearian grammar, London 1883, S. 5-7. 17 A. Baugh, A history of English language, London - New York 1951, S. 310. 18 H. Wyld hält die Flexionsendung / - e s / in der 3. Ps. Sg. Präs. beim Verb der englischen Sprache der Gegenwart nicht für das Ergebnis des Einflusses der nördlichen Dialekte, sondern nimmt an, daß die vorhandene Form / i s / 'ist' zum Eindringen der Flexionsendung der 3. Ps. Sg. Präs. beitrug. (H. C. Wyld, A short history of English, S. 257). Karl Brunner erkennt aber den Einfluß der nördlichen Dialekte als Hauptfaktor an. Er schreibt: "Das zuerst bloß nördliche, im Laufe der mittelenglischen Zeit aber auch ost- und nordwestmittelländische -es dringt gegen Ende des 14. und im 15. Jahrh. allmählich in London und damit in der Gemeinsprache vor". (Karl Brunner, Die englische Sprache, Ihre geschichtliche Entwicklung, Zweiter Band, Halle (Saale) 1951, S. 174). 19 F. Moss6, Esquisse d'une histoire de la langue anglaise, Lyon 1947, S. 48; vgl. auch H.C. Wyld, A short history of English, London 1937, S. 234-239.
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20 Z.B. die Verbreitung des Personalpronomens der 3. Person Fem. / s h e / und die Verdrängung des altenglischen /heo/ altengl. /he (hi)/ (vgl. H. C. Wyld, A short history of English, London 1937, S. 230, 231); die dialektalen Unterschiede bei der Bildung der Formen der Vergangenheit der starken Verben (vgl. K. Brunner, Die englische Sprache, Ihre geschichtliche Entwicklung, Halle 1951, Bd. 2, S. 176 ff.; die Veränderung des Paradigmas des Verbs / s e i n / und andere Erscheinungen. 21 Vgl. E.B. Björkman, Scandinavian loan-words in Middle English, Halle 1900-1902, Bd. 1-2; M. Serjeantson, A history of foreign words in English, London 1935. 22 J . Wright schreibt in seiner "Mittelenglischen Grammatik": "if we exclude all sc-words of various origins which are common to the standard language and the dialects it is a remarkable fact that the English Dialect Dictionary contains 1,154 simple words beginning with sc-(sk-)". (J. Wright, An elementary Middle English grammar, Oxford 1934, S. 82). Bekanntlich ist die Lautgruppe / s k - / das phonetische Hauptmerkmal der ihrer Herkunft nach skandinavischen Wörter in der englischen Sprache der Gegenwart. 23 A. Baughj A history of the English language, London - New York 1951, S. 120, 121. 24 E. Ekwall, How long did the Scandinavian language survive in England? "A grammatical miscellany offered to O. Jespersen", Copenhagen - London 1930, S. 17-30. 25 F. Moss6, Esquisse d'une histoire de la langue anglaise, Lyon 1947, S. 46, 47. 26 A. Rynell, The rivalry of Scandinavian and native synonyms in Middle English especially taken and nimen, Lund 1948. 27 In der angeführten quantitativen Analyse sind die Angaben der Arbeit A. Rynells berücksichtigt. 28 Ein Gradmesser dafür, wie das entlehnte skandinavische Wort als normal und richtig empfunden zu werden beginnt, das verdrängte englische dagegen als unpassend, können die Verbesserungen sein, welche von den Schreibern beim Abschreiben einzelner Werke vorgenommen werden. So wird im Poem "Cursor Mundi" in der Handschrift F /clepe/ systematisch mit /calle/ ersetzt, obwohl die Handschrift CE an /clepe/ festhält. Die Tatsache, daß in allen vier Handschriften im Beispiel /He wend a scaped})ar wit alle fiat nan him cuth ne clepe ne cale/ (1117) an /clepe/ festgehalten wird, ist offenbar damit zu erklären, daß beide Verben in ein und demselben Satz vorkommen. 29 F. Moss6, Esquisse d'une histoire de la langue anglaise, Lyon 1947, S. 42. 30 Vgl. Viktor M, Schirmunski, Deutsche Mundartkunde, Berlin 1962; ders. , Zu einigen Problemen der linguistischen Geographie, in: Voprosy jazykoznanija 4 (1954), S. 3-25. 31 W. Horn/M. Lehnert, Laut und Leben, Berlin 1954, Bd. 1, S. 445 und 471-479. 32 B. ten Brink, Chaucers Sprache und Verskunst, Leipzig 1884. 33 Vgl. W. Heuser, Altlondon mit besonderer Berücksichtigung des Dialekts, Osnabrück 1914, S. 28, 34. 34 O. Arngart, Middle English dialects, in: Stockholm studies in modern Philologie 17 (1949), S. 22, 23.
C.A. Mironow DIE HERAUSBILDUNG DER AUSSPRACHENORM IM NIEDERLÄNDISCHEN UND IHRE DIALEKTALE GRUNDLAGE
1 Der komplizierte Charakter der Wechselbeziehungen zwischen der gesprochenen und der schriftlichen Form der niederländischen Literatursprache findet seine Widerspiegelung in der Beziehung der spezifischen Wege der Herausbildung der Ausspracheund der Rechtschreibnormen, die in einer bestimmten Periode als Ergebnis eines langwierigen und äußerst widersprüchlichen historischen Entwicklungsprozesses entstanden sind. Die Widersprüchlichkeit dieses einheitlichen, die beiden Seiten Aussprache und Orthographie umfassenden Prozesses ist vor allem eng verbunden mit den Ge setzmäßigkeiten der Entwicklung und Funktion der beiden Varianten oder Formen der Literatursprache und auch mit den allgemeinen Eigenschaften und Besonderheiten, die im System der Aussprache und der Orthographie begründet sind. Wenn sich dabei die Herausbildung der Aussprachenorm hauptsächlich innerhalb der gesprochenen Literatursprache vollzieht, so setzt sich die Ausbildung ihrer orthographischen Norm in der geschriebenen Form durch. * Man darf nicht vergessen, daß die Festlegung der Aussprachenorm, die sich unmittelbar auf die mündliche Form der Sprache bezieht, auch nur mittelbar - durch Schreibweise und Orthographie - ihren Niederschlag in der geschriebenen Sprachform findet. Die orthographische Tradition, die sich in der schriftlichen Form der Literatursprache ausbildet, übt ihrerseits einen bedeutsamen Einfluß auf die Entwicklung der Aussprachenorm aus. Sie steht in Wechselwirkung mit den Aussprachetendenzen und fördert oder hemmt die Festlegung dieser oder jener phonetischen Prozesse, die sich in der überdialektalen literatursprachlichen Norm widerspiegeln. Berücksichtigt man deshalb die Notwendigkeit einer klareren Abgrenzung der Bereiche Aussprache und Orthographie, so ist es nicht weniger notwendig, die Prozesse der Ausbildung der Aussprachenorm in enger Wechselbeziehung mit der Entwicklung des orthographischen Systems zu untersuchen. Diese Wechselbeziehung zeigt sich zweifellos auch in den f r ü hen Etappen der Entwicklung der Literatursprache. Im folgenden Abschnitt werden die grundlegenden Prozesse der Herausbildung der heutigen niederländischen Aussprachenorm als Gesamtheit der festgelegten, besonders der in der Sprache festgewordenen Aussprache(Laut-)typen untersucht, die sich in einer allmählichen Auswahl und Abgrenzung oder der Eliminierung der mannigfaltigen
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C.A. Mironow
(phonetischen) Dialektvarianten herausgebildet haben. Diese Varianten waren charakteristisch für die vornationale Periode. Natürlich ist es bei der Analyse mittelniederländischer Denkmäler und der Quellen der Übergangsperiode umso schwerer, die Ausspracheerscheinungen von ihrer Widerspiegelung in der Orthographie abzugrenzen, je mehr uns die Möglichkeit unmittelbarer Wahrnehmung und Wiedergabe des Lautsystems der Sprache in so weit zurückliegenden Perioden fehlt, die der Herausbildung der literatursprachlichen Norm und ihrer Festlegung in Aussprache und Orthographie vorausgehen. Unter diesen Bedingungen müssen sich die Forscher gewöhnlich mit der mehr oder weniger zuverlässigen Rekonstruktion des phonologischen Systems begnügen. Trotz des Vorhandenseins einer bestimmten Tendenz zur Einhaltung eines phonetischen Prinzips in der Orthographie, die für die mittelniederländische Periode charakteristisch ist (was teilweise die Aufdeckung der hinter den Graphemen stehenden Lautwerte begünstigt), ist die zuverlässige Rekonstruktion des Phonemsystems der Sprache dieser Epoche ungewöhnlich schwierig, wenn nicht unmöglich. Das hängt mit dem Schwanken der Orthographie und der Mannigfaltigkeit der graphischen Varianten zusammen, die mitunter eine Reihe phonologischer und besonders phonetischer Unterschiede in der Sprache verdecken und verwischen. Vor allem ist es notwendig, die mehr oder weniger eindeutigen graphischen Äquivalente oder Phonemsubstitute der Lauteinheiten zu untersuchen, die sich durch die größte Stabilität, minimale Variabilität und geringste Zweideutigkeit unterscheiden (wie zum Beispiel: p, b, t, d, 1, m, n, r - im Bereich des Konsonantismus, oder a, e, i, o, u im Bereich der Wiedergabe der Vokale). Andererseits müssen die orthographischen Erscheinungen (vgl. die graphischen Varianten des Typs: c, k, ck, kk für den Konsonanten k; a, ae, ai, aa für den langen Vokal a u. ä.) scharf abgegrenzt werden. Gleichzeitig ist es notwendig, die Existenz möglicher Allophone (vgl. /-g/ - /g/; / e i / - / a i / und der ihnen entsprechenden Allographe (g, gh - cgh, cg; ei, ey - ai und dergleichen) in 2 Betracht zu ziehen. 3
Die erwähnten Schwierigkeiten hinderten die niederländischen Forscher jedoch nicht, die Möglichkeit ins Auge zu fassen, das mittelniederländische Phonemsystem in seinen verschiedenen regionalen Varianten auf der Grundlage einer sorgfältigen und behutsamen Analyse des orthographischen Systems (unter Berücksichtigung seiner landschaftlichen Varianten) mehr oder weniger zuverlässig zu rekonstruieren. Dem dient auch ein breites Heranziehen von Quellen der verschiedenen Dialekte und Genres und ferner (als Hilfsmittel) der entsprechenden modernen niederländischen Dialekte. Dabei muß man natürlich der besonderen Schwierigkeit Rechnung tragen, das qualitative oder quantitative Merkmal einiger Laute (wie zum Beispiel das lange / o : / oder / u / beim Zusammenfall ihrer graphischen Kennzeichnung zu rekonstruieren (Wiedergabe beider Laute durch /oe/).
Herausbildung der Aussprachenorm im Niederländischen
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In der Übergangszeit dauert die Diskrepanz zwischen dem System der Aussprache und dem der Orthographie nicht nur fort, sondern sie vergrößert sich sogar durch eine gewisse Komplizierung der graphischen Mittel (insbesondere durch die breite Verwendung der Verdoppelung von Graphemen des Typs: rock, deecken) und auch durch die Verflechtung verschiedener orthographischer Traditionen sowie durch die allmähliche Abkehr vom phonetischen Prinzip der Orthographie (vgl. zijdt, mensch). Diese Diskrepanz erreicht im 16. Jahrhundert ihren Höhepunkt. Freilich, zu keiner Zeit ihrer Geschichte zeigt die Divergenz zwischen dem Aussprache- und Orthographiesystem in der niederländischen Literatursprache solche Ausmaße wie zum Beispiel im Englischen, Als einer der charakteristischen Züge des Niederländischen erscheint dennoch ein v e r hältnismäßig einfaches, logisches und mehr oder weniger äquivalentes Verhältnis zwischen den Graphemen und den durch sie bezeichneten lautlichen Einheiten. Andererseits darf man auch in der Periode nach der Festlegung der orthographischen Norm (im 17. und 18. Jahrhundert) den mehr oder weniger konservativen Charakter der orthographischen Tradition und ihr häufiges Zurückbleiben hinter den phonetischen Prozessen, die sich in der Sphäre der gesprochenen Sprache vollziehen, nicht übersehen, In dieser Periode festigte sich die Vorstellung von der Unabänderlichkeit der orthographischen Regeln, von ihrer Unanfechtbarkeit, auf die sich auch die gesprochene Alltags spräche mit ihren noch nicht ausgeglichenen Ausspracheregelungen orientieren und an die sie sich angleichen muß. Die Reaktion auf diese konservierenden Tendenzen waren die späteren mehrmaligen Orthographiereformen. Gerade der Prozeß der Ausgestaltung sowohl der Aussprache- als auch der Rechtschreibnorm der niederländischen Sprache verläuft relativ langsam und ungleichmäßig, weil die Schwankungen in der gesprochenen Form, hervorgerufen durch mundartliche Unterschiede, und die graphischen Varianten in der Sphäre der Rechtschreibung, bedingt durch die Vielfalt der orthographischen Traditionen, sehr stabil waren und nur allmählich nach langwierigem Kampf beseitigt wurden. In diesem Abschnitt wird in Übereinstimmung mit der allgemeinen Zielstellung des Buches der Versuch unternommen, die heterogene Struktur der Aussprachenorm in der niederländischen Sprache durch die Untersuchung einiger ihrer wesentlichen phonetisch-orthographischen Besonderheiten und durch das Aufzeigen ihrer landschaftlichen (dialektalen) Spezifik zu erklären. Bekanntlich festigte sich die literatursprachliche Norm im Niederländischen durch die Vermischung südniederländischer schreibsprachlicher Tradition mit der neuen gemischten holländischen Grundlage. In Verbindung damit ist beabsichtigt, das konkrete Verhältnis der süd- und nordniederländischen Ausspracheelemente (mit der unbedingt notwendigen Berücksichtigung der Schreibweise), d.h. auf der phonetisch-orthographischen Ebene der Sprache, zu bestimmen. Dieses Verhältnis war in den verschiedenen
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Entwicklungsetappen der Literatursprache unterschiedlich. Aui dieser Grundlage entwickelt sich die größere oder geringere Festigkeit der genannten Elemente und der Charakter ihrer Wechselwirkung und gegenseitigen Durchdringung. Dabei muß einerseits die Tendenz zur Nivellierung und Abschleifung einer ganzen Reihe typischer und charakteristischer Dialektmerkmale in den schriftlichen Denkmälern der literarischen Genres (im Ritterroman, der mittelalterlichen Prosa und Poesie, in moralischen und religiösen Werken) berücksichtigt werden, was mit der Entstehung regionaler Varianten der Literatursprache verbunden ist«, Andererseits ist die mehr oder weniger deutliche Tendenz zur Bewahrung dialektaler Merkmale in den Denkmälern der Geschäftsprosa (in den Städte Chroniken, Urkunden, Briefen) in Betracht zu ziehen. Bei der Analyse der phonetischen Merkmale der verschiedenen regionalen (dialektalen) Varianten wird ihr spezifisches Gewicht, ihre Produktivität oder Nichtproduktivität im Prozeß der nachfolgenden Normierung bestimmt. Ungeachtet der obengenannten Nivellierung einer ganzen Reihe von Dialektmerkmalen treten in der Schreibung verschiedener Denkmäler dieser Periode dennoch zahlreiche graphische Varianten zu Tage, die von deutlichen Lautschwankungen und vom Fehlen einheitlicher Aussprache und Rechtschreibnormen im Mittelniederländischen zeugen. Der heterogene Charakter der Struktur der lautlichen und graphischen Systeme des Niederländischen läßt sich weiter an den Denkmälern des 16. und 17. Jahrhunderts verfolgen, in denen sich das allmähliche Abklingen einer ganzen Reihe wenigproduktiver, veraltender Erscheinungen und die Festigung neuer stabilerer und produktiverer abzeichnet (wie zum Beispiel der neuen Diphthonge anstelle der alten langen Vokale). Aber auch nach Abschluß des Herausbildungsprozesses der Rechtschreibnorm und danach der Aussprachenorm des Niederländischen zeigen sich solche lautlichen und graphischen Erscheinungen, die von ihrem heterogenen Charakter zeugen und die in Wechselbeziehung mit bestimmten dialektalen Besonderheiten stehen können. Der vorliegende Abschnitt, der der Untersuchung der Herausbildung der Aussprachenorm in der niederländischen Literatursprache gewidmet ist, wird entsprechend der traditionellen-Aufteilung des phonologischen Systems der Sprache in die Subsysteme Konsonantismus und Vokalismus in zwei Kapitel gegliedert. Dabei werden die Erscheinungen auf der phonetischen und orthographischen Ebene (vor allem durch die Untersuchimg der phonetischen Fakten) in enger Wechselwirkung während der drei Hauptetappen der historischen Entwicklung der Literatursprache dargestellt, der mittelniederländischen Periode, des 16. Jahrhunderts als der Übergangsperiode und des 17. Jahrhunderts als der Periode der Herausbildung der literatursprachlichen Normen.
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Die Herausbildung der literatursprachlichen Norm im Niederländischen wird auf der Grundlage der Analyse und Auswertung des konkreten Materials auf phonetisch-orthographischer und morphologischer Ebene dargestellt. Es handelt sich um einen besonders schwierigen und widersprüchlichen Prozeß der Wechselwirkung verschiedener Faktoren und sich überschneidender Entwicklungstendenzen. Die Spezifik und die Formen, unter denen sich dieser Prozeß vollzieht, werden als strukturelle Möglichkeiten der Sprache bestimmt wie auch als vielschichtiger Komplex der gesellschaftlich-historischen Bedingungen, unter denen sie als System funktioniert. Das macht es notwendig, die Eigenart der Entwicklungswege zur Literatursprache zu untersuchen (siehe die Einleitung). Die literatursprachliche Norm dieser oder jener Nationalsprache erscheint in ihrer Struktur als 5 ein äußerst kompliziertes und heterogenes Gebilde. Wie zahlreiche Untersuchungen der letzten Zeit gezeigt haben, ist sie gewöhnlich das Ergebnis einer gewissen Abstraktion dieser oder jener, zum Beispiel auch der dominierenden Dialektgrundlage, und geht nicht auf die Gesamtheit der spezifischen Merkmale und Züge des territorialen Dialekts zurück, auf dessen Grundlage sie sich hauptsächlich herausgebildet hat. Die These, daß die literatursprachliche Norm nicht mit einem bestimmten territorialen Sprachgebrauch oder mit der Dialektnorm zusammengefallen sei, daß. ihre charakteristischen Besonderheiten nicht auf diese gleichartige oder allgemeine Mundartspezifik zurückzuführen sei und daß folglich der Begriff der einheitlichen Dialektbasis der Literatursprache nur bedingt richtig sei, wird durch das Material der niederländischen Sprachgeschichte überzeugend bewiesen. Das spiegelt sich hier in origineller und einzigartiger Weise wider, wie durch die oben dargestellten konkrethistorischen Gründe gezeigt wurde. Unter den Faktoren, die die Spezifik dieses Prozesses bestimmen, hat das komplizierte, lokal und chronologisch wechselnde Verhältnis der Literatursprache und der territorialen Dialekte in den verschiedenen Etappen der Entwicklung des Niederländischen erstrangige Bedeutung. Natürlich kann nicht die Rede von den territorialen Dialekten in ihrer reinen Form sein, sondern von der Widerspiegelung dieser oder jener größtenteils sekundären Dialektmerkmale, entweder in den verschiedenen regionalen Varianten der Literatursprache der vornationalen Periode oder in der Nivellierung schroffer dialektaler Unterschiede der städtischen Koine Hollands, die im 17. Jahrhundert in die Literaturdenkmäler Eingang gefunden haben. Bei der Analyse dieses Verhältnisses muß man diese oder jene Stufe der Absonderung der geschriebenen Literatursprache und der gesprochenen Alltagssprache von den lokal begrenzten Dialekten berücksichtigen. Auch bestimmte Prozesse der Auswahl, des Ausgleichs und der beginnenden Normierung, die sich schon in den frühen Etappen der Entwicklung der nie-
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derländischen Literatursprache gezeigt haben, dürfen nicht übersehen werden. Als Kriterium bei der Entscheidung über diese Fragen kann das in großem Umfang herangezogene Material der modernen niederländischen Dialekte dienen. Nach dem Charakter und den Besonderheiten ihrer Herausbildung gehört die literatursprachliche Norm des Niederländischen zum Typ der Normen, die als Folge eines historischen Wechsels oder des Wechsels der Dialektgrundlage entstanden sind. Dieser Umstand bestimmt zusammen mit der ungleichartigen Spezifik der neuen Dialektbasis das sehr komplizierte Verhältnis der literatursprachlichen Tradition und des Dialekts, der Literatursprache der vornationalen und der nationalen Periode und der (in den verschiedenen Entwicklungsetappen) ihr zugrundeliegenden Dialekte. Auch die sehr weitgehende und zählebige Heterogenität ihrer Struktur ist darauf zurückzuführen. Die Entstehung ihrer überdialektalen Norm ist ein komplizierter und widersprüchlicher Prozeß, der, wie ich in der Untersuchung nachzuweisen bemüht war, durch die Wechselwirkung zweier bestimmender Faktoren bedingt ist: durch die alte südniederländische (flämisch-brabantische) literatursprachliche Tradition und die Alltagssprache (die städtische Koine), die auf der neuen gemischten (eine Reihe von Elementen anderer Mundarten in sich aufnehmenden) holländischen (nördlichen) Dialektgrundlage entstanden ist. Die historische Wechselwirkung dieser zwei Faktoren bestimmt auch die Spezifik des Entstehungsprozesses der literatursprachlichen Norm des Niederländischen. Bei der Untersuchung dieses Prozesses muß nicht nur die holländische Dialektbasis, sondern auch die (unter dem Einfluß der festen Schreibtradition der südniederländischen Literatursprache der vornationalen Periode stehende) alte flämisch-brabantische Dialektbasis, die in vielem die Spezifik der niederländischen literatursprachlichen Norm in der P e riode ihrer Entstehung bestimmt, berücksichtigt werden. Bei der Erwähnung der führenden Rolle der alten literatursprachlichen Tradition im Prozeß der Herausbildung der niederländischen Norm muß unterstrichen werden, daß viele ihrer typischen Züge und Strukturmerkmale (ungeachtet des großen Umfangs der Varianten) sich sehr früh, bereits innerhalb der mittelniederländischen Periode, herausgebildet haben, lange vor der Festlegung der literatursprachlichen Norm (d.h. vor der konsequenten Regelung und Kodifizierung bestimmter Strukturformen der v e r schiedenen Ebenen). Das hängt mit den frühen Normierungsprozessen in der Sphäre der Sprache der schönen Literatur des Mittelalters und mit dem Vorhandensein einer kleinen Zahl bereits vereinheitlichter regionaler Varianten zusammen, die sich durch große Stabilität und gewachsene Autorität ihrer geschriebenen Traditionen auszeichnen. Der Umstand, daß führende regionale Varianten sich auf der flämisch-brabantischen Dialektgrundlage bilden, bestimmt die langandauernde Stabilität und Zählebigkeit dieser Traditionen in der weiteren Entwicklung der niederländischen Literatursprache. Sehr-wesentlich ist, daß ihre Autorität nicht schwankte (jedenfalls nicht in der geschrie-
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benen Sprache), auch nicht in der Periode der Herausbildung der einheitlichen Norm auf einer neuen, d.h. der nordniederländischen Dialektgrundlage. Mit anderen Worten, auch bei der Unterbrechung der unmittelbaren Kontinuität der Dialektgrundlage der Literatursprache in der vornationalen und nationalen Periode (wobei freilich die sprachlichen Kontakte gebietsweise erhalten blieben und die literarischen Wechselbeziehungen zwischen Norden und Süden weiterbestanden) setzt sich der starke, schon im Mittelalg ter wirksame Einfluß der südniederländischen Schreibtradition auch unter den neuen Bedingungen fort. Gefestigt in wichtigen Sphären der Sprachstruktur (wie zum Beispiel in der Deklination der Substantive, ihrer Differenzierung nach dem Genus, in der Bildung des Plurals, zum Teil in der- Konjugation des Verbs), gab die alte Tradition ihre Positionen nur teilweise und nicht ohne Kampf und Widerstand allmählich zugunsten der neuen Erscheinungen und Prozesse, die durch den Wechsel der Dialektbasis hervorgerufen wurden, auf. Eine solche Kraft der Kontinuität und die ungewöhnliche Stabilität der Tradition, die sich unter den Bedingungen des Wechsels der Dialektbasis zeigen, erklärt sich zum großen Teil durch Charakter und Spezifik der Normierungsprozesse, die sich in der niederländischen Sprache (wie übrigens auch in der deutschen, allerdings unter völlig anderen historischen Bedingungen) vollziehen, vor allem in der geschriebenen und nicht in der gesprochenen Form der Sprache. Der durch die Schrift, das Buch bestimmte Charakter der Normierung ist einer der typischsten Züge des Normierungsprozesses der niederländischen Literatursprache. Die Normierungsprozesse erfassen vor allem ihre geschriebene Variante, die enger mit der alten literarischen mittelniederländischen Tradition verbunden ist und die sich im allgemeinen schon infolge ihrer Spezifik durch große Stabilität, Einheitlichkeit und Geschlossenheit der sprachlichen Realisierungen von ihrer gesprochenen Form unterschied» Wie wir gesehen haben, vollzogen sich bereits die anfänglichen, ursprünglichen Normierungsprozesse, die in die mittelniederländische Periode gehören, in der Sphäre der geschriebenen Sprache, die sich von der dialektalen Differenzierung der gesprochenen Alltagssprache abhob. Prinzipiell andere Bedeutung hat die schreibsprachliche Normierung in der Periode der Herausbildung der literatursprachlichen Norm, als sie mit der historischen Spezifik der Normierungsprozesse verbunden war, mit der mehr oder weniger stark mundartlich gegliederten Sprache, mit dem Vorhandensein oder Fehlen von Zentren sprachlicher Vereinheitlichung, mit der Schwäche oder Stärke der alten literarischen Traditionen, mit dem Vorherrschen spontaner oder bewußter Auswahl u. dgl. Das Zurückbleiben im Normierungstempo innerhalb der gesprochenen Alltagssprache im Vergleich zur geschriebenen Sprache führt zu der charakteristischen Diskrepanz zwischen der gesprochenen und geschriebenen Form der niederländischen Literatursprache. Ein schlagender Beweis dafür ist die relativ frühe konsequente Kodifizierung der orthographischen Normen, die unmittelbar an die geschriebene Form der
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Sprache gebunden sind, im Vergleich zu den Normierungsprozessen in der Sphäre der Aussprache, die langsamer verliefen. So können zum Beispiel die vereinheitlichten Digraphe ij und ui im 16, und 17. Jahrhundert sowohl die alten Monophthonge als auch die neuen Diphthonge wiedergeben, was vom Vorhandensein variierender Realisationen in der Sprache dieser Zeit auf der phonetischen Ebene und vom Konkurrenzkampf zwischen älteren, schon veraltenden Normen und noch nicht gefestigten Neuerungen auf dem Gebiet der Aussprache zeugt. Es ist klar, daß die frühere Festlegung und Stabilisierung der orthographischen Normen im Vergleich zu den Aussprachenormen zu einer stärkeren Konservierung und damit auch zur Archaisierung führt. Dadurch bleibt die Orthographie hinter den sich schneller vollziehenden Normierungsprozessen in der Sphäre der gesprochenen Alltags spräche zurück, was die Diskrepanz zwischen ihnen weiter verstärkt. Diese Tendenzen in Verbindung mit einer in hohem Maße bewußten Regulierung zeigen sich sehr deutlich am Beispiel der Entstehungsgeschichte der literatursprachlichen Norm des Niederländischen, das besonders viele Orthographiereformen erfahren hat. Diese Reformen stellen den Versuch dar, von dieser oder jener Position ausgehend entweder die zwischen Orthographie und Aussprache bestehende Diskrepanz zu überwinden oder im Gegensatz dazu die konservativsten Züge der orthographischen Norm zu bewahren, zu sichern und zu verewigen. Eine analoge Diskrepanz, die auf die Unterschiede in Charakter und Tempo der Normierung in beiden Formen der Sprache zurückzuführen ist, läßt sich auch in anderen Sphären der literatursprachlichen Norm des Niederländischen beobachten (insbesondere auf der morphologischen und syntaktischen Ebene). Es ist besonders zu betonen, daß die Diskrepanz zwischen der geschriebenen und der gesprochenen Form der niederländischen Literatursprache durch den Wechsel ihrer Dialektgrundlage noch vertieft und verstärkt wird. Als Folge dieses Wechsels und der mundartlichen Umorientierung der geschriebenen Form der Sprache, die sich zunächst auf die alte flämisch-brabantische Dialektgrundlage orientiert, beginnt die gegenseitige Beeinflussung mit der gesprochenen Sprache, die schon an die neue, die holländische Dialektbasis gebunden ist. Diese Umorientierimg führt zu einer Vertiefung der Widersprüche zwischen den beiden Formen der Literatursprache, insofern sie auf die v e r schiedenen Dialektgrundlagen zurückgehen, auf die alte und die neue (aber die neue holländische, die in der gesprochenen Koine verkörpert ist, erscheint zudem nicht einheitlich in ihrer Struktur und schließt eine Reihe von Elementen anderer Dialekte, besonders südlicher, in sich). Die Konfrontation stärkerer und wichtigerer Dialektunterschiede vergrößert die Diskrepanz zwischen den beiden Formen der Sprache. Die Vertiefung der Diskrepanz zwischen der geschriebenen und der gesprochenen Variante der Literatursprache, die auf die dialektale Umorientierung zurückzuführen ist, tritt besonders deutlich auf der morphologischen Ebene hervor (insbesondere in der Bewahrung
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des veralteten südniederländischen Systems dreier Genera in der geschriebenen Form der Sprache als Gegengewicht zum holländischen Zwei-Genera-System in der gespro6henen Form und auch in der Bewahrung der flämisch-brabantischen Differenzierung der Personalendungen im Plural des Präsens beim Verbparadigma der geschriebenen Sprache im Gegensatz zur Vereinheitlichung nach holländischem Muster in der gesprochenen Sprache u. dgL.). Das gibt uns das Recht anzunehmen, daß ohne den Wechsel der Dialektgrundlage und ohne den Übergang der sprachlichen Entwicklungszentren nach dem Norden die südniederländischen (flämisch-brabantischen) Züge und Besonderheiten in der Struktur der niederländischen Sprache deutlicher und klarer hervorgetreten wären. Die Diskrepanz zwischen der Sprache der vornationalen und der nationalen Periode wäre kleiner geblieben. Zu vergleichen sind in diesem Zusammenhang einige spezifisch südliche Züge der heutigen flämischen Variante des Niederländischen in Belgien: die Bewahrung der stimmhaften Spiranten und des auslautenden unbetonten -n, die Bewahrung einiger archaischer Formen der Personalpronomina und der Wortbildungssuffixe, der seltenere Gebrauch der Pluralformen auf -s, abgesehen von dem Unterschied im Genus der Substantiva und in der Lexik, Was die Frage des spezifischen Gewichts und das Verhältnis der südlichen (flämisch-brabantischen) und der nördlichen (holländischen) Elemente in der Struktur der literatursprachlichen Norm des Niederländischen betrifft, muß vor allem unterstrichen werden, daß in ihr (wie das Material zeigt) bei aller Heterogenität dennoch die südliche Spezifik klar überwiegt. Das erklärt sich aus dem oben dargelegten langwierigen Einfluß der alten südniederländischen schreibsprachlichen Tradition und durch ihr tiefes Eindringen in den strukturellen Aufbau der Sprache, besonders in ihre geschriebene Form (siehe die Schlußfolgerungen zu Kapitel I, n und m ) . Bei dieser Sachlage kann der Einschätzung dieser Frage durch zahlreiche Sprachhistoriker, die nur vom südniederländischen "Einfluß" auf den Prozeß der Herausbildung der literatursprachlichen Norm sprechen, nicht zugestimmt werden. Beim sprachlichen "Einfluß" wird die Grundstruktur der Sprache auf allen ihren Ebenen nicht berührt. Aber die südniederländische Spezifik durchdringt im Prinzip ihre Struktur genau so tief und organisch wie die holländische (die letztere sogar in bedeutend geringerem Grade). Deshalb darf man nicht vom südniederländischen "Einfluß" als von einer äußeren und oberflächlichen Erscheinung reden, sondern von der südlichen literatursprachlichen Tradition als von einer der Komponenten (und zwar der wichtigsten) der literatursprachlichen Norm des Niederländischen. Das relativ geringe spezifische Gewicht der nördlichen (holländischen) Elemente, die gerade in der Periode der Festlegung der literatursprachlichen Norm nur in geringem Umfang eingedrungen sind und erst in der folgenden Epoche anwuchsen, zwingt uns auch, den traditionellen Begriff "holländische Dialektgrundlage" in seiner Anwendung auf die niederländische Literatlirsprache
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zu Uberprüfen und ihn nur als sehr bedingt richtig zu erkennen, jedenfalls als ungenau und einseitig. Wir müssen die Kompliziertheit des Begriffs der Dialektgrundlage sehen und sprechen von der gemischten, heterogenen Spezifik der Literatursprache, die sich aus zwei dialektalen Komponenten zusammensetzt: der ursprünglich (führenden) flämischbrabantischen und der späteren (sekundären) holländischen (wobei wir das Überwiegen der südniederländischen Elemente in der Dialektgrundlage im Auge behalten). Das ist dadurch bedingt, daß viele phonetisch-orthographische und grammatische Erscheinungen des Niederländischen sich in der Periode der Herausbildung der Normen nicht in den holländischen, sondern in den flämisch-brabantischen Varianten durchgesetzt haben, d. h. gerade gegen den holländischen Gebrauch; oder sie wurden, wenn sie in der holländischen Form in die Literatursprache eingedrungen waren, als lokale, dialektale, stilistisch nicht akzeptable, falsche, nicht der Norm entsprechende Formen bewußt beseitigt, vgl. zum Beispiel die Festlegung und Kodifizierung einer Reihe von südniederländischen Lauttypen als literatursprachliche Norm und die Verdrängung der entsprechenden holländischen oder die Festigung der flämisch-brabantischen Varianten des Verbablauts sowie die Eliminierung seiner spezifisch holländischen Formen. Auf diese Weise war der Anteil der neuen Dialektbasis an der Herausbildung der Literatursprache (und vor allem ihrer geschriebenen Form) ursprünglich gering. Die Verdrängung der holländischen Dialektformen war bedingt durch ihre Minderbewertung bei der Auswahl dieser oder jener Varianten, durch die bewußten Bemühungen der die Norm festlegenden Grammatiker. Erst nach und nach und sehr langsam erfuhren die holländischen Dialektmerkmale eine Neubewertung und begannen in den Bestand der Literatursprache einzudringen. So handelt es sich bei den beiden dargestellten Komponenten, die an der Herausbildung der literatursprachlichen Norm beteiligt waren, auf der historischen Ebene um wechselnde, keinesfalls stabile und unveränderliche Größen. Der Einfluß der alten Buchtradition behält weiter entscheidende Bedeutung in den verschiedenen Etappen des Normierungsprozesses, bald stärker, bald schwächer hervortretend. Die Perioden ihrer Aktivierung sind meistens mit dem Aufschwung der bewußten Regulierung durch die Sprachgesellschaften, Kanzleischreiber, Schriftsteller, Übersetzer, Drucker, Korrektoren usw. verbunden. Allmählich wächst und entwickelt sich der immer intensivere Einfluß der zweiten Komponente, der holländischen Alltagssprache (des Produkts der neuen Dialektbasis, der sich vor allem in der Sphäre der gesprochenen Sprache (schon im 16. Jahrhundert und besonders im 17. Jahrhundert) zeigt und erst bedeutend später in der geschriebenen Literatursprache (im 18. und 19. Jahrhundert) seinen Niederschlag findet. Dadurch wird sie durch holländische (überwiegend alltagssprachliche) Lexik bereichert, und in ihr festigen sich zahlreiche holländische phonetische und morphologische Neuerungen (mitunter als variierende Formen) wie zum Beispiel die stimmlosen
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Spiranten (anstelle der südniederländischen stimmhaften), das labiodentale w anstelle des bilabialen, das Zwei-Genera-System, die neuen Formen der Personalpronomina usw. Dabei entsteht die eigenartige Abgrenzung der Gebrauchssphären: die südlichen Varianten in der geschriebenen Form der Sprache, die nördlichen in der gesprochenen. Einer der charakteristischsten Züge der heutigen niederländischen Literatursprache und ihrer Norm ist der sehr große Umfang der Varianz (zum Teil in der Aussprache, besonders in der Morphologie und in der Lexik). Bekanntlich ist die Varianz eine Erscheinung bestimmter Entwicklungsetappen jeder Literatursprache und gehört neben der Stabilität zu den Merkmalen der Norm. Allgemein bekannt ist ferner, daß in der vornationalen Periode, d. h. vor der Festlegung der Normen, der Umfang der Varianz in der Regel größer ist, was die Existenz einer Reihe regionaler Varianten der Literatursprache begünstigt. Eine große Mannigfaltigkeit an Varianten kennzeichnet auch die mittelniederländischen Denkmäler (und zwar auf allen Ebenen der Sprachstruktur). Das war vor allem eine Folge der Widerspiegelung der dialektalen Differenzierung und zeigt sich nicht nur in verschiedenen Quellen aus verschiedenen Gegenden, sondern mitunter in ein und demselben Denkmal mit gemischtsprachlichem Charakter. Die Varianz war besonders stark auf der phonetisch-orthographischen Ebene, weniger in der Morphologie. Sie war in der Periode der Herausbildung der literatursprachlichen Normen durchaus nicht beseitigt, was nicht verwundert, sondern seine Erklärung unser e s Erachtens im Wechsel der Dialektbasis unter den Bedingungen der weiterwirkenden intensiven Beeinflussung durch die alte schreibsprachliche Tradition findet. Darüber hinaus verstärkt sich sogar die Varianz in einigen Teilen der Sprachstruktur während der Übergangsperiode (im 16. Jahrhundert), was durch die geringe und spontane Auswahl variierender Realisationen, das Fehlen strenger Kriterien der Norm und ihre sehr unterschiedliche Bewertung zu erklären ist. Erst im 17. Jahrhundert wurde der Umfang der Varianz im Zusammenhang mit der Aktivierung der Normierungstendenzen merklich kleiner. Aber die Heterogenität der Ausgangsstruktur der niederländischen literatursprachlichen Norm begünstigte die Bewahrung und Festigung einer bedeutsamen Varianz auch in den späteren Entwicklungsetappen der Literatursprache. So bedingt die Tatsache, daß zwei Dialektgrundlagen auf die niederländische Literatursprache einwirken, in Verbindung mit ihrer aus verschiedenen Dialekten bestehenden ungleichartigen Struktur die ungewöhnlich lange Dauer und den Umfang der Varianz in der literatursprachlichen Norm des Niederländischen, ihren in hohem Grade instabilen Charakter, der sich bis in die Gegenwart zeigt. Die literatursprachliche Norm ist als historische Kategorie eine qualitative Erscheinung, die naqh der Herkunft aus sehr unterschiedlichen, aber organisch miteinander vereinigten Elementen der verschiedenen Ebenen der Sprachstruktur besteht. Diese
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Elemente können nur genetisch nach ihrer ursprünglichen Herkunft (durch eine spezielle Analyse) auf bestimmte konkrete Dialektmerkmale zurückgeführt werden. Die unterschiedlichen dialektalen Züge verleihen der niederländischen Literatursprache den spezifisch heterogenen, "mosaikartigen" Charakter. Sie sind organisch geeinigt und als Ergebnis von Auswahl und Kodifizierung in die Struktur der Literatursprache integriert. Auf der synchronen Ebene beeinflussen sich die dialektalen Züge gegenseitig und existieren nebeneinander gleichsam wie in "aufgehobener Form", d.h. die ursprünglich aufgrund ihrer dialektalen Spezifik relevanten Elemente werden neutralisiert. Das Verhältnis zwischen den heterogenen Elementen der literatursprachlichen Norm ist auf den verschiedenen Ebenen der Sprache und auch in ihrer gesprochenen und geschriebenen Form sehr verschieden. In der Aussprachenorm, der grammatischen und lexikalischen Norm des Niederländischen werden diese oder jene Varianten, die eine unterschiedliche (entweder südniederländische oder holländische) dialektale Spezifik widerspiegeln, festgelegt. Bei aller Kompliziertheit der Verflechtung und Vermischung der verschiedenen Dialektmerkmale in der Struktur der literatursprachlichen Norm des Niederländischen herrscht im allgemeinen die südniederländische Spezifik gegenüber der holländischen vor.
Anmerkungen 1 V.V. Vinogradov, Problemy literaturnych jazykov i zakonomernostej ich obrazovanija i razvitija. Moskva 1967, S. 69-82. (Probleme der Literatursprachen und der Gesetzmäßigkeiten ihrer Herausbildung und Entwicklung); V. N. Jarceva, Razvitie nacional'nogo literaturnogo anglijskogo jazyka. Moskva 1969, S. 4-5. (Die Entwicklung der nationalen englischen Literatursprache); M. M. Guchman, Ot jazyka momeckoj narodnosti k nemeckomu nacional'nomu jazyku. T. 1. Moskva 1955, S. 16-17; M. M. Guchmann, Der Weg zur deutschen Nationalsprache. T. 1. Berlin 1964, S. 25-26. N. N. Semenjuk, Problema formirovanija norm nemeckogo literaturnogo jazyka XVHI stoletija. Moskva 1967, S. 11. (Das Problem der Herausbildung der Normen der deutschen Literatursprache des 18. Jahrhunderts); J. Vachek, K probleme pis'mennogo jazyka. Prazkij lingv. kruXok". Moskva 1967, S. 528. (Zum Problem der geschriebenen Sprache). 2 Dabei darf man die bekannte Tatsache nicht vergessen, daß die größten Dialektunterschiede gerade auf der phonetischen Ebene auftreten, im Niederländischen (wie auch in einer Reihe anderer verwandter germanischer Sprachen) besonders im Vokalismus. Das findet seine Entsprechung in der Orthographie. 3 Vgl. vor allem: A. van Loey, Middelnederlandse Spraakkunst. Bd. 2, 5. Aufl. Groningen, Antwerpen 1968; J . Franck, Mittelni'ederländische Grammatik. 2. Aufl. Leipzig 1910; W. van Helten, Middelnederlandsche Spraakkunst. Groningen 1887.
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4 V. N. Jarceva, Razvitie nacional'nogo literaturnogo anglijskogo jazyka. Moskva 1969, S. 148, (Die Entwicklung der nationalen englischen Literatursprache). 5 Sammelband: Voprosy formirovanija i razvitija nacional'nych jazykov. Moskva 1960. (Fragen der Herausbildung und Entwicklung der Nationalsprachen); Sammelband: Norma i social'naja differenciacija jazyka» Moskva 1969. (Norm und soziale Differenzierung der Sprache); M. M. Guchman, Ot jazyka nemeckoj narodnosti k nemeckomu nacional'nomu jazyku. T. 1. Moskva 1955. T. 2. 1959. (Der Weg zur deutschen Nationalsprache. T. 1. Berlin 1964), N. N. Semenjuk, Problema formirovanija norm nemeckogo literaturnogo jazyka XVm stoletija. Moskva 1967. (Das Problem der Herausbildung der Normen der deutschen Literatursprache des 18. Jahrhunderts); V. N. Jarceva, Razvitie nacional'nogo literaturnogo anglijskogo jazyka. Moskva 1969. (Die Entwicklung der nationalen englischen Literatursprache); ObSiee jazykoznanie. T. 1. Moskva 1970, S. 502-596. (Allgemeine Sprachwissenschaft. Bd. 1. Existenzformen, Funktionen und Geschichte der Sprache. Berlin 1973, S. 454-493). 6 Daraus erklärt sich, daß wir es beim Studium der Herausbildung der Normen der niederländischen Literatursprache für zweckmäßig halten, auch die mittelniederländische Periode in die Untersuchungen einzubeziehen, insofern als in ihr bereits einige Voraussetzungen dieses Prozesses entstanden und herangereift: sind. Bei einem anderen Herangehen (wenn die Untersuchung der Übergangsperiode, d. h. das 16. Jahrhundert, zum Ausgangspunkt gemacht wird) könnten viele Prozesse und Erscheinungen, insbesondere viele südniederländische Züge der Struktur der Literatursprache nicht in vollem Umfang erforscht und verstanden werden.
M. M. Guchmann und N. N. Semenjuk ZUR UNTERSUCHUNG DER DEUTSCHEN LITERATURSPRACHE UNTER SOZIOLOGISCHEM ASPEKT
In den letzten zehn Jahren kann man in der Sprachwissenschaft, und zwar parallel in verschiedenen Ländern, ein Ansteigen des Interesses für die Sprachsoziologie beobachten. Dies scheint eine Reaktion auf die Ansichten derjenigen Strukturalisten zu s e i l , die erklärt hatten, daß der Hauptgegenstand der Linguistik ein homogenes, g e s c h l o s s e nes, mit dem Code identisches oder ihm zumindest sehr ähnliches sprachliches System s e i . In Frankreich verbinden sich die soziologischen Arbeiten vor allem mit dem Namen A. Martinets und mit der von ihm herausgegebenen Zeitschrift "La linguistique" (1965). * In den USA sind die Arbeiten der soziolinguistischen Richtung (von den amerikanischen Wissenschaftlern "sociolinguistics" genannt) recht zahlreich; sie behandeln eine V i e l 2 zahl von Problemen.
Dazu gehören: das Wesen der Soziolinguistik und der vor ihr s t e -
henden Aufgaben; die Herausarbeitung der hauptsächlichen soziologischen Faktoren sprachlicher Variation und sprachlicher Veränderungen; das Problem der Norm und der Normierung der Sprache; die Sprachplanung (language planning); die Typen sprachlicher Situationen in Abhängigkeit vom Grad der sprachlichen Homogenität der untersuchten ethnischen Gemeinschaft. Eine große Zahl von Arbeiten ist schlie'ßlich der konkreten soziolinguistischen Analyse verschiedener sprachlicher Situationen gewidmet. Sowohl die französischen als auch die amerikanischen Untersuchungen haben meist eine synchrone Analyse gegenwärtiger sprachlicher Situationen zum Ziel, obwohl in der amerikanischen Soziolinguistik nicht selten auch ein historischer Kommentar geboten wird und auf diese Weise der genetische 3 Aspekt bei der Betrachtung eines P r o b l e m s durchaus nicht ausgeschlossen wird.
In diesem Zusammenhang muß auch bemerkt
werden, daß diese Untersuchungen hinsichtlich ihrer Problematik den soziologischen Arbeiten der sowjetischen Sprachwissenschaft der 30er Jahre (L. P. Jakubinskij, B. A. Larin) 4 und einer Reihe von Arbeiten nahe stehen, die der Analyse der P r o z e s s e bei 5 der Herausbildung und Entwicklung von Nationalsprachen gewidmet sind. Besondere Erwähnung verdienen die Arbeiten der letzten Jahre zur Entwicklung der russischen g Sprache in der sowjetischen Epoche.
Andererseits berührt sich eine Reihe von P r o -
blemen, die in französischen und amerikanischen Aufsätzen 7behandelt werden (z. B. das Verhältnis;von Dialekt und Literatursprache zueinander , das Problem der s o z i a len Differenzierung von Dialektsprechern und Sprechern des sprachlichen Standards 0 .
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M. M. Guchmann und N. N. Semenjuk
die Probleme der gegenseitigen Beeinflussung von Dialekt und Literatursprache usw.), teilweise mit der Problematik von Arbeiten deutscher Dialektologen und Sprachgeschichtler, die die Beziehungen von Dialekt, Umgangssprache und Literatursprache in verschiedenen deutschsprachigen Gebieten untersucht und dabei die soziale Lage der Sprecher dieser Varianten oder "Existenzformen" der deutschen Sprache berücksichtigt g haben. Deshalb wiederholt sich in der Soziolinguistik teilweise die Thematik anderer Untersuchungen auf soziologischer Ebene. Die Feststellung W. Brights, daß das Wesen der Soziolinguistik im Unterschied zu anderen soziologischen Untersuchungen in der Betrachtung von Sprache und Gesellschaft als zweier auf eine bestimmte Art aufeinander bezogener Strukturen besteht''®, bleibt faktisch eine Deklaration, zumal der gleiche Autor die "linguistic diversity", d.h. die sprachliche Variierung, die gewöhnlich nicht in geschlossenen Systemen und Systemberührungen, sondern in einzelnen Kategorien oder speziellen Formreihen auftritt, für den wichtigsten Inhalt der Soziolinguistik ansieht. Man muß aber zugeben, daß gerade die amerikanische Soziolinguistik die Probleme der Sprachsoziologie besonders mtensiv an Hand von vielfältigen Sprachmaterialien und unter Berücksichtigung verschiedener sprachlicher Situationen bearbeitet. Indem wir zur Analyse der soziologischen Problematik in bezug auf die deutsche Sprache übergehen, greifen wir die Untersuchungen deutscher Linguisten - vor allem Dialektologen und Sprachgeschichtler - heraus. Hier wurden auf soziologischer Ebene die gegenwärtig in verschiedenen Dialektgebieten existierende sprachliche Differenzier u n g ^ , aber auch die Beziehungen solcher grundlegender Existenzformen der Spräche wie des Dialekts, der Umgangssprache und der Literatursprache untersucht. Bereits die Herausarbeitung dieser drei grundsätzlichen Existenzformen der Sprache setzte die Untersuchung des Ausmaßes der sozialen Funktionen jeder von ihnen voraus. Die Wechselbeziehungen dieser Formen auf sozialer Ebene wurden in der sprachwissenschaftlichen Literatur verallgemeinert als "vertikale Schichtung der Sprache" interpretiert; entsprechend wird dieser Aspekt von den deutschen Linguisten als "dritte 12
Dimension der Sprache"
, als eine Art dritter Koordinate, die unsere Vorstellungen
über die Existenz der Sprache in Raum und Zeit ergänzt, aufgefaßt. Wir möchten darauf hinweisen, daß auch eine etwas abweichende Interpretation der sozialen Ebene sprachlichen "Seins" möglich ist, wie man sie beispielsweise bei A. 1 Martinet findet, der sie als eine besondere 13 Art des Raumes auffaßt ("sozialer Raum '
in Analogie zum "geographischen Raum").
Wir haben aber den Eindruck, daß man
nach dem jetzigen Stand der Sprachwissenschaft beide Standpunkte, so interessant sie an sich sind, am ehesten als zwei auf etwas unterschiedlichen Grundlagen aufbauende Metaphern ansehen muß.
Untersuchung der deutschen Literatursprache unter soziologischem Aspekt
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Neben den bereits oben genannten Arbeiten von R. Große sind die vor allem in den letzten zehn Jahren in der DDR erschienenen Monographien von W. Fleischer, H. Protze, G. Kettmann, K. Spangenberg, G. Rosenkranz
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und anderen Wissenschaftlern
zu erwähnen, die in ihren hauptsächlich dialektologischen und sprachgeschichtlichen Untersuchungen soziologische Begriffe und Theorien erfolgreich anwenden. Ohne auf einzelne Standpunkte speziell einzugehen, sei jedoch festgestellt, daß die gleichen Probleme auch die Aufmerksamkeit einer Reihe von Wissenschaftlern der BRD auf sich gezogen haben. Wir erwähnen nur die Arbeiten von P. von Polenz, H. 15
Moser, U. Engel u. a. Ein unbestrittenes Verdienst der deutschen Sprachwissenschaft ist die Herausarbeitung des soziologischen zwar nicht nur bezug auf gegenwärtige 16 Sprachsituation, sondernAspekts, auch im und Zusammenhang mitinFragen der die Sprachgeschichte. In der sowjetischen Germanistik wird die soziologische Richtung vor allem von V. M. Schirmunski vertreten, der sich in einer Reihe von Arbeiten mit der Analyse und Ausarbeitung der Problematik und Aufgaben einer .¿^sozialen Dialektologie" befaßt hat.
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Im Zusammenhang mit der Geschichte einzelner germanischer Literatursprachen (der deutschen und der englischen) werden auch in den Arbeiten 18 W. N. Jarzewas und M. M.
Guchmanns verschiedene soziologische Aspekte berührt.
Soziale Faktoren führen zu vielfältigen Existenzformen der Sprache innerhalb einer bestimmten historischen Periode und auf einem bestimmten Territorium. Aber die soziale Struktur der Gesellschaft spiegelt sich nur mittelbar im Charakter und den Beziehungen der einzelnen Erscheinungsformen der Sprache wider. Deshalb kann man die Versuche einiger Vertreter der amerikanischen Soziolinguistik, einen Parallelismus zwischen der Struktur der sprachlichen Situation einerseits und der Struktur der Gesellschaft andererseits festzustellen (vgl. in diesem Zusammenhang die programmatische These W. Brights: "The sociolinguist's task is then to show the systematic covariance of linguistic structure and social structures"
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), kaum als aussichtsreich ansehen.
Wir können feststellen, daß es für die Wissenschaftler, die die deutsche Sprache untersuchen, auf alle Fälle in bezug auf die gegenwärtige Sprachsituation immer augenscheinlicher wird, daß es einen obligatorischen Zusammenhang zwischen den einzelnen Existenzformen der Sprache und bestimmten sozialen Gruppierungen nicht gibt. Zugleich gewinnt eine dynamische Einschätzung der Wechselbeziehungen zwischen sprach20 liehen und sozialen Fakten immer mehr an Boden. Deshalb gestaltet sich eine Charakteristik der für die deutsche Sprache unterschiedlichen Existenzformen häufig komplex, weil soziale (Umfang der gesellschaftlichen Funktionen) und territoriale (das Gebiet seiner Anwendung) Merkmale, aber auch andere, im eigentlichen Sinne funktionale Momente 21 (Charakter der "Normen", stilistische Schichtung der Sprache usw.) einschließend. Zugleich ist jedoch zu bemerken, daß
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M, M. Guchmann und N. N. Semenjuk
es den deutschen Linguisten bis jetzt noch nicht gelungen ist, in ihren Theorien volle 22
Klarheit zu erreichen. Die durch verschiedene Faktoren bedingte komplexe Differenzierung der deutschen Sprache kann mit Hilfe des vorgeschlagenen Grundschemas (Dialekt - Umgangssprache Literatursprache) nur sehr allgemein charakterisiert werden. Bei einer detaillierteren Untersuchung der einzelnen Existenzformen der deutschen Sprache muß man verschiedene "sekundäre", mit der Vielfalt ihrer Funktionen und Gebrauchssphären zusammenhängende Gliederungen jeder dieser Formen einführen. So schlägt H. Moser auf Grund territorialer Merkmale für die Dialekte eine sekundäre Gliederung in Klein- und Großmundarten vor und unterscheidet bei der Umgangssprache entsprechend 23 eine örtliche (städtische) sowie eine klein- und großlandschaftliche Umgangssprache. Ungeachtet der Tatsache, daß die Linguistik soziologischen Fragen große Aufmerksamkeit zugewandt hat, sind diese meist im Zusammenhang mit einer Charakteristik der sprechsprachlichen Formen der deutschen Sprache wie Dialekt und Umgangssprache untersucht worden. Viel seltener ist die deutsche Literatursprache Gegenstand soziologischer Untersuchungen: das erklärt sich vor allem durch ihre funktionale Spezifik. Uns scheint es j e doch, daß man auch einige Aspekte der Literatursprache untersuchen kann, die im 24 großen ganzen als soziologisch bezeichnet werden können. Im vorliegenden Artikel wollen wir versuchen, einige der Probleme aufzuzeigen, die bei einer genaueren Betrachtving der Literatursprache entstehen. Vor allem gilt es, darauf hinzuweisen, daß bei der Untersuchung der Literatursprache auf soziologischer Ebene prinzipiell z w e i A s p e k t e der Betrachtung der entsprechenden Probleme möglich sind, die man bedingt als "äußeren" und "inneren" Aspekt charakterisieren kann. Beim ä u ß e r e n A s p e k t sind die Wechselbeziehungen zwischen Literatursprache, Dialekten und Umgangssprache Gegenstand der Untersuchung. In diesem Zusammenhang sind folgende Gesichtspunkte zu berücksichtigen: die Stellung der Literatursprache im System der Existenzformen der jeweiligen historisch gewachsenen Sprache; ihre Beziehungen zu anderen Existenzformen der Sprache; die den Umfang ihrer sozialen Funktionen bestimmende gesellschaftliche Sphäre, in der die Literatursprache verwendet wird. Beim i n n e r e n A s p e k t werden die Differenzierungen der vers chiedenen Typen der Literatursprache (des chronologischen, räumlichen und stilistischen Typs) untersucht. In diesem Falle können auf soziologischer Ebene verschiedene Modifikationen der Literatursprache entsprechend ihrer Verwendung durch die verschiedenen Schichten der Gesellschaft oder in den verschiedenen Arten des Schrifttums beobachtet werden.
Untersuchung der deutschen Literatursprache unter soziologischem Aspekt
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Die obengenannten Momente sind unseres Erachtens sowohl bei historischen Untersuchungen als auch beim Studium gegenwärtiger Sprachsituationen zu berücksichtigen. Es ist festzuhalten, daß unter allen Verhältnissen die soziale Schichtung der Sprache in mehr oder minder starkem Maße mit ihren chronologischen, territorialen und funktional-stilistischen Merkmalen zusammenhängt. Es scheint jedoch, daß es zwischen der Literatursprache einerseits und dem Dialekt und der Umgangssprache andererseits in dieser Beziehung gewisse Unterschiede gibt. So basiert die soziale Schichtung des Dialektes und der Umgangssprache offensichtlich unmittelbar auf territorialen Merkmalen (Größe des Territoriums, in dem eine bestimmte sprachliche Variante gilt). Dagegen ist für die Literatursprache offensichtlich die Beziehung der sozialen und der funktional-stilistischen Differenzierungen grundlegend und wichtig. In diesetn Zusammenhang muß mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, daß die Charakteristik einer Literatursprache je nach dem Umfang ihrer gesellschaftlichen Funktionen eng mit F r a gen der funktional-stilistischen Schichtung der Literatursprache verknüpft ist, die seinerzeit von der Prager Schule aufgeworfen und mit großer Intensität an Hand des Tsche25 chischen, Russischen und einiger anderer Sprachen diskutiert worden sind. Allerdings sind in den verschiedenen historischen Perioden der Entwicklung einer Literatursprache das spezifische Gewicht, der Charakter und die Beziehungen der beiden differenzierenden Faktoren (des sozialen und des funktional-stilistischen Faktors) durchaus nicht identisch. Je enger der gesellschaftliche Geltungsbereich einer Literatursprache und je geringer die Zahl ihrer stilistischen Varianten ist, desto größer ist die Rolle der sozialen Faktoren, die in hohem Maße die funktional-stilistischen Modifikationen der Literatursprache bestimmen. Und umgekehrt, je stärker und vielschichtiger der Gebrauch der Literatursprache ist, desto größer ist die Selbständigkeit, die hier die stilistische Variation erlangt, da die sozialen Faktoren allmählich an Bedeutung verlieren oder einen anderen Charakter-annehmen. Als sehr aufschlußreich hat sich in dieser Beziehung die Gegenüberstellung einiger chronologischer Querschnitte an Hand von Material aus der Geschichte der deutschen Sprache erwiesen. Im 13. und 14. Jahrhundert, als die Kommunikationssphäre der deutschen Literatursprache einerseits durch die territorialen Dialekte und andererseits durch das Lateinische eingeschränkt war, wurden Variationen der Literatursprache hervorgerufen durch: a) territoriale Faktoren, da es einige lokale Varianten der Literatursprache gab; b) durch mannigfache soziale Faktoren, die damit zusammenhingen, daß die Literatur26 spräche damals nur die Sprache einiger sozialer Gruppen war. Ihre Träger waren hauptsächlich Geistliche, Schreiber, zum Teil auch das Rittertum und einige Vertreter des Bürgertums. Mit anderen Worten, die Literatursprache stellte in jeder Periode eine besondere Art "sozialen Dialektes" dar, der zu bestimmten Zwecken verwendet wurde. Deshalb sind hier die mit den verschiedenen Gattungen des Schrifttums (religio-
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se Prosa, Geschäftsprosa, höfische Literatur) zusammenhängenden funktional-stilistischen Modifikationen sozial bedingt, d.h. sowohl hinsichtlich ihrer Bestimmung als auch hinsichtlich der sozialen Zugehörigkeit der Sprecher mit bestimmten gesellschaftlichen Gruppierungen verbunden. Deshalb waren die Unterschiede in der Phraseologie, im Wortbestand und in den Wortbildungsmodellen nicht nur stilistisch bedingt; sie stellten gleichzeitig eine besondere Art von Indikatoren der Sprache der jeweiligen sozialen Gruppe dar. Man vergleiche zum Beispiel einige spezifische Schablonen in den Urkunden der Kanzleien: /besucht unt unbesucht, tun kunt allen den die diesen brief gesehent oder gehorent/ usw., oder die für die verschiedenen Literaturgattungen bezeichnende Wortwahl, wie z.B. die Schicht französischer Entlehnungen, die man in der höfischen, Dichtung vorfindet, die aber der Sprache der religiösen Prosa und der Kanzleien fremd ist. Man kann auch auf die Unterschiede im Gebrauch solcher Wörter wie /urliuge, wie, wigant/ usw. hinweisen. Interessant sind auch die Unterschiede in der Auswahl der Wortbildungsmodelle. So waren z. B . die Substantive mit den neuen Suffixen /-haft, -schaft/ und /-heit/ im 13. und £4. Jahrhundert nur in der religiösen Prosa produktiv, äußerst selten jedoch im höfischen Roman und in der Geschäftsprosa. Mit anderen Worten: Die mit der Gattungsspezifik und dem Zweck der einzelnen Arten des Schrifttums zusammenhängenden funktional-stilistischen Modifikationen der Literatursprache erweisen sich als in der jeweiligen Periode sozial bedingt, ebenso wie diese Gattungen des Schrifttums selbst sozial bedingt waren, da sie in einer unmittelbaren Beziehung zu dem Geschmack, den sprachlichen Traditionen und den Gewohnheiten jener sozialen Schichten, für die diese Werke bestimmt waren, oder der Schichten, denen die Autoren angehörten, standen. Meist traf das eine wie das andere zu. Bereits im 16. Jahrhundert ändert sich das Verhältnis des sozialen und des funktional-stilistischen Moments ein wenig. Einerseits beginnt die soziale Abgeschlossenheit der Sprache einiger Gattungen des Schrifttums und der einzelnen Kommunikationssphären zu schwinden. Insbesondere dieser Umstand ermöglichte es Martin Luther, bestimmte Schichten der gesprochenen Volkssprache auf das Niveau der Sprache der Bibel zu heben. Andererseits stehen bestimmte Modifikationen der Sprache der Flugschriften in der Zeit des Bauernkrieges und der Reformation nicht mehr so offensichtlich wie früher in Beziehung zu bestimmten sozialen Gruppierungen. Bei einer Analyse der Sprache der Flugschriften zeichnen sich deutlich zwei Tendenzen ab: eine westliche, die in großem Umfang Elemente der umgangssprachlichen Lexik und dialektale Formen verwendet, und eine östliche, die den Einfluß der Traditionen der Geschäftssprache und der religiösen Übersetzungsliteratur aufweist und sich an die Sprache der Drucker Mitteldeutschlands und des Südostens anlehnt. Die sprachlichen Unterschiede der einzelnen Flugschriften waren durch einen ganzen Komplex von Faktoren bedingt. Sie
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hingen vom Charakter der Flügschrift (Dialog, Lied, Traktat), vom Ort ihrer Veröffentlichung, von der Meisterschaft und der "sprachlichen Politik" ihres Autors und schließlich von der allgemeinen Ausrichtung und Bestimmung der Flugschrift ab. Es ist charakteristisch, daß die Thesen der aufständischen Bauern sich stilistisch in nichts von den zahlreichen Traktaten unterscheiden, daß aber unter den Dialogen die verschiedenen Sprachtypen vertreten sind, vom "Gemeindeutsch" der Augsburger Drucker bis zur Ortsmundart, die sich in den Flugschriften widerspiegelt. Noch komplizierter und vielschichtiger ist das Verhältnis der sozialen und funktional-stilistischen Differenzierungen in der deutschen Literatursprache des 18» Jahrhunderts. Wenden wir uns beispielsweise der Sprache der deutschen periodischen Literatur zu, die in der ersten Hälfte des 18, Jahrhunderts durch politische Zeitungen und Zeitschriften, wissenschaftliche Zeitschriften und auch durch eine literarische Journalistik vertreten wird, als deren Haupttyp die moralisch-didaktischen Zeitschriften anzusehen sind. In all diesen Arten des Schrifttums wird - jedenfalls im Osten Mitteldeutschlands und in Niederdeutschland - die gleiche literatursprachliche Form der deutschen Spra27 che der entsprechenden Zeit verwendet. Nur der Briefwechsel (die "Leserbriefe") in den moralisch-didaktischen Zeitschriften und der Annoncenteil der Zeitungen, der verschiedene Inserate enthält, spiegelt neben den spezifischen Besonderheiten der Literatursprache auch Elemente des Dialekts und der Umgangssprache wider (vgl. z.B. die Aufhebung des Gegensatzes zwischen stimmlosen und stimmhaften Verschlußläuten in einzelnen Lexemen, die Verwendung der doppelten Verneinung und von Konstruktionen mit dem Dativ possessivus des Typs /dem Matthias Treiber - Kutscher - und Justina sein Eheweib ihr Zwilling/ usw.). Besonders greifbar war die dialektale Färbung im Annoncenteil süddeutscher Zeitungen (vgl. hier Schreibungen wie /Wurth, Kaßstecher/, grammatische Formen wie /Täg, Tage, ich nim/, die häufige Verwendung der Deminutivsuffixe / - 1, -le/, z.B. in /Töchterl, Fräule/ usw.). Freilich verbinden sich hier diese - auf den bekannten sozialen und territorialen Differenzierungen der Sprache der entsprechenden Zeit basierenden - Merkmale der Sprache der Annoncen mit den von diesen Faktoren unabhängigen funktional-stilistischen Merkmalen, die wiederum mit der besonderen Bestimmung dieser Teile des Zeitungstextes zusammenhängen (vgl. z. B. einige erstarrte Formeln bei der Einleitung der Annoncen: /Die Sachen, so verl'ohren und gestohlen; Die Persohnen, so gestorben/ u. a.). In anderen Teilen weisen die Texte der periodischen Literatur äußerst vielschichtige Einflüsse verschiedener differenzierender Faktoren auf. Es handelt sich dabei
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um soziale, territoriale, gattungs - und zeitbedingte Faktoren, die in ihrer Gesamtheit auch jene verschiedenen Modifikationen hervorgerufen haben, welche für die deutsche Literatursprache der untersuchten Periode charakteristisch sind. Ihre funktional-stilistischen Besonderheiten wurden zu einem großen Teil mit gattungsbedingten und thematischen Besonderheiten der einzelnen Arten periodischer Literatur unmittelbar in Zusammenhang gebracht, so z. B. das Überwiegen bestimmter Schichten der Lexik; vgl. die häufige Verwendung von Fremdwörtern in wissenschaftlichen Zeitschriften, die zahlreichen Bezeichnungen für Realien in Zeitungstexten, die abstrakte Lexik in den wissenschaftlichen und moralisch-didaktischen Zeitschriften ( z . B . : / d e r Endzweck, die Hauptabsicht, der Beweiß-Grund, die Sittenlehre, die Vernunftlehre, die Bildsäule/ usw.). Außerdem hingen einige sprachliche Besonderheiten des periodischen Schrifttums zum Teil mit den sozialen und territorialen Gebrauchssphären der einzelnen Arten zusammen, obwohl dieser Zusammenhang nicht so unmittelbar zum Ausdruck kam wie in früheren Epochen. So war z . B . für die moralisch-didaktische Literatur Nord- und Mitteldeutschlands eine relativ große soziale Gebrauchssphäre charakteristisch, da die genannte Literaturgattung für verschiedene Schichten des Bürgertums bestimmt war. Dieser Umstand b e dingte in hohem Grade den sprachlichen Charakter der moralisch-didaktischen Zeitschriften, nämlich das gänzliche Fehlen von Fremdwörtern, aber auch die klare und relativ einfache Syntax, die der der gesprochenen Sprache nahekam. Die für diese Periode charakteristischen Normierungsprozesse in der Orthographie und Grammatik kamen in der moralisch-didaktischen Literatur sehr klar zum Ausdruck. Zugleich war die lokale Färbung der Sprache (wenn man von den bereits oben besprochenen "Leserbriefen" absieht) zwar gemäßigt, aber völlig eindeutig. Das erklärt sich einerseits durch die bekannte lokale Begrenztheit in der Verwendung von Publikationen dieser Art und andererseits durch die für die didaktisch-moralischen Zeitschriften insgesamt charakteristischen Normierungsprozesse, die eine Widerspiegelung von lokal eng begrenzten sprachlichen Besonderheiten in der Sprache dieser Zeitschriften ausschlössen. Die Sprache der ebenfalls für einen sozial breiten Leserkreis (Bürgertum, verschiedene Schichten der Intelligenz) bestimmten deutschen politischen Zeitungen des 18. Jahrhunderts wies einige andere funktional-stilistische Merkmale auf. Für sie ist eine komplizierte und aufgelockerte, formal ungenügend gegliederte Syntax kennzeichnend, die sich von der Sprache der geschäftlichen Dokumente und militärischen Befehle h e r leitet. Hier waren auch bestimmte Formeln bei der Einführung einzelner Informationen üblich; vgl. / e s gehet ein G e r ü c h t . . . ; Briefe von (Dublin) bringen m i t . . . ; Man vernimmt v o n , . . (Hamburg), d a ß . . . / usw. Die Zahl der Fremdwörter war hier ent-
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sprechend den Traditionen der "Geschäftssprache" ebenfalls recht groß, wenn auch in den Zeitungen geringer als in den wissenschaftlichen Periodika, Zugleich enthielt die Lexik der Zeitungen damals eine Reihe von Elementen, die der Umgangssprache nahestanden (vgl. solche Lexeme wie /Kundschaft/ 'Nachricht, Neuigkeit', /das Frühjahr, abgewichen/ 'vergangen' in bezug auf den Tag, die Woche, den Monat usw.). Ihren lokalen Merkmalen nach waren die Zeitungstexte mehr oder weniger heterogen. Das hing mit der unterschiedlichen territorialen Färbung der hier veröffentlichten Berichte zusammen. Daneben ist die Tatsache, daß sich die Zeitungstexte des 18. Jahrhunderts auf die mit dem Ort ihrer Veröffentlichung zusammenhängende lokale Tradition stützen, das wichtigste Moment, um die Sprache dieser Texte zu charakterisieren. Die Normierungsprozesse auf dem Gebiet der Orthographie und Grammatik kamen hier in der Regel nur sehr schwach zum Ausdruck, weshalb die Zeitungsspräche in diesem Sinne eine äußerst periphere Einflußsphäre der entsprechenden Prozesse bildet. Somit stellen die beiden oben besprochenen Arten periodischer Literatur, die sich u.a. durch die Publikationstechifik und ihre Bestimmung wesentlich voneinander unterschieden, trotz beträchtlicher Gemeinsamkeiten in bezug auf ihre Gebrauchssphäre zwei verschiedene funktional-stilistische Arten der deutschen Literatursprache des 18. Jahrhunderts dar. Es ist auch nicht zu übersehen, daß zu der Zahl jener Faktoren, die zur sprachlichen Differenzierung der verschiedenen Arten der deutschen periodischen Literatur beitrugen, im Untersuchungszeitraum auch eine unterschiedliche Intensität der Normierungsprozesse gehörte, d. h. daß ein neuer, früher nicht vorhandener 28
differenzierender Faktor auftaucht» Das oben angeführte Material hat gezeigt, daß sich mit der historischen Entwicklung der deutschen Literatursprache auch das Verhältnis zwischen ihren Funktionen ändert. Und zwar grenzen sich die funktional-stilistischen Besonderheiten von den sozialen Differenzierungen allmählich ab, obwohl ihr Zusammenhang durchaus nicht gänzlich verlorengeht. Gleichzeitig kann man im Entwicklungsprozeß der Nationalsprache parallel zur Erweiterung der Gebrauchssphäre ihrer literatursprachlichen Form und zur Absonderung ihrer einzelnen stilistischen Varianten von den sozialen Differenzierungen der Sprache die bekannten, teilweise mit der Veränderung ihrer sozialen Basis zusammenhängenden Wandlungen im Charakter der literatursprachlichen Normen selbst beobachten. Deshalb muß man für jede einzelne Periode in der Geschichte einer Literatursprache das Wechselverhältnis zwischen den gesellschaftlichen Gebrauchssphären der Literatursprache und dem Charakter ihrer Normen untersuchen. In diesem Zusammenhang stellt sich unausweichlich die Frage nach der Breite der sozialen Basis dieser Normen. Die konkrete historische Sprache erscheint als die Gesamtheit von parallelen Realisierungen ihres Systems, die auf Grund unterschiedlicher (territorialer, sozialer und
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stilistischer) Merkmale differenziert sind. Eine bestimmte Gesamtheit von Realisationen, die von der Gesellschaft als vorbildlich angesehen wird, bildet die Basis der 29 literatursprachlichen Normen. Obwohl wir es mit der Prager Schule für notwendig erachten, zwischen der Norm als innersprachlicher Erscheinung und den Kodifikationsprozessen als außersprachlichen Phänomenen zu unterscheiden, ist die Annahme durch die Gesellschaft ein zwar äußerliches, aber unabdingbares Merkmal der literatursprach30 liehen Norm. Zugleich übt der präskriptive und dadurch verbindliche Charakter der Normen, der seinem Wesen nach eher zu den sozialen als zu den im eigentlichen Sinne sprachlichen Faktoren gehört, einen wesentlichen Einfluß auf das Funktionieren des gesamten Systems der Literatursprache aus. Indem wir so die literatursprachliche Norm als eine Gesamtheit von Realisationen des Sprachsystems auffassen, die von der Gesellschaft in einer bestimmten Periode ihres historischen Daseins als vorbildlich angesehen wird, weisen wir zugleich darauf hin, daß die literatursprachlichen Normen gewöhnlich nicht nur eine territoriale, sondern auch insofern eine bestimmte soziale Basis haben, als in den verschiedenen historischen Perioden mehr oder minder große soziale Gruppierungen Träger der literatursprachlichen Normen sein können. Gerade deshalb ist unseres Erachtens für die Geschichte der Literatursprachen die Charakteristik der sozialen Basis ihrer Normen und die Fixierung der in ihr vor sich gehenden Veränderungen einer der wesentlichen Aspekte der Untersuchung. Beim Studium der Geschichte der einzelnen Literatursprachen fällt auf, daß die Vergrößerung der Zahl der Funktionen und die Ausdehnung der gesellschaftlichen GebrauchsSphären einer Literatursprache gewöhnlich von einem verstärkten Normierungsstreben und von aktiven Kodifikationsprozessen begleitet wird. Letzteres ist nicht nur dadurch bedingt, daß die Verwendung der Literatursprache in der wissenschaftlichen Tätigkeit, im Unterricht, in der Publizistik usw. ihre besonders sorgsame Gestaltung erfordert, sondern auch dadurch, daß die Erweiterung der sozialen Basis einer Literatursprache zu einer Verwischung der Grenzen, die sie von den territorialen und sozialen Dialekten, von den Halbdialekten und von der Umgangssprache trennen, führt. Die Tätigkeit der deutschen Puristen des 17. Jahrhunderts und Gottscheds im 18. Jahrhundert ist als Reaktion auf diese Prozesse anzusehen. Der Kampf für eine andere territoriale Basis, aber auch für einen unterschiedlichen sozialen und funktional-stilistischen Umfang der literatursprachlichen Normen stellt in bestimmten Perioden der Entwicklung einer Literatursprache das Wesen der Sprachpolemik zwischen den Vertretern der verschiedenen Gruppen der Gesellschaft dar. Wir erinnern in diesem Zusammenhang an die Polemik Luthers mit Johann Eck oder an die späteren Diskussionen Gottscheds mit den Schweizern Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger. Man darf auch nicht übersehen, daß trotz der - als allgemeine historische Tendenz zu beobachtenden, mit der ständigen Erweiterung ihrer Funktionen zu-
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sammenhängenden - allmählichen Demokratisierung der Literatursprache diese Prozesse sich im 16. Jahrhundert (d.h. zur Zeit Luthers), im 18. Jahrhundert und in der • 31 Gegenwart wesentlich voneinander unterscheiden. In allen Fällen sind jedoch die genannten Prozesse nicht so sehr durch innere als vielmehr durch (in bezug auf die Sprache) äußere Faktoren bedingt, weshalb man ihr Studium zum sozialen Aspekt der Betrachtung einer Literatursprache rechnen kann. Die allmähliche Entwicklung der Literatursprache zu einer nationalen Sprachform, die Gestaltung ihrer einzelnen funktionalen Stile, die von wichtigen Veränderungen in ihrer Wechselbeziehung zu sozialen sprachlichen Abgrenzungen begleitet wird, das alles macht jedoch die Frage nach der sozial bedingten Variierung der Literatursprache nicht überflüssig. Auf die deutsche Literatursprache der Gegenwart üben im Prozeß ihres Funktionierens andere Existenzformen der Sprache einen bedeutenden Einfluß aus, und zwar die verschiedenen Arten der Umgangssprache und der lokalen Dialekte. Als Ergebnis dieses Einflusses entstehen mannigfache32Modifikationen der Literatursprache. Das gilt vor allem für ihre mündliche Form. Auch alters- und berufsbedingte Besonderheiten der Sprecher sowie Unterschiede, die mit dem Grad der Bildung und Kultur zusammenhängen, üben auf die Literatursprache einen Einfluß aus. Da eine entsprechende Charakteristik der gegenwärtigen Sprachsituation nicht zu den Aufgaben des vorliegenden Aufsatzes gehört, der vor allem historischen Fragen gewidmet ist, erlauben wir uns nur, ganz allgemein auf zwei Möglichkeiten der sozial bedingten Variierung der deutschen Gegenwartssprache hinzuweisen: 1. Inder gleichen Situation verwenden Sprecher, die verschiedenen gesellschaftlichen Schichten angehören, bestimmte Modifikationen der Literatursprache. Darin kommt der unterschiedliche Grad der Beherrschung der literatursprachlichen Normen durch einzelne Schichten der Gesellschaft zum Ausdruck. 2. In einem anderen Fall verwendet der mehrere Modifikationen der Literatursprache beherrschende Sprecher eine von diesen je nach der Gesprächssituation. Während im ersten Falle die Modifikationen der Literatursprache unmittelbar durch soziale Faktoren bedingt sind, erscheinen die sozialen Gründe der sprachlichen Variierung im zweiten Fall, der gewöhnlich als eine besondere Art der "Diglossie" angese33 hen wird , sozusagen in "abgeschwächter" Form, und an die erste Stelle rückt die Bedingtheit der entsprechenden Modifikationen des literatursprachlichen Standards durch die jeweilige Situation. Zusammenfassend kann man feststellen, daß die Fragen der sozialen Schichtung der Sprache theoretisch als Teil des allgemeinen Problems der Variierung sprachlicher Systeme und der Elemente, aus denen diese sich zusammensetzen, erscheinen. Eine
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sprachliche Variation entsteht unter dem Einfluß verschiedener außersprachlicher Faktoren, zu denen Zeit, geographischer Raum, soziale Schichtung der Gesellschaft, Kommunikationssphäre, Kommunikationsabsicht etc. gehören. Die Möglichkeit sprachlicher Variierung wird durch den Parallelismus der in der Sprache verwendeten formalen Mittel gewährleistet. Als Ergebnis des Wirkens verschiedener differenzierender Faktoren erscheint die deutsche Sprache sowohl in früheren Etappen ihrer Entwicklung als auch in der Gegenwart als eine Gesamtheit verschiedener "Existenzformen". Die Untersuchung dieser hauptsächlichen Existenzformen (des Dialekts, der Literatursprache und der Umgangssprache) erfordert in jedem Einzelfall ein spezifisches Herangehen. Beim Studium einer Literatursprache unter soziologischem Aspekt stellen sich unser e s Erachtens folgende Fragen, die von uns nur zu einem geringen Teil oben betrachtet werden konnten: 1. Die gesellschaftlichen Bereiche, in denen die Literatursprache verwendet wird, d. h. der Umfang ihrer sozialen Funktionen im Vergleich mit den Funktionen der übrigen Existenzformen der jeweiligen historischen Sprache, sind festzustellen. 2. Die soziale Basis der literatursprachlichen Normen und die soziale Basis der Kodifikationsprozesse sind in ihren Beziehungen und Wechselwirkungen zu bestimmen und zu untersuchen. 3. Die sozial bedingten Modifikationen der mündlichen und schriftlichen Varianten der Literatursprache, die überwiegend mit dem Einfluß anderer Existenzformen der jeweiligen Sprache auf die Literatursprache zusammenhängen, sind zu untersuchen. Man kann annehmen, daß die oben angeschnittenen Fragen sowohl für das historische Studium einer Literatursprache als auch für die Untersuchung der gegenwärtigen sprachlichen Situationen in verschiedenen Ländern von Interesse sind.
Anmerkungen 1 Außer den Arbeiten von A. Martinet selbst und einigen in den ersten Heften der genannten Zeitschrift abgedruckten Aufsätzen ist die vor einigen Jahren erschienene interessante Untersuchung von R. Reichstein, Étude des variations sociales et géographiques des faits linguistiques, in: Word 16 (1960), H. 1, S. 55-99 zu nennen. 2 Vgl. den Sammelband "Sociolinguistics", The Hague 1966 mit den Vorträgen und Diskussionsbeiträgen eines der Soziolinguistik gewidmeten Symposiums. Von f r ü heren Arbeiten vgl. : S. M. Sapon, A Methodology for the study of socio-economic differentials in linguistic phenomena, in: Studies in linguistics 11 (1953), S. 57-68; B. Bernstein, Language and social class, in: British Journal of sociology, 1960, S. 171-176; j . Gumperz, Dialect differences and social stratification in a North Indian village, in: American Anthropologist 60 (1958), H. 4, S. 668-682; W. Labov,
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Phonological correlates of social stratifikations. The ethnography of communication, in: American Anthropologist 66, (1964), H. 6 (part. 2), S. 164-176 u.a. 3 J. Gumperz (On the ethnology of linguistic change, im oben [Anm. 2] genannten Sammelband "Sociolinguistics") stellt z.B. fest, daß die Sprachgeschichte auf zwei Ebenen untersucht werden kann: als innerer Prozeß ("historical linguistics") und als äußere Geschichte ("language history, which considers changes in linguistic Form as they relate to the socio-economic environment"). 4 Vgl. die Arbeiten B.A. Larins zur Sprache der Stadtbevölkerung, z.B. O lingvisticeskom izucennii goroda (Über das sprachwissenschaftliche Studium der Stadt), in: Russkaja reg', Jg. 1928, H. 3, S. 61-74 u . a . Vgl. auch: A.M. Ivanov - L . P. Jakubinskij, Ocerki po jazyku (Skizzen zur Sprache), Leningrad - Moskva 1932. 5 Vgl. Problemy formirovanija i razvitija nacional'nych jazykov (Probleme der Bildung und Entwicklung von Nationalsprachen), in: Trudy Instituta jazykoznanija ANSSSR 10, 1960. 6 Vgl. Russkij jazyk i sovetskoje obSiestvo. Leksika sovremennogo russkogo literaturnogo jazyka (Die russische Sprache und die sowjetische Gesellschaft. Die Lexik der russischen Literatursprache der Gegenwart), Moskva 1968, u.a. 7 J. Gumperz, Dialpct differences and social stratification . . . (wie Anm. 2). 8 R. Y. Mc David j r . , Dialect differences and social difference in an urban society, in: Sociolinguistics (wie Anm. 2), S. 72-83, 9 Unter "Existenzformen der Sprache" werden in der vorliegenden Arbeit funktionale Subsysteme ein und derselben Sprache verstanden. Zu ihnen gehören die Dialekte, die Literatursprache (oder ein sprachlicher Standard) sowie die verschiedenen Typen des Halbdialekts und der Umgangssprache. Diese Auffassung der genannten terminologischen Verbindung wurde von M. M. Guchmann vorgeschlagen (M. M. Guchman, Ot jazyka nemeckoj narodnosti k nemeckomu nacional'nomu jazyku, 2 Teile, Moskva - Leningrad 1955, 1959, deutsch: Der Weg zur deutschen Nationalsprache, 2 Teile, Berlin 1964, 1969) und später in verschiedenen Arbeiten sowjetischer Sprachwissenschaftler aufgegriffen. Im Deutschen entsprechen dieser terminologischen Verbindung einige Varianten; vgl. "Existenzformen einer Sprache" (in der obengenannten, von G. Feudel angefertigten Übersetzung des Buches von M. Guchmann) oder "Erscheinungsform einer Sprachgemeinschaft" (H. Brinkmann, Hochsprache und Mundart, in: Wirkendes Wort, 6 1955/56 , S. 65-76). 10 W. Bright, The dimensions of sociolinguistics, in: Sociolinguistics (wie Anm. 2), S. 11. 11 So zeigte R. Große (Die meißnische Sprachlandschaft [ Mitteldeutsche Studien, Bd. 15], Halle 1955) die Unterschiede in der Verwendung von Dialekt, Halbdialekt oder Umgangssprache und Literatursprache durch die verschiedenen sozialen Gruppen der Bevölkerung seines Untersuchungsgebietes. 12 Vgl. z.B. die Verwendung der genannten Begriffe in folgenden Arbeiten: H. Rosenkranz, K. Spangenberg, Sprachsoziologische Studien in Thüringen, (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philol.-hist. Kl., Bd. 108, H. 3), Berlin 1963, S. 56; H. Moser, Zur Situation der deutschen Gegenwartssprache, in: Studium Generale 15 (1962), H. 1, S. 40; R. Große, Dialekty i pis'mennyj jazyk na territorii Verchnej Saksonii (Dialekte und Schriftsprache in Obersachsen), in: Voprosy germanskogo jazykoznanija, Moskva-Leningrad 1961, S. 267 f. 13 A. Martine (= A. Martinet), Strukturnye variacii v jazyke (Strukturelle Variationen in der Sprache), in: Novoe v lingvistike, 4. Folge, Moskva 1965, S. 450.
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14 Vgl. z . B . W. Fleischer, Namen und Mundart im Raum von Dresden, 2 Bände (Deutsch-slawische Forschungen zur Namenkunde und Siedlungsgeschichte, Bd. 11 und 12), Berlin 1961, 1963; H. Protze, Das Westlausitzische und Ostmeißnische (Mitteldeutsche Studien 20), Halle 1957; G. Kettmann, Die kursächsische Kanzleisprache zwischen 1486 und 1546, Berlin 1967; H. Rosenkranz, K. Spangenberg, a . a . O . (wie Anm. 12) usw. Vgl. auch R. Große, Die obersächsischen Mundarten und die deutsche Schriftsprache (Berichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften. Philol. -hist. Klasse, Band 105, H. 11), Berlin 1961. 15 Vgl. z . B . P. v. Polenz, Die altenburgische Sprachlandschaft, Tübingen 1954; H. Moser, Umgangssprache. Überlegungen zu ihren Formen und ihrer Stellung im Sprachganzen, in: Zeitschrift für Mundartforschung 27 (1960), S. 215-232; U, Engel, Sprachkreise, Sprachschichten, Stilbereiche, in: Muttersprache Jg. 1962, S. 298-307 usw. 16 Vgl. K. Wagner, Hochsprache und Mundart in althochdeutscher Zeit, in: Der Deutschunterricht 8 (1956), H. 2, S. 14-23; H.M. Heinrichs, 'Wye grois dan andait eff andacht i s . . . ' Überlegungen zur Frage der sprachlichen Grundschicht im Mittelalter, in: Zeitschrift für Mundartforschung 28 (1961), S. 97-153 u . a . 17 V.M. Zirmunskij, Nacional'nyj jazyk i social'nyje dialekty (Nationalsprache und soziale Dialekte), Moskva-Leningrad 1936; d e r s . , Problemy social'noj dialektologii, in: Izvestija Akademii Nauk SSSR. Serija literatury i jazyka 23 (1964), H. 2, S. 99-112. 18 M. M. Guchmann a. a.O. (wie Anm. 9, deutsche Fassung), Bd. 2, S. 9 u. 185 f.; V. N, Jarceva, O territorial'noj osnove social'nych dialektov (Über die territoriale Basis der sozialen Dialekte; vgl. diesen Sammelband S. 119 f f . ) . Vgl. auch M. M. Makovskij, Vzaimodejstvie areal'nych variantov "sl£nga" i ich sootnosenie s jazykovym standartom (Die Wechselwirkung a r r e a l e r Varianten des "Slang" und ihr Verhältnis zum sprachlichen Standard), in: Voprosy Jazykoznanija, Jg. 1963, Nr. 5, S. 21-30; M.V. Raevskij, Fonologiceskij aspekt problemy recevych stilej (Na materiale sovremennogo nemeckogo jazyka) (Der phonologische Aspekt des Problems der Sprachstile [An Hand von Material der deutschen Gegenwartssprache]), in: Filologiceskie nauki (1966), Nr. 2, S. 16-20; d e r s . , K v o p r o s u o formach projavlenija social'noj differenciacii v zvukovoij storone jazyka (Na materiale nemeckogo jazyka) (Zum Problem der Erscheinungsformen sozialer Differenzierung auf der lautlichen Ebene der Sprache [An Hand von Material der deutschen Sprach^), in: Norma i social'naja differenciacija jazyka, Moskva 1969, S. 47-56. 19 W. Bright a . a . O . (wie Anm. 10), S. 11. 20 Vgl. z . B . H. J . Gernentz, Die Umgangssprache in der Schichtung der deutschen Nationalsprache, in: Weimarer Beiträge 11 (1965), H. 4, S. 570-589; V.M. Zirmunskij, Problemy social'noj dialektologii (wie Anm. 17), S. 109, u . a . Der Vorrang einer "dynamischen" Charakteristik der Beziehungen von sozialen und sprachlichen Differenzierungen erklärt sich durch das unterschiedliche Verhalten des Menschen zur sozialen Gliederung der Gesellschaft und der Sprache: Obwohl lediglich einer einzigen sozialen Gruppe angehörend (was allerdings nicht i m mer deutlich zum Ausdruck kommt), vermag ein Individuum mehrere Sprachvarianten souverän zu beherrschen und je nach der Situation von einer Variante zur anderen f r e i zu wechseln (vgl. dazu H.M. Heinrichs a . a . O . [ w i e Anm. 16], S. 97). 21 Vgl. die entsprechenden Darstellungen in folgenden Arbeiten: H. Rosenkranz, Der Sprachwandel des Industrie-Zeitalters im Thüringer Sprachraum, in: Sprachsoziologische Studien, Berlin 1963, S. 17 f . ; H. Moser, Umgangssprache... (Wie Anm. 15), S. 215 f . , 231 (Tafel); H. Brinkmann a„ a. O. (wie Anm. 9).
Untersuchung der deutschen Literatursprache unter soziologischem Aspekt
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22 Auf die Widersprüchlichkeit und den Schematismus derartiger Konstruktionen v e r wies an Hand einiger Klassifikationen in den Arbeiten von H. Moser und H. Lück H . J . Gernentz in seinem Aufsatz (wie Anm. 20), S. 574 f. 23 H„ Moser, U m g a n g s s p r a c h e . . . (wie Anm. 15), S» 231. - Eine andere Gliederung der Umgangssprache nach territorialen Merkmalen bietet R. Große, Zum Verhältnis von landschaftlicher und gemeinsprachlicher Umgangssprache, in: Norma i social'naja differenciacija jazyka, Moskva 1969, S„ 112-121. 24 Die Wichtigkeit des sozialen Aspekts bei der Betrachtung einer Literatursprache unterstrich wiederholt V. M. Zirmunskij; vgl. seine Anmerkung in dem Aufsatz "Problemy social'noj dialektologii" (wie Anm. 17). 25 Vgl. z . B . die Arbeiten von B. Havranek, V. Mathesius, L. V. Scerba, V.V. Vinogradov, M.V. P a n o v u . a. 26 Zu den sozialen Ursachen für die Begrenztheit der Gebrauchssphären der Literatursprache in ihren frühen Entwicklungsstufen vgl. auch B. Gavranek ( = B . H a v r ä nek), O funktional'nom rassloenii literaturnogo jazyka (Über die funktionale Schichtung der Literatursprache), in: Prazskij lingvistiieskij kruiok, Moskva 1967, S. 340. 27 In einer Reihe von Fällen waren diese Briefe offensichtlich literarische Fälschungen, die einen Briefwechsel des Herausgebers der Zeitschrift mit seinen Lesern imitierten. Auch in dieser Form verlieren sie jedoch durchaus nicht ihren Wert als Sprachdenkmäler einer bestimmten Epoche. 28 Eine detailliertere Charakteristik der Sprache der einzelnen Gattungen der periodischen Literatur bietet N. N. Semenjuk, Problema formirovanija norm nemeckogo literaturnogo jazyka XVIII stoletija (Das Problem der Herausbildung der Normen in der deutschen Literatursprache des 18. Jahrhunderts), Moskva 1967, 29 Diese Definition stützt sich im wesentlichen auf das Normverständnis von E , Koseriu (= E . Coseriu), Sinchronija, diachronija i istorija (Synchronie, Diachronie und Geschichte), in: Novoe v lingvistike 3, Moskva 1963, S. 175. 30 Das genannte Merkmal wird als wesentliches Element einer Charakteristik der literatursprachlichen Norm bezeichnet von B. Havränek a. a. O. (wie Anm. 26), S, 339. Vgl. auch E. Haugen, Dialect, Language, Nation, in: American Anthropologist 68 (1966), S. 933. 31 Zur Zeit wird in der DDR die Möglichkeit diskutiert, die Aussprache der deutschen Literatursprache auf einer breiteren Basis zu kodifizieren, als dies bei der Bühnenaussprache der Fall ist. So steht die Frage auf der Tagesordnung, ob die Kodifizierung in Übereinstimmung mit dem real existierenden Ausspracheusus erfolgen kann. Vgl. das entsprechende Material bei M. V. Raevskij, K voprosu o f o r m a c h . . . (wie Anm. 18). 32 Die Wechselwirkung der verschiedenen Existenzformen der Sprache aufeinander übt zweifellos auch auf die Schriftform der deutschen Literatursprache einen Einfluß aus; vgl, die Charakteristik dieser P r o z e s s e in der interessanten Arbeit von H. Eggers, Zur Syntax der deutschen Sprache der Gegenwart, in: Studium Generale 15 (1962), H„ 1, S. 49-59. 33 Vgl, eine entsprechende Verwendung des genannten Begriffs bei Ch. Ferguson, Diglossia, in: Word 15 (1959), Nr. 2, S, 325-340,
N. N. Semenjuk FUNKTIONAL-STILISTISCHE DIFFERENZIERUNGEN DER LITERATURSPRACHE UND DER HISTORISCHE ASPEKT IHRER UNTERSUCHUNG
1 Die Literatursprache ist in den meisten Ländern mit entwickelter Zivilisation eine der am weitesten verbreiteten und sozial bedeutendsten "Existenzformen" der Sprache. Die Untersuchung von Literatursprachen weist zur Zeit die deutliche Tendenz auf, sich zu einem Spezialgebiet der Sprachwissenschaft zu entwickeln , deren Auf2 gaben und Inhalt jedoch noch einer genaueren Präzisierung bedürfen. Am aktivsten wurden bis in die jüngste Zeit Probleme des Studiums von Literatur3
sprachen durch sowjetische und tschechische Sprachwissenschaftler diskutiert. Durch das Wirken dieser beiden in mancher Beziehung miteinander verbundenen w i s senschaftlichen Richtungen konnten einige theoretische Grundlagen für die Charakterisierung des gegenwärtigen Zustandes und der Geschichte der Literatursprachen g e legt werden (vgl. die Arbeiten von G.O. Vinokur, V . V . Vinogradov, N. I. Tolstoj, L . A . Bulachovskij, M. M. Guchmann, C . A . Mironow, W.N. Jarzewa, N. A. Katagoscina, G . V . Stepanov, R . A . Budagov, aber auch von V . Mathesius, B. Havränek, A. Jedlicka >4 u.a.). Eine Reihe von Aspekten der Geschichte der Literatursprache wurde auch von der 5 deutschen Linguistik bearbeitet , und in allerletzter Zeit zog die mit dem Studium von "Standardsprachen" verbundene Problematik auch die Aufmerksamkeit mancher amerig kanischer Sprachwissenschaftler auf sich. Aber ungeachtet einiger theoretische Erkenntnisse und des für verschiedene Sprachen gesammelten Materials ist es dem genannten Zweig der Sprachwissenschaft dennoch nicht gelungen, in vollem Umfang den Problemkreis zu umreißen, der untersucht werden muß, und ihn konsequent zu prüfen, und sei es auch nur an Hand einer einzigen Literatursprache der Gegenwart. Unbedingt notwendig ist eine Übersicht der zu untersuchenden Hauptprobleme und ein durchdachtes und vereinheitlichtes System der T e r m i nologie, das wenigstens die Hauptbegriffe des genannten Gebietes enthält. Mit dieser Zielstellung wäre vor allem der Problemkreis durchzusehen, der sich bei der Untersuchung der einzelnen Literatursprachen bereits ergab. Dabei fallen s o fort die ungleichen Proportionen bei der Untersuchung der verschiedenen Probleme in den einzelnen Literatursprachen ins Auge. Dies hat offensichtlich zwei Ursachen: 1) einige spezifische Besonderheiten dieser Sprachen selbst, die von vornherein die
N. N„ Semenjuk
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Aufmerksamkeit auf sich lenken, und 2) die besonderen, in den einzelnen Ländern mehr oder minder spontan entstehenden nationalen sprachwissenschaftlichen T r a d i tionen. ^ Indem wir uns den allgemeinen Aufgaben des Studiums einer Literatursprache zuwenden, stellen wir zunächst fest, daß es sowohl die Untersuchung ihrer Struktur als g auch eine Charakteristik ihres Funktionierens beinhalten muß. Von wesentlicher Bedeutung ist auch die Untersuchung der Abhängigkeit der Literatursprache von den durch sie ausgeübten Fvnktionen. Bekanntlich ist die Aufgabe sprachlicher Forschung unter Berücksichtigung der sprachlichen Funktionen gzuerst in den "Thesen" des Cercle Linguistique de Prague klar formuliert worden. Selbstverständlich sind die Beziehungen zwischen der Bestimmung eines sprachlichen Systems und seinen strukturellen und funktionalen Besonderheiten äußerst kompli: i e r t . Sie lassen sich in der Regel nur bei recht beschränktem Material unmittelbar aufdecken. Bei all dem birgt jedoch eine zweckbestimmte Betrachtungsweise der Sprache große und bei weitem noch nicht genutzte Möglichkeiten in sich. Erstens kann man die Frage nach dem unterschiedlichen Grad der Kompliziertheit sprachlicher Systeme stellen, die verschiedene Funktionen erfüllen. Das tritt vor allem bei der Organisation der lexikalischen und syntaktischen Ebene der Sprache zutage. Zweitens kann man deutlich bestimmte allgemeine Abhängigkeiten zwischen der Funktion einer Sprache und dem Charakter der Realisierungen der Strukturpotenzen dieser Sprache f e s t s t e l len. Das zeigt sich insbesondere in der Gesamtzahl und in den Typen der für eine b e stimmte funktionale Sprachvariante charakteristischen Varianz. ^
Schließlich kann
man auch gewisse Zusammenhänge zwischen den Existenzbedingungen und Funktionen der Sprache einerseits und dem Charakter der in ihr beobachteten Differenzierungen andererseits feststellen. Für die Literatursprache hat die Frage nach der funktionalen Abhängigkeit im Zusammenhang damit insofern eine besondere Bedeutung, als die modernen L i t e r a t u r s p r a chen zum größten Teil polyfunktional sind. ^
Die komplizierte Gesamtheit der Funk-
tionen einer entwickelten Literatursprache bedingt die Existenz verschiedener Typen sprachlicher Differenzierung, aber auch jener Gesamtheit von Mitteln, durch die diese Differenzierungen ausgedrückt werden. Bevor wir uns der Untersuchung dieser Mittel zuwenden, möchten wir feststellen, daß die sprachliche Differenzierung jeder beliebigen historischen Sprache, besonders aber einer Nationalsprache, die als eine komplizierte Gesamtheit verschiedener Subsysteme und Schichten erscheint, auf zwei Ebenen untersucht werden sollte;
Funktionalstilistische Differenzierungen der Literatursprache
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1. Zur ersten Ebene gehört die Gliederung des sprachlichen Ganzen in die Haupt"E xistenzformen" der Sprache. Diese Gliederung kann man als eine Variierung mehr oder minder autonomer Subsysteme innerhalb eines bestimmten sprachlichen Ganzen, das diese Subsysteme in sich erfaßt, betrachten. 2. Zur zweiten Ebene gehört die sekundäre Differenzierung jeder Haupt-Existenzform. Diese Gliederung kann man als eine partielle gekoppelte Variierung innerhalb jedes speziellen Subsystems betrachten, das in ein bestimmtes sprachliches Ganzes eingeht. Hinsichtlich der Literatursprache erweist sich der erste Differenzierungstyp sozusagen als äußerlich, da in diesem Falle ihre Lage inmitten der anderen Existenzformen dieser Sprache, d.h. ihr Verhältnis zum Dialekt und zur Umgangssprache betrachtet wird. ^ Die Untersuchung der Differenzierungen des zweiten Typs setzt die Hinwendung zur 13 14 , sozialen, stilistischen ) Gliederung der Literatur-
inneren (räumlichen, zeitlichen spräche selbst voraus.
Für die einzelnen Sprachen und historischen Perioden ihrer Existenz kann das V e r hältnis sprachlicher Differenzierungen der ersten und der zweiten Ebene zueinander im Prinzip verschieden sein. Bis zu einem gewissen Grade entspricht dieser Situation auch der für die jeweilige Sprache maßgebende Aspekt ihrer Untersuchung. Wenn man diesbezüglich die deutsche und die russische Sprachwissenschaft vergleicht, dann kann man folgendes feststellen: In der deutschen linguistischen Tradition ist die Untersuchung der sprachlicnen Differenzierung vor allem mit einer Charakteristik der Hauptexistenzformen der deutschen Sprache, d. h. mit der äußeren Gliederung des sprachlichen Ganzen, verbunden. Im Gegensatz dazu wurde in der russischen Sprachwissenschaft vor allem die innere (und zwar stilistische) Gliederung der Literatursprache selbst untersucht, worauf wir noch zu sprechen kommen werden. Folglich gehören die stilistischen Besonderheiten zur inneren Gliederung der Literatursprache, deren einzelne Differenzierungstypen als Ausdruck unterschiedlicher F o r men sprachlicher Variierung erscheinen. Welcher Art ist die Spezifik einer solchen Variierung für die Literatursprachen und welchen Stellenwert haben hier die stilistischen Differenzierungen? Die t e r r i t o r i a l
bedingte Variierung
hängt mit der Verwendung der glei-
chen Literatursprache in einem großen Gebiet oder innerhalb verschiedener nationaler Gemeinschaften zusammen (vgl. z . B . die Situation der deutschen oder englischen Spra15 che) . Die entsprechenden Unterschiede sind teils ererbt, teils sind sie das Resultat divergierender Prozesse, die mit der späteren Spaltung der sprachlichen Gemeinschaft, dem T r ä g e r der jeweiligen Sprache, zusammenhängen. Der Charakter der in der Literatursprache beobachteten territorialen Unterschiede und deren Verhältnis zur sprach-
N.N. Semenjuk
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liehen Struktur variieren stark in den einzelnen Sprachen; dabei spielen sowohl die genetische Homogenität oder Heterogenität des sprachlichen Ausgangsmaterials als auch die verschiedenen Ursachen der äußeren Geschichte, die für die soziale und sprachliche Situation bestimmend sind, eine Rolle. Im allgemeinen überschreiten jedoch die territorialen Unterschiede nicht den Rahmen einzelner Abweichungen auf der Ebene der Realisierung und des Funktionierens ein und derselben sprachlichen Struk,
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tur. Die c h r o n o l o g i s c h e n C h a r a k t e r i s t i k a
des sprachlichen Materials, die
man in den modernen Literatursprachen beobachten kann, variieren ebenfalls bedeutend, obwohl in jeder Sprache auf ihren verschiedenen Ebenen im Prinzip eine in chronologischer Beziehung neutrale Schicht von Erscheinungen sowie periphere Schichten, die sowohl Archaismen als auch Neologismen enthalten, ausgesondert werden können. Der Grad der Archaität einer Literatursprache schwankt je nach der konkreten histo17
rischen Situation, die zur Herausbildung literatursprachlicher Normen führte , stark. Zudem kann er für die schriftliche und mündliche Variante der Literatursprache sehr 18
unterschiedlich sein. Der s o z i a l e D i f f e r e n z i e r u n g s a s p e k t der Literatursprache hängt mit der Entstehung gewisser Modifikationen derselben zusammen, die durch die Verwendung der Literatursprache seitens verschiedener Gesellschaftsschichten und in unterschiedlichen Kommunikationssphären hervorgerufen werden. Diese Differenzierungen bilden sich hauptsächlich im Ergebnis von Kontakten und wechselseitigen Einflüssen zwischen Literatursprache, Dialekten und den unterschiedlichen Formen der Umgangssprache heraus. Dabei erweist sich die mündliche Form der Sprache auf sozialer Ebene als viel stärker gegliedert als die Schreibsprache, wo die Möglichkeiten eines ähnlichen Einflusses erheblich eingeschränkt sind, besonders wenn es sich 19 um die entwickelte und normierte, d.h. um die "Standard"-Literatursprache handelt. Ein besonders wichtiges Moment ist schließlich die reiche s t i l i s t i s c h e D i f f e r e n z i e r u n g der Literatursprache. Diese Differenzierung ist ein spezifisches Merkmal, das die Literatursprache von den übrigen Existenzformen der Sprache, aber auch 20 von den literatursprachlichen Idiomen früherer historischer Perioden unterscheidet. Der Charakter und der Grad der stilistischen Schichtung einer Literatursprache hängen unmittelbar von jenen Kommunikationssphären, in denen die jeweilige Sprache verwendet wird, aber auch von den Funktionen ab, die sie in diesem oder jenem Bereich ausübt. Die Gesamtheit der Anwendungsbereiche bestimmt den funktionalen Umfang, in dem die Literatursprache in jeder historischen Epoche verwendet wird.
Funktionalstilistische Differenzierungen der Literatursprache
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2 Das Studium der stilistischen Schichtung einer Literatursprache hängt eng mit der funktionalen Betrachtungsweise der Sprache, d. h. mit der Auffassung zusammen, daß man 21 die Sprache als ein System betrachten muß, das bestimmten Zielen dient. Als Leitbegriff des funktionalen Aspekts erweist sich der von tschechischen und russischen Sprachwissenschaftlern entwickelte Begriff des f u n k t i o n a l e n S t i l s . Auf der von K. Bühler vorgeschlagenen Unterscheidung dreier Grundfunktionen der 22 Sprache
aufbauend, unterschied B. Havränek als erster drei "funktionale Sprachen"
(oder "Schichten"), die Alltagssprache, die Sondersprache und die Sprache der Dichtung. Die Sondersprache ihrerseits wird in seiner Klassifikation durch zwei Varianten vertreten: durch die praxisorientierte Sondersprache oder Geschäftssprache und durch 23 die theorieorientierte Sondersprache oder Wissenschaftssprache.
Havränek unter-
schied (besonders nachdrücklich in seinen frühen Arbeiten) "funktionale Stile", die mit der unmittelbaren Organisation der Aussage zusammenhängen und durch das konkrete Ziel und die Art der Äußerung (öffentlich, 24 intim, monologisch, dialogisch, mündlich, schriftlich usw.) determiniert werden. Im übrigen wird in späteren Arbeiten tschechischer Linguisten, darunter auch Havräneks selbst, diese Unterscheidung im wesentlichen aufgehoben und nur noch der Begriff des funktionalen Stils oder der funktionalen Schicht verwendet, 25 26 In der russischen Tradition verschmilzt der z.B, bei L. P, Jakubinskij , L.V. Vv
27
28
Scerba und später bei einer Reihe anderer Sprachwissenschaftler deutlich vertretene funktionale Standpunkt mit anderen Prinzipien bei der Klassifikation der Stile, Dazu gehören vor allem der expressiv-stilistische Gesichtspunkt und der Gattimgsaspekt, die übrigens ziemlich häufig in mannigfachen Kombinationen mit dem funktionalen Aspekt erscheinen. ^ Der Versuch, bei der Stilcharakteristik alle drei Aspekte (den Gattungsaspekt, den funktionalen und den expressiven Aspekt) bis zu einem gewissen Grade zusammenzu30
fassen, wurde seinerzeit von V. V. Vinogradov unternommen
, der den Sprachstil wie
folgt definiert: "Der S p r a c h s t i l ist ein semantisch abgeschlossenes, expressiv begrenztes und zielgerichtet organisiertes System von Ausdrucksmitteln, das dieser oder jener G a t t u n g d e r
Literatur
Sphäre g e s e l l s c h a f t l i c h e r
oder des S c h r i f t t u m s , dieser oder jener T ä t i g k e i t . . . , dieser oder jener
sozialen
Situation..., diesem oder jenem C h a r a k t e r s p r a c h l i c h e r B e z i e h u n g e n (Sperrung von mir; N. S.) zwischen den verschiedenen Gliedern oder Schichten der Ge31
sellschaft entspricht"
. Die Klassifikationsprinzipien, auf die sich einzelne Sprach-
wissenschaftler bei der funktionalen Aufgliederung der Sprache stützen, sind recht unterschiedlich. Das ist selbstverständlich nicht zufällig. Diese Verschiedenheit spiegelt die Vielfalt der stilistischen Differenzierungen einer Literatursprache wider. Von den
N. N. Semenjuk
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heterogenen Faktoren, die diese Differenzierung bedingen, dürfen genannt werden: die Kommunikationssphäre, die Funktion und der Inhalt des Kommunikationsaktes, die Form der Kommunikation, die typische soziale Kommunikationssituation, die expressive "Kommunikationsebene" usw. Eine wichtige Frage, die sich aus dem Studium der stilistischen Differenzierungen der Sprache zwangsläufig ergibt, ist die nach jenen s p r a c h l i c h e n
Merkmalen,
die die entsprechenden Abgrenzungen hervorrufen. Wie die meisten Forscher, die sich mit den stilistischen Differenzierungen befassen, aussagen, liegen die Hauptmittel 32
zu ihrem Ausdruck in der Syntax und der Lexik.
Außerdem führt nicht nur die Aus-
wahl von Lexemen und syntaktischen Konstruktionen, sondern auch der 33 Wortformen offensichtlich zu bestimmten funktional-stilistischen Abgrenzungen. Zudem sind für die mündliche Form der Literatursprache auch die durch die Unterschiede in der Aus34
Sprache entstehenden stilistischen Differenzierungen bedeutsam. So schließen die Merkmale, die zu den stilistischen Abgrenzungen führen, eine b e stimmte Auswahl auf den einzelnen "Sprachebenen" ein, erfassen aber bei weitem nicht alle Erscheinungen, die zur Realisierung einer bestimmten Ebene gehören. Unser e r Meinung nach besteht die Spezifik der stilistischen Differenzierungen offensichtlich auch darin, daß diese mit den in der Sprache r e a l funktionierenden Lexemen, Wortfor35 men und syntaktischen Konstruktionen zusammenhängen. Die Schwierigkeit, Sprachstile zu untersuchen, besteht u . a . darin, daß die sprachlichen Merkmale, die die Spezifik des einzelnen Stils bilden, ihrem Wesen nach ungleichartig sind. Einerseits handelt es sich um stilistisch relativ deutlich "markierte" sprachliche Mittel, andererseits um deren Auswahl und Häufigkeit, d . h . um Merkmale, die bereits nicht mehr zum Inventar der Sprache gehören, sondern mit dem Funktionieren der Sprache zusammenhängen. Eine ähnliche Zweiheit der den Stil bildenden Merkmale führte zu den verschiedensten Interpretationen der entsprechenden Unterschiede. Wie bereits oben bemerkt, wurden diese Unterschiede von den Vertretern der P r a g e r Linguistenschule zuerst als Unterschiede der im eigentlichen Sinne sprachlichen Einheiten (funktionale "Sprachen" oder "Dialekte") oder Redeeinheiten (funktionale Stile) aufgefaßt. Wenn auch nicht immer ganz konsequent, unterscheiden die sowjetischen Sprachwissenschaftler in diesem Zusammenhang zwischen Sprachstilen und Sprechstilen und geben in 36 unterschiedliehen Zusammenhängen bald diesem, bald jenem Terminus den Vorzug. Derselbe Gedanke von der Verschiedenheit der den Stil bildenden Erscheinungen wurde von dem tschechischen Sprachwissenschaftler L. Dolezel mit einigen anderen Termini, insbesondere denen der S t i l s c h i c h t und des S t i l t y p s ,
ausgedrückt.
Unter einer Stilschicht versteht er die Gesamtheit sprachlicher Mittel, die für eine bestimmte Sprachebene spezifisch sind und eine übereinstimmende stilistische Färbung
Funktionalstilistische Differenzierungen der Literatursprache
139
aufweisen. Unter einem Stiltyp versteht er bestimmte Gesetzmäßigkeiten, Normen und Tendenzen bei der Auswahl und Verwendung sprachlicher Mittel, die in einer bestimm37 ten Kommunikationssphäre zutage treten. 38 So trägt entsprechend dieser Auffassung über die stilbildenden Elemente der TeiL, der zur Stilschicht gehört, eine bestimmte stilistische Information. Welches ist das Wesen und der Charakter dieser Information? Als wir oben den Terminus des Stils in seinen verschiedenen Interpretationen betrachteten, waren wir bemüht, die Aufmerksamkeit auf die vielen Aspekte dieses Begriffes hinzulenken, der die Heterogenität der stilistischen Differenzierungen der Sprache widerspiegelt. Dasselbe kann man auch von jener stilistischen Information sagen, deren Träger die einzelnen Sprachelemente sind. Hier kann man mindestens drei Gruppen von Erscheinungen feststellen: 1. Differenzierung der sprachlichen Elemente in Abhängigkeit von der funktionalen Kommunikationssphäre, in der sie vorwiegend Verwendung finden; die funktionale Differenzierung erfaßt die Lexeme und einen Teil der Wortformen und der syntaktischen Konstruktionen (funktional-stilistische Schicht); 2. Differenzierung der sprachlichen Elemente in Abhängigkeit von ihrer expressivstilistischen Kategorie; dieser Differenzierungstyp ist offensichtlich bei Erscheinungen verschiedener Ebenen möglich, obwohl er innerhalb jeder von ihnen selektiv wirkt (expressiv-stilistische Kategorie); 3. Differenzierung der sprachlichen Elemente in Abhängigkeit von ihrer emotionalwertenden Färbung (ironisch, kosend, verächtlich usw.); dieser Differenzierungstyp erfaßt selektiv nur Lexeme (stilistische Nuancen). Man kann die die entsprechenden stilistischen Kennzeichnungen tragenden sprachlichen Elemente auf verschiedene Weise einteilen. Ihre "paradigmatische" Grundgruppierung wird von synonymen Reihen und Varian39 tenreihen gebildet , auf deren Verteilung sich die verschiedenen funktionalen expressiven und gattungsspezifischen stilistischen Einheiten aufbauen. Die Reihen stilistischer Varianten undein, Synonyme schließenmit neben markierten Elementen 40 auch neutrale Elemente die gemeinsam ihnenstilistisch die "stilistischen Paradigmata" oder "stilistischen Spektren" 41 bilden. Ebenso wie ein grammatisches (oder anderes) Paradigma, das sich auf eine sprachliche Grundstruktur bezieht, weist auch das stilistische Paradigma im Prinzip offen42 sichtlich eine oppositionelle Struktur auf. Die Spezifik der stilistischen Paradigmen besteht jedoch darin, daß die von stilistisch entgegengesetzten Elementen gebildeten Oppositionen über eine bedeutend größere Selektion in bezug auf die Gesamtheit sprachlicher Elemente verfügen und sich außerdem durch eine geringere Regelmäßigkeit und
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N.N. Semenjuk
Deutlichkeit als diejenigen Oppositionen auszeichnen, aus denen sich die fundamentale sprachliche Struktur zusammensetzt. In den einzelnen Sprachen sind sowohl vollständige als auch unvollständige stilistische "Paradigmata" vertreten, z . B . r u s s . /oci glaza - gljadelki/ burkaly; lik - lico - morda; desnica - ruka - lapa/; deutsch / e m p f a n gen - bekommen - kriegen; Schwinge - Flügel/ usw. Wir möchten auch darauf hinweisen, daß diese Mittel keineswegs immer T r ä g e r einer stilistischen Information sind; sie können in bestimmten Kontexten durchaus auch neutral gebraucht werden. Man kann die eine bestimmte stilistische Information tragenden Elemente offensichtlich auch prinzipiell anders gruppieren. Es lassen sich z . B . nach einem einheitlichen allgemeinen Merkmal (literatursprachliche Elemente, umgangssprachliche Elemente, emotional gefärbte Elemente, neutrale Elemente usw.) Lexeme, Wortformen und syntaktische Kon43 struktionen in Gruppen zusammenfassen. Gruppierungen ähnlicher Art führen zur Herausarbeitung ganzer stilistischer Sprachschichten und bringen uns der Untersuchung jener stilistischen Einheiten näher, in denen die entsprechenden Schichten deutlich h e r vortreten. Wir kamen oben auf die Untersuchung stilistisch markierter Elemente zu sprechen und versuchten, wenigstens in ganz allgemeiner Form auf die Mannigfaltigkeit der stilistischen Information hinzuweisen. Wir müssen jedoch auch auf einen anderen Aspekt bei der Charakteristik stilistischer Merkmale eingehen, der mit dem Begriff des stilistischen Typs (dies ein Terminus L. Dolezels), d.h. mit der Auswahl, Gruppierung und mengenmäßigen Repräsentation der sprachlichen Elemente (Lexeme, Wortformen, Konstruktionen) im Rahmen der verschiedenen stilistischen Einheiten zusammenhängt. Viele Forscher definieren heute den Stil, indem sie sich auf diese Stileigenschaften stützen. So schreibt z.B. W.N. Jarzewa: "Die aus den Bedürfnissen der Gesellschaft in einer bestimmten Etappe ihrer Entwicklung sich ergebende Zielgerichtetheit der Kommunikation ist ein Stimulans, das zur Abgrenzung von Sprachstilen führt, aber als Mittel i h r e r Differenzierung dienen Unterschiede in der Auswahl und Kombination s p r a c h 44 licher Fakten". In diesem Sinne definiert auch W. Winter den Stil, nach dessen Auffassung ein Stil durch die optimale Gruppierung sich45wiederholender Auswahlakte bei fakultativen Sprachelementen charakterisiert wird. Wiederkehr der Auswahl und Optimalität von Elementen sind nach Winters Meinung die beiden Hauptmerkmale eines Stils. In diesem Zusammenhang nennt e r folgende Möglichkeiten der Verteilung von Varianten in einem Text: eine bestimmte Variante ist im Text vorhanden, sie fehlt, oder es sind schließlich einige konkurrierende Varianten vorhanden, die in einem b e stimmten zahlenmäßigen Verhältnis auftreten. Im übrigen kann man bei der Herausarbeitung sprachlicher Erscheinungen, die man als relevante Merkmale 46 dieser oder jener stilistischen Einheit ansieht, Widersprü-
Funktionalstilistische Differenzierungen der Literatursprache
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che beobachten, die zum Teil den Rahmen von Unterschieden, die sich aus methodischen Gründen ergeben, überschreiten und eine gewisse prinzipielle Bedeutung haben. Einige Forscher (wie z. B. W. Winter) gehen bei ihren Arbeiten von der Untersuchung der Tendenzen aus, die bei der Aviswahl und Gruppierung der "fakultativen", d . h . mit anderen Worten variablen, Sprachelemente vorherrschen. Sie stützen sich dabei auch auf eine entsprechende Stilauffassung. In anderen Arbeiten wird im Gegensatz dazu ein Komplex von Erscheinungen ausgewählt, die sich auf strukturelle Grundelemente der Sprache beziehen (Personalformen beim Verb, Auswahl der Formen 47
des Personalpronomens, Zeitformen des Verbs, Genusformen etc.)
und bei denen
sich ebenfalls bestimmte Tendenzen der Verteilung auf verschiedene Stile zeigen. So kann man unter Berufung auf die obengenannten, aber auch auf einige andere Untersuchungen bekräftigen, daß Stil mit der Auswahl sowohl "obligatorischer" (d.h. die sprachliche Struktur bildender) als auch "fakultativer" (variabler, eine Auswahl zulassender) Elemente zusammenhängt. Die Möglichkeit einer gewissen Verteilung von Spracherscheinungen auf die verschiedenen stilistischen Bereiche, in deren Grundstruktur sie eingehen, erklärt sich unseres Erachtens hauptsächlich dadurch, daß nicht nur die lexikalischen, sondern auch die grammatischen Erscheinungen semantisch bestimmte Realitäten (die Zeit, die Mitwirkung von Personen, den Handlungsablauf,. Passivität oder Aktivität der Prozesse usw.), die in den einzelnen sprachlichen Funktionsbereichen in unterschiedlichem Maße vertreten sind, widerspiegeln. Die konkreten sprachlichen Stilmerkmale sind ungeachtet der großen Zahl von Unters suchungen in der Sprachwissenschaft e r s t zu einem geringen Teil aufgedeckt worden. Dies ist durch die Aufwendigkeit und Schwierigkeit einer entsprechenden Arbeit, aber auch durch eine gewisse Unklarheit der theoretischen Prämissen, von denen viele e r s t während des Forschungsprozesses erarbeitet werden, zu erklären. So kam beispielsweise e r s t in letzter Zeit der Gedanke von der Ungleichwertigkeit der in die einzelnen funktional-stilistischen Einheiten eingehenden Merkmale auf; vgl. in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen 48 schwachen (abhängigen) und starken (unabhängigen) Stilmerkmalen bei V.D. Levin , von funktional bedeutsamen und nicht bedeutsamen Merkmalen bei G.A. Lesskis nichtspezifischen Stilmerkmalen bei S. D. Bersefiev
50
49
, von spezifischen und
, von Leitmerkmalen und unter-
51
geordneten Merkmalen bei I . R . Gal'perin
usw.
Die ihrem Charakter nach mannigfachen stilbildenden Merkmale werden innerhalb verschiedener stilistischer (funktional-stilistischer; expressiv-stilistischer und gattungsmäßiger) Einheiten vereinigt. Bevor wir uns der Betrachtung der allgemeinsten Eigenschaften einiger dieser Einheiten zuwenden, müssen wir noch auf zweierlei hinweisen.
N. N, Semenjuk
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Erstens werden diese Einheiten offensichtlich durch eine Verbindung von - ihrem Charakter und der stilistischen Färbung nach - unterschiedlichen Elementen, die in einen neutralen sprachlichen Hintergrund eingehen, gebildet. Zweitens sind neben den stilistisch markierten Elementen und den stilistisch r e l e vanten Gruppierungen der verschiedenen Erscheinungen auch andere (chronologische, soziale und territoriale) linguistische Differenzierungen an der Bildung entsprechender 52
stilistischer Einheiten beteiligt. Dieser Umstand hängt z . T . damit zusammen, daß die Literatursprache und die übrigen Existenzlormen derselben historischen Sprache, nämlich Dialekte und umgangssprachliche Schicht, sich gewöhnlich wechselseitig beeinflussen. Deshalb sind auch die Grenzen zwischen den funktional-stilistischen Varianten und den Existenzformen der Sprache bei weitem nicht immer klar. Besonders typisch ist dies für die Umgangssprache. Auch die Form der sprachlichen Äußerung, d.h. der Bezug dieses oder jenes Stiles zur mündlichen oder schriftlichen Kommunikationssphäre, ist für die Stilcharakteri53
stik von Bedeutung. Davon ausgehend, daß unter einer stilistischen Einheit der T y p d e r lichen Realisierung
sprach-
zu verstehen ist, der potentiell mit einer bestimmten
Kommunikationssphäre, sozialen Situation oder Art des Schrifttums zusammenhängt, wollen wir versuchen, einige Formen stilistischer Einheiten zu charakterisieren. Der f u n k t i o n a l e
S t i l kann als eine traditionelle Einheit sprachlicher Mittel
verstanden werden, die in einer bestimmten Kommunikationssphäre mit einem b e stimmten Ziel Verwendung finden. Das sind zugleich bestimmte Gesetzmäßigkeiten bei der Auswahl und Gruppierung sprachlicher Mittel, die in jeder Sphäre menschlicher Tätigkeit potentiell verankert sind (Stil der Geschäftssprache, der Umgangssprache, wissenschaftlicher Stil usw.). Der e x p r e s s i v e
S t i l kann dementsprechend als traditionelle Einheit sprach-
licher Mittel (aber auch der Tendenz ihrer Verbindung und Verwendung) definiert werden, die einer bestimmten sozialen Situation und einer bestimmten "expressiven Ebene" der Kommunikation entspricht (neutraler Stil, hoher Stil, niederer Stil). 54 E s muß bemerkt werden, daß sich die funktionalen und expressiven Stilmerkmale überschneiden und daß sich für jeden funktionalen Stil vorzugsweise verwendete expressive Schichten nennen lassen. So kann man innerhalb des umgangssprachlichen Stils neutrale, familiäre und vulgäre Schichten unterscheiden. Innerhalb des wissenschaftlichen Stils und des Stils der Geschäftssprache dominiert die neutrale expressive Schicht, obwohl auch hier eine feierliche (hohe) stilistische Färbung nicht ausgeschlossen ist. Schließlich sind innerhalb des künstlerischen Stils alle möglichen stilistischen Abstufungen vertreten.
55
Funktionalstilistische Differenzierungen der Literatursprache
143
Neben den verschiedenen funktionalen Stilen kann man, wie viele Forscher meinen, in der schriftlichen Form der Literatursprache zwei ganz allgemeine stilistische Modifikationen unterscheiden: den im eigentlichen Sinne literatursprachlichen Typ und einen 56
der Umgangssprache relativ näher stehenden Typ.
Die Verteilung dieser beiden Stil-
typen zwischen den einzelnen funktionalen Einheiten schwankt in den verschiedenen 57 Sprachen und den Perioden ihrer Entwicklung erheblich. Was das Gattungsprinzip bei der Unterscheidung einzelner stilistischer Einheiten b e trifft, so ist zu bemerken, daß es wegen der außerordentlichen Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Gattungseinteilung selbst theoretisch am anfechtbarsten ist. Zweckmäßiger ist es, sich auf den Begriff der Art des Schrifttums zu stützen; dem gegenüber erscheint die Gattung als eine engere und speziellere Kategorie. So kann man z. B. die politische Literatur insgesamt als eine Art des Schrifttums auffassen, innerhalb derer man in den verschiedenen Epochen verschiedene Gattungen wie Traktat, Pamphlet, informativen Aufsatz usw. unterscheiden kann. So gesehen ist unter "Art des Schrifttums" eine Gesamtheit von Texten, die durch eine thematische und funktionale Gemeinsamkeit v e r bunden sind, zu verstehen. Die Unterscheidung einzelner Gattungen innerhalb jeder Art des Schrifttums erfolgt auf Grund spezifischer formaler und bedeutungsmäßiger Kriterien (Architektonik, Inhalt). Außerdem spiegelt die Sprache der einzelnen Arten des Schrifttums nicht nur verschiedene gattungsbedingte Abstufungen, sondern auch die verschiedenen funktionalen und expressiven stilistischen Varianten wider. In diesem Sinne Uberschneiden sich offensichtlich alle dargestellten Typen stilistischer Ein, ., 58 heiten. Die Aufgabe des F o r s c h e r s besteht darin, den Charakter und die wechselseitigen Beziehungen der verschiedenen stilistischen Einheiten innerhalb der Sprache einer bestimmten historischen Periode festzustellen. Die Vielfalt der Typen stilistischer Einheiten, aber auch die komplizierten Wechselbeziehungen der stilistischen Varianten, Existenzformen der Sprache und Formen sprachlicher Äußerung, die zudem in den verschiedenen Sprachen und einzelnen historischen Perioden ihrer Existenz stark variieren, machen es schwer, eine eindeutige Antwort auf die Frage nach dem Status der stilistischen Einheiten und ihrem Platz innerhalb des allgemeinen sprachlichen Systems zu geben. Im übrigen ist sich die Mehrzahl der Sprachwissenschaftler ungeachtet unterschiedlicher Stilauffassungen z. Zt. darin einig, daß die Stile spezifische systemhafte Gruppierungen auf Grund einer gesetzmäßigen Auswahl und Verbindung bestimmter sprachlicher Mittel darstellen. Jede in der Gesamtheit wechselseitig verbundener sprachlicher Mittel gesehene s t i 59
listische Einheit stellt auf diese Weise ein System dar.
Die konkrete Organisation
jeder dieser Einheiten und ihr "Material" sind weder völlig originell noch ganz autonom.
144
N. N„ Semenjuk
Sie treten nur als eine typische funktionale Variante der Verwendung des Systems einer bestimmten Literatursprache auf. Dabei kann der Grad der Autonomie und der Spezifik der einzelnen funktional-stilistischen Varianten verschieden sein. So bilden z. B. der Stil der Geschäftssprache und der wissenschaftliche Stil zwei einander sehr nahe stehende stilistische Modifikationen, 60 während der umgangssprachliche Stil oft sehr viel spezifischer und autonomer ist. Noch eine sehr wichtige, von den Sprachwissenschaftlern herausgestellte Besonderheit der funktional-stilistischen Einheiten wäre zu nennen, und61zwar ihre Potenzialitat. Diese Idee wurde seinerzeit von V. Mathesius entwickelt.
Indem er den Stil
ganz im Sinne der Prager Theorie als eine charakteristische Art, sprachliche Ausdrucksmittel mit einem bestimmten Ziel zu verwenden, definierte, schlug Mathesius zwei mögliche Stilauffassungen vor: 1. als in fertigem sprachlichem Material auftretende Wirklichkeit und 2. als situationsbedingte Möglichkeit. 62 So kann man den funktionalen Stil einerseits als einen Typ sprachlicher Realisierung, der über eine Reihe potentieller Merkmale qualitativer und quantitativer Art v e r fügt, und andererseits als konkrete Realisierung ansehen, die über bestimmte qualitative und quantitative Merkmale verfügt und sich in einem Text oder einer mündlichen 63 Äußerung manifestiert. Schließlich weisen wir noch auf ein Merkmal der funktionalstilistischen Einheiten 64 hin, und zwar auf ihren traditionellen Charakter. Von diesem Standpunkt aus kann man den Stil nicht nur als potentiellen, sondern auch als traditionellen Typ der Realisierung des sprachlichen Systems in einer bestimmten Kommunikationssphäre definieren. Der Grad des traditionellen Charakters der einzelnen funktionalen Stile ist höchstwahrscheinlich unterschiedlich. Im Vergleich mit anderen Stilen ist wahrscheinlich der Stil der Geschäftssprache (Amtsstil) sehr traditionell. Die beiden letztgenannten Eigenschaften, d.h. die Potenzialität und der traditionelle Charakter stilistischer Systeme, bedingen einerseits die starke Variabilität und Unbeständigkeit der Stile und andererseits ihre Stabilität und ihre relative Einheitlichkeit. Folglich kann man den funktionalen Stil als eine von mehreren traditionellen Varianten sprachlicher Realisierung definieren, die mit einer bestimmten KommunikationsSphäre und einer bestimmten typischen Kommunikationssituation zusammenhängt. Bei der Untersuchung eines Stils lassen sich drei grundlegende Aspekte herausstellen: 1. eine gewisse, schwach strukturierte Gesamtheit ziemlich uneinheitlicher sprachlicher Elemente (Lexeme, Wortformen, syntaktische Konstruktionen), die Träger man65 nigfaltiger stilistischer Informationen sind. 2. verschiedene funktional bedingte Typen sprachlicher Realisation, die über eine Reihe funktionaler Merkmale qualitativer und quantitativer Art verfügen und als unter-
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Funktionalstilistische Differenzierungen der Literatursprache
schiedliche Realisationen desselben Sprachsystems untereinander in Wechselbeziehung stehen; 3. einzelne konkrete textbedingte (situationsbedingte) Realisationen des sprachlichen Systems, deren Merkmale qualitativ und quantitativ bestimmt sind. 3 Bereits in den Thesen des Prager linguistischen Zirkels war darauf hingewiesen worden, daß das funktionale Herangehen an die Sprache auch auf deren Geschichte ausgedehnt werden kann und muß: "Man muß (sogar in der diachronischen Sprachwissenschaft) imbedingt den starken wechselseitigen Einflüssen der verschiedenen sprachlichen Bildungen Aufmerksamkeit zuwenden, jedoch nicht nur unter territorialem Aspekt, sondern auch vom Standpunkt der funktionalen Sprachen, der verschiedenen Formen sprachlicher Äußerung, bestimmter Sprachen der verschiedenen Sprachgruppen und ganzer 66
Sprachgruppen aus". In Fortführung dieser Gedanken vertrat der russische Sprachwissenschaftler G. O. Vinokur entschieden den Standpunkt, daß zwei Aspekte der historischen Sprachforschung zu unterscheiden seien. Diese Aspekte definierte er wie folgt: 1. Untersuchung der Entwicklung des Sprachbaus (oder der Sprachstruktur); 2. Untersuchung der Entwicklung des Sprachgebrauchs (oder der Entwicklung der stilistischen Normen und 67 Systeme einer Sprache). In ähnlicher Weise formulierte Aufgaben der Sprachgeschichte haben bis heute ihre Aktualität nicht eingebüßt, da die historische Stilistik als Wissenschaft von den verschiedenen Formen des Sprachgebrauchs ihre Aufgaben noch immer Untersuchungen nicht endgültig bestimmt hat.Sprachen Man kannnennen auch 68 einige konkrete historischstilistische zu einzelnen , wobei das Deutsche in 69 dieser Beziehung durchaus keine Ausnahme bildet. Zugleich erlaubt die Erfahrung der russischen Sprachwissenschaft auf dem Gebiet der historischen Stilistik, gewisse allgemeine Vermutungen hinsichtlich der verbreitetsten Formen stilistischer Veränderungen auszusprechen. Folgende Typen zeichnen sich ab: 1. Veränderungen im System der funktionalen und expressiven 70 Stile der Literaturspräche (in ihrer Zahl, im Grad ihrer Abgeschlossenheit usw.) ; 2. Veränderungen bei den einzelnen stilistischen Einheiten innerhalb der Literatursprache (Wandlungen im gegenseitigen Verhältnis der funktionalen, gattungsbedingten und expressiven Abgrenzungen usw.); 3. Veränderungen in der Auswahl und Verbindung der konkreten sprachlichen Er71 scheinungen, die die Spezifik der einzelnen stilistischen Einheiten bilden
;
4. Veränderungen im Charakter der stilbildenden Elemente seibot (d.h. derjenigen sprachlichen Erscheinungen, die Träger einer funktionalen und expressiven stilisti-
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N.N. Semenjuk
sehen Information sind), aber auch in den Wechselbeziehungen der stilistischen Informa72 tion mit den anderen Arten ergänzender Information. Wenn man die Funktionsprozesse der Sprache historisch untersucht, muß man für jede einzelne Periode den funktionalen Umfang und die Grenzen der Verwendung der Literatursprache bestimmen. Dabei ist zu beachten, daß bei aller Vielfalt der konkreten Situationen nur zwei, voneinander sehr scharf abgegrenzte Haupttypen der Verteilung der funktionalen Belastbarkeit möglich sind. T y p 1: Verwendung der einzelnen Existenzformen der Sprache für verschiedene funktionale Aufgaben. Unter diesen Bedingungen kann der Anwendungsbereich der Literatursprache stark eingeschränkt sein, da ein Teil der Funktionen durch den Dialekt und manchmal überhaupt durch andere Sprachen erfüllt wird (vgl. die Bedeutung des Lateinischen oder Französischen für die europäischen Sprachen oder die Bedeutung des Arabischen für die Sprachen des Ostens). T y p 2: Realisierung der verschiedenen funktionalen Aufgaben überwiegend mittels der Literatursprache selbst, die sowohl in der schriftlichen als auch in der mündlichen Kommunikation breite Anwendung findet. Während die erste Situation für frühere Perioden der Entwicklung und Existenz der europäischen Literatursprachen charakteristisch ist, erscheint die zweite eher für 73 deren gegenwärtigen Zustand als "normal". Deshalb lassen sich im Prozeß der Herausbildung einer Literatursprache oft zwei in gewissem Sinne entgegengesetzte Tendenzen beobachten: eine Tendenz zu wachsender stilistischer und funktionaler Vielfalt der Literatursprache und eine Tendenz zur Verringerung der Zahl ihrer t e r r i torialen Varianten. Auf diese Weise verläuft die sich unter dem Einfluß vereinheitlichender Tendenzen vollziehende Reduzierung der territorialen Varianten häufig parallel mit einer Verstärkung der funktional-stilistischen Differenzierung. Deshalb schließt die historische Entwicklung der Literatursprache gewisse Wandlungen in den Wechselbeziehungen der verschiedenen Differenzierungstypen ein. Dies betrifft vor allem Veränderungen in den gegenseitigen Beziehungen von territorialen und funktionalen Abgrenzungen. Entsprechende Prozesse lassen sich auch in der Geschichte der deutschen Literatursprache beobachten. Die allmähliche Vergrößerung des Funktionsumfangs der Literatursprache, die zu einer funktional-stilistischen Differenzierung führt, verläuft parallel zu einer Verstärkung der territorialen Gliederung, und zu Beginn des 18. Jahrhunderts bilden sich auf der Basis kleinerer literatursprachlicher Varianten die wichtigsten Varianten der deutschen Literatursprache heraus: die ostmitteldeutsche und die süddeutsche (in zwei Varianten, der südöstlichen und der südwestlichen). Beide Prozesse kommen einander entgegen, wobei offensichtlich gleichzeitig eine teilweise Umgruppie-
Funktionalstilistische Differenzierungen der Literatursprache
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rung der differenzierenden Merkmale, d. h. eine Umfunktionierung einiger territorialer Varianten für funktionalstilistische Zwecke stattfindet
74
.
Im Übereinstimmung mit den verschiedenen Typen stilistischer Veränderungen lassen sich auch verschiedene Ausgangspunkte feststellen. geht man von 75 In einigen Fällen 76 den stilistischen Einheiten, d.h. von den expressiven oder funktionalen Stilen aus, 77
in anderen Fällen von den Arten und Gattungen des Schrifttums , und wieder in anderen Fällen können die stilistischen Merkmale der einzelnen sprachlichen Erscheinungen 78
untersucht werden. Wir möchten in diesem Zusammenhang bemerken, daß der Begriff des funktionalen Stils zwar theoretisch sehr wichtig ist, daß man aber kaum von ihm ausgehen kann, da er selbst in starkem Maße das Ergebnis der Verallgemeinerung bestimmter sprachlicher und außersprachlicher Faktoren ist. Deshalb ist es für historische Forschungen offensichtlich zweckmäßiger, sich auf die Untersuchung einzelner Arten und Gattungen des Schrifttums zu stützen. Manche Schlüsse hinsichtlich des Charakters der funktionalen Stile einer bestimmten Epoche können nur dann gezogen werden, wenn die Untersuchung und Gegenüberstellung der Besonderheiten verschiedener Arten des Schrifttums den Forscher dazu führen, einige allgemeinere sprachliche Gesetzmäßigkeiten in einigen Gebrauchssphären der Sprache festzustellen. Bei der Festlegung des Materials, das man historisch-stilistischen Untersuchungen zugrunde legt, muß man auch mit Faktoren anderer Art rechnen, und zwar mit dem Umstand, daß in einer ganzen Reihe von Fällen innerhalb einer Art des Schrifttums die Besonderheiten Stile und verschiedener scher Schichten verschiedener vereint sind. 79funktionaler Die wahrscheinliche funktionale undexpressiv-stilistiexpressive Heterogenität der Texte macht es erforderlich, sie zuvor vom kulturhistorischen Standpunkt 80 aus sorgfältig zu untersuchen. Welche Methoden lassen sich bei einer historischen Stiluntersuchung anwenden? Bei einer näheren Bestimmung dieser Methoden scheint es uns unerläßlich zu sein, sich auf die Verfahren zur Charakterisierung stilistischer Erscheinungen zu stützen, die für moderne sprachliche Situationen und moderne Literatursprachen ausgearbeitet werden. Prinzipiell gibt es zwei Möglichkeiten, an die Beschreibung von Stilmerkmalen heranzugehen: die Untersuchung der G e s a m t h e i t von M i t t e l n ,
die eine be-
stimmte (gattungsbedingte, funktionale, expressive) stilistische Einheit bilden, und die Untersuchung der u n t e r s c h e i d e n d e n (differenzierenden) M e r k m a l e der 81
einzelnen Stile. Obwohl die Bedeutving der Herausarbeitung des gesamten Merkmalskomplexes für eine Stilcharakteristik unbestritten ist, muß man sich aus rein praktischen Gründen oft auf die Untersuchung nur einiger Merkmale beschränken. Im übrigen hat eine der-
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artige bewußte Selbstbeschränkung manchmal prinzipiellen Charakter. So wird z.B. in v „82 der Arbeit von A. Ja. Sajkevic die These von der gegenseitigen Abhängigkeit sämtlicher sprachlicher Merkmale einer bestimmten stilistischen Einheit aufgestellt und auf originelle Weise bewiesen. Im Zusammenhang damit müssen nach Meinung des Verfassers die stilistischen Besonderheiten bis zu einem gewissen Grade auch in jeder einzelnen Erscheinung hervortreten. Die Willkür der Auswahl wird jedoch durch die Intuition des Forschers eingeschränkt, die es diesem nicht gestattet, ein Merkmal auszuwählen, das in stilistischer Beziehung offensichtlich irrelevant ist. Die Untersuchung stilistischer Differenzierungen findet in der Erarbeitung verschiedener Muster stilistischer Beschreibung ihren Ausdruck. So fand z.B. die Untersuchung einzelner Stile im Zusammenhang mit den von ihnen ausgeübten Funktionen im sogenannten "zielgerichteten" (oder "teleologischen") Modell ihren Ausdruck, das von den Pragern vorgeschlagen und von tschechischen und russischen Sprachwissenschaftlern unter verschiedenen oo Aspekten verwendet worden ist. Bei der Verwendung des zielgerichteten Modells kann man eine unmittelbare Abhängigkeit zwischen dem Ziel der Kommunikation und dem zu seiner Erreichung verwendeten Komplex sprachlicher (stilistischer) Mittel beobachten. Um einen gewissen Schematismus, der diesem Modell eigen ist, zu überwinden, verwendet eine Reihe von Sprachwissenschaftlern den Begriff der "stilistischen Eigenschaften". Dadurch nimmt das Modell folgendes Aussehen an: Ziel - Gesamtheit der durch dieses Ziel unmittelbar determinierten stilistischen Eigenschaften - Gesamtheit der diesen entsprechenden stilistischen (d.h. im eigentlichen Sinne sprachlichen) Merk, 84 male. So stellt z.B. E. Benes für die Wissenschaftssprache folgende vier stilistischen Eigenschaften fest: optimale Angemessenheit der sprachlichen Äußerung, Genauigkeit, 85 Standardisiertheit und Knappheit. Zur gleichen Zeit stellt S.I. Kaufman solche Eigenschaften der Wissenschaftssprache wie logische Folgerichtigkeit der Darstellung, 86
Sachlichkeit, Genauigkeit, Kürze heraus.
Wie man leicht feststellen kann, haben bei-
de Komplexe trotz einiger gemeinsamer stilistischer Eigenschaften auch unterscheidende Merkmale. Darin kommt eine gewisse Willkür bei der Auswahl dieser oder jener 87 Erscheinungen durch den einzelnen Forscher zum Ausdruck. Obwohl wir die Zweckmäßigkeit eines derartigen Herangehens an stilistische Differenzierungen der Sprache anerkennen, müssen wir dennoch feststellen, daß uns der Weg von den Stileigenschaften zu den Merkmalen eines bestimmten Stils nur als sehr bedingt begehbar erscheint, da wir in diesem Falle im wesentlichen nur das beweisen, was wir beweisen wollten, als wir die gewonnenen sprachlichen Merkmale durch zuvor ausgewählte Texteigenschaften vorherbestimmt hatten. Objektiver scheint uns ein ander e r Weg zu sein, und zwar der von den sprachlichen Eigenschaften zu den stilistischen 88 Eigenschaften und Funktionen eines Textes.
Funktionalstilistische Differenzierungen der Literatursprache
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Mit den Versuchen, die gewonnenen Merkmale der verschiedenen Stile bis zu einem gewissen Grade zu "objektivieren", hängt die in letzter Zeit zu beobachtende Entwicklung der Methoden der quantitativen Stilinterpretation zusammen. Dabei werden s o wohl die Methoden der vollständigen mathematisch-stilistischen Bearbeitung von Tex89 ten (für einige ausgesuchte Erscheinungen) als auch die Methoden ausgewählter s t a t i stischer Berechnungen (Methode der quantitativen "Proben"), die mit qualitativen 90 Eine
Interpretationen sprachlicher Erscheinungen kombiniert werden, angewandt.
gewisse Enttäuschung über die Ergebnisse der statistischen Textbearbeitung hängt mit ihrer komplizierten Struktur, mit der Vielfalt der der Berechnung zugrundeliegenden Erscheinungen und mit ihrem unterschiedlichen Häufigkeitsindex zusammen, der die Festlegung der notwendigen Exzerption erschwert, usw. Die quantitative Interpretation ist jedoch unbedingt notwendig, da sie einige wichtige Besonderheiten der Kombination und Verteilung stilbildender Merkmale widerspiegelt, die mit der Spezifik stilistischer Sprachmodifikationen zusammenhängen. Deshalb können Fortschritte nur von einer Vervollkommnung der quantitativen Methoden entsprechend der komplizierten Natur des untersuchten Gegenstandes, von einer richtigen Auswahl der einer Untersuchung zugrundeliegenden stilistischen Merkmale und von einer vernünftigen Verbindung quantitativer und qualitativer Momente bei der Stilinterpretation erwartet werden. Es scheint in diesem Zusammenhang unbestritten zu sein, daß die Ausarbeitung entsprechender Methoden in e r s t e r Linie von der gegenwärtigen sprachlichen Situation ausgehen muß. Einleuchtend ist, daß diese Methoden nur in beschränktem Umfang und nur in ihren einfachsten Formen auf historisches Material der verschiedenen Sprachen anwendbar sind.
Anmerkungen 1 Wir möchten feststellen, daß die funktionale Betrachtungsweise der Sprache sich ir der Linguistik in starkem Maße unter dem Einfluß des Studiums der Literatursprache herausgebildet hat; denn außerhalb dieser Betrachtungsweise ist eine erfolgreiche Untersuchung der Literatursprache im Grunde genommen unmöglich. "Überhaupt ist Literatursprache derjenige Begriff, der besonders klar die Notwendigkeit eines funktionalen Herangehens an die Sprache u n t e r s t r e i c h t . . . " (L. P. Jakubinskij, O dialogiceskoj re£i [Über das dialogische Sprachen], in: Russkaja re£' 1, P e t r o grad 1923, S. 11). 2 R . A . Budagov, Problemy izucenija romanskich literaturnych jazykov (Probleme des Studiums der romanischen Literatursprachen), Moskva 1961, S. 3; vgl. auch D. Brozovii (= D. Brozovii), Slavjanskie standartnye jazyki i svravnitel'nyj metod (Die slawischen Standardsprachen und die vergleichende Methode), in: Voprosy Jazykoznanija, Jg. 1967, Nr, 1, S. 20.
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3 Nach D. Brozovic (wie Anm. 2) ist die Theorie der Literatur- oder (in seiner T e r minologie) der Standardsprachen eine autonome Disziplin, der jedoch überall außer in der tschechischen und russischen Sprachwissenschaft nur geringe Aufmerksamkeit zugewandt wird. 4 Vergleiche unten die Verweise auf einzelne Arbeiten. 5 Vgl. das Material in N. N. Semenjuk, Iz istorii funkcional'no-stilistiieskich differenciacij nemeckogo literaturnogo jazyka (Aus der Geschichte der funktionalstilistischen Differenzierungen der deutschen Literatursprache), Moskva 1972, Kapitel m . 6 Vgl. z. B. Ch.A. Ferguson, Diglossia, in: Word 15 (1959), Nr. 2, S. 325-340; E„ Haugen, Language Conflict and Language Planning (The case of Modern Norwegian), Cambridge (Massachusetts) 1966. 7 Vgl. die Traditionen beim Studium der russischen und der deutschen Sprache, die in den uns interessierenden Fragen unterschiedliche Tendenzen aufweisen. Für die russische Tradition ist vor allem die Hinwendung zu den stilistischen Differenzierungen der Literatursprache charakteristisch, während in der deutschen Linguistik den territorialen Differenzierungen, aber auch den mannigfachen Verbindungen der Literatursprache mit den Dialekten und der Umgangssprache größere Aufmerksamkeit zugewandt wurde. 8 Vgl. G. O. Vinokur, O zadaiach istorii jazyka (Über die Aufgaben der Sprachgeschichte), in: Izbrannye raboty po russkomu jazyku, Moskva 1959, S. 207 f. Vgl. auch N. N. Semenjuk, K charaktaristike lingvisticeskich razlicij raznych zanrov pis'mennosti (Zur Charakteristik der sprachlichen Unterschiede der v e r schiedenen Gattungen des Schrifttums), in: Voprosy Jazykoznanija, Jg. 1966, Nr. 6, S. 60-70. 9 Die Thesen des Prager Linguistischen Zirkels vgl. bei V.A. Zvegincev, Istorija jazykoznanija XIX i XX vekov v ocerkach i izvlec£nijach (Geschichte der Sprachwissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts in Abrissen und Auszügen), Teil 2, Moskva 1960, S. 60 ff. 10 So verbindet Ch. Ferguson (wie Anm. 6, S. 334) die Unterschiede zwischen Dialekt und Literatursprache, die beide zu ein und demselben-System gehören, mit den Unterschieden im Charakter der Varianz. Insbesondere sind nach seiner Auffassung für den Dialekt eine größere Zahl von Varianten als für die Literatursprache charakteristisch, jedenfalls inbezug auf Aussprache und Schreibung. Außerdem besitzt die Literatursprache seiner Meinung nach eine umfangreichere Lexik und eine (vor allem in bezug auf die Syntax) kompliziertere grammatische Struktur. 11 Vgl. auch den von einigen Linguisten in diesem Sinne verwendeten Terminus "Polyvalenz", z . B . bei D. Brozovife (wie Anm. 2). 12 Vgl. die Aussonderung analoger Aspekte der sprachlichen Differenzierung bei L. P. Jakubinskij (wie Anm. 1). 13 Hier denken wir nur an die chronologischen Differenzierungen der Sprache, die in der Synchronie zum Ausdruck kommen. Näheres bei N. N. Semenjuk (wie Anm. 5), Kap. 1, S. 27. 14 Über entsprechende Aspekte bei der Differenzierung der deutschen Literatursprache vgl. M. M, Guchman, N. N. Semenjuk, O sociologiieskom aspekte literaturnogo jazyka (Über den soziologischen Aspekt der Literatursprache), in: Norma i social' naja differenciacija jazyka, Moskva 1969, S. 12. 15 Nach Auffassung von D, Brozovic darf man die zonalen Besonderheiten innerhalb der Standardsprachen nicht mit ihren polarisierten territorialen Varianten v e r wechseln; vgl. D. Brozovifc (wie Anm. 2), S, 18,
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16 Vgl. entsprechende Schlußfolgerungen, die aus d e m M a t e r i a l verschiedener Literatursprachen in den Arbeiten von M. M. Guchmann, E . A . Makaev, G.V. Stepanov, A.D. ävejcer, N.N. Semenjuk, A . I . Dornaschnew und anderer Forscher gezogen werden. 17 Vgl. z . B . die Situation der tschechischen schriftlichen Literatursprache, die durch ihren stark archaischen Charakter gekennzeichnet ist. 18 Näheres bei M.M. Guchman, Literaturnyj jazyk (Die Literatursprache), in: Obscee jazykoznanie, Moskva 1970, S. 502-548. 19 Vgl. M.M. Guchman, N. N. Semenjuk a . a . O . (wie Anm. 14), S. 22 sowie V.N. Jarceva, Razvitie anglijskogo nacional'nogo literaturnogo jazyka (Die Entwicklung der englischen nationalen Literatursprache), Moskva 1969, S. 253 ff. 20 V.V. Vinogradov, O zadacach istorii russkogo literaturnogo jazyka preimuscestvenno XVII-XIX vv. (Über die Aufgaben der Geschichte der russischen Literatursprache, vor allem des 17. bis 19. Jahrhunderts), in: Izvestija Akademii Nauk SSSR. Otdelenie jazyka i literatury 5 (1946), H. 3, S. 224; vgl. auch B. Gavranek (= B. Havränek), Zadaci literaturnogo jazyka i ego kul'tura (Die Aufgaben der Literatursprache und ihre Kultur), in: Prazskij lingvisticeskij kruzok, Moskva 1967, S. 3 4 6 ; d e r s . , Studie o spisovnöm jazyce, Praha 1963, S. 85. 21 Wir weisen darauf hin, daß nach Auffassung der Prager Schule die Funktion ein Ziel, eine Aufgabe und keine Abhängigkeit ist. Vgl, J . Vachek, Lingvisticeskij slovar' Prazskoj skoly (Sprachwissenschaftliches Wörterbuch der P r a g e r Schule), Moskva 1964, S. 250; ferner R. Jakobson, Razrabotka celevoj modeli v evropejskoj lingvistike v period mezdu dvumja vojnami (Die Erarbeitung eines teleologischen Modells in der europäischen Linguistik zwischen den beiden Kriegen), in: Novoe v lingvistike 4, Moskva 1965, S. 337. 22 Wir erinnern daran, daß nach Bühler zwischen der symbolischen oder r e p r ä s e n tativen Funktion (Mitteilung nach der russischen Tradition), der expressiven (Äußerung) und der appellativischen (Anrede) Funktion zu unterscheiden ist. 23 Vgl. B. Havränek, Z a d a c i . . . (wie Anm. 20). Vgl. auch die Definition des Stils "Stil ist eine charakteristische Art des Sprachgebrauchs mit einem bestimmten Ziel" bei V. Matezius (= V. Mathesius), Jazyk i stil' (Sprache und Stil), in: P r a z s k i j lingvisticeskij kruzok, Moskva 1967, S, 464. 24 Die Unterscheidung von funktionalen Sprachen und funktionalen Stilen basiert bei den P r a g e r n theoretisch auf der Unterscheidung von Sprache und Sprechen und stützt sich auf den doppelten Charakter der sprachlichen Zeichen, die den Stil bilden; vgl. unten S. 40. 25 In seinem Aufsatz "O funkcional'nom rassloenii literaturnogo jazyka" (Über die funktionale Schichtung der Literatursprache) beharrt B. Havränek noch auf der Unterscheidung funktionaler Sprachen und funktionaler Stile und polemisiert in diesem Zusammenhang gegen J. M. Korinek (Prazskij lingvisticeskij kruzok, Moskva 1967, S. 437), aber in der zusammenfassenden Arbeit von 1963 (B. Havränek, S t u d i e . . . , wie Anm. 20, S, 85) kommt diese Unterscheidung zumindest terminologisch nicht zum Ausdruck. Vgl. auch die Gleichsetzung von funktionaler Sprache und Stil bei E. Benes, Syntaktische Besonderheiten der deutschen wissenschaftlichen Fachsprache, in: Deutsch als Fremdsprache 3 (1966), Nr. 3, S. 26-36. 26 Vgl. L. P. Jakubinskij (wie Anm. 1). - Es sei darauf hingewiesen, daß in dieser frühen Arbeit sehr entschieden der funktionale Standpunkt vertreten wird, dem das teleologische Moment zugrunde liegt. Entsprechend den verschiedenen Zwekken unterscheidet man die poetische Sprache, die Umgangssprache, die wissenschaftlich-logische Sprache und die Rednersprache; vgl. eine ähnliche Klassifikation bei W.v.Humboldt (Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues). Die Aufgliederung in Formen der sprachlichen Aussage (mündlich - schritt-
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lieh, Dialog - Monolog) muß nach L. P. Jakubinskij einer teleologischen Charakteristik der Sprache vorausgehen. 27 L. V. Scerba, Sovremennyj russkij literaturnyi jazyk (Die russische L i t e r a t u r s p r a che der Gegenwart, 1939), in: Izbrannye raboty po russkomu jazyku, Moskva 1957, Die stilistische Struktur der Sprache hängt nach Scerba unmittelbar von der Differenziertheit derjenigen Gesellschaft ab, die sich der jeweiligen Sprache bedient. Gleichzeitig ist die funktionale Ausrichtung oder "Zweckmäßigkeit" der Sprache ein unmittelbares Stimulans zur Aufgliederung der Sprache (vgl, äcerba a . a . O . , S. 117, 119, 121). 28 Vgl. z. B. N. N. Amosova, K probleme jazykovych stilej v englijskom jazyke . . . (Zum Problem der sprachlichen Stile im Englischen...), in: Vestnik Leningradskogo Gosudarstvennogo Ui.'versiteta, Nr. 5, Leningrad 1951, S. 32-44; R. G. Piotrovskij, O nekotorych stilisticeskich kategorijach (Über einige stilistische Kategorien), in: Voprosy Jazykoznanija, Jg. 1954? Nr. 1, S. 55-68; G. V. Stepanov, O chudozestvennom i nauenom stiljach reci (Über den künstlerischen und wissenschaftlichen Sprachstil), in: Voprosy Jazykoznanija, Jg. 1954, Nr. 4, S. 87-92 u . a . 29 Es muß jedoch darauf hingewiesen werden, daß zwischen der russischen und tschechischen Sprachwissenschaft ungeachtet gemeinsamer theoretischer P r ä missen gewisse Unterschiede hinsichtlich der Erarbeitung der funktionalen Richtung existieren: Während man in der tschechischen Linguistik versucht hat, die einzelnen funktionalen "Sprachen" (vor allem die "ökonomische" und "poetische") zu erforschen und zu charakterisieren (vgl. T . V . Bulagina, Prazskaja lingvisticeskaja skola [Die Prager linguistische Schule], in: Osnovnye napravlenija strukturalizma, Moskva 1964, S. 116), fehlten in der russischen Linguistik konkrete Untersuchungen auf der Basis der funktionalen Theorie; vgl. übrigens die unlängst erschienene spezielle Untersuchung "Razvitie funkcional'nych stilej sovremennogo russkogo jazyka" (Die Entwicklung der funktionalen Stile der r u s s i schen Sprache der Gegenwart), Moskva 1968. 30 Vgl. die Analyse der Auffassungen V. V. Vinogradovs sowie die ausführliche Übersicht der Grundthesen der russischen Sprachwissenschaft in i h r e r historischen Entwicklung in den Büchern von M. N. Kozina, O ponjatii stilja i meste jazyka chudoiestvennoj literatury sredi funkcional'nych stilej (Über den Begriff des Stils und den Platz der Sprache der künstlerischen Literatur innerhalb der funktionalen Stile), Perfn 1962; dies., K osnovanijam funkcional'noj stilistiki (Zu den Grundlagen der funktionalen Stilistik), Perfti 1968. 31 V.V. Vinogradov (wie Anm. 20), S. 225. Zu den beiden Stildominanten (der funktionalen und der expressiven) vgl. V.D. Levin, O nekotorych voprosach stilistiki (Über einige Fragen der Stilistik), in: Voprosy Jazykoznanija, Jg. 1954, Nr. 5, S. 77. - Wir weisen darauf hin, daß auch bei Scerba (wie Anm. 27, vgl. S. 22) das funktionale Prinzip der Aussonderung von Stilen mit der expressiven Färbung der Wörter (feierlich, neutral, familiär, vulgär e t c . ) zusammenhängt. 32 Vgl. B. Havránek, Z a d a c i . . . (wie Anm. 20), S. 347 sowie M. M. Guchmann, Der Weg zur deutschen Nationalsprache, Teil 2, Berlin 1969, S. 16 und V.V, Vinogradov, Stilistika. Teorija poéticeskoj reci. Poétika (Stilistik. Theorie der Sprache der Dichtung. Poetik), Moskva 1963, S. 8 und 12. 33 B. Havránek, Z a d a c i . . . (wie Anm. 20); W. Winter, Stil als linguistisches Problem, in: Satz und Wort im heutigen Deutsch, Jahrbuch des Instituts für deutsche Sprache 1965/66, Düsseldorf 1967, S. 219; B.A. Abramov, Nauíno-techniceskaja literatura kak odna iz s f e r funkeionirovanija jazykovoj sistemv (Die wissenschaftlich-technische Literatur als einer der Funktionsbereiche des sprachlichen Systems), in: Problemy lingvistiéeskoj stilistiki. Tezisy dokladov, Moskva 1973, S. 175-181.
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34 Genauer dazu M.V. Panov, O stiljach proiznosenija (v svjazi s obScimi problemami stilistiki) (Über die Aussprachestile [im Zusammenhang mit allgemeinen Problemen der Stilistik], in: Razvitie sovremennogo russkogo jazyka, Moskva 1963. 35 Vgl. auch T . G . Vinokur, Ob izucenii funkcionaPnych stilej russkogo jazyka sovetskoj épochi (k postanovke problemy) (Über das Studium der funktionalen Stile der russischen Sprache zur Zeit der Sowjetunion [ Zur Problemstellung]), in: Razvitie funkcional'nych stilej sovremennogo russkogo jazyka, Moskva 1968, S. 8. 36 Vgl. vor allem die Materialien zur Stilistikdiskussion vom Jahre 1954. Sie sind in der Zeitschrift "Voprosy Jazykoznanija" der Jahre 1954 und 1955 veröffentlicht. Besonders heftig war die Diskussion zu dem Aufsatz von Ju. S. Sorokin, K voprosu ob osnovnych ponjatijach stilistiki (Zum Problem der Grundbegriffe der Stilistik), in: Voprosy Jazykoznanija, Jg. 1954, Nr. 2, S. 68-82. Darin schlägt er vor, die Gegenüberstellung von Sprachstil und Sprechstil durch Begriffe der analytischen und funktionalen Stilistik zu ersetzen. 37 L. Delezel, K obecné problematice jazykového stylu, in: Slovo a slovesnost (1954), Nr. 15, S. 101. - Es hat wirklich kaum einen Sinn, die doppelte Aufgliederung der Stile (Sprachstile und Redestile) aufrechtzuerhalten. Offensichtlich ist es zweckdienlicher, sie als einheitliches sprachliches Phänomen zu betrachten, das über zwei Typen von Merkmalen verfügt und sich sozusagen an der Grenze zwischen Sprache und Sprechen befindet; vgl. dazu T.G. Vinokur (wie Anm. 35), S. 5. 38 Vgl. die Anwendung des gleichen Schemas auf deutsches Material durch E. Benes (wie Anm. 25). V
v
39 Vgl, in diesem Zusammenhang die Bemerkung L.V. Scerbas, daß " . . . die entwickelte Literatursprache ein sehr kompliziertes System mehr oder minder synonymer Ausdrucksmittel ist, die auf irgendeine Weise aufeinander bezogen sind" (L.V. Scerba [ wie Anm. 27], S. 121). 40 M.V. Panov, O razvitii russkogo jazyka v sovetskom obScestve (Über die Entwicklung der russischen Sprache in der sowjetischen Gesellschaft), in: Voprosy Jazykoznanija, Jg. 1962, Nr. 3, S. 6. 41 V.V. Akulenko, Nekotorye problemy obscej stilistiki (Einige Probleme der allgemeinen Stilistik), in: Vestnik Chafkovskogo universiteta, Nr. 12, filologiceskaja serija, vyp. 2, Chafkov 1965, S. 7. 42 M.V. Panov (wie Anm. 40). - Hier wird die Inkongruenz der "strukturellen" und der "stilistischen" Paradigmatik in der Sprache festgestellt. 43 Vgl. I. M. Vlader, O primenenii strukturnych metodov pri leksiko-stilisticeskoj differenciacii slovarnogo sostava sovremennogo anglijskogo jazyka (Über die Anwendung struktureller Methoden bei der lexikalisch-stilistischen Differenzierung des Wortbestandes der englischen Sprache der Gegenwart), in: Filologiceskie nauki Nr. 3 (1962), S. 53-62. 44 V.N. Jarceva (wie Anm. 19), S. 162. 45 W. Winter (wie Anm. 33), S. 221 ff. 46 Vgl. diesen Terminus bei W. Winter (wie Anm. 33), S. 228. 47 Vgl. z . B . B.A. Abramov (wie Anm. 33). 48 V.D. Levin, Struktura stilja i stilisticeskaja sistema jazyka (Die Stilstruktur und das stilistische System der Sprache), in: Problemy lingvisti&skoj stilistiki. Tezisy dokladov, Moskva 1969, S. 78.
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49 G.A. Lesskis, O differenciacii stilej i o funkcii jazyka v chudozestvennom tekste (Über die Differenzierung der Stile und die Funktion der Sprache im künstlerischen Text), in: Problemy . . . (wie Anm. 48), S. 80-83. 50 S.D. Bersefiev, Funkcional'no-stilisticeskie sistemy i ich otnoSenie k sisteme jazyka (Funktional-stilistische Systeme und ihr Verhältnis zum Sprachsystem), in: Tezisy konferencii "Sistema jazyka i obucenie reci", Minsk 1964 51 I.R. Gal'perin, K probleme differenciacii stilej reci (Zum Problem der Differenzierimg der Sprachstile), in: Problemy sovremennoj filologii, Moskva 1965, S. 68-73. 52 Vgl. auch N. A. Baskakov, Strukturnye i funkcional'nye stilisticeskie modifikacii v sovremennych tjurkskich jezykach (Strukturelle und funktionale stilistische Modifikationen in den türkischen Sprachen der Gegenwart), in: Izvestija otdelenija literatury i jazyka 26 (1967), H. 2, S. 153-161. 53 Obwohl es keinen obligatorischen Zusammenhang zwischen Ausdrucksform und Stil gibt, kann man bei einigen Stilen eine gewisse Tendenz zu einer bestimmten Form beobachten; vgl. in diesem Zusammenhang T. G. Vinokur, Stilisticeskoe razvitie sovremennoj russkoj razgovornoj reci (Die stilistische Entwicklung der russischen Umgangssprache der Gegenwart), in: Razvitie funkcional'nych stilej sovremnnogo russkogo jazyka, Moskva 1968, S. 13. 54 Näheres bei M. V. Panov (wie Anm. 40), S. 9. 55 Wir weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, daß man die stilistischen Merkmale offensichtlich auch ein wenig anders gruppieren kann, vor allem wenn man die logische (intellektuelle) und expressive (emotionale) Dominante innerhalb der einzelnen stilistischen Einheiten herausgreift und einander gegenüberstellt, wie dies z.B. S. Balli (= Ch. Bally) (Francuzskaja stilistika [ Französische Stilistik], Moskva 1961, S. 182) vorschlägt. 56 Vgl. N.N. Amosova (wie Anm. 28), S. 35; V.D. Levin (wie Anm. 31), S. 77. Vgl. auch V. V. Vinogradov (wie Anm. 32), S. 5 f. - Ju. S. Stepanov (Francuzskaja stilistika [Französische Stilistik], Moskva 1965) baut seine Stilklassifikation des Französischen auf der Gegenüberstellung von literatursprachlichem, neutralem und umgangssprachlichem Stil auf und sieht die niedere gesprochene Sprache und den Jargon als außerhalb der Literatursprache stehend an. 57 Vgl. die Ausführungen W. Winters (wie Anm. 33, S. 232 ff.) an Hand von Material des Deutschen und des Russischen. 58 Im übrigen scheint es uns nicht ganz richtig zu sein, wenn man die Abgrenzungen der Gattungen lediglich als allgemeineren funktionalen Gruppierungen untergeordnet ansieht. Man kann einzelne Arten des Schrifttums und einzelne Gattungen nennen, die in funktionaler Beziehung ziemlich gleichartig sind. Außerdem erfüllen einige von ihnen gleichzeitig verschiedene Funktionen und sind auf einer Mischung funktionalstilistischer und expressiver Schichten aufgebaut. Man vergleiche z.B. die Sprache einer modernen Zeitung. Zur Problematik vgl. auch I. S. Il'inskaja, O jazykovych i nejazykovych stilisticeskich sredstvach (Über sprachliche und nichtsprachliche stilistische Mittel), in: Voprosy Jazykoznanija, Jg. 1954, Nr. 5, S. 84-89. 59 W.N. Jarzewa schreibt: "Man muß besonders unterstreichen, daß die sprachlichen Stile nicht nach dem Vorhandensein einzelner stilistischer Merkmale unterschieden werden, wenn auch diese Merkmale für diesen oder jenen Stil recht typisch sind, sondern nach der Eigenart ganzer Systeme, die die verschiedenen Sprachstile charakterisieren" (V.N. Jarceva [wie Anm. 19], S. 162). - Zum System Charakter des Stils vgl. auch die Arbeiten von V. V. Vinogradov, R. G. Piotrovskij, I.R. Gal'perin und vielen anderen Sprachwissenschaftlern. Zu beachten ist jedoch auch die etwas abweichende Auffassung Ju. S. Sorokins (wie Anm. 36).
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60 Vgl. die Erwägungen B. Havräneks ( Z a d a c i . [ w i e A n m . 20], S. 346 f f . ) über die hierarchische Organisation der Gesamtheit funktionaler Stile. 61 Vgl. V. Mathesius (wie Anm. 23), S. 464 f. - Die Idee von der Potentialität des Stils beruht bei Mathesius auf der These von der Potentialität der sprachlichen Erscheinungen; vgl. V. Matezius (= V. Mathesius), O potencial'nosti jazykovych javlenij (Über die Potentialität sprachlicher Erscheinungen), in: Prazskij lingvisticeskij kruiok, Moskva 1967, S. 42 ff. 62 Die Situation ihrerseits schließt das sprachliche Material, die Person des Sprechers und das ihr vorschwebende Ziel ein (V. Matheius [ wie Anm. 23], S. 464). Gegenwärtig wird die unterschiedlich interpretierte Idee von der Potentialität von einer Reihe von Sprachwissenschaftlern geteilt, die sich mit Stilproblemen befassen; vgl, V . V . Vinogradov, V. G. Kostomarov, Teorija sovetskogo jazykoznanija i praktika obucenija russkomu jazyku inostrancev (Die Theorie der sowjetischen Sprachwissenschaft und die Praxis des Russischunterrichts für Ausländer), in: Voprosy Jazykoznanija, Jg. 1967, Nr. 2, S. 6. 63 Vgl. die Unterscheidung der beiden Begriffe "Textstil" (als konkrete Realisierung) und "funktionaler Stil" (als Gesamtheit von Potenzen) in der oben (Anm. 33) zitierten Arbeit von B. A . Abramov; vgl. auch Z. Klemensiewicz, O stylach jezykowych, in: Pogadanki o jgzyku, Wroc4aw - Warszawa - Kraköw 1966, S. 20 ff. 64 Zum traditionellen Charakter der Stile vgl. A . A . Leont'ev, Ponjatija "stil' reci" i "stil' jazyka" v rjadu drugich ponjatij lingvistiki reci (Die Begriffe "Sprechstil" und "Sprachstil" im Zusammenhang mit anderen Begriffen der Sprechlinguistik), in: Problemy lingvisticeskoj stilistiki. Tezisy dokladov, Moskva 1969, S. 83-85. 65 Dabei werden drei Grundtypen stilistische Konnotation der Lexeme unterschieden: die stilistische Schicht (funktionale Spezialisierung); die stilistische Kategorie (expressiv-stilistische Spezialisierung); die stilistische Nuance (emotional-wertende Spezialisierung). 66 Tezisy Prazskogo lingvisticeskogo kruzka (Thesen des Prager linguistischen Z i r kels; Prag 1929) in: Prazskij lingvisticeskij kruzok, Moskva 1967, S. 26. 67G.O. Vinokur (wieAnm. 53), S. 207 ff. 68 Am vollständigsten wurden die stilistischen Aspekte bei der historischen Untersuchung der russischen Literatursprache berücksichtigt; vgl. z.B. V . V . Vinogradov, Ocerki po istorii russkogo literaturnogo jazyka XVII-XIX w . (Beiträge zur Geschichte der russischen Literatursprache des 17. bis 19. Jahrhunderts), Moskva 1939; V. D. Levin, Kratkij oierk istorii russkogo literaturnogo jazyka konca XVm - nacala XIX v. Leksika (Kurzer Abriß der Geschichte der russischen Literatursprache des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts. Lexik), Moskva 1967; G. O. Vinokur, Istorija russkogo literaturnogo jazyka (Geschichte der russischen Literatursprache), in: Izbrannye raboty po russkomu jazyku, Moskva 1959; vgl. auch die Kollektivarbeit "Razvitie funkcional'nych stilej . . . (wie Anm. 29). 69 Näheres bei N. N. Semenjuk (wie Anm. 5), S. 78 ff. 70 Die historische Veränderlichkeit sprachlicher Stilsysteme, ihrer hierarchischen Beziehungen, des Grades ihrer Abgeschlossenheit usw. ist von einer Reihe sowjetischer Sprachwissenschaftler beobachtet worden; vgl. V . V . Vinogradov (wie Anm. 20); N. I. Tolstoj, K voprosu o drevneslavjanskom jazyke kak obscem literaturnym jazyke juznych i vostocnych slavjan (Zum Problem des Altslawischen als gemeinsamer Literatur spräche der Süd- und Ostslawen), in: Voprosy Jazykoznanija, Jg. 1961, Nr. 1, S. 57; V. G. Kostomarov, Kul'tura jazyka i reci v svete jazykovoj politiki (Sprachkultur und Sprechkultur im Lichte der Sprachpolitik), in: Jazyk i stil', Moskva 1965, S. 3-55; M„V. Panov (wie Anm. 34) usw.
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N. N. Semenjuk
71 Nach den Beobachtungen M. V. Panovs gibt es in bestimmten Arten von Texten in der Sprache jeder Epoche relativ konstante Typen der Verbindung von Elementen verschiedener Stile; vgl. M. V. Panov (wie Anm. 34), S. 11 sowie T,G. Vinokur (wie Anm. 35), S. 23. 72 Näheres bei N. N. Semenjuk (wie Anm. 5), Kapitel VI. 73 Nach dem Schema von D. Brozovifc unterscheidet man übrigens auch in den Literatursprachen der Gegenwart Standardsprachen mit sämtlichen Funktionen einer Standardsprache und Sprachen, die nicht sämtliche Funktionen erfüllen; vgl, D„ Brozovic (wie Anm. 2). Die Mehrheit der slawischen Literatursprachen gehört jedoch zum polyvalenten Modell der Standardsprache (vgl. ebenda, bes. S. 29). 74 Wir möchten darauf hinweisen, daß die Frage, welche sprachlichen Abgrenzungen auf genetischer Ebene primär sind, d.h. anderen zugrundeliegen, eigentlich noch gar nicht untersucht ist. Man kann z.B. annehmen, daß als solche primären Differenzierungen am häufigsten chronologisch und territorial markierte Merkmale auftreten, während die stilistischen Abgrenzungen (allerdings nur zu einem bestimmten Teil) sekundär sind. 75 Vgl. M.V. Panov (wie Anm. 34). 76 Razvitie funkcional'nych stilej (wie Anm. 29). Vgl. auch die Auffassung von E.Riesel, wonach man bei historisch-stilistischen Untersuchungen von den funktionalen Sprachstilen auszugehen habe. 77 Vgl. die Auffassung von N. G. Michajlovskaja, die es für zweckmäßiger hält, sich bei historischen Untersuchungen auf die Beobachtung der Entwicklung der einzelnen Gattungen zu stützen; N. G. Michajlovskaja, K prob lerne evoljucii stilisticeskich sistem (Zum Problem der Entwicklung der Stilsysteme), in: Osnovnye problemy evoljucii jazyka. Tezisy dokladov, Teil 2, Samarkand 1966, S. 250-251. 78 Vgl. das Material bei N. N, Semenjuk (wie Anm. 5), Kapitel VI. 79 Vgl. z.B. in diesem Zusammenhang die Charakteristik der stilistischen Besonderheiten der Sprache der politischen Literatur des 16. Jahrhunderts in der Arbeit von M. M. Guchmann, Jazyk nemeckoj politiceskoj literatury epochi Reformacii i Krest'janskoj vojny (Die Sprache der deutschen politischen Literatur in der Zeit der Reformation und des Bauernkrieges, Berlin 1974), Moskva 1970. 80 Näheres bei N. N. Semenjuk (wie Anm. 5), Kapitel IV. 81 Vgl. ähnlich O.A. Lapteva, O nekodificirovannych sferach sovremennogo russkogo literaturnogo jazyka (Über die nicht kodifizierten Bereiche der russischen Literatursprache der Gegenwart), in: Voprosy Jazykoznanija, Jg. 1966, Nr. 2, S. 48, Anm. 33. 82 A.Ja. Sajkevii?, Opyt statisticeskogo vydelenija funkcional'nych stilej (Versuch einer statistischen Darstellung funktionaler Stile), in: Voprosy Jazykoznanija, Jg. 1968, Nr. 1, S. 64-76. 83 Vgl. R. Jakobson (wie Anm. 21). 84 Nach diesem Prinzip sind die Arbeiten von E. Riesel zur deutschen Sprache aufgebaut; vgl. E. Riesel, Der Stil der deutschen Alltagsrede, Moskva 1964; dies., Abriß der deutschen Stilistik, Moskva 1964, Vgl. auch S. I. Kaufman, Kolicestvrnnyj analiz obsiejazykovych kategorij, opredeljajuscich kaiestvennye osobennosti stüja (Quantitative Analyse allgemeinsprachlicher Kategorien, die qualitative Stileigenschaften bestimmen), in: Voprosy romanogermanskogo jazykoznanija, Kolomna 1966, Vgl. auch die Arbeit des tschechischen Sprachwissenschaftlers E. Benes (wie Anm. 25) auf der Grundlage deutschen Materials. 85 Ebd.
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86 S. I. Kaufman (wie Anm. 84). 87 Vgl. in diesem Zusammenhang die kritischen Anmerkungen V. V. Vinogradovs und V. G. Kostomarovs (wie Anm. 62). 88 Vgl. die nach diesem Prinzip aufgebauten Arbeiten von W. Winter, A.Ja. Sajkevic, B. A, Abramov und anderen. Die Versuche, einen gewissen Schematismus und die Willkürlichkeit des zielgerichteten Modells zu überwinden, werden in anderer Richtung geführt, und zwar in Richtung auf eine Präzisierung jener Faktoren hin, die die stilistischen Sprachdifferenzierungen bedingen. Wir nennen in diesem Zusammenhang das von K. Hausenblas vorgeschlagene Schema oder das bekannte Schema R. Jakobsons. In ihnen werden die entsprechenden Faktoren bereits in einer sehr komplizierten Form dargeboten. 89 Vgl. z.B. die Übersicht von Arbeiten zur mathematischen Interpretation von literarischen Texten bei U. Platt, Matematiceskaja lingvistika (1961) (Mathematische Linguistik [1961]), in: Novoe v lingvistike IV, Moskva 1965, S. 208-218. 90 Vgl. die Arbeiten auf Grund deutschen Materials von E. Benes, W. Flämig, V.G. Admoni und anderen, die z.T. bei N.N. Semenjuk (wie Anm. 5), Kapitel III, S. 79 f. besprochen werden. Vgl. auch die Diskussion über die Anwendung quantitativer Methoden bei L.R. Z i n d e r - T . V . Stroeva, K voprosu o primenenii statistiki v jazykoznanii (Zum Problem der Anwendung der Statistik in der Sprachwissenschaft), in: Voprosy Jazykoznanija, Jg. 1968, Nr. 6, S. 120-123. V. G. Admoni, Esce raz ob izucenii kolicestvennoj storony grammaticeskich javlenij (Noch einmal zur Untersuchung der quantitativen Seite grammatischer Erscheinungen), in: Voprosy Jazykoznanija, Jg. 1970, Nr. 1, S. 89-101,
Verzeichnis der russischen Originaltitel Die Übersetzungen wurden von den V e r f a s s e r n der Beiträge autorisiert. A.V. Desnickaja K voprosu o jazykovych otnosenijach v rodovom ob&cestve in: Engel's i jazykoznanie, Moskva 1972, S«, 158 - 188 Übersetzung: Gerlinde Richter, Berlin M. M. Guchman Vzaimodejstvie dialektnych arealov i razvitie naddialektnych form v donacional'nyj period (na materiale germanskich jazykov) in: Engel's i jazykoznanie, Moskva 1972, S. 208 - 232 Übersetzung: Reinhard-Ernst Fischer, Berlin V.N. Jarceva Sootnosenie territorial'nych dialektov v raznych istoriceskich uslovijach in: Engel's jazykoznanie, Moskva 1972, S, 189 - 207 Übersetzung: Reinhard-Ernst Fischer, Berlin V. N. Jarceva Ob izmenenii dialektnoj bazy anglijskogo literaturnogo jazyka in: Voprosy formirovanija i razvitija nacional'nych jazykov, Moskva 1960, S. 90 - 121 Übersetzung: Gerhard Schlimpert, Berlin S.A. Mironov Stanovlenie literaturnoj normy sovremennogo niderlandskogo jazyka, Moskva 1973 Daraus a) Formirovanie orfoepiceskoj normy niderlandskogo jazyka i ee dialektnaja-osnova (S. 19 - 24) b) Zakljuienie (S. 290 - 299) Übersetzung: Wilhelm Braun, Berlin
Verzeichnis der russischen Originaltitel
160 M„ M„ Guchman, N. N. Semenjuk
O sociologiceskom aspekte rassmotrenija nemeckogo literaturnogo jazyka in: Norma i social'naja différenciacija jazyka, Moskva 1969, S, 5-25 Übersetzung: Teodolius Witkowski, Berlin N. N. Semenjuk Iz istorii funkcional'no-stilisticeskich differenciacij nemeckogo literaturnogo jazyka, Moskva 1972 Daraus Funkcional'no-stilisticeskie differenciacii literaturnogo jazyka i istoriceskij aspekt ich izucenija (S, 30 - 58) Übersetzung: Teodolius Witkowski, Berlin
Bisher erschienen in dieser Reihe M. M. Guchmann: D e r W e g zur deutschen N a t i o n a l s p r a c h e Teil I. Berlin 1964. ( = Bausteine zur Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Institut für deutsche Sprache und Literatur. Band I) Gerhard
Kettmann:
D i e kursächsische Kanzleisprache z w i s c h e n 1486 und 1546.
Studien z u m A u f b a u und zur Entwicklung. Berlin 1967. ( = Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur 34. Reihe B, Bausteine zur Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen) Emil Skala:
D i e Entwicklung der Kanzleisprache in Eger 1310 bis 1660.
Berlin 1967. ( = Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur 35. Reihe B, Bausteine zur Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen) Peter Suchsland:
D i e Sprache der Jenaer Ratsurkunden.
Entwicklung v o n Lauten und F o r m e n v o n 1317 bis 1525. Berlin 1968. ( = Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur 36. Reihe B, Bausteine zur Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen) Wolfgang
Fleischer:
U n t e r s u c h u n g e n zur G e s c h ä f t s s p r a c h e des 16. Jahrhunderts in Dresden.
Berlin 1970. ( = Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur 37. Reihe B, Bausteine zur Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen) M. M. Guchmann:
D e r W e g zur deutschen N a t i o n a l s p r a c h e Teil II.
Berlin 1969. ( = Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur 40. Reihe B, Bausteine zur Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen) Joachim Schildt:
D i e A u s b i l d u n g einer ostmitteldeutschen N o r m im G e b r a u c h lokaler Präpositionen.
1200 bis 1550. Berlin 1970. ( = ZISW 44, Bausteine zur Geschichte des Neuhochdeutschen) Ernst Otto:
D i e Sprache der Zeitzer Kanzleien im 16. Jh.
U n t e r s u c h u n g e n zum V o k a l i s m u s und K o n s o n a n t i s m u s . Berlin 1970. ( = Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur 45. Reihe B, Bausteine zur Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen) Studien zur G e s c h i c h t e der deutschen Sprache. Berlin 1972. ( = ZISW 49, Bausteine zur Geschichte des Neuhochdeutschen) Rudolf Bentzinger:
Studien zur Erfurter Literatursprache des 15. Jh. an H a n d der Erfurter Historien-
bibel v o m Jahre 1428. Berlin 1973. ( = ZISW 50, Bausteine zur Geschichte des Neuhochdeutschen) Jutta
Dresel:
D a s Funktionsfeld der temporalen Präpositionen im frühen Ostmitteldeutschen.
1200 bis 1550. Zwei Entwicklungsstufen der deutschen Sprache a u f ihrem W e g zur Nationalsprache. Berlin 1972. ( = ZISW 51, Bausteine zur Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen) M. M. Guchmann:
D i e Sprache der deutschen politischen Literatur in der Zeit der R e f o r m a t i o n
und des Bauernkrieges. Berlin 1974. ( = ZISW 54, Bausteine zur Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen) Hannelore
Winkler:
D e r Wortbestand v o n Flugschriften aus d e n Jahren der R e f o r m a t i o n und des
Bauernkrieges. Berlin 1975. ( = ZISW 55, Bausteine zur Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen)
Zur Ausbildung der N o r m der deutschen Literatursprache auf der syntaktischen Ebene (1470 bis 1730). Der Einfachsatz unter Leitung von G. Kettmann und J. Schildt. Berlin 1976. ( = ZISW 56/1, Bausteine zur Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen)
Zur Ausbildung der N o r m der deutschen Literatursprache auf der lexikalischen Ebene (1470 bis 1730). Untersucht an ausgewählten Konkurrentengruppen unter Leitung von Joachim
Dückert.
Berlin 1976. ( = ZISW 56/11, Bausteine zur Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen)
Zur Ausbildung der N o r m der deutschen Literatursprache auf der lexikalischen Ebene (1470 bis 1730). Untersucht an ausgewählten Konkurrentengruppen mit Anteilen slawischer Herkunft unter Leitung von Klaus Müller. Berlin 1976. ( = ZISW 56/111, Bausteine zur Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen)